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German Pages 292 [294] Year 2019
Constanze Geisthardt Monster als Medien literarischer Selbstreflexion
Trends in Medieval Philology
Edited by Ingrid Kasten, Niklaus Largier and Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz, John Greenfield, Christian Kiening, Theo Kobusch, Peter von Moos, Uta Störmer-Caysa
Volume 38
Constanze Geisthardt
Monster als Medien literarischer Selbstreflexion Untersuchungen zu Hartmanns von Aue Iwein, Heinrichs von dem Türlin Crône und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2012 auf Antrag der Promotionskommission Prof. Dr. Mireille Schnyder (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Christian Kiening als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-11-034527-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034535-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038386-7 ISSN 1612-443X Library of Congress Control Number: 2019939340 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
Einleitung
1
1 Theorie, Methode und Monster 5 1.1 Theoretische und methodische Grundlagen 5 1.1.1 Selbstreflexion 5 1.1.2 Selbstreflexion in mittelalterlichen Texten 15 1.1.3 Methode und Vorhaben 22 1.1.4 Medialität 27 1.2 Monster 37 1.2.1 Bezeichnungen 37 1.2.2 Hybride Formen: Körper und Darstellungen 42 1.2.3 Monster und Ordnungen 51 1.2.4 Reflexion: Relation und Rezeption 61 1.2.4.1 Monströse Ordnungen in volkssprachlicher Literatur 66 1.2.4.2 Monster und Literaturreflexion 68 1.2.5 Monster: Moderne Perspektiven 78 1.2.6 Konstanten im Umgang mit dem Monströsen: Phantastik – Wunderbares – Groteske – Fremdheit 85 1.2.7 Monster als Zeichen, Monster als Medien 90 1.3 Zwischenspiel: âventiure 95 1.3.1 Was ist âventiure? 95 1.3.2 âventiure in der Mediävistik 98 1.3.3 âventiure – ungehiure 104 2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
H ARTMANNS VON A UE Iwein 111 Die Unverfügbarkeit von âventiure 111 âventiure, waz ist daz? Poetologische Verdichtung Der Waldmann 123 âventiure, waz ist daz? 130 âventiure und der Waldmann als Katalysator der Transkriptivität 132 Die Nachwirkung des Waldmanns 134 verrîten: Zeit und Kontingenz 134 Der Brunnen revisited 143 Die zwei tôren 148 Absenz und Verfremdung 150
123
VI
Inhaltsverzeichnis
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
H EINRICHS VON DEM T ÜRLIN Crône 155 Die Becherprobe 157 Die Becherproben-Episode als isolierte Texteinheit Das Festmahl und die âventiure 163 Die Ankunft des Boten 167 Die Beschreibung des Boten und seines Reittiers Der Becher und die âventiure 181 Die Becherprobe und der Kampf gegen Key 183 Wiederaufnahmen des Boten 187 Aamanz’ Kopf 188 Die Handschuhprobe 191 Stört der Bote? 199
4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4
J OHANNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich 203 der aventuͤ r hauptman 207 Das reflexive Potenzial des Monsters 218 Text und perpetuierte Reflexion 222 tugent – âventiure – Genealogie: Der Bracke Fuͤ rst 222 Minne und âventiure 233 Das Netzwerk der Monster 235 Die Medialität des selbstreflexiven Monsters 248
Schluss
253
Siglenverzeichnis Bibliographie
257 259
Autoren- und Werkregister Sachregister
285
283
157
170
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Titel „ungehiure âventiure – Monster als Medien literarischer Selbstreflexion in H ARTMANNS VON A UE Iwein, H EINRICHS VON OH ANNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich“ im FrühDEM T ÜRLIN Crône und J OHANNS jahrssemester 2012 am Deutschen Seminar der Universität Zürich als Dissertation eingereicht und im Herbstsemester 2012 verteidigt. Sie ist entstanden im Rahmen des Doktoratsprogramms „Medialität in der Vormoderne“ des Nationalen Forschungsschwerpunkts Mediality an der Universität Zürich. Für die Druckfassung wurde sie geringfügig ergänzt und überarbeitet. An der Entstehung und Fertigstellung dieser Arbeit waren viele Menschen beteiligt und ihnen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Als erster möchte ich meiner Doktormutter, Prof. Dr. Mireille Schnyder, für die gewährten Freiheiten, ihr Vertrauen, ihre stete Gesprächsbereitschaft und vielfältigen Anregungen und ihre Geduld meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Herzlich danken möchte ich auch meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Christian Kiening, für seine Aufgeschlossenheit und seine konstruktive Kritik. Des weiteren danke ich meinen Mitkollegiatinnen und -kollegiaten aus dem Doktoratsprogramm „Medialität in der Vormoderne“ sowie meinen Kolleginnen und Kollegen der Zürcher Germanistischen Mediävistik, insbesondere Susanne Baumgartner, Sabine Chabr, Susanne Reichlin und Sarina Tschachtli, für die ausführlichen anregenden fachlichen Diskussionen. Ich danke Christina Henß, Christine Scherrer und Larissa Schuler für die Korrektur der Rohfassungen dieser Arbeit und ihre nützliche Kritik, sowie Maximilian Benz für die geduldige und genaue Korrektur meiner holprigen Lateinübersetzungen. Danken möchte ich auch den Herausgebern der Reihe Trends in Medieval Philology, Prof. Dr. Ingrid Kasten, Prof. Dr. Mireille Schnyder und Prof. Dr. Niklaus Largier, für die Aufnahme ins Programm. Und ich danke meinem Mann Johannes, der sich an meiner Seite allen Monstrositäten der letzten Jahre so wunderbar furchtlos und bedingungslos gestellt hat. Ihm und unseren Kindern Jakob, Johanna und Clara ist diese Arbeit gewidmet. Konstanz im März 2019
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Einleitung Das Mittelalter ist eine Zeit der Monster. Sie werden in literarischen Texten beschrieben, auf Bildern dargestellt, sie bevölkern die Ränder von Handschriften und die Ränder der Welt – zumindest die Ränder von Weltkarten. Sie sind aus der gotischen Architektur nicht wegzudenken und wirken aus ihren auf uns überkommenen Habitaten in die heutige Mittelalterrezeption hinein, die sich beiden, der Zeit und den Monstern, mit Verwunderung, Faszination, Belustigung und manchmal auch Schauder zuwendet. Doch der so gern wahrgenommene ästhetische Reiz beschreibt nur eine Seite von mittelalterlichen Monstern. Er macht leicht vergessen, dass sie niemals reine Schauobjekte sind, sondern immer ein Moment der Reflexion bergen, das sich über die Monster und in der ästhetischen Rezeption der Monster realisiert. In dieser Arbeit soll diese Eigenschaft von Monstern in mittelhochdeutschen Texten eingehend untersucht werden. Monster werden im Zusammenhang mit poetologischer Selbstreflexion gelesen. Nicht in dem Sinn, dass sie ausschließlich als selbstreflexive Allegorien (z. B. des Textes, der Rezeption usw.) zu verstehen wären, sondern indem sie in einem dynamischen Vermittlungsprozess den poetologischen Diskurs erschließen. Sie verbinden dabei die Ebene der Handlung mit jener der Reflexion und rücken zugleich die eigene Vermittlungsfunktion in den Blick. Diese Vermittlungsfunktion wird im Rahmen aktueller Medienbegriffe zu fassen sein. Monster werden als Medien der literarischen Selbstreflexion betrachtet. Der Analyse selbstreflexiver Potenziale liegt immer die Prämisse zugrunde, dass die im Text vorhandenen Reflexionsangebote in der Rezeption umgesetzt werden können. Eine Lektüre mittelalterlicher Texte mittels moderner medientheoretischer Ansätze setzt sich so dem Vorwurf des Anachronismus aus. Um dies zu umgehen, wird die medientheoretische Perspektive durch Entwürfe aus dem mittelalterlichen theologisch-philosophischen Diskurs ergänzt, deren Denkfiguren eine bemerkenswerte strukturelle Nähe zu den modernen medientheoretischen Ansätzen aufweisen. Die Arbeit will somit nicht nur eine neue Lektüre der Primärtexte leisten, sondern auch die medientheoretische Diskussion durch das Aufzeigen von historischen Parallelen erweitern und durch das wechselseitige Beleuchten der historischen und modernen Ansätze neue Perspektiven eröffnen. Methodisch kombiniert die Arbeit textzentrierte und kulturwissenschaftliche Ansätze. Aus einem Close Reading gewonnene Ergebnisse werden mit medientheoretischen Modellen beschrieben und – durch rezeptionsästhetische Überlegungen begründet – um eine historisch-kulturwissenschaftliche Perspektive ergänzt.
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Einleitung
Grundlage der Untersuchung bilden drei Texte, die einen grob dem 13. Jahrhundert entsprechenden Zeitraum abstecken: H ARTMANNS VON A UE um 1190 bis 1205 entstandener Iwein, H EINRICHS VON DEM T ÜRLIN Diu Crône von etwa 1215 bis 1220 und J OHANNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich aus dem Jahr 1314.1 In den drei Texten tritt jeweils zu Beginn eine monströse Gestalt auf, anhand derer sich, wie die Forschung auch schon gezeigt hat, literarische Reflexion entfaltet. Diese drei Stellen, die Waldmann-Episode im Iwein (Iw. 396–603), die Becherproben-Episode in der Crône (Cr. 893–3207) und die Szene um den hauptman aventuͤ r im Wilhelm von Österreich (WvÖ 3113–3436) sollen den Ausgangspunkt und primären Fokus der Untersuchung darstellen. Die Auswahl der Beispiele beruht auf einer intertextuellen Verbindung. Sowohl die Crône als auch der Wilhelm von Österreich beziehen sich insbesondere in den für diese Arbeit zentralen Szenen stark auf Hartmanns Iwein. Motive, Strukturen und Handlungselemente der Waldmann-Episode werden von den späteren Texten übernommen und adaptiert. Doch obwohl hier drei Werke mit motivischen, intertextuellen und – als höfische Versromane – auch formal-generischen Parallelen betrachtet werden, deren Entstehung sich über einen relativ langen Zeitraum erstreckt, sollen die Ergebnisse nicht im Sinn einer literarhistorischen Teleologie verknüpft werden. Die Auswahl der Texte soll eine exemplarische und
1 Verwendete Ausgaben (soweit nicht anders verzeichnet): H ARTMANN VON A UE , Iwein, Text der siebenten Ausgabe von G.F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4. überarbeitete Auflage, Berlin, New York 2001, H EINRICH VON DEM T ÜRLIN , Die Krone (Verse 1–12281), hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (ATB 112), H EINRICH EINRIC H VON DEM T ÜRLIN , Die Krone (Verse 12282–30042), hg. von Alfred Ebenbauer und Florian ÜRZ BURG , Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118), J OHANN VON W ÜRZBURG Handschrift hg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3) Nachdruck Dublin, Zürich 1970. Alle Zitate aus Primärliteratur werden unter Angabe der Verse mit Siglen gekennzeichnet im Fließtext gesetzt (vgl. das Siglenverzeichnis). Zu Frage der Datierung vgl. C ORMEAU , Christoph, Artikel Hartmann von Aue, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 14 Bde., hg. von Kurt Ruh (federführend bis Bd. VIII) zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger (federführend ab Bd. IX) und Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978–2008, Bd. 3, Sp. 500–520, hier Sp. 501–502, C ORMEAU , Christoph, Artikel Heinrich von dem Türlin, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 14 Bde., hg. von Kurt Ruh (federführend bis Bd. VIII) zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger (federführend ab Bd. IX) und Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978–2008, Bd. 3, Sp. 894–899. Die im Epilog des Wilhelm von Österreich notierte Vollendung der Niederschrift in der Karwoche 1314 (vgl. WvÖ 19570–19580) wird von der Forschung allgemein anIER R , Ingeborg, Artikel Johann von Würzburg II, in: Die deutsche Literatur des Mittelerkannt. G L IE alters. Verfasserlexikon, 14 Bde., hg. von Kurt Ruh (federführend bis Bd. VIII) zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger (federführend ab Bd. IX) und Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978–2008, Bd. 4, Sp. 824–827.
Einleitung
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schlaglichtartige Betrachtung des Monsters als selbstreflexives Moment ermöglichen und fokussiert nicht auf die komparatistische Frage nach der Tradierung und Adaption des Motivs im Zusammenhang mit einem literarischen Vorbild. Unterschiede zwischen den einzelnen Texten werden ebenfalls nicht primär als Reflexe oder Konstituenten verschiedener Gattungen (z. B. klassischer Artusroman, nachklassischer Artusroman, Minne- und Âventiureroman) oder literaturgeschichtlicher Situationen verstanden, wenn auch die Darstellungskonventionen und der literaturgeschichtliche Kontext der einzelnen Texte jeweils in die Analyse einfließen werden. Diese Arbeit untersucht je textspezifisch, wie das Motiv der Monstrosität zur Vermittlung literarischer Selbstreflexion eingesetzt wird.2 Im ersten Kapitel werden die begrifflichen, historischen und methodischen Grundlagen gelegt: Es liefert eine Verortung der Arbeit in der allgemein-literaturwissenschaftlichen sowie der altgermanistischen Diskussion um Selbstreflexivität, umgrenzt den verwendeten Begriff von Medialität und illustriert das Sinnpotenzial monströser Gestalten im zeitgenössischen Verständnis. Ferner umreißt es den für die mittelalterliche Literaturdiskussion – dies gilt insbesondere für die hier untersuchten Texte – zentralen Begriff der âventiure, durch den sich Monster als Medien der Selbstreflexivität im mittelhochdeutschen poetologischen Diskurs verankern lassen. In drei weiteren Kapiteln werden die drei Primärtexte in chronologischer Reihenfolge behandelt. Dabei nehmen die Analyse der oben genannten Stellen im Hinblick auf das selbstreflexive Potenzial der monströsen Wesen und die Analyse ihrer Medialität den Hauptteil ein. Die Argumentation wird aufgrund der Prämisse, dass Monster Reflexion jeweils verkörpern, bewusst sehr textnah vollzogen, bevor die Ergebnisse in einem kurzen Schlusskapitel zusammengeführt werden.
2 Das Figurenpersonal der drei Texte überschneidet sich teilweise. Um möglichst eindeutig auf die jeweiligen Figuren verweisen zu können, wird auf normalisierte Namensformen verzichtet und jeweils die in den mittelhochdeutschen Textausgaben gesetzte Form verwendet. Begriffe von textübergreifender Relevanz (âventiure usw.) werden außer in direkten Zitaten in standardisierter mittelhochdeutscher Schreibung wiedergegeben.
1 Theorie, Methode und Monster 1.1 Theoretische und methodische Grundlagen 1.1.1 Selbstreflexion Literatur kann selbstbezüglich sein, also auf sich selbst verweisen, und zugleich selbstreflexiv sich selbst zum Thema machen. Entsprechende Phänomene sind sowohl in historischer als auch in komparatistischer Perspektive breit nachweisbar.3 Die literaturwissenschaftliche Forschung widmet sich dem Phänomen vermehrt etwa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.4 Selbstbezüglichkeit verlässt dabei den Status einer heuristischen Analysekategorie und wird zum determinierenden Kriterium, das den Analysegegenstand überhaupt erst ausmacht.5 So argumentieren formalistische Ansätze mit der ‚Poetischen Funktion‘ literarischer Sprache, um die Literarizität von Texten zu bestimmen. In Abgrenzung zur Alltagssprache, die nach pragmatischen Gesichtspunkten einzelne Instanzen
3 Vgl. dazu die Lektüre der Odyssee durch M ICHAEL IC HAEL S CHEF CHE FFEL FEL (S CHEFF C HEFF EL , Michael, Metaisierung in der literarischen Narration: Überlegungen zu ihren systematischen Voraussetzungen, ihren Ursprüngen und ihrem historischen Profil, in: Janine Hauthal, Juliana Nadj, Ansgar Nünning, Henning Peters (Hgg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, Berlin, New York 2007 (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies 12), S. 155–171, hier S. 159–164. Auch P ATRICIA W AUGH geht davon aus, dass zwar die wissenschaftliche Diskussion selbstreflexiver Verfahren rezent ist, jedoch „the practice is as old (if not older) than the novel itself“, W AUGH , Patricia, Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction, London, New York 1984 (New Accents), S. 5, Hervorhebung von W AUGH . 4 Nicht selten wird dieses wissenschaftsgeschichtliche Datum mit dem Untersuchungsgegenstand in einen zeitlichen Zusammenhang gesetzt: Selbstreflexivität wird als vermeintliches Novum und charakteristisches Merkmal postmoderner Literatur verstanden und ihre Erforschung MP FER ER stellt entsprechende Positionen mit deren Auftauchen in Verbindung gebracht. K LAUS H E MPF EMPF ER R , Klaus W., Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und zusammen (vgl. H EMPFE Ariosts Orlando Furioso, in: Eberhard Lämmert (Hg.), Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1982 (Germanistische Symposien – Berichtsbände 4), S. 130–156, hier S. 130–133). Zur Situation in der Mediävistik s. u. Kapitel 1.1.2. 5 Einen detaillierteren Überblick über die Frage nach Selbstreflexivität als bestimmendem MerkIC HAEL S CHEFF C HEF FEL EL (vgl. S CHEFFE C HEFF EL L , Michael, Formen selbstreflexiven mal von Dichtung bieten M ICHAEL Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen, Tübingen 1997 (Studien zur deutORG W. B ERTRAM ERT RAM (B ERTRAM , Georg W., Selbstbezüglichkeit schen Literatur 145), S. 11–45) und G EEORG und Reflexion in und durch Literatur, in: Alexander Löck, Jan Urbich (Hgg.), Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven, Berlin, New York 2010 (spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies 24), S. 389–408).
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1 Theorie, Methode und Monster
ihres kommunikativen Kontextes fokussiert, vollzieht literarische Sprache primär eine „Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung der Nachricht um ihrer selbst willen“.6 Die zur Identifikation als literarisches Kunstwerk relevante Selbstbezüglichkeit realisiert sich in diesem Verständnis auf der sprachlichen Ebene in der formalen Gestaltung des Texts, einer Verdichtung paradigmatischer und syntagmatischer Bezüge.7 Auch Fiktionalität als determinierendes Merkmal literarischer Texte8 lässt sich auf selbstbezügliche Verfahren zurückführen. Da in einem fiktionalen Text die Referenz auf eine außersprachliche Realität nicht gegeben sein kann, referiert der Text in diesem Entwurf als „Symbolverwendung [ohne] empirischen Objektbezug“9 auf sich selbst. In dieser Selbstbezüglichkeit ermöglicht es der Ansatz, über das Paradigma der Fiktionalität Aspekte des Literarischen zu reflektieren. Während diese beiden Modelle Selbstbezüglichkeit als diagnostisches Mittel sehen, um gewisse charakteristische Eigenschaften ‚des Literarischen‘ zu bestimmen, geht die narratologische Perspektive einen Schritt zurück und fragt nicht, welche Konsequenzen Selbstbezüglichkeit nach sich zieht, sondern welche Bedingungen Selbstbezüglichkeit ermöglichen. Für sie ergibt sich das Potenzial zur Selbstbezüglichkeit aus der Trennung von histoire und discours.10 Histoire wird als die Grundform einer Geschichte, gleichsam ihr Material, verstanden, discours als deren Vermittlung. Da die Vermittlung in diesem Modell von dem Vermittelten zu trennen ist, hat der Text die (nicht zwingende) Möglichkeit, von einem ausschließlich dem Voranschreiten der Handlung dienlichen Erzählen Abstand zu nehmen und den Vermittlungsakt selbst zu thematisieren. So resultiert aus der Selbstbezüglichkeit in diesem Fall immer die Möglichkeit zur Selbstreflexion. K LAUS H EMPFER formuliert es folgendermaßen:
6 J AKOBSON AKOBS ON , Roman, Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. II/1 Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, I, (Ars Poetica 8), Frankfurt/M. 1971, S. 142–178, hier S. 151. ‚Nachricht‘ ist hier aus einer kommunikationstheoretisch erweiterten Variante von B ÜHLERS Organonmodell übernommen und bezeichnet eine sprachliche Äußerung. 7 Vgl. J AKOBSON , Linguistik, S. 153, vgl. ebd. S. 153–178 für eine Beispielanalyse von zumeist lyrischen Texten. CHE FFEL , Formen, S. 24. 8 Vgl. S CHEFFEL S ER R , Wolfgang, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Text9 I SE modells der Literatur, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 277–324, hier S. 291. EMPF ER R , Potentielle Autoreflexivität, S. 130–136. 10 Wegweisend hierzu H EMPFE
1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
7
Durch die für narrative Texte spezifische Konstitution einer Vermittlungsebene, die die Versprachlichung nichtsprachlicher Gegebenheiten übernimmt […], ist ein potentielles Reflexionsmoment in die Kommunikationsstruktur narrativer Texte eingeschrieben.11
H EMPFER versieht seinen Ansatz mit einer explizit historischen Perspektive und beschränkt seine Anwendung auf narrative Texte,12 denen er die „prinzipielle[…] Freiheit des narrativen Diskurses zur Autoreflexivität“13 bescheinigt. Die drei Modelle sind in ihrem Anliegen und in ihrer Leistungsfähigkeit verschieden, haben in der Forschung aber jeweils Diskussionen geprägt, die sich wechselseitig beeinflussen und bis heute weitergeführt werden.14 Zur Bezeichnung selbstreflexiver Verfahren ist in den letzten Jahren entsprechend ein „terminologisches Dickicht“15 gewachsen, durch das vor einer Beschäftigung mit dem Phänomen selbst Wege geschlagen werden müssen. Die einzelnen Bezeichnungen lassen sich aufgrund ihrer Wortsemantik in Gruppen zusammenschließen. Einige stellen das Verweisen (‚Selbstreferenz‘, ‚Selbstreferentialität‘, ‚Rückbezüglichkeit‘), andere den sich aus den Verweisen ergebenden reflexiven Effekt (‚Autoreflexivität‘, ‚Selbstreflexion‘, ‚Selbstreflexivität‘) und wieder andere mathematische Analogien zu den im Verweis vollzogenen Operationen (literarische ‚Rekursivität‘, ‚Potenzierung‘) in den Fokus.16 Eine weitere Benennungsstrategie operiert analog zum formal-linguistischen Konzept der ‚Metasprache‘17 mit dem Präfix ‚Meta-‘, dessen morphologischer Produktivität kaum Grenzen gesetzt sind.18 Selbstreflexive Vorgänge können so in generische Konzepte (‚Metalyrik‘, ‚Metahistoriographie‘, ‚Metafiktion‘), materiell-mediale Klassi11 H EMPFER , Potentielle Autoreflexivität, S. 136. 12 H EMPFER , Potentielle Autoreflexivität, S. 136, zu einer historisch-komparatistischen Skizze vgl. S. 148–150. 13 H EMPFER , Potentielle Autoreflexivität, S. 136. HEF FFEL FEL , Formen, S. 24–90. 14 Vgl. S CCHE 15 W OLF , Metaisierung, S. 25–64, hier S. 29. Der Aufsatz basiert auf der Vorgängerarbeit W OLF , Werner, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie 32). AUT HAL , Janine, N ADJ , 16 Die Begriffe wurden übernommen aus der Zusammenstellung in: H AUTHAL Juliana, N ÜNNING , Ansgar, P ETERS , Henning, Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate, in: dies. (Hgg.), Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen, Berlin, New York 2007 (spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies 12), S. 1–21, hier S. 1, vgl. CHE FFEL , Formen, S. 4 und S. 46. auch S CHEFFEL ETE RS , Metaisierung, S. 2 und W OLF , Metaisierung, S. 38. 17 Vgl. H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P ETERS 18 Zur Problematik dieser Begriffsbildungen s. u.
8
1 Theorie, Methode und Monster
fizierungen (‚Metafilm‘, ‚Metafotografie‘) oder analytische Einheiten (‚Metatextualität‘, ‚Metadiskursisivität‘) differenziert werden, aber auch ihre Benennung nach den diskursiven Modi, in denen sie sich konstituieren, (‚Metakommentar‘, ‚Metadeskription‘) sind gängige Praxis.19 Basierend auf der Hypothese, dass es sich jeweils um vergleichbare selbstreflexive Prozesse handelt, kann die Gesamtheit aller Meta-Phänomene auch unter dem Begriff der ‚Metaisierung‘ zusammengenommen werden.20 ‚Meta‘-Begriffe werden dabei häufig sehr unspezifisch für unterschiedliche Konzepte verwendet. Einen umfassenden Vorschlag zur begrifflichen Systematisierung hat W ERNER W OLF vorgelegt.21 Seine Überlegungen sind aufschlussreich für die Konzeptionalisierung von Literaturreflexion und liefern neben der terminologischen Grundlage auch den operationellen Ausgangspunkt für den in der vorliegenden Arbeit unternommenen Versuch, mittelalterliche literarische Selbstreflexivität zu fassen. W OLF unterscheidet zunächst zwischen Selbstreferenz und Selbstreflexivität. Während sich Selbstreferenz im semiotischen Akt des Verweisens erschöpft,22 beinhaltet Selbstreflexivität23 eine „Aussage“,24 die in Form „eine[r] Anregung zum Nachdenken über Teile des eigenen Systems durch Elemente desselben Systems“25 transportiert wird. Maßgeblich zur Differenzierung sind für W OLF die Kategorie der Intentionalität und der Aussagecharakter selbstreflexiver Elemente. Bewegt sich die Selbstreferenz „unterhalb der Schwelle einer (intendierten) Aus-
19 Vgl. die Zusammenstellung bei H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P EETERS TERS , Metaisierung, S. 2, ebenso das Schema bei W OLF , Metaisierung, S. 38. ETE RS , Metaisierung, S. 2 und W OLF , Metaisierung, S. 31. 20 Vgl. H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P ETERS OLF S in englischer Sprache erschiene21 W OLF , Metaisierung, hier und im Folgenden S. 31–34. W OLFS ne Nachfolgearbeit (W OL F , Werner, Metareference across Media. The Concept, its Transmedial Potentials and Problems, Main Forms and Functions, in: ders. (Hg.), Metareference across Media. Theory and Case Studies. Dedicated to Walter Bernhart on the Occasion of his Retirement, Amsterdam, New York 2009 (Studies in Intermediality 4), S. 1–85) ist bei vielen Übereinstimmungen mit der Arbeit zur Metaisierung in manchen Punkten präziser. Um für die Frage der Terminologie besonders heikle Übersetzungsprobleme zu vermeiden, orientiert sich die vorliegende Arbeit an OLF S Arbeit von 2009 aber wenn nötig hinzu. der deutschsprachigen Studie, zieht W OLFS OL F so unterschiedliche Verfahren wie rein syntaktische Struktu22 Als Selbstreferenz begreift W OLF ren (z. B. anaphorische Bezüge von Relativpronomina), formal-phonologische Figuren wie Reime, OL F , Metaisierung, intertextuelle Bezüge, Wiederholungsstrukturen, mise en abyme usw., vgl. W OLF S. 32–33. 23 ‚Selbstreflexivität‘ wird in W OLFS Terminologie als Eigenschaft des Textes von dem durch sie ausgelösten kognitiven Prozess der ‚Selbstreflexion‘ unterschieden, vgl. W OLF , Metaisierung, S. 33. Durch die Ausgliederung des kognitiven Prozesses aus dem Text ist die Bezeichnung Selbstreflexion für das Nachdenken des Lesers über Phänomene des Textes allerdings eher ungeeignet. 24 W OLF , Metaisierung, S. 33. 25 W OLF , Metaisierung, S. 33.
1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
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lösung von auf das Medium selbst zentrierten Reflexionen“,26 ist für die Selbstreflexivität dagegen eine intentionale (oder zumindest als intentional angenommene) Setzung der selbstreflexiven Aussagen notwendig.27 In seiner späteren Arbeit verdichtet W OLF diese Differenzierung auf den Unterschied zwischen dem rein formalen Charakter von Selbstreferenz („through similarities and contrasts or the formation of an ordered series“), mithin dem, was J AKOBSON als ‚Poetische Funktion’ bezeichnet,28 und diskursiv vermittelter Selbstreflexivität.29 Selbstreflexivität selbst unterscheidet W OLF nach dem Gegenstand ihrer Aussagen in „nichtmetareferentielle Selbstreflexivität“, bei der die selbstreflexiven Aussagen die mediale Eigenart ihres Gegenstands als künstlerisches Artefakt nicht betrachten (indem z. B. ein Erzähler über seine Figuren urteilt als wären es Menschen) und in „metareferentielle Selbstreflexivität oder kurz ‚Metareferenz’ oder ‚Metareflexivität’“,30 die sich durch ein Bewusstsein der Spezifika ihres Objekts als – im gegebenen Fall – literarisches Kunstwerk auszeichnet, und zugleich auch die eigene Aussageebene von der des Objekts abhebt.31 Metaisierung, das „Einziehen einer Metaebene in ein Werk, eine Gattung oder ein Medium, von der aus metareferentiell auf Elemente oder Aspekte eben dieses Werks, dieser Gattung oder dieses Mediums als solches rekurriert wird“,32 lässt sich nach W OLF als Kombination der bisher aufgelisteten Merkmale beschreiben: Ein selbstreferentieller Akt muss intentional als Aussage gefasst werden, um Selbstreflexivität zu ermöglichen. Wird diese Reflexivität um ein Bewusstsein für die Eigenarten des Aussageobjekts ergänzt, das sich in einer Differenzierung von Objekt- und Metaebene niederschlägt, kann von Metaisierung die Rede sein.33 W OLFS Terminologie hat den Vorteil, dass sie eine klare begriffliche Differenzierung zwischen einzelnen Formen selbstbezüglicher Verfahren vornimmt und damit ein Forschungsdesiderat zu beheben versucht. Allerdings zeigt sein Ansatz auch exemplarisch die Schwierigkeiten, die sich aus der Frage nach Selbstreflexi
26 W OLF , Metaisierung, S. 33. 27 W OLF , Metaisierung, S. 33. 28 W OLF , Metareference, S. 21, Hervorhebungen von W OLF . Zur Poetischen Funktion vgl. J AKOBSON , Linguistik, S. 150–154. 29 W OLF , Metareference, S. 21. 30 W OLF , Metaisierung, S. 34. 31 Bei W OLF , Metareference, S. 21–23 bleibt Selbstreflexivität auf das nicht-metareferentielle Phänomen beschränkt. Bei der Definition von Metareferenz wird Selbstreflexivität bis auf einen kurzen Verweis ausgeblendet, indem metareference eng mit self-reference zusammengeschlossen und nicht wie in der Arbeit von 2007 als Kumulierung von Merkmalsbündeln verstanden wird. 32 W OLF , Metaisierung, S. 31. OL F , Metaisierung, S. 31 und S. 38, vgl. auch H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P ET E TERS ERS , Metai33 Vgl. W OLF sierung, S. 2.
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1 Theorie, Methode und Monster
on ergeben können: die in sich beinahe schon wieder selbstreferentielle Ausarbeitung eines terminologischen Systems, dessen Komplexität erst noch durch ihren analytischen Nutzen legitimiert werden müsste und, schwerwiegender, die Argumentation basierend auf Prämissen, die bei genauerer Betrachtung kaum legitimierbar sind. Das erste Problem resultiert zum Teil aus der angestrebten Universalität des Ansatzes. W OLFS Entwurf strebt eine größtmögliche Applizierbarkeit an. Die semiotische Basis seiner Begrifflichkeit soll eine Eignung für möglichst alle Formen kultureller Sinnstiftung gewährleisten – W OLF fasst diesen Anspruch mit dem Schlagwort der „Metamedialität“.34 Aufgrund dieser Universalität inkludiert der Ansatz zunächst Aspekte – beispielsweise rein syntaktische Verweisstrukturen wie anaphorische Bezüge von Relativpronomina35 –, die für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung wenig aussagekräftig sind und daher durch eine Reihe von Differenzsetzungen wieder ausgenommen werden müssen. Daraus und aus dem Anspruch, alle Varianten des Selbstreflexiven zu berücksichtigen, ergibt sich eine Vielzahl von dualen Unterkategorien (werkinterne vs. werkexterne Metareferenz, explizite vs. implizite Metareferenz, Fictum- vs. Fictio-Metareferenz, kritische vs. nicht-kritische Metareferenz), deren deskriptive Relevanz unbestritten ist, deren über die Benennung hinausgehenden Applikationsmöglichkeiten sich allerdings nicht in jedem Fall unmittelbar erschließen.36 Das zweite Problem ist grundlegender Natur. Der Entwurf stützt sich auf drei in letzter Konsequenz unbestimmbare Größen der literarischen Kommunikationssituation, nämlich die Intention des Produzenten, eine Markierung dieser Intention in selbstreflexiven Passagen des Textes und eine auf der korrekten Deutung dieser Markierungen basierende entsprechende Lektüre durch den Rezipienten.37 Eine Intention im literarischen Produktionsprozess lässt sich schwerlich nachweisen.38 Ebenso ist es unmöglich, textuelle Markierungen, die immer der Arbi-
34 W OLF , Metaisierung, S. 36. Die Universalität ist stark von dem gewählten SelbstreflexivitätsMP FER ER verweist auf die Nicht-Übertragbarkeit seines narratologischen Ankonzept abhängig. H E MPF E MP FER ER , satzes auf das der erzählenden Literatur doch relativ nahe Medium des Dramas, vgl. H EMPF Potentielle Autoreflexivität, S. 136. 35 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 32–33. 36 Die Ausdifferenzierung wird in W OLF , Metaisierung, S. 40–45 ausgeführt, Hinweise auf eine produktive Verwendung der einzelnen Kategorien formuliert Wolf am Ende seiner Arbeit im OL F , Metaisierung, S. 59–62. Rahmen des Forschungsdesiderats, vgl. W OLF 37 W OLF verweist auf zwei der drei Größen (Metaisierung als „doppelpolige Erscheinung“ zwischen Text(gestalt) und Rezipienten), ohne sie allerdings zu problematisieren, vgl. W OLF , Metaisierung, S. 54. 38 Zur grundsätzlichen Frage nach der Relevanz und dem Nutzen eines Intentionalitätskonzepts in modernen literaturwissenschaftlichen Kontexten, vgl. D ANNE NBE RG , Lutz, M ÜLL ER , Hans-Ha-
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trarität semiotischer Prozesse unterliegen, insbesondere im Hinblick auf historische Situationen eindeutig zuzuordnen. Und ungeachtet der textuellen Appellstruktur und den Möglichkeiten der Leserlenkung entzieht sich die Reaktion und Deutung des Rezipienten – die klassische Rezeptionsästhetik spricht nicht umsonst von durch den Leser zu füllenden „Leerstellen“ – einer zwingenden Festschreibung.39 W OLFS Unterscheidung in Selbstreferenz und Selbstreflexivität als Verweisen und Bedeuten ist terminologisch sehr einleuchtend, allerdings stützt sie sich auf die genannten drei unsicheren Größen. Die hier geäußerten grundsätzlichen Bedenken spiegeln sich darin, dass die Herleitung der Definitionen nicht konsistent ist. Die Aufgabe des Rezipienten ist in W OLFS Entwurf eine doppelte. Einerseits soll er selbstreferentielles Verweisen im Text (beispielsweise Wiederholungsstrukturen) lediglich wahrnehmen, andererseits soll er intentional gesetzte selbstreferentielle Aussagen – die aufgrund gewisser formaler Konventionen im Text markiert sind – als solche verstehen.40 Diese Annahme berücksichtigt weder die historische Bedingtheit von solchen Markierungen noch sieht sie einen kreativen Lektüreprozess vor, der es dem Leser ermöglicht, literarische Strukturen auch ungeachtet einer möglichen Intention als Instanzen von Selbstreflexion zu lesen. Die Notwendigkeit des ‚Absichts-Kriteriums‘ wird über die sich aus den Prämissen ergebenden Schwierigkeiten hinaus dadurch in Frage gestellt, dass laut W OLF schon die Annahme der Intentionalität ausreicht, um Selbstreflexivität zu erzeugen.41 Die Setzung dieser Annahme muss wiederum vom Leser vollzogen werden. Es ist der Rezipient, der eine Unterscheidung zwischen einer rein strukturell-‚wahrnehmenden‘ und einer die Metaebene mitreflektierenden Lektüre verantwortet. Metaisierung als „Anregung einer kognitiven Aktivität“42 kann in Hin-
rald, Der ‚intentionale Fehlschluß‘ – ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften, Teil I und II, Zeitschrift IL für allgemeine Wissenschaftstheorie 14 (1983), S. 103–137 und S. 376–411, D ICKIE , George, W ILSON , W. Kent, Der intentionalistische Fehlschluss: Zu Beardsleys Verteidigung, in: Maria E. Reichert (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, 2. durchgesehene Auflage, Paderborn 2010 (KunstPhilosophie 8), S. 143–177, B ÜHLER , Axel, Ein Plädoyer für den hermeneutischen Intentionalismus, in: Maria E. Reichert (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, 2. durchgesehene Auflage, Paderborn 2010 (KunstPhilosophie 8), S. 178–198. W OLF , Metareference, S. 26 deutet die Problematik des Konzepts zumindest an, behält es aber weiterhin bei. 39 Vgl. z. B. I SER , Wolfgang, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Texte, 4. Aufl. Konstanz 1977 (Konstanzer Universitätsreden 28), passim. 40 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 33. 41 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 33. 42 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 33.
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blick auf den Rezipienten allerdings nicht ursächlich auf selbstreflexive Aussagen beschränkt bleiben. Auch selbstreferentielle Figuren können bei einer entsprechenden Lektürehaltung z. B. im Rahmen eines Close Reading zum Ausgangspunkt einer Reflexion des Textes werden. Die diesen Figuren innewohnende Selbstreferentialität muss allerdings wiederum im Akt der Rezeption decodiert werden und somit wäre das Kriterium der Intentionalität auch in diesem Fall am ehesten auf der Seite des Rezipienten und seiner Lektüreentscheidungen zu finden. Selbstreflexion und in Konsequenz auch Metaisierung steht daher nicht in unmittelbarer Beziehung zu dem textuellen Potenzial einer diskursiv markierten Selbstreflexivität, sondern kann sich auch anhand selbstreferentieller Passagen ergeben. Die deskriptive Relevanz der Termini ‚Selbstreferenz‘ und ‚Selbstreflexivität‘ beschränkt sich somit auf das von W OLF als ‚Aussagecharakter‘ bezeichnete Kriterium. Dieses ist objektiv nachweisbar. ‚Aussage‘ ist bei W OLF im linguistischen Sinn als Proposition zu verstehen. Der Text reflektiert sich selbst, da er Sätze bzw. Feststellungen über sich selbst beinhaltet, so die Argumentation. Da allerdings über dieses Kriterium keine Differenzierungen bezüglich einer rezeptionsästhetischen Funktionalisierung dieser Selbstaussagen getroffen werden können, ist es für die Beschreibung von Metaisierungen nicht brauchbar. Sämtliche – die rein linguistischen Referenzen einmal ausgenommen – von W OLF dargestellten Phänomene wären somit sowohl selbstreferentiell (also: selbstbezüglich) und zugleich auch selbstreflexiv (indem sie zu entsprechenden kognitiven Prozessen Anlass geben können). Symptomatisch dafür ist, dass W OLF in seiner letzten Differenzsetzung die Unterscheidung zwischen Referenz und Reflexivität wieder aufgibt, wenn er „metareferentielle Selbstreflexivität“, „Metareferenz“ und „Metareflexivität“43 synonym setzt. Die ‚Meta‘-Terminologie müsste gemäß W OLFS Systematik mit der Selbstreflexion bzw. Selbstreflexivität korreliert sein: ‚Reflexion‘ impliziert, dass eine zusätzliche Sinnebene, eine Reflexionsebene, etabliert wird, die nach einer gängigen Benennungsstrategie als ‚Metaebene‘ bezeichnet werden kann. Doch auch der Bereich der ‚Meta‘-Begriffe und Konzepte bietet keine einfache Alternative zu den bisherigen Versuchen, die hier untersuchten Phänomene zu fassen. Denn die Ambiguität des prägenden Begriffs ‚Metasprache‘ lässt analoge Wortbildungen schnell an ihre Grenzen stoßen.44 ‚Metasprache‘ kann sowohl als Sprache zweiter Ordnung verstanden werden (in diesem Sinn definiert T ARSKI Metasprache als die „Sprache, in der wir sprechen“ im Gegensatz zur Objekt
43 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 34. Später setzt er auch „Metamedialität“ in diese Reihe, vgl. W OLF , Metaisierung, S. 38. 44 Die Schwierigkeiten von ‚Meta‘-Komposita werden von W OLF erst 2009 kurz gestreift, vgl. W OLF , Metareference, S. 15 und S. 31–32.
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sprache als „Sprache, von der wir sprechen“45), sie kann aber auch als eine der (Objekt-)Sprache zugeordnete Reflexionsebene definiert werden, die sich ohne die medial-rekursive Figur der ersten Bedeutung zu bedienen, auf Sprache bezieht.46 Nach T ARSKIS Definition bedeutet die Verwendung von ‚Meta‘-Komposita immer Vervielfältigungen des gleichen symbolischen Systems (Sprache über Sprache, Wissenschaft über Wissenschaft). Dies gilt nicht für ihren heute gängigen Gebrauch, welcher in der Regel wie oben geschildert gemäß der zweiten Deutung auf eine Reflexions- oder Metaebene abzielt, ohne darin das ursprüngliche Medium, seine Regeln, Beschränkungen und Eigenarten zu erhalten: Metafiktion ist keine Fiktion über Fiktionen anderer Ordnung (oder sollte es zumindest nicht sein). Das breite Spektrum von ‚Meta‘-Begriffen kann in diesem Sinn gebraucht werden, um die Vielzahl „gattungs- und medienspezifischer Formen der Selbstreflexivität“47 zu erfassen. Das mit dem Präfix versehene Substantiv bezeichnet dabei die Objektebene, während die in ihr eingeschriebene Reflexion gleichzeitig die Metaebene konstituiert. Die gleichen ‚Meta‘-Komposita werden allerdings auch zur Bezeichnung von „Metawerken“, „Metagattungen“ („Metalyrik“ usw.) und ‚Metadiskursformen‘ („Metanarration“, „Metadeskription“) verwendet. In diesem Sprachgebrauch dienen die Begriffe nicht mehr zur Abgrenzung von Reflexion gegenüber einer Objektebene. Sie bezeichnen dann ein Werk, eine Gattung oder eine Diskursform, deren determinierendes Merkmal die Dominanz oder zumindest Prominenz selbstreflexiver Verfahren ist.48 Im Fall der bei W OLF gleichgesetzten ‚Metareferenz‘ und ‚Metareflexivität‘ ist das Verständnis noch einmal anders gelagert. Sie ist ein „Sonderfall der [...] Selbstreflexivität, bei der innerhalb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen [...] über dieses System [...] gemacht oder impliziert werden.“49 ‚Metareferenz’/‚Metareflexivität‘ ist also ein Teil eines bereits bestehenden ‚Meta‘-Diskur-
45 T ARSKI , Alfred, Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, in: Karl Berka, Lothar Kreiser (Hgg.), Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik, 4. durchgesehene Auflage, Berlin 1986, S. 445–546 [zuerst auf Deutsch erschienen in: Kazimierz Ajdukiewicz, Roman Ingarden, Kazimierz Twardowski (Hgg.): Studia Philososphica Commentarii Societatis philosophicae Polonorum, Bd. 1, Leopoli 1935, S. 261–405.], S. 460, Hervorhebungen von T ARSKI . An gleicher Stelle definiert T ARSKI ARS KI Metawissenschaft als „Wissenschaft, in der die Betrachtung angestellt wird“ im Gegensatz zu ihrem Objekt, der „Wissenschaft, die Gegenstand der Betrachtung ist.“ C HÜTTPEL TPELZZ , Erhard, Objektsprache und 46 Zur Problematik von Objekt- und Metasprache vgl. S CHÜT Metasprache, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hgg.), Literaturwissenschaft, München 1995, S. 179–216. 47 H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P ETERS , Metaisierung, S. 2. 48 Vgl. W OLF , Metaisierung, S. 36–37. 49 W OLF , Metaisierung, S. 38.
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ses und trägt nicht zu einer primären Differenzziehung zur Objektebene bei. Dieser Definition liegt ein Zirkelschluss zugrunde, denn Metaisierung als Einziehen einer Metaebene wird in W OLFS Herleitung wie oben beschrieben maßgeblich durch Selbstreflexivität konstituiert. Hier dagegen ist die Existenz einer Metaebene schon Voraussetzung für Selbstreflexivität im Allgemeinen und ‚Metareferenz‘/‚Metareflexivität‘ im Besonderen.50 Die Terminologien – Referenz/Reflexivität und MetaBegriffe – müssten, um schlüssig ineinanderzugreifen, anders miteinander kombiniert werden. Es wird deutlich, dass auch die Verlagerung in den Meta-Bereich keinen unproblematischen Ausweg aus den begrifflichen Schwierigkeiten bietet. Eine zweite Annäherung an selbstreflexive Prozesse verläuft über die Analyse ihrer textuellen Manifestationen. Über die strukturalistische Betrachtung literarischer Durchformung hinaus ist die Annahme einer durch den Text bewirkten Illusionsstörung, die eine Unterbrechung des immersiven Leseflusses zugunsten durch den Text angeleiteter und auf den Text bezogener Reflexion bewirkt, verbreitet.51 Die „illusionsdurchbrechende Funktion“52 kann durch diverse Strategien erreicht werden, die jeweils die Künstlichkeit und Gemachtheit des Textes unterstreichen: auf der Seite des discours unterschiedliche Formen der Metalepse, durch Leserapostrophen oder andere Arten von Fiktionsironie, ebenso durch die „Entwertung“53 der histoire durch Sinndefizite oder -überschüsse sowie durch ostentativ ausgestellte Wahrscheinlichkeitsdefizite. Auch Auffälligkeiten der sprachlichen Form – mithin das strukturalistische Verständnis von Selbstreferenz – können auf diese Weise die Künstlichkeit eines Werkes unterstreichen.54 Die vorliegende Untersuchung will kein neues Begriffsinventar schaffen. Sie übernimmt die gängigen Begriffe (Selbstreferenz, Selbstreflexion, Meta-Begriffe). Doch soll angesichts der sich aus daraus ergebenden Schwierigkeiten auf ihre
50 Warum in diesem Kontext die Unterscheidung von Referenz und Reflexivität aufgegeben wird, erläutert W OLF nicht. In einem anderem Zusammenhang begründet er die Bevorzugung des Referenz-Begriffs mit der durch den semiotischen Charakter bedingten universellen, d. h. transOL F , Metaisierung, S. 35–36 und W OLF , Metareference, S. 17), medialen Applizierbarkeit (vgl. W OLF allerdings ließe sich auch argumentieren, dass Selbstreflexivität ebenso wenig wie Selbstreferenz an spezifische mediale Kontexte gebunden ist. 51 Vgl. W OLF , Werner, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen, Tübingen 1993 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie 32). 52 H AUTHAL , N ADJ , N ÜNNING , P ETERS , Metaisierung, S. 3. 53 W OLF , Ästhetische Illusion, S. 266. 54 Eine ausführliche Zusammenstellung entsprechender Phänomene liefert W OLF , Werner, Ästhetische Illusion, S. 208–474, vgl. besonders die schematische Zusammenstellung auf S. 474. W OLF ergänzt die oben aufgeführten Möglichkeiten um die Kategorie der Komik, die sich allerdings sekundär aus den anderen Kategorien zusammensetzt.
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definitorische Festschreibung über produktions- oder rezeptionsästhetische sowie Textphänomene verzichtet werden. ‚Selbstreferenz‘ wird ein punktuelles Verweisen des Textes auf sich selbst bezeichnen, ‚Selbstreflexion‘ dagegen wird für breitere und dynamische reflexive Prozesse genutzt. Die Verwendung von ‚Meta‘Begriffen bleibt auf das Einziehen einer zusätzlichen Bedeutungsschicht beschränkt, auf ihren Gebrauch in generischen Kontexten hingegen wird verzichtet. Jenseits der Identifizierung einzelner Instanzen als Selbstreferenz oder -reflexion sollen beide Phänomene als Realisierung eines selbstreflexiven Potenzials des jeweiligen Textes verstanden werden, in welchem sich entsprechende Sinnstiftungsangebote realisieren und die Möglichkeit, nicht aber die Notwendigkeit literaturreflexiver Lektüren bieten. Was die textuellen Markierungen von selbstreflexiven Prozessen angeht, liegt der Fokus auf monströsen Gestalten und der Rolle, die sie in selbstreflexiven Kontexten spielen können. Eine universelle Applizierbarkeit der Begriffe oder des Ansatzes wird nicht angestrebt, im Gegenteil gilt es, auch wenn sich eine Übertragbarkeit auf andere Kontexte möglicherweise ergibt, vor allem den Besonderheiten mittelalterlicher Literatur Rechnung zu tragen.
1.1.2 Selbstreflexion in mittelalterlichen Texten Für mittelalterliche volkssprachliche Texte ist außerhalb der Literatur kein autonomer literaturreflexiver Diskurs überliefert, ganz zu schweigen von einer eigenständigen Literaturtheorie. Mittelalterlich-volkssprachliche Literaturreflexion ist nur als Teil literarischer Texte auf uns gekommen, sie ist also immer Selbstreflexion.55 Aussagen über den zeitgenössischen mittelalterlichen Literaturdiskurs müssen somit jeweils aus Einzeltexten erarbeitet werden. In den Texten manifestiert sich Selbstreflexion mit je eigener Prägung. Terminologie und Motivik können fallweise stark voneinander differieren, ebenso der Ort, die Art der Einbettung und die narrative Funktionalisierung von selbstreflexiven Passagen. Eine mögliche textübergreifende Referenz bietet der Rekurs auf die gelehrte lateinische
55 Damit korrespondiert, wie B E ATE K ELLNER ELL NER betont, dass die deutschsprachige Literatur des Mittelalters zum Zeitpunkt ihrer Entstehung keinen institutionalisierten Ort hat, vgl. K ELLNER , Beate, Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters, in: dies., Ludger Lieb, Peter Strohschneider (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt/M. u. a., 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153–182.
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Tradition der Rhetorik und Poetik (wobei die lateinischen Termini, wenn sie übernommen werden, in volkssprachlichen Texten jeweils unterschiedlich übersetzt bzw. umschrieben werden)56 sowie die intertextuelle Tradierung gewisser, von einflussreichen Vorbildern – seien es Autoren, seien es Texte – geprägter Motive, Metapherngruppen und Begriffe. Auch etablieren sich Prolog, Epilog und Exkurse als konventionalisierte Orte der literarischen Selbstreflexion.57 Zur terminologischen Erfassung des mittelalterlichen selbstreflexiven Diskurses wird häufig auf den Begriff der Poetologie zurückgegriffen.58 Der Terminus ist nicht eindeutig besetzt, wird aber in den meisten Fällen jeweils auf unterschiedliche Weise in Relation zur Poetik definiert. So kann Poetologie Äußerungen über Literatur, die einerseits nicht (wie Poetiken) notwendigerweise normativ sind, aber andererseits in der argumentativen Anlage und in der Vollständigkeit nicht unbedingt den Status einer Theorie beanspruchen59
56 Die Meinungen gehen hierzu auseinander. N IGEL F. P AL ALME ME R weist für G OTTFRIEDS OT TFRIEDS Tristan ALF RIEDS Poetria Nova nach, vgl. P ALMER AL MER , Nigel F., Literary criticism in Middle High Parallelen zu G ALFRIEDS German literature, in: Alastair Minnis, Ian Johnson (Hgg.), The Cambridge History of Literary Criticism Vol. 2. The Middle Ages, S. 533–548, hier S. 543–544, wohingegen andere Ansätze diese Möglichkeit grundsätzlich in Frage stellen. 57 Zu den Besonderheiten mittelhochdeutscher Literaturreflexion vgl. grundlegend H AUG , Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt HINC A , Mark, Y OUNG , Christopher, Literary theory and the German romance in the 1992, weiterhin C HINCA literary field c. 1200, in: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien Berichtbände XXIII), S. 612–644, hier S. 612– 618, P HILIPOWSKI , Katharina, Die Ordnungen des Erzählens und ihre Entblößung. Formalismus und Verfremdung als Selbstreflexion von Erzählstrategien, in: Manuel Braun, Christopher Young (Hgg.), Das Fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2007 (Trends in Medieval Philology 12), S. 195–224, hier S. 222–224, K IENING , Christian, Freiräume literarischer Theoriebildung. Dimensionen und Grenzen programmatischer Aussagen in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 405–449, hier S. 405–413, K IENING , Christian, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, München 2003, S. 113– 117. S. auch B RAUN , Manuel, R E IT ER , Nils, Prologe statistisch: Zur Ergänzung qualitativer Zugänge zur Poetologie der mittelhochdeutschen Literatur durch quantitative Analysen, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2018), s. 83–103, H ÜBNER , Gert, Historische Stildiskurse und historische Poetologie, in: Elisabeth Andersen, Ricarda Bauschke-Hartung, Nicola McLelland, Silvia Reuvekamp (Hgg.), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII Anglo-German Colloquium Düsseldorf, Berlin, New York 2015, S. 17–38, R ÜTHER ÜT HER , Hanno, Grundzüge einer Poetologie des Textendes in der deutschen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 2015 (Studien zur historischen Poetik 19). 58 Der Begriff ist selbstverständlich nicht auf eine Anwendung in der Mediävistik beschränkt. ARZE R , Friedmann, Artikel Literaturtheorie, in: Klaus Weimar, Harald Fricke, 59 Z IMA , Peter V., H ARZER Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neu-
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bezeichnen, oder als rein deskriptive, also theoretisch analysierende, philosophisch systematisierende oder auch historisch typologisierende Beschäftigung mit [...] Grundsätzen, Regeln [und] Verfahrensweisen beim Schreiben von Literatur [...] im Sinne einer Theorie der Herstellung von Poetizität in Texten60
eine Teilbedeutung von Poetik substituieren. Das Verhältnis zur Poetik ist für diese Definitionen zwar konstitutiv, aber – schon die zwei unterschiedlichen Ansätze zeigen es – bisher noch nicht systematisch geklärt.61 In beiden hier angeführten Fällen wird Poetologie parallel zur Poetik gedacht, ein Mal als ungeordnetes Gegenstück, ein Mal als wenig komplexer, deskriptiver Teil. In beiden Fällen jedoch als eine vom Text unterschiedene Instanz, deren Realisierung oder Materialisierung den Text konstituiert. Poetologie, die sich in diesem Sinn im literarischen Text manifestiert, wird entsprechend auch als ‚implizite Poetik‘ bezeichnet.62 Poetologie kann auch viel breiter und mit einem weniger funktionalen als thematischen Fokus verstanden werden. M AX W EHRLI bezieht den Terminus auf „die Gesamtheit der Literatur und ihre [...] Zusammenhänge“63. Auch hier steht Poetologie in Bezug zu Poetik, indem letztere im klassischen Sinn auf den produktionsästhetischen Aspekt der Herstellung insbesondere poetischer Textformen bezogen verstanden, Poetologie dagegen als umfassender Analysefokus auf die Instanzen des literarischen Feldes angewandt wird. Mit diesen beiden Positio-
bearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin, New York 2007, Bd. 1, S. 187–189, hier S. 483. 60 F RICKE , Harald, Artikel Poetik, in: Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin, New York 2007, Bd. 3, S. 100–105, hier S. 100. ÜL LER ER -R ICHT ER , Klaus, Einleitung, in: ders., Arturo Larcati (Hgg.), Der Streit um die 61 Vgl. M ÜLL Metapher. Poetologische Texte von Nietzsche bis Handke. Mit kommentierenden Studien, DarmÜL LER -R ICHTER ICHT ER vermutet, dass ‚poetologisch‘ als stadt 1998, S. 4–30, hier S. 25, bes. FN 45. M ÜLLER Adjektiv zu ‚Poetik‘ geprägt wurde, um das schon anderweitig besetzte ‚poetisch‘ zu ersetzen, daraus habe sich dann ‚Poetologie‘ entwickelt. 62 Vgl. z. B. L AUDE , Corinna, „Daz in swindelt in den sinnen...“ Die Poetik der Perspektive bei Heinrich Wittenwiler und Giovanni Boccaccio. Berlin 2003 (Philologische Studien und Quellen IC KE , Gerd, E IKELMANN IKEL MANN , Manfred, H ASEBRINK , Burkhard, 173), S. 226–245, programmatisch in D ICKE Historische Semantik der deutschen Schriftkultur. Eine Einleitung, in: dies. (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 1–12, hier S. 4–6. 63 W EHRLI , Max, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung, Stuttgart 2006 (Reclam Universal Bibliothek 8038), S. 20.
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nen ist die Problematik mittelalterlicher literarischer Selbstreflexion aufgespannt: ihre Mechanismen und ihr Skopus. Soll nun das Konzept der Poetologie mit der im vorangegangenen Kapitel entworfenen Systematik in Einklang gebracht werden, ist es angebracht, die Terminologie im Hinblick auf ihre Angemessenheit für mittelalterliche Gegebenheiten zu überprüfen. ‚Referenz‘ und ‚Reflexion‘ sind zwar als konzeptuelle Bestandteile eines methodischen Instrumentariums nicht den Besonderheiten der historischen Situation unterworfen, doch das ‚Selbst-‘, der Bezugsrahmen, muss für mittelalterliche Texte geklärt werden: Was haben Selbstreferenz und Selbstreflexion in mittelalterlichen Texten zum Gegenstand? Literaturreflexive Aussagen sind in mittelalterlichen Texten nicht nur auf den Einzeltext beschränkt, sondern können sich auch auf das Œuvre eines Autors, Textgruppen wie Gattungen, Überlieferungszusammenhänge oder Stoffkreise bis hin zur Literatur als Kunstform allgemein beziehen. Die Reflexion bleibt nicht auf den Bereich literarischer Erzeugnisse als solche limitiert. Auch das Erzählen, die Fiktionalität, Textproduktion und Rezeption, literarische Gönner, Vorbilder und negative Beispiele können in entsprechenden Passagen verhandelt werden, letztendlich, wie W EHRLI es postuliert, sämtliche Instanzen des literarischen Feldes. Selbstreflexion muss daher, um die historische Breite auffangen zu können, als literarisches Phänomen verstanden werden, das jeweils im Einzeltext seinen Ausgang nimmt, aber nicht unbedingt ausschließlich auf den Text als Text bezogen bleibt, sondern über dessen Ränder hinaus relevant werden kann. Neben das ‚Was‘ tritt unweigerlich auch die Frage nach dem ‚Wie‘. Poetologie als implizite Poetik zu verstehen bedeutet, einen Deutungsanspruch an den Text heranzutragen. Die in einem Text inbegriffene Poetik bzw. seine Poetologie muss erschlossen, explizit gemacht und in eine literaturwissenschaftliche Terminologie überführt werden. Die Rolle des Interpreten ist hier nicht zu unterschätzen,64 er ist derjenige, der selbstreflexive Passagen identifizieren und aufschlüsseln muss. Er kann sich dabei auf textuelle Strategien der „Selbstentblößung“65 berufen oder auf ihre oben genannten konventionalisierten Orte. Die Frage der Erkennbarkeit – und damit das Problem der Explizitheit bzw. Implizitheit – von Selbstreflexion stellt sich in einem Kontext, der keine einheitliche literaturreflexive Terminologie kennt, in besonderem Maße. Das von W OLF vorgeschlagene „Kriterium der Zitierbarkeit semantisch metareferentieller Lexe-
64 Dies betont auch M ÜLLER -R ICHTER , Einleitung, S. 25, bes. FN 45. OL F , Ästhetische Illusion, 65 P HILIPOWSKI , Die Ordnungen des Erzählens, S. 195 vgl. auch W OLF passim.
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me“66 zur Identifizierung explizit selbst-reflexiver Passagen, kann für mittelhochdeutsche Texte aufgrund semantischer Unschärfen und des häufigen Gebrauchs von Formen uneigentlicher Rede nicht in jedem Fall hilfreich sein. Auch da eine außerliterarische Terminologisierung von Literaturreflexion und somit die Möglichkeit einer ‚Gegenprobe‘ nicht vorliegt,67 muss die Annäherung über Explizierung immer mit einem Fragezeichen versehen bleiben.68 Jede selbstreflexive oder auch selbstreferentielle Äußerung eines mittelhochdeutschen Textes bleibt somit mit einer latenten Implizitheit versehen, die in der Analyse solcher Phänomene berücksichtigt werden muss. Insbesondere in der Analogiesetzung zu einer präexistenten Poetik erhält die Poetologie den Status eines dem Werk übergeordneten, von ihm losgelösten Regelwerks, das es zu entschlüsseln gilt, und läuft Gefahr, sich in hermeneutischen Prozessen zu erschöpfen und die starke Bedingtheit durch das Werk und den Text selbst zu vernachlässigen. Die Frage nach der Identifizierbarkeit von expliziten und impliziten poetologischen Äußerungen macht auch die Konzeptualisierung einer Metaebene schwierig. Eine Metasprache im Sinne eines ‚Sprechens über‘ einen bestimmten Sachverhalt ist nicht eindeutig festzustellen, da diese jeweils mit der literarischen Objektsprache identisch ist. Die Reflexionsebene wird also mit der gleichen Sprache – und zwar ohne den überlieferten Ausweg eines zeitgenössischen Paralleldiskurses – wie das Reflexionsobjekt konstituiert. Dieser Simultanität muss methodisch Rechnung getragen werden. Hier wird der Ausweg gewählt, dass die Existenz einer solchen Metaebene als konstitutiv für literarische Texte vorausgesetzt wird. Die Existenz einer Metaebene und die Möglichkeit der Metaisierung sind dabei nicht ausschließlich an ihre Explizitheit gebunden, sondern ihre Sichtbarkeit ergibt sich aus einem in der Rezeption vollzogenen Perspektivenwechsel. W ALTER H AUGS Arbeit zur „Literaturtheorie im Deutschen Mittelalter“ war insofern richtungsweisend, als in ihr zuerst volkssprachliche Literaturreflexion werk- und kontextbezogen und in Loslösung von der lateinischen Poetik- und
66 W OLF , Metaisierung, S. 42. Als Beispiele für solche Lexeme nennt W OLF „story“, „telling“ und „characters“. 67 Einen Überblick über die komplexen Zusammenhänge mittelhochdeutscher Literaturterminologie und die methodischen Möglichkeiten zum Umgang mit ihr bieten die Beiträge im SammelAS EBRINK , Burkhard (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. band D ICKE , Gerd, E IKELMANN , Manfred, H ASEBRINK Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10). HINC A 68 Eine rein situative Unterscheidung von impliziter und expliziter Selbstreflexion wie sie C HINCA und Y OUNG vorschlagen, indem sie jede Selbstreflexion, die außerhalb der etablierten Bereiche des Prologs, Epilogs und von Exkursen vollzogen wird, als implizit bezeichnen, ist hier ebenfalls nur bedingt hilfreich, da sie das eigentliche Problem einer formalen Differenzierung umgeht, vgl. C HINCA , Y OUNG , Literary Criticism, S. 614.
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Rhetoriktradition betrachtet wurde, wie sie in der Germanistik in der Nachfolge von E RNST R OBERT C URTIUS lange etabliert war.69 Die Verwendung des Begriffs „Literaturtheorie“ ist allerdings in der Nachfolge in einem Punkt zurecht kritisiert worden.70 Das Verständnis von Theorie als eines von Einzelwerken unabhängigen Diskurses mit eigenen Systematiken und dem Anspruch der Generalisierbarkeit71 ist den singulären und jeweils im Einzeltext verwurzelten Reflexionen nicht angemessen. Stattdessen sind die Begriffe des „Vortheoretischen“ oder präziser noch „Mittheoretischen“72 ins Spiel gebracht worden, die sowohl dem zweifachen Bezugsrahmen (das literarische Feld allgemein und der Einzeltext) als auch der Besonderheit der Literaturreflexion im Medium der Literatur eher angemessen sind. In H AUGS Nachfolge sind eine Reihe Arbeiten entstanden, die mittelhochdeutsche Texte auf ihre implizite Poetik hin lesen. Sie betrachten je unterschiedliche Gegenstände und Bezugsgrößen der poetologischen Reflexion und unterfüttern ihre Untersuchungen in der Regel auch mit methodischen Überlegungen. Hier sollen nur kurz beispielhaft einige dieser Arbeiten vorgestellt werden, um einen Eindruck der Möglichkeiten und Probleme der jeweiligen Vorhaben zu vermitteln. Ein verbreiteter Ansatz beruht darauf, die literarischen Phänomene im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturen zu lesen. C HINCA und Y OUNG verstehen poetologische Reflexion als Teil der Ausbildung eines literarischen Feldes nach B OURDIEU . Der Text und insbesondere seine selbstreflexiven Passagen wären dadurch als soziale Handlungen zu verstehen, mittels derer sich ein sozial autonomer Bereich des Literarischen formiert und eine Wirkung über sich selbst hinaus entwickelt.73 B EATE K ELLNER argumentiert unter ähnlichen Prämissen. Sie betont die Gebundenheit der Literatur an soziale Strukturen und dass volkssprachliche Literatur des Mittelalters keine Institutionalisierung kennt. Durch „Traditionsbildung, das heißt durch die reflexiven Formen der Selbstbeschreibung von Literatur“,74 etabliert sich ihrer Ansicht nach über Kanonisierungspro-
69 H AUG , Literaturtheorie, S. 1–3, eine Modifikation seiner Thesen vollzieht er in H AUG , Walter, Für eine Ästhetik des Widerspruchs. Neue Überlegungen zur Poetologie des höfischen Romans, in: Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, Tübingen 1999, S. 481–504. 70 Vgl. K IENING , Freiräume, S. 406–407 und C HINC A , Y OUNG , Literary Criticism, S. 613–614. 71 Vgl. C HINCA , Y OUNG , Literary Criticism, S. 613. 72 K IENING , Freiräume, S. 449, vgl. auch C HINCA , Y OUNG , Literary Criticism, S. 613–614. 73 Vgl. C HINCA , Y OUNG , Literary Criticism, S. 635–639. EL LNER NER , Eigengeschichte und literarischer Kanon, S. 154. 74 K ELL
1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
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zesse ein Modus, der eine entsprechende strukturierende Funktion einnehmen kann. Das Paradigma der Tradition bzw. literarischen „Eigengeschichte“75 nimmt eine Zwischenstellung zwischen soziologischen und literarischen, genauer intertextuellen Ausrichtungen poetologischer Reflexion ein. In diesem Sinn ist auch N IGEL F. P ALMERS Ansatz zu verstehen, der in Autorenkatalogen „literary criticism“ im doppelten Wortsinn verwirklicht sieht, als Literaturreflexion und Literaturkritik. Die Auseinandersetzung mit anderen Autoren dient seiner Ansicht nach nicht nur zur Etablierung des eigenen Werks im literarischen Feld und zur Schaffung einer auf die zitierten Autoren bezogene Rezipientengemeinschaft zwischen dem Textproduzenten und seinen Lesern, sondern hat zudem Rezensionscharakter, wobei die Bewertung der zitierten Texte wieder Einfluss auf die Reflexion eines eigenen Programms hat.76 P ALMER untersucht das Motiv über einen gewissen Zeitraum hinweg und stellt eine Entfunktionalisierung der Kataloge hin zu einfachen Listen fest, die ausschließlich dazu dienen, den Text seiner Tradition zu vergewissern. Auch wenn diese Lektüre an manchen Stellen sicherlich noch präzisiert werden müsste, ist seine Beobachtung aufschlussreich, der zufolge die selbstreflexiven Passagen der Kataloge gewisse rhetorische Systemstellen ersetzen. Im Tristan beispielsweise nimmt der Katalog die Stelle ein, an der eigentlich die descriptio von Tristans Ausstattung stehen sollte.77 Poetologische Passagen wären demnach als formale Einheit zu betrachten, die sich nicht nur durch ihre relationale und reflexive Leistung, sondern auch über ihre ästhetische Funktion in den Text einfügen. Einen intertextuellen Ansatz verfolgt C HRISTIAN K IENING für Texte des 12. Jahrhunderts als „allmähliche Emanzipierung aus lateinisch-klerikaler Tradition“,78 die sich in jedem Text neu vollzieht, indem sie Lizenzen erarbeitet, in welchen sich eine eigene volkssprachliche Literarizität formieren kann. Eine gänzlich intratextuelle Analyseperspektive wählt K ATHARINA P HILIPOWSKI in ihrer Arbeit zum Paradigma der „Formvollendung“, wobei Form nicht in Opposition zum Inhalt zu denken ist, sondern als „Ordnung, die beides durchdringt“.79 P HILIPOWSKI weist nach, wie sich dieser Formwille jeweils in den unterschiedlichen Ebenen des Textes, in Sprache, histoire und discours manifestiert und untersucht seine Zur-Schau-Stellung durch Verfremdungseffekte, mithin durch ‚Störungen‘, im gesamten Textgefüge. Sie plädiert gegen ein anthropologi75 76 77 78 79
K ELL EL LNER NER , Eigengeschichte und literarischer Kanon, S. 154. Vgl. P ALMER , Literary criticism, S. 533–534. Vgl. P ALMER , Literary criticism, S. 534–536. K IENING , Freiräume, S. 409. P HILIPOWSKI , Die Ordnungen des Erzählens, S. 196.
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sches Literaturverständnis und eine soziologische Begründung von selbstreflexiven Prozessen. Volkssprachliche mittelalterliche Literatur muss, was sie ist und will, wen sie anspricht, wovon sie erzählt und woraus sie ihren Geltungsanspruch ableitet, […] in sich und durch sich selbst artikulieren, sie muss sich gleichsam selbst definieren, stabilisieren und institutionalisieren, muss die Sonderform des Sprechens, die sie darstellt über „unsystematisch poetologische Aussageformen im Medium der Dichtung selbst“ verhandeln.80
A NNE S OPHIE M EINCKES 81 Untersuchung zur Fiktionalität des spätmittelalterlichen Romans geht in ihren methodischen Ansprüchen noch einen Schritt weiter. Sie untersucht den oft festgestellten Zusammenhang zwischen Selbstreflexivität und Fiktionalität und kommt zu dem Schluss, dass sich der Text gegen die Ansprüche eines modernen Fiktionalitätsverständnisses sträubt und dass konsequenterweise die Applikation moderner Kategorien auf mittelalterliche Texte nicht ohne weiteres vollzogen werden kann. Die folgenden methodischen Klärungen sollen vor diesem Hintergrund dazu dienen, selbstreflexive Prozesse in mittelalterlicher Literatur in ihrer Komplexität adäquat beschreibbar und analysierbar zu machen.
1.1.3 Methode und Vorhaben Wenn sich Literaturreflexion in der Literatur selbst vollzieht, ergibt sich ein methodisches Grundproblem, das dem Ausgangspunkt der Sprachphilosophie D ERRIDAS und H EIDEGGERS ähnlich ist: Sie beginnen beide [H EIDEGGER und D ERRIDA ] mit der systematischen Selbstreferenzialität der Frage nach der Sprache im Medium von Sprache. Die Schwierigkeit ist pointiert in der Unmöglichkeit, die Sprache von einem anderen Ort als der Sprache her zu thematisieren, weil das Andere, das die Reflexion ermöglicht, schon Sprache ist. Alles Sprechen über Sprache spricht von der Sprache, die es spricht. Deswegen bedeutet, über Sprache zu sprechen mittels desjenigen Mediums zu sprechen, wovon es handelt. Jedem Thema, jedem Diskurs erweist sich die Sprache bereits vorgängig, so dass sie, wo sie als Sprache zum Thema, zum Diskurs gemacht wird, hartnäckig, zuweilen sogar unbotmäßig eingreift und
80 P HILIPOWSKI , Die Ordnungen des Erzählens, S. 222, das Zitat im Zitat stammt aus K IENING , Zwischen Körper und Schrift, S. 40. 81 M EINC KE , Anne Sophie, Narrative Selbstreflexion als poetologischer Diskurs. Fiktionalitätsbewusstsein im Reinfried von Braunschweig? Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literaturgeschichte 136 (2007), S. 312–351.
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mitspricht. Der Eingriff und seine Einmischung bleiben allerdings unthematisch, so dass sich das Sprechen über die Sprache in der verwirrenden Situation befindet, dass sich inmitten der Thematisierung das Thematisierte notwendig verdunkelt.82
Der innerliterarische selbstreflexive Diskurs ist bei erstem Hinsehen gekennzeichnet durch ein vergleichbares „Mitsprechen“ des Literarischen. Wenn in literarischen Texten über Literatur – sei es im Allgemeinen, sei es über den jeweiligen Text im besonderen – reflektiert wird, ist das dem selbstreflexiven Diskurs Zugehörige immer auch Teil des literarischen Texts oder der literarischen Gattung (sowie natürlich der Rezeptionssituation, der intendierten Wirkung usw.), über welche es Aussagen trifft. Diese Gleichzeitigkeit ermöglicht und befördert Interferenzen des Literarischen im reflexiven Prozess. Die Reflexion vollzieht sich anhand literarisch, wenn nicht sogar poetisch geformter und somit artifizieller und assoziativ aufgeladener Sprache. In erzählender Literatur kann zudem eine interferierende Erzählerfigur, deren Zuverlässigkeit nicht über jeden Zweifel erhaben ist, zu zusätzlichen Unsicherheiten führen; ein Übriges tut der fiktionale Charakter eines Textes. Auch ist in einem Kontext, der wie das volkssprachige Mittelalter keinen außerliterarischen Literaturdiskurs kennt, die Sinngebung gänzlich auf literarische Muster angewiesen und der reflexive Diskurs vollzieht sich in Metaphern, Symbolen und Allegorien, die eigentliches Proprium seines Gegenstandes sind. Konsequenterweise ist auch die (primäre) Rezeption der Reflexion auf Mechanismen einer literarischen Lektüre angewiesen. Doch der blinde Fleck innerliterarischer Selbstreflexion ist nicht ganz mit dem Dilemma der Sprachphilosophie vergleichbar. Literatur ist in Bezug auf die Sprache sekundär, es besteht also die Möglichkeit, nicht-literarisch über Literatur zu sprechen – zumindest für den modernen Mediävisten ist dies der Fall. Er steht durch die Möglichkeit des Rückgriffs auf ein literaturwissenschaftliches Begriffsinventar prinzipiell außerhalb der Gemengelage, ist aber dadurch nicht aller Probleme enthoben. Will er die zeitgenössischen literaturreflexiven Strategien volkssprachlicher Dichtung nachvollziehen, ist er wiederum auf den Text angewiesen. Literaturreflexion wird also durch Literatur erst ermöglicht – und auch wieder nicht. Einerseits kennt das deutschsprachige Mittelalter keinen anderen Ort dafür als die Literatur (und an diesen Ort muss die Mediävistin folgen), andererseits ist das Literarische auch im Mittelalter ein Sinnmuster zweiter Ordnung, das sich der Sprache bedient.83 82 M ERSCH ERS CH , Dieter, Negative Medialität, Online-Publikation, undatiert (online unter http://www. dieter-mersch.de/Texte/PDF-s/, Zugriff am 20.04.2012, 15 Uhr). 83 Aus heutiger Perspektive wäre angesichts der Überlieferungslage mittelhochdeutscher TextERS CH formuzeugen zu überlegen, ob sich hier nicht doch eine identische Abbildung des von M ERSCH
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1 Theorie, Methode und Monster
Die Frage, ob das „Eingreifen“ des Literarischen in die Reflexion bzw. in diesem Kontext vielleicht besser die literarische Bedingtheit von innerliterarischer Literaturreflexion in mittelalterlichen Texten wie M ERSCH es für die Sprache postuliert „unthematisch“ bleibt, mithin nicht in die Reflexion mit einfließt, ist somit nicht einfach zu beantworten. Ein Hinweis auf ein Bewusstsein der Problematik zeigt sich in den Primärtexten, indem die Selbstreflexion meist aus der Diegese herausgenommen wird. Sie wird, wie schon angesprochen, topisch in Prolog, Epilog und in Exkursen entfaltet, wobei sie häufig durch eine direkte Apostrophe des Erzählers oder andere Formen der Metalepse auch narratologisch von der erzählten Welt geschieden wird. Mit diesem Verfahren ist gewissermaßen der erste Schritt in Richtung einer Vermeidung möglicher Interferenzen des Literarischen in Reflexionsprozessen getan. Die pragmatische, teils ins Paratextuelle tendierende Funktion von Prolog (insbesondere praeter rem) und Epilog wirft auch ein neues Licht auf die Frage nach der Relevanz der Illusionsstörung für selbstreflexive Verfahren. Prologe und Epiloge sind, wenn man das Romanganze betrachtet, von der Narration abgehobene, gewissermaßen ‚illusionsfreie‘ Bereiche, bzw. sie bedienen eine andere als die fiktional-literarische Illusion, nämlich jene einer spezifischen Kommunikationssituation. Ihre Rahmenfunktion unterstreicht dadurch eher die Einheit des Textes, als dass sie ihn fragmentiert. Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Monster als Instanzen und Vehikel literarischer Reflexion sind in Bezug auf die methodische Frage ebenfalls aufschlussreich. In Bezug auf ihre narratologische Verortung und reflexive Funktionalisierung sind diese Figuren polyvalent. Sie sind gerade nicht Teil der topischen Reflexionsorte, sondern tief im Text und in der Handlung verwurzelt, sind aber zugleich, wie zu zeigen sein wird, durch gewisse narratologische Strategien von der übrigen Handlung abgehoben. Die Analyse literarischer Selbstreflexion muss, das unterstreichen Monster nachdrücklich, im Text ihren Ausgang nehmen. Im Blick auf die Forschungssituation wäre es nun naheliegend, Monster selbst auf ihr illusionsstörendes Potenzial hin zu analysieren. Doch das gestaltet sich als schwierig. Der monströse Körper ist einerseits offensichtlich fiktiv und somit der Sphäre des Literarischen zuzurechnen, insbesondere in Kontexten, die wie der höfische Roman, wunderbar-phantastische Elemente lizensieren. Er stellt also für sich genommen keinen Grund dar, eine illusionistische Lektüre zu stören. Andererseits stellt gerade die Hybridität des monströsen Körpers dessen
lierten Problems ergibt. Mittelhochdeutsch als Sprache ist praktisch ausschließlich an Formen literarischer Sinnstiftung gebunden, es ist Literatursprache, es existieren so gut wie keine nicht in irgendeiner Form literarisierten Quellen.
1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
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Gemachtheit aus, eine Irritation, welche die literarische Illusion und den Lesefluss, wenn nicht unterbrechen, so doch stören kann. Eine Annäherung an das selbstreflexive Potenzial monströser Figuren soll sich aufgrund dieser Unsicherheit nicht auf eine textzentrierte oder sogar textimmanente Analyse der Figuren selbst beschränken, sondern nimmt – ohne allerdings die Lektüre zu vernachlässigen – ihren Anfang im Monster an sich. Monstrosität ist vielschichtig. Sie kann anhand der materiellen Manifestation monströser Körper betrachtet werden, über die diskursive Zuschreibung von Monstrosität (also über Benennungen) und in den Funktionen, welche der Diskurs über das Monster erfüllen kann.84 Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sperrt sich gegen eine säuberliche Differenzierung dieser drei Perspektiven. Die mittelalterliche Annahme einer sinndurchwirkten Welt verstrickt die Bezeichnungen, Erscheinungen und Funktionalisierungen von Monstern in ein dichtes Netz an wechselseitigen Bezügen, das durch die literarische Durchformung der Gegebenheiten zu einem komplexen und unauflösbaren Muster verknüpft wird. Um dieser Ausgangslage Rechnung zu tragen, werden zunächst die kulturhistorisch und literarisch relevanten Diskursivierungen von Monstrosität dargestellt, um ein Bezugsfeld zu schaffen, von dem ausgehend die mittelalterlichen Texte möglichst aufschlussreich gelesen werden können. Monster erscheinen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion geradezu prädisponiert zur literarischen Reflexion. Ausgehend von der so erarbeiteten Prämisse, dass Monster reflexiv auf den Text zu beziehen sind, können in einem Close Reading ihre je konkreten Bezüge zu dieser Diskussion sowie die literarischen Eigenarten monströser Selbstreflexion beschrieben werden. Die ausführliche Darstellung der zeitgenössischen Hintergründe hat ein weiteres Ziel: Sie dient der historischen Absicherung der medientheoretischen Analyse. Denn ein zweites Anliegen der Arbeit ist es, die Funktionsweise der Monster in der literarischen Selbstreflexion zu beleuchten. Dafür wird auf moderne medientheoretische Konzepte zurückgegriffen. Diesen werden Details aus der mittelalterlichen philosophischen und theologischen Tradition zur Seite gestellt, die vergleichbare Denkfiguren vollziehen. Die Engführung des modernen Ansatzes mit einer historischen Parallele leistet zwar keine Garantie für eine angemessene Applizierbarkeit, umgeht aber immerhin die Problematik einer gänzlich unvermittelten Übertragung anachronistischer Ansprüche auf ein Phänomen, das seine 84 P ARR , Rolf, Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 19–42, hier S. 19; vgl. dazu auch Kapitel 1.2.5.
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1 Theorie, Methode und Monster
primäre und eigentliche Relevanz schließlich in der zeitgenössischen Rezeption finden musste. Literarische Selbstreflexion ist rezipientenorientiert. Im Einbezug der mittelalterlichen Theorien kommt die Lektüre der Monster sowohl dem zeitgenössischen als auch dem modernen Rezipienten entgegen und ermöglicht eine aufschlussreiche Lektüre der hier behandelten höfischen Romane. Soviel zum Vorhaben der Arbeit. Zwei methodisch zentrale Fragen sind jedoch bisher unbeantwortet geblieben: Warum Monster und warum Medien bzw. Medialität? Beide Fragen lassen sich in einem beantworten, denn sie betreffen beide das Problem literarischer Selbstreflexion. Und beiden muss eine Einschränkung vorangeschickt werden. Es handelt sich um heuristische Kategorien, deren Applikation nicht um jeden Preis vollzogen werden soll, sondern die an die Texte und deren Hintergründe herangetragen werden und auf ihre Applizierbarkeit überprüft werden sollen.85 Dem gängigen Verständnis von Selbstreflexion liegt (vgl. Kapitel 1.1) ein semiotisch konstituiertes Ebenenmodell zugrunde. Der Text verweist an gewissen Stellen über sich hinaus auf eine ihm beigeordnete und vom Literarischen abgehobene Metaebene, die es wiederum ermöglicht, den Text in seiner Literarizität zu reflektieren. Allerdings hat sich gezeigt, dass dieses in seinen Grundannahmen binäre Modell – die Binarität der zwei Ebenen wird durch ebenfalls binäre semiotische Relationen gespiegelt86 – der Komplexität literarischer Selbstreflexion schwerlich gerecht werden kann. Die semiotische Analyse selbstreflexiver Vorgänge vernachlässigt zumeist die Gleichzeitigkeit und Interdependenz verschiedener Prozesse. Sobald die Metaebene identifiziert ist, gerät der Text als solcher aus dem Blick. Die Medialität stellt eine Struktur zur Verfügung, mit deren Hilfe die Simultanität und die wechselseitige Bedingtheit von literarischer Realisierung und Reflexion greifbar gemacht werden kann. Semiotische Verweisungsprozesse sind unzweifelhaft Teil von selbstreflexiven Bezügen, allerdings müssen sie häufig zu der kognitiven Aktivität reflexiver Prozesse hin überschritten werden. Über die Medialität lassen sich somit auch komplexe polyfunktionale Strukturen wie z. B. der Fall einer handlungstragenden literarischen Figur, die im Text allegorisch gedeutet wird
85 Ähnlich verfährt M ONIKA S CHAUST EN , vgl. S CHAUSTE CHAUST EN N , Monika, Suche nach Identität. Das ‚Eigene‘ und das ‚Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 2006 (Kölner Germanistische Studien N.F. 7), S. 21–26. 86 Im rekursiven Fall einer Meta-Metaebene wechselt der Fokus, die binäre Struktur bleibt aber erhalten: die ursprüngliche Metaebene wird zum Objekt, dem eine weitere Metaebene zugeordnet wird.
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und darüber hinaus eine Realisierung von poetologischer Metareflexion ist, beschreiben. Monster bieten sich zur literarischen Manifestation solcher Prozesse an.87 In mittelalterlichen literarischen Texten integrieren sie, wie oben schon angedeutet, die unterschiedlichen Textebenen und sind durch eine Polyphonie der Diskursivierungen gekennzeichnet. Sie sind durch ihre Teilhabe an zeitgenössischen Ordnungen auf die Aspekte der Reflexivität und Relationalität hin markiert und verkörpern das Medien eigene Prinzip des ‚sowohl als auch‘. Über die Figur des Monsters kann eine medial begründete Lektüre selbstreflexiver Vorgänge dem „Mitsprechen“ des Literarischen gerecht werden. Die terminologische Verankerung, die das solchermaßen reflexiv gelesene Monster mit einem gewissen Grad an literaturreflexiver Explizitheit versieht, ermöglicht der mit dem Monster kookkurierende Begriff der âventiure. Als ‚Geschehen‘ hat die âventiure Anteil an der Diegese, mit der Bedeutung ‚Bericht von einem Geschehen‘ am metaliterarischen Bereich. In der âventiure verdichtet sich das methodische Desiderat der Selbstreflexion mit den Eigenschaften des Monströsen zu einer Schlüsselstruktur der vorliegenden Arbeit.88
1.1.4 Medialität Eine Antwort auf die Probleme, die sich aus einem semiotischen Verständnis selbstreflexiver Prozesse ergeben und die zudem den Anforderungen einer vormodernen Literaturreflexion gerecht wird, liefert die Beschreibung der entsprechenden Strukturen mit Hilfe des Paradigmas der Medialität.89 Das bei W OLF so problematische Verhältnis von Selbstreferenz, Selbstreflexion und Metaebene, das sich in der tautologischen Verstrickung von Ursache und
87 Sowohl mittelalterliche als auch moderne Konzeptionen des Monströsen bedienen sich des Medialen, um die sich am Monster entfaltenden komplexen Prozesse darstellbar zu machen, vgl. Kapitel 1.2.7. 88 Vgl. dazu das Kapitel 1.3. 89 Zur Medialität aus mediävistischer Perspektive s. zuletzt: O RTLIEB , Cornelia, Materialität und Medialität, in: Susanne Scholz, Ulrich Vedder (Hgg.), Handbuch Literatur & Materielle Kultur, EXROT H , Frank, S C CHRÖDE HRÖDER R -S TAPPE T APP ER R , Teresa (Hgg.), Experten, Berlin, New York 2018, S. 38–46, R EXROTH Wissen, Symbole: Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen, Berlin, New York ERT EN , Lydia, Medialität und Performativität. Kulturwissenschaftliche 2018, B UBERT , Marcel, M ERTEN Kategorien zur Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen, in: Frank Rexroth, Teresa Schröder-Stapper (Hgg.), Experten, Wissen, Symbole: Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen, Berlin, New York 2018, S. 29–68, K IENING , Christian, Fülle und Mangel: Medialität im Mittelalter, Zürich 2016.
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Wirkung manifestiert – selbstreflexive Aussagen etablieren eine Metaebene, doch um solche Aussagen treffen zu können wird die Metaebene schon vorausgesetzt – kann so geklärt werden. Auch wird durch die nicht-semiotische Kategorie des Medialen eine Differenzierung zwischen Selbstreferenz und Selbstreflexivität ermöglicht, die sich weder auf die unklaren Kategorien der Intentionalität noch auf produktions- oder rezeptionsästhetische Aspekte berufen muss. Der besonderen Situation der Mediävistik wird diese Strategie insofern gerecht, als in der Konzeptualisierung von Medialität die Teilhabe der vermittelnden Instanz am reflexiven Prozess immer mitgedacht ist. Mit diesen knappen Andeutungen, die im Folgenden näher zu erläutern sein werden, ist das für diese Arbeit angesetzte Verständnis von Medialität schon umrissen. Es handelt sich um eine prozedurale Figur, und damit um nur eine mögliche Konzeptualisierung aus der Vielzahl von Definitionen des Medialen der aktuellen medientheoretischen Debatte. Ausgehend von den ursprünglichen Verwendungen von medium im philosophischen Kontext als Mitte, Milieu, Mittel, Mittler und Vermittlung90 wurden über Fachgrenzen hinweg eine Reihe von Medienbegriffen und zugehörige Theoriegebäude etabliert – materiell, anthropologisch, technisch, funktional, kommunikationstheoretisch um nur einige zu nennen – die jeweils eigene Systematiken und Klassifikationsmodelle entwickeln und den Medienbegriff zum poststrukturalistischen Passepartout werden lassen.91 In allen Fällen – darauf verweist schon die relationale Bezeichnung – wird ‚Medium‘ bzw. ‚Medialität‘ in Zusammenhang mit anderen Größen gedacht. In der Regel steht die Relation zu einem ‚Sinn‘ oder ‚Inhalt‘, der in irgendeiner Form zum Gegenstand des Mediums wird, im Mittelpunkt, häufig wird aber auch (und durchaus nicht nur in kommunikationstheoretischen Ansätzen) der Rezipient als
90 Vgl. K HURANA , Thomas, Was ist ein Medium? Etappen einer Umarbeitung der Ontologie mit Luhmann und Derrida, in: Sybille Krämer (Hg.), Über Medien. Geistes- und Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Berlin 1998, S. 111–143. (online unter http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/ medium/inhalt.html, Zugriff am 12.03.2009), hier S. 112–113, für einen detaillierten historischen Überblick über die Begriffsverwendung vgl. K IENING , Christian, Medialität in Mediävistischer Perspektive, Poetica 39 (2007), S. 285–352, hier S. 287–292. 91 Den Versuch durch eine „kumulative Definition“, allen Traditionen gerecht zu werden und aus INKL ER , dieser Summe eine umfassende „Mediendefinition“ zu erreichen, unternimmt H ARTMUT W INKLER schafft mit seiner thesenhaften Auflistung allerdings lediglich eine Darstellung unterschiedlicher Verwendungen des Medienbegriffs ohne auf die inhärenten Logiken und Zusammenhänge einINKLE R , Hartmut, Mediendefinition, MEDIENwissenschaft. Rezensionen – Reviews zugehen, vgl. W INKLER 1 (2004), S. 9–27, hier S. 9. Einen Überblick über die Theorielandschaft bieten neben K IENING , Medialität, S. 294–315 auch L AGAAY , Alice, L AUER , David, Einleitung: Medientheorien aus Philosophischer Sicht, in: dies. (Hgg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt/ M., New York, 2004, S. 7–29, hier S. 9–28.
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Ziel und der Sender als Ausgang der Vermittlungsbewegung in die Analyse mit einbezogen. Die grundlegende Prämisse von ‚Medium‘ bzw. ‚Medialität‘ liegt in einem Medienapriori, welches in Ansätzen zur Universalkategorie werden kann.92 Die Frage ist, ob das Medium Sinn lediglich „als bloße[r] sekundäre[r] Transportkanal[…]“ vermittelt oder ihn auch erzeugt, indem es „menschliche Kommunikation, Kognition und Interaktion vollständig bestimm[t]“93 oder ob es drittens eine Zwischenposition gibt, nach deren Verständnis Medien „als Vermittler von etwas [fungieren], das sie nicht selbst erzeugt haben, im Vollzug der Übertragung […] aber gleichwohl konstituieren.“94 Bezüglich der Vormoderne, insbesondere des Mittelalters, stand oft die Frage einer Mediengeschichte im Vordergrund der Forschung, welche die historisch spezifische Situation von materiell verstandenen Medien, insbesondere Schrift, Bild und Mündlichkeit, betrachtet.95 Diese Aspekte sollen hier nur am Rand eine Rolle spielen. Relevant ist dagegen die abstrakte Vorstellung von Medialität als ein „Dazwischen“,96 die keinen historischen Beschränkungen unterworfen ist. Das Medium steht als drittes zwischen zwei Momenten und nimmt in der Gesamtheit, die sie bilden, bestimmte Aufgaben wahr. Diese Aufgaben kann man vorläufig und unvollständig als Vermittlung, Übertragung, Transport, Ausdruck, Verkörperlichung usw. beschreiben. Das deutet darauf hin, daß es sich bei dem Begriff ‚Medium‘ um etwas handeln muß, das in einen Prozeß verwickelt ist, das Teil eines Prozesses ist.97
Die meisten Medientheorien sind sich einig, dass das Medium im Prozess seiner Vermittlung die Tendenz hat, zu verschwinden. Wenn die Vermittlung ungestört verläuft, wird das Medium ‚unsichtbar‘, ‚durchsichtig‘ oder ‚transparent‘ und erfüllt so den angenommenen Zweck einer unverfälschten und den Beteiligten
92 Vgl. T HOLE N , Georg Christoph, Medium/Medien, in: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hgg.), Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005 (UTB 2680), S. 150–172, hier S. 156. 93 L AGAAY , L AUER , Einleitung, S. 24–25. 94 L AGAAY , L AUER , Einleitung, S. 25 ORS T W ENZEL E NZEL richtungs95 Für die germanistische Mediävistik waren hier die Arbeiten von H ORST weisend, vgl. z. B. W E NZEL , Horst, Hören und Sehen Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im NZEL L , Horst, Fließende Rede Mittelalter, München 1995 (C.H. Beck Kulturwissenschaft) und W EENZE und gefrorener Text. Metaphern der Medialität, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997 (Germanistische Symposien – Berichtbände XVIII), S. 481–503. Einen detaillierten Überblick über Tendenzen und Strategien des Umgangs mit vormoderner Medialität vgl. K IENING , Medialität, S. 305–326. 96 K IENING , Medialität, S. 328. OES LER ER , Alexander, Medienphilosophie und Zeichentheorie, in: Stefan Münkler, Alexander 97 R OESL Roesler, Mike Sandbote (Hgg.), Medienphilosophie: Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/M. 2002, S. 24–52, hier S. 39.
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daher auch unbewussten Übertragung. Wahrnehmbar wird das Medium nur, wenn die Übertragung nicht problemlos funktioniert, wenn sich statt des zu vermittelnden Sinns bzw. Inhalts das Medium selbst in den Vordergrund schiebt.98 Die prozedurale Vermittlungsfigur, die im Zusammenhang dieser Arbeit interessiert, ist insbesondere in zwei Konzeptualisierungen von Medialität präsent, in der von F RITZ H EIDER geprägten und von N IKLAS L UHMANN übernommenen Differenzierung zwischen Medium und Form und in der Analyse von Störungen im medialen Vollzug als produktives Prinzip von L UDWIG J ÄGER . Diese beiden Ansätze lassen sich durch ihre Abstraktheit jeweils für die meisten der gängigen Medienbegriffe adaptieren,99 sollen hier aber auf das selbstreflexive Potenzial literarischer Texte beschränkt bleiben. F RITZ H EIDER gelang es 1926 mit seiner zwischen Wahrnehmungsphysiologie, Psychologie und philosophischer Ontologie angesiedelten Arbeit über „Ding und Medium“100 die Grundlage für ein Verständnis des Medialen zu schaffen, das sich für die Medientheorie des 20. und 21. Jahrhunderts als wegweisend herausstellen sollte. Der einflussreiche Leitgedanke besteht darin, dass sich ein Medium als „Vielheit“ aus kleinen voneinander relativ unabhängigen Entitäten konstituiert.101 Diese Teilchen können nur durch Beeinflussung gewisser externer Objekte zu größeren „falschen Einheiten“102 zusammengeschlossen werden. Allein in diesem Zustand des von außen bedingten Zusammenschlusses seiner Teilchen kann das Medium Informationen übermitteln und somit überhaupt als Medium wirken. H EIDERS Beispiel ist das Medium der Luft, das aus ungeordneten, nicht wahrnehmbaren Molekülen besteht. Luft wird erst als Medium aktiv und indirekt wahrnehmbar, wenn den Teilchen durch einen Gegenstand, z. B. eine schwingende Stimmgabel, eine Gestalt gegeben wird.103 Würden die von der Stimmgabel ausgehenden Schallwellen sich nicht als ‚falsche Einheiten‘ im Medium der Luft realisieren, wären sie gar nicht wahrnehmbar.104 Der Begriff der ‚falschen Einheiten‘ bezeichnet also temporäre und durch Objekte außerhalb des Mediums bewirkte Zusammenschlüsse der Mediumteil
98 Zum Ursprung dieser Denkfigur in zeichentheoretischen Überlegungen vgl. J ÄGER , Störung und Transparenz, S. 52–59. 99 Vgl. K HURANA , Was ist ein Medium, S. 112–114. 100 H EIDER , Fritz, Ding und Medium, hg. v. Dirk Baecker, Berlin 2005. 101 Vgl. H EIDER , Ding und Medium, S. 41–44, bes. S. 43. 102 H EIDER , Ding und Medium, S. 44. 103 Vgl. H EIDER , Ding und Medium, S. 41–44. 104 Vgl. H EIDER , Ding und Medium, S. 33–35, bes. S. 35.
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chen, zu einer „Ordnung wie es sonst nur bei Dingen möglich ist, die voneinander abhängig sind, und nie bei echten Vielheiten“.105 N IKLAS LUHMANN nennt dieses Konzept einer einheitlich bedingten „Ordnung“ später „Form“, in der sich die im „medialen Substrat [...] nur lose gekoppelten Elemente“ zu einer „feste[n] KoppUH MANN im Unterschied zu lung“ zusammenschließen.106 ‚Medium‘ meint bei L UHMANN H EIDER nicht lediglich das Substrat, aus dem sich Formen bilden, sondern auch die Differenz zwischen Substrat und Form. Aufgrund dieses dualen Charakters kann sich das Medium selbst erneuern. Denn Formen bestehen jeweils nur temporär, danach „werden ihre Elemente für andere Kompositionen freigegeben“.107 Das Medium regeneriert und reproduziert sich somit durch Verwendung selbst. Es wird immer nur teilweise in seiner variablen Form sichtbar, selbst ist es stabil und invariant. Im medialen Substrat ist durch seine lose Struktur die Möglichkeit zur „Varianz“ gegeben,108 das Medium ist die „Ordnung der Möglichkeiten“.109 Ein Beispiel für dieses Verständnis von Medium ist das strukturalistische Modell der menschlichen Sprache, der ein abstraktes Regelsystem voller möglicher Kombinationen einzelner Wörter zugrunde liegt (langue), das in sprachlichen Äußerungen (paroles) jeweils nur partiell und temporär realisiert wird. Eine Trennung von medialem Substrat und konkreter Form ist wie bei dem Modell von langue und parole nicht möglich.110 Das Medium als Differenz zu denken bedeutet, es als dynamisches Potenzial zu verstehen. Medialität in diesem Zusammenhang entspricht der vermittelnden Instanz, die prozedural zwischen medialem Substrat und Form steht und diese sowohl trennt als auch zusammenführt. F RIEDRICH B ALKE und L EANDER S CHOLZ unterziehen diese Struktur einem Perspektivenwechsel. Sie betonen die Latenz des Mediums (bzw. mit L UHMANN besser: medialen Substrats) jenseits der Form, welche es überhaupt ermöglicht, Formen auf ihre Medialität hin transparent zu machen, indem sie ihrerseits
105 H EIDER , Ding und Medium, S. 45. 106 L UHMANN , Niklas, Das Medium der Religion. Eine soziologische Betrachtung über Gott und die Seele, Soziale Systeme 6 (2000), S. 39–51, hier S. 40–41. Ich beziehe mich bei der folgenden Darstellung angesichts des breiten Œuvres auf die prägnante Darstellung in Das Medium der Religion; eine breitere Ausführung findet sich in L UHMANN , Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1997, S. 190–412, bes. S. 190–202. 107 L UHMANN , Das Medium der Religion, S. 41. 108 L UHMANN , Das Medium der Religion, S. 41. 109 L UHMANN , Niklas, Probleme mit operativer Schließung, in: ders., Soziologische Aufklärung: Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 2005, S. 13–25, hier S. 16. 110 Für eine tiefergehende Analyse der luhmannschen Medientheorie vgl. K RÄME R , Sybille, Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 558–573.
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1 Theorie, Methode und Monster
Formen zum Verschwinden bringt.111 Sie ziehen filmische Beispiele hinzu, die durch einen Einstellungswechsel die Identifizierung des Dargestellten unmöglich machen: Gesichter werden im Close-Up zum reinen Material.112 This type of mediality that in principle differs from addressing a thing, a form or a person and that cannot be understood as undifferentiatedness or de-differentiation seems to be characterized by a defined revocation of identification so that the elements of a medium can in the first place appear as elements, thereby serving the creation of form.113
B ALKE und S CHOLZ propagieren einen materiellen Medienbegriff. Durch die Wahl der Perspektive, so argumentieren sie, verschwindet das Dargestellte und stattdessen tritt die Materialität des Mediums in den Vordergrund. In ihrer Argumentation zeigt sich darüber hinaus die sowohl bei H EIDER als auch bei L UHMANN vorhandene Nähe des Mediums zu einem semiotischen Verweisungskonzept. Das mediale Substrat dient der „Zeichenbedeutung“ der Form als „Zeichenträger“.114 Die binäre Struktur, die der narratologischen Begründung literarischer Selbstreflexivität durch das Auseinanderfallen von histoire und discours nach H EMPFER entspricht, ermöglicht einen selbstreflexiven Blick auf den Medienvorgang: Dadurch, dass die Vermittlung unabhängig vom Inhalt fokussiert werden kann, ergibt sich die Möglichkeit, beide zu reflektieren. Doch ein semiotisches Verständnis kann Medialität im Allgemeinen nicht gerecht werden. S YBILLE K RÄMER setzt die Arbitrarität von Zeichen als „Minimalkonsens“ aktueller Zeichenverständnisse voraus. Im Zeichen wird ein „intendierter Sinn“ mit einer „konventionalisierte[n] Bedeutung“ zusammengeschlossen.115 Medien dagegen sind insofern nicht arbiträr, als sie die durch sie vollzogene Sinnstiftung beeinflussen und zugleich an ihren Inhalten teilhaben. Im Gegensatz zum intentionalistisch gedachten Zeichen transportieren Medien immer einen „nichtintendierten Überschuß an Sinn“, eine „Spur“.116 Spuren versteht S YBILLE K RÄMER als durch die Materialität des Mediums erzeugte zusätzliche Bedeutung,
111 Vgl. B ALKE , Friedrich, S CHOLZ CHOL Z , Leander, The Medium as Form, in: Ludwig Jäger, Erika Linz, Irmela Schneider (Hgg.), Media, Culture and Mediality. New Insights into the Current State of Research, Bielefeld 2010, S. 37–48, hier S. 39. 112 Vgl. B ALKE , S CHOLZ , The Medium as Form, S. 39. AL KE /S CHOLZ CHOL Z . 113 B ALKE , S CHOLZ , The Medium as Form, S. 39, Hervorhebung von B ALKE 114 Vgl. K RÄMER , Sybille, Das Medium als Spur und als Apparat, in: dies.: Medien, Computer, Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt/M. 1998, S. 73–94, hier S. 77– 78. 115 K RÄME R , Das Medium als Spur und als Apparat, S. 78. 116 K RÄME R , Das Medium als Spur und als Apparat, S. 79. Vgl. dazu auch K RÄMER , Sybille, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/M. 2008, S. 276–297.
1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
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die zwar vom Sender nicht intentional miterzeugt, aber durch die Lektürehaltung des Empfängers entschlüsselt und gedeutet werden kann.117 Insofern entspricht das anhand M ERSCHS Überlegungen herausgearbeitete „Mitsprechen“ des Literarischen am literarturreflexiven Diskurs des Mittelalters einem zentralen Merkmal von medialer Sinnstiftung. Die unvollständige, prozedurale und iterative Realisierung des Medialen in der Form gleicht dem Verhältnis einer impliziten Poetik zu ihrem Text, die zudem in ihm ihre Spuren hinterlassen hat. Um diese Parallelsetzungen vollziehen zu können, müssen einige Präzisierungen getroffen werden: Das der Form des literarischen Textes zugehörige mediale Substrat soll hier nicht materiell als Stoff gedacht werden, aus dem sich der Text als Form konstituiert, denn damit wäre die Betrachtung auf ein linguistisches Literaturverständnis beschränkt. Das mediale Substrat ist stattdessen das, was man als Poetik oder Metaebene bezeichnen könnte, eine den Text begleitende Funktion, die einerseits konstitutiv für seine Entstehung ist (als produktionsästhetische Seite von Poetik), andererseits aber nur über den Text greifbar werden kann, daher selbst auch durch ihn konstituiert wird. Die Differenz dieser beiden Ebenen wird medial überbrückt. Der Text konstituiert sich in der Dynamik zwischen seiner Gestalt und den ihm als Ordnungsfunktion begleitenden abstrakten Prinzipien. Er trägt daher Ordnungen in sich, die jenseits einer personalisierbaren produktiven Intention liegen, und deren Wahrnehmung von dem jeweiligen Rezeptionsvorgang abhängen. Diese Ordnungen manifestieren sich im mehrfachen Sinn als Potenzial. Ihre textuelle Realisierung stellt jeweils die Aktivierung einer spezifischen Möglichkeit dar, ebenso ist ihre Wahrnehmung nicht zwingend, sondern ebenfalls der rezeptiven Kontingenz unterworfen. Die Ordnungen können sich in der Rezeption manifestieren, tun dies allerdings nur in dem Maß, in dem der Rezipient eine entsprechende Lektürehaltung an den Text heranträgt. Beide Potenziale werden durch die dynamischen Bezüge zwischen den beiden Ebenen vollzogen. Die Betrachtung von literarischer Selbstreflexion fokussiert entsprechend auf den Prozess der Vermittlung zwischen den beiden Seiten, also auf dem, was L UHMANN das Medium nennt. Auch die Spur kann in diesem Zusammenhang nicht mehr als materiell bedingter Überschuss verstanden werden. In dem hier entworfenen Modell ergeben sich Spuren aus dem Einfluss, den das mediale Substrat der Poetologie auf die vermittelnde Figur nimmt. „Das Medium kann […] als Spur seines eigenen Ursprungs“118 verstanden werden.
117 Vgl. K RÄME R , Medium, Bote, Übertragung, S. 280–282. 118 K IENING , Medialität, S. 332.
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1 Theorie, Methode und Monster
Einen Zugang zur Ebene des medialen Substrats haben B ALKE und S CHOLZ über den formalen Perspektivenwechsel von einem globalen gegenstands- bzw. inhaltsorientierten Blick auf einen analytischen, nur fragmentarische Aspekte fokussierenden Blick vorgeschlagen, der die betrachteten Objekte ohne einen Bezug zu ihrer sinnvermittelnden Seite zeigt. Eine noch stärker auf den Akt der Vermittlung selbst gerichtete Blickrichtung wählt L UDWIG J ÄGER über den Begriff der Störung.119 Seine Überlegungen nehmen ihren Ausgang in einem etablierten linguistischen Kommunikationsmodell. Sprachliche Kommunikation wird in diesem Modell als lineare Informationsvermittlung von einem Sender bzw. Produzenten zu einem Empfänger oder Rezipienten hin verstanden. Diese Information wird analog zum langue-parole-Dualität im als „autonome mentale Quelle sprachlicher Planungsprozesse“120 verstandenen Sender konzipiert und durch eine Aktualisierung des sprachlichen Musters (langue) als einmalige Äußerung (parole) formuliert und damit dem Rezipienten ohne Informationsverlust sprachlich transparent übermittelt, es sei denn, es tritt eine Störung auf. Eine solche Störungu – indiziert mit dem ‚u‘ für ‚Unfall‘ – unterbricht den geradlinigen Informationsfluss, bringt das Glücken der Kommunikation in Gefahr und muss durch den Sender mittels diverser Repair-Strategien behoben werden. Der Rezipient bleibt passiv und in seinem Handlungsspektrum auf die Wahrnehmung der Nachricht (im Regelfall) und ihrer allfälligen Korrekturen (im Unfall) beschränkt.121 J ÄGER stellt diesem Verständnis ein neues Konzept von Störung gegenüber: Störungt. Dieses zweite Konzept bedient sich der gleichen kommunikationstheoretischen Matrix, umgeht allerdings die Wertungen des ersten Ansatzes. Kommunikation kann wie im oben beschriebenen Fall entweder transparent oder gestört verlaufen, allerdings hängt davon nicht mehr das Glücken oder Scheitern der Interaktion ab. Das indizierte ‚t‘ für ‚transkriptiv‘ signalisiert, dass dieser Störungt eine „konstruktive Funktion“ zugesprochen wird, da sie „keinen Defekt der Äußerung und keine performative Aberration von einer präverbalen Redeintention signalisier[t], sondern als Fingerzeig[…] für die Notwendigkeit der transkriptiven Weiterbearbeitung der Äußerung“122 gesetzt wird. ‚Transkriptiv‘
119 Vgl. J ÄGER , Ludwig, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, ÄGE R , in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 35–74 und J ÄGER Ludwig, Strukturelle Parasitierung. Anmerkungen zur Autoreflexivität und Iterabilität der sprachlichen Zeichenverwendung, in: Roger Lüdeke, Inka Mülder-Bach (Hgg.), Wiederholen. Literarische Funktionen und Verfahren, Göttingen 2006 (Münchner Universitätsschriften – Münchner Komparatistische Studien 7), S. 9–40. ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 43, Hervorhebung im Original. 120 J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 41–45. 121 Vgl. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 46, Hervorhebung im Original. 122 Vgl. J ÄGER
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1.1 Theoretische und methodische Grundlagen
bedeutet, dass die Äußerung auf eine interaktiv konstituierte „semantische Aushandlungsbühne für die sprachliche Sinnkonstitution“123 verschoben und dort in Prozessen der „De- [und] Rekontextualisierung“124 im Zusammenspiel zwischen Produzenten und Rezipienten nachbearbeitet wird. Transparenz und Störungt werden hier als zwei „Aggregatszustände“125 der medialen Interaktion verstanden. Im Fall einer transparenten Kommunikationshandlung ist das Medium im Einklang mit generellen Vorstellungen von Medien zugunsten eines sichtbaren Mediatisierten unsichtbar, im Fall einer Störung verhält es sich umgekehrt und anstelle des zu vermittelnden Inhalts wird das Medium selbst sichtbar.126 So weit geht der Ansatz mit dem gängigen Verständnis eines im Idealfall gänzlich hinter dem Inhalt verschwindenden Mediums überein. Im Unterschied zur Störungu kommt es bei der Störungt allerdings nicht zur Unterbrechung des medialen Vollzugs, sondern es findet lediglich eine Verschiebung der Dynamik zum Rezipienten hin statt. Die von J ÄGER untersuchten sprachlichen Phänomene – und dies ließe sich auf jede Form der Informationsübermittlung übertragen127 – sind aufgrund ihrer prozeduralen Realisierung hermeneutischen Strukturen unterworfen. Der Produzent unterzieht seine Äußerungen im Äußerungsakt einem ‚Monitoring‘, das es ihm ermöglicht, auf Unfälle (Störungu) zu reagieren und diese zu korrigieren. Im Fall des interaktiven Modells wird der Rezipient in den hermeneutischen Prozess mit einbezogen. Er rezipiert nicht nur die ‚nackte‘ Äußerung, sondern jeweils auch die „hypothetische Transkription der Rede des Anderen […] auf dem jeweiligen Stand ihrer Entfaltung, d. h. im Raum der Interventionspräsenz des Anderen […]“.128 Kommt es zu einer Störungt, kommen die transkriptiven Prozesse zwischen Produzenten und Rezipienten zum tragen und erzeugen Sinn. Dabei kommt „das Medium als solches (samt seiner Iterabilität) zum Vorschein“, es wird also nicht nur das reine Medium, sondern auch seine Funktionsweise, mithin genau der Prozess der transkriptiven Bearbeitung reflektiert.129 Im Hinblick auf literarische Selbstreflexion liegt eine Parallelisierung von Störungt mit der poetologischen „Illusionsstörung“ auf der Hand. Versteht man die substrale Seite des Mediums wie gehabt als Metaebene bzw. Poetik, dann kann diese im Moment einer Durchbrechung der fiktionalen Illusion – z. B. durch
123 124 125 126 127 128 129
J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 46–47, Hervorhebung im Original. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 60. ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 59. Vgl. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 52–59. Vgl. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 65–68. Vgl. J ÄGER J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 47. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 63.
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1 Theorie, Methode und Monster
einen Verweis auf die Produktionssituation – in den Blick geraten. J ÄGERS Modell füllt eine Leerstelle literaturwissenschaftlicher Ansätze, da er auch die Frage nach dem Vollzug dieses Wechsels stellt. Literaturwissenschaftliche Arbeiten fokussieren häufig nur die durch den Ebenenwechsel zugänglichen poetologischen Reflexionen selbst, der Prozess des Wechsels bleibt dagegen ein blinder Fleck. Die von J ÄGER vorgeschlagene hermeneutisch begleitete Prozeduralität des Medienvollzugs und seine dynamische und interaktive transkriptive Bearbeitung lässt sich gut auf selbstreflexive Potenziale literarischer Texten übertragen. Zur Illustration der Dualität von Transparenz und Störungt führt J ÄGER ergän130 UH MANN und H EIDER das Paradigma zend zu den Medium-Form-Vollzügen nach L UHMANN 131 des „impliziten und des expliziten Wissens“ ein. Die im Regelfall unkommentierte (implizite) Funktionsweise des Medialen muss im Fall einer Störung diskursiviert (expliziert) werden können. Über diese Kategorie scheint sich eine weitere Parallele zur Literaturreflexion zu ergeben. Doch die Literaturwissenschaft misst die Explizitheit von poetologischer Reflexion an anderen Maßstäben. Sie orientiert sich je nach Modell an terminologischen Schlagwörtern, poetischen Schriften oder dem literaturwissenschaftlichen Diskurs. Die von J ÄGER als explizit verstandenen Vorgänge können daher fallweise als implizite Realisierungen poetologischer Reflexion verstanden werden. Letztlich handelt es sich bei den Unterschieden lediglich um perspektivisch bedingte terminologische Verschiebungen. Während eine Übertrag dieser Dualität nach J ÄGER auf literarische Gegebenheiten auch nicht ohne weiteres möglich ist, hat dieses Verständnis von Explizitheit nichtsdestotrotz poetologisch nutzbare Aspekte: Es unterstreicht die Dynamik der inzidentellen Sichtbarwerdung einer Größe, die den normalerweise sichtbaren Text immer begleitet und bestimmt. Diese implizite Mehrschichtigkeit – die Metaebene ist immer vorhanden, auch wenn sie nicht sichtbar ist – ist für die hier unternommene Untersuchung eines selbstreflexiven literarischen Potenzials von entscheidender Bedeutung. Die Simultanität bzw. Koexistenz dieser beiden Ebenen wird durch die wechselseitige Fokussierung der einen oder anderen nicht beeinträchtigt. Auch Störungen können ihr nichts anhaben. Jäger bezeichnet die störungsindizierten transkriptiven Bearbeitungen des Medialen zwar als „Time-out-Phase“,132 doch ist dies nicht durch eine Unterbrechung der Form, sondern lediglich als Perspektivenwechsel zu verstehen, während dessen die Form des Mediums „eine vorübergehende oder dauerhafte ‚Starre‘ derart annimmt, dass auf sie kommunikativ Bezug genommen werden kann“.133 Wie im Medium ist in der Literaturreflexion immer 130 131 132 133
Vgl. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 62. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 63, Hervorhebung im Original. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 46–48. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 48.
1.2 Monster
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beides präsent, sie konstituieren eine Logik des Sowohl-als-auch. Diese Art der nicht-differenzierenden Logik findet sich auch in der mittelalterlichen Konzeptualisierung und Diskursivierung von Monstern, die sie entsprechend für eine medial begründete Lektüre von literarischer Selbstreflexion als prädisponiert erscheinen lassen. Bevor analysiert wird, wie sich diese Figuren solchermaßen mit Hilfe von Medialitätskonzepten als Realisierungen poetologischer Reflexion lesen lassen, werden die Voraussetzungen für diese Lektüre gelegt, indem ein breites Panorama von antiken und mittelalterlichen Diskursen über Monster entworfen wird.
1.2 Monster 1.2.1 Bezeichnungen In dieser Arbeit wird zur Bezeichnung der hier betrachteten Phänomene jeweils der Begriff ‚Monster‘ bzw. ‚monströs‘ und ‚Monstrosität‘ verwendet, der an die mittelalterliche lateinische Tradition anschließt.134 Gewährsmann für die Begrifflichkeiten ist I SIDOR VON S EVILLA , dessen Etymologie die im lateinischen Mittelalter gebräuchlichen Bezeichnungen für monströse Kreaturen (portenta, ostenta, prodigia und monstra) auf die Bedeutung der ihnen (nach I SIDORS Meinung)135
134 Neben der in diesem Kontext wünschenswerten begrifflichen Kontinuität zur lateinischen Tradition hat der Ausdruck ‚Monster‘ den Vorteil, dass er sich gegenüber in der Forschung ganz oder teilweise synonym gebrauchten Begriffen bei aller Prägnanz eine gewisse Neutralität bewahrt. ‚Fabelwesen‘ impliziert eine bestimmte Deutungsperspektive und Funktionalisierung der so benannten Gestalten, die für das Mittelalter anachronistisch ist, denn zu dieser Zeit wird im Umgang mit wundersamen Kreaturen nicht zwischen ‚realen‘ und ‚erfundenen‘ Figuren unterUNDERLIC IC H , Werner, Dämonen, Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in schieden (vgl. W UNDERL Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.): Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter-Mythen 2), S. 11–38, hier S. 29–30). ‚Ungeheuer‘ ist aufgrund des homonymen Adjektivs potenziell durch Wertungen belastet. ‚Kompositwesen‘ oder ‚Chimäre‘ ist in seiner deskriptiven Eindeutigkeit für die Zwecke dieser Arbeit wiederum zu einschränkend, dies gilt auch für die umschreibenden Bezeichnungen ‚groteskes/ phantastisches Wesen‘. Zum Begriff monstrum vgl. auch M ÜNKLER , Marina, Experiencing Strangeness: Monstrous Peoples on the Edge of the Earth as Depicted on Medieval Mappae Mundi, The Medieval History Journal 5/2 (2002), S. 195–221, hier S. 203–210. Bedenken ob der political correctTEP HEN T. A SMA (vgl. A SMA , Stephen T., On Monsters. An Unnatural ness des Terminus äußert S TEPHEN History of our Worst Fears, Oxford, New York 2009, S. 15.) Zu den Begrifflichkeiten vgl. H AGNER , Michael, Monstrositäten haben eine Geschichte, in: ders. (Hg.), Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 2005, S. 7–21. 135 Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen ist I SIDORS Argumentation hier – es handelt sich zumeist um substantivierte Verben – auch nach modernen etymologischen Maßstäben zumeist
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1 Theorie, Methode und Monster
zugrundeliegenden Verben zurückführt: portenta auf portendere (ankündigen, prophezeien), ostentum auf ostendere (vor Augen halten, versprechen, ankündigen), prodigium auf porro dicere (im Voraus sagen) und schließlich monstrum auf monitus (Warnung), demonstrare (hinweisen) und monstrare (zeigen) (Isid. orig. XI,3,2–3). Monster sind in diesem Kontext funktional über ihre semiotische Lesbarkeit definiert. Die ihnen etymologisch eingeschriebene Verweisfunktion ergibt sich aus ihrer Abweichung von einer Norm. I SIDOR illustriert das Konzept am Beispiel monströser Wundergeburten, in denen göttliche Hinweise auf zukünftiges Unheil verborgen sind. Dieser göttliche Code kann vergleichbar mit Orakeln und prophetischen Träumen mittels allegorischer Verfahren erschlossen werden.136 Damit schließt I SIDOR an das antike Verständnis solcher Wundergeburten an wie es P LINIUS D . Ä. formuliert,137 dessen Naturalis Historia durch die stark gekürzte Überarbeitung des S OLINUS auch für das Mittelalter einen zentralen Text der Welterschließung darstellt.138 Diese enzyklopädischen Großtexte sind die wichtigste Quelle für die Rekonstruktion einer mittelalterlichen Vorstellung von Monstern. Auf die in theologischen und philosophischen Kontexten geleisteten mittelalterlichen Aktualisierungen dieser etymologisch gesicherten Grundbedeutungen wird weiter unten näher eingegangen. Ein zeichenhaft-allegorisches Verständnis von Monstern schlägt sich zudem schon ab dem 2. Jahrhundert nach
zutreffend. Wesentlich relevanter als die objektive Angemessenheit seiner Deutungen ist in diesem Zusammenhang die beinahe universelle Bekanntheit – es sind über 1000 Handschriften ÖL LER ER , Lenelotte, Einleitung, in: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übersetzt erhalten, vgl. M ÖLL und mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Möller, Wiesbaden 2008, S. 9–17, hier S. 16 – und der große Einfluss, den die Enzyklopädie zum „Grundbuch“ des mittelalterlichen Denkens werden lässt, vgl. C URTIUS , Hans Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Auflage, Tübingen, Basel 1993, S. 33. 136 Vgl. das Beispiel des Kindes, das mit einem toten menschlichen Oberkörper und einem lebendigen, aus verschiedenen Tieren zusammengesetzten Unterkörper auf die Welt kommt und als Zeichen für den nahen Tod Alexander des Großen lesbar wird. Der Tod ist unvermeidlich, da – so ist der zweigeteilte monströse Körper zu deuten – dessen gute Eigenschaften von den schlechten überwogen werden (Isid. orig. XI,3,4–5). 137 P LINIUS widmet den zeichenhaften Wundergeburten einen größeren Abschnitt (Plin. nat. VII, 3), deutet aber fallweise an, dass dieses Verständnis solcher Gestalten als überwunden zu gelten hat. So erwähnt er beispielsweise, dass die zuvor als monströs und in diesem Sinn auch zeichenhaft angesehenen Intersexuellen nunmehr zum Objekt erotischer Begierde und damit ihrer Zeichenhaftigkeit entblößt und auf die reine Körperlichkeit reduziert sind: Gignuntur et utriusque sexus quos hermaphroditos vocamus, olim androgynos vocatos et in prodigiis habitos, nunc vero in deliciis (Plin. nat. VII, 3). IT TKOWE R , Rudolf, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, Journal of 138 Vgl. W ITTKOWER the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 159–197. Nachdruck Vaduz 1965, hier S. 167.
1.2 Monster
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Christus in der Physiologus-Tradition sowie daran anschließend in den Bestiarien nieder.139 Noch weiter als das Zeichenverständnis reicht ein zweiter Traditionsstrang in die Geschichte zurück: Monster als mirabilia,140 als Gegenstand von Wundern und Staunen. Dieses Verständnis nimmt seinen Ausgang in Reiseliteratur und im historisch nicht in jedem Fall davon zu unterscheidenden geographischen Schrifttum. Die ältesten niedergeschriebenen Zeugnisse über Monster stehen in diesem Kontext, sie stammen von K TESIAS VON K NIDOS , der im 4. vorchristlichen Jahrhundert von den Wundern – unter anderem Monstern – Indiens berichtet.141 In K TESIAS ’ Nachfolge stehen M EGASTHENES sowie P LINIUS , S OLINUS und I SIDOR , deren summarische Werke ebenfalls von den wundersamen Völkern in fernen Ländern berichten. Auch A UGUSTINUS weist Monstern als mirabilia in fernen Ländern ihren Platz zu.142 139 Vgl. dazu zuletzt W ARD , Renée Michelle, Artikel Bestiaries, Aviaries, Physiologus, in: Albrecht Classen (Hg.), Handbook of Medieval Studies, Terms – Methods – Trends, 3 Bde. Berlin, New York 2010, Bd. 2, S. 1634–1642, außerdem H OUWEN , L.A.J.R., Bestiarien, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen AS SIG IG , Debra, Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology, Cambridge 1995 (Res 2), S. 59–75, H ASS E NKE L , Nikolaus, Studien zum Physiologus im Monographs on Anthropology and Aesthetics) und H ENKEL Mittelalter, Tübingen 1976 (Hermaea. Germanistische Forschungen: NF 38). 140 Der Begriff des mirabilium darf nicht mit dem des miraculum verwechselt werden: „Während es sich bei einem miraculum um einen unmittelbaren Eingriff Gottes in die Natur als kurzfristigpunktuelle Außerkraftsetzung der Naturgesetze handelt, sind mirabilia solche Gegenstände, die sich dem unmittelbaren Nachvollzug durch den menschlichen Verstand entziehen. Das miraculum bezeugt die unmittelbare Anwesenheit Gottes, während das mirabilium die Undurchdringlichkeit seines Schöpfungsplanes belegt [...].“ M ÜNKLE R , Marina, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000, S. 151–152. Diese Unterscheidung trägt freilich nur für das christliche Hochmittelalter; P LINIUS spricht in Bezug auf Monster jeder Art auch von miracula, vgl. Plin. nat. VII, 32, C AROLINE W ALKER B YNUM hat in zwei Arbeiten auf den semantischen Wandel der Begriffe verwiesen, der ab dem Y NUM , C AROLINE AROL INE 12. Jahrhundert zu einer Ausdifferenzierung im oben genannten Sinn führt, vgl. B YNUM W ALKER , Miracles and Marvels: The Limits of Alterity, in: Franz J. Felten, Nikolas Jasper (Hgg.), Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag, Berlin 1999 (Berliner AROL INE historische Studien 31/Ordensstudien 13), S. 799–818, hier S. 802–807 und B YNUM , C AROLINE W ALKER , Wonder. American Historical Association Presidential Address, American Historical Review 102 (1997), S. 1–26, hier S. 8–10. TES IAS ’ Indika ist nur fragmentarisch und in antiken Auszügen erhalten. Ob er als Arzt am 141 K TESIAS persischen Hof Indien wirklich bereist hat, ist seit der Antike umstritten. Es wurde schon früh vermutet, dass er sich als ‚armchair traveller‘ auf Berichte aus zweiter Hand, z. B. von Kaufleuten stützt, vgl. W ITTKOWER , Marvels S. 160–165 und F RIEDMAN , John Block, The Monstrous Races in Medieval Art and Thought, Syracuse/NY 2000 (Nachdruck der Ausgabe Cambridge/Mass. 1981), S. 5–6. ITT KOWER , Marvels, S. 159–169 und F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 5–8. 142 Zur Tradition vgl. W ITTKOWER
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1 Theorie, Methode und Monster
Bevor auch das zweite Sinngebungsmuster näher in den Blick genommen wird, sollen zuerst die Mittelhochdeutschen Begriffe und die Formen, die Monströse Körper in den für diese Arbeit relevanten Texten annehmen können, betrachtet werden. Auf den ersten Blick hat die gelehrte Überlieferung auf das Verständnis von Monstern in den hier untersuchten fiktionalen mittelhochdeutschen Texten keinen Einfluss. Der im Lateinischen so prominente Zeichenaspekt hat im Mittelhochdeutschen keine Entsprechung, auch das Wunderbare oder eine geographische Relevanz kommt in der Diskursivierung des Monströsen nur Fallweise zum Zug. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass es überhaupt keine genuine mittelhochdeutsche Bezeichnung für ‚Monster‘ zu geben scheint. Die untersuchten Beispiele143 weisen auch keine Anzeichen einer Konzeptualisierung von Monstrosität auf, die in Form einer wortsemantischen Analyse z. B. mit Hilfe eines Komponentenschemas dargestellt werden könnte. Die Bezeichnungen bleiben unspezifisch.144 Monströse Figuren können in mittelhochdeutschen Texten mit Begriffen von geradezu maximaler Allgemeinheit benannt werden: geschepfde und crêatiure.145 Lässt sich diese auf die minimale ontologische Affirmation der Existenz einer belebten Einheit innerhalb der göttlichen Schöpfung reduzierbare Bezeichnung noch als Symptom der Unsicherheit im Umgang mit einem Wesen von monströsem Äußeren deuten, implizieren Bezeichnungen wie man oder wîp146 doch eine eindeutige – und zwar keineswegs monströse – Identifizierung der mit diesen Ausdrücken belegten Gestalten. Auch soziale, funktionale und ethnographische Differenzierungen der Kategorie ‚Mensch‘ wie maget, riter, bôte, gebûre
143 Die folgende Zusammenstellung erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit, noch auf Generalisierbarkeit. Sie kann keine wortsemantische oder worthistorische Analyse leisten, sondern soll lediglich das Begriffsinventar der für diese Arbeit maßgeblichen Texte (und Paralleltexte) illustrieren. Einen umfassenden Katalog der Erscheinungsformen des Monströsen in der mittelECOUTE UX , wenn er auch hochdeutschen Literatur bietet die materialreiche Studie von C LAUDE L ECOUTEUX lediglich die Varianten monströser Körper, nicht aber die Bezeichnungen in den Vordergrund stellt, vgl. L ECOUTEUX , Claude, Les monstres dans la littérature allemande du Moyen Âge. Contribution à l’étude du merveilleux médiéval, 3 Bde.: Bd 1, Étude, Bd. 2, Dictionnaire, Bd. 3, Documents, Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 330 I–III), hier Bd. 2. 144 Ohne die textuelle Evidenz zu berücksichtigen geht L ECOUTEUX lediglich von zwei relevanten Begriffen aus: ungehiure und kunder, vgl. L ECOUTEUX , Les monstres dans la littérature allemande, Bd. 1, S. 3–4. Sein Katalog operiert mit aus der griechisch-lateinischen Tradition übernommenen Bezeichnungen (Zyklop usw.), die nicht in jedem Fall auch für die mittelhochdeutschen Texte belegt sind. 145 geschepfde (Wig. 6994), crêatiure (Iw. 487, 986, Da. 1989, Ga. 8607, Wig. 5032, WvÖ 11713). 146 man (Iw. 934, WvÖ 3156) wîp (Wig. 6286).
1.2 Monster
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oder môr147 spezifizieren zwar das Wesen, lassen aber per se wiederum keine Monstrosität vermuten. Vergleichbar verhält es sich außerhalb der anthropologischen Sphäre: Dort sind Monster tiere, die dann je nach ihrem Äußeren als vogel, visch oder ors148 unzweifelhaft diesseits aller kryptozoologischen Gattungen identifizierbar sind. Erst durch Attribute wie wilde, wunderlîch, freissam oder ungehiure werden die Begriffe überhaupt als von der gängigen Norm abweichend und damit potenziell monströs konnotiert (und zudem fallweise in die Nähe der mirabilia-Tradition gerückt). Diese Attribute sind für die Bezeichnung in keiner Weise zwingend, in substantivierter Form können die Adjektive allerdings auch alleine als Bezeichnung stehen (z. B. der ungehiure).149 Diese Form entspricht zumindest in Annäherung einer eigenständigen Begrifflichkeit des Monströsen, allerdings macht sie nur einen Teil des Wortfeldes aus. Konzeptuell in der Nähe dieser Begriffe sind auch wunder und kunder anzusiedeln, die allerdings wiederum nicht ausschließlich auf monströse Wesen angewandt werden: wunder kann jedes Objekt des Staunens (sowie das Staunen selbst oder, natürlich, Wunder) bedeuten, kunder ist neben der Lesart als Monster auch als nicht weiter spezifiziertes Tier überliefert.150 Neben den bisher angeführten allgemeinen Begriffen schöpfen die Texte auch aus dem Inventar mythologischer Figuren und deren überlieferten Namen und Bezeichnungen: rise, getwerc, waltman, trache, wurm, cetus, einhorn, greif oder plathüeve.151 Auch aus der christlichen Mythologie können Bezeichnungen übernommen werden. Als tiuvel oder vâlant152 werden Monster – nicht nur in geistlichen Kontexten – dämonisiert. Man könnte die Überlieferungslage so deuten, dass das Mittelhochdeutsche kein Konzept für Monster oder Monstrosität kennt und dass die oben angeführten Beispiele kein gemeinsames Denotat haben. Die weitere Analyse wird allerdings zeigen, dass sich hinter der Ansammlung von Benennungen eine mit der gelehrtlateinischen Tradition zu vereinbarende und diese fortsetzende Konzeptualisie
147 magt (Pz. 312,4), riter (Cr. 934), bôte (Cr. 1554), gebûre (Iw. 432, Cr. 14287), môr (Cr. 27517, 27497). 148 tier (WvÖ 11779), vogel (WvÖ 3591), visch (WvÖ 948), ors (Cr. 980). 149 der ungehiure (Iw. 526, Ga. 3955, Wig. 9161), daz ungehuͤ r (WvÖ 11746). 150 wunder (HE 5983), vgl. auch merwunder (Da. 4285, Ga. 4298–12198 passim, Lz. 4886), kunder ECOUTE UX verweist auf die Nähe von kunder zu got. kuni und lat. genus (vgl. mhd. (HE 5998). L ECOUTEUX künne), wodurch kunder auch zu den Begriffen mit breiter Extension wie geschepfde oder crêatiure gerechnet werden könnte, vgl. L ECOUTEUX , Les monstres dans la littératur allemande, Bd. 1, S. 3. 151 rise passim, getwerc passim, trache (Tr 8941–9971 passim), wurm (Cr. 9010, Da. 4045, Wig. 4692–6444 passim), cetus (WvÖ 949) waltman (Iw. 598, 622), einhorn (WvÖ 18131), greif (WvÖ 10895), plathuof (HE 4671). 152 tiuvel (WvÖ 11803), vâlant (Wig. 4000).
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1 Theorie, Methode und Monster
rung verbirgt. Die fehlende Begrifflichkeit allerdings hat eine Konsequenz: Da im Mittelhochdeutschen Monster nicht ohne Weiteres benannt werden können, müssen sie jeweils beschrieben werden.153 Dies kann eher andeutungshaft über die schon genannten Prädizierungen geschehen, oder in ausführlichen und rhetorisch ausgefeilten descriptiones. Auch in den hier näher untersuchten Fällen stehen den Szenen der Interaktion mit Monstern jeweils längere deskriptive Passagen voran (vgl. Iw. 418–481, Cr. 946–1002, WvÖ 3139–3159). Dabei kann die Beschreibung in Konkurrenz zur Benennung treten. Auch die detaillierten Deskriptionen monströser Wesen tragen somit keinesfalls immer zu einer Klärung der Lage bei. Sie spezifizieren zwar das Bild, veruneindeutigen aber den behelfsmäßig zur Benennung verwendeten Begriff und versehen die monströse Gestalt durch unterschiedliche Assoziationen mit zusätzlichen Bedeutungsschichten, die im Zusammenspiel eine Konzeptualisierung der Figur erschweren. Ein Beispiel wäre Guivreiz im Erec, der als idealer riter (Er. 4350) beim ersten Zusammentreffen deutlich höfischer als der verzaget[e] Erec (vgl. Er. 4366), als herre (Er. 4266) und künec guot (Er. 8084) bezeichnet wird, dessen Äußeres als vil kurzer man (Er. 4282) allerdings vil nâch getwerges genôz (Er. 4284) gestaltet ist – mit der Einschränkung, dass er sehr lange Arme und Beine hat (vgl. Er. 4285– 4286). Erec und Guivreiz finden in einander den gleichwertigen Kampfgegner, um den sie Gott gebeten haben (vgl. Er. 4399–4403), Guivreiz’ monströses Äußeres tut dem keinen Abbruch. Wie das Gebet um die angemessene Bewährung nachdrücklich unterstreicht, partizipiert er trotz seines außerhöfisch-anderweltlichen Äußeren am christlich definierten höfisch-ritterlichen Ehrenkodex.
1.2.2 Hybride Formen: Körper und Darstellungen Trotz der uneinheitlichen Traditionen, Benennungs- und letztendlich auch Diskursivierungsstrategien lassen sich die Monster auf einen gemeinsamen Nenner bringen: (Vor)Zeichen, Wunder oder wie im Mittelhochdeutschen von Fall zu Fall je neu zu beschreibende Wesen müssen als Zeichen erkennbar und deutbar, als Wunder staunens- und bewundernswert und als lexikalische Problemfälle nichtkategorisierbar sein. Die Voraussetzung für diese Funktionalisierungen liefert das zentrale Charakteristikum monströser Gestalten: In ihnen zeigen sich Verstöße gegen Ordnungsprinzipien.
153 Auch die hier hinzugezogenen lateinischen Texte ergänzen die Benennungen durch Beschreibungen. Dies ist dem enzyklopädischen Charakter der Werke zuzurechnen. Ob es sich in Texten anderen Genres ebenso verhält, müsste an anderer Stelle untersucht werden.
1.2 Monster
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Am augenfälligsten zeigen sich die Normverstöße in der Kombinatorik monströser Körper. In den überlieferten Monsterkatalogen154 sowie in Einzeltexten finden sich Wesen, in denen Hunde- oder Kranichköpfe auf Menschenkörpern sitzen (Kynokephali und Grippianer), Zentauren, Satyrn oder Sirenen, die menschliche Rümpfe mit tierischen Unterkörpern verbinden, oder gleich aus einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzte Kompositgestalten wie Chimären oder der aventuͤ r hauptman mit Körperteilen von Mensch, Strauß, Elefant,155 Vogel, Fisch und Löwe (vgl. WvÖ 3142–3159). In dieser Arbeit wird unter dem Oberbegriff der Monstrosität ein inhomogenes Feld von Erscheinungen zusammengefasst, das „monströse[...] Menschen und hybride[...] Fabelwesen, fremde[...] Völker[...] und Dämonen“156 mit einschließt. Der Verzicht auf eine Differenzierung der unbestrittenermaßen kategorial unterschiedlichen Phänomene wurde verschiedentlich kritisiert157 und soll hier daher kurz begründet werden. F RIEDMAN stellt in seiner Kritik an Forschungsansätzen, die monströse Völker und tierische monströse Kreaturen über einen Kamm scheren, das anthropologische Problem in den Vordergrund: [...] precisely because medieval men were so insecure about what constituted the human state, unusual yet clearly human figures meant something very different to them than did a two-headed lion or an ass playing the lyre.158
Der Einwand ist nachvollziehbar und, wie F RIEDMAN eindrücklich zeigt, kreisen die gelehrten Debatten der Antike und des Mittelalters immer wieder um die Frage der Menschlichkeit der monströsen Völker und entwerfen detaillierte Differenzierungen zwischen dem eigenen Menschsein der Leser und dem anderen der monströsen Völker, aus denen sich die Darstellung eines komplexen Ordnungsgefüges entspinnt. M ARINA M ÜNKLER und W ERNER R ÖCKE übernehmen die Kritik und betonen die rein diskursive Natur der Unterscheidung von monströsen menschlichen Völkern und tierischen Monstern.159 Sie illustrieren die Differenz, indem sie die
154 Vgl. z. B. Plin. nat. VII, 1–37, Aug. civ. XVI, 8–9, Isid. orig. XI,3,5–39, Solin. 49,2–52,51. 155 Oder einem anderen elfenbeinproduzierenden Tier, vgl. WvÖ 3149. ÜNKLE R , Marina, R ÖCKE , Werner, Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im 156 M ÜNKLER Mittelalter: Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Herfried Münkler (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998 (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte 5) S. 701–766, hier S. 708. ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 708–709 vgl. dazu auch F RIEDMAN , Monstrous Races, 157 M ÜNKLER S. 2–3. 158 F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 3. ÜNKLE R , R ÖCKE , ordo-Gedanke, S. 708. 159 Vgl. M ÜNKLER
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1 Theorie, Methode und Monster
gelehrte Darstellung der monströsen Völker Monstern aus fiktionalen mittelhochdeutschen Texten gegenüberstellen. Während diese jeweils in Bezug auf den göttlichen ordo hin lesbar sind, lassen sich jene nicht in dieses Ordnungssystem integrieren, sondern bleiben auf intradiegetische Strukturen bezogen. Eine Überschneidung dieser unterschiedlichen Diskurse sehen sie nur in Fällen gegeben, die monströse Völker inklusive ihrer gelehrten Implikationen in die volkssprachlichen Texte einschreiben. Dann „partizipiert der fiktionale Entwurf am Weltbild der szientifischen Weltbeschreibung und verortet den fiktiven Helden damit in einer realen Welt.“160 Die Kritik basiert somit auf unterschiedlichen Funktionen monströser Gestalten in unterschiedlichen Überlieferungskontexten. Diese Tatsache ist zweifellos erwiesen. Allerdings hängt die Relevanz dieser Differenzierung vom jeweiligen wissenschaftlichen Fokus ab. Sowohl F RIEDMAN als auch M ÜNKLER und R ÖCKE verfolgen ein historisches Erkenntnisinteresse. F RIEDMAN untersucht Monster in der mittelalterlichen Kunst und Philosophie unter mentalitätsgeschichtlichen und ethnographischen Fragestellungen, M ÜNKLER und R ÖCKE betrachten Monster in einem kulturwissenschaftliche Ansatz zwischen den Paradigmen der Alterität und des ordo-Gedankens. Auch die Ausrichtung der untersuchten Quellen – beide Arbeiten berufen sich zum Großteil auf die philosophische und theologische lateinische Diskussion – legt die systematische Trennung nahe. Der unreflektierte Zusammenschluss dieser Überlieferung mit z. B. „the various kinds of polymorphic creatures we commonly find on Romanesque capitals“161 oder mit der fiktionalen volkssprachlichen Tradition162 und ihre epistemologische Gleichbehandlung führt sicherlich nicht weit, bzw. nur bis zur Feststellung einer den Quellen geschuldeten Heterogenität der Inhalte. Das Verhältnis der medial und diskursiv unterschiedlichen Überlieferungen muss daher vor einer Auseinandersetzung mit den Inhalten geklärt werden. Die vorliegende Arbeit umgeht eine durch Quellen bedingte Asymmetrie, indem sie sich auf ein einheitliches Korpus, auf drei mittelhochdeutsch-volkssprachliche fiktionale Romane bezieht. Die Frage nach einem ethnographischen, anthropologischen oder anderweitig historischen Realitätsbezug stellt sich nicht. In dem vorliegenden literatur- und textbezogenen Ansatz ist Monstrosität vor allem Anderen eine formale Kategorie, die sowohl auf die anthropomorphen monströsen Völker als auch auf tierhafte Monster angewandt werden kann. Es werden Texte untersucht, die nicht unmittelbar am lateinischen Diskurs partizi
160 M ÜNKLER ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 710. 161 F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 2. ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 709- 710. 162 M ÜNKLER
1.2 Monster
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pieren. Doch die nicht zuletzt von F RIEDMAN sowie M ÜNKLER und R ÖCKE anschaulich dargestellten gelehrten Überlegungen werden als kultureller Bezugsrahmen für diese Texte hinzugezogen. Dabei lassen sich Nähen der volkssprachlichen Texte zur gelehrten Tradition nicht unbedingt im Sinne eindeutiger Zitate oder anderer expliziter Referenzen beobachten. Die Bezugnahme ist vielmehr indirekt: Die in der gelehrten lateinischen Tradition etablierten Charakteristika und Bewertungen des Monströsen und mit ihnen assoziierte Kausalitäten und Funktionen tauchen in den volkssprachlichen literarischen Kontexten als Reflexe wieder auf. Der von M ÜNKLER und R ÖCKE analysierte ordo-Bezug monströser Figuren kann so beispielsweise nach dem Durchlaufen diverser Transformationsprozesse163 einer literarisch produktiven Ordnungsfunktion der Monster entsprechen. Möglicherweise werden die volkssprachlichen Texte in ihrem Gebrauch von Monstern zusätzlich aus einer mündlichen Parallelüberlieferung gespeist, die heute nicht mehr greifbar ist und sich mit der gelehrten Tradition möglicherweise die mythischen Ursprünge teilt. Gestützt wird das kategorienübergreifende Verständnis von Monstern auch durch historische Evidenz. I SIDOR beispielsweise führt monströse Völker und eher dem kryptozoologischen Bereich zuzurechnende Monster im gleichen Abschnitt seiner Enzyklopädie auf, der dem universalistisch-systematischen Anspruch der Etymologie gemäß zwischen dem Abschnitt zu Menschen und dem zu Tieren steht.164 Auch andere summarische Darstellungen (z. B. der Katalog bei S OLINUS , der Physiologus und Bestiarien sowie Monsterkateloge auf Weltkarten)165 schlie
163 Hier wären zu nennen: die Übertragung aus dem Lateinischen in eine Volkssprache, der Wechsel aus dem gelehrten in den literarischen und damit aus dem szientifischen in den fiktionalen Bereich, fallweise der Übergang aus theologisch-geistlichen in weltliche Kontexte, der Wechsel von einem deskriptiven oder argumentativen zu einem narrativen Modus usw. 164 Vgl. Isid. orig XI De homine et poetentis und Isid. orig. XII De animalibus (zu Menschen Isid. orig. XI,1–2, direkt daran an schließt der Abschnitt zu Monstern Isid. orig. XI,3–4, darauf folgt das Buch zu den Tieren). 165 S OLINUS setzt in seiner Beschreibung neben die monströsen Völker jeweils noch weitere Naturwunder aus Fauna (z. B. Giraffe, Krokodil, Drache, ‚Corocotta‘ eine Kreuzung aus Löwe und Hyäne), Flora und Geologie (Edelsteine), Solin. 25,1–32,39 und 49,2–52,51. Die Physiologus- und Bestiarientradition integrieren ab dem 13. Jahrhundert zusätzlich zu den Tieren, Monstern und Wunderdingen auch die monströsen Völker, vgl. W ITTKOWER , Marvels, S. 177. Zu den Weltkarten vgl. z. B. den Erdrand auf der Ebstorfer Weltkarte, dessen äußerster Süden das Habitat von monströsen Menschenarten (Troglodyten, Kynokephali, riesenhaften Syboti etc.) Kompositgestalten aus der Mythologie (Satyrn, Sphingen etc.) und verschiedenen zoomorphen Wesen wie Schlangen, Drachen, Affen, Ameisenbären usw. bildet, vgl. Die Ebstorfer Weltkarte, hg. von Hartmut Kugler, 2 Bde., Bd. 1: Atlas, Bd. 2: Untersuchung und Kommentar, Berlin 2007, Bd. 1, S. 84–85, 98–99 und 112–113 sowie Bd. 2, S. 154–156, 186–189 und 232–234.
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1 Theorie, Methode und Monster
ßen die unterschiedlichen Monstrositäten klassifikatorisch wie auch bezüglich ihrer topographischen Verortung zusammen. Zudem ist die Kategorie der Menschlichkeit unter rein analytischen Gesichtspunkten relativ und nicht in jedem Fall objektiv festzustellen. Cundrîe beispielsweise, die, wie später noch gezeigt werden wird, aufgrund ihrer Abstammung dem Bereich der menschlich-monströsen Völker zuzurechnen ist, kann, wenn sie isoliert betrachtet wird, als „außergewöhnliche[...] anthropomorphe[...] Tiergestalt“166 verstanden werden. Eine im Punkt der Anthropologie differenzierende Betrachtung widerspräche zudem dem Analysegegenstand dieser Arbeit. Die Trias der hier betrachteten Figuren macht eine Differenzierung von menschlichen monströsen Völkern und tierischen Monstern unmöglich. Alle drei, der Waldmann, der Bote des Meerkönigs und der aventuͤ r hauptman, haben anthropomorphe Züge, sind vernunft- und sprachbegabt und somit als Varianten der menschlichen Art zu verstehen, anhand derer die anthropologische Frage auch jeweils zumindest anzitiert wird. Der Waldmann als Wilder Mann lässt sich in die Traditionslinie von P LINIUS ’ Völkern einordnen, der Bote des Meerkönigs kann zwar keinem der überlieferten monströsen Völkern zugeordnet werden, seine fischartigen Gesichtszüge, schuppige Haut und kleine Körpergröße bei einer ansonsten menschlichen Gestalt spiegelt allerdings die Komposition dieser Menschenarten strukturell. Der aventuͤ r hauptman dagegen sprengt die Kategorie des Menschlichen. Er ist mehr tierische Kompositgestalt als anthropomorph und lässt sich weder phänotypisch noch in Bezug auf seine Komposition mit der plinianischen Überlieferung in Übereinstimmung bringen. Doch die drei Monster sind intertextuell eng aufeinander bezogen und als literaturreflexive Figuren funktional äquivalent. Eine Ungleichbehandlung aufgrund ihrer Menschlichkeit oder Nicht-Menschlichkeit ihrer Partizipation oder Nicht-Partizipation am gelehrten Diskurs167 wäre der Analyse daher nicht dienlich. Das formale Prinzip der Monstrosität als außergewöhnliche Komposition von Körpern soll in dieser Arbeit mit dem ursprünglich von M ICHAIL M. B ACHTIN im Kontext einer strukturalistischen „Stilistik des Romans“168 entwickelten Konzept der Hybridität gefasst werden:
166 L AUER , Claudia, Der Arthurische Mythos in medialer Perspektive. Boten im Iwein, im Parzival und im Lanzelet, in: Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl, Matthias Däumer (Hgg.), Artusroman und Mythos, Berlin, New York 2011 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. Sektion Deutschland/Österreich 8), S. 41–68, hier S. 56. 167 Es lässt sich für den aventuͤ r hauptman allenfalls ein Rückbezug auf den lateinischen poetischen Diskurs konstruieren, vgl. dazu unten Kapitel 1.2.4.2 und Kapitel 4.1. 168 B ACHTIN , Michail M., Die Ästhetik des Wortes, hg. und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt/M. 1979 (Edition Suhrkamp 967), S. 155.
1.2 Monster
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Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Stile, zwei Sprachen, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es, wie wir wiederholen, keine formale – kompositorische und syntaktische – Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente [...].169
Der Begriff der Hybridität ist in seiner scheinbar universellen Applizierbarkeit auf diverse kulturelle Phänomene zu einem „Passepartout in der Verhandlung des Heterogenen, Gemischten, Ambivalenten“170 geworden. Für diese Arbeit schlage ich für die monströsen Figuren ein eng gefasstes und in seiner Anwendung heuristisches Hybriditätskonzept vor. Es bezeichnet nicht das Verschmelzen von heterogenen Teilen zu einer Entität, die mit dem vereinheitlichenden Begriff der Hybridität ausreichend beschrieben wären, sondern wirkt lediglich auf der formalen Eben integrativ. Daher ist Hybridität wie bei B ACHTIN nur auf der formalen Ebene eine erschöpfende Kategorie. Brüche bleiben in hybriden Figuren deutlich sichtbar. Monströsen Körpern ist so eine Spannung inhärent, die sich in ihren zeitgenössischen Diskursivierungen des gelehrten und des literarischen Bereichs niederschlägt. Für die Lektüre dieser Figuren bedeutet das, dass jeweils die differenten Implikationen verfolgt und berücksichtigt werden müssen, um eine konklusive Beschreibung als Grundlage für eine weitergehende Analyse zu erreichen. „Hybridity is so useful because it can never be an absolute Category.“171 Die kombinatorische Hybridität monströser Körper bleibt nicht auf die kategoriale Ebene beschränkt, sondern manifestiert sich auch in der Proportionalität der einzelnen Körperteile zueinander, ihrer Positionierung, ihrer Anzahl oder in ihrem Fehlen. So haben die Panotii riesige Ohren, die sie wie einen Mantel um den Körper legen können (vgl. Isid. orig. XI,3,19), Sciopoden verwenden ihren einzelnen, aber ebenfalls sehr großen Fuß als Sonnenschirm (vgl. Isid. orig. XI,
169 B ACHTIN , Ästhetik, S. 195. CHUL Z , Armin, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in 170 S CHULZ der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magleone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 9. 171 C OHEN , Jeffrey Jerome, Hybridity, Identity and Monstrosity in Medieval Britain: On Difficult Middles, New York 2006, S. 5.
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1 Theorie, Methode und Monster
3,2), und Blemmyae haben keinen Kopf und tragen ihre Gesichtszüge stattdessen auf der Brust (vgl. Isid. orig. XI,3, 17). Gewisse physische Normüberschreitungen erschließen sich erst aus einer übergeordneten Perspektive. Die Körpergröße beispielsweise ist nur in Relation zu ‚normalgroßen‘ Wesen eine monströse Auffälligkeit (Zwerge und Riesen gehören zu den verbreitetsten monströsen Wesen im mittelalterlichen Texten). In diesen Bereich gehören auch Irregularitäten der Abstammung. I SIDOR berichtet von einem wohlgestalteten Fuchs, der nicht weiter auffällig wäre, wenn ihn nicht eine Stute geboren hätte (Isid. orig. XI,3,5), ebenso verhält es sich mit der von einer Frau geborenen Schlange (vgl. Isid. orig. XI,3,6). Auch physiologische Anachronismen – Säuglinge mit Zähnen, verfrühte Weißhaarigkeit oder eine Umkehrung des physikalischen Alterns sowie Besonderheiten in der Fortpflanzungsfähigkeit (Frauen, die sehr früh geschlechtsreif werden oder nur ein Kind gebären können) sind Merkmale von Monstrosität (vgl. Isid. orig. XI,3,10). Nicht auf den ersten Blick zu erfassen sind Normabweichungen der kulturellen Sphäre, die sich in devianten Sitten, Ernährungsgewohnheiten oder Kulturpraktiken manifestieren. In klassischen Texten qualifizieren sich schon Unterschiede in Sprache, Kleidung und Bewaffnung als Monstrosität.172 Eine Zuspitzung erreichen diese kulturellen Devianzen in der angenommenen Abwesenheit kultureller und sozialer Normen, beispielsweise im Fall von Höhlenbewohnern (die übrigens auch nicht sprechen können) oder Kannibalen. In diesem Bereich ergeben sich auch Interferenzen mit der physischen Begründung von Monstrosität, indem körperliche Alterität auch mit kulturellen Abweichungen einher gehen kann. Teils liegt die Begründung in der Körperlichkeit selber, wie bei den Astomi, die sich mangels eines Mundes nur von Düften (bevorzugt von Äpfeln) ernähren müssen, teils ist die Beziehung zwischen körperlicher und kultureller Alterität unspezifisch und gleicht der überdeterminierenden Anhäufung von Monstrositätsmerkmalen. Die körperliche Hybridität monströser Wesen erhält in der literarischen Überlieferung eine textuelle Entsprechung. Da sie nicht benannt werden können, müssen sie beschrieben werden, um greifbar zu sein. Diese Beschreibungen bedienen sich literarischer Figuren: Vergleich, Metapher und Gleichsetzung (letzteres im Sinn einer Identifikation).173 Über ihre pragmatische Dimension – die Verbildlichung des Monströsen – hinaus, schaffen diese deskriptiven Strategien 172 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 26–36. 173 Zur logischen Struktur der unterschiedlichen Konzepte vgl. E NDRES , Johannes, Unähnliche Ähnlichkeit. Zu Analogie, Metapher und Verwandtschaft, in: Martin Gaier, Jeanette Kohl, Alberto Saviello (Hgg.), Similitudo. Konzepte der Ähnlichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit, München 2012, S. 29–58.
1.2 Monster
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semantische Ambivalenzen mit dem Resultat, dass die Gestalt nicht nur in ihrem Körper, sondern auch in ihrer literarischen Darstellung hybride ist. Die drei Verfahren produzieren zu gleichen Teilen Differenz und Identität. Vergleiche erzeugen zugleich Nähe und Distanz, indem sie Ähnlichkeit oder zumindest Kommensurabilität suggerieren, niemals aber Identität herstellen können. Wenn es also über Cundrîe heißt si was genaset als ein hunt (Pz. 313,21), wird das Bild einer Hundeschnauze evoziert, aber nicht identifikatorisch determiniert. Durch ihre ternäre Struktur erzeugen Vergleiche einen semantischen Überschuss. Sie eröffnen eine Stelle, über die zusätzlicher Sinn eingebunden werden kann. Die als Tertium bemühten Konzepte werden zwar aufgerufen, aber nicht festgeschrieben. Im konkreten Beispiel: Cundrîes Nase hat die Eigenschaft, wie eine Hundeschnauze auszusehen, ist aber keine Hundeschnauze. Die Assoziation geschieht über eine momentane durch die Sprache geschaffene Nebeneinanderstellung. Gleiches gilt für ironische (also formal positive, pragmatisch aber negative) und negative Vergleiche. Auf die Überschuss produzierende Funktion des Vergleichs hat die offensichtlich nicht zutreffende Bewertung der Schweineborsten als linde in der Beschreibung von Cundrîes Zopf (linde als eins swînes rückehâr (Pz. 313,20)) keinen Einfluss. Mit der die Beschreibung einleitenden Bemerkung si was niht frouwenlîch gevar (Pz. 312,15) ruft der Erzähler ein Referenzbild auf, das kontrastiv relevant wird. Die Negation des Vergleichs bringt die Möglichkeit zu weiteren assoziativen Anlagerungen mit sich. Cundrîe sieht nicht wie eine Dame aus – wie dann? Die Beschreibung von Monstern durch Vergleiche kann eine abstrahierende Funktion haben. Der über mehrere aneinander geknüpfte Vergleiche dargestellte Körper wird als physikalische Einheit nicht fragmentiert, indem er aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt imaginiert wird, sondern bleibt intakt. Die Hybridisierung vollzieht sich erst in der sprachlichen Darstellung und betont die Integrität und zugleich die Künstlichkeit des solchermaßen konstituierten Körpers.174 Die Differenz zwischen Körper und Sprache wird bei den anderen Verbildlichungsstrategien, Metapher und Gleichsetzung, wiederum relevant. Cundrîes Zähne werden folgendermaßen beschrieben: zwen ebers zene ir für den munt/ giengen wol spannen lanc (Pz. 313,22–23). In diesem Fall ist nicht klar, welchen ontologischen Status die Zähne erhalten. Die Eberzähne können ebenso als materiell und ontologisch mit den Hauern eines Ebers identisch verstanden
174 Der hybride Körper ist aufgrund seiner Hybridität, seiner Ephemerität und Evasivität immer der Gefahr der Auflösung ausgesetzt; der Vergleich und ähnliche Strategien wirken stabilisierend, indem sie ihn gleichermaßen festschreiben.
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1 Theorie, Methode und Monster
werden wie als metaphorische Darstellung basierend auf ähnlichen oder vergleichbaren Eigenschaften (das Tertium Comparationis wird nicht expliziert, es wird sich wohl um Größe, Prominenz, Form und evt. Farbe handeln). Ob es sich hierbei also um eine wesenhaft adäquate Bezeichnung des Körperteils oder um eine metaphorische Illustration handelt, bleibt unklar. In Bezug auf monströse Körper sind Metapher und Identifikation oft ununterscheidbar. In den descriptiones in mittelhochdeutschen Texten, das wird sich im Verlauf der Analyse zeigen, sind Metaphern bzw. Gleichsetzungen weit seltener als Vergleiche. Im Vergleich kann die formale Hybridität des monströsen Körpers mit seiner diskursiven Hybridisierung in Einklang gebracht werden.175 Ganz anders versteht C LAUDE K APPLER den Zusammenhang von Monstern und ihrer Beschreibung. Er sieht Monster als das Produkt von sprachlichen Prozessen. Sprache ist seiner Ansicht nach ein der Darstellung von Monstern unangemessenes und dem Bild gegenüber auch defizitäres Medium.176 Als Grund, warum trotzdem immer wieder Monster in Texten beschrieben werden, macht er ein dem Akt der sprachlichen Schöpfung eigenes Vergnügen aus: „[une] création spécifique qui comporte ses modalités, ses caracteristiques et son plaisir propre“.177 Sprache muss die Gebilde der Imagination vermittelbar machen und in diesen Übertragungsvorgängen eignet der Sprache aufgrund ihrer Unangemessenheit eine eigene Produktivität des Monströsen. Monster entstehen laut K APPLER aus der Unbeholfenheit sprachlicher Figuren. Wenn z. B. Metaphern nicht mehr als solche verstanden werden, wird aus dem als ‚Schwein im Meer‘ beschriebenen Delfin ein wörtlich genommenes maritimes Borstentier – ein Monster.178 In gewisser Weise ist K APPLER beizupflichten. Das literarische Inventar an monströsen Gestalten ist nicht homogen, sondern unterliegt einem ständigen Wechsel, der sich unter anderem aus literarischen Verfahren ergibt. Die etwa zehn in den frühesten Berichten überlieferten indischen Monsterarten vervielfältigen sich im Zug der Überlieferung.179 F RIEDMAN beschreibt diesen Prozess als durch die schriftliterarische Überlieferungspraxis bedingt. Übersetzungsfehler
175 Die Annahme, Hybridität konstituiere sich ausschließlich über die Beschreibung, hat in diesem Zusammenhang einen gewissen Reiz, greift angesichts der Präsenz monströser Wesen in der kollektiven Imagination des Mittelalters und insbesondere in der bildlichen Überlieferung aber wohl zu kurz. APPLE R , Claude, Monstres, démons et merveilles à la fin du Moyen Âge, Paris 1980 (Le 176 Vgl. K APPLER regard de l’histoire), S. 187–188 und 197–203. 177 K AP PLER , Monstres, démons et merveilles, S. 187. 178 K AP PLER , Monstres, démons et merveilles, S. 191–196. 179 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 22–23. F RIEDMAN führt auch einen Katalog des ‚Gesamtbestands‘ monströser Völker in der Nachfolge P LINIUS ’ auf, vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 9– 21.
1.2 Monster
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oder falsch geschriebene Namen erzeugen neue Arten von monströsen Wesen. Auch Verkürzungen und Paraphrasen von Beschreibungen, durch die mehrere Wesen zu einem neuen verschmelzen können, oder umgekehrt das Aufteilen der Merkmale eines Wesens auf mehrere neue Gestalten, führen zu einer Erweiterung des Monsterbestands. F RIEDMAN diagnostiziert aber auch ein „need for amplitude and diversity among the early chronicles of monstrous races“ und die daraus resultierende Strategie, durch das Streichen einzelner Besonderheiten neue, wenn auch weniger komplexe, Monstrositäten zu erschaffen.180 Monster sind also wirklich an mediale Eigenarten der Sprache gebunden, doch lässt sich Variabilität angemessener in den Besonderheiten der mittelalterlichen Überlieferungspraxis als in einer psychologischen Notwendigkeit begründen. In der Figur des Vergleichs kommt die körperliche Hybridität mit der Darstellung überein.
1.2.3 Monster und Ordnungen Auch wenn Monster Ordnungen übertreten und deren Prinzipien unterlaufen, sind sie ihnen nicht entgegengesetzt, sondern stehen zu ihnen in einem produktiven Verhältnis der Interdependenz. I SIDOR betont, dass Monster allem Anschein entgegen nicht widernatürlich, sondern nach göttlichem Willen geschaffener Teil der Schöpfung und somit per Definitionem Teil der natürlichen Ordnung sind: Portenta esse ait quae contra naturam nata videntur: sed non sunt contra naturam, quia divina voluntate fiunt, cum voluntas Creatoris cuiusque conditae rei natura sit. (Isid. orig. XI,3,1)181
Monster sind somit im christlichen Kontext als Teil des göttlichen ordo zu denken.182 Die Integration der Gestalten in diese Ordnung erfolgt über unterschiedliche Argumentationsstrategien. A UGUSTINUS widmet einen ganzen Abschnitt seines Gottesstaats der Frage, ob monströse Völker auch von Adam abstammen und sie somit als Menschen betrachtet werden können (vgl. Aug. civ. 16,8). Auch er argumentiert mit der Voll-
180 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 22–23. Vergleichbare produktive Prozesse sich trennender, wechselseitig beeinflussender und wieder vereinender Traditionen lassen sich auch in der Physiologus- und Bestiarientradition nachweisen, vgl. W ITTKOWER , Marvels, S. 142. 181 Missgeburten sind das, sagt Varro, was gegen die Natur geboren zu sein scheint. Sie sind aber nicht gegen die Natur, weil sie nach göttlichem Willen entstehen, weil der Wille des Schöpfers und die ÖL LER ER , S. 441). von diesem erschaffenen Dinge die Natur sind (Übers. nach L ENELOTTE M ÖLL ÜNKL ER R , R ÖCKE , ordo-Gedanke, S. 716–722. 182 Zum mittelalterlichen ordo-Gedanken vgl. M ÜNKLE
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1 Theorie, Methode und Monster
kommenheit der göttlichen Schöpfung, indem er eine Analogie zwischen einzelnen monströsen Geburten innerhalb menschlicher Gesellschaften und den monströsen Völkern in der Gemeinschaft der menschlichen Völker herstellt: So wie bei einzelnen Geburten ab und zu monströse Wesen vorkommen, so gibt es auch in der Gemeinschaft der Völker einzelne Völker, die monströs sind.183 Monster werden in diesem Modell nicht nur in die Schöpfungsordnung integriert, sie dienen auch dazu, diese Ordnung dem Menschen, der sie unmöglich erfassen kann, zu illustrieren: quid, si propterea deus uoluit etiam nonnullas gentes ita creare, ne in his monstris, quae apud nos oportet ex hominibus nasci, eius sapientiam, qua naturam fingit humanam, uelut artem cuiuspiam minus perfecti opificis, putaremus errasse? non itaque nobis uideri debet absurdum, ut, quemadmodum in singulis quibusque gentibus quaedam monstra sunt hominum, ita in uniuerso genere humano quaedam monstra sint gentium. (Aug. civ. 16,8)184
Einzelne Monster und monströse Völker treten in eine zirkuläre Beziehung zueinander und legitimieren sich gegenseitig, indem sie aufeinander verweisen und somit menschliche Skepsis bezüglich der Vollkommenheit der Schöpfung und ihres Schöpfers ausmerzen. A UGUSTINUS gelingt es in seiner ursprünglich apologetisch um die Theodizeefrage kreisende Diskussion, das Problem monströser Figuren gänzlich umzudeuten. Statt durch ihre scheinbar kontingente Existenz das Konzept eines gütigen Gotts und einer vollkommenen Schöpfung in Zweifel zu ziehen, dienen Monster zur Verdeutlichung einer dem Menschen unbegreiflichen Ordnung und Vollkommenheit, zu deren Illustration sie – es lässt sich vermuten aus Güte – als anagogische Hilfsmittel von Gott geschaffen wurden. Der genaue Ursprung einzelner monströser Geburten bzw. Völker bleibt bei A UGUSTINUS ein blinder Fleck. Er verlässt den mit der Fragestellung nach der Abstammung von Adam umrissenen Bereich der Genealogie, indem er ausgehend von der empirisch gesicherten Möglichkeit solcher Wundergeburten ihre Existenz als Hinweis auf die Vollkommenheit des für den Menschen ansonsten unmöglich zu durchschauenden göttlichen Schöpfungsplans versteht (vgl. Aug. civ. 16,8).
183 I SIDOR übernimmt diese Analogie vgl. Isid. orig. XI,3,12. 184 [Man muss fragen], ob nicht Gott vielleicht deshalb einige Völker dergestalt schaffen wollte, damit wir nicht bei Mißgestalten, wie sie unter uns unleugbar von Menschen geboren werden, uns einreden lassen, seine Weisheit, die die menschliche Natur bildet, habe wie die Kunstfertigkeit eines weniger geschickten Meisters einen Fehler gemacht. So braucht es uns nicht unsinnig vorzukommen, dass es ebenso wie es in den einzelnen Völkern Mißgeburten von Menschen gibt, auch im ganzen Menschengeschlecht allerlei mißgestaltete Völker geben mag. (Übers. nach W OL FGANG T HIMME , S. 295–296)
1.2 Monster
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Doch es gibt auch Versuche, die Entstehung von Monstern innerhalb der Geschichte des Menschengeschlechts mit einer genealogischen Kausalität zu versehen. Begründungen für die körperliche Monstrosität einiger Nachkommen Adams bieten drei Traditionen, die jeweils mit einem Normverstoß in der biblischen Frühzeit ansetzen. Der erste Strang nimmt im Brudermord Kains an Abel seinen Anfang (vgl. Gn 4,1–6).185 Die Nachkommen des nach dem Verbrechen verfluchten, vertriebenen und – je nach Tradition mit Hörnern oder Geschwüren – gezeichneten Kain, der teilweise als Wilder Mann dargestellt wird, erben von ihrem Vater die körperliche Devianz,186 während die wohlgestaltete Mehrheit der Menschen von Adams dritten und ebenbildlichen Sohn Seth abstammt (vgl. Gn 4,25–5,2).187 Der zweite Überlieferungsstrang setzt mit der Wiener Genesis188 bei Adams namenlosen nach der Vertreibung aus dem Paradies geborenen Töchtern an. In einer spiegelnden Wiederholung des Sündenfalls essen sie entgegen des ausdrücklichen Verbots ihres Vaters während ihrer Schwangerschaft von Kräutern, die sich als fruchtschädigend erweisen. Ihre Kinder werden mit körperlichen Deformationen geboren und werden zu den Ahnherrn der monströsen Völker. Bekannte Vertreter dieser Linie sind Cundrîe und ihr Bruder Malcrêatiure im Parzival (vgl. Pz. 518,1–30). In beiden Fällen ist der nicht sündhafte Normübertritt, der Ungehorsam gegen eine väterliche Autorität allein für die Entstehung von Monstrosität verantwortlich.189 Kains Mal – Strafe und Schutz zugleich – wird als körperliches Merkmal vererbt und auch bei Adams Töchtern ist die moralische Verfehlung des Ungehorsams um den pharmakologischen Aspekt der schädlichen Kräuter ergänzt. Der Ungehorsam ist zwar Bedingung für das Entstehen von körperlicher Deformation, wird aber jeweils um eine physikalische Ursache erweitert. Monstrosität wäre somit die in den Schöpfungszusammenhang und in genetische Kontinuitäten integrierte Verkörperung eines Normverstoßes und seiner Folgen. Die Problematik eines Generationenkonflikts, aus dem sich eine genealogische Begründung von Monstrosität herleiten lässt, wiederholt sich in der zweiten
185 Rabbinische Traditionen verlegen die Ätiologie des Bösen schon vor Kains Geburt, indem sie Kain als Kind Evas und der Schlange oder Evas und Satans aus Adams Nachkommenschaft ausschließen, vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 95. 186 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 96–98. 187 Zur prominenten Stellung Seths besonders in der apokryphen Überlieferung vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 93–94. 188 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 93. 189 I SIDOR weist den Volksglauben, Giganten seien aus dem vorsintflutlichen Beischlaf von ihre Pflichten vergessende und Normen übertretende (praevaricatores) Engeln mit menschlichen Frauen hervorgegangen, zurück, vgl. Isid. orig. XI,3,14.
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1 Theorie, Methode und Monster
Urszene der Bevölkerung der Welt. Nach der Sintflut kommt es zum Konflikt zwischen Noah und seinen Söhnen. Während Ham seinen betrunken entblößt schlafenden Vater auslacht, bedecken ihn seine Brüder Sem und Japhet züchtig. Noah verflucht Ham daraufhin und teilt ihm als Erbe Kanaan zu. Er und seine Nachkommen müssen seinen Brüdern dienstbar sein (vgl. Gn 9,18–29). Sein Fluch geht in der apokryphen Tradition wiederum mit Deformationen einher.190 Die geographische Auffassung einer nach dem T-O-Schema in drei Kontinente aufgeteilten Welt weist später Sem Asien, Japhet Europa und Ham Afrika zu. Die auf diesen Karten in Afrika verorteten monströsen Völker wären somit auch in diesem Narrativ Nachkommen des sündigen Sohnes, Ham.191 Diese Ätiologie des Monströsen spielt in die Vorstellung einer geographischen Ordnungsfunktion monströser Gestalten hinein. Ihre Lokalisierung ist aufschlussreich für das antike und mittelalterliche Weltbild und bestimmt es maßgeblich. Monströse Völker bewohnen in der Vorstellung dieser Zeit die äußersten Ränder der Welt; in den damaligen Termini: Skythien, Indien, Libyen, Äthiopien und Afrika. Auch im ethnozentrischen Weltbild der griechischen und römischen Antike ist das Monströse eine Chiffre des Anderen und des Fremden. Je weiter ein Volk von den kulturellen Zentren Roms und Griechenlands entfernt war, umso „monströser“ war es. Die äußerste Sphäre dieser konzentrisch gedachten Welt markieren körperlich wie kulturell maximal von den Mittelpunkten divergierende Monster. Im Umkehrschluss waren auch die Bewohner des Zentrums, je weiter sie sich aus ihren angestammten Gebieten entfernten, umso schlechter an die Umgebung angepasst. Die schon aus klimatischen Gründen für Römer oder Griechen als unbewohnbar imaginierten Gebiete an den Rändern waren demnach der logische Lebensraum für monströse Völker.192 Das christliche Mittelalter adaptiert dieses Weltbild, allerdings ist die Leitkategorie der Welterschließung nicht mehr primär kulturelle Devianz, sondern Heil. In den noachidischen Weltkarten ist Jerusalem in den Mittelpunkt gerückt. Die monströsen Völker am – zumeist südlichen und östlichen – Weltrand bevölkern die vom Heilzentrum am weitesten entfernten, gleichsam heilsarmen Gebiete.193 Im Gegensatz zum antiken Verständnis, das körperliche Devianz und geographische Marginalität zirkulär auf-
190 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 100–103. 191 Vgl. dazu M ÜNKLER , Marina, Monstra und mappae mundi: Die monströsen Völker des Erdrands auf mittelalterlichen Weltkarten, in: Jürg Glauser, Christian Kiening (Hgg.), Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg 2007 (Litterae 105) S. 149–173, hier S. 154–155. 192 Dieses Weltbild bezieht sich selbstverständlich nicht auf reale geographische Gegebenheiten. ÜNKLE R weist darauf hin, dass es keine aus 193 F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 38–39. M ARINA M ÜNKLER der Heilsgeschichte ausgeschlossenen Menschen gibt und dass die Monster – sofern es sich um
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1.2 Monster
einander bezieht (das eine bedingt das andere), codiert die Randlage im christlichen Kontext eine zusätzliche Bedeutungsschicht. Die Position monströser Gestalten an dezentralen Orten ist nicht in ihrem Wesen eingeschrieben, sondern hat eine Geschichte. Sie dienen dazu, das Zentrum von den Rändern her ordnend lesbar zu machen.194 Nichtsdestotrotz wird die Semantik der Heilsreichweite durch die antike Vorstellung, Monster seien in unwirtlichen Gegenden zuhause, ergänzt. Auf Zonenkarten finden sich Monster in den klimatisch extremen Bereichen um den Äquator und I SIDOR lokalisiert die monströsen Völker neben den geographischen Rändern der Welt in der ‚Wüste‘ und der ‚Wildnis‘ (solitudine Isid. orig. XI,3,21, silvestris Isid. orig. XI,3,22). Die körperliche Exzentrizität von Monstern spiegelt sich in ihrer Verortung wider – und umgekehrt. Neben räumlichen Strukturen können Monster auch temporäre Ordnungen gliedern. Die von I SIDOR betonte Zeichen- und Orakelfunktion geht mit einer jeweils zeitlichen Perspektivierung einher. Die Wundergeburt verweist auf ein Zukünftiges, das sich bewahrheiten muss und im Zustandekommen mit dem Rückgriff auf das monströse Vorzeichen mit Sinn versehen werden kann und dieses ihrerseits mit Sinn erfüllt. Über die Wechselwirkung von Vorhersage und Erfüllung strukturieren sie zeitliche Zusammenhänge. Zugleich sind Monster als Vorzeichen selbst der Zeit enthoben. Sed haec monstra quae in significationibus dantur non diu vivunt, sed continuo ut nata fuerint occidunt. (Isid. orig. XI,3,5).195 Als Zeichen sind sie von ephemerem Charakter. In diesem Zusammenhang ist wohl auch zu sehen, dass Monster die Grenzen der Zeit markieren. Auf Weltkarten sind sie in die Nähe des irdischen Paradieses gerückt und über dieses mit dem Beginn der Zeit verbunden.196 Sie begleiten auch die Apokalypse (vgl. z. B. Apc 13,1–18) und zwar nicht nur in der christlichen Tradition, auch in paganen Religionen spielen Monster für die Vorstellung des Zeitenendes eine Rolle.197 In den bisher betrachteten Ansätzen steht hauptsächlich die Frage ‚realer‘ oder zumindest ‚real‘ imaginierter Monster im Vordergrund, ihre Existenz, ihre
monströse menschliche Völker handelt – allenfalls aus der weltlichen Geschichte ausgeschlossen werden können, vgl. M ÜNKLER , Monstra und mappae mundi, S. 162–163. ÜNKLE R , Monstra und mappae mundi, S. 173. 194 M ÜNKLER 195 Aber die Monster, die als solche Zeichen gegeben werden, überleben nicht lange, sondern E NELOTTE M ÖLLER ÖL LER , S. 441–442). sterben unmittelbar nach der Geburt. (Übers. nach L ENELOTTE 196 Mittelalterliche Karten können nicht als rein geographische Darstellungen verstanden werden, sie bilden „die Geschichte im Raum und de[n] Raum in der Geschichte“ ab, vgl. M ÜNKL ER , Monstra und mappae mundi, S. 159. LUSKOWS KI , Alex, Apocalyptic Monsters. Inspirations for the Iconography of Medieval North 197 P LUSKOWSKI European Devourers, in: Bildhauer, Bettina, Mills, Robert (Hgg.), The Monstrous Middle Ages, Toronto, Buffalo 2003, S. 155–176, hier S. 157.
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1 Theorie, Methode und Monster
Herkunft, ihre Lokalisierung und die Integration ihrer scheinbar ordnungssubversiven Existenz in bestehende Systeme. Davon zu unterscheiden sind Ansätze, die Monstrosität bzw. Deformität als Merkmal von nicht-realen Figuren und Objekten untersuchen: als Produkte der Vorstellungskraft, der Kunst, der Literatur und – als Allegorien und andere Deutbilder – der biblischen Überlieferung. Die Negative Theologie,198 eine in der Spätantike aufkommende Strömung der christlichen Schrift- und Weltdeutung, erlangte im westlichen Europa ab dem neunten Jahrhundert vor allem durch J OHANNES S COTUS E RIUGENAS lateinische Übertragung des Corpus Dionysiacum Verbreitung. Diese ursprünglich in Griechisch verfasste Textsammlung umfasst die Schriften des sich als Paulusschüler ausgebenden P SEUDO -D IONYSIUS A REOPAGITA (vgl. Act 17,34), der im sechsten Jahrhundert n. Chr. wohl in Syrien lebte.199 Ich werde meine Darstellung auf E RIUGENAS das Corpus Dionysiacum erweiternde und überarbeitende Übersetzung beschränken und das Werk des P SEUDO -D IONYSIUS lediglich kontrastiv hinzuziehen. Von besonderer Relevanz für meine Ausführungen ist die kurze dionysische Schrift Über die himmlische Hierarchie und ihre weitaus umfangreichere kommentierte Übersetzung E RIUGENAS , die Expositiones in ierarchiam coelestem.200 Die Negative Theologie verzichtet gänzlich auf eine empirische Versicherung der Monster, die sie betrachtet – E RIUGENA verdichtet dies in der Umkehrung der üblichen auctoritas-Topoi zu der Formel nec vidi, nec legi, nec audivi (Exp. II, 551)201 – stattdessen werden auf der Grundlage eines christlich geprägten
198 Die folgenden Sachverhalte habe ich in gekürzter Form schon an anderer Stelle dargelegt, IS THARDT , Constanze, Die Potenzialität des Monströsen. Zum medialen Verhältnis von vgl. G EEISTHARDT impliziter Poetik und Text im Wilhelm von Österreich von Johann von Würzburg, in: Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hgg.), Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Bielefeld 2009, S. 31–46, hier S. 40–43. 199 Vgl. R ITTER , Adolf Martin, Gesamteinleitung, in: Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, S. 1–53, hier S. 2–3. 200 Eingehendere Untersuchungen der im Folgenden dargestellten Grundlagen der Negativen OQUE S , René, Libres sentiers vers l’érigénisme, Rom 1975 (Lessico Intellettuale Theologie liefern R OQUES Europeo 9), M ICHEL , Paul, Formosa Deformitas, Bewältigungsformen des Hässlichen in mittelalterlicher Literatur, Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), M EIER , Christel, Ut rebus apta sint verba. Überlegungen zu einer Poetik des Wunderbaren im Mittelalter, in: Dietrich Schmidtke (Hg.), Das Wunderbare im Mittelalter, Göppingen 1994 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 606), S. 37–83, W ILLIAMS , David, Deformed Discourse. The Function of the MonREUZ ER , Johann, Gestalten mittelalterlister in Mediaeval Thought and Literature, Exeter 1996, K REUZER cher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, München 2000. 201 Ich habe [Monster] weder gesehen, noch [von ihrer Existenz] gelesen, noch [von ihrer Existenz] gehört. (Übers. CG).
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platonischen Weltverständnisses Zeichenvorgänge problematisiert. Die sinnlich wahrnehmbare Welt wird in strikter ontologischer Trennung von der metaphysischen Instanz des Schöpfergottes begriffen.202 Daraus ergibt sich für den Christen die heilsrelevante Frage, wie der Mensch trotz dieser im Akt der Kreation vollzogenen Separation Gott erfahren kann. Die naheliegenden Lösungen, Gott entweder als unerfahrbar oder als in seiner Schöpfung greifbar zu denken, sind beide gleich unzulänglich. Erstere Annahme hätte den Agnostizismus zur Folge, die zweite einen ebenso wenig aussagekräftigen Pantheismus.203 E RIUGENA umgeht diese Schwierigkeit mit Hilfe einer prozessualen Figur. Er denkt Natur als prozesshafte Erscheinung eines schöpferischen Prinzips und kann somit beide Welten, Schöpfer und Schöpfung, in einem Prozess des Werdens miteinander verknüpfen: „Natur als Selbstwerdung Gottes“.204 Natur ist daher keine abschließend Gewordene, sondern immer eine Werdende, in deren werdendem Vorübergehen sich das Prinzip des Werdens (der Schöpfer) mitteilt, ohne jemals in ihr aufzugehen: „Und während er [Gott] in allem wird, hört er nicht auf, über allem zu sein.“205 Diese komplexe Denkfigur fasst E RIUGENA in dem Begriff der Theophanie. In ihr verbindet sich die Ewigkeit und Einheit der göttlichen Ursache mit dem zeitlichen Werden und der Vielheit der irdischen Natur.206 Etwas anschaulicher lässt sich dies als das paradoxale Neben- und Ineinander von Transzendenz und Immanenz darstellen. Gott wird einerseits als ewig und allumfassend, somit die Grenzen der Welt und der Vorstellungskraft des Menschen übersteigend angesehen, andererseits aber kann der Mensch Ewigkeit und Inkommensurabilität nur in seinen irdischen Kategorien und mit seinen Vorstellungen von Zeitlichkeit überhaupt denken.207 Gegenüber der Unfassbarkeit Gottes ist die menschliche Kognition notwendigerweise immer defizitär. Gleiches gilt für die menschliche Sprache, die Gott ebenfalls nicht gerecht werden kann. Kataphatische, Gott Namen zuweisende Sprechakte (man könnte sie auch als affirmative Aussagen bezeichnen) sind unangemessen, da jede positive Aussage eines durch seine Weltgebundenheit eingeschränkten Menschen auch einschränkend ist. Apophatische (Gott Namen absprechende/die Möglichkeit eindeutiger Bestimmungen negierende) Sprech-
202 203 204 205 206 207
Vgl. M ICHE L , Formosa Deformitas, S. 109–110. Vgl. K RE UZER , Gestalten, S. 57. K REUZER RE UZER , Gestalten, S. 57. K REUZER RE UZER , Gestalten, S. 58. Vgl. K RE UZER , Gestalten, S. 64–71. Vgl. K RE UZER , Gestalten, S. 65–67 und 71–72.
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akte dagegen wären in ihrem semantischen Gehalt dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott zwar angemessen, da sie Gott nicht eingrenzend determinieren. Doch bezüglich der Ausgangsfrage, wie der Mensch seinen Schöpfer erkennen kann, wären sie wiederum nicht aufschlussreich.208 Erst die Verbindung von positiver und negativer Aussage entspricht der Struktur der Theophanie und kann somit einer Annäherung an Gott dienen. P SEUDO -D IONYSIUS verknüpft Affirmation, Negation und ihre Synthese zu einem Dreischritt, der den anagogischen Weg des Menschen beschreibt: Zuerst glaubt der Mensch, Gott erkennen und benennen zu können. Bei eingehender Reflexion sieht er als zweiten Schritt ein, dass dies unmöglich ist. In einem dritten, die beiden vorangehenden Gedanken verknüpfenden und zugleich mystisch transzendierenden Schritt, erkennt der Mensch, dass Gott nicht kognitiv begreifbar ist, ohne allerdings zu vernachlässigen, dass Gott ist.209 Die Absage an einen Versuch der rationalen Annäherung an Gott begründet den Einfluss der Negativen Theologie auf unterschiedliche Vertreter und Schulen der mittelalterlichen Mystik.210 Diese zentrale Erkenntnis wird von P SEUDO -D IONYSIUS und in seiner Nachfolge von E RIUGENA in einem kombiniert ästhetischen und symboltheoretischen Code vermittelt. Bildgebungen werden einerseits in similes und dissimiles, andererseits in pulchra und deformes oder turpes unterschieden. ‚Unähnlichkeit‘ bezeichnet Symbole, die nicht unmittelbar auf ihre Bedeutung hin transparent sind, ähnliche Symbole stellen diese Schwierigkeit nicht, sondern sind problemlos zu deuten.211 ‚Hässlichkeit‘ ist am ehesten als sich in der entrüsteten, erstaunten oder erschreckten Reaktion des Betrachters manifestierenden Abweichung von der durch die Natur konstituierten Norm zu verstehen: omne siquidem quod contra naturam est turpe atque deforme est (Exp. II, 558–559),212 ‚Schönheit‘ ist entsprechend die ästhetische Eigenschaft harmonischer und normgerecht natürlicher Entitäten. Obwohl die symboltheoretische und die ästhetische Diskussion voneinander zu unterscheiden sind, können hier beide enggeführt werden, da sie jeweils das für die Negative Theologie entscheidende Moment einer Störung in
208 Vgl. M ICHE L , Formosa Deformitas, S. 112–114. 209 Vgl. M ICHE L , Formosa Deformitas, S. 112–113. 210 Zur Rezeption der Negativen Theologie bis ins fünfzehnte Jahrhundert vgl. die Beiträge in B EIERWALTES , Werner (Hg.), Eriugena Redivivus. Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter und im Übergang zur Neuzeit. Vorträge des V. Internationalen Eriugena-Colloquiums, Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg, 26. – 30. August 1985, Heidelberg 1987 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse). IL LIAMS , Deformed Discourse, S. 40–42. 211 Vgl. dazu W ILLIAMS 212 Alles ist hässlich und missgestaltet, insofern es gegen die Natur ist (Übers. CG), vgl. dazu auch R OQUES , Sentiers, S. 16–19, M ICHE L , Formosa Deformitas, S. 128–132, M EIER , Poetik, S. 53, K REUZER , Gestalten, S 57, bes. FN 14.
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sich tragen. ‚Unähnliche‘ Bildgebungen stören ihre eigene Deutung, ‚hässliche‘ Entitäten sperren sich gegen gängige Ordnungsmuster und stellen somit für den diese Ordnungen nachvollziehenden Betrachter ein Hindernis dar. Der Trugschluss, Gott sei in seiner Schöpfung fassbar und somit die Versuchung, ihn durch unangemessene positive Aussagen zu determinieren, drängt sich dem Betrachter besonders angesichts ‚schöner‘ bzw. ‚ähnlicher‘ Dinge und Zeichen auf. Bei ‚hässlichen‘ bzw. ‚unähnlichen‘ Entitäten besteht diese Gefahr nicht. An ihnen wird der Gedankengang, dass Gott zwar Schöpfer von allem ist, und somit auch an allem partizipiert, während er doch grundsätzlich unerkennbar bleibt, auch für theologisch-philosophisch nicht gebildete Laien nachvollziehbar. Entsprechend sind ‚hässliche‘/‚unähnliche‘ Dinge und Zeichen besonders geeignet, um im Sinne der Negativen Theologie einen Zugang zu Gott zu vermitteln:213 Hec enim sunt dissimilia symbola in propheticis uisionibus [...], ad nostram eruditionem et introducionem ad purissimas celestium essentiarum in semetipsis [...] cognitiones. (Exp. II, 86–90)214
Die Gefahr ‚schöner‘/‚ähnlicher‘ Darstellungen liegt in der möglichen Täuschung der Rezipienten: dum in sanctis uisionibus sanctorum prophetarum lego humanam effigiem pulchram, absolutam, omnimodisque naturalem in significatione ipsius, qui super omnem formam et figuram in seipso absque forma subsistit et figura, plus possum decipi, ut existimem ipsum Deum incircumscriptum humana effigie circumscribi posse [...]. (Exp. II, 540–545)215
E RIUGENA verändert die Argumentation des P SEUDO -D IONYSIUS , indem er die drei Schritte als semiotische Abstraktion im Zeichen zusammenschließt. Während das Subjekt der Überlegungen bei P SEUDO -D IONYSIUS aktiv an der Negation mitwirken muss, um die Einsicht zu erreichen, dass Gott weder durch affirmierende noch durch negierende kognitive Operationen begriffen werden kann, ist bei E RIUGENA
213 Vgl. R OQUES , Sentiers, S. 16–22. 214 Dieses sind nämlich unähnliche Symbole in den prophetischen Visionen [...], die unserer Unterrichtung dienen und unserer Hinführung zur Erkenntnis der reinsten, himmlischen Wesenheiten, wie sie an sich sind [...]. (Übers. C HRISTEL M EIER , Poetik, S. 48). 215 Wenn ich in den Hl. Visionen der heiligen Propheten von einem schönen menschlichen Bild lese, das einheitlich und in jeder Weise natürlich ist, zur Bezeichnung dessen, der über jede Form und Gestalt in sich selbst ohne Form und Gestalt besteht, kann ich mehr der Täuschung unterliegen zu glauben, Gott selbst, der unendlich ist, könne durch ein menschliches Bild begrenzt werden und der Unsichtbare und Unaussprechliche sei sichtbar und es werde etwas über ihn ausgesagt. (Übers. C HRISTE L M EEIER IE R , Poetik, S. 51).
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1 Theorie, Methode und Monster
die Negation dem ‚hässlichen‘/‚unähnlichen‘ Zeichen eingeschrieben. Sie wird schon in der Anschauung des Zeichens vom Betrachter rezipiert.216 Anhand bildlicher (oder als visuell imaginierter) Zeichen lässt sich dies veranschaulichen. Durch ihre Existenz stellen diese Zeichen zwar – im logischen Status einer Proposition vergleichbar – eine Affirmation dar, doch da sie ‚hässlich‘ bzw. ‚unähnlich‘ sind, enthalten sie schon auf der Signifikantenebene ihre eigene Negation. Der hybride Zusammenschluss von Elementen aus unterschiedlichen Sphären unterbricht die Semiose bzw. macht eine problemlose und eindeutige Identifikation mit dem Signifikat eines einheitlichen göttlichen Urhebers unmöglich. In E RIUGENAS eigenen Worten: Vt enim hec omnia naturales abnegant formas, ita celestes uirtutes his omnibus speciebus carere manifestissime insinuant. (Exp. II, 575–577)217
Monster werden in der Negativen Theologie als pädagogisches Mittel im Rahmen der Anagogie verstanden. Sie dienen mittels diverser Abstraktionsmöglichkeiten zu einer Hinführung des Menschen zu Gott und sind damit gerade durch ihre scheinbare Unangepasstheit an gängige ästhetische und symbolische Ordnungen auf diese stabilisierend wirken können. Der Vollständigkeit halber sollen hier diejenigen zeitgenössischen Stimmen nicht unerwähnt bleiben, die Monstern jede über die Auslösung eines – je nach Schärfe der Kritik – ästhetischen bis voyeuristischen Vergnügens in ihren Betrachtern hinaus gehende Funktion absprechen. Der Pictor in Carmine, das aus der Zeit um 1200 stammende „älteste[…] Handbuch [...], in dem typologische Bildkonstellationen zum Gebrauch für Maler und, selbstredend, deren Auftraggeber zusammengestellt sind“218 begründet sein Vorhaben damit, dass es in Gotteshäusern zu viele törichte Bilder gebe, die wenig dekorative Monster darstellen und dass, wenn es schon Bilder in Kirchen geben müsse, diese nicht die Gläubigen durch vergnügliche Betrachtungen ablenken, sondern dem gregorianischen Anspruch der ‚Bibel für die Leseunkundigen‘ genügen sollten (für deren
216 Vgl. R OQUES , Sentiers, S. 26–27. 217 Denn wie alle diese [monströsen Züge] anzeigen, daß sie nicht natürliche Formen sein können, vermitteln die aufs deutlichste, daß die himmlischen Kräfte [überhaupt] aller dieser Züge des HRIS TEL M EIER , Poetik, S. 53). Aussehens entbehren. (Übers. C HRISTEL IRT H , Karl-August, Einleitung, in: Pictor in carmine. Ein Handbuch der Typologie aus der 218 W IRTH Zeit um 1200. Nach MS 300 des Corpus Christi College in Cambridge hg. von Karl-August Wirth, Berlin 2006, (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 17), S. 13–106, hier S. 13.
1.2 Monster
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ikonographische Konzeption und Ausführung der Pictor in carmine das Material liefert): (D)olens in sanctuario Dei fieri picturarum ineptias et deformia quedam portenta magis quam ornamenta, optabam si fieri posset mentes oculosque fidelium honestius et utilius occupare. Cum enim nostri temporis oculi non solum vana sed etiam profana sepius vo(luptate capiantur, nec faci)le putaverim inanes ecclesie picturas hoc tempore posse penitus abrogari, [...] si vel eiusmodi picturis delectentur, que tanquam libri laicorum simplicibus divina suggerant […]. (Pictor, Fol 1r, Lin. 1–7)219
Eine vergleichbare Kritik äußert B ERNHARD VON C LAIRVAUX in der Auseinandersetzung mit dem großen Bauherrn der Frühgotik, S UGER VON S T . D ENIS .220
1.2.4 Reflexion: Relation und Rezeption Monster, so wurde bisher gezeigt, stellen ihr Gegenüber – den Leser, den Betrachter221 – vor eine Aufgabe. Es gibt häufig keine Begriffe, um sie zu benennen und wenn doch, dann implizieren die Namen, dass den Monstern mit der Benennung nicht Genüge getan ist. Als (Vor)Zeichen oder Wunder haben Monster Aufforderungscharakter. Sie können nicht isoliert stehen, sondern wollen in (narrative) Kontexte eingebunden und erläutert werden: Wofür steht das Zeichen? Worüber muss man sich wundern? Und wichtiger noch: Worin ist der zeichenhafte oder verwunderliche Charakter begründet? Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, den hybriden monströsen Körper in mehr oder weniger detaillierten Beschreibungen bildlich vorstellbar zu machen. Die gleiche Konsequenz ergibt sich, wenn keine geeignete Bezeichnung vorliegt, bzw. wenn zur Benennung behelfsmäßig auf Kategorien zurückgegriffen werden muss, die dem monströsen Körper jeweils nur teilweise gerecht werden, und so schon im Moment der Zuweisung in Frage gestellt und präzisiert werden müssen.
219 Betrübt darüber, dass im Heiligtum des Herrn Torheiten und Missgestalten der Malerei, mehr als Monstrositäten denn als Verzierungen, angebracht werden, wünschte ich, wenn es möglich wäre, dass sie die Gedanken und Augen der Gläubigen ehrenvoller und nützlicher beschäftigten. Weil nämlich in unserer Zeit unsere Augen öfter von nicht nur leerer sondern auch gottloser Wollust erfasst werden, könnte ich auch nicht leicht glauben, dass die nichtigen Kirchenmalereien zu unserer Zeit völlig abgeschafft werden können [...], weil sie besonders erfreut werden von derartigen Bildern, welche wie die Bücher der Laien den ungebildeten Menschen die göttlichen Dinge zuführen (Übers. CG). 220 Vgl. M ICHE L , Formosa Deformitas, S. 156–176. 221 In fiktionalen Kontexten auch die intradiegetische mit dem Monster konfrontierte Figur.
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Die Notwendigkeit einer Beschreibung setzt den affektiven Reaktionen der Furcht oder des Wunderns eine rationale Bewegung entgegen. Die auf den ersten Blick von Monstern ausgelösten Affekte werden um einen zweiten, detaillierten, in seinem Anspruch gleichsam sezierenden Blick ergänzt, der die Ursache für Furcht und Staunen Körperteil für Körperteil in den Fokus rückt und die Affekte durch Analyse ersetzt. Auch formal ist die Beschreibung ein abstrahierender und synthetischer Prozess. Vergleiche und Metaphern setzen einen analytischen Umgang mit dem Gegenstand voraus und ermöglichen jeweils nur eine approximative Annäherung. Schon die basalen Operationen der Benennung und Beschreibung stellen die Produzenten und Rezipienten in Bezug auf Monster vor komplexe kognitive Anforderungen. Monster verlangen nach Reflexion. „The making and breaking of categories […] is the Ur-act of cognition, underpinning all pursuit of regularities and discovery of causes.“222 Das Problem der Benennung und Beschreibung des hybriden Körpers, der augenfälligste Reflexionsanlass, beruht auf der kategorialen Uneindeutigkeit der Figuren. Sie sind weder eindeutig Mensch noch Tier und auch die zoomorphen Aspekte sind oft nicht zweifelsfrei einer Gattung zuzuweisen. Abstrahiert man von der konkret-körperlichen Hybridität, wird sie auf ein das Monster determinierende übergeordnete Prinzip hin lesbar: die Relationalität des Monströsen. Monster sind nicht isoliert zu betrachten, da Monstrosität sich nur relativ in Bezug auf und in der Regel kontrastiv zu Ordnungen beschreiben lässt.223 Als scheinbare oder tatsächliche Normüberschreitungen sind sie in der antiken und mittelalterlichen Tradition auf anthropologische, ethnographische, genealogische, religiöse, temporale, geographische und topographische Ordnungen bezogen.224 Monster the-
222 D ASTON , Lorraine, P ARK , Katharine, Wonders and the Order of Nature 1150–1750, New York 2001, S. 14. ÜNKL ER und W ERNER R ÖCKE ÖC KE weisen darauf hin, dass im mittelalterlichen Verständ223 M ARINA M ÜNKLER nis nach T HOMAS VON A QUIN „der Relationsbegriff [...] in gewisser Weise mit dem ordo-Begriff identisch“ ist und „daß die Dinge nur seiend waren, insofern sie sich in der Ordnung befanden, in der Ordnung sein hieß aber immer, in Relation zu anderen stehen. Demnach war die Relation eine Seinsform und keine Erkenntnisform. Ordnung war daher aber auch nicht an sich, sondern nur in den Dingen, in der Welt erfahrbar, und gleichzeitig war sie die Begründung dafür, daß die ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 719. Der Seinsrelationen der Dinge lesbar und deutbar waren.“ M ÜNKLER relationale Charakter monströser Wesen stellt sie somit nicht nur in Bezug zu einer Ordnung (gleichsam als Bezugsrahmen, den sie sprengen), sondern bindet sie auch in übergeordnete Ordnungen ein. Ein Beispiel wäre A UGUSTINUS ’ Argumentation, die anerkennt, dass Monster anthropologische Normen in Frage stellen, und das Problem über ihre Integration in den göttlichen ordo behebt. ÜNKL ER , Monstra und mappae mundi, bes. S. 172–173. 224 Vgl. dazu auch M ÜNKLER
1.2 Monster
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matisieren, das hat der Überblick gezeigt, diese Ordnungen auf unterschiedliche Weise. Sie können Ordnungen durch ihre Irregularität markieren und konstituieren, sie können sie in Frage stellen und eine Neu-Ordnung herausfordern und sie können zur expliziten Reflexion der Ordnungen führen. Nicht in jedem Fall sind die Monster dabei, wie oben bezüglich der Hybridität angedeutet, auf das in ihnen thematisierte Ordnungsprinzip hin transparent. Die in Narrativen des Weltuntergangs das Ende markierenden und begleitenden monströsen Gestalten weisen keinen wesenhaften Bezug zum Zeitenende auf, sind für dieses aber als Ordnungsfunktion signifikant.225 Die Relationalität monströser Gestalten ist somit als reziproke Figur zu verstehen. Nicht nur die Monster selbst konstituieren sich durch Bezüge zu ihren Kontexten, auch die Kontexte werden durch die Monster erschlossen. In diesem dynamischen Verhältnis kann die Monstern eigene Reflexivität auf ihre Kontexte übertragen werden.226 Die Ordnungsfunktion ist vor dem kulturellen Hintergrund des Mittelalters im Verständnis des Monströsen so präsent, dass Monster zu Topoi verkürzt auf Ordnungen und ihre Überschreitungen hinweisen können.227 Sie fungieren dann eher als Marker für die relevanten Ordnungen anstatt sie breiter zu reflektieren. Wo Reflexivität betrachtet wird, spielt der Rezipient eine wichtige Rolle. Die Konfrontation mit monströsen Gestalten stellt durch die kategoriale Irritation, die sie konstituiert, trotz ihrer teils topischen Markierung immer einen Bruch mit Automatismen der Wahrnehmung dar. Monster tragen somit trotz ihres immer wieder betonten ästhetischen Reizes eine Deutungsaufforderung in sich:
225 Diesbezügliche Deutungen ergeben sich im Fall der biblischen Offenbarung aus der allegorischen Auslegung der apokalyptischen Tiere. Sie tragen keinen wesenhaften Bezug zum Weltende in sich, sondern werden im Hinblick auf ihre eschatologische Relevanz gedeutet. IC HAEL C AMILLE weist diese Prozesse unter anderem für die Gestaltung von Rändern in der 226 M ICHAEL Architektur und der Buchkunst nach, von denen aus oft monströse Figuren (Wasserspeier, AMIL LE , Michael, Image on the Edge. The Drolerien) die Ordnungen der Mitte reflektieren, Vgl. C AMILLE Margins of Medieval Art, Cambridge/Mass. 1992. Illustrativ ist auch folgender Bildband: N ISHIMURA , Margot McIlwain, Images in the Margins, London 2009 (The Medieval Imagination 3). 227 Um nur ein Beispiel zu benennen: Das Kalokagathie-Konzept vermutet gemäß der Korrespondenz von Innen (Moral) und Außen (Körper) böse Menschen monströs, gute dagegen harmonisch schön, vgl. dazu E HRIS MANN , Otfrid, schoene unde guot. Zur Kalokagathie, in: ders., Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München, 1995, S. 189–194, dort auch weiterführende Literatur. Beispiele wären die oben genannten moralischen Ätiologien von Monstrosität aus dem christlichen Schöpfungsmythos. Dass das Konzept auch zu kurz greifen kann zeigen die differenzierteren Bewertungen durch die theologisch-philosophische sowie die literarische Tradition (vgl. Pz. 315,24–25).
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1 Theorie, Methode und Monster
The medieval monster is meant to be read, rather than observed, and commented on, that is, interpreted; even when it is “looked at”, as in manuscript illustrations, the picture is intended for interpretaion and not “verification”.228
Die oben angeführten naturkundlichen und theologischen Betrachtungen tragen dieser Rezeptionshaltung Rechnung, indem sie Staunen, Wundern, Ungläubigkeit und Furcht zum Ausgangspunkt ihrer Ausführungen machen. I SIDOR und A UGUSTINUS verweisen beide auf den beschränkten Horizont des mit einem Monster konfrontierten Rezipienten, den I SIDOR mit einem enzyklopädisch-‚aufklärendem‘, A UGUSTINUS mit apologetischem Impetus erweitern will. Sie verbalisieren damit Bewältigungsangebote, anhand derer der Rezipient Monster in Ordnungen zu integrieren vermag und skizzieren reflexive Vorgänge, die der Rezipient nachvollziehen kann. Anhand monströser Gestalten stellt sich so auch immer wieder die Frage ihrer Wahrheit bzw. umgekehrt ihrer Fiktionalität. Die Behauptung der Existenz monströser Gestalten ist niemals unproblematisch. Während K TESIAS ’ Bericht schon in der Antike angezweifelt wurde,229 umgeht P LINIUS die Frage nach der Authentizität seiner Darstellung und beschränkt sich mit der Anhäufung von Verweisen auf ein implizites Autoritätsargument, lässt seinem summarischen Anspruch entsprechend auch widersprüchliche und redundante Überlieferungen nebeneinander stehen. Auch I SIDOR äußert sich insbesondere bezüglich des Wahrheitsgehalts der antik-mythologischen Überlieferung zweifelnd,230 die er als erfundene Ursachen zur Erklärung gewisser Phänomene (quae non sunt, sed ficta in causis rerum interpretantur, Isid. orig. XI,3,28)231 bezeichnet. Seine Behandlung dieser Phänomene entspricht allerdings nicht dieser Interpretation, denn er liest sie als allegorische Verkörperungen gewisser geographischer oder anekdotischer Gegebenheiten: Die Sirenen sind keine musizierenden geflügelten Meeresschönheiten, sondern Dirnen, die Passanten zu sich in den moralischen Schiffbruch locken. Chimären sind keine aus Löwe, Ziege und Drache zusammengefügte Wesen, sondern lediglich ein Bild für den gleichnamigen feuerspeienden Berg in Kilikien, auf dem Löwen, Ziegen und Schlangen leben. Ähnlich werden auch die Gorgonen, Skylla, die Hydra und Zentauren ‚entmythifiziert‘ (vgl. Isid. orig. XI,3,28–
228 V E RNE RNER R , Epistemology, S. 157. ITT KOWER , Marvels, S. 165–166. 229 Vgl. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 5 sowie W ITTKOWER 230 Obwohl I SIDOR in seine Auflistung der monstösen Völker Formulierungen wie „man glaubt“ (credunt, . XI,3,17), „es wird gesagt“ (dicuntur, Isid. orig. XI,3,20) und „es wird behauptet“ (ferunt esse . XI,3,26) aufnimmt, wird die Existenz der monströsen Völker nicht grundsätzlich bezweifelt. 231 [Monster] welche es nicht gibt, sondern die erfunden sind und in den Ursachen der Dinge NEL LOTT OTTE E M ÖLLER , S. 444). gedeutet werden. (Übers. nach L EENE
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37).232 Die Wirklichkeit der portenta ist im Moment ihrer Schilderung durch den Verweis auf auctoritates postuliert. Ihre eigentliche Wahrheit ergibt sich in der Rückschau aus der narrativ gestifteten Kongruenz von Vorzeichen und dem Ereignis, auf das es verweist. Eine vergleichbare allegorisch-moralisch begründete Wahrheit ist den Monstern der Physiologus- und Bestiarientradition zu eigen, die Monster über ihr anagogisches Potenzial legitimiert. A UGUSTINUS äußert sich angesichts der monströsen Völker der P LINIUS -Tradition ebenfalls skeptisch: sed omnia genera hominum, quae dicuntur esse, credere non est necesse.233 In seiner Argumentation wird die Frage nach der Existenz von monströsen Völkern annihiliert. In A UGUSTINUS ' analogischem Zirkel ist es unerheblich, ob sie existieren. Relevant ist lediglich, dass Monster so oder so einen Platz in der göttlichen Schöpfung haben. Einen Zusammenhang zwischen den hier separat aufgeführten Aspekten der OCH AT vor. Die Darmonströsen Form, Leserappell und Wirkung schlägt G ÖTZ P OCHAT stellung von Monstern verfolgt das Ziel, das Phantastische und Fremde in eine Form zu bringen, aus der erst die täuschende Wirkung und die Suggestion entstehen, die zugleich aber erkannt und dementsprechend interpretiert werden müssen. Je raffinierter das Kunstprodukt und die erzielte Wirkung anmuten, um so stärker dürfte der Intellekt an dem Rezeptionsprozeß beteiligt sein.234
Die Monstern inhärente Freiheit der Kombinatorik korrespondiert mit der Flexibilität ihrer Deutung. Das in ihnen konzentrierte Reflexionspotenzial lässt sich daher – dies ist das Anliegen dieser Arbeit – auch im poetologischen Bereich ausschöpfen. Das Vorhaben ist nicht neu. Entsprechende Ansätze finden sich schon im aus der Antike stammenden zeitgenössisch-mittelalterlichen literaturreflexiven Diskurs. Bevor dieser aber näher betrachtet wird, soll kurz gezeigt wer-
232 Dieser ‚aufgeklärte‘ Ansatz findet sich in der heutigen Literatur über Monster – wenn auch ohne die allegorische Prägung – immer wieder. Es wird versucht, die Erzählungen über monströse Völker bzw. Monster allgemein mit ethnographischen, biologischen und medizinischen Daten in Übereinstimmung zu bringen und so zu einem realen Kern der Überlieferung vorzudringen. So werden die hundsköpfigen Kynokephali mit Pavianen identifiziert und die sich von Gerüchen ernährenden mundlosen Astomi mit Himalayavölkern, die als Mittel gegen die Höhenkrankheit ITT KOWER , Marvels, an Zwiebeln riechen vgl. z. B. F RIEDMAN , Monstrous Races, S. 24–25 und W ITTKOWER S. 162–165. Für die vorliegende Arbeit, die Monster als textuelle Phänomene versteht, sind solche Überlegungen irrelevant. 233 Aber man muss nicht glauben, daß es all diese Menschenarten, von denen man spricht, wirklich gibt. (Übers. nach W OLFGANG T HIMME , S. 293) Genauer wäre es m. E., den Relativsatz mit deren Existenz behauptet wird zu übersetzen. OC HAT , Götz, Das Fremde im Mittelalter. Darstellung in Kunst und Literatur, Würzburg 1997, 234 P OCHAT hier S. 10.
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1 Theorie, Methode und Monster
den, auf welche Weise sich die schon erarbeiteten Ordnungsfunktionen in literarischen Texten niederschlagen.
1.2.4.1 Monströse Ordnungen in volkssprachlicher Literatur235 L ISA V ERNER geht davon aus, dass Monstern eine spezifische Literarizität innewohnt: „They are always literary endeavors“.236 Allerdings bedient sich die Historikerin eines sehr breiten Literaturbegriffs, der I SIDORS etymologische Bemühungen als wortgeschichtliche Versuche ebenso einschließt wie die narrative Qualität antiker naturgeschichtlicher Darstellungen, die allegorischen Deutungen des Physiologus und der Bestiarien sowie die literarisierten fiktiven Tatsachenberichte der spätmittelalterlichen Reiseliteratur.237 Zutreffender wäre es wohl, von Monstern als textuellen Wesen zu sprechen. Neben nur im weitesten Sinn als literarische Verfahren zu verstehenden Darstellungsparadigmen begründet V ERNER ihre Annahme mit der oben schon zitierten, spezifisch-interpretativen (in ihrem Verständnis wohl literarischen) Lektürehaltung, die Monster fordern.238 Die Deutungspotenziale monströser Gestalten in volkssprachlichen Texten gehen in der Tat zu großen Teilen mit der gelehrten Tradition sowohl der Antike als auch mit modernen kulturhistorischen und anthropologischen Interessen überein. Die oben schon aufgelisteten kulturellen Signifikate wie Menschlichkeit, Sprachfähigkeit, (ethnographische) Gruppenzugehörigkeit, Religion usw. werden in volkssprachlichen literarischen Texten ebenso mit Monstern codiert wie in den schon behandelten gelehrten Werken, so dass die literarischen Monster in der aktuellen Forschung oft als äquivalente Quellen neben jene treten.239 Von literaturwissenschaftlichem Interesse sind insbesondere die von Monstern transportierten Ordnungen, die weniger als Reflexe kulturhistorischer Gegebenheiten zu verstehen sind, sondern direkt den Text betreffen.240 In den oben genannten Eigenschaften können sie beispielsweise als Kontrastfiguren zu Protagonisten gesetzt werden. Der Kampf eines höfisch-idealen christlichen Helden gegen einen monströsen, unhöfischen und möglicherweise zudem noch heidnischen Gegner, kann das literarische Zentrum eines Textes ausmachen. Die
235 Eine detailliertere Darstellung dieser Effekte wird in Kap 1.3.3 geleistet. RNER R , Epistemology, S. 156. 236 V E RNE RNER R , Epistemology, S. 157. 237 V E RNE RNE R , Epistemology, S. 157. 238 Vgl. V EERNER 239 Vgl. z. B. V ERNER , Epistemology, S. 157. 240 Beispiele aus der mittelalterlichen Literatur für die hier aufgeführten Aspekte werden in Kapitel 1.3.3 im Zusammenhang mit der âventiure angeführt.
1.2 Monster
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übrigen Signifikate monströser Gestalten können darüber hinaus zur narrativen Dichte beitragen. Sehr prominent ist die Relevanz von Monstern in der literarischen Topographie. Monster bevölkern dezentrale und im Vergleich zu den Räumen des höfischen Mittelpunkts zumeist unwirtliche und kulturferne Orte: Wälder und Wildnis oder fremde Landschaften, sowie anderweltliche Bereiche. Monster können gleichsam doppelt aus der höfischen Welt ausgeschlossen sein, wenn sie nämlich einen in der wilde verorteten und diese durchbrechenden locus amoenus bewohnen. M ÜNKLER und R ÖCKE unterscheiden die Verortung der monströsen Völker am Erdrand von der topographischen Lokalisierung der Monster in literarischen Texten. Sie argumentieren mit der Homogenität des Heilsraums im Gegensatz zu den die erzählte Welt fragmentierenden topischen Räumen, die Monster in fiktiven Texten bewohnen. Die Grenzüberschreitung des Protagonisten, die ihn zu den Monstern führt, wird dabei mit dem strukturalistisch-narratologischen Sujetverständnis in Verbindung gebracht, das die räumliche Ordnung der Fähigkeit des Helden zur Grenzüberschreitung unterordnet.241 Dagegen ließe sich aufgrund der oben diskutierten methodischen Differenz mit der strukturellen Parallele zwischen den Monstern auf Mappae mundi und in der gelehrten Tradition und jenen in der literarischen Überlieferung argumentieren. Monster sind in ihrer topographischen Funktion jeweils Manifestationen von Exzentrizität. Ihr ordnungsstiftendes Potenzial geht auch in einem heterogenen Erzählraum nicht verloren.242 Nicht zuletzt, weil Monster auch mit einer gewissen Mobilität ausgestattet sind. In der mittelhochdeutschen Literatur sind nicht nur die Protagonisten, sondern auch Monster grenzüberschreitende Figuren. Ebensowenig wie ihre hybriden Körper eingeordnet werden können, lässt sich auch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten topographischen Sphäre nicht etablieren. Sie werden nicht immer in zur höfischen Welt binär entgegengesetzten Räumen gedacht, sondern können auch in liminalen Räumen verortet sein.243 Monster besetzen Grenzen und Grenzübergänge als Wächter. Als Wegweiser und Führer können sie Grenzen für den Helden überwindbar machen und als Boten topographische Strukturen transzendieren. Monster stehen auch mit der narratologischen Ordnung von Texten in einer engen Beziehung. Sie bewirken Wechsel im
241 M ÜNKLER ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 709–710. 242 Im Artusroman ist es das Wechselspiel zwischen Artushof und (unter anderem) von Monstern bevölkerter antiarthurischer Gegenwelt, das handlungsgenerierend wirkt. 243 Beispielhaft für eine entsprechende Lektüre monströser Gestalten ist E GIDI , Margreth, Grenzüberschreitungen: Strukturen des Übergangs im Wilhelm von Österreich, in: Horst Brunner (Hg.): Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittealters, Wiesbaden 2004 (Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 17), S. 89–192.
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Erzählmodus, beeinflussen das Erzähltempo, wirken auf die Handlung ein usw. Da Monster ihre Ordnungsfunktion auch in literarischen Kontexten entfalten, liegt es nahe, dass sie zur Reflexion dieser Ordnungen herangezogen werden können.
1.2.4.2 Monster und Literaturreflexion Die Funktionalisierung monströser Gestalten in literaturreflexiven Kontexten beginnt in der Antike, mit dem Monster in der Ars Poetica des H ORAZ . Da die Tradition auf einen paganen Einzeltext zurückgeht, sind die Kontinuitäten zur mittelalterlichen Literaturpraxis weniger selbstverständlich als im Fall der oben geschilderten breit überlieferten und mit der Autorität frühchristlicher Kirchenlehrer versehenen geographischen und philosophisch-theologischen Schriften. Im Folgenden wird daher, bevor auf das Monster und seine Relevanz eingegangen wird, eine kleine rezeptionshistorische Skizze der Ars Poetica im Mittelalter – als der „einzige[n] dem lateinischen Mittelalter wirklich zugängliche[n] antike[n] Poetik“244 – gezeichnet, um ihre Relevanz für die hier untersuchten Texte zu gewährleisten.245 Zugleich liefert dieser Abschnitt, ergänzend zu den Kapiteln 1.1.1 und 1.1.2 zur Selbstreflexion, einen gewissen Einblick in die mittelalterliche Literaturreflexion sofern sie sich außerhalb von literarischen Texten entfaltet. Ein erster Hinweis auf die Rezeption des Textes liegt – wieder einmal – in seiner Bezeichnung. H ORAZ ’ Epistula ad Pisones war im Mittelalter (und ist es bis heute) unter dem Namen Ars Poetica bzw. Poetria246 verbreitet. Inhaltlich mag dieser Titel zutreffen, der Text setzt sich mit der Dichtkunst und dem Dichter im Allgemeinen auseinander. Doch bezüglich des eigenen Anspruchs wird der Text mit diesem Titel möglicherweise überstrapaziert, denn eine systematische Darstellung der Materie leistet er nicht.247 Die im ersten Jahrhundert v. Chr. verfasste
244 M EIER , Poetik, S. 37. 245 Zur Rezeption und zum Übertragungsprozess des antiken Textes im Mittelalter vgl. F RIIS J ENSEN , Karsten, The Ars Poetica in Twelfth-Century France. The Horace of Matthew of Vendôme, Geoffrey of Vinsauf and John of Garland, Université de Copenhague: Cahiers de l’institut du Moyen-Âge grec et latin 60 (1990), S. 319–388. 246 Die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Ars Poetica stammt aus dem 1. Jh. von Q UINTILIAN ; vgl. F UHRMANN , Manfred, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – Longin. Eine Einführung, Düsseldorf, Zürich 2003, S. 126. Poetria ist der mittelalterliche Name des Briefs an die Pisonen. Er findet sich z. B. bei C ONRAD VON H IRSAU ; s. Q UINT , Maria-Barbara, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption. Frankfurt/M. u. a. 1988 (Studien zur klassischen Philologie 39), S. 4. 247 F UHRMANN weist darauf hin, dass H ORAZ ’ Ars Poetica sich im Gegensatz zu den antiken Vorgängerwerken nicht gegen eine bestimmte theoretische Position richtet, sondern sich auf eine
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Versepistel legt den Adressaten, bisher nicht identifizierten Mitgliedern der einflussreichen Familie Piso, nahe, ihre poetischen Versuche aufzugeben, indem sie in dichterischer Form über Dichtung an sich reflektiert.248 Es handelt sich also gerade nicht um eine Anleitung zum richtigen Dichten, sondern um eine in großen Teilen ironische Aufforderung, das Dichten zu unterlassen, wenn man es nicht auf einem gewissen Niveau leisten kann. Sozusagen eine negative Poetik. Für die vorliegende Untersuchung wird die Ars Poetica damit im doppelten Sinn zum Modelltext. Sie prägt das Monster nachhaltig als poetologische Figur und ist zugleich ein früher Fall literarischer Selbstreflexion. Trotz der genannten Vorbehalte konnte der Text im Mittelalter als Lehrbuch im Sinne einer normativen Poetik aufgefasst werden.249 Seit der ‚Karolingischen Renaissance‘ im 8. Jahrhundert lassen sich vermehrt Werke von H ORAZ in Bibliotheken nachweisen. Ebenfalls beginnend in dieser Zeit, mit einem erneuten Aufschwung im 10. Jahrhundert, wurden sie, wie andere antike Texte, vermehrt als Schullektüre eingesetzt.250 Aufschluss über diese Entwicklung geben neben den erhaltenen Inventarlisten und Bibliothekskatalogen251 die zahlreichen überlieferten Hilfsmittel zur Horazlektüre.252 Schon im 8. Jahrhundert verfasste A LCUIN einen Kommentar zur Ars Poetica, in dem er der Epistel „Regeln für einen angemessenen Gedichtaufbau“253 entnimmt, im 12. Jahrhundert entstehen der Sankt Galler Kommentar zur Ars Poetica und der süddeutsche Accessus de Arte Poetica sowie C ONRADS VON H IRSAU Dialogus super Auctores. In diesem Dialog eines Lehrers mit seinem Schüler über die Feinheiten der Dichtkunst, wird die Relevanz der Ars Poetica innerhalb des Gesamtwerks unterstrichen. Nur die Ars Poetica wird ausführlich behandelt (der Schüler fragt auch nur nach diesem Text), denn H ORAZ ’ übriges Werk sei für den Unterricht aus moralischen Gründen ungeeignet.254 Im Lauf des 12. Jahrhunderts vollzieht sich ein qualitativer Wechsel in der Rezeption. Zu den die Originaltexte begleitenden und erschließenden Kommenta-
Darstellung der gültigen Prinzipien literarischer Produktion beschränkt, vgl. F UHRMANN , Dichtungstheorie, S. 125. 248 Vgl. F UHRMANN , Dichtungstheorie, S. 125–126. CUINS Kommentar, s. u. FN 253. 249 So z. B. in A LLCUINS 250 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 3–11. 251 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 4, FN 9. Dort auch eine Problematisierung der Quellen. Ebenso bei G LAUCHE , Günter, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt, München 1970 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5), S. 101–102, v. a. FN 1. 252 Vgl. Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 12–20. 253 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 12. 254 Vgl. Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 16.
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ren und Lehrwerken,255 welche die Argumentation der antiken Werke256 fast unverändert nachvollziehen und didaktisch aufbereiten, treten nun poetische Lehrbücher mit unabhängigem Aufbau.257 Hierbei bleiben die antiken Autoren zwar „Maßstab und Orientierungsrahmen“,258 die mittelalterlichen Poetiker geben sich aber selbstbewusster bis hin zu dem Anspruch, „das Latein von den Barbarismen der vergangenen Jahrhunderte zu ‚befreien‘, die auctores nachzuahmen, wenn nicht sogar zu übertreffen.“259 Die erste dieser Dichtungslehren im neuen Stil ist M ATTHÄUS ’ VON V ENDÔME Ars Versificatoria von ca. 1175,260 die H ORAZ noch explizit als Lehrer und weiterhin gültige Autorität in Dichtungsfragen anführt.261 Der zwischen 1208 und 1213262 entstandenen Poetria Nova des G ALFRIED VON V INSAUF ist der Überbietungsgestus schon im überlieferten Titel eingeschrieben. Allerdings handelt es sich hierbei um die einzige offensichtliche Horazreferenz. Gemäß seinem „Vorsatz, die (...) Dichtungslehre [des H ORAZ ] zu ersetzen“,263 führt der Autor in seinem stilistisch anspruchsvollen, in Hexametern verfassten Traktat nur wenige Beispiele an. Die sonst gebräuchlichen antiken Vorbilder sind zwar noch vorhanden, allerdings so gründlich eingearbeitet, dass sie nur in philologischer Kleinstarbeit zu lokalisieren sind.264 Die Wirkung der Poetria Nova war, dies belegt die Überlieferung, sehr groß. Sie wurde wie die antiken Vorbilder kommentiert und die Kommentare
255 F RIIS -J EENSE NSEN N , Karsten, Horace and the Early Writers of Arts of Poetry, in: Sten Ebbesen (Hg.), Sprachtheorien in Antike und Mittelalter, Tübingen 1995 (Geschichte der Sprachtheorie 3), S. 360–401, hat gezeigt, dass die Horazschen Originaltexte auch im Mittelalter weiter rezipiert wurden. 256 Neben der Ars Poetica des H ORAZ werden auch andere dichtungstheoretische Texte der IC EROS De inventione, Q UINTILIANS De instituklassischen Antike wie die Rhetorica ad Herrenium, C ICEROS tione Oratoria, sowie Texte ohne explizit poetologisches Anliegen als Stilideale rezipiert, vgl. F RIIS -J ENSEN ENS EN , The Ars Poetica in Twelfth-Century France, S. 319, K ELL Y , Douglas, The Arts of Poetry and Prose, Turnhout 1991 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 59), S. 47–50 und F ARAL , Edmond, Les Arts poétiques du 12e et du 13e siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge, Paris 1962. 257 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 44. 258 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 44. 259 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 44, vgl. dort auch FN 148. 260 Vgl. F ARAL , Arts, S. 13–14. AT THÄUS verweist häufig auf die Ars Poetica und die 261 Vgl. Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 208. M ATTHÄUS Episteln des H ORAZ , vgl. z. B. Ars vers. 31–36, bes. 35 mit explizitem namentlichen Verweis (quae Oratius docet evitare in principio Poeticae artis) und passim. 262 Vgl. F ARAL , Arts, S. 27–33. 263 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 235. 264 Dies leistet beispielsweise M ARIA B ARBARA Q UINT , vgl. Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 235–241.
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wurden teilweise eigenständig weiter tradiert.265 Bis heute sind über 200 Handschriften von G ALFRIEDS Werk erhalten geblieben,266 die teilweise bis ins 15. Jahrhundert kopiert wurden.267 Bescheidener, sowohl im Anspruch als auch in der Überlieferung, kommt dagegen das Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, höchstwahrscheinlich ebenfalls von G ALFRIED verfasst, daher. Es handelt sich um eine in zwei Redaktionen vor und nach der Poetria Nova entstandene Prosafassung derselben,268 in der wieder vermehrt auf klassische Beispiele, auch aus der Ars Poetica, verwiesen wird. Das Documentum will nicht wie die Poetria Nova die antike Poetik ersetzen, sondern Punkte, die bei H ORAZ nicht ausführlich genug behandelt wurden, ergänzen: Praeterea, alia vitia tangit, de quibus nihil dicit aliud nisiquod sunt vitanda; non autem ostendit modum qualiter sunt vitanda. Suppleamus ergo defectui auctoris. (Doc. II, 3 153/154)269
Die reduzierte Komplexität legt nahe, dass es sich um ein Werk zum didaktischen Gebrauch gehandelt haben muss.270 Über die Vermittlung der mittelalterlichen Artes erhält die Ars Poetica ab etwa 1170271 eine große Verbreitung und Aktualisierung in schulischen und universitären Zusammenhängen. Die Artes erreichen dabei eine Bekanntheit, die den lateinisch-gelehrten Bereich sowie den Gegenstand der Literatur überschreitet. Sie sind sowohl in volkssprachlichen Kontexten produktiv und in ihren Einflüssen identifizierbar, als auch in anderen Kunstformen.272 Vergleichbares lässt sich für die Ars Poetica selbst feststellen. Sei es als dem fortgeschrittenen Lateinerwerb dienliche Schullektüre, sei es in Form von didaktisch aufbereiteten Beispielen zum Erwerb der Grundlagen von Dichtkunst und Rhetorik, oder sei es in der
265 Vgl. hierzu W OODS , Marjorie Curry, An Early Commentary on the Poetria nova of Geoffrey of Vinsauf, New York, London 1985 (Garland Medieval Texts 12), S. xix–xxii. 266 Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 225. 267 W OODS , Commentary, S. xvi. 268 Zur Datierung, Autorschaft Versionengeschichte und jeweiliger Überlieferung des Documentum vgl. C AMARGO , Martin, Tria sunt: The Long and the Short of Geoffrey of Vinsauf’s Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, Speculum 74 (1999), S. 935–955. 269 Ferner, was die übrigen Fehler betrifft, von denen er nichts anderes sagt als dass sie zu vermeiden sind, ohne aber zu erklären, auf welche Weise sie zu vermeiden sind. Lasst uns also die Auslassungen des Autors ergänzen. (Übers. CG). ALFRIE D selber das Documentum so konzipiert und 270 M ARJORIE C. W OODS nimmt an, dass G ALFRIED verwendet habe, kann dies aber nicht belegen. W OODS , Commentary, S. xvi, FN 9. ELL LY Y , Arts, S. 110–113. 271 Vgl. K EL ELL LY Y , Arts, S. 114–115 und S. 116–119. 272 Vgl. K EL
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gelehrten Auseinandersetzung mit der Dichtungstheorie, sie hat einen festen Platz in der mittelalterlichen Kultur – und mit ihr das Monster. 1
Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne (Hor. ars 1–4)273
Das Monster steht an prominentester Stelle. Die Ars Poetica setzt mit dem Bild einer monströsen Gestalt ein. Es hat den Kopf eines schönen Menschen, den Hals eines Pferdes, von überall her zusammengesuchte Gliedmaßen, undique conlatis membris (Hor. ars 3), den Oberkörper einer schönen Frau, dazu bunte Federn und einen Fischschwanz. Es ist ein Bild im wörtlichen Sinn, das imaginierte Werk eines Malers (Hor. ars 1–2). Die zu erwartende Reaktion des Publikums auf dieses Bild ist Gelächter, die Übertragung auf die narrative Ebene erfolgt über ein weiteres Un-Bild. Das mit der malerischen Schöpfung korrespondierende Beispiel aus der literarischen Sphäre ist ein Buch, das die Träume von Kranken schildert (vgl. Hor. ars 5–9). Das Monster ist ein Bild für einen misslungenen Text. Die dichterische Freiheit audendi [...] potestas (Hor. ars 10) bzw. audacia,274 muss in Bezug auf die Form, die Wortwahl, den Stil, den Stoff, die handelnden Figuren und – im Hinblick auf die Pisonen wohl nicht zu vernachlässigen – das Können des Autors hinter der Einheit, Ganzheit und Wahrscheinlichkeit des Werks zurückstehen. Das Monster illustriert in den Anfangsversen somit das auch für den Verlauf der Ars Poetica maßgebliche Prinzip des aptum bzw. decorum, die anzustrebende harmonische Entsprechung von Form, Inhalt, Stil und schriftstellerischem Können.275 Die Forderung nach der harmonischen Einheit des Werks kennen auch die mittelalterlichen Bearbeitungen der Ars Poetica. Allerdings kommen sie meist ohne das monströse Bild aus. Es taucht weder bei M ATTHÄUS VON V ENDÔME noch in der Poetria Nova G ALFRIEDS VON V INSAUF auf. C ONRAD VON H IRSAU reduziert es auf die Forderung, die Teile des Werks sollten einander entsprechen quomodo membra capiti cohereant.276
273 Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher C KART S CHÄFER , S. 5). Schwärze endet das oben so reizende Weib (Übers. nach E CKART 274 F UHRMANN , Dichtungstheorie, S. 130. 275 Vgl. M EIER , Poetik, S. 37–40. 276 So wie die Glieder [eines Körpers] dem Kopf entsprechen (Übers. CG); zitiert nach Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 43.
1.2 Monster
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Das didaktisch orientierte Documentum de modo et arte dictandi et versificandi bemüht das Monster dagegen explizit (Doc. II, 3 155). Im Gegensatz zu der metrischen Fassung hat G ALFRIED hier die ersten zehn Verse der Ars Poetica angeführt, um seine Warnung vor der incongrua partium positio (Doc. II, 3 154), also der unstimmigen Anordnung der verschiedenen Teile der Dichtung, zu illustrieren. H ORAZ , so behauptet er, habe das Monstrum ebenso verwendet. Auf die weiteren Implikationen des Horazschen Bildes geht er nicht ein, er beschränkt sich auf die Stoffebene. Es sollen zwar ‚alle Teile der Materie‘ (Doc. II, 3 154) harmonisch zusammengefügt sein, allerdings werden diese Teile nur als principium, medium et finis (Doc. II, 3 154) spezifiziert. Die Mehrdimensionalität des aptum bzw. decorum, die das Monstrum bei H ORAZ trägt, wird nicht berücksichtigt. Vergleichbar – im Sinn einer Problematisierung der dispositio – argumentiert ein Beispiel aus der rhetorisch-paränetischen Praxis. B ERENGARS VON P OITIERS äußert sich kritisch zu einer Predigt von B ERNHARD VON C LAIRVAUX , in der letzterer vom Thema abgekommen war. B ERENGAR zitiert und paraphrasiert die ersten fünf Verse der Ars Poetica als argumentative Unterfütterung für seine Kritik.277 Gänzlich außerhalb der Sphäre der Literaturreflexion steht H UGOS VON S T . V ICTOR Verwendung des Horazschen Monsters in De institutione novitiorum. H UGO unterstreicht seine Beschreibung der sich in einem exaltierten Benehmen manifestierenden mangelnden modestia von Novizen mit einem Zitat der ersten Verse der Ars Poetica.278 Das Monster der Ars Poetica ist im Mittelalter bekannt und wirkt über die literarische Sphäre hinaus als Illustration von Unangemessenheit. Doch Monster können auch – und zwar auch als poetisch funktionalisierte Figuren – unproblematische und angemessene Figuren sein. Das poetische aptum monströser Gestalten ergibt sich in Kontexten, in denen „die direkte Angemessenheit [der Gestaltung des Textes] durch die Beschaffenheit der Materie von vornherein ausgeschlossen ist, wenn es also Gründe dafür gibt, daß der Stoff nicht frei den Kräften entsprechend gewählt werden kann oder diese übersteigt.“279 Diese Situation ist im Fall der theologischen Beschäftigung mit dem Wesen Gottes gegeben. C HRISTEL M EIER zeigt gemäß dieser Prämisse, dass der Gebrauch von Monstern in der Negativen Theologie nicht mehr nur einer pädagogischen Rezipientenorientierung geschuldet ist, sondern zu einer angemessenen Möglich-
277 „Das Gedicht des Horaz ist so bekannt, dass die Abkürzung ars zum Verständnis genügt. […] Diese uneingeschränkte Anerkennung des Horaz als Lehrer der Dichtkunst ist im gesamten Mittelalter zu beobachten.“ Q UINT , Horaz-Rezeption, S. 43–44. L EMM MM , Elisabeth, Zwischen Didaktik, Moral und Satire. Beobachtungen zu Tieren und 278 Vgl. K LE Monstren in der Buchmalerei, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Bd. XLVI/XLVII, Teil 1, Wien u. a. 1993/1994, S. 287–301; Abb. S. 445–448, hier S. 290. 279 M EIER , Poetik, S. 40.
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1 Theorie, Methode und Monster
keit wird, Gott zu diskursivieren. Neben den Versuch, sich dem „nicht vollkommen durch menschliche Darstellung Beherrschbare[n]“280 positiv bzw. affirmativ anzunähern, tritt so die oben schon beschriebene Strategie, durch in Monstern manifeste Negativität einen adäquaten Modus der Versprachlichung zu finden. M EIER spricht in diesem Kontext von „eigene[n] quasi-poetologischen Prinzipien“281 des theologischen Textes, die in Abgrenzung zur klassisch-lateinischen Dichtungslehre als „antipoetische[r] Entwurf[...] das decorum, das conveniens, die natürliche simplicitas, die sublimitas der Bilder vermeide[n].“282 E RIUGENA selbst rekurriert in seiner kommentierten Übersetzung der Himmlischen Hierarchie mehrfach auf den poetologischen Diskurs. Mit dem Verweis, dass die Erkenntnismöglichkeit der menschlichen Seele sich nicht nach dem Potenzial der göttlichen Überlieferung richtet, sondern umgekehrt die Heilige Schrift der menschlichen Seele und ihren Beschränkungen entgegen kommt,283 setzt er diesen Diskurs als Folie für seine eigene Argumentation: quemadmodum ars poetica, per fictas fabulas allegoricasque similitudines, moralem doctrinam seu physicam componunt ad humanorum animorum exercitationem – hoc enim proprium est heroïcorum poetarum, qui virorum fortium facta et mores figurate laudant, ita theologia, veluti quaedam poetria, sanctam scripturam fictis imaginationibus ad consultum nostri animi […]. (Exp. II, 142–147)284
Die Parallelsetzung von Theologie und Poetik beruht auf einer verschobenen Analogie. Form, Inhalt und Wirkung eines Textes liegen in den beiden Bereichen in einer je spezifischen Konstellation vor, die nicht ohne Weiteres aufeinander abzubilden ist. Das der Dichtung eigene Zusammenspiel von Form und Inhalt führt zu Effekten, die – in diesem Fall die Erbauung der menschlichen Seele – den eigentlichen Bereich der Dichtung (das Fiktionale) transzendieren. Dieser Über-
280 M EIER , Poetik, S. 45. 281 M EIER , Poetik, S. 49. 282 M EIER , Poetik, S. 53. 283 Non enim animus humanus propter divinam scripturam factus est [...], sed propter animum humanum sancta scriptura in diuersis symbolis atque doctrinis contexta [...]. (Exp. II, 151–155) Denn die menschliche Seele ist nicht gemäß der göttlichen Schrift geschaffen [...], sondern die heilige Schrift ist in ihrer unterschiedlich symbolischen Ausdrucksweise und mit ihren Lehren wegen der menschlichen Seele zusammengewebt (ihr angepasst) [...]. (Übers. CG) 284 So wie die Dichter in der Dichtkunst zur Erbauung der menschlichen Seele durch erfundene Geschichten und allegorische Gleichnisse eine moralische oder kosmologische Bedeutung transportieren – dies nämlich eignet den Dichtern von Heldenliedern, welche in Form von Verbildlichungen die Taten und Sitten tugendhafter Männer loben – so ist die Theologie gewissermaßen wie die Dichtung, indem sie sich imaginärer Figuren bedient, um die Heilige Schrift unserem [dem menschlichen] Intellekt zugänglich zu machen [...] (Übers. CG).
1.2 Monster
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gang ist für die Theologie von Interesse. In der theologischen Sphäre liegt die Variable nicht wie bei der Dichtung in der Wirkung, sondern in der Form. Während Inhalt und intendierter Effekt (Heil und Heilsvermittlung) in der Theologie feststehen, ist die Form, man könnte auch sagen, der Darstellungsmodus, variabel. Angesichts dieser Problematik kann sich die Theologie der Methoden der Dichtung bedienen, um die entsprechenden Resultate zu erreichen. Die Dichtung kann für die Theologie als formales Vorbild wirken. Theologie und Poetik sind aufs engste miteinander verbunden.285 Nichtsdestotrotz besteht zwischen den beiden eine kategoriale Differenz. E RIUGENAS Bezüge auf klassische Dichtung286 verweisen jeweils auf den ‚hohen Stil‘ des „Genus grande.“287 Im Rahmen der Negativen Theologie sind es aber die von diesem Stilideal deutlich abweichenden monströsen Figuren, die als didaktische Instrumente der Leserlenkung relevant werden. Zusätzlich zum illustrativen Potenzial der monströsen Gestalten begründet sich dies aus einer wesenhaften Nähe zum theologischen Gegenstand. Das Monströse wird „als Signum von etwas Numinosem verstanden“:288 Nam et poetica figmenta in falsissima fabula de uolatu Dedali non ausa sunt fingere plumas et alas de corpore ipsius hominis naturaliter creuisse; incredibile enim esset et deforme. (Exp. II, 552–555)289
In diesem Zusammenhang kann im Bezug auf die antike Perspektive wirklich von einer „Gegenpoetik“290 oder „Devianzrhetorik, eventuell gesteigert zur Antirhetorik“291 gesprochen werden. „Antipoetisch“ ist der Ansatz allerdings nur in dem Sinn, dass er sich von den ästhetischen Anforderungen einer klassischen Poetik
285 Die sich an antiken und zeitgenössischen Stilidealen orientierende poetische Durchformung von E RIUGENAS Sprache und das sich daraus ergebende interpretatorische Potenzial hat P ET ER D RONKE skizziert, vgl. D RONKE , Peter, Theologia veluti quaedam poetria. Quelques observations sur la fonction des images poétiques chez Jean Scot, in: René Roques (Hg.), Jean Scot Erigène et l’histoire de la philosophie, Paris 1977 (Colloques internationaux du centre national de la recherche scientifique 561), S. 243–252. 286 Vgl. neben den hier näher betrachteten Stellen in der Himmlischen Hierarchie auch in Exp. VII, 187–189 den Verweis auf V ERGILS Sprachgebrauch. 287 Zum Genus grande vgl. M EIER , Poetik, S. 56–71. 288 M EIER , Poetik, S. 52. 289 Denn auch die Erfindungen der Dichtung haben es nicht gewagt, selbst in der extrem fingierten Geschichte über den Flug des Dädalus zu erdichten, dass Federn und Flügel aus dem Körper des HRISTEL L M EIER E IE R , Menschen gewachsen seien; denn das wäre unglaublich und hässlich. (Übers. C HRISTE Poetik, S. 52–53). 290 M EIER , Poetik, S. 51. 291 M EIER , Poetik, S. 72.
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1 Theorie, Methode und Monster
(und Rhetorik) absetzt. Betrachtet man ihn im mittelalterlichen Kontext, kann er als Teil einer eigenen Poetik verstanden werden.292 E RIUGENAS Werk stellt eine zweite, positiv besetzte poetologische Verwendung monströser Figuren neben das Bild des H ORAZ .293 Über Verbindungen zwischen den beiden Texten kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Festzuhalten wäre aber, dass Monster auch in Hinblick auf Literaturreflexion schon früh ohne die ablehnende Konnotation des schlechten Beispiels eingesetzt werden können. Die Transposition dieses Verständnisses aus dem Bereich der Theologie in die volkssprachliche Literatur liegt ebenfalls im Dunkeln. In E RIUGENAS Nachfolge thematisieren H ILDEGARD VON B INGEN und H UGO VON S T . V ICTOR die poetischen Implikationen der von ihnen verwendeten Sprache.294 Die Nachwirkung des pseudo-dionysischen Gedankenguts ist das ganze Mittelalter hindurch über T HOMAS VON A QUIN und N IKOLAUS VON K UES gesichert. Die Präsenz der dionysischen Texte im kulturellen Bewusstsein und damit eine indirekte Einflussnahme auch auf volkssprachliche Literatur darf somit angenommen werden.295 Auch die bildliche Darstellung von Monstern trägt zu ihrem poetologischen Reflexionspotenzial bei. Zunächst in enger Anbindung an den Grundlagentext. Das Horazsche Monster findet sich ab dem 11. Jahrhundert als Illustration in Ars-Poetica-Handschriften.296 Die zumeist nachträglich hinzugefügten Zeichnungen297 bezeugen die Relevanz des Monsters in der Rezeption. Bei der bildlichen
292 M EIER , Poetik, S. 48. C HRISTEL M EIER E IE R schlägt in diesem Zusammenhang den Begriff der „Poetik des Wunderbaren“ (M EIER , Poetik, S. 37) als von der antiken Poetik losgelöste Bezeichnung vor. IONY SIUS A REOPAGITA RE OPAGITA verweist an der entsprechenden Stelle auf die poetische 293 Auch P SEUDO -D IONYSIUS Gestaltung der Sprache: Denn selbstverständlich hat die Gotteskunde die dichterischen Formen geheiligter Bildersprache (poiētikáis hieroplastíais) bei gestaltlosen Gedanken angewandt, weil sie, wie gesagt, unser Denkvermögen in Betracht zog und die ihm angemessene artgemäße Entwicklung zu höherer Einsicht vorsah und in Hinsicht darauf zu höherer Einsicht darauf die zu höheren Einsicht RIUGE NA übersetzt auffordernden heiligen Darstellungen erfand. (Übers. nach G ÜNTER H EIL , S. 30). E RIUGENA dies nur indirekt (vgl. Exp. II, 124–128), die eigentliche Ausarbeitung der poetologischen Gedanken geschieht im Kommentar. 294 Zur Nachwirkung E RIUGENAS in der Theologie, beispielsweise bei H ILDEGARD VON B INGEN und H UGO VON S T . V ICTOR , vgl. M EIER E IE R , Poetik, S. 40–45. ILL IAMS sieht durch die Negative Theologie eine „poetics of deformation“ begründet, die 295 W ILLIAMS IL LIAMS , Deformed Discourse, S. 57– sich auch in volkssprachlichen Texten niederschlägt, vgl. W ILLIAMS 60 hier S. 58. Eine Anwendung dieses Konzepts auf drei „heroes“ (Alexander, Ödipus und Gawein) und auf drei Heilige (Christophorus, Dionysius von Paris, Wilgefortes) findet sich in W ILLIAMS IL LIAMS , Deformed Discourse, S. 231–322. LE MM , Zwischen Didaktik, Moral und Satire, S. 287–288. 296 Vgl. K LEMM 297 K LEMM , Didaktik, S. 288, weist darauf hin, dass „Klassikerhandschriften [...] zu jener Zeit in der Regel schmucklos“ waren. Allerdings scheint sich in der von ihr abgebildeten Seite aus
1.2 Monster
77
Adaptation zeigen sich ikonographische Nähen der Figur zu anderen Gestalten wie der Sirene und der Paradiesschlange, mit denen es zu produktiven assoziativen Überkreuzungen kommen kann.298 In der Rezeption ergänzte Illustrationen bleiben nicht auf das Zeitalter der Handschriften beschränkt. Ein um 1498 in Leipzig gedruckter und im Kontext der dortigen Universität gebrauchter Inkunabeldruck der Ars Poetica überliefert auf einer Durchschussseite die wohl zeitnah von einem Studenten angefertigte und beschriftete Zeichnung des Horazschen Monsters. Es steht im Kontext von Vorlesungsnotizen und erlaubt daher einen ergänzenden Blick auf die oben skizzierte besondere Relevanz des H ORAZ -Textes als Schullektüre und die didaktische Bedeutung des monströsen Bildes.299 Mit der Zeit verselbstständigt sich die bildliche Überlieferung und löst sich von der Tradierung des Textes. Das Horazsche Monster wird zum eigenständigen Bedeutungsträger, der allerdings weiterhin eng mit poetologischen Kontexten verbunden bleibt.300 Diesen Prozess hat H UBERT G ERSCH für die frühneuzeitliche und barocke Überlieferung bis hin zum Titelkupfer von G RIMMELSHAUSENS Simplicissimus Teutsch nachgezeichnet.301 Auch in der bildlichen Überlieferung vollzieht sich eine Umbewertung des Monsters hin zu einer poetologische Signifikanzen affirmativ verkörpernden Gestalt. Die bildliche Überlieferung kann wiederum
München, Clm 14685 (vgl. K LLEMM EMM , Didaktik, S. 445) der Text um die Zeichnung herum zu fügen, was für eine parallele Entstehung von Zeichnung und Text bzw. für eine schon in der Konzeption der Handschrift angelegte Zeichnung spricht. LE MM , Didaktik, S. 288–292. 298 Vgl. K LEMM ART IN L ANDSBERG ANDS BERG . Das Buch liegt noch 299 H ORAZ , Ars Poetica, gedruckt um 1498 in Leipzig bei M ARTIN heute in der Universitätsbibliothek Leipzig unter der Signatur: UBL Off. Lips. La. 42. 12 Blatt GW n0053. Die Zeichnung befindet sich auf Bl. Aiv/Aiir. 300 An dieser Stelle wären auch zwei Holzschnitte der 1481 in Augsburg bei Anton Sorg gedruckten Prosafassung des Wilhelm von Österreich anzubringen. Sie stellen den deutlich sowohl dem Text der Ars Poetica als auch der Ikonographie des Horazschen Monsters verpflichteten aventuͤ r hauptman dar, vgl. S CHRAMM , Albert, Der Bilderschmuck der Frühdrucke, 24 Bde., Leipzig 1920– 1940, hier Bd. 4: Drucke von Anton Sorg in Augsburg, Leipzig 1921, Abb. 713 und 714. Zu diesem IC HEL , Paul, Eine bisher unbeachtete Vorlage für das TitelTraditionszusammenhang vgl. auch M ICHEL kupfer des Simplicissimus: der abenteür hauptmann, Simpliciana 8 (1986), S. 97–109. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel 4 näher einzugehen sein. ERS CH H , Hubert, Literarisches Monstrum und Buch der Welt. Grimmelshausens Titelbild 301 Vgl. G ERSC zum Simplicissimus Teutsch, Tübingen 2004 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte LSHAUSE EN N , Hans Jacob Christoffel von, Simplicissimus 119), S. 60–65, Abb. S. 101–141 und G RIMME LSHAUS Teutsch. Grimmelshausen Werke I, hg. von Dieter Breuer, Frankfurt/M. 2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2), S. 10.
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1 Theorie, Methode und Monster
produktiv in die literarische Tradition einwirken, allerdings ist das Medium der Einflussnahme – Text oder Bild – oftmals nicht festzustellen.302
1.2.5 Monster: Moderne Perspektiven Auch das moderne Denken kommt nicht am Monster vorbei. Aus dem Mittelalter heraus lebt es neben der literarischen und bildenden Kunst in naturkundlichen und medizinischen Schriften fort,303 es erhält im 16. Jahrhundert eine politisch wie ästhetisch prominente Rolle in dem neuen Medium des Flugblatts.304 Es beschäftigt die frühen Enzyklopädien ebenso wie die Wissenschaftler und Philosophen zur Zeit der Aufklärung und in der Moderne.305
302 Zur Adaptation des Horazschen Monsters in mittelalterlichen Texten, insbesondere in J OHANNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich, vgl. S CHMID , Elisabeth, Die hybride Figur, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000: Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert, Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften/Mediävistik und Neue Philologie, hg. von Horst Wenzel und Peter Strohschneider, Bern, Berlin, Frankfurt/M., Wien 2002, S. 141–147, S CHMID , Elisabeth, Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Die Chimäre als ästhetische und anthropologische Metapher, in: Horst Brunner (Hg.), Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters, Wiesbaden 2004, S. 67–88 sowie G EIST E IST HARDT , Potenzialität. U RTE H ELDUSER ELDUSE R beschreibt ähnliche Prozesse, setzt aber, während sie die Vormoderne und frühe Neuzeit übergeht, erst um 1800 an, vgl. H ELDUSE R , Urte, Poetische ‚Missgeburten‘ und die Ästhetik des Monströsen, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Meien (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 669–688. Zum Verhältnis von bildlicher und literarischer Darstellung des Monströsen allgemein und zu den APPLE R , Monstres, démons et merveilles, S. 185–204. Zuletzt s. S IMEK , Wechselwirkungen vgl. K APPLER Rudolf, Monster im Mittelalter: Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen, Köln 2015, G RO ß E , Peggy, G RO ß MANN , Georg Ulrich, P OMMERANZ , Johannes, Monster: Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg vom 7. Mai bis 6. September 2015, Nürnberg 2015. 303 Z. B. in den Schriften des französischen Chirurgen A MBROISE P ARÉ (1510–1590), gesammelt herausgegeben als P ARÉ , Ambroise, Des monstres et prodiges, hg. von Jean Céart, Genf 1971 (Travaux d’humanisme et renaissance 115). 304 Vgl. dazu C OSTA , Rosa, Fremde Wunder oder vertraute Fehler? Jakob Rufs Flugblatt zur Schaffhauser Wundergeburt im Spannungsfeld von Prodigiendeutung und naturkundlicher Erklärung, in: Gunther Gebhard, Oliver, Geisler, Steffen Schröter (Hgg.), Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Bielefeld 2009, S. 69–88. 305 Einen ausführlichen Forschungsüberblick über Monstrositätskonzepte und die Relevanz des CHS NER , vgl. O CHSNER CHS NER , Beate, DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monströsen liefert B E ATE O CHSNER Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Heidelberg 2010, S. 32–84.
1.2 Monster
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Das Monster spielt eine „entscheidende Rolle für die Entwicklung von Wissensordnungen“ – und zwar mit Erfolg: „Von einem blinden Fleck im Klassifikationssystem wird es zum Movens kreativer Prozesse sowohl in der Natur als auch in den Wissensordnungen und der Ästhetik.“306 Diese Feststellung, die auch ohne Weiteres für das Mittelalter festzuhalten wäre, bezieht sich auf den Monstrositätsdiskurs des 18. Jahrhunderts, insbesondere D IDEROTS Enzyklopädie – und er ist auch auf die Resultate aktuelle Ansätze übertragbar. Allerdings arbeiten diese Ansätze mit Veruneindeutigungen. Die Ordnungsfunktion des Monströsen erscheint gebrochen in der „‚monströse[n]‘ Doppelstrategie von markierter Produktion und gleichzeitiger Negation von Differenz“.307 F OUCAULT untersucht Monster („Menschenmonster“308) zwischen naturwissenschaftlichen und juristischen Diskursordnungen: [D]as Monster ist durch die Tatsache definiert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. […] Sagen wir das Monster ist das, was das Unmögliche und das Verbotene kombiniert.309
Aus dieser doppelten diskursiven Einbindung folgt, dass das Monster beide Ordnungsansprüche als „Bruch im Rohzustand“310 unterläuft. Trotz dieser ordnungssprengenden Funktion ist das Monster „ein Prinzip der Erkennbarkeit“, allerdings eines, das „eigentlich tautologisch[…]“ ist, „da die Eigenschaft des Monsters eben darin besteht, sich als Monster zu behaupten, aus sich heraus alle Abweichungen zu erklären, die von ihm ausgehen können, aber an sich unerkennbar zu sein.“311 Zwar bezieht sich F OUCAULTS Untersuchung auf eine spezifisch historische Situation, in seinem Verständnis und seiner Behandlung des Monströsen als diskursives Problem wirkt er aber für eine ganze Generation von Forschern methodisch stilprägend. D ERRIDA spitzt die Linie der diskursiven Veruneindeutigungen und Unsicherheiten weiter zu, indem er das Monster in seiner Darstellung gänzlich verschwin-
306 B AXMANN , Inge, Monströse Erfindungskunst, in: dies., Michael Franz, Wolfgang Schäffner (Hgg.), Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000 (LiteraturForschung), S. 404–417, hier S. 414 und S. 417. C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 9. 307 O CHSNER 308 F OUCAULT , Michel, Die Anormalen, Vorlesungen am Collège de France (1974–1975). Aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel, Frankfurt/M. 2007 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1853), S. 76. 309 F OUCAULT , Die Anormalen, S. 76–77. 310 F OUCAULT , Die Anormalen, S. 76–77. 311 F OUCAULT , Die Anormalen, S. 78.
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1 Theorie, Methode und Monster
den lässt. Monstrosität, so argumentiert er, kann nicht wesenhaft erfasst, sondern nur in einer Repräsentation greifbar gemacht werden, welche selbst die NichtKategorisierbarkeit (und damit Nicht-Diskursivierbarkeit) des Monströsen hinter sich gelassen hat. A monstrosity never presents itself; or else, if you prefer, it only presents itself, that is, lets itself be recognized, by allowing itself to be reduced to what is recognizable; by allowing itself to be recognized as what it is – a monstrosity. A monstrosity can only be “mis-known”, (méconnue), that is, unrecognized and misunderstood. It can only be recognized afterwards, when it has become normal or the norm. [...] Monsters cannot be announced. One cannot say “Here are our monsters,” without immediately turning the monsters into pets.312
Mit diesem Beispiel illustriert D ERRIDA die Unwägbarkeiten der Theoriebildung. Erst wenn Theorie sich den Sprachspielen der wissenschaftlichen Benennungspraxis ergibt und damit verfügbar macht, wird sie domestiziert und normalisiert, verliert aber ihr Ordnungen sprengendes Potenzial. Monstrosität zeigt sich „nur ex negativo als Nicht-Norm“.313 Die Radikalität der Derridaschen Konzeption hat weniger Anklang gefunden als der vergleichsweise konkrete diskursanalytische und historische Ansatz F OUCAULTS . In jüngster Zeit haben eine Reihe von Tagungen, größer angelegten Forschungsprojekten und Einzelstudien zu Monstern und Monstrosität eine beinahe unüberschaubare Fülle an Arbeiten hervorgebracht, die zumeist an die kulturhistorischen Prämissen F OUCAULTS anknüpfen.314 Die Untersuchungen reichen von
312 D ERRIDA E RRIDA , Jacques, Some Statements and Truisms about Neologisms, Newisms, Postisms, Parasitisms, and other small Semisms (Translated by Anne Tomiche), in: David Carroll (Hg.), The States of “Theory”. History, Art, and Critical Discourse, New York 1990 (Irvine Studies in the Humanities), S. 63–94, hier S. 79–80. C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 14. 313 O CHSNER 314 Eine Auswahl kürzlich erschienener Sammelbände zum Thema Monster und Monstrosität mit einem jeweils relativ breiten im weiteren Sinn kulturwissenschaftlichen Anliegen: Wie werden aus Menschen Monstren? Essays von Neda Bei, Josef Haslinger, Adolf Holl, Thomas Macho, Franz Schuh, Peter Strasser, Andrzej Szczypiorski, Ruth Wodak, Erich Wulff, Manuskripte. Zeitschrift für Literatur 109 (1990), H AGNER , Michael (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 2005, C OHEN , Jeffrey Jerome (Hg.), Monster Theory. Reading Culture, CHRÖT ER , Steffen (Hgg.), Von Minneapolis, London 1996, G E BHARD , Gunther, G EISLER , Oliver, S CHRÖTER Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art aus kulturwissenschaftlicher PerspektiE IN , Georg (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur ve, Bielefeld 2009, G EISENHANSLÜKE , Achim, M EIN ORA , Sabine, S CHWAGMEIER , Uwe (Hgg.), Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, K YYORA How To Make a Monster. Zur kulturellen Konstruktion und Codierung von Schreckgestalten. Tagung des Instituts für Germanistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg vom 3. bis 6. Oktober 2007, Würzburg 2009, (Film – Medium – Diskurs 37), A NTUNES , Gabriela, R E IC H , Björn
1.2 Monster
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positivistischen Kompilationen von Monstern in einer bestimmten historischen und medialen Situation (die z. T. in Anspruch und Gestaltung an die Tradition der antiken Monsterkataloge anknüpfen)315 bis hin zu methodisch wie theoretisch anspruchsvollen Studien, die aktuelle Forschungsdiskussionen weiterführen.316 Die an Monstern interessierten wissenschaftlichen Fachrichtungen umfassen beinahe das gesamte universitäre Spektrum von Naturwissenschaft (Medizin, Kryptozoologie, Psychologie) und Rechtswissenschaft über Anthropologie, Kultur- und Sozialwissenschaften bis hin zu den geisteswissenschaftlichen Disziplinen der Philosophie, Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, Geschichtswissenschaft und selbstverständlich jede erdenkliche interdisziplinäre Konstellation der Genannten. Der folgende kurze Überblick beschränkt sich auf die für die vorliegende Arbeit relevanten Gebiete. M ICHAEL ICH AEL T OGGWEILER identifiziert in seiner Kleinen Phänomenologie der Monster vier in ihrem methodischen Anliegen verschiedene Perspektiven der Forschung zum Monströsen: seine „prozessuale“ Betrachtung in historischen Zusammenhängen sowie die Analyse von Kontinuitäten zwischen seinen einzelnen historischen Erscheinungen, die hermeneutische Frage nach den Bedeutungen einzelner Monster, die „naturwissenschaftshistorische“ Suche nach seinem „rea
(Hgg.), (De)Formation. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012. Online zu finden sind die Beiträge zu einem am 7./8. Oktober 2005 in Zürich veranstalteten Kolloquium der Schweizerischen Gesellschaft für Symbolforschung mit dem Titel ‚Spinnenfuss und Krötenbauch – Teratologie und Symbolik der Mischwesen von der Antike bis ins 21. Jahrhundert‘ (vgl. http://www.symbolforschung.ch/kompositwesen, Zugriff am 27.06.2012, 20:00 Uhr). Im Rahmen dieses Kolloquiums ist auch ein Wiki „Gestalten – Funktionen – Genese – Symbolik von Kompositwesen“ entstanden (online zu finden unter: http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/kompositwesen/index.php?n=Main.HomePage, Zugriff am 27.06.2012. 20:00 Uhr). 315 Vgl. z. B. M URGATROYD , Paul, Mythical Monsters in Classical Literature, London 2007. Er formuliert sein Vorhaben folgendermaßen: „I do not feel that the world needs a lengthy relash of such theories [gemeint sind Theorien über den Ursprung des Monströsen, seine kulturellen Signifikanzen usw., CG] or yet another theory (of my own) [...]. But I do feel that I can usefully fill a gap by covering purely literary aspects […]“, M URGATOYD , Mythical Monsters, S. 2–3. Seine Arbeit gleicht entsprechend einer nicht zu unterschätzenden Quellensammlung zu Monstern in literariAPP LER ER mit seinem zweiten Band von Les monsschen Texten der Antike. Vergleichbares leistet K APPL AP PLER , Les tres dans la littérature allemande du Moyen Âge für die mittelhochdeutsche Literatur (K APPLER monstres, Bd. 2). 316 Vgl. z. B. T OGGWEILER , Michael, Kleine Phänomenologie der Monster, Arbeitsblätter des Instituts für Sozialanthropologie der Universität Bern 42 (2008) (online unter http://www.anthro. unibe.ch/unibe/philhist/anthro/content/e1765/e1766/e4120/e4122/e4123/files4124/ab42_ger.pdf, VERT HUN , Rasmus, Das Monströse und das Normale. Zugriff am 17.06.2012, 17:00 Uhr) und O VERTHUN Konstellationen einer Ästhetik des Monströsen, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 43–79.
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1 Theorie, Methode und Monster
len Kern“ und die Analyse seiner diskursiven Funktionen.317 Die Forschungsperspektiven werden zumeist kombiniert. Auch die vorliegende Arbeit verbindet die historische, semantische und funktionale Perspektive.318 R OLF P ARR systematisiert die Zugänge zum Monströsen anders, nämlich nach ihrem jeweiligen Gegenstand. Er unterscheidet die Beschäftigung mit der monströsen Körperlichkeit von einer konzeptuellen Annäherung, die zur Folge hat, „[…]dass der […] Begriff ‚Monster‘ nun selbst als analytisches Instrument verwendet wird,“ und von der Analyse diskursiver Relevanzen des Monströsen.319 Seine eigene Arbeit reiht sich in letzteres Vorhaben ein und untersucht, wie sich der Faszinationstyp Monster als im Wechselspiel verschiedener Faktoren (zwischen binären Oppositionen, Normalitätskonzepten und Einzeldiskursen)320 jeweils in historischen Situationen konstituiert. Auch diese analytische Trennung kann (und soll) nicht in jedem Fall vollzogen werden, doch sie verdeutlicht die Komplexität der Materie und bei ungenauer Handhabung auch die Gefahr der Überstrapazierung des Begriffs. Die meisten Ansätze lesen Monster und Monstrosität als vergleichsweise isolierte Erscheinungen, als historisch klar umrissene Symptome einer bestimmten Situation und Semantiken eines bestimmten Kunstwerks oder Diskurses. Dieser Fokus ist jeweils durch die Beschränkung des jeweiligen Analysegegenstands gerechtfertigt, doch in ihm hallt die Marginalisierung des Monströsen nach, ebenso in der häufig in der Formulierung des Vorhabens mitschwingenden Rechtfertigung für die Beschäftigung mit solchen Phänomenen.321 J EFFREY J EROME C OHEN geht einen Schritt weiter und macht Monstrosität zum Leitparadigma.322 Er entwirft anhand sieben Thesen eine „Monster Theory“, eine am Paradigma des Monströsen orientierte Kulturwissenschaft: „a method of reading cultures from the monsters they engender“.323 Es lassen sich trotz seiner Betonung der historischen Gebundenheit seiner Überlegungen deutliche Parallelen zur mittelalterlichen Konzeptualisierung feststellen. Monster sieht er als kul-
317 T OGGWEILER , Michael, Phänomenologie, S. 4–5. 318 Die naturwissenschaftliche Diskussion spielt allerdings keine Rolle. 319 P ARR , Rolf, Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns, in: Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hgg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 19–42, hier S. 19. 320 P ARR , Monströse Körper, S. 20–22. 321 Z. B. B ILDHAUER , Bettina, M ILLS , Robert: Introduction. Conceptualizing the Monstrous, in: dies. (Hgg.): The Monstrous Middle Ages, Toronto, Buffalo 2003, S. 1–27, hier S. 22–23. IL LIAMS IAMS , Deformed Discourse, allerdings beschränkt er sich 322 Vergleichbares leistest auch W ILL auf einen mittelalterlichen Spezialdiskurs. 323 C OHEN , Jeffrey Jerome, Monster Culture (Seven Theses), in: ders. (Hg.), Monster Theory. Reading Culture, Minneapolis, London 1996, S. 3–25, hier S. 3.
1.2 Monster
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turell determiniert, aber gleichwohl mit einer Kontinuität generierenden Trägheit ausgestattet, da die Transformationen monströser Gestalten historische und kulturelle Grenzen überdauern und überschreiten können, bzw. sich innerhalb eines kulturellen Kontextes auch durch Narrative der Zerstörung und Tötung nicht auslöschen lassen.324 Er führt diese Durabilität auf das Kategorienproblem und somit die universelle Semantisierbarkeit monströser Gestalten zurück. Ihren Grenzbezug konstruiert er auf die Beschränkungen des kulturell Akzeptablen hin über kriminologische, sexuelle (Exogamie und Endogamie) und politische Manifestationen. Daraus leitet er auch ihre topographische Exzentrizität ab.325 Die Angst vor dem Monströsen sieht er entsprechend in Wechselbeziehung mit ihrem Reiz und daraus schließt er wiederum auf die kulturelle Unentbehrlichkeit monströser Gestalten, die sich samt ihrer ordnungsrelevanten Funktionen immer wieder neu präsentieren.326 Der Ansatz kann aufgrund seiner historischen und psychologischen Voraussetzungen sicherlich kritisiert werden, er ist nicht umsonst thesenhaft formuliert und mit einer Apologie für die „grand gestures“ versehen,327 doch er liefert eine eindrückliche Illustration der Konstanten im Verständnis von Monstrosität. T OGGWEILER schließt sich C OHENS Vorhaben an, verschiebt den Fokus aber auf die sozialanthropologische Fragestellung, die eine phänomenologisch-wesenhafte „mögliche grundlegende mythische Form und Formation [des Monströsen], welche, wenn sie auch vielleicht keine anthropologische Konstante darstellt, so doch einen erstaunlich hohen Resistenzgrad und eine verblüffende Immunität gegenüber der Geschichte aufweist“,328 rekonstuiert. Seine Ergebnisse entsprechen weitestgehend denen von C OHEN . B EATE O CHSNER ergänzt diese Perspektive um das Bewusstsein der medialen Determiniertheit des Monströsen und bindet es somit stärker als die vielen kulturwissenschaftlichen Ansätze an seine Überlieferungssituation zurück. Wir begreifen das Monster mithin als Effekt seiner Mediatisierung, deren Spezifikum auf einer stets erhoff[t]en, gleichwohl nie realisierten kommunikativen Transparenz beruht, die dem Monster in gleichem Maße, wie sie grundlegend zu seiner Entstehung beiträgt, auch die Grenzen seiner selbst (und damit des Anderen) aufzeigt.329
Von dem hiermit abgesteckten Feld aus soll noch ein kurzer Blick auf den modernen Umgang mit mittelalterlichen Monstern geworfen werden. Im medi-
324 325 326 327 328 329
C OHEN , Monster Culture, S. 4–6. C OHEN , Monster Culture, S. 6–16. C OHEN , Monster Culture, S. 16–20. C OHEN , Monster Culture, S. 3. T OGGWEILER , Phänomenologie, S. 2. O CHSNER C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 14.
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1 Theorie, Methode und Monster
ävistischem Fokus spiegelt sich das Spektrum der allgemeinen Fragestellungen. Hier wie dort gibt es Studien, die sich aus einer umfassenden kulturhistorischen oder diskursanalytischen Perspektive Monstern nähern, in enger begrenzten Untersuchungen werden aktuell insbesondere Paradigmen wie Fremdheit, Hässlichkeit (bzw. allgemeiner Ästhetik), Körperkonzepte und Wissensordnungen betrachtet. Einen allgemeinen kulturhistorischen Anspruch haben die oben schon zitierten Studien von C LAUDE L ECOUTEUX und C LAUDE K APPLER .330 L ISA V ERNER spezifiziert diesen Blick. Sie fragt in ihrer mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung nach der Epistemologie des Monströsen im Mittelalter im Hinblick auf eine literarische Anthropologie.331 Sie kontrastiert eine scheinbare Entwicklung in der Behandlung des Monströsen mit den ihr zugrunde liegenden abstrakten Konstanten. Die vier von ihr über die gesamte Zeitspanne des Mittelalters herausgearbeiteten Invariablen des Monströsen decken sich mit den bisher berücksichtigten Ergebnissen: sein Zeichencharakter, seine Literarizität, die ihm inhärente Anregung zur Reflexion und seine Verbindung zur Peripherie.332 In die Reihe der vergleichsweise breit aufgestellten Studien sei noch der Sammelband Dämonen, Monster, Fabelwesen von U LRICH M ÜLLER und W ERNER W UNDERLICH genannt, der Einzeluntersuchungen zu unterschiedlichen monströsen Wesen versammelt.333 Spezifischere Fragestellungen haben oft den Charakter kulturwissenschaftlicher, historischer und literaturwissenschaftlicher Fallstudien.334 Auf sie wird im Lauf der Arbeit fallweise eingegangen werden. An dieser Stelle nur so viel: Auch an mittelalterlichen Gegenständen lassen sich aktuelle Fragestellungen erproben.335
330 K AP PLER , Claude: Monstres, démons et merveilles à la fin du Moyen Âge, Paris 1980 (Le OUTEUX EUX , Les monstres dans la littérature allemande, L ECOUTEUX ECOUTE UX , Claude, regard de l’histoire), L EC OUT Les monstres dans la pensée médiévale européenne, 3., durchgesehene und korrigierte Auflage, Paris 1999. RNER R , Lisa, The Epistemology of the Monstrous in the Middle Ages, New York, London 331 V E RNE 2005 (Medieval History and Culture). E RNER , Epistemology, S. 155–158. 332 Vgl. die Zusammenfassung bei V ERNER ÜL LER ER , Ulrich, W UNDE RLICH , Werner (Hgg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 333 M ÜLL 1999 (Mittelalter Mythen 2). 334 Vgl. z. B. die Beiträge in B ILDHAUER , Bettina, M ILLS , Robert (Hgg.): The Monstrous Middle Ages, Toronto, Buffalo 2003, weiterhin die mediävistischen Beiträge in den Sammelbänden von G EBHARD E BHARD , G E EIS ISL LER ER und S CHRÖTER C HRÖTER , von A NTUNES und R EICH E ICH , sowie T ARAYE ARAY E , Michel, Regards sur des monstres. Le Speculum maius de Vincent de Beauvais, in: Francis Gingras, Françoise Laurent, Frédérique Le Nan, Gean-René Valette, Fûrent les merveilles pruvées et les aventures trouvées. Hommage à Francis Dubost, Paris 2005, S. 653–672. 335 C OHEN untersucht beispielsweise in einer weiteren Studie Monstrositäts- und Hybriditätskonzepte in Bezug auf sich nach der Eroberung der britischen Inseln von 1066 ergebende postOHE N , Jeffrey Jerome, Hybridity, Identity and Monstrosity in Medieval koloniale Identitäten. C OHEN Britain: On Difficult Middles, New York 2006.
1.2 Monster
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Eine breite Aufmerksamkeit der Forschung genießt das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit, eine Zeit, in der das Monströse nach verbreiteter Auffassung eine besondere Konjunktur erfährt – doch damit wäre der Bereich der hier abgesteckten Fragestellung verlassen.336
1.2.6 Konstanten im Umgang mit dem Monströsen: Phantastik – Wunderbares – Groteske – Fremdheit In der Literaturwissenschaft wird das Monströse zumeist im Rahmen von Theorien der Phantastik, des Wunderbaren und des Grotesken gefasst. Die drei Gebiete sind nicht in jedem Fall klar voneinander zu unterscheiden. Sie beschäftigen sich mit den gleichen oder doch sehr ähnlichen textuellen Phänomenen und finden auch jeweils einen ähnlichen Umgang damit. Ihre Differenzierung, die im Folgenden zumindest skizziert werden soll, basiert somit weniger auf den von ihnen untersuchten textuellen Objekten, sondern vielmehr auf ihren Diskursivierungen. Für T ODOROV ist das Phantastische als literarisches Genre337 in einem Kontinuum zwischen den „benachbarte[n] Genre[s]“338 des Wunderbaren und des Unheimlichen angesiedelt. In sämtlichen Fällen kommt es auf dieser Skala zu einem Konflikt zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Realität. Der Konflikt wird für T ODOROV durch eine mit den unterschiedlichen Realitäten konfrontierte literarische Gestalt auf den Leser projiziert.339 Im Bereich des Wunderbaren (des „akzeptierten Übernatürlichen“340) stellt, wie beispielsweise im Märchen, das Übernatürliche kein Problem dar, im Bereich des Unheimlichen (des „explizierten Übernatürlichen“341) ergibt sich für die scheinbar unnatürlichen Phänomene eine natürliche Erklärung. Das Phantastische bewegt sich zwischen diesen beiden Polen: Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenüber sieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.342
336 H UET , Marie-Hélène, Monstrous Imaginations, Cambridge/Mass., London 1993, D ASTON , Wonder, S. 173–214 (Kapitel „Monsters: A Case Study“), W ILLIAMS , Wes, Monsters and their Meanings in Early Modern Culture. Mighty Magic, Oxford, New York 2011. 337 Vgl. T ODOROV , Tzvetan, Einführung in die fantastische Literatur, aus dem Französischen von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur, Frankfurt/M. 1992, S. 1. 338 T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 26. 339 Vgl. T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 31–39. 340 T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 40. 341 T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 40.
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1 Theorie, Methode und Monster
Das Phantastische steht bezüglich der Bewertung der Situation in der Schwebe, bevor die Unschlüssigkeit in die eine oder andere Richtung als Wunderbares oder Unheimliches aufgelöst und als ein Phantastisch-Wunderbares oder ein Phantastisch-Unheimliches spezifiziert wird. Das Fantastische ist daher stets bedroht; es kann sich jeden Augenblick verflüchtigen. Es scheint sich eher an der Grenze zwischen zwei Gattungen, nämlich dem Wunderbaren und dem Unheimlichen anzusiedeln, als daß es eine selbständige Gattung wäre.343
Die Übertragung des auf moderne Leser und moderne Literatur ausgerichteten Phantastik-Konzepts nach T ODOROV auf mittelalterliche Texte hat F RANCIS D UBOST unternommen, indem er die Modernität des Mittelalters betont und über entsprechende Analogiebildungen die Applizierbarkeit rechtfertigt.344 Einen weiteren Ausweg aus der Unvereinbarkeit von modernen Lektürekonzepten mit mittelalterlichen Texten hat U WE D URST eröffnet, der, freilich ohne selbst einen historischen Anspruch zu formulieren, basierend auf T ODOROV eine strukturalistische Theorie der phantastischen Literatur entwickelt, welche Phantastik mit Hilfe von Systembegriffen als innerliterarisches Phänomen definiert. Sein Ansatz kommt ohne den Bezug zu einer außerliterarischen Wirklichkeit aus, indem er das Phantastische als „Nichtsystem“345 in der Mitte eines Spektrums zwischen einer innerliterarischen „Normrealität (reguläres System R)“ und „Abweichungsrealität (wunderbares System W)“ ansiedelt.346 „In der Spektrumsmitte kann ein
342 T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 26, basierend auf dieser ersten Definition entwickelt Todorov die sich aus dem Text ergebende „Unschlüssigkeit des Lesers“, vgl. T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 31–39. 343 T ODOROV , Fantastische Literatur, S. 40. UBOS T , Francis, Aspects fantastiques de la littérature narrative médiévale (12ème-13ème 344 D UBOST siècles). L’autre, l’ailleurs, l’autrefois, 2 Bde., Genf 1991 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen-Âge 15), FZETTE EL L , Friedrich, Das Problem des Phantastischen im Mittelalter. Übervgl. dazu auch W OL FZETT legungen zu Francis Dubost, in: ders. (Hg.), Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, Tübingen 2003, S. 3–21. 345 D URST , Uwe, Theorie der phantastischen Literatur, 2., aktualisierte, korrigierte und erweiterte Neuauflage, Berlin 2010 (Literatur Forschung und Wissenschaft 19), S. 116. D URST bietet auch ACHT INS einen detaillierten Forschungsüberblick und eine intensive Auseinandersetzung mit B ACHTINS und anderen Ansätzen zum Phantastischen, vgl. D URST URS T , Theorie, S. 47–102. Zu einer weiterführenden Kritik an T ODOROVS Ansatz vgl. TORO , Alfonso de, Überlegungen zur Textsorte ‚Fantastik‘ oder Borges und die Negation des Fantastischen: Rhizomatische Simulation, ‚dirigierter Zufall‘ und semiotisches Skandalon, in: Elmar Schenkel, Wolfgang F. Schwarz, Ludwig Stockinger, Alfonso de Toro (Hgg.), Die magische Schreibmaschine. Aufsätze zur Tradition des Phantastischen in der Literatur, Frankfurt/M. 1998 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft 8), S. 11–74, hier S. 19–28. 346 D URST , Theorie, S. 103.
1.2 Monster
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gültiges Realitätssystem nicht formuliert werden.“347 Phantastik wird so in Relation nicht mehr zu außertextuellen, sondern zu innertextuellen Ordnungsmustern gestellt. Sie manifestiert sich als „Abweichung von literarischen Konventionen.“348 Die Konzeptualisierung des Wunderbaren erschöpft sich nicht als Komplementärbegriff in Bezug auf Theorien des Phantastischen. Wunderbar kann auch Religiös-Übernatürliches sein, ebenso Widernatürlich-Monströses sowie Naturwunder.349 Das Wunderbare ist also zunächst als eine Abweichung von einer Norm zu fassen. Die Überschneidung und Vermischung unterschiedlicher Vorstellungen und Traditionen machen die Identifikation eines einzelnen Wunderbaren im Mittelalter zu einem schwierigen Unterfangen.350 Es gibt Ansätze, die für das christliche Mittelalter eine generelle Abwesenheit des Wunderbaren vermuten, das sich lediglich aus tieferliegenden mythischen Schichten und in Konflikt zur christlichen Hegemonie einen Weg an die Oberfläche schafft.351 Andere sehen das Mittelalter gerade als Zeit, die das Wunderbare in all seinen Formen begeistert aufnimmt und reproduziert – oder aber im Rahmen einer „complex control and manipulation of the bizarre“ ein aktives „de-wondering“ betreibt.352 Exemplarisch für diese Breite und die definitorischen Schwierigkeiten kann die Einleitung zu J UTTA E MINGS Monographie gesehen werden. Sie fasst das Wunderbare in der „Gestaltung von Figuren und Geschehnissen, welche sich einem rationalen Zugriff entziehen oder zumindest außergewöhnlich sind“353 als Funktion auf, in der sich Ordnungskonflikte manifestieren. Das so verstandene Wunderbare ist topisch festgeschrieben, nämlich einerseits in etablierten „Figuren und Motiven“354 und andererseits topographisch in einem „eigenen Bereich“.355 Anderwelten und fremde Welten ebenso wie der Orient sind damit sich aus unterschiedlichen Quellen speisende, aber in der jeweiligen literarischen Überlieferung verschmelzende Habitate des Wunderbaren. Die Frage, inwiefern das
347 D URST , Theorie, S. 116. 348 D URST , Theorie, S. 393. 349 Diese Auflistung ist angelehnt an M EIER , Poetik, S. 37, FN 1. 350 Vgl. E MING , Jutta, Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wiglaois und zum Wigoleis vom Rade, Trier 1999 (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, romanistische Studien 19), S. 9. 351 Vgl. L E G OFF , Jacques, Das Wunderbare im mittelalterlichen Abendland, in: ders., Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart 1990, S. 39–63, bes. S. 39–47. 352 B YNUM , Miracles and Marvels, S. 802, Hervorhebung B YNUM . 353 E MING , Funktionswandel, S. 5. 354 E MING , Funktionswandel, S. 5. 355 E MING , Funktionswandel, S. 7–12, hier S. 7.
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1 Theorie, Methode und Monster
religiöse Wunder zum Wunderbaren zu rechnen sei, bleibt ungeklärt.356 Die Konfrontation mit dem Wunderbaren kann neben der phantastischen Unsicherheit eine weitere Reaktion bewirken: das Staunen, das seinerseits Reflexionsprozesse nach sich zieht.357 Einen wiederum anders gelagerten Zugang zu vergleichbaren Phänomenen liefert B ACHTINS Verständnis des Grotesken. Die Methodischen Prämissen sind allerdings deutlich von denen der Phantastik und des Wunderbaren unterschieden. B ACHTIN 358 versieht seine Definition des Grotesken mit einer historisch-ethnographischen und einer psychologischen Dimension. Den grotesken Körper und groteske Handlungsweisen beschreibt er als Teil des Karnevalesken, das seiner Ansicht nach im späten Mittelalter und in der Renaissance in Reinform zum Ausdruck kommt. In der unvermittelt auftretenden und an ein befreiendes Lachen gebundenen Form des Grotesken kommt es zur Überwindung von Ordnungen, Zwängen und Ängsten, deren Auslöser in der grotesken Figur apotropäisch gebunden sind. „Mit dem Grotesken in Kunst und Literatur wird das Dämonische heraufbeschworen und gerade dadurch, dass es heraufbeschworen wird, gebannt. […] das Groteske ist eine provozierte und provokative Ästhetik zugleich.“359 Die drei Konzepte des Phantastischen, Wunderbaren und Grotesken lassen sich nicht anhand ihres Gegenstands unterscheiden. Sie teilen ein formales Objekt sowie die funktional-rezeptionsästhetischen Ausrichtung ihrer Argumentation. Das Phantastische, das Wunderbare und das Groteske bewirkt jeweils einen Effekt in denjenigen, die mit ihm konfrontiert werden. In ihrem Anspruch, ihren Anliegen und Prämissen unterscheiden sich die drei Konzepte, wie oben gezeigt wurde, deutlich. Doch in der Forschung werden sie ohne Berücksichtigung des theoretischen Unterbaus aufgrund der ihnen gemeinsamen formalen Grundlage häufig als deskriptive Kategorien begriffen und als austauschbare Äquivalente verwendet.
356 Vgl. E MING , Funktionswandel, S. 12–17 und 27–33, C HRISTEL M EIER bezieht sich zwar bei ihrem Entwurf einer „Poetik des Wunderbaren“ ausschließlich auf den theologischen Bereich, allerdings nicht primär auf Wunder, sondern auf Darstellungskonventionen, die aus dem Bereich des Wunderbaren schöpfen, vgl. M EIER , Poetik, passim. 357 Vgl. B YNUM , Wonder. 358 B ACHTIN , Michail M., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übersetzt von Gabriele Leupold, hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt/M. 1995 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1187). CHOL L , Dorothea, Von den „Grottesken“ zum Grotesken. Die Konstituierung einer Poetik des 359 S CHOLL Grotesken in der italienischen Renaissance, Münster 2004 (Ars Rhetorica 11), S. 26.
1.2 Monster
89
Einen neutraleren, da zumindest auf den ersten Blick weniger affektbezogenen Zugang zu mittelalterlichen Monstern finden Ansätze, die mit dem Paradigma des Fremden oder der Alterität operieren. Beides sind relationale Begriffe, die eine Differenzierung zwischen Fremdheit als „Existenzrelation“ (als ontologisches Charakteristikum) und als „Aussagerelation“ (die diskursiv etabliert wird) nötig machen.360 In Bezug auf die Fremdheit von Monstern, so illustrieren M ÜNK361 LER und R ÖCKE anhand des bekannten Simmelschen Beispiels, muss angesichts ihres nicht zu sichernden ontologischen Status in jedem Fall von der diskursiven Aussagerelation ausgegangen werden. Die Existenz von Monstern kann zwar im Mittelalter nicht zweifelsfrei bewiesen werden, doch es wird, wie oben gezeigt, ausgiebig über Monster nachgedacht und geschrieben. Jede Beschäftigung mit Monstern, jede über sie getroffene Aussage – und dies schließt Aussagen bezüglich ihrer Alterität und Fremdheit natürlich mit ein – ist somit rein diskursiv. ‚Fremd‘ und ‚anders‘ sind in der mittelalterlichen Literatur selbstverständlich nicht nur Monster. Auch das geographisch, kulturell und religiös Unvertraute wird im Diskurs der Fremdheit bzw. Alterität gefasst362 – und es kann jeweils über Monstrosität codiert werden: „any kind of alterity can be inscribed across (constructed through) the monstrous body.“363 Über den diskursiven Status der Aussage hinaus manifestiert sich Fremdheit, wenn die Rezeption und damit die einer Aussage über das Fremde vorangehende Wahrnehmung in den Mittelpunkt gerückt wird. Fremdheit wird dann nicht primär als Zuschreibung verstanden und auch nicht als ontologische Kategorie, sondern als Fremdheit der Wahrnehmung, also als Wahrnehmung, die sich von den etablierten Wahrnehmungsgewohnheiten abhebt.364
360 M ÜNKLER ÜNKLE R , R ÖCKE , ordo-Gedanke, S. 707, vgl. dazu auch R ÖCKE , Werner, Erdrandbewohner und Wunderzeichen. Deutungsmuster von Alterität in der Literatur des Mittelalters, in: Silvia Bovenschen (Hg.), Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag, ÖT Z P OCHAT fasst Fremdheit als „psychoBerlin, New York 1997, S. 265–284, hier S. 264–267. G ÖTZ logisches Phänomen“, das auf einem Identitätsverständnis sowie der Annahme gesellschaftlicher Homogenität beruht und damit ebenfalls diskursiv etabliert wird, vgl. P OC HAT , Das Fremde, S. 7. 361 S IMME L veranschaulicht seine Argumentation mit den außerirdischen Bewohnern des Planeten Sirius. „Die Bewohner von Sirius sind uns nicht eigentlich fremd [...], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns. Sie sind jenseits von Fern und Nah.“ S IMMEL , Georg, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie – Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1980, S. 509–512. 362 Vgl. dazu die Überblicksdarstellung in P OC HAT , Das Fremde. 363 C OHEN , Monster Theory, S. 7. 364 Vgl. W EIDTMANN , Nils, Erfahrung des Zwischen: Anmerkungen zu Waldenfels’ Phänomenologie der Fremderfahrung, Etica & Politica / Ethics & Politic 8 (2011), S. 258–270.
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1 Theorie, Methode und Monster
Die in den Texten beobachtbare Dualität von „Fremdbeschreibung“ und „Fremdwahrnehmung“365 wiederholt sich in der Rezeptionssituation. Dem modernen Leser erscheint die Fremdheit oder „Alterität“366 mittelalterlicher Literatur nur zu offensichtlich. Annäherungen an die mittelalterliche Literatur treffen daher häufig Aussagen, die dieser Alterität Rechnung tragen und die unterschiedlich – absolut, als Kontinuum oder graduell – gedachte Fremdheit des Textes methodisch berücksichtigen.367 Die diskursiv vermittelte Fremdheit ist damit immer auch ein Rezeptionsphänomen. In dieser Arbeit sollen diese Theorieansätze nur am Rand eine Rolle spielen. Festzuhalten bleibt aber, dass in der starken Involvierung des Rezipienten im Angesicht des Phantastischen, Wunderbaren oder Grotesken immer ein Moment der Reflexion zum Tragen kommt, das auch selbstreflexiv auf den Text bezogen werden kann. Sei es durch das Zögern im Augenblick der Phantastik, bevor eine ontologische oder systematische Zuordnung geschieht („Die Phantastik beschreibt die Künstlichkeit der Literatur, die sie analysiert“368), sei es das Staunen über das Wunderbare oder, in der „Entautomatisierung, Erneuerung und Intensivierung der ästhetischen Wahrnehmung“369 durch das Groteske. Auch das Fremde bzw. die Alterität als letztendlich diskursiv bzw. rezeptiv etablierte Kategorie erfordert eine starke Beteiligung des Rezipienten, der zwischen dem Eigenen bzw. Bekannten und dem Fremden differenziert und Zuschreibungen vornimmt.
1.2.7 Monster als Zeichen, Monster als Medien Monster, monstra, portenta, ostenta sind Zeichen, die über sich selbst hinausdeuten, temporal als Vorzeichen auf Zukünftiges, lokal und systematisch als Markierungen von Grenzen und Ordnungssystemen. Sie können auch in komplexe semiotische Prozesse eingebunden werden, beispielsweise wenn die hybride Körperlichkeit einer allegorischen Deutung unterzogen wird.
365 M ÜNKLER ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 701. 366 J AU ß , Hans Robert, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, in: ders., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977, S. 9–47. 367 Vgl. dazu K IENING , Christian, Alterität und Methode. Begründungsmöglichkeiten fachlicher Identität, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 5 (2005), S. 150–166, F UCHS , Stephan, Das Andere und das Fremde. Bemerkungen zum Interesse an mittelalterlicher Literatur, in: Silvia Bovenschen (Hg.), Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag, Berlin, New York 1997, S. 365–384. 368 D URST , Uwe, Theorie des Fantastischen, S. 393. CHOL L , Grotesken, S. 26. 369 S CHOLL
1.2 Monster
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Doch manche der von Monstern etablierten Relationen sind mit semiotischen Konzepten nur ungenügend beschrieben. Ausgehend von Monstern können sich dynamische Netze von Bezügen durch Produkte kultureller Sinnstiftung ausbreiten, deren Sinnpotenzial durch das Aufzeigen von semiotischen Relationen nicht ausreichend erschlossen ist. Monströse Figuren tragen, wie gezeigt wurde, die Möglichkeit, wenn nicht sogar einen Appell zur Reflexion in sich, die fallweise ihren Ausgang in semiotischen Verweisen nehmen kann, diese allerdings zugunsten darüber hinausweisender kognitiver Operationen überschreitet. Es ist also bei der Analyse monströser Gestalten zwischen einem semiotischen Verweisen, das punktuell und mit einer deutlichen Gerichtetheit vollzogen wird und als dessen Resultat eine zumeist klar umrissene Deutung festgemacht werden kann, und einem medialen Vermitteln zu unterscheiden. Semiotische Lektüren von Monstern gibt es schon aufgrund ihrer Etymologie viele.370 Auch in medienwissenschaftlichen Kontexten werden sie so gelesen. B EATE O CHSNER schlägt in ihrer Studie zu „medialen Repräsentationen“ des Monsters, die das Monster als „Effekt seiner Mediatisierung“371 versteht, vor, die Differenz von Medium und Form (sie bleibt bei der Terminologie nach H EIDER ) in einer konzeptionellen bzw. inhaltlichen Parallele aufzulösen. Sie operiert mit einer Präexistenz des Monsters als Medium (nach L UHMANN : mediales Substrat), das in unterschiedlichen Einzelmedien (Malerei, Fotografie usw.) bildgebend zur Form verdichtet wird. Die Mediatisierung beeinflusst das Monster dabei entscheidend, ihre Möglichkeiten und Limitierungen „einer stets erhofften, gleichwohl nie realisierten kommunikativen Transparenz“372 umreißen auch den Bereich des durch sie vermittelten Monströsen, das erst in seiner Form-Werdung im Kontrast zu gängigen Ordnungsprinzipien wahrnehmbar und als monströs identifizierbar wird. Die Medium-Form-Dynamik überträgt O CHSNER auf die schon skizzierte Argumentation D ERRIDAS , der zufolge Monster nur dann wahrnehmbar sind, wenn sie ihre Monstrosität, ihre sich gegen alle Ordnungen sperrende Alterität und daher Nicht-Darstellbarkeit hinter sich gelassen haben und in der Darstellung domestiziert wurden.373 Das Verschwinden des Monsters in seiner Darstellung ist für sie parallel zu verstehen zum Zurücktreten des Mediums hinter der Form. B EATE O CHSNER beschreitet hier den Weg eines konsequenten Medianapriori. Monstrosität, so die Grundannahme, wird lediglich in ihrer Darstellung über mediale Prozesse greifbar. In der vorliegenden Arbeit soll der Fokus jedoch ein 370 371 372 373
Vgl. O C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 13–14. O CHSNER C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 14. O CHSNER C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 13. Vgl. D E RRIDA , Some Statements and Truisms, S. 79–80.
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1 Theorie, Methode und Monster
anderer sein. Nicht die Funktionen des Medialen als Voraussetzung zur Realisierung des Monströsen werden untersucht, sondern in Abstraktion von konkreten Realisierungen das mediale Potenzial des Monströsen. Monster und Medien werden aufgrund ihrer vergleichbaren Eigenschaften enggeführt bis hin zu einer Überblendung: Monster als Medien. Diese Vergleichbarkeit kann nicht durch die Annahme, sie sei durch die Mediatisierung des Monströsen bedingt, erklärt werden, da sie sonst auf alles medial Vermittelte – nach der entsprechenden aprioristischen Annahme also alles Wahrnehmbare – übertragen werden müsste. In den im Folgenden untersuchten mittelalterlichen Texten stehen Monster in mehrerlei Hinsicht in einem ‚Dazwischen‘. Monster sind wie Medien durch eine inklusive Logik des Sowohl-als-auch gekennzeichnet. J EFFREY J EROME C OHEN liest das Monster als die Verkörperung dieses Prinzips „it breaks apart bifurcating “either/or” syllogistic logic with a kind of reasoning closer to “and/or”“.374 In den vorangegangenen Unterkapiteln wurde ihre kategoriale und topographische Unbestimmtheit schon dargelegt. Bezüglich ihres selbstreflexiven Potenzials kommt hinzu, dass sie zwischen den unterschiedlichen Dimensionen des Textes angesiedelt sind, an allen teilhaben, aber zu keiner eindeutig zugerechnet werden können. Auf der Textoberfläche erfüllen sie eine Vielzahl handlungslogischer Funktionen,375 aufgrund ihrer markierten Körperlichkeit bleibt es allerdings nicht dabei. Sie setzen Reflexionen in Gang. In einem ersten Abstraktionsschritt ermöglichen sie eine Reihe von semiotischen Relationen, die sich paradigmatisch und syntagmatisch durch den Text ziehen und ihm eine Ordnungsraster auflegen. Zugleich können sie als Realisierungen einer Metaebene bzw. einer impliziten Poetik verstanden werden, die sich jeweils partiell und prozedural in der monströsen Form entbirgt. Zugang zu diesem Substrat vermittelt die Form, die an sich mit den Charakteristika der Störung ausgestattet ist. Das Fehlen seiner klaren Klassifizierung führt zur Unmöglichkeit einer Benennung und damit zur Notwendigkeit der Beschreibung, die ein Verlassen des narrativen zugunsten des deskriptiven Modus bewirkt. Auch in der Rezeption ist die Störung manifest, wenn Monster ein Aufschrecken derjenigen verursachen, die mit ihnen konfrontiert werden: Figuren im Text und, nahegelegt durch eine entsprechende Leserlenkung, auch die Rezipienten, werden durch monströse Figuren aufgestört und dadurch umso deutlicher auf deren Reflexionspotenzial hingewiesen. Bei diesem Prozess wird allerdings die Handlungsebene nicht wie bei einem Exkurs verlassen, sondern allenfalls in den von L UDWIG J ÄGER beschriebenen Zustand einer ‚Starre‘ versetzt. Die Form des monströsen Körpers ist auch im Moment seiner
374 C OHEN , Monster Theory, S. 7. 375 Vgl. dazu näher Kapitel 1.3.
1.2 Monster
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Transzendierung zu präsent, um hinter ihrem medialen Substrat zu verschwinden. In ihnen koexistieren die textuelle Form der Handlungsebene und die Dimension der poetologischen Reflexion. Diese reflexive Struktur wird durch diverse Anlagerungen unterstrichen: Die mit Monstern assoziierte Terminologie, ihre Anknüpfungen an die lange Tradition poetologischer Monster sowie ihre allgemeine Reflexivität und Relationalität tragen sämtlich zur poetologischen Lesbarkeit der Figuren bei. Von dieser Warte aus gesehen sind Monster in ihrer Hybridität ebenenübergreifend sehr homogene Figuren, da sie in unterschiedlichen Dimensionen analoge Funktionen übernehmen. In ihnen verdichtet sich Reflexion. Beginnend bei der Frage ihrer Bezeichnung über ihre Beschreibung mithilfe reflexiv-relationaler sprachlicher Faktoren, ihre kulturellen und religiösen Semantiken, bis hin zu ihrer handlungslogischen und textsemantischen Funktion, ist ihnen jeweils ein Moment der Reflexion eingeschrieben. Monster transportieren somit wie Medien immer einen Überschuss, der sich aus ihrer Überdetermination ergibt, und der mit dem Spur-Begriff gefasst werden könnte. Diese Teilhabe geht über die ursächliche Verknüpfung der Spur hinaus. Wie Medienvorgänge trägt das Monster „die Spur seines eigenen Ursprungs“376 in sich, tritt aber insbesondere in vormodernen Kontexten in ein „Partizipationsverhältnis“, das sich „zwischen dem Medium und demjenigen, das oder zwischen dem es vermittelt“377 entspinnt. Poetologische Reflexion in Gestalt von Monstern ist daher immer literarisch überformt und in der literarischen Form des Monsters lässt sich umgekehrt immer das reflexive Potenzial nachweisen Die beiden dynamischen Bewegungen der Formwerdung eines medialen Substrats und der Störung eignen sich gut zur Beschreibung von literarischen Monstern als Medien. Diese Applikation der prozeduralen, iterativen und dynamischen Denkfiguren der im Kapitel 1.1.4 dargestellten Medientheorien ist kein Spezifikum mittelalterlich-poetologischer Reflexion, sondern kann sich auf Entsprechungen im zeitgenössischen theologischen Diskurs des Mittelalters berufen, in denen sich diese Ansätze im Gegensatz zur modernen Theorie konkret der Vorstellung des Monströsen bedienen, um die kognitiven Operationen zu vollziehen und zu illustrieren. Das Verhältnis zwischen Gott und Welt wie es in der Negativen Theologie postuliert wird, kann mit Hilfe der oben skizzierten Dualität von Medium und Form nach H EIDER und L UHMANN enggeführt werden: Analog dem medialen Substrat entbirgt sich der ewige Gott immer nur teilweise und temporär in seiner
376 K IENING , Medialität, S. 332. 377 K IENING , Medialität, S. 332.
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1 Theorie, Methode und Monster
Schöpfung, die der medialen Form entspricht. Aufseiten des Schöpfers und des medialen Substrats liegt die für die hier weiter ausgeführten Überlegungen entscheidende Eigenschaft einer inhärenten und konstitutiven Potenzialität.378 Es bestehen jeweils unendlich viele Möglichkeiten, Schöpfung bzw. Form zu realisieren, das Medium ist die „Ordnung der Möglichkeiten“.379 Die Dynamik des Prozesses wird in der Negativen Theologie als Theophanie gefasst, als immerwährendes Werden und als Perpetuierung der Schöpfung, ohne dass sich das kreative Potenzial Gottes erschöpfen würde und ohne dass die Welt es jemals umfassend in sich aufnehmen und repräsentieren könnte.380 Die Negative Theologie veranschaulicht die unfassbare Potenzialität Gottes – man könnte sie auch Allmacht und somit aus menschlicher Perspektive Kontingenz nennen – mit Hilfe monströser Gestalten. In der scheinbar regellosen Kombinatorik ihrer Form wird das kreative Prinzip angedeutet, ohne dass es aufgrund der kategorialen Differenz jemals ganz in dieser aufgehen könnte. Anders formuliert: Das Monster vermittelt in seiner Form das prozessuale Potenzial seines Schöpfers. Wie sich diese Funktion auch in den hier betrachteten monströsen Figuren in literarischen Kontexten erkennen lässt, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Das Monster ist im Gedankengebäude der Negativen Theologie als Störung gedacht. Es verunmöglicht die naiv-intuitive Gleichsetzung Gottes mit seiner Schöpfung und kann transkriptiv eine eingehendere Reflexion initiieren, die zwar nicht zu der Erkenntnis, aber doch zur Akzeptanz der Allmacht und der Nicht-Konzeptualisierbarkeit Gottes führt und den Menschen schließlich auf die Möglichkeit eine mystischen Annäherung zu. Um ihr ‚störendes‘ und reflexives Potenzial zu begründen, ist der Bezug auf die Negative Theologie und die Auffassung einer mittels eines medialen Prozesses epiphanisch vollzogenen Entblößung von Ordnungsprinzipien allerdings nicht zwingend nötig. Die an J ÄGER angelehnte Vorstellung einer Störungt, die eine produktiv sinnstiftende transkriptive Nachbearbeitung initiiert, findet sich, wenn auch nicht explizit, in A UGUSTINUS ’ apologetischer Darstellung der christlichen Weltordnung. Monstern eignet im Gottesstaat ein geradezu maximales Störungspotenzial. Sie werfen das Problem der Theodizee auf, lassen Zweifel an der Vollkommenheit der Schöpfung und der Allmacht Gottes aufkommen und gefährden damit letztendlich nicht nur das argumentative Ziel des augustinischen Texts, sondern auch das Seelenheil der Skeptiker. Doch A UGUSTINUS führt eine Möglichkeit ihrer transkrip-
378 Vgl. K HURANA , Was ist ein Medium, S. 116. 379 L UHMANN , Probleme mit operativer Schließung, S. 16. 380 Vgl. K RE UZER , Gestalten, S. 57–58.
1.3 Zwischenspiel: âventiure
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tiven Bearbeitung und produktiven Rekontextualisierung vor, indem er sie als Hinweise auf die für den Menschen inkommensurable göttliche Perspektive auf den ordo deutet, und zudem über Bezüge zu Einzelfällen eine didaktische Funktionalisierung anbietet. Monster entfalten aufgrund ihres Störungscharakters also auch in diesem Ansatz ein reflexives Potenzial. Für die nun folgende Untersuchung der mittelalterlichen Texte bilden die beiden Denkfiguren, die Dynamik von medialem Substrat und Form sowie die Idee einer Störung, das Paradigma zur medialen Lektüre selbstreflexiver Konstrukte. Sie kommen nicht immer beide zu tragen und auch nicht immer im gleichen Maß, doch sie ermöglichen es, das selbstreflexive Potenzial monströser Figuren auszuleuchten und zu klären. Zuvor muss allerdings noch die neben Monstern und Medialität dritte relevante Größe, die einen Link in das mittelhochdeutsche literarisch Begriffssystem liefert, kurz eingeführt werden: die âventiure.
1.3 Zwischenspiel: âventiure 1.3.1 Was ist âventiure? âventiure steht zwischen allen Kategorien. Sie ist ein Begriff zeitgenössischer literarischer Selbstreflexion, der sowohl als deskriptiver als auch als analytischer Terminus in aktuelle Forschungsdiskurse übernommen wurde. In dieser vermittelnden Funktion wird er auch für die vorliegende Arbeit relevant werden. âventiure spielt in den drei untersuchten Texten eine große Rolle. Im Iwein ist sie eine sowohl die Diegese als auch das Erzählen bestimmende, wenn auch nicht unproblematische Größe. In der Crône – der frühe Rezipient R UDOLF VON E MS spezifiziert den von H EINRICH selbst gesetzten metaphorischen Werktitel (vgl. Cr. 29967– 29992) als Allr Âventiure Krône (Al. 3219) – löst sich die âventiure aus ihren im früheren Artusroman noch relativ klar umrissenen Funktionalisierungen und Semantisierungen, ohne allerdings ihre poetologisch aufschlussreiche selbstreflexive Funktion aufzugeben; ein Trend, den der ‚Minne und Aventiureroman‘ Wilhelm von Österreich fortsetzt, in welchem das Konzept eine ganz eigene Dynamik entwickelt. âventiure ist über die Zeit und über Gattungsgrenzen hinweg ein flexibel und jeweils kontextgebunden neu zu besetzender Begriff, dessen von allen Veränderungen unberührtes Merkmal eine poetologische Relevanz ist. In dieser Eigenschaft weist sie auch Nähen zu Monstern auf. âventiure steht somit nicht nur innerhalb der Gliederung dieser Arbeit an der Schnittstelle zwischen den theoretisch-methodologischen Aspekten und der Textlektüre. Doch bevor auf diese Verbindung eingegangen wird, soll eine allgemeinere Annäherung an den Begriff und an das Konzept versucht werden.
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1 Theorie, Methode und Monster
âventiure kann sowohl ein Geschehen als auch das Erzählen davon bezeichnen.381 Sie umfasst also das Signifikat wie auch den Signifikanten narrativer Prozesse.382 Basierend auf dieser Dualität lässt sich das breite Bedeutungsspektrum des Begriffes erschließen:383 Auf der Seite der „Wiedergabe eines Gesche-
381 Dazu zuerst G RIMM , Jacob, Frau Aventiure klopft an Beneckes Thür, Berlin 1842, S. 6, weiERT ENS , Volker, Artikel Avanture terhin zu âventiure allgemein (in Auswahl): K ASTE N , Ingrid, M ERTENS (âventiure), in: Lexikon des Mittelalters, 10 Bde., Stuttgart 1980–1999, Bd. 1, Sp. 1289–1290, E HRISMANN , Otfrid, âventiure. Die ritterliche Bewährung, in: ders., Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München, 1995, S. 22–24, ders., Von âventiure zu rede: Die Werkbezeichnungen, in: ders., Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter, München, 1995, S. 24–35, K ARNEIN , Alfred, Minne, Aventiure und Artus-Idealität in den Romanen des späten 13. Jahrhunderts, in: ders., Amor est Passio. Untersuchungen zum nicht-höfischen Liebesdiskurs des Mittelalters, hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Triest 1997 (Hesperides. Studien zu Literatur und Kultur des Okzidents 4), S. 177–188 [zuerst veröffentlich als: Minne, Rittertum und Artusidealität im späten Artusroman, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. W. Kellermann zum Gedächtnis, Gießen CHNY DER , Mireille, Âventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der 1984, S. 114–125], S CHNYDER GERA , Klaus-Peter, deutschen Literatur des Mittelalters, in: Euphorion 96 (2002), S. 257–272, W EEGERA „mich enhabe diu âventiure betrogen“. Ein Beitrag zu Wort- und Begriffsgeschichte von âventiure im Mittelhochdeutschen, in: Vilmos Ágel, Andreas Gardt, Ulrike Haß-Zumkehr, Thorsten Roelcke (Hgg.), Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 229–244, B LEUME R , Hartmut, Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 347–367, M ERTENS , Volker, Frau Âventiure klopft an die Tür..., in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 339–346, S CHNY DER , Mireille, Sieben Thesen zum Begriff der âventiure, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, TROHS CHNEIDER , Peter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 369–375, S TROHSCHNEIDER âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 377–382, M ERTENS , Volker, Artikel Aventiure, in: Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin, New York 2007, Bd. 1, S. 187–189. T ROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 377. 382 Vgl. S TROHSCHNEIDER GERAS Argumentation. Seine methodische Annahme, die Semantik von 383 Ich folge hier W EEGERAS âventiure lasse sich „im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeit als eng aufeinander bezogeE GERA , âvenne Glieder (Bedeutungsvarianten) einer Bedeutungs- und Konzeptfamilie“ fassen (W EGERA tiure, S. 234), so dass einzelne semantischen Varianten intralingual voneinander abgeleitet wer-
1.3 Zwischenspiel: âventiure
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hens“384 die Erzählung selbst, der Erzählstoff oder Teile davon, als deren Bezeichnung die âventiure auch zur paratextuellen Einheit wird. Ebenso bezeichnet sie die Quelle eines zu erzählenden Geschehens – als Text, Gewährsperson oder zur Personifikation verdichtet, beispielsweise als vrou Âventiure (z. B. Pz. 433,7). Das âventiure-Geschehen beinhaltet meist ein Moment der Kontingenz.385 Sei es als „(unvorhersehbares) Ereignis“,386 mit den Ausprägungen des Zufalls, Geschicks oder Schicksals und mit der Möglichkeit des Wunderbaren und Geheimnisvollen, oder als „(risikoreiches) Unternehmen“387 wie der ritterliche Kampf in all seinen Ausprägungen (Turnier, Krieg usw.). Die Entlehnung des Begriffs aus dem Altfranzösischen vollzieht sich Ende des 12. Jahrhunderts.388 Seine Verwendung bleibt zunächst meist auf den höfischen Roman, insbesondere den Artusroman beschränkt. Im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts nimmt die Häufigkeit des Vorkommens in unterschiedlichen Kontexten kontinuierlich zu.389 Während die frühesten Belege meist den Aspekt des zufälligen oder schicksalhaften Geschehens bezeichnen, beobachtet W EGERA in H ART
den können, wird durch die ebenfalls korpusbasierte Arbeit von Franz L EBSANFT gestützt, der – im EGE RAS Methode – für das altfranzösische aventure zu ähnlichen Ergebnissen Rückgriff auf W EGERAS ANFT T , Franz, Die Bedeutung von Altfranzösisch aventure. Ein Beitrag zu Theorie kommt. Vgl. L EBS ANF und Methodologie der mediävistischen Wort- und Begriffsgeschichte, in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 311–337, bes. S. 314–315. Der Aspekt der Entlehnung und die damit einhergehende Möglichkeit von „Mehrfachentlehnung, Miss- oder besser Andersverstehen [...], Umdeutung (besonders dann im Zuge und im Gefolge gesellschaftlicher Veränderungen auch Umwertung)“ (W EGERA , âventiure, S. 233) sowie die grundsätzliche Frage, mit welchen Bedeutungen der Begriff von Fall zu Fall entlehnt wurde, kann in diesem System nur insoweit Berücksichtigt werden, als GERA , âventiure S. 233) in den Fokus ein allen Varianten gemeinsamer „semantische[r] Kern“ (W EEGERA gestellt wird, der von den Übertragungsprozessen unberührt bleibt. Eine alternative, aber in ihren Ergebnissen ähnliche Skizze der semantischen Zusammenhänge der unterschiedlichen TeilbeLEUME R , âventiure, S. 347–350. deutungen von âventiure liefert B LEUMER 384 W E GERA , âventiure, S. 234. 385 Zum Zusammenhang von âventiure und Kontingenz siehe H AFERLAND , Harald, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 ( ForÖRMER -C AY SA , schungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 10), S. 109–120 und S TTÖRMER Uta, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, ERTE NS , Frau Âventiure, S. 345 sieht für âventiure um 1200 ebenfalls New York 2007, S. 162–178. M ERTENS die „Grundbedeutung der Kontingenz“. 386 W E GERA , âventiure, S. 234. 387 W E GERA , âventiure, S. 234. 388 Die Überlieferung setzt allerdings erst mit dem Graf Rudolf-Fragment im frühen 13. Jahrhundert ein, vgl. W EGERA , âventiure, S. 231. 389 Die in der vorliegenden Arbeit ausgewerteten Texte bilden diesen Trend ab.
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Artusromanen die Ausbildung einer an C HRÉTIEN orientierten „speziell höfische[n] Semantik“ mit der Doppelbedeutung von Erzählung (bzw. Quelle) und ritterlicher Bewährungsprobe. Das breiteste semantische Spektrum von âventiure sieht er innerhalb von Einzelwerken in W OLFRAMS Parzival und G OTTFRIEDS Tristan vertreten, wohingegen er in späteren Romanen wieder eine Beschränkung auf einzelne Bedeutungen ausmacht.390 MANNS
1.3.2 âventiure in der Mediävistik âventiure ist immer noch ein vielverwendetes Wort. Das breite semantische Spektrum des mittelhochdeutschen Begriffs wird durch die mediävistische Forschung noch erweitert.391 Die zwei Seiten der âventiure als Inhalt und Vermittlung narrativer Konstrukte und ihre Verwendung in poetologisch markierten Kontexten legt eine selbstreflexive und daher literarturwissenschaftlich aufschlussreiche Deutung nahe. Doch die Lage ist, gelinde gesagt, unübersichtlich. Die Dualität von Geschehen und Bericht eines Geschehens liegt in den Texten in ausschließlich narrativer Form vor (auch das Geschehen ist immer schon erzählt), metadiegetische Strukturen vervielfältigen die Problematik und es stellt sich die Frage, ob der Text selbst als narrative Einheit in jedem Fall mit dem âventiure-Begriff zu fassen ist und wenn ja, wie sich das Verhältnis zwischen âventiure im Text und dem Text als âventiure gestaltet. Zu der komplexen Sachlage gesellt sich die Schwierigkeit der Terminologie.392 Inwiefern kann der mittelalterliche Begriff für die literaturwissenschaftliche Analyse jenseits einer deskriptiv reproduzierenden Verwendung nutzbar
390 W E GERA , âventiure, S. 231. HLEC CHTWE HTWEG G -J AHN , Ralf (Hgg.), Aventiure und Eskapade: 391 S. auch zuletzt: E MING , Jutta, S C HLE Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, Göttingen 2017 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 7); E MING , Jutta, Aventiure zwischen Ungewissheit und Providenz. Skizzen zur Reflexion von Zukunft im höfischen Roman, in: Nadine Hufnagel, Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann (Hgg.), Krise und Zukunft in Mittelalter und (Früher) Neuzeit: Studien zu einem transkulturellen Phänomen. Festschrift für Gerhard Wolf zum 60. GeINDE N , Sandra, Frau Aventiure schweigt: Die Funktion der Personifikaburtstag, Stuttgart 2017; L INDEN tionen für die erzählerische Emanzipation von der Vorlage in Wolframs Parzival, WolframStudien 23 (2014), S. 359–387. 392 Vgl. dazu M ÜLLE R , Jan-Dirk, schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik), in: Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink (Hgg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 10) S. 287–307, hier S. 304–307.
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gemacht werden? Die Übernahme als wissenschaftlicher Terminus geht angesichts der diversen Überlieferungslage notwendigerweise mit einer Neuprägung des Begriffs und einer Ablösung von der textuellen Evidenz einher. Daraus ergeben sich Legitimationsschwierigkeiten. Denn ein derart aus den historischen Kontexten isolierter Begriff birgt die Gefahr der anachronistischen Überapplizierung und verstellt möglicherweise den Blick auf präzisere, da angemessenere Formen literaturwissenschaftlicher Ausdrucksweise. Zudem evoziert ein mittelhochdeutsches Lehnwort im mediävistischen Diskurs die gefährliche Illusion der unbedingten Angemessenheit. Der Vorschlag, „in wissenschaftlicher Konstruktion das terminologische Defizit auszugleichen und die unterminologischen Komponenten [des mittelhochdeutschen Worts] aus der Begriffsbildung auszuschließen“393 löst die Schwierigkeiten einer Vermittlung zwischen vorsystematischer und wissenschaftlicher Literaturreflexion nicht. Im Gegenteil, das Vorhaben wirft Fragen nach den Möglichkeiten und Kriterien der Grenzziehung und Auswahl relevanter Belege auf, insbesondere da in diese Überlegungen „Rahmenbedingungen“ der Literaturproduktion einbezogen werden müssten, die „zeitgenössisch nicht artikuliert“394 werden. Einzelne „abweichende Verwendung[en]“ von Wörtern sind dabei nicht deswegen problematisch, weil sie „gegen die Angemessenheit zur Bezeichnung eines bestimmten Begriffsinhalts“395 sprächen, sondern vielmehr weil ihre Relevanz für den Begriffsinhalt angesichts der Fragmentarität jeder mittelalterlichen Überlieferung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Doch trotz dieser Probleme lässt sich der mittelhochdeutsche Begriff nicht einfach ersetzen. Ein Neologismus oder die Verwendung der losen nhd. Entsprechung ‚Abenteuer‘ wäre für die gleichen Schwierigkeiten anfällig. Insbesondere könnte eine Neuprägung kaum die semantische Breite und Variabilität des mittelalterlichen Begriffs wiedergeben. So birgt die „Flexibilität in der Beziehung von Ausdruck und Inhalt“ von âventiure für die germanistische Forschung angesichts der „Dynamik von Gattungsbegriffen“396 Vorteile. Doch diese Eignung ist nicht auf die Gattungsfrage beschränkt. Gerade die Zwischenlage des Begriffs auf der Grenze von konkreten und abstrakten Bezügen lässt ihn für die Betrachtung einer nichtterminologischen und vorwissenschaftlichen Literaturreflexion geeignet erscheinen. In der âventiure ist das reflexive Potenzial mittelhochdeutscher Texte auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten seiner Vermittlung konzentriert.
393 394 395 396
M ÜLL ÜL LER ER , schîn, S. 305. M ÜLL ÜL LER ER , schîn, S. 305. M ÜLL ÜL LER ER , schîn, S. 305. B LLEUMER EUMER , âventiure, S. 350.
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âventiure muss daher eine Größe mit mehreren Variablen bleiben, sie lässt sich nicht festschreiben. Die vorliegende Arbeit setzt es sich nicht zum Ziel, einen âventiure-Begriff zum analytischen Gebrauch zu umgrenzen. Statt dessen legt sie den Fokus auf die je (kon)textgebundene Verwendung von âventiure besonders in Zusammenhängen, die den poetologisch markierten Begriff mit Monstern in Verbindung bringen. Im Folgenden soll anhand einer Auswahl der Umgang der Forschung mit dem âventiure-Begriff skizziert werden. Die Arbeiten beziehen sich zumeist auf Einzeltexte bzw. sogar auf einzelne Textstellen. Sie können daher kein umfassendes oder generalisierbares Bild der âventiure oder ihrer Verwendung in selbstreflexiven Kontexten darstellen, wohl aber die bisherige Beschäftigung mit der Thematik ebenso wie die textuelle Evidenz umreißen und damit den Horizont meiner Untersuchung abstecken. Die Auseinandersetzung mit dem poetologischen Potenzial des Begriffs greift oft auf die für H ARTMANN und damit für den gesamten deutschsprachigen höfischen Roman prägende Absichtserklärung C HRÉTIENS zurück, d’un conte d’avanture/ une molt bele conjointure (ErC 14–15) zu formen. avanture wird hier als inhaltliche Spezifizierung einer mündlichen Literaturtradition verstanden, deren Übertragung in eine schriftliterarische Form mit dem Verweis auf die molt bele conjointure gerechtfertigt wird. Die Bedeutung von conjointure ist mindestens ebenso schwierig zu umreißen wie die von aventure/âventiure, sie wird in diesem Kontext meist als eine kompositorisch vermittelte Sinndimension verstanden. Die „sinnvermittelnde Struktur“397 der bele conjointure erschließt sich allerdings nicht durch eine integumentale oder anderweitig hermeneutische Lektüre, sondern sie umfasst die narrative „Organisation der Einzelelemente zu einem sinnvollen Ganzen“.398 avanture ist in diesem Kontext der Erzählstoff vor seiner narrativen Ausformung zu einer konsistenten Geschichte. Die mittelhochdeutsche Bearbeitung des Erec-Prologs ist verloren, so dass über seine Gestalt und insbesondere über die Übersetzung der entsprechenden Stelle nur spekuliert werden kann.399 Sicher ist jedoch, dass die kulturelle Refe-
397 H AUG , Walter, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, 2., überarbeitete und erweiterte URRICHTE HTE R , Brigitte, Fiktionalität in französiAuflage, Darmstadt 1992, S. 102. Vgl. dazu auch B URRIC schen Artustexten, in: Harald Haferland, Matthias Mexer (Hgg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, Berlin, New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19) S. 263–280, hier S. 273–279. 398 H AUG , Literaturtheorie, S. 102. 399 Ein Beispiel dafür bietet H AUG , Walter, der aventiure meine, in: ders. Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 447–463. [zuerst erschienen in: Peter Kesting (Hg.), Würzburger Prosastudien II, Untersuchungen zur Literatur und
1.3 Zwischenspiel: âventiure
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renz der mündlichen avanture-Geschichten in der mittelhochdeutschen Lebenswelt fehlte, so dass, wenn das oben zitierte Verspaar sinnvoll übersetzt werden sollte, eine Neubesetzung der Opposition gefunden bzw. eine poetologische Neudeutung des âventiure-Begriffs vorgenommen werden musste.400 Besonders eine Bemühung um die Integration der beiden Grundbedeutungen von âventiure hat sich für poetologische Lektüren als fruchtbar erwiesen. In jüngerer Zeit findet diesbezüglich die etymologische Argumentation von E LENA E BERWEIN 401 vermehrt Beachtung. Sie führt das altfranzösische aventure auf die lateinischen Verben advenire und evenire zurück.402 Die beiden Wörter – advenire mit den Bedeutungen „ankommen, hinkommen, hinzukommen“403 und evenire als „ausbrechen: [sic!] hereinbrechen, zufallen“404 – werden schon im antiken Latein in ihrer Verwendung nicht immer klar voneinander unterschieden. Im religiösen Konzept des adventus als „Eintreffen (und im christlichen Gebrauch „Verweilen“) des Jenseitigen, Göttlichen in einem diesseitigen [sic!]“405 sieht E BERWEIN die Verschmelzung der beiden Bedeutungen wirkmächtig realisiert: Der christlich-theologische Begriff bildet für sie auch das „Gelenk, das mit den mittelalterlichen Bedeutungen von aventure verbindet.“406 Das altfranzösische aventure sowie das mittelhochdeutsche âventiure werden also an das Konzept der Epiphanie rückgebunden.407
Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag, München 1975 (Medium Aevum 31), S. 93– 111]. 400 Versuche, C HRÉTIENS Opposition von aventure und conjointure als histoire und discours (bzw. vermittelter wie vermittelnder Sinn) in den mittelhochdeutschen Kontext zu übertragen haben AT TO unternommen. Sie stützen sich dabei beide auf G OTTF OTT FRIEDS RIEDS VON Walter H AUG und A.T. H ATTO S TRA ß BURG Literaturexkurs, und übernehmen daraus die im Zusammenhang mit H ARTMANNS ART MANNS Werk betonte der âventiure zugeschriebene meine als Entsprechung für conjointure. Vgl. H ATT AT TO O, A. T., der aventiure meine in Hartmann’s Iwein, in: Medieval Studies Presented to Frederick Norman by his Students, Colleagues and Friends on the Occasion of his Retirement, London 1965, S. 64–103 sowie H AUG , aventiure meine. 401 E BERWE IN , Elena, Zur Deutung mittelalterlicher Existenz (nach einigen altromanischen Dichtungen), Köln 1933 (Kölner romanistische Arbeiten 7). Darin besonders das Kapitel 2. Die Aventure in den altfranzösischen Lais, S. 27–53. BERWE IN , Mittelalterliche Existenz, S. 29–31, hier bes. S. 30. 402 Vgl. E BERWEIN 403 E BERWE IN , Mittelalterliche Existenz, S. 30. 404 E BERWE IN , Mittelalterliche Existenz, S. 30. 405 E BERWE IN , Mittelalterliche Existenz, S. 30. ERTE NS 406 E BERWE IN , Mittelalterliche Existenz, S. 30. Ohne Rekurs auf Eberwein findet Volker M ERTENS eine ähnliche Figur, indem er den Ereignischarakter der âventiure als „erzähltes Ereignis“ und ERT ENS NS , Frau Âventiure, S. 340. „Ereignis des Erzählens“ fasst, vgl. M ERTE BSANFT , aventure, S. 316 und S T TÖRMER ÖRMER -C AY SA , 407 Widerspruch gegen diese These haben z. B. L EEBSANFT Grundstrukturen, S. 162 formuliert.
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W EGERA nimmt diesen Gedanken auf und legt seiner semantischen Analyse von âventiure die „Vorstellung des Sichtbarwerdens von etwas Jenseitigem im Diesseitigen im Sinne eines Zeichens“408 zugrunde. Aus dieser Figur leitet er sämtliche oben beschriebenen Bedeutungsvarianten ab. S TROHSCHNEIDER widerspricht im Hinblick auf den semiotischen Anspruch dieser Argumentation mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen einem „epiphantischen Zur-Erscheinung-Kommen“ und „zeichenhafter Stellvertretung“.409 Doch auch S TROHSCHNEIDER folgt E BERWEINS Grundannahme. Er betont in Bezug auf die Doppelbedeutung von âventiure als ‚Geschehen‘ und ‚Erzählung eines Geschehens‘ die „historische Nicht-Selbstverständlichkeit jener differenzierten Zeichenlogik“410 und verschiebt die Dualität von der allgemeinen semantischen Ebene auf einen spezifischen narrativen Kontext. In dem literarisch mehrfach thematisierten Brauch, gemäß dem das Essen am Artushof an die vorangegangene Ankunft einer âventiure gebunden ist, sieht er einen Präsenzeffekt, in welchem sich aus der performativ-ritualisierten âventiure-Erzählung „in einer Art von Epiphanie der adventus der âventiure im Erzählakt selbst ereignet“.411 Die Erzählung und ihr Inhalt sind demnach nicht klar voneinander zu scheiden und können – wie es im Artusroman auch immer wieder geschieht – ineinander umschlagen und einander bedingen. In dieser entdifferenzierenden Figur wären die in mittelhochdeutschen Romanen berichteten âventiure-Erzählungen nicht mehr als metadiegetische Erzählungen zu behandeln, sondern – so S TROHSCHNEIDERS These – werden zu Instanzen eines vormodernen Textbegriffs, in dem Ereignisse und Berichte miteinander verwoben sind.412 Erst in der Loslösung des âventiure-Erzählens vom Essensritual beginnt für ihn die zeichenlogische Unterscheidung von Geschehen und Bericht.413 S TROHSCHNEIDERS Argumentation ist in zweierlei Hinsicht problematisch. In ihrer Aussagekraft ist sie stark an das Essensritual gebunden, dessen Überlieferung besonders in den späteren Artusromanen zwar zu einiger Verbreitung kommt, mitnichten aber universalisiert werden kann.414 Insbesondere ist in den
408 W E GERA , âventiure, S. 234. TROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 378. 409 S TROHSCHNEIDER TROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 377. 410 S TROHSCHNEIDER TROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 379. 411 S TROHSCHNEIDER T ROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 380–381. 412 Vgl. S TROHSCHNEIDER T ROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 381–382. 413 Vgl. S TROHSCHNEIDER RTZ DORFF , Xenja von, König Artus’ site: nehein rîter vor im az/ des 414 Zum Fastengelübde vgl. E RTZDORFF tages swenn âventiure vergaz/ das si sînen hof vermeit (Parz 309,6ff.), in: Rüdiger Krüger, Jürgen Kühnel, Joachim Kuolt (Hgg), ist zwîvel herzen nâchgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1989, S. 193–201, L IEB , Ludger, Essen und Erzählen. Zum Verhältnis zweier höfischer Interaktionsformen, in: Ludger Lieb, Stephan Müller, Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und
1.3 Zwischenspiel: âventiure
103
Belegen die für S TROHSCHNEIDER TROH SCHNEIDER zentrale Dimension der Handlungsinitiierung durch die an den Artushof herangetragene Nachricht nicht immer gegeben. Bei der hungrig erwarteten âventiure handelt es sich nicht in jedem Fall um eine Provokation, die das „Aktionsprogramm für den beginnenden Tag“415 vorgibt und den Auszug der Artusritter bewirkt, sondern allgemeiner gefasst um „das Erzählen [eines] identifikatorischen Ereignisses“,416 das – sei es als Störung, sei es als einfache Nachricht – „das Wesen des Artushofes, die Idealität des Rittertums, seine Ordnungs- und Integrationsleistung betrifft“.417 Die an den Hof herangetragene âventiure-Erzählung wäre demnach nicht auf die mit ihr präsentisch hereinbrechende antiarthurische Gegenwelt zu beschränken, sondern in sich wesenhaft auf die Artusgesellschaft und ihren ideellen Kern bezogen. Der zweite Einwand betrifft die Frage der Sinnstiftung. Die narrative Seite der âventiure zerfällt in zwei medial unterschiedene Aspekte, den Bericht als Akt der sprachlichen Vermittlung und als sprachlich Vermitteltes im Sinn einer Erzählung.418 S TROHSCHNEIDER schließt den Erzählakt eng mit dem Erzählinhalt zusammen, den er im Erzählvorgang am Artushof in einem Präsenzeffekt „sinnlich verkörpert“419 sieht. Das sprachlich Vermittelte als narrativ strukturiertes Ganzes wird in dieser Figur nicht berücksichtigt. Doch es ist, so argumentiert M IREILLE S CHNYDER , der vollständige und geordnete Bericht, die Erzählung, welche kontingente âventiure-Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang setzt420 und sie so überhaupt für den Artushof als relevant und in einem zweiten Schritt auch potenziell handlungsmotivierend erschließen kann. In diesem Verständnis wird die Dualität von Geschehen und Wiedergabe eines Geschehens auf die Zweiheit einer sich in ihrer Unmittelbarkeit präsenzhaft manifestierenden kontingenten Handlung einerseits und einer sinnstiftenden Erzählung dieser Handlung andererseits projiziert. Die Handlung
Kulturgeschichte 20 (254)), S. 41–67 und W ANDHOFF , Haiko Künec, vernemt von mir! Zur Problematik des ehrenhaften Erzählens von der eigenen Person im Artusroman, in: Ludger Lieb, Stephan Müller, Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, Berlin, New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20 (254)), S. 123–142. W ANDHOFF führt W OLFRAMS Parzival, W IRNTS IRNT S Wigalois, H EINRICHS VON DEM T ÜRLIN Crône, den AT ZIKHOVEN IKHOVEN Lanzelet, das MantelDaniel von dem Blühenden Tal des S TRICKER , U LRICHS VON Z ATZ EIE R und den Jüngeren Fragment, den Prosalancelot, Meleranz und Tandareis und Flordibel des P L EIER Titurel als Belegstellen an (W ANDHOFF , Künec, vernemt von mir!, S. 130–131). TROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 380. 415 S TROHSCHNEIDER IE B , Essen und Erzählen, S. 66. 416 L IEB IE B , Essen und Erzählen, S. 66. 417 L IEB 418 Letzteres ist nicht zu verwechseln mit dem erzählten Geschehen. TROHSCHNEIDE R , âventiure, S. 380. 419 S TROHSCHNEIDER CHNYDE R , Sieben Thesen, S. 369–371 sowie S CHNYDE CHNYDER R , âventiure, S. 260–265. 420 Vgl. S CHNYDER
104
1 Theorie, Methode und Monster
muss, um sie für das Ordnungssystem des Artushofs ‚lesbar‘ zu machen, in eine narrative Struktur überführt werden. Durch diese Deutung ergibt sich wiederum die Möglichkeit eines Umschlags vom Erzählen zum Handeln. Nur für den Artushof bedeutsame Erzählungen erzeugen einen Handlungsbedarf. Die narrative Überformung wird zur Voraussetzung für neue Handlungen. Diese Figur ist mit der für C HRÉTIENS Erec et Enide-Programm festgestellten Dualität von histoire und discours vergleichbar. Was im altfranzösischen Text auf das Zusammenspiel von contes d’avanture und molt bele conjointure aufgeteilt wurde – die unstrukturierte ‚Rohform‘ einer Geschichte421 einerseits, ihre strukturierte Wiedergabe andererseits – wird hier im Konzept der âventiure integriert. W EGERAS Verständnis der âventiure als „Vorstellung des Sichtbarwerdens von etwas Jenseitigem im Diesseitigen im Sinne eines Zeichens“422 kann in dieser Hinsicht präzisiert werden. Zwar lässt sich Präsenz nicht mit den Mitteln der Semiotik fassen, doch sind die von W EGERA angeführten Beispiele nicht auf ihre Präsenz reduzierbar und somit doch durch einen semiotischen Ansatz zu greifen. „Das wunderbare Geschehen, der Zufall, das Schicksalhafte wie auch die ritterliche Herausforderung zur „Prüfung auf Sein und Wert““423 bieten sich im âventiure-Geschehen zwar als unvermittelte und kontingente Ereignisse dar, werden aber erst im Nachhinein, im Erzählakt mit Sinn versehen und gedeutet. Das „Geschick des Einzelnen“ wird „durch die Artifizialität der Nacherzählung konstituiert“424 und ist nicht in den Ereignissen selbst evident.
1.3.3 âventiure – ungehiure
525
ich sprach ‚ich wil dich wizzen lân, ich suoche âventiure.‘ dô sprach der ungehiure ‚âventiure? waz ist daz?‘ (Iw. 524–527, Hervorhebungen CG)425
421 Sie entspräche als kunstlose Aneinanderreihung von berichteten Ereignissen dem Geschehen. 422 W E GERA , âventiure, S. 234. 423 W E GERA , âventiure, S. 234, das Zitat im Zitat bezieht sich auf E BERWEIN , Mittelalterliche Existenz, S. 30. CHNY DER , Sieben Thesen, S. 369. 424 S CHNYDER 425 Ich sprach: ‚Ich will es dir sagen, ich suche aventiure.‘ Da sagte der Unhold: ‚aventiure, was ist RAME R ). das?‘ (Übers. nach C RAMER
1.3 Zwischenspiel: âventiure
5470
4890
105
ER suocht auentivre Zeinem risen vngehivre, Der waz gesezzen bei dem mer [...] (Cr. 5469–5471, Hervorhebungen CG)426 sinem bracken was do kunt vil der aventuͤ r wild und ungehuͤ r. (WvÖ 4888–4890, Hervorhebungen CG)427
Drei willkürlich aus einer Reihe von Belegen ausgewählte Beispiele reproduzieren einen für diese Arbeit zentralen Leseeindruck: âventiure und das Monströse – hier im Lemma ungehiure gefasst – stehen einander nahe.428 Dieser Eindruck ist zumindest in Teilen statistisch belegt. W EGERA hat in seiner Korpusanalyse mit ca. 200 Belegen für âventiure am Versende in über 50 % der Fälle die Reimwörter stiure oder gehiure/ungehiure nachgewiesen.429 Diese Nachbarschaft ist nicht zufällig. Die Abhängigkeit der beiden Begriffe beschränkt sich nicht auf die phonetische Ähnlichkeit der beiden Reimwörter. âventiure und das Monströse sind durch eine Reihe von semantischen und strukturellen Parallelen miteinander verbunden, die ihre motivische und handlungslogische sowie ontologische Nähe abbilden, wie die folgende lose Beispielreihe illustriert. Topographisch teilen sich die âventiure und das Monströse einen Raum. E LISABETH S CHMID geht so weit, von einer „obligatorische[n] Verbindung des
426 Er suchte bei einem ungeheuren Riesen Aventiure, der am Meer hauste (Übers. nach K RAGL ). 427 Sein Bracke kannte viele wilde und ungeheuerliche Aventiuren (Übers. CG). 428 Traditionsstiftend ist wahrscheinlich die Waldmann-Szene in H ARTMANNS Iwein (Iw. 524– 627), vgl. S CHMID , Hybride Figur, S. 145. Zur Semantik von ungehiure bzw. allgemein zu Bezeichnungen des Monströsen siehe das Kapitel 1.2.1. Das Bedeutungsspektrum des Begriffs ist breit, daher ist die nun folgende Reihe nicht homogen. Die Figuren sind nicht in allem vergleichbar, aber sie teilen gewisse Merkmale. 429 W E GERA , âventiure, S. 232. Weitere Kookkurenzen der beiden Begriffe in syntaktischen oder semantischen Einheiten (ohne durch die Reimposition verbunden zu sein) werden von dieser GERA Analyse nicht erfasst, sind aber anzunehmen. Zur absoluten Häufigkeit der drei von W EEGERA zusammengenommenen Reimwörter von âventiure liefert die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/mhdbdb/App, Zugriff am 04.02.2012, 15:00 Uhr) unabhängig von der Reimposition annähernd gleich viele Belege für gehiure und ungehiure (331 und 319), etwa 15 % weniger für stiure (280). Aus diesen Zahlen kann statistisch nicht einwandfrei auf die Häufigkeit der einzelnen Reimwörter geschlossen werden, sie bieten aber einen allgemeinen Hinweis. Die Verbindung von âventiure mit stiure ist im Sinne einer ordnenden oder richtungsweisenden, aber auch antreibenden Kraft, ist im poetologischen Kontext ebenfalls relevant.
106
1 Theorie, Methode und Monster
Monstrums mit dem Bereich des Abenteuers“430 zu sprechen. Außerhöfische Bereiche, Wald und Wildnis, ebenso anderweltlich oder gegenweltlich codierte Räume wie loci amoeni entsprechen der dezentralen Lokalisierung monströser Gestalten. Die Ordnungen in Frage stellenden Orte korrespondieren mit der physischen und sozialen Nonkonformität ihrer Bewohner. Es sind solche Orte, die der Ritter aufsucht, um âventiuren zu bestehen. Handlungslogisch können die Monster entsprechend auch außerhöfische Gegner,431 Kontrastfiguren zum höfischen Ideal darstellen, deren Bekämpfung als ordnungsstiftender Akt den Kern der âventiure ausmacht. In diesem Sinn ist die zu Beginn des Abschnitts angeführte Stelle aus der Crône zu sehen. Gawein sucht âventiure als ritterliche Bewährung im Kampf gegen den Riesen Assiles.432 Ihren äußeren Umständen entsprechend kann die âventiure wie im oben zitierten Beispiel aus dem Wilhelm von Österreich auch wild und ungehuͤ r sein. Ähnliche Narrative finden sich (um nur einige zu nennen) im Erec, im Tristan, im Wigalois und im Daniel von dem Blühenden Tal.433 Die Räume, in welchen âventiure und das Monströse koinzidieren, können durch eine besondere Zeitstruktur gekennzeichnet sein: Der ewige Frühling des locus amoenus in Mabonagrins Baumgarten (Er. 8714–8743) oder auf der Lichtung des aventuͤ r hauptman (WvÖ 3122–3135) verweist auf eine ähnlich mythisch-zyklisch homogene Zeit wie das unaufhörliche Ringen der dem Waldmann unterstellten wilden Tiere (Iw. 405–408), oder das nächtlich brennende aber nie verbrennende Feuer in Korntîn (Wig. 4299–4312). Doch nicht allein Raum und Zeit, auch das Motiv des Übergangs oder der Grenzüberschreitung führt den auf âventiure ausreitenden und die Sphäre des Eigenen verlassenden Protagonisten in bzw. durch den Bereich des Monströsen. Monster als hybride Grenzfiguren können dem Ritter in solchen Zwischenräumen als Wächter oder Wegweiser entgegen treten. Der Waldmann im Iwein und der intertextuell stark auf ihn bezogene aventuͤ r hauptman im Wilhelm von Österreich
430 S CHMID , Hybride Figur, S. 145. 431 Das Außerhöfische kann in unterschiedlichen Ausprägungen der Alterität (Fremdheit, Wunderbares, Dämonisches) manifestiert sein. 432 Die mit der zitierten Stelle einsetzende Assiles-Handlung macht einen großen Teil der Gawein-Episoden aus. Sie wird in zwei Abschnitten erzählt (Cr. 5469–7852 und 9129–10112) und endet mit dem Sieg über den Riesen. Bis dies vollbracht wird, muss Gawein eine Reihe von anderen Proben bestehen, insbesondere Kämpfe gegen die vier Zöllner des Riesen, gegen einen Wassermann und ein wildes Weib und den zweiten Riesen Galaas. 433 Erecs Kampf gegen die zwei Riesen (Er. 5354–5559) bedient dieses Motiv, ebenso ist Tristans Kampf gegen den Riesen Urgân (Tr. 15915–16210) mit diesen Motiven ausgestattet, entsprechende Anklänge finden sich auch in Tristans Drachenkampf, besonders ironisch gebrochen in der Figur des feigen Truchsessen (Tr. 8897–9390). Auch zu nennen wären Wigalois’ Roaz-Feldzug (Wig. 7273–7903) und Daniels Auszug gegen den König Matûr (Da. 957–1074).
1.3 Zwischenspiel: âventiure
107
besetzen diese Systemstelle, wobei sich in ihnen Motive des Wächters mit der Funktion des Wegweisers verbinden. Monster fungieren auch als Führer über Grenzen hinweg und in unbekannte Gefilde. Cundrîe führt Parzival nach Jahren der vergeblichen Suche zur Gralsburg, das schöne Tier geleitet den Helden im Wigalois in das Jenseitsreich Korntîn (Wig. 3851–3883 und 4480–4534) und im Wilhelm von Österreich führt der seltsame Hund Fuͤ rst (eine Gabe des aventuͤ r hauptman) den Protagonisten von âventiure zu âventiure (WvÖ 3364–3370 und passim). Als unterschiedliche Bereiche integrierende und Grenzen transzendierende Wesen sind monströse Gestalten zudem als Boten prädestiniert, die âventiureNachrichten transportieren können. So überbringt Cundrîe dem Artushof nicht nur Informationen zu Parzivals Identität und zu seinen Verfehlungen des Verwandtenmords an Ithêr und der fehlenden Erlösungsfrage auf der Gralsburg, sondern verweist auch auf die im Schastel marveil zu erlangende âventiure, die im Verlauf des Romans von Gâwân zu bestehen sein wird (Pz. 312,2–318,30, bes. 318, 16–22).434 Im Wigalois überbringt die anderweltlich schöne Nêrejâ mit ihrem Zwerg das Hilfeersuchen ihrer Herrin als eine groziu âventiure/ diu ist vil ungehiure (Wig. 1762–1763). Der Bote des Meerkönigs in der Crône schließlich erlöst mit seiner Ankunft den sich nach âvetiure verzehrenden Artushof (Cr. 918–1204). Wie die âventiure beeinflussen Monster nicht nur das Geschehen, sondern auch die narrative Struktur der Texte. Sie können quer zur Handlung als Movens einschreiten und einem Deus ex machina ähnlich ausweglose Situationen auflösen, ebenso wie âventiuren als Handlungsdesiderat immer wieder die Stasis des arthurischen Festes aufbrechen. In dieser Eigenschaft spielt die schon angeführte Wegweiser- und Botenfunktion eine Rolle. Doch auch ihre unerwartete Präsenz im Sinn einer Provokation kann dem Geschehen eine neue Richtung geben. In S TRICKERS Daniel von dem Blühenden Tal wird, nachdem alle Konflikte gelöst zu sein scheinen und der Artushof schon in den Hochzeitsfeierlichkeiten begriffen ist, ein neuerlicher Auszug des Titelhelden nötig, nachdem Artus durch den Rache übenden Vater von zwei im Lauf des Romans getöteten Riesen entführt wird (Da. 6885–7904). Einen narratologischen Sonderfall stellt der Herzog Ernst B dar, in dem das auf seinen Reisen erworbene monströse Gefolge des Protagonisten wiederholt zum Erzählanlass wird435 und in dieser Eigenschaft zur Ver-
434 Ihr Bruder Malcrêatiure ist ebenfalls in Botenmission unterwegs, wenn auch seine Botschaft nicht expliziert wird, vgl. Pz. 517,11–522,30 bes. 517,11–19. 435 Diese Eigenschaft entfaltet sich sogar im nach den gängigen Maßstäben von Fremd und Eigen deutlich dem Fremden zuzuordnenden Môrlande (HE 5442–5470), weiterhin erzählen Boten dem Kaiser von Ernsts Gefolge (HE 5710–5726). Aus Rom darf Ernst erst weiterziehen, nachdem er seine sämtlichen Erlebnisse erzählt hat. Grund für die Wissbegierde der Römer sind wieder die
108
1 Theorie, Methode und Monster
söhnung Ernsts mit dem Kaiser beiträgt. Der Kaiser begnadigt Ernst zunächst unerkannt und kann ihm seine Gunst aufgrund des politischen Drucks seiner Ratgeber nicht wieder entziehen (HE 5922–5959). Die Versöhnung wird erst abgeschlossen, nachdem Ernst sein Gefolge zum Kaiser kommen lässt, ihm einen Teil der wunder (HE 5983) überlässt und ihm während zwölf Tagen seine sämtlichen Erlebnisse, insbesondere wie er die Monster erworben hat, erzählt. Nach der durch den Kaiser beauftragten Niederschrift von Ernsts Geschichte wird er in sämtliche Würden restituiert (HE 5970–6022). Umgekehrt geben monströse Figuren auch Anlass, die Handlung zu unterbrechen und die Narration zu retardieren.436 In doppelter Hinsicht exemplarisch ist hierfür die Rûel-Episode im Wigalois. Der Protagonist gerät in eine Sackgasse, aus der er nach der gefährlichen Konfrontation mit der wilden Frau wieder zu seiner eigentlichen Aufgabe, zur eigentlichen Geschichte zurückkehrt (Wig. 6250–6544). Auch narratologisch vollzieht sich hier ein Bruch. Während der Beschreibung des monströsen Körpers verdichtet sich eine Reihe von intertextuellen Verweisen zu einer literarischen Standortbestimmung, die descriptio wird poetologisch transzendiert. Über ihre intradiegetisch-handlungslogische Verbindung hinaus teilen sich die âventiure und das Monströse auch charakteristische Eigenschaften. Ihre Nähe kann bis in eine Überblendung der beiden Konzepte gesteigert werden, indem die monströse Gestalt wie der aventuͤ r hauptman im Wilhelm von Österreich als Verkörperung der âventiure lesbar wird (WvÖ 3260–3343). Doch auch in weniger konsequenten Annäherungen sind Parallelen sichtbar. Der hybride monströse Körper in seiner scheinbar regellosen Zusammenstellung inkorporiert das die âventiure mitbestimmende Prinzip der Kontingenz. Auch bezüglich ihres Auftretens erscheinen Monster – wie die âventiure im Sinn ihres unvermittelten Erscheinens – häufig plötzlich, scheinbar zufällig und in einer einzigartigen, nicht reproduzierbaren Situation. So verschwinden monströse Gestalten oft nach einem einzigen Auftritt aus der Narration, auch wenn die ihnen zugewiesenen Orte wiederholt als Handlungsschauplatz dienen. Der Brunnenort im Iwein wird im Lauf des Textes mehrfach von unterschiedlichen Figuren aufgesucht. Nach dem zweiten Mal, bei dem Iwein Kalogrenants Geschichte bestätigt, wird der Waldmann, der während der von Kalogrenants und Iweins Ausritt
seltsaeniu wunder, sein Gefolge (HE 5807–5824). Zurück in Bayern wird das monströse gesinde sorgfältig versteckt, damit Ernst auf seinem Weg zum Hoftag in Bamberg nicht erkannt wird (HE 5825–5844). 436 Dies ist strukturell vergleichbar mit metadiegetischen âventiure-Erzählungen oder Nebenschauplätzen, die dem erklärten Handlungsziel entgegen laufen. Der verdoppelte Protagonist des Parzival und die Aufteilung der Narration in zwei Handlungsstränge wären ein Beispiele für diesen Fall.
1.3 Zwischenspiel: âventiure
109
umspannten zehn Jahre der Zeit enthoben auf der Lichtung verortet war, nicht mehr erwähnt. Die Präsenz von Monstern ist, so könnte man daraus schließen, wie die âventiure an gewisse Bedingungen geknüpft. Beide manifestieren sich ephemer437 und zwar in Funktionen, die oft auf einzelne Figuren ausgerichtet und an sie gebunden sind. In der Regel ist es der Protagonist, dem sich âventiuren und Monster entgegen stellen. âventiuren als Aufgaben, die ihm zu lösen bestimmt sind und deren Bestehen, wie im Fall der Baumgarten-Episode im Erec (Er. 9643– 9660), den sie umgebenden gegenweltlich codierten Raum für den Artushof erschließt. Indem die Bedrohung eliminiert und in die Sphäre des Bekannten integriert wird, verschwindet nach dem siegreichen Kampf die Möglichkeit zur âventiure als Reaktion auf eine Provokation. Monster können als âventiure-Gegner auftreten, oder sie fungieren als die schon erwähnten Wächter- oder Assistenzfiguren, die dem Helden einmalig – und oft zu Beginn seines Auszugs – die Richtung weisen und ihn beim Übertritt in fremde Gefilde unterstützen. Dies tun sie nicht nur deiktisch-topographisch, sondern indem sie dem Protagonisten Erläuterungen zu seinem weiteren Weg mitgeben, Zusammenhänge erschließen, seine Fragen beantworten, oder selber Fragen aufwerfen, transzendieren sie die handlungslogische Dimension zugunsten eines selbstreflexiv-poetologischen . In der Interaktion mit monströsen Wesen kann somit eine reflexive Dimension in den Text Einzug halten – nicht selten unter Rückgriff auf den âventiure-Begriff. Eine poetologische Lektüre monströser Gestalten ist nicht an ihre Wegweiserfunktion gebunden. Das reflexive Potenzial der Figuren erschöpft sich auch nicht in ihrer intradiegetischen Positionierung oder in Dialogen, die sie mit anderen Figuren führen. Da der Auftritt von Monstern in der Regel zunächst ihren devianten Körper in den Fokus rückt – es gibt, um die Ergebnisse von Kapitel 1.2 hier kurz zu rekapitulieren, weder einfache Bezeichnungen noch unstrittige Kategorisierungsmöglichkeiten für diese Gestalten, die daher jeweils über eine detaillierte Beschreibung in Ordnungen überführt werden müssen – wird auch der monströse Körper selber zum Deutungsgegenstand. So wird die kontingente Gestalt zu einer Ordnungsfigur. Monster sind im Einklang mit ihrem antiken Erbe als portenta in ihrer Körperlichkeit Gestalten, die eine Bedeutung transportieren und einer Deutung bedürfen. Ihr Gegenüber – den Protagonisten sowie den Rezipienten – stellen Monster und âventiure daher vor eine ähnliche Aufgabe. Wie in der âventiure vereinigen sich im Monster eine kontingente Seite mit einem Deutungspotenzial und einem Deutungsdesiderat. Die Präsenz und Unmit-
437 Diese Eigenschaft korrespondiert mit der Kurzlebigkeit der klassischen portenta nach I SIDOR VON S EVILLA , die ihre Verweisfunktion nur ausfüllen können, wenn sie bald nach der Geburt sterben, vgl. Isid. orig. XI, 3,5.
110
1 Theorie, Methode und Monster
telbarkeit des âventiure-Geschehens entsprechen der Provokation des monströsen Körpers, die sinnbildende Überführung des kontingenten Geschehens in eine stringente âventiure-Geschichte der Ausdeutung des monströsen Körpers in eine sinnvolle Ordnung hinein. In beiden Fällen ist der Ordnungseffekt ein selbstreflexiv-poetologischer.
2 H ARTMANNS VON A UE Iwein Die Rezeption des Iwein und seine wissenschaftliche Betrachtung lassen sich als Geschichte der Mediävistik lesen, er wurde beginnend mit dem Ursprung der Disziplin in buchstäblich allen Zusammenhängen gelesen. Ein den Rahmen sprengender Forschungsüberblick soll an dieser Stelle daher nicht unternommen werden. Dafür sei auf die Überblicksdarstellung von C HRISTOPH C ORMEAU und W ILHELM S TÖRMER verwiesen,438 sowie auf die Apparate der beiden neuesten Editionen des Textes.439 Im Verlauf des Kapitels wird jeweils punktuell auf einzelne Forschungsdiskurse einzugehen sein.
2.1 Die Unverfügbarkeit von âventiure Das volle semantische Spektrum des âventiure-Begriffs wird im Iwein nicht ausgeschöpft. Das Lemma âventiure wird nur sehr sparsam440 und in klar umgrenzten Kontexten verwendet. Der Text ruft allerdings trotz dieser Beschränkung, wenn auch in quantitativ stark unterschiedlicher Gewichtung, die beiden Grund-
438 C ORMEAU ORME AU , Christoph, S TÖRMER T ÖRMER , Wilhelm, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, 3., aktualisierte Auflage, München 2007, S. 194–226. ART MANN VON A UE , Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein. Text und Kommentar, hg. und 439 H ARTMANN übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt/M. 2008 (Deutscher Klassikerverlag im Taschenbuch 29) und H ARTMANN VON A UE , Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. und übersetzt von Rüdiger Krohn, kommentiert von Mireille Schnyder, Stuttgart 2011. Eine umfassende Darstellung ÄT Z : B ÄTZ , Oliver, Konfliktführung der Forschungslage bietet auch die Dissertation von O LIVER B ÄTZ im Iwein des Hartmann von Aue, Aachen 2003, S. 37–80. S. auch die neuesten Arbeiten: G REULICH , Markus, Stimme und Ort. Narratologische Studien zu Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue RITTMAT-und Wolfram von Eschenbach, Berlin 2018 (Philologische Studien und Quellen 264), S TTRITTMAT TE R , Ellen, Poetik des Phantasmas. Eine imaginationstheoretische Lektüre der Werke Hartmanns TER von Aue, Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 15), H UFNAGE L , Nadine, Ein Mann allein im Wald. Krisen im zeitgenössischen und im hochmittelalterlichen Iwein (Felicitas Hoppe, Auguste Lechner, Hartmann von Aue), in: Nadine Hufnagel, Susanne Knaeble, Silvan Wagner, Viola Wittmann (Hgg.), Krise und Zukunft in Mittelalter und (Früher) Neuzeit: Studien zu einem transkulturellen Phänomen. Festschrift für Gerhard Wolf zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2017, S. 47–72, R IPPL , Coralie, Der Traum vom Wilden als Spielfeld ‚dunklen‘ Erzählens in der höfischen Epik (Parzival, Iwein, Tristan), Wolfram-Studien 25, S. 225–256. 440 Eine solche Einschätzung ist nur in Relation zu anderen Texten aussagekräftig. Im Vergleich zur Breite des in Kapitel 1.3 skizzierten âventiure-Verständnisses sowie in der Gegenüberstellung mit anderen zeitnahen Texten, u. a. dem Erec und dem Parzival lässt sich diese Beobachtung festhalten.
https://doi.org/10.1515/9783110345353-003
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2 H ART AR TMA MANNS NNS VON A UE Iwein
bedeutungen von âventiure als „Wiedergabe eines Geschehens“441 und als ‚Geschehen‘ auf. Von den zehn Nennungen der âventiure wird im Iwein mit dem Begriff nur an einer Stelle die Quelle der Geschichte, also der Bericht von einem Geschehen bezeichnet. Nach der Auseinandersetzung mit vrou Minne über die von ihr behauptete Möglichkeit eines Herzenstauschs (Iw. 2971–3019), beruft sich der Erzähler am Ende des Streitgesprächs auf seine Quelle: ichn weiz ir zweier wechsel iht,/ wan als diu âventiure giht (Iw. 3025–3026).442 In sieben weiteren Fällen steht das Lemma im Kontext der Suche – so erklärt Kâlogrenant dem Waldmann ich suoche âventiure (Iw. 525) – oder es wird als Ziel eines Ausritts genannt: Auf der gastlichen Burg erzählt Kâlogrenant, dass er nâch âventiure reit (Iw. 372).443 Die letzten beiden Nennungen der âventiure sind nicht ohne weiteres einer der beiden Grundbedeutungen zuzuweisen. Sie finden sich in der Rede des Waldmanns, zum einen in seiner Frage: âventiure? waz ist daz? (Iw. 527), zum anderen seine skeptisch-erstaunte Feststellung: 547
ichn gehôrte bî mînen tagen selhes nie niht gesagen waz âventiure waere (Iw. 547–549).444
Alle Nennungen haben, dies soll im Folgenden gezeigt werden, eines gemeinsam: Die âventiure wird in ihnen zwar genannt, bleibt selbst aber abwesend. Als Gegenstand einer Suche oder Ziel des ziellosen, d. h. inhaltlich nicht konkretisierten, ritterlichen Ausritts ist âventiure in den beschriebenen Kontexten ein Desiderat, eine Leerstelle, die das Erzählen in Bewegung hält. Sie wird niemals explizit eingeholt oder gefunden, sie wird nicht erreicht oder auch nur eindeutig dingfest gemacht bzw. identifiziert. Strukturell ähnlich verhält es sich mit den Äußerungen des Waldmanns: Als Gegenstand einer Definitionsfrage und in der konjuktivisch gleichsam in den Irrealis gesteigerten mehrfach verneinten Feststellung, dass er noch nie gehört habe, was âventiure waere ist die âventiure ähnlich ostentativ absent wie in der Suche des ausreitenden Kâlogrenant. Darüber hinaus ist die âventiure auch als Quelle nicht ohne weiteres verfügbar. Die Quellenberufung anlässlich des Herzenstauschs kann den zur Dis
441 W E GERA , âventiure, S. 234. 442 Ich weiß nichts über ihrer beider Tausch als daß, wie meine Quelle berichtet […] (Übers. nach C RAMER ). 443 Der Kontext der Suche findet sich auch in Iw. 377 und 6331, der Ausritt in Iw. 261, 372, 631 und 3918. 444 In meinem Leben habe ich nicht so etwas gehört, was es mit aventiure auf sich habe (Übers. nach C RAMER ).
2.1 Die Unverfügbarkeit von âventiure
113
kussion stehenden Sachverhalt nicht klären, sondern bleibt bezüglich ihres Wahrheitswerts sowie ihrer Funktion in der Schwebe. Narratologisch betrachtet handelt es sich um eine Metalepse. Die personifizierte Minne greift in die Schilderung des Abschieds von Îwein und Laudîne ein und bezichtigt den von der Trennung der Liebenden berichtenden Erzähler der Lüge. In einem ausführlich geschilderten strît (Iw. 2984) wird die Frage der Möglichkeit eines Herzenstauschs behandelt.445 Die Minne tritt dabei zunächst in Konkurrenz zur Vorlage, welcher der Erzähler so, wie es ihm selber vür wâr geseit (Iw. 2980) ist, zu folgen vorgibt. Der Erzähler wird danach zur vermittelnden Instanz nicht nur der Vorlage, sondern auch des von der Minne behaupteten komplexen Sachverhalts, welcher die Vorlage überschreitet: 2985
2991
unz sî [die Minne] mich brâhte ûf die vart daz ich ir nâch jehende wart. er [Artus] vuorte dez wîp und den man, und volget im doch dewerderz dan, als ich iu nû bescheide. sî wehselten beide der herzen unter in zwein (Iw. 2985–2991, Hervorhebung CG)446
Angesichts der Aporie des aus dem Tausch resultierenden beiderseitigen Herzensverlusts flammt der Streit erneut auf und eskaliert bezüglich der Frage, ob ein herzelôse[r] lîp (Iw. 3018), wie Îwein einer wäre, überhaupt noch die Fähigkeit hätte zu kämpfen.447 Die Minne verweist auf eine durch sie verliehene und durch
445 Zur Herzmetaphorik allgemein und zum Herzenstausch im Besonderen vgl. U HL , Susanne, Der Erzählraum als Reflexionsraum. Eine Untersuchung zur Minnelehre Johanns von Konstanz und weiteren mittelhochdeutschen Minnereden, Frankfurt/M. u. a. 2010 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 48), S. 79–97, bes. S. 80–84, weiterhin: T UCZAY , Christa, Differente Implikationen vom Herzenstausch, in: Johannes Keller, Florian Kragl (Hgg.), Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer, Wien 2009, S. 499–520, immer noch grundlegend E RTZ RT ZDORF DORF , Xenja von, Das ‚Herz‘ in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur, Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 84 (1962), S. 249–301 und E RTZDORF , Xenja von, Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame, Zeitschrift LLINEK K , Christian: Zu für deutsche Philologie 84 (1965), S. 6–46; dagegen wenig hilfreich: G EELLINE Hartmann von Aues [sic!] Herzenstausch: Iwein vv. 2956–3028, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 6 (1974), S. 133–142. 446 Bis sie [die Minne] mich auf die rechte Fährte brachte, so daß ich ihr beistimmen konnte. Artus führte die Frau und den Mann und doch folgten ihm beide nicht, wie ich euch jetzt erklären will: sie tauschten beide untereinander die Herzen (Übers. nach C RAMER ). 447 Zum Verständnis vom Herz als Sitz des Wesens vgl. T UCZAY , Herzenstausch, S. 499 und S. 502–507.
114
2 H ART AR TMA MANNS NNS VON A UE Iwein
den Herzenstausch bedingte „andere Art von Kraft“448 woraufhin der Erzähler verstummt und mit dem oben schon zitierten Verweis auf die âventiure als Quelle zur Erzählung zurückkehrt. 3020
3025
dô engetorst ich vrâgen vürbaz: wan swâ wîp unde man âne herze leben kan, daz wunder daz gesach ich nie: doch ergienc ez nâch ir rede hie. ichn weiz ir zweier wechsel iht, wan als diu âventiure giht: sô was her Îwein âne strît ein degen vorders und baz sît. (Iw. 3020–3028)449
Die Quellenberufung steht als rhetorische Kippfigur in der Schwebe zwischen dem trotzigen Beharren des Erzählers auf seiner eigenen Position und einer an die Rezipienten gerichteten akzeptierenden Legitimation des durch die Minne in die Erzählung eingebrachten Herzenstauschs.450 Als letzte Replik in der Auseinandersetzung mit der Minne würde der Erzähler ihr weiterhin widersprechen. Er bleibe bei seiner Ansicht, ein Ritter ohne Herz müsse verzagen als ein wîp (Iw. 3001). Sein nachgeschobener Verweis auf Îweins ungebrochene Idealität als degen wäre in diesem Fall als abschließendes Argument seines Standpunkts zu lesen: Die ritterliche Idealität bleibt mit der Herzenslosigkeit (bzw. mit einem Frauenherzen) unvereinbar, Îwein kann sein Herz nicht verloren haben. Der Erzähler weiß von dem Tausch nur zu berichten, was ihm seine âventiure überliefert, und diese schildert offenbar lediglich Îweins ritterliche Erfolge, die einem Herzenstausch dem Anschein nach entgegen stehen. Die Distanzierung von der Version der vrou Minne würde in dieser Lesart durch den neuerlichen Verweis auf die der Quelle externe und mit ihr konkurrierende Instanz – ir rede – unterstrichen. Die âventiure stünde der Behauptung der Minne entgegen.
448 T UCZAY UC ZAY , Herzenstausch, S. 504. 449 Da getraute ich mich nicht, weiterzufragen. Denn daß irgendwo eine Frau oder ein Mann ohne Herz leben könnten, ein solches Wunder habe ich nie gesehen. Doch hat es sich nach Behauptung der Minne hier so ereignet. Ich weiß nichts über ihrer beider Tausch als daß, wie meine Quelle berichtet, Herr Iwein ohne Zweifel schon vorher ein Held war und seither ein noch größerer (Übers. nach C RAMER ). 450 Die Stelle wird in der Forschung, soweit ich sie überblicke immer als eindeutiger und unproblematischer Quellenverweis gelesen, zuletzt durch L INDEN , Sandra, Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik im Iwein Hartmanns von Aue, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, S. 247–267, hier S. 259.
2.1 Die Unverfügbarkeit von âventiure
115
Liest man die Quellenberufung als Leserapostrophe, verschiebt sich der Fokus entscheidend. In einem Gestus der captatio benevolentiae wendet sich der Erzähler angesichts der Ungeheuerlichkeit des Herzenstauschs an seine Rezipienten und beruft sich auf die auctoritas der Quelle. Er nimmt damit die mögliche Skepsis seiner Rezipienten ernst und teilt sie, ordnet sich aber der Kompetenz der Minne unter. Der Abschließende Verweis auf den degen Îwein würde damit die Argumentationslinie der Minne weiterführen und Îweins kraft auch nach dem Herzenstausch bestätigen. Die rede der der âventiure zunächst entgegenstehenden und mit ihr konkurrierenden Minne würde im Lauf der Argumentation in die Quelle integriert und zum Gegenstand der zwar zweifelnden, aber doch pflichtbewussten Vermittlung durch den die Bedenken seines Publikums teilenden Erzähler, der nur berichtet als diu âventiure – und zwar sowohl seine Quelle als auch die Minne – giht. Eine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Lesart kann an dieser Stelle nicht getroffen werden. Erzähler und Minne verhandeln in ihrem Streitgespräch nicht nur über die Möglichkeit des Herzenstauschs, sondern auch über den Status der âventiure als Quelle. Was kann sie leisten? Was weiß sie? Wie hoch ist ihre auctoritas? Bezüglich dieser Fragen ergeben sich aus dieser Stelle zwei mögliche Konsequenzen. Gemäß der ersten Lesart ist die âventiure angreifbar. Die Gestalt der vrou Minne weiß offenbar mehr als die Quelle. Ihre Position wird zwar als logisch problematisch dargestellt, doch angesichts der im Text an anderen Stellen mit der Minne assoziierten Macht und Autorität (vgl. Iw. 1335–1337 und 1557–1565), kann dieser Einwand nicht absolut gesetzt werden. Die âventiure erscheint hier also, auch wenn der Erzähler bis zum Schluss ihre Position vertritt, defizitär. Die zweite Lesart, bei der die Korrekturen der Minne zum Teil der Quelle werden, transportiert zwar zunächst auch die Problematik zwei einander widersprechender Standpunkte, integriert sie aber letztendlich erfolgreich. Die personifizierte Minne wird in der letzten an die Rezipienten gerichteten Wendung der Auseinandersetzung zum Teil der Quelle. Doch als Resultat wird die âventiure nicht durch die vereinte Autorität von Quelle und Minne allen Zweifeln enthoben, sondern sie bleibt für den Erzähler sowie die Rezipienten unglaubwürdig. In diesem Umgang mit der âventiure als Quelle wird deutlich, dass wir es mit einer Quelle als Konstrukt, als Funktion des Erzählens zu tun haben, deren auctoritas nicht zu sichern ist und die somit für die Überlieferung der Geschichte keine verlässliche Referenz bietet – eine Quelle, die eigentlich keine ist. Spiegelverkehrt dazu ließe sich eine dritte Lesart deuten: âventiure als Âventiure, d. h. als Personifikation. Dieses Verständnis der Stelle würde mit der Âventiure neben der Quelle und der Minne nachträglich eine dritte Instanz für die Herkunft der Geschichte einführen, die den Sachverhalt augenscheinlich durch
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ihre auctoritas zu klären vermag. Allerdings wird nicht klar, mit welchem Inhalt diese Klärung vollzogen wird. Die Âventiure hätte zwar das letzte Wort, es bliebe aber unklar, was sie gesagt hat. RÉTIENS Yvain, dient Der nun folgende Blick auf die tatsächliche Quelle, C HHRÉTIENS weniger der Überprüfung der Erzähleraussagen im Iwein, als dem unterschiedlichen Umgang der beiden Texte mit dem problematischen Motiv. Der Yvain kennt keinen Herzenstausch und auch keinen Dialog mit der Minne. An der entsprechenden Stelle wird berichtet, dass Yvains Herz bei seiner Dame zurückbleibt, an deren Herz es sich fest „klammert“451 und mit dem es sich verbindet, so dass lediglich sein Körper mit König Artûs fortziehen kann (Yv. 2639–2646).452 Der Erzähler thematisiert das bisher im Wortsinn unerhörte bzw. ungesehene Wunder eines Menschen, der ohne sein Herz weiterlebt:
2650
Et si li cors sanz le cuer vit, Tel mervoille nus hon ne vit. Ceste mervoille est avenue; (Yv. 2649–2651)453
Auch wenn die Quelle, wie H ARTMANNS Erzähler behauptet, den Herzenstausch in der Tat nicht kennt, ist der Stein des Anstoßes, die Herzlosigkeit, auch im Yvain vorhanden. Sie wird als Wunder eingeführt und dann zum Anlass genommen, das Geschehen in einer Prolepse auf die verrîten-Thematik hin zu thematisieren (vgl. Yv. 2649–2660). Der logischen Problematik der Herzlosigkeit ist im Yvain durch die Identifizierung als mervoille genüge getan.454 Der Verweis auf eine wundersame Begebenheit, deren Abgeschlossenheit und Vorgängigkeit in Bezug auf den Text, in dem der aventure etymologisch verwandten Partizip avenue festgeschrieben ist, reicht zur Legitimierung des Geschilderten aus. Die Versicherung des wundersamen Geschehens umgeht die Quellenproblematik und verlässt sich auf die Aussage bar jeder Mittelbarkeit. avanture bleibt im Altfranzösischen Text von den möglichen Unwägbarkeiten dieser Stelle unbeeinträchtigt. Demgegenüber ist âventiure im Iwein unverfügbar. Sie besetzt im Ausritt und in der Suche die konzeptuelle Leerstelle eines Handlungsdesiderats, in der Rede des Waldmanns die syntaktisch-semantische Leerstelle des Erfragten und nie
451 So die Übersetzung von I LLSE SE N OLT ING -H AUFF , S. 139. 452 In einer m. E. zu wenig differenzierenden Lektüre werden solche Phänomene des einseitig zurückgelassenen Herzen auch unter dem Herzenstausch subsummiert, vgl. T UC ZAY , Herzenstausch, S. 500–502. 453 Ein Körper, der ohne Herz lebt – ein solches Wunder hat kein Mann je gesehen. Dieses Wunder hat sich hier ereignet. (Übers. CG). 454 vgl dazu auch L INDE N , Körperkonzepte, S. 254–255.
2.1 Die Unverfügbarkeit von âventiure
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Gehörten und im Verweis der Erzählinstanz die literarische Leerstelle einer unzuverlässigen Quelle. Trotzdem ist im Iwein von âventiure die Rede. Die Kontexte, in denen der Begriff gesetzt wird, sind für die Frage nach den Implikationen des âventiureBegriffs aufschlussreich. Am prominentesten ist die âventiure in Kâlogrenants Erzählung vertreten. Sieben Mal wird sie in der Binnenerzählung genannt, jeweils als Grund und Ziel des Ausritts bzw. in den Äußerungen des Waldmanns. Auch in einer weiteren metadiegetischen Erzählung wird die aus kindlicher Naivität unternommene âventiure-Suche zum Movens der Handlung: Der Herr der Jungfraueninsel sucht sein Glück auf der âventiure-Fahrt (Iw. 6325–6331). Beide in den Binnenerzählungen unternommenen âventiure-Suchen enden kläglich und schmachvoll. Kâlogrenant unterliegt dem Brunnenherrscher und der unerfahrene Herr der Jungfraueninsel muss sich seinen überlegenen Gegnern – immerhin zwei Riesen – kampflos ergeben und wird ihnen tributpflichtig (Iw. 6353–6361). In Bezug auf den Protagonisten des Romans, auf Îwein selbst, wird nur ein einziges Mal von einem âventiure-Ausritt gesprochen. Nachdem er den Löwen errettet und dessen Loyalität für sich gewonnen hat, beschreibt der Text das Zusammenleben der beiden folgendermaßen:
3915
3920
3925
her Îwein leite sich und slief: der lewe wachet unde lief umb sîn ors unde umb in. er hete die tugent und den sin daz er sîn huote zaller zît, beidiu dô unde sît. diz was ir beider arbeit, daz er nach âventiure reit rehte vierzehen tage und daz mit selhem bejage der wilde lewe disem man sîne spîse gewan. Dô truoc in diu geschiht (wande ern versach sich niht) vil rehte in sîn frouwen lant [...] (Iw. 3911–3925)455
455 Herr Iwein legte sich hin und schlief. Der Löwe hielt Wache und umkreiste ihn und sein Pferd. Er war treulich bedacht, ihn jederzeit zu schützen, damals und seither stets. Beide nahmen die Mühe auf sich, daß Iwein auf aventiure ausritt, vierzehn Tage lang, und daß durch solche Jagdbeute das wilde Tier den Menschen mit Nahrung versorgte. Da führte ihn das Geschick – denn er hatte es nicht beabsichtigt – gerade in das Land seiner Herrin […] (Übers. nach C RAMER ).
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2 H ART AR TMA MANNS NNS VON A UE Iwein
Îwein und sein vierbeiniger Begleiter reiten auf âventiure aus. Das Vorhaben endet zwar nicht wie in den Binnenerzählungen mit der Schande des Ritters, bleibt in seiner Schilderung allerdings gänzlich ereignislos.456 Der Ausritt dauert vierzehn Tage. In den Vordergrund rückt kein Geschehen, das ein âventiure-Ritt während dieser Zeit mit sich bringen könnte, sondern die nur durch die Mitwirkung des Löwen unalltäglichen Alltäglichkeiten: Nahrungsbeschaffung und Unannehmlichkeiten der Gesamtsituation. Außer den besonderen Umständen des durch die Teilnahme des Löwen markierten âventiure-Ausritts wird nichts erzählt, die âventiure-Suche fungiert als Platzhalter für eine Zeitspanne, während der sich das den weiteren Verlauf des Romans prägende Verhältnis von Îwein und seinem Löwen etabliert und wird in dieser Funktion zur narratologischen Ellipse. Für den Fortgang der Geschichte sorgt dann auch nicht die âventiure, sondern – durch das dô markiert nach Ablauf der vierzehn Tage – eine andere Instanz, die geschiht. Das Geschick oder Schicksal des Helden führt diesen zurück ins Brunnenreich und ermöglicht ihm, seinen Rehabilitationsweg zu beginnen. Die âventiure ist somit nicht nur unverfügbar, sie ist auch in allen ihren Nennungen aus der Diegese ausgeklammert. Zumeist ist sie Teil von Binnenerzählungen. Als Quelle erscheint sie je nach Lesart in dem Exkurs des Erzählerdialogs mit der Minne bzw. in einer Leserapostrophe oder als außertextuelle Autorität. In der einzigen intradiegetischen Setzung wird sie auf Îwein bezogen, aber als inhaltsleerer Platzhalter gesetzt. âventiure ist in diesem Fall zwar intradiegetisch als handlungsinitiierender Faktor vorhanden, doch die durch sie in Gang gesetzte Handlung wird nicht auserzählt und reißt als Leerstelle die Diegese auf. Diese Beobachtung könnte den Schluss nahelegen, dass im Iwein dem Doppelcharakter der âventiure als ‚Geschehen‘ und ‚Erzählen von einem Geschehen‘ Rechnung getragen wird, indem der Begriff weitestgehend auf Binnenerzählungen beschränkt bleibt.457 Doch diese Annahme ist schnell widerlegt, denn auch in
456 Darauf hat schon D IETMAR P EIL hingewiesen, vgl. P EIL , Dietmar, âventiure, was ist daz? Überlegungen zur âventiure-Definition des Kâlogrenant, in: Hans-Joachim Althof, (Hg.), Deutschfranzösisches Germanistentreffen Berlin, 30.09. bis 04.10. 1987. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bd. 12, Bonn 1988, S. 55–77, hier S. 66. 457 Die Beschränkte Verwendung des âventiure-Begriffs ist schon öfter bemerkt und jeweils unterschiedlich gedeutet worden. B L EUMER sieht beispielsweise einen Zusammenhang mit Iweins LEUME R , âventiuStatuswechsel, der als Ritter mit dem Löwen kein âventiure-Ritter mehr ist, vgl. B LEUMER ÄT Z sieht darin eine Beschränkung auf die Gruppe der iuvenes, der re, S. 356–357. O LIVER B ÄTZ unverheirateten und landlosen Ritter, welche durch ein intensives auf êre bezogenes Konkurrenzverhältnis und durch große Konfliktbereitschaft charakterisiert sind. Diese Gruppe mache Kâlogrenants Publikum aus. Ihr modus operandi sei die âventiure und in diesem Sinn liest B ÄTZ auch die âventiure-Definition dem Waldmann gegenüber. Iwein gehört nach seiner Hochzeit mit Laudîne nicht mehr zu dieser Gruppe, daher ist das Konzept im späteren Romanverlauf nicht
2.1 Die Unverfügbarkeit von âventiure
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der Metadiegese ist die âventiure kein unproblematisches Konzept.458 In Kâlogrenants Binnenerzählung scheint die Häufung der âventiure-Nennungen letztlich nur dazu zu dienen, das Konzept gänzlich zu annihilieren. Wird am Anfang der Erzählung noch zitathaft das durch zeitgenössische Romane etablierte âventiureVerständnis der außerhöfischen Bewährungsprobe eines Einzelnen bedient (allerdings ohne dass sich ein âventiure-Geschehen ereignen würde), so entzieht sich die âventiure dem Suchenden Kâlogrenant im Lauf der Narration mehr und mehr, bis sie letztlich gänzlich aus der Binnenerzählung getilgt ist, und auch für den Ritter kein Handlungsmovens mehr darstellt. Die âventiure steht am Anfang von Kalôgrenants Geschichte. Sie ist der Beweggrund, das Ziel und der Zweck seines Auszugs: Er reitet nâch âventiure (Iw. 261). An dieser Stelle wird der Begriff nicht expliziert sondern im Erzählkontext des Artushofs als bekannt vorausgesetzt. Kâlogrenant ist gewâfent nâch gewonheit (Iw. 262), offenbar zieht er nicht zum ersten Mal aus. Die âventiure-Suche erhält über seine Ausstattung zudem eine vestimentäre Manifestation. Kâlogrenant gerät in das die Topik der Wildheit evozierende und damit die Sphäre der âventiure markierende Dickicht des Waldes459 und wählt den richtigen – den rechten – Pfad (Iw. 259–272). So gelangt er auf die gastliche Burg, die innerhalb der Wildnis einen zwar schon mit Merkmalen der Alterität markierten, aber doch höfischen Außenposten bildet.
mehr von Relevanz, vgl. B ÄTZ , Konfliktführung, S. 81–86 und 95–97. Mit dieser Position vergleichAF ERLANDS Verständnis der âventiure als ‚universalisierter Agon‘, vgl. H AFERLAND , bar ist H ARALD H AFERLANDS Harald, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 10), S 109–120. 458 Wichtig ist hier festzuhalten, dass die metadiegetischen Erzählungen im Iwein jeweils in einem direkten raumzeitlichen bzw. was die Motivation des Geschehens angeht, sogar in einem kausalen Bezug zur Diegese stehen. In den Binnenerzählungen werden räumlich oder zeitlich vom Haupthandlungsstrang abweichende, ihn aber direkt beeinflussende Teilhandlungen erzählt, die mithin auch durch eine „explikative Analepse“ hätten realisiert werden können. Vgl. E NETT E , Gérard, Die Erzählung, 3., durchgesehene und korrigierte Auflage, zur Terminologie: G ENETT Paderborn 2010 (UTB 8083), S. 150–152. Die Verlegung des âventiure-Konzepts in die Metadiegese wäre, wenn man die Möglichkeit der analeptischen Ergänzung als reale Alternative betrachtet, deutlich als narrativer Kunstgriff markiert. 459 Zum Motiv des Waldes in der mittelalterlichen Literatur vgl. S CHMID -C ADALBERT , Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur, in: Rüdiger Schnell (Hg.), Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift CHNY DER , M IREIL LE , Der für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern, Stuttgart 1989, S. 24–47 und S CHNYDER Wald in der höfischen Literatur: Raum des Mythos und des Erzählens, in: Elisabeth Vavra (Hg.), Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung Band 13 (2008); Heft 2), Berlin, 2008.
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Bei der abendlichen Unterhaltung mit dem Burgherrn kommt die Sprache auf Kâlogrenants Vorhaben. Der Burgherr ist darüber verwundert. Ihm ist das Konzept der âventiure selbst zwar nicht unbekannt,460 doch bisher sind noch keine âventiure-Suchenden auf seiner Burg vorbeigekommen. Gast und Wirt vereinbaren, dass Kâlogrenant nach seiner erfolgreichen âventiure-Suche wieder auf der gastlichen Burg vorbeireiten und – so ist aus der vorangehenden Unterredung zu schließen – von ihr berichten soll (Iw. 369–382). Der Status der âventiure als intradiegetischer Universalie wird in dieser Szene in Frage gestellt. Die in Superlativen ausgedrückte Idealität der Burg und ihrer Bewohner (vgl. z. B. Iw. 316, 334, 344–347, 355–356) wird nicht explizit durch den Mangel an âventiure-Suchenden beeinträchtigt. Nach dem Aufbruch am nächsten Morgen scheinen auf dem Weg durch die wilde (Iw. 398) erneut alle Zeichen auf âventiure zu stehen. Entsprechend topisch scheinen dem âventiure-Ritter die Lichtung mit den kämpfenden Tieren und der Waldmann461 die Gelegenheit zur Bewährung in Aussicht zu stellen (Iw. 399– 411).462 Doch das Geschehen auf der Waldlichtung unterläuft diese Erwartung. Statt zu kämpfen, überlegt Kâlogrenant, von Furcht ergriffen, zu fliehen (Iw. 412– 417). Nur der Anblick einer menschlichen Gestalt unter den Tieren ermutigt ihn, weiter in die Rodung vorzudringen. Allerdings kehrt seine Furcht zurück, sobald er die monströsen Gesichtszüge und den Körper des Waldmanns deutlicher erkennt (Iw. 418–426). Der Dialog mit dem Waldmann dient dem initiativ kommunizierenden Kâlogrenant zunächst dazu, seine eigene Sicherheit und körperliche Unversehrtheit zu garantieren. Nachdem er in Verbindung mit dem Versuch einer Kategorisierung der monströsen Figur den Status des Waldmanns als nicht-aggressiv festgestellt hat (Iw. 483–490), stellt er die Friedfertigkeit der Tiere sicher bzw. erwirkt das Versprechen, dass der Waldmann die Aggressionen seiner Tiere kontrollieren kann und Kâlogrenant vor ihnen beschützen wird (Iw. 491–517). Kâlogrenant versichert sich so der vollständigen Passivität seiner Umgebung. âventiure als ein dem Ritter kontingent zufallendes Geschehen – oder als Geschehen überhaupt –
460 Die Stelle wird immer wieder in diesem Sinn missverstanden, vgl. z. B. P EEIL IL , âventiure, S. 65 ÄT Z , Konfliktführung, S. 90–91. und B ÄTZ 461 Beispiele für den Kampf mit unhöfischen Wesen als Möglichkeit zur ritterlichen Bewährung wären z. B. Erecs Kampf mit den Riesen (Er. 5288–5599) oder Iweins Kampf mit Harpîn (Iw. 4914– 5084). 462 Zu den Möglichkeiten und Implikationen des Kampfes eines höfischen Ritters mit einem Tier RIEDRIC H , Udo, Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs im Mittelalter, in: oder Untier vgl. F RIEDRICH Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hgg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München, 2005, S. 123–158, hier S. 138–149.
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ist in einer solchen Situation unmöglich. In dem wilden und mit potenziellen, unhöfischen Gegnern ausgestatteten topischen âventiure-Raum der Lichtung wird die eigentlich zu erwartende âventiure-Handlung dann auch durch das Sprechen über âventiure substituiert. In der zweiten Hälfte des Dialogs tritt mit Kâlogrenants Anliegen, er suche âventiure, eine reflexive Dimension in den Fokus. Auf die Nachfrage des Waldmanns hin erläutert Kâlogrenant, was er sucht: den Zweikampf mit einem ihm entsprechend gerüsteten Ritter, als dessen Resultat Ansehen – positiv als Ehre oder negativ als Schande – generiert wird (Iw. 528–542).463 Nimmt man Kâlogrenant an dieser Stelle beim Wort, bietet sich hier die Möglichkeit einer Umdeutung des âventiure-Verständnisses von der in Kapitel 1.3 skizzierten allgemeinen Semantik des Begriffs hin zu Kâlogrenants reduzierter Definition. Diese Umdeutung könnte die bisher vorgenommene Lektüre der Binnenerzählung als eine Annihilierung der âventiure durchstreichen, denn bis zu diesem Punkt hat sich für Kâlogrenant an keiner Stelle die Möglichkeit zu einem ritterlichen Zweikampf, wie er ihn beschreibt, ergeben. Die Topoi der Wildheit, die potenziellen unhöfischen Gegner, würden nach dieser Lesart durch das von Kâlogrenants Vorhaben aufgespannte Raster fallen und lediglich zur Kulisse seines Wegs zur âventiure nach seiner Façon werden. Doch im weiteren Verlauf der Szene wird auch das agonale âventiure-Verständnis Kâlogrenants ad absurdum geführt.464 Der Waldmann kann den Ritter trotz seiner Unkenntnis des âventiure-Begriffs nach dessen Erläuterungen auf eine entsprechende Kampfmöglichkeit verweisen, er schickt ihn zum Brunnenort. Bezeichnend ist hier wiederum, dass der Waldmann Kâlogrenant zwar eine Beschreibung des Ortes und eine Handlungsanweisung – er soll den Stein begießen – mit auf den Weg gibt, den Kern des Geschehens, das Unwetter und den Angriff des Brunnenherrn aber verschweigt (Iw. 551–597).465 Kâlogrenant kennt also nur die äußeren Umstände dessen, was er sucht, das
463 Das, was Kâlogrenant hier beschreibt, entspricht dem Turnierkampf. Ebenso liest P ÜTZ ÜT Z diese Definition, vgl. P ÜTZ , H ORST P ., Iwein – zwischen Waldschrat und Waldtor: Aspekte einer Deutung aus mittelalterlicher Sicht, in: ders., Gerhard Schildberg-Schroth (Hgg.), „in tiutscher zungen rehtiu kunst“ (Rudolf von Ems, Alexander, V. 3168). Festgabe für Heinz-Günter Schmitz zum 65. Geburtstag. Mit einem Vorwort von Hubert Menke, Frankfurt/M. 2003, S. 27–37, hier S. 30. Zum Turnier AC KSON , W. H., Chivalry in Twelfth-Century Germany. The Works of Hartallgemein vgl. auch J ACKSON mann von Aue, Bury St. Edmonds, Suffolk 1994 (Arthurian Studies 24), hier S. 103–109. ACKSON ON verweist auf den historisch engen Zusammenhang von âventiure und Turnierkampf, 464 J ACKS ACKSON ON , Chivalry, S. 122. vgl. J ACKS 465 Vgl. auch S CHNYDE R , âventiure, S. 260, FN 5.
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Eigentliche – das, was sich auch mit seiner Suche decken würde und was man als âventiure bezeichnen könnte – bleibt ihm verborgen. Der Kampf mit Ascalon entspricht vordergründig Kâlogrenants âventiureDefinition: Zwei entsprechend gewappnete und bewaffnete Ritter treten um den Preis von Ruhm und Ehre gegeneinander an (Iw. 693–709).466 Ihr Kampf ist allerdings durch die juristische Problematik der von Kâlogrenant durch das Begießen des Steins unrechtgemäß ausgelösten Fehde467 überfrachtet (Iw. 712– 730), es handelt sich also nicht um ein unbelastetes Kräftemessen wie Kâlogrenant es anstrebt. Zudem versucht Kâlogrenant wie schon dem Waldmann gegenüber (nur diesmal erfolglos), die Kampfhandlungen zu unterbinden, als er bemerkt, dass der Gegner ihm überlegen ist (Iw. 731–733). Dies widerspricht der ergebnisoffenen Agonalität seines âventiure-Verständnisses. Schließlich unterliegt Kâlogrenant, verliert sein Pferd an den Sieger und muss seine Rüstung am Brunnen zurücklassen, da er sie zu Fuß nicht tragen kann (Iw. 740–779). Die Rüstung war sowohl für den âventiure-Auszug als solchen (Iw. 261– 262) als auch in Kâlogrenants âventiure-Definition (Iw. 529–533) ein zentrales Merkmal des Ritters. Mit ihr hat Kâlogrenant auch das äußerliche Zeichen des âventiure-Ritters (nach seinem Verständnis) und die äußerlichen Voraussetzungen zur âventiure als ritterlich-höfischem Zweikampf verloren. Entsprechend entblößt kehrt er ein zweites Mal auf der gastlichen Burg ein, wo er zwar wieder freundlich aufgenommen wird, doch von âventiure ist dort im Gegensatz zu seinem ersten Besuch nur einen Tag zuvor, nicht mehr die Rede (Iw. 780–794). Auch das Verlangen nach âventiure ist Kâlogrenant merklich vergangen. In der Retrospektive seiner Erzählung schilt er seinen unwîse[n] muot (Iw. 635), der ihm riet, den Stein zu begießen, und während er nach seiner Niederlage am Brunnen sitzt, betont er, dass er ihn nie mehr wieder begießen würde (Iw. 768– 771). Am Ende der Binnenerzählung spielt die âventiure keine Rolle mehr. Sie ist somit nicht nur intradiegetisch abwesend, sondern wird auch für die Metadiegese sowohl in einem allgemeineren Verständnis als auch in Kâlogrenants reduzierter Fassung gelöscht. Der Begriff wird nur noch drei Mal aufgegriffen, als unzuverlässige Quelle, in der zweiten Binnenerzählung von der Jungfraueninsel und als inhaltsleerer Platzhalter für zwei Wochen, die innerhalb des minutiösen Zeitplans des Textes ansonsten unausgefüllt blieben.
466 Zur Relevanz der „Ehre als symbolisches Kapital“ im Zweikampf vgl. auch F RIEDRICH , Die ‚symbolische Ordnung‘ des Zweikampfs, S. 128–135, hier 128. 467 Zur Fehde und ihren Eigenlogiken sowie den zeitgenössischen juristischen Implikationen ACKSON ON , Chivalry, S. 84–96, zu der Stelle B ÄTZ , Konfliktführung, S. 103–112. vgl. J ACKS
2.2 âventiure, waz ist daz? Poetologische Verdichtung
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Der Iwein kennt âventiure als Begriff und als Konzept. Das Wort ist potenziell mit allen Implikationen des sich im literarischen Diskurs der Zeit etablierenden Verständnisses ausgestattet. Doch intratextuell bleibt der Begriff ohne Referent. âventiure ist im Îwein zwar mit einer Intension ausgestattet, kommt allerdings im Text ohne Extension aus. âventiure muss für den Iwein daher von vornherein abstrakt gedacht werden. In Kâlogrenants Erzählung wird die Unverfügbarkeit und Abwesenheit von âventiure poetologisch aussagekräftig verdichtet. Der Schlüssel zu dieser Deutung liegt in der Figur und in den Äußerungen – insbesondere der Frage – des Waldmanns.
2.2 âventiure, waz ist daz? Poetologische Verdichtung 2.2.1 Der Waldmann Der Waldmann468 stellt Kâlogrenant in seiner Doppelfunktion als Betrachter und Erzähler von Anfang an vor eine schwierige Aufgabe. Denn er ist mit den typischen Uneindeutigkeiten des Monströsen ausgestattet, die sich einer Wahrnehmung und narrativen Darstellung entziehen.469 Diese Unsicherheiten resultie-
468 Kaum eine Lektüre des Iwein kommt am Waldmann vorbei, überraschend wenige Texte befassen sich allerdings intensiver mit dieser Figur. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang nur zwei kleine und leider wenig ergiebige Einzelstudien: S ALMON , Paul, The Wild Man in Iwein and Medieval Descriptive Technique, The Modern Language Review 56 (1961), S. 520–528 und P ÜTZ , Zwischen Waldschrat und Waldtor. Weitere Texte nähern sich dem Waldmann über Paradigmen der Monstrosität, Wildheit und den Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier, vgl. G ILOY -H IRTZ , Petra, Begegnung mit dem Ungeheuer, in: Gert Kaiser (Hg.), An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters, München 1991 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 12), IC HTBLAU , Karin, Tierherren im mittelhochdeutschen Artusroman, Amsterdamer S. 167–209; L ICHTBLAU Beiträge zur älteren Germanistik 43/44 (1995), S. 323–348, bes. S. 323–327; F RIEDRICH , Udo, Menschentier und Tiermensch, Diskurse der Grenzenziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009 (Historische Semantik 5), S. 358–374, bes. S. 370–374. Zur Figur des Wilden E RNHEIME R , Richard, Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment and Mannes vgl. B ERNHEIMER Demonology, New York 1970 (Nachdruck der Ausgabe Cambridge 1952); H INTZ , Ernst Ralf, Der Wilde Mann – ein Mythos vom Andersartigen, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.), Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen 2), S. 617–626, sowie ergänUCZ AY , Christa, Wilde Frau, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.), Dämozend H ABIGER -T UCZAY nen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen 2), S. 603–616. 469 Die Forschung bestimmt das Wesen des Waldmanns auf unterschiedliche Weise. C HRIST IAN S CHMID -C ADALBERT ADALBE RT sieht in ihm kulturhistorisch die „dämonische Verzerrung“ des zeitgenössisch verbreiteten „Bauern als Waldbenutzer“ (vgl. S CHMID -C ADALBERT , Der wilde Wald, S. 29). K ARIN
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ren allerdings nicht aus einer Isolation der monströsen Züge des Waldmanns, im Gegenteil, er ist durch ein dichtes Netz an Bezügen und Motivationen semantisch überdeterminiert und umso schwieriger zu fassen. Topographisch ist er an einem Zwischenort lokalisiert, auf einer Lichtung, besser gesagt einer Rodung, in einem wilden Wald (vgl. Iw. 396–401), dem Ort an dem âventiuren gesucht und – zumeist – auch gefunden werden. Die Rodung ist nicht nur als solche ein umgrenzter Ort, sie markiert auch die Grenze zwischen der lediglich mit wenigen anderweltlichen Akzenten versehenen Sphäre der gastlichen Burg und dem feenhaften Brunnenreich. Sie ist als künstlich geschaffener baumloser Bereich innerhalb des Waldes zudem ein Ort, in dem die Bereiche von Natur und Kultur ineinander fließen. Der Waldmann erscheint an dieser Grenze auf den ersten Blick als furchteinflößender Wächter, im Verlauf der Handlung entpuppt er sich allerdings als hilfreicher Wegweiser. Das ist nicht die einzige perzeptive Unsicherheit. In Kâlogrenants Annäherung an den Waldmann ergeben sich mit der Erschließung des Kontexts je neue Perspektiven auf den Waldmann, die jeweils affektive Reaktionen Kâlogrenants zur Folge haben. Zunächst ist der Waldmann gar nicht zu sehen. Die Rodung erscheint âne diu liute (Iw. 402) nur von den kämpfenden und laut brüllenden wilden Tieren bevölkert (Iw. 398–417). Kâlogrenants Furcht wird beim Anblick des zwischen ihnen sitzenden Mannes durch Erleichterung abgelöst (Iw. 418– 420), doch in der Annäherung und differenzierten Wahrnehmung dieses Menschen ergreift ihn eine neuerliche, größere Furcht vor der monströsen Gestalt (Iw. 421–424). Die Einschätzung des Waldmanns verändert sich je nach Blickpunkt und Hintergrund, bleibt aber in einem ersten Schritt auf den ausgelösten Affekt beschränkt. Das Objekt seiner nacheinander in vorhte und trôst resultierenden optischen und auditiven Wahrnehmung muss von Kâlogrenant nachträglich deskriptiv in die Erzählung eingeführt werden. Die Schilderung geschieht im Wesentlichen durch präzise adjektivische Beschreibungen der einzelnen Körperteile, ergänzt um Vergleiche und wenige Zuschreibungen. Die Vergleiche bringen den Waldmann mit prototypisch unhöfisch-fremden Menschen (môr Iw. 427 und walttôr Iw. 440) und wilden bzw.
L ICHTBLAU verortet ihn in der Traditionslinie des Tierherren-Mythos, also derjenigen Wildgeister, deren mythische Aufgabe die Regulierung des Verhältnisses zwischen Jäger und Wild umfasst (vgl. L ICHTBLAU , Tierherren, S. 323–331). Immer noch wegweisend ist die Lektüre des Waldmanns als eines Wilden Mannes, also als Vertreter von Wesen, „on the border line between beast and man“ (B ERNHEIMER , The Wild Man, S. 7), der in Kapitel 1.2 dargestellte naturhistorische Überlegungen triggert, wobei mythische Aspekte jeweils eine Rolle spielen. Er ist ein in Genealogie und Heraldik verbreiteter Gegenstand hoch- und spätmittelalterlicher Darstellungen, vgl. hierzu B ERNHEIMER ERNHE IMER , The Wild Man, passim.
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zumindest gefährlichen Tieren (Auerochse, Ochse und Eber, vgl. Iw. 441, 447 und 451) in Verbindung. In das Assoziationsgeflecht spielen auch pflanzliche und dingliche Referenzen hinein (die Ohren sind groß wie ein Futtertrog und gleichsam mit Moos bewachsen, vgl. Iw. 439–443). Der Waldmann ist überhaupt sehr groß, trotzdem scheinen einzelne Körperteile – der Kopf, der Mund, die hervorstehenden Zähne, die Nase und die schon genannten Ohren – zusätzlich überproportional zu sein. Der Kopf des Waldmanns ist zudem mit starken rußschwarzen und verfilzten Haaren bedeckt. Haare finden sich – neben dem struppigen grauen Bart – auch auf Nase und Ohren. Seine Augen funkeln bedrohlich rot, zornvar (Iw. 451). Über den Körper erfährt der Leser wenig, lediglich dass der Kopf schief aufgesetzt und der Rücken bucklig ist. Der rhetorischen Konvention entsprechend wird anstelle des Körpers die Bekleidung beschrieben. Der Waldmann trägt seltsaeniu cleit (Iw. 465), nämlich frisch abgezogene Tierhäute und als Waffe eine Keule. Angesichts dieses Bildes wundert es nicht, dass der Erzähler bezüglich der Frage nach der Menschlichkeit dieses Wesens unschlüssig bleibt. Drei Mal wird auf die Menschlichkeit des Waldmanns angespielt.470 Gleich zu Beginn der Beschreibung wird auf seine menschliche Gestalt, das menneschlîch bilde (Iw. 425) verwiesen, allerdings ist diese als anders harte wilde (Iw. 426) gleichsam als negative Matrix gesetzt, an der sich die Beschreibung bezüglich ihrer Reihenfolge und rhetorischen Struktur (und analog der Körper in seiner groben Komposition) orientiert, die jedoch deshalb nicht zwangsläufig einen Menschen ausmacht. bilde verweist auf die Gemachtheit und Künstlichkeit dieses Körpers. Entsprechend ist der so beschriebene man auch im mehrfachen Wortsinn ungevüege[…] (Iw. 444). Er ist nicht nur unbeholfen, ungestüm, plump und groß, sondern auch kategorial „schwerlich zu handhaben.“471 Als gebûre (Iw. 432) wird die Menschlichkeit des Wesens zwar impliziert, doch ergibt sich hier die Möglichkeit einer ironischen bzw. einer funktionalen Lesart, in der gebûre als Zeitgenosse oder Nachbar oder aber in seiner Eigenschaft als Tierhirte zu verstehen ist, wobei die unhöfische Lesart des Bauern in jedem Fall mitklingt.472
470 Bezüglich des môr und des walttôr wäre zu klären, ob diese als deviante Menschen angesehen werden können, oder ob sie in die Sphäre des monströsen einzuordnen wären. P LINIUS führt beide als monstra auf. 471 Lex II, 1881. RIEDRIC H verweist über Parallelen zwischen dem Waldmann und Gregorius auf dem 472 U DO F RIEDRICH Stein auf die Teilhabe des Waldmanns an der Erbsünde und damit auf die Menschlichkeit Iweins vgl. F RIEDRICH , Menschentier, S. 373. Auch H ORST P ÜTZ argumentiert (allerdings m. E. weniger überzeugend) mit biblischen Narrativen, indem er Kâlogrenants âventiure-Definition, insbesondere das Verb slâhen, als institutionalisierten Brudermord liest. Dem Waldmann weist er Ähnlichkeiten mit Kainsschilderungen nach, so dass das âventiure-Verständnis über das Motiv des
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Die Beschreibung leistet einen ersten Schritt zur diskursiven Domestizierung des furchterregenden Wesens. Sie löst die Affektschilderung durch eine detaillierte Bestandsaufnahme der besonderen Äußerlichkeit ab. Weitere affektgeladene Reaktionen auf das furchteinflößende Wesen stehen quer zu dieser Beschreibung, sie werden nur punktuell eingeflochten (Iw. 423–424 und 450). Doch die Beschreibung scheitert daran, den Waldmann erfolgreich und abschließend in eine Ordnung zu integrieren, denn sie kann die drängenden Fragen nicht klären – die Fragen nach seiner potenziellen Aggressivität und damit zusammenhängend nach seiner Menschlichkeit. Die der Beschreibung zugrunde liegende Wahrnehmung ist unzuverlässig und gefährlich. Kâlogrenant kann sich nicht auf seine Sinne verlassen. Seine einzige zweifelsfreie Identifizierung der Figur als Mensch beruht sogar auf einem Wahrnehmungsfehler: Nur von weitem und im Kontrast zu den wilden Tieren erscheint der Waldmann tatsächlich menschlich (vgl. Iw. 418–424). Nach der eingehenden Betrachtung der Figur ist das Wesen des Waldmanns dagegen wiederum völlig unklar, so dass Kâlogrenant nachfragen muss: waz crêatiure bistû? (Iw. 483). Die Antwort ein man, als dû gesihest nû (Iw. 484) verweist ihn zurück auf die unzuverlässige Evidenz seiner Wahrnehmung. Zusätzlich birgt die Wahrnehmung auch die Gefahr des Wahrgenommen-Werdens. Kâlogrenant befürchtet die Aggression der Tiere, sobald sie ihn entdecken (vgl. Iw. 414–416) und auch die Wahrnehmung durch den Waldmann führt zu einer brenzligen Situation. Er erhebt sich und geht auf ihn zu – eine für Kâlogrenant undeutbare, aber potenziell gefährliche Situation (vgl. Iw. 471–478).473 Der Rückverweis auf die Wahrnehmung in der Selbstbezeichnung als Mensch unterstreicht die Relationalität monströser Gestalten, die im Waldmann auf die Spitze getrieben ist. Der Waldmann erschließt sich in seiner Körperlichkeit, seinem Handlungspotenzial, seiner Sprache und letztendlich auch seiner Deutung ausschließlich über die Beziehungen zu seinem Kontext. Die einzige Begründung für seine Menschlichkeit liefert nicht irgendeine physische oder psychische Eigenschaft, sondern lediglich die Wahrnehmung des Gegenübers – doch diese scheitert. Kâlogrenant und der Waldmann begegnen sich an einem Nullpunkt der Interaktion […] Man weiß nicht, was der andere tun wird, sowenig wie dieser weiß, was man selbst tun wird. Man weiß nicht, was man tun sollte, damit der andere etwas
Fratrizids mit dem Fragenden korrespondiert, vgl. P ÜTZ ÜT Z , Zwischen Waldschrat und Waldtor, S. 28–35. RIEDRIC H geht davon aus, dass dies „vor dem Hintergrund zeitgenössischer Etikette 473 U DO F RIEDRICH RIEDRIC H , Menschentier, wohl schon als Zeichen friedlicher Kommunikation zu deuten ist“ (F RIEDRICH S. 373), doch der erzählende Kâlogrenant ist davon nicht überzeugt, vgl. Iw. 475–478.
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tut. Und man weiß nicht, was man tun könnte, damit der andere etwas Voraussehbares tut.474
Wie ein Vexierbild erscheint der Waldmann je nach Blickwinkel anders, seine Menschlichkeit ist nur im Kontrast zu den Tieren unzweifelhaft, bei näherem Hinsehen ist es die Ähnlichkeit zu eben diesen Tieren (ûrrinder werden auf der Rodung explizit genannt, vgl. Iw. 411, und ein ûre dient als Vergleichsgröße für den riesigen Kopf des Waldmanns, vgl. Iw. 431), welche diese Menschlichkeit in Frage stellt und ihn zum furchterregenden Hybrid werden lässt. Zudem ziehen sich Bezüge durch die gesamte Szene, so ist der Waldmann mit seinem Aufenthaltsort und den Tieren über die ihnen gemeinsame wilde verknüpft (vgl. Iw. 398, 426, 500). Diese wilde ist wiederum jeweils an die Wahrnehmung gebunden und daher gewissen Kontingenzen unterworfen. Die gegenseitige Unsicherheit im Sog des kommunikativen und interaktiven ‚Nullpunktes‘ wird durch das gleiche Prinzip aufgelöst, das sie auch verursacht hat, durch die Relationalität, in diesem Fall insbesondere Reaktivität des Waldmanns. Seine Handlungen sind jeweils Reaktionen auf Kâlogrenants Initiativen. Er nähert sich ihm erst, als Kâlogrenant auf ihn zukommt und spricht auch erst nach dessen Frage (vgl. Iw. 471–482). Die sich in seinem Verhalten manifestierende Passivität verleitet Kâlogrenant zu der Vermutung, es könne sich beim Waldmann um einen stumbe[n] (Iw. 482) handeln,475 der aus kommunikativen Zusammenhängen ausgeschlossen ist. Die Versicherung der Friedfertigkeit des Waldmanns swer mir niene tuot,/ der sol ouch mich ze vriunde hân (Iw. 484–485)476 zitiert ebenfalls dieses Prinzip der ausschließlichen Reaktivität und Reziprozität. Der Waldmann bezieht sich in seinen Antworten auch auf Kâlogrenants Wahrnehmung und auf seine Affekte. Die Antwort auf die Frage nach seinem Wesen wird mit dem Hinweis auf Kâlogrenants Wahrnehmung an denselben zurückgegeben, und als dieser um Schutz vor den Tieren bittet, antwortet der Waldmann ihm in der korrekten Einschätzung der Sachlage niene vürhte dir (Iw. 516). Auch die gesamte Unterhaltung wird initiativ von Kâlogrenant geführt. Er stellt Fragen, die der Waldmann jeweils beantwortet. Selbst nachdem die Rollen
474 H AFERLAND AFE RLAND , Höfische Interaktion, S 37. Dazu auch B ÄTZ , Konfliktführung, S. 92–94. 475 Die fehlende Sprache thematisiert ebenfalls das Problem der Menschlichkeit. vgl. S CHNYDER , Mireille, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3), S. 303. Kâlogreants reichlich merkwürdiges Vorhaben, mit einem vermeintlich Stummen ein Gespräch anzufangen, liest sie als „den Ausdruck des aus allen Ordnungen fallenden Schweigens […], ein kläglicher Versuch des Ritters, durch das Wort zu ordnen“ S CHNYDER , Topographie des Schweigens, S. 304. 476 Wer mir nichts tut, soll auch mich zum Freund haben (Übers. nach C RAMER ).
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etwa nach der Hälfte des Gesprächs wechseln, indem der Waldmann mit dem Hinweis, er habe nun alle Fragen beantwortet, Kâlogrenant nach seinem Begehr fragt, akkomodiert dieser sein Anliegen und begibt sich in einer höfisch-höflichen Wendung477 in die Pflicht, seine Bitte zu gewähren; ob du iht von mir gesuochest/ daz ist allez getân (Iw. 522–523).478 Kâlogrenant wird so umgehend wieder zum gestaltenden Part der sprachlichen und über die Sprache hinaus gehenden Handlung. Die einzige Illokution, die aus dem Schema herausfällt und mit welcher der Waldmann eine echte und im Kontrast zu seinen vorherigen Äußerungen entsprechend stark markierte Frage stellt, die Kâlogrenant in die Pflicht nimmt, ist die Erkundigung nach dem Wesen der âventiure. Obwohl die bedingungslos gewährte Bitte sich pragmatisch nicht von den zuvor geleisteten sprachlichen Handlungen abhebt (Kâlogrenant wirkt als aktiver, der Waldmann als passiv-ausführender Part), markiert sie einen Wendepunkt in der Funktion des Waldmanns. Damit knüpft sie an eine lange literarische Tradition solcher Bitten an. Das Rash-boon-Motiv ist im Artusroman weit verbreitet und wird auch im Verlauf des Iwein noch mehrfach aufgegriffen.479 Typischerweise resultiert aus dem blinden Gewähren einer Bitte für den einwilligenden Teil eine problematische, oft ehrenrührige Situation, denn die Bitte hat ein subversives und statusveränderndes Potenzial. Laudîne gewährt Îwein, noch bevor er sein Anliegen zur Turnierfahrt formuliert hat, den nötigen urloup und bereut es (berechtigterweise, wie sich im Weiteren herausstellt) sogleich (vgl. Iw.
477 Die Sprachfähigkeit des Waldmanns, insbesondere die der von ihm beherrschten Sprachregister wurden schon häufiger untersucht, zumeist mit dem Resultat, dass der Waldmann über eine seinem Äußeren entsprechende ungeschliffene Sprache verfügt. H ARALD H AFERLAND liest das das Gespräch zwischen Kâlogrenant und den Waldmann aufgrund des fehlenden Grußes als von Feindseligkeit, „fehlender Gegenseitigkeit“ und latenter Aggressivität geprägt bis hin zu der Feststellung: „Das Gespräch ist ungefähr so hässlich wie der Herr der Tiere selbst“, vgl. H AFERLAND , Höfische Interaktion, S. 139–140. M. E. übersieht dieses Urteil die vielfältigen Bezüge zwischen den Dialogpartnern. Insbesondere für die von Haferland postulierten höfischen Maxime der Reziprozität (vgl. H AFE RLAND , Höfische Interaktion, S. 121–125) könnte eine Relektüre der IREILL E S CHNYDER CHNY DER geht in einer wesentlich überzeugenderen LektüSzene gewinnbringend sein. M IREILLE re davon aus, dass der Waldmann über eine „konkrete Sprache“ der Benennungen verfügt, die CHNY DER , Toposeinem Bereich „wo Wort und Tat noch nicht getrennt sind“ entsrpicht, vgl. S CHNYDER graphie des Schweigens, S. 305–306. Das höfische Motiv der zuvorkommenden Bitte ist vor diesem Hintergrund in seiner Relevanz deutlich hervorgehoben. 478 Wenn du etwas von mit wünschst, so steht es dir zu diensten (Übers. nach C RAMER ). 479 Vgl. zu dem Motiv, seiner Herkunft aus der Antike und Verwendung im Artusroman die EE LBACH BAC H : S EELBACH , Sabine, Labiler Wegweiser. Studien zur KontingenzDarstellung bei S ABINE S EEL semantik in der erzählenden Literatur des Hochmittelalters, Heidelberg 2010, S. 33–74, dort auch weiterführende Literatur.
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2912–2925).480 Das bekannte Motiv des Königinnenraubs am Artushof nimmt ebenfalls in einer solchen Bitte den Anfang und hat die zeitweilige Desintegration und den Ehrverlust des Hofs zur Folge (vgl. Iw. 4520–4739). Auch für die Figur des Waldmanns hat die zuvorkommende Gewährung der Bitte tiefgreifende Konsequenzen, wenn diese auch nicht unbedingt negativ zu werten sind. Bis zu dieser Stelle lief die Erzählung auf ihn als Endpunkt einer sich über den Ort, die Tiere und die Beschreibung seines Körpers vollziehenden Klimax zu. Dieser Fokus spiegelt sich in der topographischen Gestaltung der Rodung. Sie ist abgeschlossen, gewissermaßen eine Sackgasse, an deren Scheitelpunkt der Waldmann wartet. Mit der Gewährung der Blanko-Bitte löst sich dieser Spannungsbogen auf. Der Waldmann ist nicht mehr End- und Zielpunkt einer Erzählbewegung (und möglicherweise einer âventiure-Suche), sondern er wird durchlässig und transparent auf eine Fortsetzung der Handlung, die er selber ermöglichen wird. Die Rodung ist nicht mehr Ziel einer narrativen Bewegung, sondern lediglich eine Station einer weiterzuführenden Erzählung. In diesem Moment verändert sich der Waldmann funktional vom Wächter zum Wegweiser und zum Vermittler eines weitergehenden Geschehens. Die Frage nach der âventiure steht mit dieser neuen Funktion in einem engen Zusammenhang. Kâlogrenant nutzt seine Blanko-Bitte, um sich nach einer âventiure-Gelegenheit zu erkundigen. Zeit und Raum der Rodung sind von der Abwesenheit von âventiure geprägt. Beim Waldmann sind nicht nur keine âventiuren zu holen, er hat auch bî [s]înen tagen/ selhes nie niht gesagen (Iw. 547–548) hören. âventiuren sind auf der Rodung seit jeher unbekannt. Der Fingerzeig des Waldmanns birgt im ersten Moment aber dennoch das Versprechen zur âventiure im kâlogrenantschen Sinn, doch wie oben gezeigt wurde, erweist sich diese Annahme als trügerisch und die Konfrontation mit Ascalon kann nicht als âventiure gewertet werden, sondern führt sogar dazu, dass Kâlogrenant seines Status als âventiure-Ritter buchstäblich entblößt wird. Obwohl der Waldmann als Figur innerhalb einer Binnenerzählung deutlich aus der Diegese herausgenommen ist und im Verlauf der weiteren Erzählung auch gänzlich aus ihr getilgt wird, obwohl er im Leser ein ästhetisches Vergnügen und ein sensationslüsternes Schaudern oder auch die kennerhafte Wertschätzung der rhetorischen Besonderheiten seiner Beschreibung481 auslösen kann, erschöpft sich seine Funktion nicht in der Lektüre als Kuriosität. Seine Figur – und insbesondere auch seine monströse Körperlichkeit – ist mehrfach motiviert.
480 Vgl. dazu S EELBACH , Labiler Wegweiser, S. 57–58. 481 Vgl. dazu und zu möglichen Quellen für den Waldmann S AL MON , Wild Man, passim.
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Die Existenz des Waldmanns ergibt sich einerseits aus dem besonderen Ort der Rodung, der als die Zivilisation in Frage stellender Bereich der topische Ort von Wesen wie Monstern ist. Zusätzlich wird die Anwesenheit des Waldmanns intradiegetisch relational, nämlich in seiner Hirtenrolle begründet: dâ stân ich disen tieren bî (Iw. 490). Er geht mit den furchteinflößenden Tieren eine ähnlich reziproke Beziehung ein, wie er sie für die Interaktion mit möglichen menschlichen Aggressoren skizziert und die auf gegenseitiger Passivität begründet ist. Sie stehen durch bete und drô unter dem Bann seiner zunge und hant (Iw. 506–507). Seine Macht über die Tiere ist ein Alleinstellungsmerkmal. Menschen, so stellt Kâlogrenant fest, haben diese Fähigkeit normalerweise nicht (vgl. Iw. 496–505).482 Auch das Verhältnis zu den Tieren ist von Furcht geprägt, die Tiere fürchten den Waldmann (Iw. 493–495). Kâlogrenant wird in dieser Beziehung nur geduldet, da der Waldmann ihn unter seinen Schutz stellt. Handlungslogisch steht der Waldmann, wie oben dargelegt, am Umschlagpunkt zwischen zwei Spannungsbögen. Nachdem die Möglichkeit zur âventiure in ihm selber nicht gegeben ist, ermöglicht er durch seine Antwort die Weiterführung der Narration. Der Waldmann steht einerseits für sich selbst, andererseits verweist er – wie es Monster häufig tun – über sich hinaus. In seiner zuvorkommenden Gewährung jedes Anliegens und in seiner Frage eröffnet der Waldmann drittens Möglichkeiten zur poetologischen Reflexion des Textes. Die drei Motivationen sind jeweils eng miteinander verknüpft, sie spielen ineinander und beruhen auf den gleichen Prinzipien, insbesondere dem Proprium monströser Gestalten: ihrer eigenen Relationalität.
2.2.2 âventiure, waz ist daz? Der Waldmann ist als monströse Figur allgemein und insbesondere durch seine stark relationale Verknüpfung als Deutungs- und Diskursivierungsaufgabe gekennzeichnet. In der Rash-boon-Thematik wurde die poetologische Relevanz dieses Deutungsgpotenzials schon angedeutet, doch erschöpft es sich darin nicht. Zur vollen Entfaltung kommt es in der Frage nach dem Wesen von âventiure.
482 Hier könnte einerseits erneut die Menschlichkeit des Waldmanns in Frage gestellt werden, andererseits auch Kâlogrenants Wahrnehmung. Er begründet seine erstaunte Nachfrage mit seiner Wahrnehmung der Wildheit (wan ich sihe wol, sî sint wilde Iw. 500). U DO F RIEDRICH liest die Macht des Waldmanns über die Tiere als sprachbasiert und daher Zeichen von Menschlichkeit, RIEDRIC H , Menschenbleibt damit aber wohl hinter dem Deutungsangebot der Stelle zurück, vgl. F RIEDRICH IC HTBLAU AU liest den Waldmann als eine Inkarnation der Sagengestalt des tier, S. 373–374. K ARIN L ICHTBL Tierherrn, der als Wächter und Beschützer wilder Tiere fungiert, über welche er eine unerklärliche IC HTBLAU AU , Tierherren, S. 323–331. mythische Macht ausübt, vgl. L ICHTBL
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Der Waldmann stellt die Frage âventiure waz ist daz? (Iw. 527), und auf Kâlogrenants Antwort hin (die im vorangegangenen Kapitel näher betrachtet wurde), reformuliert er dessen âventiure Definition folgendermaßen: sît dîn gemüete stât alsô daz dû nâch ungemache strebest und niht gerne sanfte lebest, ichn gehôrte bî mînen tagen selhes nie niht gesagen waz âventiure waere (Iw. 544–549)483
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Der Waldmann setzt die âventiure mit nâch ungemache strebe[n] und niht gerne sanfte lebe[n] gleich. Von der Forschung oft belächelt und als ein hedonistisches, oder doch zumindest heillos unterkomplexes Verständnis abgetan,484 ist in dieser Formulierung, der Suche nach einem möglichst bewegten und wenig bequemen Leben, der Grundkonflikt des Iwein, das verrîten, prägnant zusammengefasst. Das verrîten ist intertextuell verknüpft. Der Bezug zu dem Paralleltext Erec wird zuerst durch Gâweins Warnung an Îwein explizit gemacht, indem dieser den frischgebackenen Ehemann ermahnt, nicht den gleichen Fehler des verligens zu begehen wie Erec. kêrt ez niht allez an gemach; als dem hern Êrecke geschach, der sich ouch alsô manegen tag durch vrouwen Enîten verlac. (Iw. 2791–2794)485
Diese Warnung ist nicht als literarischer Verweis gekennzeichnet, sondern sie trägt dem fiktiven Kontinuum einer Artuswelt Rechnung, in welcher die Ereignisse des Artusstoffs ohne zeitliche Ordnung koexistieren.486 Um die schändliche
483 Also bist du solchen Sinnes, daß du die Gefahr suchst und nicht bequem leben möchtest. In meinem Leben habe ich nicht so etwas gehört, was es mit aventiure auf sich habe (Übers. nach C RAMER ). 484 Vgl. z. B. P EIL , âventiure, S. 73, B LÄTZ , Konfliktführung, S. 95 und B LEUMER , âventiure, S. 357. A LOIS W OLF hält die Stelle in ihrer Reduziertheit für humorvoll und ironisch, vgl. W OLF , Alois, Erzählkunst und verborgener Schriftsinn. Zur Diskussion um Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein, in: ders. (Hg.), Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur deutschen und französischen Literatur des Mittelalters, herausgegeben von Martina Backes, Francis G. Gentry und Eckart Conrad Lutz, Tübingen 1999, S. 141–189, hier S. 164–165. 485 Richtet nicht euer ganzes Denken bloß auf häusliche Freuden, wie es Herrn Erec geschah, der RAME R ). sich auch lange Zeit um Enitens willen ‚verlegen‘ hatte (Übers. nach C RAMER 486 Auch der für diese Lektüre relevante Raub Ginovers durch Meljaganz ist ein solches Ereignis, das in diversen Texten anzitiert (unter anderem in der Crône) und in der Lanzelot-Tradition zu
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übergroße Häuslichkeit zu vermeiden, bittet Îwein um urloup für eine Turnierfahrt und erhält von Laudîne unter der Auflage, die Frist unbedingt einzuhalten, die Erlaubnis, ein ganzes Jahr fortzuziehen (vgl. Iw. 2935–2944). Doch Îwein versäumt die rechtzeitige Rückkehr, wird von Laudîne verstoßen und begibt sich nach dem Verlust seiner Identität auf eine Fahrt, die ihn wieder in die Gunst Laudînes und in die höfische Gesellschaft zurückführen wird – und die in Analogie zu seiner Verfehlung von Terminkonflikten geprägt ist, die er in diesen Fällen aber zu lösen weiß. Die Wiedergutmachung kann daher ebenfalls als ungemach und wenig sanfte[z] Leben verstanden werden, das sich über das verrîten hinaus fortsetzt und den weiteren Romanverlauf durchzieht. Das Demonstrativpronomen selhes (Iw. 548) unterstreicht diese Überblendung, indem es trotz seiner kataphorischen Anbindung an die âventiure zugleich anaphorisch das Vorhaben eines ruhelosen und unbequemen Lebens als unerhört bezeichnet. Das, was der Waldmann als âventiure identifiziert, charakterisiert somit den Auslöser und Effekt des maßgeblichen literarischen Konflikts bzw. zugleich das zentrale Problem des Textes und seine narrative Lösung. In der – möglicherweise missverständlichen – Aneignung von Kâlogrenants problematischer âventiure-Definition schafft der Waldmann so eine Perspektive auf den gesamten Roman, die es ermöglicht, Kâlogrenants Vorgeschichte, über die handlungslogische Verknüpfung einer Wiederherstellung der Familienehre durch Îwein hinaus, für den Text produktiv zu erschließen. Was als Karikatur der ohnehin karikierenden âventiure-Definition Kâlogrenants seinen Anfang nimmt, erweist sich als Schlüssel zum Verständnis des Textes.
2.2.3 âventiure und der Waldmann als Katalysator der Transkriptivität Die Anwesenheit des Waldmanns auf der Rodung changiert zwischen Störung und Erfüllung. Er unterbricht den geordnet-gerichteten Handlungsfluss und auch wieder nicht. Seine relational markierte monströse Gestalt entzieht sich zwar den für eine schnelle Bearbeitung nötigen Kategorisierungsversuchen, doch ist seine Präsenz in der topographischen Umgebung und im Kontext einer âventiure-Suche im Sinn einer Bewährungsprobe nicht gänzlich unerwartet. Die Episode bedient das Muster der Bewährungsprobe, das, wie oben gezeigt wurde, gestört wird.
eigenem Recht kommt. Einen Forschungsüberblick zu der Erzählung vom Raub der Königin liefert K UGLER UGLE R , Hartmut, Fenster zum Hof. Die Binnenerzählung von der Entführung der Königin in Hartmanns Iwein, in: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hgg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 115–124, hier S. 115–117.
2.2 âventiure, waz ist daz? Poetologische Verdichtung
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Denn der Waldmann ist weder aggressiv, noch stellt er in Kâlogrenants Augen einen geeigneten Gegner dar. Sämtliche Narrative der âventiure werden in Kâlogrenants Binnenerzählung so konsequent desintegriert, dass nicht nur für den Waldmann die einzig mögliche Reaktion die Frage nach dem Wesen der âventiure bleibt. Die Frage des Waldmanns löst die âventiure aus allen noch verbleibenden intradiegetischen Verknüpfungen heraus. Wenn im Text von âventiure die Rede ist, ist sie als Desiderat oder unzuverlässige Quelle jeweils in logische Strukturen eingebunden. Die Frage des Waldmanns jedoch enthebt den Begriff aller Kontexte und versetzt ihn dadurch in den Modus der Reflexion. Der Begriff wird in der Frage zum Metabegriff. Der Waldmann setzt ihn gleichsam in Anführungszeichen als phonetische Hülle eines Worts, das zuallererst mit Inhalt zu füllen ist. Das unbekannte Wort unterbricht die Kommunikation und stört das Sprachverstehen, so dass der Waldmann Kâlogrenant mit der Frage um ein ‚repair‘ bitten muss. Dieser Aufgabe kommt jener – die Rezipienten erkennen dies – nur unzureichend nach, da er lediglich eine phänotypische Definition zu geben weiß. Der Waldmann durchschaut das nicht und eignet sich die Erklärung produktiv an. Er nimmt Kâlogrenants Erläuterung wörtlich und bleibt der Ebene seines ursprünglichen Nicht-Verstehens verhaftet. In seiner Reformulierung von Kâlogrenants âventiureDefinition vollzieht der Waldmann eine Abstraktion, welche auf den Text bezogen ein allgemeineres poetologisches Verständnis von âventiure ermöglicht. Kâlogrenant und der Waldmann bemühen sich um einen Klärungsprozess, den man mit L UDWIG J ÄGER als Versuche einer transkriptiven Rekontextualisierung des problematischen Begriffs der âventiure bezeichnen könnte. Dem Leser wurde in der Binnenerzählung ein konsequentes Herausschreiben der âventiure im herkömmlichen Sinn aus dem Text vorgeführt. Kâlogrenant setzt seine aktionistische Definition dagegen, die aber in den Geschehnissen am Brunnen ebenfalls als unbrauchbar dargestellt wird. Einen brauchbaren transkriptiven Ausweg aus dem Dilemma liefert schließlich der Waldmann selbst, dessen Deutung den Begriff nach seiner Entfernung aus allen intradiegetischen Kontexten auf die Metaebene verschiebt. Der Waldmann wird damit zum dreifachen Wegweiser: Innerhalb der Binnenerzählung schickt er Kâlogrenant zur Quelle, auf den gesamten Roman bezogen verweist er auf den Punkt, an dem die Handlung immer neu konvergieren und wiederansetzen wird, also den zentralen Ort des Textes (vgl. Kapitel 2.3.2).487
487 So schon S CHRÖDER CHRÖDE R , Joachim, Zur Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue, Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 61), S. 304– 306.
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Drittens verweist er über den Text hinaus auf den Weg der poetologischen Selbstreflexion. âventiure, so wie sie der Waldmann begreift und treffsicher mit der verrîtenThematik verschaltet, ist somit nicht als strukturierende Handlungseinheit, Quelle, Text, Geschehen oder ähnliche Teilbedeutungen der konventionellen Definition zu begreifen. Damit deckt sich nahtlos, dass âventiure im Iwein, wie oben gezeigt wurde, keinen intradiegetischen Platz hat. Allenfalls ergibt sich eine Affinität mit der âventiure-Suche als Ausritt und Movens im Wortsinn, doch damit ist lediglich eine strukturelle Annäherung und nicht die âventiure selbst gefunden. Während also in Kâlogrenants Erzählung das Scheitern des âventiure-Konzepts intradiegetisch vorgeführt wird, tritt in der Frage âventiure als abstraktes, inhaltliche und motivische ebenso wie narratologische und strukturelle Aspekte umfassendes Ordnungsmoment in den Blick. Die Funktion des Waldmanns als Initiator bzw. Katalysator von Reflexion geht mit seiner monströsen Äußerlichkeit einher. Seine Relationalität und Reaktivität, seine Beschreibung und die klassifikatorischen Fragen, die sein Körper aufwirft, bereiten eine entsprechende Lektüre vor. Seine Abkunft aus der Tradition der Wilden Menschen, die sich daraus ergebenden Fragestellungen kultureller und anthropologischer Identität lassen die in letzter Instanz poetologische Frage, die er stellt, logisch und folgerichtig erscheinen. Es fügt sich in das Bild der monströsen Gestalt, dass sie die höfische Kategorie der âventiure nicht kennt. Die Reflexion der Figur und die literarische Reflexion sind eng miteinander verbunden: Aus der Reflexion des Monströsen ergibt sich eine Reflexion des Textes. Die intradiegetische Deutungsaufgabe des Waldmanns wird mit der durch ihn ausgelösten poetologischen Deutung verknüpft und dadurch im Text verankert. Die über die Frage erschlossene poetologische Größe, die ordnende Figur der âventiure im Sinn eines unruhigen Lebensentwurfs, ist als das zentrale Thema, als strukturierendes Element und Movens des Romans ähnlich fest in den Text eingewoben.
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns 2.3.1 verrîten: Zeit und Kontingenz Die Zusammenhänge zwischen der solchermaßen als Ordnungsfunktion verstandenen âventiure und dem weiteren Text können in weiten Teilen der Erzählung nachvollzogen werden. Die dem verrîten zugrunde liegende Terminproblematik bleibt nicht auf Îwein beschränkt. Der Text folgt seinem Protagonisten zwar eng und kleinschrittig, doch das Zeitmotiv durchdringt über Îweins Taten hinaus den
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
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ganzen Text. Praktisch alle Figuren im Iwein stehen unter Termindruck – und keine hat ein sanftez leben.488 Der Iwein wurde schon häufig als „der höfische Roman der Fristsetzungen“489 gelesen, wobei insbesondere die juristischen Implikationen der Jahresfrist von Îweins urloup und die jeweils mit einem Aufschub von sechs Wochen angesetzten Gerichtsverfahren im Vordergrund standen.490 B ARBARA N ITSCHE hat beobachtet, dass „der juristische Zeitdiskurs im Text nur punktuell auftaucht und dann wieder ‚versickert‘“491 und über weite Strecken von einem subjektiven, das heißt an Figurenperspektiven gebundenen „Geschwindigkeitsdiskurs“492 abgelöst wird, wodurch sich für den Text ein konfliktreiches Verhältnis von rechtlich relevanter Zeit und subjektiver Eile ergibt.493 Ich möchte B ARBARA N ITSCHES Argumentation bezüglich der auch jenseits juristischer Implikationen relevanten Zeitlichkeit und Terminproblematik weiterführen, wie sie im âventiure-Verständnis des Waldmanns impliziert ist. Laudîne muss zu Beginn und am Schluss des Romans angesichts einer konkreten Bedrohung des Brunnenreichs jeweils schnell einen Beschützer für die Quelle finden. Zunächst hat sich Artûs binnen vierzehn Tagen zur Rache für Kâlogrenants Schmach angekündigt (Iw. 1820–1862),494 später ist es dann Îwein selbst, der durch wiederholtes Begießen des Steins ungehiure Unwetter verursacht495 und die Integrität des Brunnenreichs bedroht (vgl. Iw. 7825–7805 und 7811–7843). Lûnete und die jüngere Tochter vom Schwarzen Dorn müssen binnen der sechswöchige Frist vor ihren jeweiligen Gerichtskämpfen einen Kämpfer finden (vgl. Iw. 4146–4164 und Iw. 5755). Bei der jüngeren Tochter wird die Problematik verschärft durch ihre Schwester, die sich im Wettlauf mit ihr zum 488 Bezeichnenderweise gilt dies nicht für den in seiner Warnung vor dem verligen durch Gâwein karikierten trägen Hausherren, dessen Probleme gerade nicht in einem wie auch immer gearteten Termindruck bestehen, sondern der umgekehrt im Verhältnis zu seinen Ressourcen zu viel Zeit hat. Er beklagt sich über schlechte Ernten, so dass er alle sechs Monate Korn zukaufen muss und langweilt mit diesen Geschichten seine Gesprächspartner (Iw. 2807–2858). IT SCHE , Barbara, Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische 489 N ITSCHE Zugänge zur mittelalterlichen Literatur, Frankfurt/M. u. a. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 12), S. 78. IT SCHE , Die Signifikanz der Zeit, S. 78–79 bietet einen knappen Überblick über die For490 N ITSCHE schungslage. IT SCHE , Die Signifikanz der Zeit, S. 89, Hervorhebung von N ITSCHE IT SCHE . 491 N ITSCHE IT SCHE , Die Signifikanz der Zeit, S. 89, Hervorhebung von N ITSCHE IT SCHE . 492 N ITSCHE 493 Vgl. N ITSCHE , Die Signifikanz der Zeit, S. 94. 494 Lûnete verschärft den Termindruck, indem sie von zwölf Tagen spricht (Iw. 1838), in Wirklichkeit sind es wohl vierzehn Tage (vgl. Iw. 2406). 495 Die erste und einzige Wiederaufnahme des ungehiure-Begriffs seit Kâlogrenants Dialog mit dem Waldmann (vgl. Iw. 524–527).
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Artushof begibt und dort die Dienste des besten Kämpfers Gâwein für sich gewinnen kann (vgl. Iw. 5663–5714). Die Bedrohungen durch die Riesen – Harpîn, der die Familie von Gâweins Schwester heimsucht und die zwei Riesen, welchen der Herr der Jungfraueninsel tributpflichtig ist – manifestieren sich in zyklischen Wiederholungen. Harpîn hat bei Îweins Ankunft schon zwei von Gâweins sechs Neffen umgebracht und den Tod der restlichen vier für den nächsten Morgen in Aussicht gestellt. Seine Aggressionen (die Zerstörung des Landes und Angriffe gegen die Befestigungsanlagen der Burg) sind über einen längeren Zeitraum ausgedehnt und sollen als Zermürbungstaktik dazu führen, dass er die Tochter des Burgherrn, Gâweins Nichte, erhält. Seinen Handlungen liegt immer das strukturell-bedrohliche Moment des angekündigten Schadens zugrunde, gegen das sich der Burgherr nicht zu wehren vermag (Iw. 4358–4506).496 Eine größere, gleichsam institutionalisierte Regelmäßigkeit zeigt sich auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer bei den zwei Riesen, die seit zehn Jahren jährlich dreißig Jungfrauen als Tribut fordern (vgl. Iw. 6386–6388). Das verbindlich gegebene Wort497 und in Konsequenz auch das Rash-boonMotiv hängt eng mit den Terminfragen zusammen. Îwein ist schon vor seinem verrîten in Eile. Er bricht heimlich auf, um Artûs und dem Hof zuvorzukommen, nachdem er die Absicht geäußert hat, die Schmach seines Verwandten Kâlogrenant zu rächen. Keiî verspottet ihn daraufhin als einen betrunkenen Prahler (vgl. Iw. 803–963) und liefert Îwein dadurch eine zusätzliche Motivation, sein Wort einzulösen. Die Furcht vor Keiîs Spott ist ein entscheidendes Movens in Îweins Kampf mit Ascalon.498 Schon beim Waldmann folgt auf die Zusage, er werde Kâlogrenant jede Bitte erfüllen, dessen Frage nach âventiure und damit in der Deutung des Waldmanns die Frage nach einem bewegten Leben ohne gemach – sprich ein Leben, wie es später Îwein zunächst mit seiner Turnierfahrt anstrebt und dann, in Einklang mit einer mittelalterlichen Vergeltungslogik, auch durch die ständigen Terminkonflikte der Wiedergutmachung führen muss. Îweins Auszug erfolgt nach der übereilten Zusicherung jeden Begehrs von Laudîne und ist so an die Wiederaufnahme der Rash-boon-Thematik gebunden,
496 Auch Graf Âliers scheint die Ländereien der Gräfin von Nârisôn (Nennung Iw. 3802) mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu verwüsten, vgl. Iw. 3407–3413 und 3703–3781. 497 Daraus ergibt sich die Relevanz des juristischen Diskurses. Zur Thematik vgl. auch W ANDHOFF , Haiko, Iweins guter Name Zur medialen Konstruktion von adliger Ehre und Identität in den Artusromanen Hartmanns von Aue, in: Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel (Hgg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 111–126, hier S. 117–119. 498 Vgl. dazu W ANDHOF F , Haiko, Âventiure als Nachricht für Augen und Ohren. Zu Hartmanns von Aue Erec und Iwein, Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 1–22, hier S. 11–22.
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
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aus der sich diesmal nicht nur im übertragenen Sinn das Terminversäumnis des verrîtens und im Anschluss das rastlose Eilen von einer Verpflichtung zur nächsten ergeben. Laudîne äußert, nachdem Îwein sein Anliegen formuliert, Bedenken, doch kann sie ihr Versprechen nicht zurücknehmen. Ebenso sorgt die BlankoZusage an Meljaganz,499 der beim Artushof vorstellig wird, für Diskussionen. Zuerst will Artûs die Gnade nur unter der Bedingung gewähren, dass Meljaganz eine ziemliche Bitte vorträgt, doch auf den Tadel seines Hofs und des Bittstellers sagt er letztendlich doch vorbehaltlos zu und muss Meljaganz in der Folge die Königin überlassen (vgl. Iw. 4530–4589). Ginovers Entführung geht ebenfalls mit Terminkonflikten einher. Der Musterritter Gâwein kann nicht sofort eingreifen done was er leider niender dâ (Iw. 4719), er ist also – so viel ist anzunehmen – anderweitig verpflichtet. Als er zurückkehrt, ist er für eine gewisse Zeitspanne gemeinsam mit dem ganzen Hof mit der Befreiung der Königin beschäftigt, so dass für andere Aufgaben keine Zeit bleibt. Gâweins Schwager und Lûnete können für ihre Anliegen daher nicht auf die Hilfe Gâweins und des Artushofes zählen (vgl. Iw. 4275–4302 und 4510–4525).500 Die terminlichen Verpflichtungen laufen alle in Îwein zusammen. Er übernimmt die Gerichtskämpfe von Lûnete und der jüngeren Tochter vom Schwarzen Dorn und beendet die Bedrohungen durch die Riesen. Die Verpflichtungen konkurrieren jeweils zeitlich miteinander, so dass er seinen Aufgaben immer nur knapp nachkommen kann. Außer Kâlogrenants überraschender Auseinandersetzung mit Ascalon findet daher auch kein Kampf spontan statt. Jeder Kampf ist im Vorhinein vereinbart bzw. auf einen bestimmten Termin festgelegt oder aufgrund von Regularitäten erwartbar. Die in den Text integrierten Binnenerzählungen – die Geschichte von der Entführung Ginovers und das Scheitern des Herrn der Jungfraueninsel – sind durch die in ihnen konstituierten Terminschwierigkeiten kausal in den Haupthandlungsstrang eingebunden. Die erzählte Welt umfasst so ein homogenes räumliches und vor allen Dingen zeitliches Kontinuum, das durch Îwein entlang einer Kette von terminlichen Verpflichtungen erritten wird. Unterstrichen wird diese Einheitlichkeit und auch die Korrespondenz von Raum und Zeit durch die jüngere Schwester vom Schwarzen Dorn bzw. deren Verwandte, die Îweins Weg zum Teil nachvollzieht und den Abstand zwischen ihnen beiden immer weiter verkürzt, bis sie ihn schließlich kurz vor der Burg zum Schlimmen Abenteuer
499 Namensnennung Iw. 5680. 500 Es ist in diesen Kontexten jeweils von zeitlichen, und nicht etwa von räumlichen oder anderweitigen Konflikten die Rede. Gâwein ist in den selben tagen (Iw. 4293) als Lûnete auf seine Hilfe angewiesen ist, unabkömmlich, ebenso ist er ze disen stunden, als sein Schwager wegen Harpîn um Hilfe ersuchen kommt, abwesend (Iw. 4524).
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einholt, wodurch sich ihre Wege synchronisieren. Während ihrer Suche erzählen ihr die zuvor von Îwein Erretteten jeweils Kurzfassungen der vorgefallenen Ereignisse (vgl. Iw. 5761–6073). Der Zirkel schließt sich, als Îwein zum Verursacher eines Terminproblems wird, das er selbst lösen kann. Durch die Vermittlung Lûnetes kommt es zu der paradoxen Situation, dass er als Aggressor des Brunnenreichs zugleich auch zu dessen Verteidiger wird und dass Laudîne sich zur Friedensstiftung zwischen dem bis zu diesem Moment unbekannten Ritter mit dem Löwen und seiner Herrin, also zwischen Îwein und sich selbst verpflichtet. Die meisterhafte Manipulatorin Lûnete hat ihr ein Versprechen mit zwei Unbekannten abgenommen, einen sprachlich unkenntlich gemachten Rash-boon-Eid: Laudîne leistet den eit im Vertrauen auf seine ehrenvoll und gemäß ihren Interessen durchzuführende Gewährleistung, jedoch ohne die genauen Bedingungen zu kennen.501 Dieser Schlusspunkt der Handlung verweist auf ein weiteres Thema, das mit dem Waldmann und dem Rash-boon-Motiv poetologisch verbunden ist, nämlich die Unwägbarkeiten sprachlicher Kommunikation.502 Sprache ist im Iwein wirkmächtig. Das Rash-boon-Motiv und andere Formen performativen Sprechens (z. B. Eide, Lûnetes Verfluchung) sind mit einer wirklichkeitsstiftenden Verbindlichkeit ausgestattet. Auch wirkt sprachliches Handeln – Erzählen – handlungsgenerierend. Kâlogrenant fordert sein Publikum nach dem Ende seines Berichts dazu auf, eine bessere, ehrenvollere Geschichte zu erzählen. Doch dazu kommt es nicht. Stattdessen setzt sich zunächst Îwein und dann der gesamte Artushof in Bewegung, um die Erzählung gleichsam umzuschreiben, um ihr einen positiven Ausgang zu verleihen (vgl. Iw. 795–965). Zugleich wird sprachliche Kommunikation auch als fehleranfällig und manipulierbar dargestellt. Häufig scheitert die Kommunikation an unterschiedlichen Verstehenshorizonten. Kâlogrenant und Ascalon beispielsweise verstehen einander nicht, da sie auf der Basis unterschiedlicher Prämissen (Bewährungsprobe und Fehde) operieren. Der Waldmann weiß ebenfalls nicht, wovon Kâlogrenant spricht und muss nachfragen. Ob die Erläuterung richtig verstanden wird, bleibt offen, die Adaptation des Konzepts durch den Waldmann wird für die Lektüre produktiv umgedeutet. Aufgrund vergleichbarer Asymmetrien kommt es auch zu bewussten Manipulationen sprachlicher Kommunikation: Lûnete setzt persuasive Sprache geschickt ein, um die politischen Interessen des Brunnenreichs durchzusetzen, Keie stiftet durch absichtliches Missverstehen Unfrieden am Artushof,
501 H ARTMUT ART MUT K UGLE UGL ER R versteht diese Stelle ebenso, vgl. K UGLE UGL ER R , Fenster zum Hof, S. 122, S ABINE S EELBACH geht über diese Stelle hinweg. 502 Vgl. dazu auch K UGLE R , Fenster zum Hof, S. 122–123.
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
139
bei den Gottesurteilen wird zum persönlichen Vorteil und bei der Dame von Nârisôn zum Schutz gelogen, und der Streit der Schwestern vom Schwarzen Dorn wird letztendlich durch die sprachliche List des Königs Artûs entschieden. Schon im Prolog503 wird die Frage des sprachlichen Verstehens, genauer des literarischen Verstehens im Zusammenhang mit dem produktiven Aspekt literarischer Sinnstiftung aufgeworfen, und zwar in Bezug auf ein temporales Problem. Die Paradoxie von Artûs’ Leben nach seinem Tod – also der Gleichzeitigkeit von Leben und Tod – wird als ein rein sprachliches Phänomen dargestellt. H ARTMANNS Erzähler bejaht die Behauptung der lantliute (Iw. 13) des Artûs, ihr König sei noch am Leben, indem er sie als Metapher ausdeutet. Die ursprünglich mit dem Namensträger verbundene Idealität sei auf den Namen übertragen worden und lebe auf diese Weise fort. In diesem Bild ist Artûs’ Relevanz für die literarische Sinn- und Textproduktion begriffen. Artûs wird als lêre, also als illustratives Exemplum der einleitenden Sentenz, eingeführt (vgl. Iw. V. 4–7),504 indem kurz auf seinen zu Lebzeiten ritterlich erworbenen Ruhm (Iw. 6–7) angespielt wird, ohne dies allerdings genauer auszuführen. In dem Namen, dem sprachlichen Zeichen, das der êren krône (Iw. 10) trägt, ist ein narratives Potenzial eingeschlossen. In diesem Sinn handelt es sich bei dem Namen auch um ein „Gattungssignal“505 für den Artusroman. Die Nennung des Namens impliziert eine bestimmte Art von Narration. Ähnlich wie der Name haben auch die Geschichten des Artushofs zugleich Anteil an Geschehnissen der Vergangenheit und der Gegenwart des Erzählens. Der Prolog endet mit einer auf die arthurische Festfreude bezogenen laudatio temporis acti, die allerdings im Moment ihrer Äußerung in Frage gestellt wird (Iw. 49–52). Nachdem der Erzähler sein Bedauern ausgedrückt hat, daz nû bî unseren tagen/ selch vreude niemer werden mac (Iw. 50–51),506 überschreibt er die topische Opposition mit einem weiteren Gegensatz, welcher die zunächst vorgenommene Wertung umkehrt. Die den Erzähler und sein Publikum einende Zeit habe den Vorteil, dass sie sich an den maeren der arthurischen Vergangenheit erfreuen könne, wohingegen die Figuren der Artuswelt auf das durch ihre Taten (werc Iw.
503 Zum Prolog vgl. (als Auswahl) H AUG , Literaturtheorie, S. 119–133, C HINCA HINC A , Y OUNG , Literary ÄT Z , Konfliktführung, S. 72–78. Criticism, S. 618–626, B ÄTZ ÄT Z , Konflikt504 Zum Artusexempel vgl. H AUG , Literaturtheorie, S. 127–129 und ausführlich B ÄTZ führung, S. 73–78, der Exemplarität widersprechen C HINCA , Y OUNG , Literary Theory, S. 620–626. ERT ENS NS , Volker, Artikel Artusepik, in: Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan505 M ERTE Dirk Müller (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, 3 Bde., Berlin, New York 2007, Bd. 1, S. 153–156, hier ÄT Z , Konfliktführung, S. 75. S. 154, vgl. auch B ÄTZ RAME R ). 506 daß heutzutage eine solche Festesfreude nicht mehr zustandekommt (Übers. nach C RAMER
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58) selbst bereitete Vergnügen angewiesen seien (Iw. 53–58). Durch die an den Prolog anschließende Handlung wird allerdings nach der ersten auch die zweite Wertung in Frage gestellt. Es folgt keinesfalls die zu erwartende Schilderung von erfreulichen Heldentaten, sondern die Darstellung ihrer narrativen Vermittlung, die, wenn man dem Prolog Glauben schenken will, doch das Privileg der Nachgeborenen sein sollte. Auch ist die in der metadiegetischen Erzählung geschilderte Tat Kâlogrenants nicht dazu geeignet, bei ihrem Protagonisten oder den intradiegetischen Zuhörern das in Aussicht gestellte Wohlgefühl auszulösen. Durch die Binnenerzählung wird dem wunschleben (Iw. 44) der Artusgesellschaft ein abruptes Ende bereitet.507 Die temporale Differenz zwischen der mythischen Artuszeit und der Gegenwart des Erzählens wird mit zwei Oppositionen codiert: dem jeweiligen Aktionsmodus (werc und maere) und dem allgemein positiven Effekt dieser Aktionen (wol tuon und wol wesen). wol tuon und wol wesen sind ohnehin nur minimal, nämlich grammatisch-diathetisch voneinander unterschieden. Die Anwendung einer Überbietungslogik auf diese Struktur – die Aktualität ist in der Argumentation des Erzählers angenehmer als die Vergangenheit – und die auf die Überlegungen folgende Narration, welche auch die maere-werc-Zuordnung in Frage stellt, führt dazu, dass die zeitliche Opposition ins Wanken gerät. Der Iwein-Prolog ist mit der Thematisierung von Fiktionalität in Verbindung gebracht worden. W ALTER H AUG sieht in der Überbietungsrhetorik die „Überlegenheit der Literatur über die Faktizität“508 postuliert, und liest die Exordialsentenz als nicht mehr integumental zu erfüllende Vorgabe, sondern als Hinweis auf eine Sinnstiftung, die sich „über die fiktionale Erzählung als autonomen Erfahrungsprozess“509 entfaltet. Dieses Fiktionalitätskonzept basiert auf einer Differenzierung von Realitätsebenen. Im Iwein werden diese Ebenen zeitlich diskursiviert als Gegenwart und arthurische Vergangenheit. Die beiden Zeiten sind, das liegt in der Natur der Sache und wird auch in der Darstellung mit häufigen temporalen Adverbien unterstrichen, als Kontinuität zu denken. Auf die literarische Vergangenheit folgt eine Gegenwart, die an den Überresten dieser Vergangenheit, der literarischen Überlieferung, Teil hat. Die Formulierung eines selbstbewussten Fiktionalitäts- und Literaturbewusstseins ginge dann aber mit der Verwischung
507 Und damit ein Zustand hergestellt, der dem unsanften Leben aus der âventiure-Definition des Waldmanns schon recht nahe kommt. 508 H AUG , Literaturtheorie, S. 126, dagegen H AUPT , Barbara, Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik, Düsseldorf 1989 (Studia Humaniora 14), S. 182–185. HINC A und Y OUNG setzen sich kritisch mit dieser 509 H AUG , Literaturtheorie, S. 127–128, hier 128. C HINCA Lektüre auseinander, vgl. C HINC A , Y OUNG , Literary Theory, S. 620–626.
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der Zeitebenen einher, d. h. mit der wechselseitigen Durchdringung eben jener Dimensionen, die für die Etablierung von Fiktionalität voneinander geschieden sein sollten. Dies muss nicht heißen, dass die Fiktionalitäts-Deutung entkräftet würde, wobei allerdings festzuhalten bleibt, dass die Mechanismen literarischer Sinnkonstitution auch in diesem Fall an ein zeitliches Paradoxon gebunden sind. Die Gleichsetzung, wenn nicht sogar Überbietung der Artus-Vergangenheit durch die Gegenwart wirkt auch auf das Artus-Exempel der ersten Verse zurück.510 Die Annahme, dass die Exemplarität durch die zeitlichen Unsicherheiten gänzlich annihiliert werde,511 greift jedoch zu kurz. Die unterschiedlichen Zeitebenen sind nicht eindeutig zu trennen und die Relevanz der Artusfigur, oder zumindest dessen der Zeit enthobenen Namens, kann bis in die Gegenwart des Erzählens auch exemplarisch nachwirken. Die an den Artusnamen anknüpfenden Sinnstiftungsmuster sind daher mit einer ganz ähnlichen zeitlichen Problematik ausgestattet, welche den poetologischen Diskurs des Iwein durchzieht. Aufgelöst wird die Zeitproblematik im Epilog. Es kommt zur Versöhnung zwischen Îwein, Laudîne und Lûnete. Der Schluss fokussiert auf die zweifache ‚Ehestifterin‘ Lûnete.512 Sie wird Zeugin der zweiten Versöhnung zwischen Îwein und Laudîne, ein Umstand, der ir sanfte t[uot] (Iw. 8138). Nach dieser Wiedervereinigung stehen die Chancen auf ein langes und glückliches Eheleben – so Gott will und wenn keiner der beiden stirbt – nicht schlecht:
510 C HINCA , Y OUNG , Literary Theory, S. 620–621. 511 „The narrator’s claim that there is no use in his complaining about the present completely undermines the notion, set up earlier, that Arthur could serve as an exemplum.“ C HINCA , Y OUNG , Literary Theory, S. 620. 512 An dieser Stelle wird das Versionenproblem der Überlieferung virulent. Die Fassungen A und B des Textes divergieren am Schluss des Textes deutlich, in B stehen über 47 Plusverse, die zum einen dem Konflikt zwischen Îwein und Laudîne eine neue Richtung geben, da letztere per Kniefall bei ihrem Gatten um Verzeihung bittet (Iw. 8121–8136) und zum anderen die LûneteHandlung zu einem breiteren Abschluss bringen. Ihr Lohn (Ländereien und eine Eheschließung mit einem Herzog) wird präzisiert. Auch das Glück von Îwein und Laudîne nach ihren überCHRÖDE R , standenen Schwierigkeiten wird erneut betont (32 Verse nach Iw. 8158), vgl. dazu S CHRÖDER Werner, Laudines Kniefall und der Schluß von Hartmanns Iwein, in: ders. (Hg.), Critica Selecta. Zu neuen Ausgaben mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Texte, Hildesheim 1999 (Spolia Berolinensia 14), S. 229–257 und B UMKE , Joachim, Die Vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996, S. 30–60. Für die Vorliegende Deutung ergeben sich aus diesen Differenzen keine Lektüreunterschiede, auch die Plusverse lassen sich in die oben geleistete Lektüre integrieren.
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8147
lât diu got alten, diu gewinnent manege süeze zît daz was hie allez waenlich sît. (Iw. 8146–8148)513
Der Erzähler weiß davon nichts Genaueres mehr zu berichten. Lûnete wird entlohnt, über das Schicksal des Protagonistenpaares schweigen sich die Quelle und konsequenterweise auch der Erzähler aus. 8160
8165
ichn weiz ab waz ode wie in sît geschaehe beiden. ezn wart mir niht bescheiden von dem ich die rede habe. durch daz enkan ouch ich dar abe iu niht gesagen mêre wan got gebe uns saelde und êre. (Iw. 8160–8165)514
Das Leben der Figuren endet nicht. Ihr Geschick wird in eine unbestimmte zeitliche Kontinuität überführt, die, markiert durch das sît (Iw. 8161), bis in die Gegenwart des Erzählers reicht. Die sich in Friktion befindlichen Zeitsysteme – die Artuszeit und die Zeit des Erzählers – können an diesem Punkt des Romans, an dem alle Konflikte gelöst sind und die Narration sowie deren Reflexion zu ihrem Ende kommen, in einen ungebrochenen Ablauf geordnet werden, der zudem für Lûnete mit einem guot leben (Iw. 8159) verbunden ist. Diese klar geordnete Zeitlichkeit ist für den Erzähler nicht mehr zugänglich, sie ist nicht mehr Gegenstand des Erzählens. Es ist die aus den Fugen geratene Zeit, es sind die unsicheren Momente zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder in Terminkonflikten, die den Roman auf allen Ebenen bestimmen. Im Prolog ergeben sich aus dem Spiel mit der Gleichzeitigkeit von Vergangenem und Gegenwärtigem die Voraussetzungen von Literaturproduktion und die Möglichkeiten des Literarischen an sich, im Verlauf des Romans müssen in einer umgekehrten Bewegung eine Reihe von simultanen Terminansprüchen so koordiniert werden, dass sie in einer zeitlichen Reihenfolge bewältigt werden können. Erst mit dem Ende des Romans verläuft die Zeit ungestört und ist mit dem konfliktfreien guoten, vielleicht sogar sanften Leben, das
513 Und wenn Gott sie alt werden läßt, so er leben sie eine lange glückliche Zeit. Das war alles zu RAME R ). erhoffen (Übers. nach C RAMER 514 Ich weiß aber nicht, was oder wie den beiden seither geschah. Der, von dem ich die Geschichte habe, hat es mir nicht erzählt. Deswegen kann auch ich euch darüber nichts weiter sagen als: Gott schenke uns Gnade und Ansehen in der Welt (Übers. nach C RAMER ).
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
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im Iwein nicht erzählt wird, vereinbar. Das Erzählen selbst wird somit zugleich zum Auslöser der zeitlichen Unordnung wie auch zum Prozess der Wiederherstellung des kontinuierlichen Zeitgefüges. Erzählen greift in die Konstituierung von Vergangenheit und Gegenwart ein; Erzählen wird damit zur selbstbehaupteten Handlung und Selbstvergewisserung der Identität in der Gegenwart, die erst in Unordnung gebracht werden muss, um überhaupt erst erkannt zu werden. Damit spiegelt das Erzählen Îweins Biographie (soweit der Roman sie berichtet). Îwein muss seine sich ebenfalls im Medium der Zeit manifestierenden Konflikte überwinden, muss eigentlich Unvereinbares – Paralleltermine – zur Übereinstimmung bringen, um die aus den Fugen geratene Ordnung und seine eigene Identität wieder herzustellen.
2.3.2 Der Brunnen revisited Der Waldmann hat nur einen großen Auftritt – in Kâlogrenants Binnenerzählung, welcher die Weichen für die Rezeption des Textes stellt. Im weiteren Verlauf des Romans hat er keinen Platz mehr. Das Verschwinden des Waldmanns ist weder räumlich noch zeitlich begründet. Der Brunnenort,515 auf den der Waldmann überhaupt erst verweisen muss und ihn damit zu einem zentralen Ort der Erzählung macht, wird nämlich mehrfach von handelnden Figuren aufgesucht516 und büßt auch seine Funktion nicht ein, was den Wegfall der Wächter- und Wegweiserfigur erklären könnte. Kurz vor Ende des Romans kann Îwein am Stein ebenso kumbers weter (Iw. 7808) provozieren wie es Kalôgrenant am Anfang des Textes ausprobiert hat. Auch ist der Waldmann keiner Zeitlichkeit unterworfen. Die Situation auf der Lichtung hat sich in den zehn Jahren, die zwischen Kâlogrenants Erlebnissen und Îweins Ausritt vergangen sind, nicht verändert. Îwein findet 980
[…]den griulîchen man ûf einem gevilde stân bî sînem wilde und vor sînem aneblicke segent er sich vil dicke,
515 Zum Motiv des Brunnens bzw. der Gewitterquelle vgl. M ORGAN , Louise B., The Source of the Fountain-Story in the Ywain, Modern Philology 6/3 (1909), S. 331–341. 516 Vgl. hierzu G ROSS E , Siegfried, Die Erzählperspektive der gestaffelten Wiederholung. Kalogrenants âventiure in Hartmanns Iwein, in: Rüdiger Schnell (Hg.), Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern, Stuttgart 1989, S. 82–96.
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daz got sô ungehiure deheine crêatiure geschepfen ie geruochte. der bewîst in des er suochte. (Iw. 980–987)517
Lediglich die Reaktion Îweins unterscheidet sich von der Kâlogrenants. Er hat die Geschichte gehört, sie sich angeeignet und vor seinem Ausritt den Nachvollzug imaginiert:
935
so gesihe ich, swenne ich gescheide dan den vil ungetânen man der dâ pfliget der tiere (Iw. 933–935).518
Für Îwein stellt die Begegnung mit dem Waldmann keine first contact-Situation ohne verlässliche Kommunikationsbasis dar, sondern er weiß, was ihn erwartet und er hat ein Programm. Entsprechend sind alle Unsicherheiten und Zweideutigkeiten beseitigt. Der Waldmann wird als griulîche[r] bzw. vil ungetâne[r] man, aber eben unzweifelhaft als man bezeichnet, und funktional auf sein ambet (Iw. 498) als Hirte und seine auch für Îwein noch hilfreiche Wegbeschreibung reduziert. Die Veruneindeutigungen, das wird in der Wiederholung der Situation deutlich, sind allein durch die diskursiven Strategien im Umgang mit der Figur des Waldmanns entstanden. Seine Beschreibung und die Benennungsversuche sowie die ausführlich geschilderte Interaktion mit Kâlogrenant werden im Kontrast zur pragmatisch gestalteten Begegnung mit Îwein umso deutlicher bezüglich ihres poetologischen Potenzials lesbar. Der Anblick des Waldmanns und der Tiere resultiert für Îwein nicht mehr in der existentiellen Bedrohung, die sie für Kâlogrenant noch darstellten. Während Kâlogrenant sich angesichts der Tiere in Gottes Hand wähnt, bekreuzigt sich Îwein beim Anblick des Waldmanns vor Gottes unbegreiflicher Schöpfung (vgl. Iw. 414–416 und 983–987). Furcht ist dem Staunen gewichen. Die Wahrnehmung prägt Îweins Vorhaben und seinen Ausritt. Dort wo Kalôgrenant durch die ziellose Suche geleitet wurde, weiß Îwein genau, was er suchen und finden will. vinden und in Konsequenz sehen sind die beiden Leitvokabeln, die seinen Nachvollzug
517 […] den greulichen Menschen auf dem besagten Felde bei seinen wilden Tieren stehen. Vor seinem Anblick bekreuzigte er sich viele Male, daß es Gott eine so ungeheuerliche Kreatur zu erschaffen gefallen hatte. Dieser zeigte ihm den Weg zu seinem Ziel (Übers. nach C RAMER ). 518 Dann werde ich, wenn ich von dort Abschied nehme, den so ungeschlachten Menschen sehen, der die Tiere hütet (Übers. nach C RAME R ).
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der Geschichte bestimmen.519 Îwein bringt Kâlogrenants Erzählung mit seiner eigenen Wahrnehmung in Übereinstimmung und verfolgt damit zielorientiert die Herstellung einer neuen Situation und letztendlich auch die Korrektur von Kâlogrenants schmachvoller Geschichte, indem er den zeitversetzt aufbrechenden Artushof als Sieger über den Herrn des Brunnenreichs vor vollendete Tatsachen stellen will: bevindent sîz sô ez ergât,/ des wirt denne guot rât (Iw. 943–944). Nachdem er Îwein zum Brunnen gewiesen hat, wird der Waldmann nicht mehr erwähnt. Doch neben der medialen Erschließung eines selbstreflexiven Potenzials in der Szene mit Kâlogrenant ziehen sich ausgehend vom Waldmann eine Reihe von semiotischen Linien durch den Text, die zu dessen Lesbarkeit und Strukturierung beitragen und auf diese Weise ebenfalls poetologisch Aufschlussreich gelesen werden können. Die Rodung als locus terribilis ist dem locus amoenus der ebenfalls im Wald befindlichen und von ihm umschlossenen Quelle kontrastiv und korrespondierend zugeordnet. Während die Rodung von dem furchteinflößenden Gebrüll der wilden Tiere erfüllt wird, erklingt an der Quelle das heilsame Gezwitscher der mannigfaltigen Vögel. Die primitiven mit der Rodung verbundenen Kulturleistungen – das Roden an sich, die basalen Zivilisationsmerkmale des Waldmanns (Kleidung, Bewaffnung) und seine Assoziation mit dem Bäuerlich-Hirtenhaften – kontrastieren mit den kostbar und kunstreich gestalteten Artefakten der Quelle: Stein, Schöpfgefäß, Kette und Kapelle und nicht zuletzt mit dem in seiner Höfischkeit mächtigen und siegreichen Brunnenherrn. Beide Orte sind der Zeit enthoben, der horror des perpetuierten Kampfs der Bestien entspricht der immerwährenden vreude des immergrünen Baums, der von Wetter und Jahreszeiten unberührten Quelle und des Vogelsangs. Beide Orte sind magisch-wunderbaren Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die Rodung steht im geheimnisvollen Bann des Waldmanns, die Quelle ist über den Analogiezauber in die wunderbaren Kausalitäten des Feenreichs eingebunden. Beide Orte, das ist vielleicht die offensichtlichste Parallele, unterlaufen ihre primäre Semantik und werden durch ein unerwartetes Ereignis umgedeutet. Die bedrohliche Atmosphäre der Rodung wird durch die zuvorkommende Art ihres eigenen furchteinflößenden Herrn antiklimaktisch konterkariert, die Idylle des Brunnenorts durch das Unwetter jäh zerstört. Der Brunnenort ist weniger wie die Rodung durch innere Spannungen und Widersprüche als Reflexionsort markiert, sondern projiziert eine Reihe von topischen und konventionalisierten Deutungsangeboten. Das Motiv des locus amoenus, die Paradies-Parallele, die Möglichkeiten zur Edelstein- und Architekturalle-
519 (be)vinden: Iw. 926, 928, 943, 949, 971, 980, sehen/schouwen/aneblicke: Iw. 929, 933, 936, 983, 989.
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gorese bleiben in ihrer Wirksamkeit nicht auf die Lichtung um den Brunnen beschränkt, sondern unterstreichen auch das hermeneutische Desiderat der so eng auf den Brunnenort bezogenen Rodung.520 Diese enge Verknüpfung der beiden Orte ist auch in Hinblick auf den weiteren Textverlauf interessant, in welchem der Brunnenort noch mehrfach, der Waldmann und seine Rodung allerdings nicht mehr erwähnt werden. Nach Îwein erreicht Artûs mit seinem Gefolge den Brunnenort und provoziert einen Kampf (vgl. Iw. 2446–2662). Îwein selbst gelangt als Ritter mit dem Löwen zwei Mal binnen zwei Tagen zur Quelle (vgl. Iw. 3923–4336 und 5145–5563) und auch das ihm nachreitende Mädchen kommt dort vorbei (vgl. Iw. 5884–5923). Auch am Schluss des Romans tritt Îwein auf seiner Rückkehr wieder als Aggressor am Brunnen auf. Die drei mittleren Szenen am Brunnen sind nicht durch die Provokation des Unwetters gekennzeichnet. Dort steht die Kapelle im Mittelpunkt, in der Lûnete zuerst eingesperrt ist und auf ihren Prozess wartet, vor der auch der Gerichtskampf des von Laudîne unerkannten Îwein mit dem Truchsess und seinen Brüdern stattfindet und an der Lûnete sich betend aufhält, als das Mädchen auf der Suche nach Îwein zu ihr gelangt. Doch gerade bei diesen Szenen ist eine Erinnerung an den Waldmann vor die Ankunft an den Brunnenort gesetzt. Bevor Îwein die gefangene Lûnete findet, erwirbt er seinen Löwen, dem er im Kampf mit dem Drachen zur Seite steht (vgl. Iw. 3828–3882). Das Setting – eine bloeze im Wald, der furchtbare Lärm der beiden Untiere und der Kampf (vgl. Iw. 3828–3645) – erinnern bis in Details (beispielsweise den Reim stimme-grimme, vgl. Iw. 409–410 und 3929–3830) an die mit dem Waldmann assoziierten Tiere. Unmittelbar vor der Rückkehr, um am nächsten Tag im Gerichtskampf für Lûnete einzutreten, muss Îwein noch den Riesen Harpîn besiegen. Die zeitliche Nähe ist so groß, dass es zur Gefahr des Terminkonflikts kommt. Harpîn ist ähnlich wie der Waldmann primitiv bewaffnet, nämlich mit einer stange. Weitere Bewaffnung oder Rüstung hält er aufgrund seiner Körperkraft für unnötig (vgl. Iw. 5017–5022). Als der Löwe ihn angreift und verletzt, schreit er wie ein Ochse (vgl. Iw. 5050–
520 J OACHIM OAC HIM S CHRÖDER sieht die „sinnerschließende Hinweisfunktion der Gestaltung des Brunnens […] in dem Kontrastschema ‚Lustort in der Wildnis‘“. Er liest die Romanhandlung als durch die widerstreitenden Ansprüche der beiden „Pole“ Minne und âventiure charakterisiert. Die Assoziationen âventiure-wilde und locus amoenus-Minne verbinden sich seiner Ansicht nach im Brunnenort über die topographische Relevanz hinaus zum thematischen Zentrum des Textes, vgl. S CHRÖDER CHRÖDE R , Schauplätze, S. 304–306. Mit S CHMID -C ADALBERT ADALBE RT könnte man ihm hier widersprechen, dass der Wald und die âventiure nicht als „motivische Korrelate“ zu verstehen sind (S CHMID ADALBE RT , Der wilde Wald, S. 39), sondern dass es jeweils zu Interferenzen zwischen den C ADALBERT Sphären der Natur und der Kultur kommt. Davon bleibt unberührt, dass in Rodung und Brunnenort zentrale Konstituenten des Textes konvergieren.
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
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5059), also wie die Art von Tier, die der Waldmann hütet und zu denen er körperliche Ähnlichkeiten aufweist. Die Abwesenheit des Waldmanns und seine assoziative Wiederaufnahme im Kampf der wilden Tiere und in dem Riesen sind für seine Lektüre im Nachhinein aussagekräftig. Dass ausgerechnet Gelegenheiten, die nicht den bekannten Mechanismus des provozierten Gewitters zur Folge haben, mit Anklängen an den Waldmann ausgestattet werden, betont meines Erachtens dessen Alleinstellung. Er ist nicht primär Teil eines Handlungsablaufs, unheilvolles Vorzeichen und schicksalhafter Wegweiser, sondern seine Funktionen sind anders gelagert: reflexiv. Entsprechend muss er auch bei Artûs’ Ankunft und bei Îweins Rückkehr ins Brunnenreich nicht bemüht werden. Die Reflexivität des Waldmanns strahlt auf die Figuren aus, die ihm ähneln. Allerdings kommt es in diesen beiden Fällen nicht zu primär poetologischen Reflexionen. Zwar wird er an neuralgischen Punkten des Romans ins Gedächtnis gerufen – die Rettung des Löwen markiert den Beginn von Îweins Rehabilitationsweg, der Löwe wird zum identitätsstiftenden Begleiter,521 woran die durch den Sieg über Harpîn erste erfolgreiche Bewältigung einer drohenden Terminkollision folgt – doch die anhand dieser beiden Szenen ausgelöste Reflexion ist anders gerichtet als beim Waldmann. Îwein steht beide Male vor einem moralischen Dilemma, beide Male gefasst als zwîvel (vgl. Iw. 3846 und 4869, 4914). Angesichts des Kampfes der Bestien entscheidet er sich dafür, dem edelen tiere (Iw. 3849) zu helfen, auch wenn er die sich daraus möglicherweise für sein eigenes Leben ergebende Gefahr fürchtet – unbegründet, wie sich herausstellt. Die Entscheidung für die moralisch richtige Handlung, die Îwein angesichts des Kampfes von Drache und Löwe trifft, wiederholt sich im Harpîn-Kampf. Dort ist sie an die Terminproblematik gebunden. Îwein muss morgens trotz der Verpflichtung Lûnete gegenüber ausharren und auf die Ankunft des Riesen warten, während er seine aus dem Terminkonflikt resultierende scheinbar aussichtslose Lage zwischen Ehrverlust und Schande mit aller Deutlichkeit abwägt (Iw. 4870–4913). Harpîn verursacht durch sein Ausbleiben diesen Reflexionsprozess und bringt ihn mit seiner Ankunft zu einem Ende. Nach der Zuspitzung des Dilemmas in Îweins Gedanken geht die Reflexion in Handlung über und bewegt sich unaufhaltsam von der Taktung der Verpflichtungen getrieben auf die endgültige Auflösung des Konfliktes zu.
521 Vgl. dazu Q UAST UAS T , Bruno, Das Höfische und das Wilde, Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein, in: Beate Kellner, Ludger Lieb, Peter Strohschneider (Hgg.), Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, Frankfurt/M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 111–128.
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2.3.3 Die zwei tôren Die Ähnlichkeiten zwischen dem Waldmann und dem wahnsinnigen Îwein sind augenfällig und entsprechend schon häufig beschrieben worden. Sie gleichen einander in ihrer Verortung,522 in der Beschreibung ihres furchteinflößenden Aussehens und der Bezeichnung als tôr (Iw. 440 und 3260 und passim), gebûre (Iw. 432 und 3557) und ungetân (Iw. 934 und 3579). Die Forschung ist so weit gegangen, den Waldmann primär als Präfiguration des wahnsinnigen Îwein zu lesen,523 doch wird diese Deutung durch eine Reihe von feinen, aber deutlich wahrnehmbaren Differenzen zwischen den beiden tôren, insbesondere bezüglich ihrer kulturellen Möglichkeiten, unwahrscheinlich. Diese Differenzen führen allerdings zu keiner trennscharfen Unterscheidung zwischen den beiden Figuren. Der Waldmann ist als wilder Mann mit den Merkmalen einfachster kultureller Errungenschaften versehen: Kleidung, Bewaffnung und sein ambet als Wächter bzw. Hirte fügen sich in dieses Bild. Doch er ist mit Kompetenzen ausgestattet, die diese Identität übersteigen. Seine Macht über die Tiere wurzelt in einer magischvordifferenziellen Fähigkeit. Darüber hinaus ist er sprachkundig und von rascher Auffassungsgabe (er kann schnell und präzise auf Kâlogrenants Anliegen eingehen). Seinen Handlungen liegt eine eindeutige ethisch-moralische Strategie zugrunde und mehr noch, er ist in der Lage, die komplexe rhetorische und über den Artushof als Gipfel des gesellschaftlichen Ethos etablierte Formel des Rash-boonAngebots zu bedienen.524 Die Îwein auch als tôr eigenen zivilisatorische Reste (die gestohlene Bewaffnung und die Jagd, die Handelsbeziehung zu dem Einsiedler, die Ernährung), werden auf seine kindliche Konditionierbarkeit zurückgeführt. Er wird von keiner kognitiven Reflektiertheit gesteuert. Kontrastierend zu seiner angeborenen Art und seinen erlernten und durch den Wahnsinn nicht ganz ausgelöschten Fähigkeiten (er ist nach wie vor ein ausgezeichneter Jäger), ist er gänzlich nackt, von primären Bedürfnissen getrieben und keiner Sprache mächtig.
522 Zum Zusammenhang von Wald bzw. Rodung, Wahnsinn und Sprachlosigkeit vgl. S CHNYDER , Topographie des Schweigens, S. 299–301. 523 W ALTER H AUG schlägt die Verbindung über die âventiure. In der âventiure-Definition des Waldmanns als „die zum Selbstzweck gewordene Rittertat“ sieht er den Grund für die „Krise“ des Helden, die ihn als tôr „auf das Niveau oder sogar unter das Niveau des wilden Mannes“ absinken lässt, bevor er den wahren Inhalt der âventiure verstehen lernt, vgl. H AUG , Literaturtheorie, S. 132–133. IL OY -H IRTZ , Begegnung mit dem 524 Zur Verbindung von Natur und Kultur im Waldmann vgl. G ILOY RIEDRIC H bezieht in seine Betrachtung den wahnsinnigen Iwein mit Ungeheuer, S. 182–183. U DO F RIEDRICH ein, vgl. F RIEDRICH , Menschentier, S. 373–374.
2.3 Die Nachwirkung des Waldmanns
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Die den Figuren jeweils zugeschriebenen Semantiken zwischen Natur und Kultur sind gegeneinander verschoben. Die beiden Figuren teilen gewisse Eigenschaften, sind aber aufgrund unterschiedlicher Akzentuierungen nicht aufeinander abzubilden. Wie schon für den Fall Harpîns und der Untiere beobachtet, spiegelt sich in dem wahnsinnigen Îwein525 das reflexive Potenzial des Waldmannes, ohne direkt an dessen poetologische Relevanz anzuknüpfen. Beide Figuren sind der Zeit enthoben, bergen in sich allerdings viel Handlungspotenzial. Der Waldmann ermöglicht Kâlogrenants Scheitern und Îweins Sieg und ausgehend vom wieder zu sich selbst findenden Îwein entwickelt sich das gesamte Narrativ seines Bewährungswegs. Beide Figuren ermöglichen somit einen Neuansatz des Erzählens. Während im Waldmann allerdings der Grundkonflikt des Romans offensichtlich wird, ist die Deutung des Wahnsinnigen auf einen Teilaspekt die Wiedereingliederung in Kultur und Gesellschaft hin ausgerichtet. Wie schon gesehen wurde, handelt es sich nicht um einen absoluten „Moment des kulturellen Neuanfangs“,526 denn der wahnsinnige Îwein ist mit gewissen zivilisatorischen Rudimenten ausgestattet. Doch die soziale Komponente, die Bewegung von der zunächst völligen Isolation in das Zentrum der Gesellschaft hinein, bis Îwein wieder in die Artusgesellschaft integriert und bei seiner Ehefrau rehabilitiert ist, nimmt auf dem niuweriute (Iw. 3285) ihren Anfang. Dieser Prozess ist von dem Erlangen eines neuen Zeitbewusstseins begleitet. Zu Beginn lebt Îwein von der Hand in den Mund. Er jagt gesteuert durch sein Hungerempfinden, jenseits jeder Regelmäßigkeit schießt er ûz der mâze vil (Iw. 3274) Wild. Die Zeit bzw. zumindest ein gewisser Rhythmus hält in der Begegnung mit dem Einsiedler in der Existenz des tôren Einzug. Allerdings ist ihm dies nicht bewusst. Er wird lediglich durch das Nahrungsangebot zu einem regelmäßigen basalen Warentausch mit dem Eremiten konditioniert (vgl. Iw. 3320–3344). Diese Wiedereinführung von Regularitäten geht einher mit einem Narrativ der absoluten Zeit. Denn die im Zustand des Wahnsinns verbrachte Zeit findet in Îweins Körper trotz dessen langsamer Wiederannäherung an ein gesellschaftlich und zeitlich geregeltes Leben eine Manifestation: Er wird nach und nach gelîch einem môre (Iw. 3348) und die Erinnerung an sein früheres Leben wird aus seinem
525 Zu Îweins Wahnsinn vgl. zuletzt: H AUBRICHS , Walter, Erzählter Wahnsinn. Zur Narration der Irrationalität in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein, in: Ralf Plate (Hg.), Mittelhochdeutsch: Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag, Berlin, New York 2011, S. 55–65, ebenfalls W ALDMANN , Bernhard, Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegung zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters, Erlangen 1983 (Erlanger Studien 38), S. 64–78. 526 H AUBRICHS , Erzählter Wahnsinn, S. 64.
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Körper ausgelöscht. Trotz der Regelmäßigkeit des Warentauschs folgt der Wahnsinnige weiterhin ungefiltert seinen Bedürfnissen, so dass ihn die Damen von Nârisôn mitten am Tag schlafend finden. Mit der Heilung durch die Zaubersalbe und dem Erwachen erlangt Îwein wieder das Bewusstsein seiner Vergangenheit, auch wenn alle Evidenzen seines Körpers dagegen sprechen. Seine gesellschaftliche Wiedereingliederung527 verläuft über die Kleidung, das Bad528 und direkt im Anschluss den ersten Termin: Graf Âliers erscheint und Îwein muss sich ihm stellen. Damit sind die Voraussetzungen für den Handlungsverlauf und die Textlogik gegeben. Die âventiure, so wie der Waldmann sie versteht, kann sich entfalten.
2.3.4 Absenz und Verfremdung In Kâlogrenants Erzählung dominiert die körperliche Präsenz des Waldmanns die Begegnung auf der Rodung. Die Anwesenheit der menschlichen Gestalt inmitten der Bestien reicht aus, um Kâlogrenants ersten Schrecken zu beruhigen, später ist es eben dieser bei näherem Hinsehen monströse Körper, der erneut eine starke affektive Reaktion und definitorisch-kategorielle Unsicherheiten beim Gegenüber hervorruft. Die körperliche Präsenz des Waldmanns wirkt nicht nur auf Kâlogrenant, sondern wird in seiner lakonischen Aufgabenbeschreibung dâ stân ich disen tieren bî (Iw. 490) auch zum Grund für seine Anwesenheit, die einer mythischen Logik gemäß zudem die im Kampf der Tiere waltenden rohen Kräfte ausbalanciert. Narrativ manifestiert sich die Präsenz in der ausführlichen Beschreibung des monströsen Körpers. Innerhalb Kâlogrenants Erzählung nimmt der Waldmann großen Raum ein, er ist Teil eines ausführlich auserzählten Spannungsbogens und zugleich der Angelpunkt, an dem ein weiterer Spannungsbogen ansetzt. Diese wirkmächtige und narrativ ausgestellte Präsenz des Waldmanns lässt die Absenz der Figur beim späteren Wiederaufsuchen des Brunnenorts umso augenfälliger aufscheinen. Der Waldmann bleibt, nachdem Îwein mit ihm interagiert hat, verschwunden, die darauffolgenden Szenen am Brunnen weisen lediglich Anklänge an die Figur auf, welche zwar die Erinnerung an die Begebenheit auf der Rodung, die an den monströsen Körper, wach halten, allerdings in deutlichem Kontrast zu Kâlogrenants Erzählung die Abwesenheit des Waldmanns
527 B EERNHARD RNHARD W ALDMANN spricht im Zusammenhang mit Îweins Erwachen von „Kultur als gesellschaftliche[r] Selbstvergewisserung“, vgl. W ALDMANN , Natur und Kultur, S. 68. AUBRIC HS , Erzählter Wahnsinn, S. 65. 528 Vgl. dazu H AUBRICHS
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herausstellen. Auch die Schilderung des Wahnsinnigen Îwein ruft den Waldmann ins Gedächtnis, allerdings ist die Figur des kultur-, geschichts- und bewusstseinslosen Ritters gegenüber dem gebûre entscheidend modifiziert. Doch diese Anklänge ändern nichts an der Tatsache bzw. betonen sie sogar: Der Waldmann bleibt verschwunden. Dieses Verschwinden und die verfremdeten Wiederaufnahmen werden nun, um die Beschäftigung mit dem Iwein abzuschließen, erneut unter dem Blickpunkt von Medialität und Poetologie betrachtet. Abwesenheit, eine zeitlich begrenzte Verfügbarkeit und damit zusammenhängend das Verschwinden von Monstern zieht sich durch den Diskurs der Beschäftigung mit Monstern und findet eine Parallele im Umgang Medien. Ich fasse die in Kapitel 1 schon ausführlicher dargelegten relevanten Ansätze kurz zusammen.529 I SIDORS portenta sind jeweils ephemere Phänomene (vgl. Isid. orig. XI,3,5), welche als Marker für Zukünftiges erscheinen und bald darauf verschwinden. Sie tragen das zunächst unbestimmte Potenzial einer Prophezeiung, den Charakter eines Omens, in sich und werden im Nachhinein durch einen deutenden Akt mit historischen Ereignissen zusammengebracht und somit erst dann zum Teil eines zeitlich-historischen Ordnungsgefüges, wenn sie nur noch als Erinnerung und Erzählung verfügbar sind. Auch bei D ERRIDA verschwindet das Monster, wenn es in eine Ordnung integriert wird, jedoch unter anderen Voraussetzungen. Wird das Monster bei I SIDOR nachträglich narrativ in ein Ordnungsgefüge integrierbar, ist es in D ERRIDAS Ansatz als Figur jenseits aller Ordnungen aller Darstellbarkeit entzogen und somit grundsätzlich absent. Es verschwindet im semiotisch ordnenden Akt seiner Repräsentation und ist konsequent jeweils nur nicht bzw. falsch wahrzunehmen und zu erkennen (méconnu).530 Diesen Gedanken D ERRIDAS bringt B EATE O CHSNER über das Medium-Form-Modell nach H EIDER und L UHMANN mit dem Verschwinden des Mediums im Akt der Vermittlung zusammen. Das Monströse ist einem Medienaprioi gemäß nur in einer medialen Vermittlung greifbar. Ebenso wie diese Mediatisierung zugleich niemals eine vollständige Verfügbarkeit des Monsters ermöglicht, tritt nach H EIDER und L UHMANN das Medium im Prozess der Vermittlung hinter der Form des Vermittelten zurück.531 Das Verschwinden des Mediums hinter der Form bzw. hinter den von ihm transportierten Inhalt ermöglicht beim Rezipienten solange die Illusion einer Unmittelbarkeit oder Unvermitteltheit der
529 Vgl. bes. Kap. 1.1.4, 1.2.3, 1.2.6 und 1.2.8. 530 Vgl. D E RRIDA , Some Statements and Truisms, S. 79–80. 531 Vgl. O C HSNER , DeMONSTRAtion, S. 13–14.
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wahrgenommenen Inhalte, bis das Medium durch eine Störung des Vermittlungsprozesses wieder in den Wahrnehmungsvordergrund tritt.532 Solche Störungen UDWIG IG J ÄGER als produktive Initiationen von Reflexion verstanden können mit L UDW werden, wie es in Bezug auf den Waldmann und seinen Umgang mit dem âventiure-Begriff in Kap. 2.2.4 gezeigt wurde. Doch wie fügt sich nun das Verschwinden und verfremdete Wieder-Aufscheinen des Waldmanns in diesen Rahmen? Da die vorliegende Arbeit Monstrosität als poetologisch funktionale deskriptive Kategorie begreift, bieten die Ansätze, welche die Darstellbarkeit einer wesenhaften Monstrosität grundsätzlich in Zweifel ziehen, wenig produktive Zugriffsmöglichkeiten an, allenfalls die Beobachtung, dass der Zugang zu bisher nicht diskursiv etablierten Konzepten und Sachverhalten über Figuren gesucht wird, die ebenfalls durch eine problematische Konzeptualisierbarkeit ausgezeichnet sind. In diesem Fall sind es allerdings nicht die Monster, welche die Grenzen der Darstellbarkeit sprengen, sondern die über sie verhandelten Aspekte. Die Präsenz von Monstern sorgt in diesem Zusammenhang für eine besondere Hervorhebung und Sichtbarkeit der mit ihnen assoziierten Konzepte – und ihrer selbst. Eine Gleichsetzung des Waldmanns als Medium, dessen Verschwinden als Symptom eines störungsfrei verlaufenden Vermittlungsprozesses gelesen werden kann, scheitert ebenfalls. Das Verschwinden geschieht nicht als Resultat eines vermittelten Inhalts. Umgekehrt allerdings kann das Verschwinden des Waldmanns zum Ausgangspunkt von medial beschreibbaren Vermittlungsprozessen werden. Die Absenz des Waldmanns vom Brunnenort ist kontrastierend zu seiner Präsenz in der Begegnung mit Kâlogrenant deutlich markiert. Die erste Szene baut mit der Schilderung der monströsen Tiere und des Waldmanns, der Komik und Ironie des Dialogs, der reflexiven Komplexität und der anschließenden emotional aufgeladenen Kampfszene eine große Erwartungshaltung auf, die schon in Îweins Begegnung mit dem narrativ bereits bewältigten Waldmann unterlaufen wird und bei den weiteren Aufenthalten am Brunnenort antiklimaktisch ausläuft. Der Waldmann bleibt verschwunden. Auf der Handlungsebene stellt die unerklärte Abwesenheit des Waldmanns eine Störung dar, allerdings keine Illusionsstörung, wie sie Ansätze zu literarischer Selbstreflexion beschreiben, die mit einem Bruch der Diegese einherginge. Die erzählte Welt bleibt intakt und die Ebene der Narration wird nicht verlassen, doch in ihr öffnet sich durch den abwesenden Waldmann eine Leerstelle. Der
532 Vgl. J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 52–59.
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monströse Körper ist zu raum- und aufmerksamkeitsgreifend, als dass seine Absenz unbemerkt bleiben könnte, insbesondere da ja durch lexikalische und motivische Anklänge die Erinnerung an die Begebenheit auf der Rodung wachgehalten wird. Aus der Leerstelle ergeben sich somit transkriptive Prozesse, die es ermöglichen, an die in der Szene um den Waldmann konzentrierten Reflexionen anzuknüpfen. Die Art und Weise dieser Wiederaufnahme geht über den Kontrast mit der ersten Szene und die sich um den Brunnenort gruppierenden Allusionen hinaus. Über die Absenz und das Verschwinden der prägenden Figur wird strukturell an die âventiure-Reflexion in Kâlogrenants Erzählung angeschlossen, die ebenfalls in der Tilgung von âventiure aus der erzählten Welt und in ihrer Verfremdung durch Kâlogrenants Definition ihren Anfang nimmt. Aus dieser Verunsicherung, zugespitzt in der Frage des Waldmanns âventiure? waz ist daz? (Iw. 527) ergibt sich der entscheidende poetologische Reflexionsanstoß. Indem die für diesen Reflexionsprozess so zentrale Figur des Waldmanns im Verlauf des Romans den gleichen Vorgängen unterworfen wird, werden das Monster und die âventiure einander über die schon herausgestellten Parallelen und Bezüge hinaus angenähert und die poetologische Relevanz des Waldmanns unterstrichen. Die mit jedem Aufsuchen des Brunnenorts neu betonte Leerstelle führt zu Fragen nach dem Wesen des Waldmanns und seiner handlungslogischen und literarischen Funktion. Es sind die Fragen, die Kâlogrenant ihm schon gestellt hat: bistû übel ode guot? (Iw. 483), waz crêatiure bistû? (Iw. 487), nû sage mir, waz dîn ambet sî (Iw. 489). Kâlogrenants Interrogation wird aus der durch die Leerstellen eröffneten Perspektive poetologisch neu lesbar. Die Antwort auf die erste Frage betont die Abhängigkeit des Waldmanns in seinen Aktivitäten vom Gegenüber (swer mir niene tuot/ der sol ouch mich ze vriunde hân, Iw. 484–485), auf die zweite Frage wird die Relevanz und zugleich Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung des Gegenübers ausgestellt (ein man, als dû gesihest nû, Iw. 488) und die dritte Frage fokussiert auf die körperliche Präsenz des Waldmanns (dâ stân ich disen tieren bî, Iw. 490). Die Antworten des Waldmanns, die situativ zu Kâlogrenants Beruhigung dienen, betonen in dieser Relektüre seine Multifunktionalität als einerseits agierende Figur im Handlungsgefüge und andererseits Schlüssel zur Reflexion, indem genau die für die Reflexion ausschlaggebenden Aspekte, die Initiative des Lesers, seine Wahrnehmung und Deutung sowie die Präsenz des Monsters hervortreten. Wie I SIDORS portenta ist der Waldmann in seinem kurzen Auftritt am Beginn des Textes mit dem Desiderat einer Deutung versehen. Zwar wird er schon in der Begegnung mit Kâlogrenant ausführlich verhandelt, doch trägt er in sich einen Überschuss, der über spätere Ereignisse für die Lektüre des Textes und im Rahmen einer Relektüre des Waldmanns produktiv werden kann. Die Relektüre –
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oder auch nur rückblickende Reflexion – wird in diesem Fall durch die Absenz des Waldmanns, seine Verfremdung und die strukturelle Annäherung an die âventiure getriggert. Da es, wie in den vorangehenden Kapiteln dargelegt, an diesen Stellen zu Übertragungen des reflexiven Potenzials auf andere, zum Teil mit Merkmalen und Motiven des Waldmanns ausgestattete Figuren und Situationen kommt, ist der gesamte Text schließlich von reflexiven Bezügen durchzogen, die im Waldmann ihren Ursprung haben.
3 H EINRICHS VON DEM T ÜRLIN Crône Am Anfang des Artusromans Diu Crône bringt ein monströser Bote einen Zauberbecher an den Artushof, aus dem alle Anwesenden als Tugendprobe trinken müssen. Die Becherproben-Episode ist schon früh in den Fokus der Forschung gerückt. 1841, elf Jahre vor der ersten und lange Zeit maßgeblichen Ausgabe des AH N gesondert herausgegevollständigen Texts,533 wurde sie von K ARL A UGUST H AHN ben.534 H AHNS Ausgabe – sie umfasst die Verse 918–3118 der Wiener Handschrift, ergänzt um den nur in der Heidelberger Handschrift überlieferten sog. Osterherren-Exkurs535 – wurde als Anhang zu einer Untersuchung F ERDINAND W OLFS 536 ediert, ohne mit dieser in einem inhaltlichen Zusammenhang zu stehen. Umso deutlicher dagegen erscheinen die Bezüge zu den innerhalb des gleichen Appendix unmittelbar vor der Becherprobe abgedruckten Erstausgaben des Lai du Cor und des Mantel Mautaillé.537 Die beiden altfranzösischen Texte schildern, wie die Becherproben-Episode der Crône, Tugendproben. Im Lai du Cor müssen sich die Herren der Artusgesellschaft an einem Trinkhorn versuchen, im Mantel Mautaillé wird die Treue der Damen mit Hilfe eines Mantels geprüft, der nur der Tugendhaftesten passt. Mit der Nebeneinanderstellung der thematisch verwandten Texte ist ein wichtiger Aspekt der frühesten Studien zur Becherproben-Episode und zur Crône überhaupt skizziert: Zunächst standen quellen- und motivgeschichtliche Fragen im Zentrum des Forschungsinteresses insbesondere immer wieder der H RISwertende Vergleich mit den intertextuellen Vorlagen der ‚Blütezeit‘.538 Mit C HRIS-
533 H EINRICH VON DEM T ÜRLIN ÜRL IN , Diu Crône, hg. von Gottlob Heinrich Friedrich Scholl, Stuttgart 1852 (Bibliothek des Literarischen Vereins Stuttgart 27). 534 Den Terminus ‚Becherprobe‘ übernehme ich aus der zweiten Einzelausgabe der Stelle von W ERNER S CHRÖDER : S CHRÖDER , W erner, Herstellungsversuche an dem Text der Crône Heinrichs von dem Türlin. 2 Teile. Teil 1: Mit nhd. Übersetzung und Kommentar [umfasst Prolog (Cr. 1–313), Epilog (Cr. 29910–30000) und Handschuhprobe (Cr. 23006–24699)]. Teil 2: Die Becherprobe [umfasst Cr. 918–1589, 1631–2290, 2348–2631], Stuttgart 1996 (=Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1996, Bd. 2 und Bd. 4). 535 Dies entspricht den Versen 918–3176 in der hier als Referenz verwendeten ATB-Ausgabe. 536 Die Sage vom Zauberbecher aus Heinrich’s von dem Türlein Krone zum ersten Mal hg. von K. A. Hahn, in: F ERDINAND W OLF , Über die Lais, Sequenzen und Leiche, Heidelberg 1841, S. 378– 423. 537 Le Lai du corn et Le fablieau du mantel mautaillé, hg. von Francisque Michel, in: Ferdinand Wolf, Über die Lais, Sequenzen und Leiche, Heidelberg 1841, S. 327–377. E TER ER K ERN : K ERN , Peter, Die Romanstruktur der ‚Krone‘ 538 Vgl. z. B. die Zusammenstellung bei P ET Heinrichs von dem Türlin, in: Susanne Gramatzki, Rüdiger Zymer (Hgg.), Figuren der Ordnung. Beiträge zu Theorie und Geschichte literarischer Dispositionsmuster. Festschrift für Ulrich Ernst, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 53–59, hier S. 53–54.
https://doi.org/10.1515/9783110345353-004
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3 H EEINRICHS IN RIC HS VON DEM T ÜRLIN Crône
C ORMEAU beginnt eine Neuperspektivierung der Crône, die er als Teil eines eigenen Gattungsgefüges mit eigenen Traditionen, Formen und Ansprüchen liest, und sie somit vom Vorwurf, sie sei „minderwertig, epigonal und plagiatorisch […]“539 freispricht.540 Seitdem sind eine Reihe von Monographien und Aufsätzen entstanden, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Werks auseinandersetzen.541 In jüngster Zeit kommt es dabei vermehrt zu poetologischen Lektüren des Textes, die sich in der Nachfolge C ORMEAUS insbesondere mit der Intertextualität beschäftigen.542 TOPH
539 F ELDER , Gudrun, Kommentar zur Crône Heinrichs von dem Türlin, Berlin, New York 2006, S. 2. ORME AU , Christoph, Wigalois und Diu Crône. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nach540 C ORMEAU klassischen Aventiureromans, Zürich, München 1977. ENNERHOL D , Markus, Späte 541 Einen umfangreichen Überblick über die Forschungslage bieten W ENNERHOLD mittelhochdeutsche Artusromane. Lanzelet, Wigalois, Daniel von dem Blühenden Tal, Diu Crône, Bilanz der Forschung 1960–2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 27), S. 182–253 ELDE R , Kommentar. Aufschlussreich ist auch die kommentierte Quellenstudie von C HRIST HRIS TINE INE und F ELDER Z ACH : Z ACH AC H , C HRISTINE , Die Erzählmotive der Crône Heinrichs von dem Türlin und ihre altfranzösischen Quellen. Ein kommentiertes Register, Passau 1990 (Passauer Schriften zu Sprache und Literatur 5). EYE R , Matthias, Die Verfügbarkeit der Fiktion: Interpretationen und poetologische Unter542 M EYER suchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Beihefte zur Germanisch-Romanischen Monatsschrift 12), K AMINSKI , Nicola, Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt. Abgründiges Erzählen in der Krone Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005 (Beiträge zur Älteren Literaturgeschichte), V OLLMANN , Justin, Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die ‚Krone‘ Heinrichs von dem Türlin, Tübingen 2008 ABIC HT , Isabel, Der Zwerg als Träger metafiktionaler Diskurse in (Bibliotheca Germanica 53), H ABICHT deutschen und französischen Texten des Mittelalters, Heidelberg 2010 (Beihefte zur GermanischOL TA , Eva, Die Chimäre als dialektische Denkfigur im Romanischen Monatsschrift 38). S. auch: B OLTA Artusroman. Mit exemplarischen Analysen von Teilen des Parzival Wolframs von Eschenbach, des Wigalois Wirnts von Grafenberg und der Crône Heinrichs von dem Türlin, Frankfurt 2014 US CHINGER , Danielle, Die Gestalt des Kei in der Crone. Tradition und Innovati(Mikrokosmos 81), B USCHINGER on: Vom Spötter zum Gralssucher, in: Cora Dietl, Christoph Schanze, Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Ironie, Polemik und Provokation, Berlin, New York 2014 (Schriften der Internationalen ArtusgeARRINGT ON , Carolyne, Mourning Gawein: Cognition and Affect in Diu sellschaft 10), S. 211–224, L ARRINGTON Crone and some French Gauvain-Texts, in: Emotions in medieval Arthurian literature, S. 123–142, L EC HTERMANN HTE RMANN , Christina, Momente des Vergessens: Immersion als Erwartung in der Crone Heinrichs von dem Türlin, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (2012), S. 104–123, M EY ER , Matthias, Die Crone und die Postmoderne, in: Monika Costard, Jacob Klingner, Carmen Stange (Hgg.), Mertens lesen. Exemplatische Lektüren für Volker Mertens zum 75. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 147–164, R EUVEKAMP , Silvia, Verborgen schatz und wistuom. Transformationen gelehrten Wissens in der Crone Heinrichs von dem Türlin, in: Manfred Eikelmann, Udo Friedrich (Hgg.), Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen – Literatur – Mythos, Berlin, New York 2013, S. 99–116, S CHANZE , Christoph, K IRCHHOFF , Matthias, Interferenzen zwi-
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Ich werde mit meiner Analyse an die neuesten Ansätze anknüpfen und eine poetologische Lektüre der Becherproben-Episode vorschlagen. Mein Fokus liegt dabei auf der Figur des monströsen Boten und ich werde entsprechend nicht nur die Ereignisse der Tugendprobe,543 sondern den gesamten Auftritt des Boten (Cr. 918–3207) betrachten.
3.1 Die Becherprobe 3.1.1 Die Becherproben-Episode als isolierte Texteinheit Die Becherproben-Episode findet während des weihnachtlichen Hoffests am Artushof statt. Makrostrukturell nimmt sie die Position zwischen dem Prolog und der Schilderung des Weihnachtsturniers einerseits und dem eigentlichen Handlungsbeginn mit dem ersten Teil der Gasozein-âventiuren andererseits ein. In dieser Zwischenstellung, zwischen den Anfängen, erscheint sie als handlungslogisch isoliert. Für den weiteren Romanverlauf bleibt das Geschehen um den goldenen Becher ohne Konsequenz, es wird nach der Abreise des Boten nicht mehr explizit darauf referiert und das größtenteils blamable Ergebnis der Tugendprobe bleibt für alle Beteiligten ohne Folgen. Die Forschung hat diese Alleinstellung der Episode schon des Öfteren festgestellt,544 allerdings wurde bisher noch keine eingehende Analyse sämtlicher Aspekte dieser Abgeschlossenheit geleistet. Die Isolation ist zum einen dem konsequenten Kappen aller möglichen aus der Probe resultierenden Handlungsfäden geschuldet.545 Als konkretes – und in
schen Artusroman und Minnesang. Eine Standortbestimmung mit Blick auf die Gasoein-Episode in der Crone Heinrichs von dem Türlin, in: Cora Dietl, Christoph Schanze, Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Gattungsinterferenzen. Der Artusroman im Dialog, Berlin, New York 2016 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 11), S. 155–176. UTWAL D , Thomas, Schwank und 543 Zur Motiv- und Gattungsgeschichte der Tugendproben s. G UTWALD Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der Crône des Heinrich von dem Türlin, Frankfurt/M. 2000 (Mikrokosmos 55), S. 123–133, ebenso B ESAMUSCA , Bart, Characters and Narrators as Interpreters of Fidelity Tests in Medieval Arthurian Fiction, Neophilologus 94 (2010), S. 289–299, hier S. 289–291. 544 Vgl. beispielsweise B LE UMER , Hartmut, Die Crône Heinrichs von dem Türlin. Die FormErfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters, Band 112), S. 257 oder H ABICHT , Der Zwerg S. 174, die sich auf die handlungslogische Dimension beschränkt. EYE R , Verfügbarkeit der Fiktion, S. 74 weist auch was die Ereignisse der Probe selbst angeht 545 M EYER auf die „Fremdheit [der Szenen] im sonst stark handlungsorientierten Erzählen“ hin.
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der Figurenreihe durch die Verbindung mit dem Protagonisten prominentes – Beispiel wäre Gaweins amye Flori (Cr. 1293–1311) zu nennen, die nach ihrem unrühmlichen Auftritt in der Becherprobe aus dem Text verschwindet und kommentarlos durch Amurfina ersetzt wird. Flori ist eine der wenigen Gestalten der Becherprobe, die in der zweiten Tugendprobe im Verlauf des Romans, der Handschuhprobe, nicht mehr genannt wird. Des Weiteren wird auf der abstrakteren Ebene in der Gestalt des bemerkenswerten Boten vor der Festgesellschaft das im Artusroman verbreitete Motiv der (Handlungs-)Provokation zwar zitiert, aber durch die Beschränkung der auentivr (als solche wird die Becherprobe bezeichnet vgl. z. B. Cr. 1192) auf die Zeit und den Ort des Festes und auf die Festteilnehmer als Akteure, seiner eigentlichen narratologischen Potenz beraubt. Nachdem die Probe abgeschlossen ist, besteht für den Artushof kein Handlungsbedarf mehr.546 Diesbezüglich liegt die Alleinstellung der Episode, wie später noch näher zu erläutern sein wird, in ihrer intertextuellen Ausrichtung begründet. Das Versagen des arthurischen Personals in der Tugendprobe kann keinen Einfluss auf das Geschehen der Crône haben, da es sich auf die bekannten Geschichten aus dem Artuskomplex, als deren unmittelbare Folge es in Keys Deutungen dargestellt wird, bezieht. Die Protagonisten der älteren Artusromane scheitern somit aufgrund von Makeln, die sich aus ihrer literarischen Vergangenheit – oder zumindest aus ihrer literaturgeschichtlichen Vorgängigkeit – ergeben. Iweins, Erecs und Parzivals Scheitern, wie es in der Becherprobe erinnert wird, stellt für die Artusgesellschaft der Crône keine echte Provokation mehr dar, da die Verfehlungen in den jeweiligen Romanen schon gleichsam aus der Welt geschafft wurden. In Keys Analysen des Scheiterns wird somit zwar die literarische Tradition des Artusromans problematisiert,547 der intradiegetische Artushof der Crône selbst bleibt dagegen in seiner Idealität intakt bzw. wird sogar in ihr gefestigt. Die vom Meerkönig Privre in Frage gestellte werdecheit (Cr. 1021) des König Artus zeigt sich nämlich nicht nur in dem Rash-boon-Motiv und der Annahme der Herausforderung, die der Becher an den Hof stellt. Sie wird auch durch Artus’ Bestehen der Becherprobe bestätigt (Cr. 1892–1896): Sein weit verbreitetes, bis zum Meerkönig vorgedrungenes Lob (Cr. 1010–1022, vgl. auch Cr. 3110–3130), das ursprünglich
546 Auf Keys Herausforderung und Kampf mit dem Boten wird später eingegangen. B LEUMER LE UMER argumentiert, dass die Probenhandlung aufgrund ihrer paradigmatischen Dichte und Fokussierung auf das reflexive Potenzial kaum in syntagmatische Motivationszusammenhänge zu integrieren sei, vgl. Bleumer, Die Crône, S. 257. 547 Wie zu sehen sein wird, wird die Tradition des Artusromans nicht nur aufgerufen, sondern E YER ER , Verfügbarkeit der Fiktion, S. 74–78, S. 169– auch neu gedeutet und ergänzt. Dazu auch M EY 176, V OL LMANN , Das Ideal des irrenden Lesers, S. 151–175
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den Ausschlag für die Aussendung des Boten und somit für die Becherprobe gegeben hatte, erscheint als gerechtfertigt.548 Aus dem positiven Ausgang der Episode ergibt sich daher keine Notwendigkeit, mit einem âventiure-Auszug den Ruf des Artushofs wiederherzustellen. Im Gegenteil, der Bote verspricht bei seiner Abreise, nicht nur seinem Herrn Privre gegenüber, sondern auch zu allen weiteren sich bietenden Gelegenheiten von Artus’ Tugend zu berichten und so dessen Ruhm zu mehren:
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Mein wech ist vil starch lanch, Den ich noch reiten muoz. Lat mich haben iwern gruoz, Vrloup vnd hulde, Wan ir ein übergulde Gar allr tugend seit. Daz muoz wesen ane streit, Die weil vnd ich gesprechen mak. Ju hat gefrumet dirre tak Vil gar an iwerm preise, Wan ichs mangen beweise, Der sein e niender west. Da mach ich in so vest, Daz in niemen mak verwerten. Daz lop wil ich so beherten Ju, swa ich landes bin. Daz wirt iwer eren gwin. (Cr. 3114–3130)549
548 Was genau die Idealität bestätigt, wird in der Schwebe gehalten. Es könnte sich um die Gewährung der Blanko-Bitte handeln oder um das Bestehen der Becherprobe oder des Kampfs mit dem Boten durch ein Mitglied des Artushofs. Mit Erfüllung einer bzw. beider Bedingungen (Artus gewährt die Bitte und besteht die Probe) erscheint die dem Meerkönig zu Ohren gedrungene hervorragende Tugendhaftigkeit und Ehre ausreichend bewiesen zu sein. Zumindest versichert der Bote dem König zum Abschied, er sei […] ein chrone/ Vnd ein spigel allr eren. (Cr. 3110–3111). Das Scheitern aller Damen und Ritter am Becher sowie Keys Niederlage im Kampf auszuklammern und das ruhmvolle Bestehen der Probe durch Artus ins Zentrum zu stellen, korrespondiert mit dem im Prolog formulierten Vorhaben, einen Roman mit Artus als Protagonisten zu erzählen (vgl. Cr. 161–465, explizit 217–219), auch wenn der Roman diese Absicht ansonsten eher unterläuft. 549 Mein Weg, den ich noch reiten muss, ist sehr, sehr lang. Gewährt mir euren Gruß, Abschied und eure Huld, weil Ihr ein Übergold aller Tugenden seid. Solange ich sprechen kann, steht das außer Streit. Dieser Tag hat euren Ruhm sehr befördert, weil ich vielen davon künden werde, die davon zuvor nichts wussten. Ich werde ihn dort so stärken, dass ihn niemand entwerten kann. Euer Lob will ich festigen, in welchem Land ich auch sein werde. Das gereicht eurer Ehre zum Gewinn (Übers. nach K RAGL ).
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Aus der Becherproben-Episode resultiert somit keine für den Artushof schmachvolle Geschichte, die mit neuen, ehrenvolleren âventiuren überschrieben werden müsste. Die Begebenheit bietet selbst einen ausreichend positiven Erzählstoff, welcher, wie die Abschiedsrede des Boten verdeutlicht, der Bestätigung des Artushofs dienen kann. Auch innerhalb der Artusgesellschaft kann sie diesen Zweck erfüllen. Nach Abreise des Boten wird die soeben erlebte auentivre (Cr. 3196) zum vorherrschenden Gesprächsthema am Artushof und bleibt dies auch bis sie nach drei Tagen von der neuen und sensationellen Nachricht von dem Turnier in Yaschune abgelöst wird (vgl. Cr. 3196–3205). Neben den bisher aufgeführten inhaltlichen und motivischen Aspekten trägt ebenfalls die narratologische Einbettung der Szene zum akzidentellen Status der Episode im Textkontinuum bei. Die Probe schließt an die Ereignisse des Weihnachtsturniers an, zu dessen Ausklang die im Turnier unterlegenen Ritter den anwesenden Damen übereignet und von ihnen rituell begnadigt werden (Cr. 893– 906), um daraufhin zunächst zu baden und sich dann zum Festmahl zu begeben, das den Rahmen für die Ankunft des Boten und die Becherprobe bildet. Die Überstellung eines unterlegenen Ritters in den Schutz einer Dame ereignet sich erneut gegen Ende der Becherproben-Episode, als der dem Boten im Kampf unterlegene Key bei der Königin Gynever um Hilfe fleht, woraufhin sie den Boten nach ritters reht (Cr. 3095) um Keys Überstellung in ihre Obhut bittet (Cr. 3075– 3103). Mit der Wiederholung des Begnadigungsmotivs knüpft das Ende der Botenepisode eng an ihren Anfang an. Die große Nähe zwischen den beiden Szenen schlägt sich auch lexikalisch nieder, schon nach dem Turnier wurde auf das reht (Cr. 896) der Damen zur Begnadigung verwiesen. Diese Engführung unterstreicht die Abgeschlossenheit der Episode, indem sie – zugespitzt formuliert – an ihrem Ende die gleiche Situation aufruft wie zu ihrem Beginn. Die Ereignisse um den Becher erscheinen somit umso nachdrücklicher der Narration ausgeklammert. Betont wird dies weiterhin durch eine zweite narrative Doppelung, welche die Figur des Boten selbst betrifft. Während der Bote des Meerkönigs trotz deutlicher Anklänge an eine entsprechende Tradition keine Nachricht oder Provokation an den Artushof bringt, die eine âventiure-Handlung im Sinn eines Auszugs nach sich ziehen würde, erscheint unmittelbar nach Abschluss der BecherprobenEpisode ein zweiter Bote,550 der die Nachricht vom Turnier in Yaschune übermittelt (Cr. 3209–3217). Im Gegensatz zu dem Boten mit dem Becher stößt die 550 Dass es sich bei dieser Figur wirklich um einen Boten handelt und nicht um einen schon längere Zeit am Hof verweilenden Knappen, erscheint mir im Status der Einladung als Neuigkeit ausreichend begründet. Obwohl (chrono-)logische Argumentationen in der Crône grundsätzlich problematisch sind, könnte man hier unterstreichend auf das beim Hoffest deutlich ausgedrückte
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Botschaft dieses garzvn[es] (Cr. 3211) unmittelbar eine âventiure-Handlung an insofern, als alle Artusritter bis auf Key, Gales Lyschaus, Aumagwin und Artus selbst schnellstmöglich heimlich zum Turnier abreisen (Cr. 3259–3272). Die der Gattungskonvention gemäß schon nach der Ankunft des ersten Boten erwartbare Konsequenz wird so erst durch den zweiten Boten ausgelöst, der in seiner narrativen Gestaltung zudem eindeutig auf die Funktion des Impulsgebers für den Aufbruch der Ritter reduziert ist. Er wird als namenloser Knappe eingeführt, dessen Nachricht sich als indirekte Rede in aller Kürze und beschränkt auf das Wesentliche (Ort, Zeitpunkt und Initiatoren des Turniers sowie die Einladung an alle Ritter und die Aussicht auf riterschaft), in die Narration einfügt:
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Schier vloug ein mær erschollen Von einem garzvne, Daz ein turnay vor Yaschvne Über drei tag solde sein. Den het grave Rivelein Widern chünch Glays genomen. Swer dar zuo wolt chomen, Der vund groz riterschaft Da von der lantschaft Und von den vnchunden. (Cr. 3208–3217)551
Eine pragmatische Situierung der Nachricht findet nicht statt. Ankunft und Aussehen des Knappen, die Form des Sprechakts selbst sowie dessen Empfänger und die Situation der Übermittlung bleiben, abgesehen von dem vagen Verweis auf die drei Tage voll vrœd andauernden Festlichkeiten (Cr. 3205–3207), unbeschrieben. Mit der Figur des Yaschune-Boten sind die für den Artushof typischen und für den Artusroman topischen Bedingungen für einen âventiure-Auszug und somit auch für den Beginn eines Erzählstrangs552 erfüllt: Der statische Zustand des höfischen Fests, welcher durch die Ankunft eines Boten mit der Nachricht von âventiure aufgelöst und in eine Handlungsdynamik überführt wird. Die dazwischengeschaltete Becherproben-Episode spielt zwar auch mit Motiven aus dieser
Verlangen nach aventivre (Cr. 925–932) verweisen, das durch die Botschaft des Knappen – wohl weil er nicht anwesend ist – nicht befriedigt werden kann. 551 Geschwind verbreitete sich eine Geschichte durch einen Knappen, dass in drei Tagen vor Jaschune ein Turnier stattfinden sollte. Das würde Graf Rivalin gegen König Glays bestreiten. Wer dorthin kommen wollte, würde dort viele ritterliche Kämpfe von den Bewohnern des Landes und von den Fremden finden (Übers. nach K RAGL ). 552 ‚Erzählbeginn‘ kann sich sowohl auf den Anfang des Romans als auch auf Neuansätze des Erzählens (Beginn neuer Handlungsstränge) innerhalb des Romans beziehen.
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Tradition, sie wird aber funktional nicht makrostrukturell eingebunden, sondern die durch den Boten generierte Handlung bleibt auf die Geschehnisse um den von ihm selbst an den Artushof gebrachten Becher beschränkt. Indem nach der Abreise des ersten Boten dessen potenzielle Funktion der Handlungsgenerierung durch den zweiten Boten übernommen wird, erscheint die Episode aus der weiteren Romanhandlung vollständig herausgelöst. Nach dieser ersten, kurzen Lektüre des Abschnitts ‚von den Rändern her‘, stellt sich die Becherproben-Episode als dem Roman vorangestelltes, aber von ihm isoliertes und in sich abgeschlossenes Vorspiel bzw. eine „Exposition“ dar.553 Ihre Alleinstellung wird über unterschiedliche Strategien und Kanäle hervorgehoben. Am offensichtlichsten ist wohl die handlungslogisch-syntagmatische Dimension, in der sich die Episode als mit der weiteren Romanhandlung kaum verbunden zeigt. Im intratextuellen Spiel mit Motiven und mit dem durch die Gattungstradition abgesteckten Erwartungshorizont, sowie in der Eingrenzung der Stelle mit narratologischen Mitteln, wird die funktionale Isolation unterstrichen und ergänzt. Aus der Beobachtung der Alleinstellung ergibt sich nun die Frage nach einer Funktionalisierung der Episode jenseits der Handlung. Die Abgeschlossenheit und Isoliertheit legt nahe, dass es sich um einen Bereich poetologischer Reflexion handeln könnte. Entsprechende Ergebnisse hat die neuere Forschung schon vorgelegt. Die poetologischen Lektüren der Stelle stützen sich häufig insbesondere auf die intertextuellen Bezüge, die sich aus der Reihe der Probanden ergeben. Angesichts des sich schon in der Einbettung der Szene abzeichnenden hohen Grads an Komplexität und literarischer Reflexionsfähigkeit, erscheint dieser Fokus nicht als ausreichend nuanciert.554 Die äußerst vielschichtigen Implikationen
553 H ABICHT , Der Zwerg, S. 174. 554 I SABEL H ABICHT liest den Boten zwar als „Leseanleitung“, allerdings beschränkt sich ihre knappe Lektüre auf motivische und wenige strukturelle Merkmale und lässt die Vielschichtigkeit der literarischen Reflexion außer Acht, vgl. H ABICHT , Der Zwerg, S. 175. N IC OLA K AMINSKI sieht in H ORAZ ’ Monster der Ars Poetica eine mögliche „spezifischere Referenz, die […] [den Boten] in poetologischem Horizont als Reflexionsfigur der nachfolgenden Narration lesbar“ machen kann. Dazu beruft sie sich auf die Homophonie des Wortes kunder, mit welchem im Prolog der Crône das Vorhaben des Erzählers umrissen wird:
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Wa ez sich erste ane viench Daz ist ein tail vnchunt. Daz will aber ich ze dirre stunt Ein tail machen chvnder (Cr. 164–167)
kunder vereint in dieser doppelten Lesart in sich den Aspekt der Informationsvermittlung des Erzählens (abgeleitet von künde) – den man auch in die Nähe des niuwen rücken könnte – mit der
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der Stelle, ihr programmatischer Charakter und ihre poetologische Relevanz können mit Hilfe eines Close Reading präzisiert werden.
3.1.2 Das Festmahl und die âventiure Die Episode setzt ein mit der Beschreibung des weihnachtlichen Festmahls am Artushof. Die ungewöhnliche Jahreszeit und die damit einhergehenden Wetterbedingungen spielen zu diesem Zeitpunkt der Narration noch keine Rolle, im Gegenteil, so topisch der festliche Zeitvertreib gänzlich unbeeindruckt von der Witterung gestaltet ist (u. a. mit Ballspiel, Speerwurf und Turnier),555 so ereignisarm und lapidar wird zunächst auch das Festmahl geschildert. Gemäß dem arthurischen Brauch wie auch dem literaturhistorischen Topos wird gemeinsam gespeist und geplaudert:
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Do an den weinehten tage Artvs ze tische saz Vnd mit seinen gesten az Nah des hoves gewonheit, Da wart red vil gereit Von disen vnd von ienen (Cr. 919–924)556
Das Fest als die durch Essen und Reden geprägte kommunikative Einheit erfährt hierbei eine besondere Betonung, indem die beiden Tätigkeiten syntaktisch eng miteinander verknüpft werden. Die Festgesellschaft isst und redet gleichzeitig (Do […] Da Cr. 919 und 923) und durch den modalen Adverbialsatz, der auf die gewonheit verweist (Cr. 922), werden die sprachliche Kommunikation und die Nahrungsaufnahme zusätzlich korreliert, da die adverbiale Bestimmung keiner der beiden Interaktionsformen eindeutig zuzuordnen ist. Die für das Fest charakteristische gewonheit erscheint als sowohl durch das Essen als auch durch die Unterhaltung konstituiert.
Monstrosität, da kunder und unkunder als Begriffe analog zu ungehiure verwendet werden, vgl. K AMINSKI , Wâ ez sich êrste ane vienc, S. 13–17. Zugespitzt: Im Akt des Erzählens der Crône entwickelt sich die Geschichte monströs. Darüber hinaus arbeitet N IC OLA K AMINSKI heraus, wie der Bote durch Parallelsetzung sowohl mit Artus als auch mit Gasoein als monstrum im isidorschen Sinn zum vorausdeutenden Omen für den Konflikt in der Dreiecksgeschichte um Artus, Gynever und Gasoein wird, vgl. K AMINSKI , Wâ ez sich êrste ane vienc, S. 267–272. 555 Vgl. Cr. 632–917; Ballspiel: Cr. 692 f., Speerwurf: Cr. 693 f., Turnier: Cr. 659–892. 556 [es] wurde da, als Artus am Weihnachtstage bei Tisch saß und nach der Art des Hofes mit seinen Gästen speiste, viel von diesen und von jenen geredet (Übers. nach K RAGL ).
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Die Unterhaltung wird in ihrem Gegenstand (Von disen vnd von ienen, Cr. 924) betont vage gehalten. Diesbezüglich kontrastiert sie mit den scherzhaften Wortgefechten, wessen Dame die beste sei und den auentivre-Erzählungen (Cr. 649– 654), die bereits zuvor, während der höfischen Zerstreuungen, ausgetauscht wurden. Zu einer Präzisierung des Unterhaltungsinhalts kommt es nicht, denn das belanglose, in seiner Darstellung sogar gegenstandslose Erzählen wird, ebenso wie die Nahrungsaufnahme, plötzlich durch ein schmerzliches Verlangen, ein senen nach aventivre (Cr. 925–927) unterbrochen, welches sich von Tisch zu Tisch ausbreitet und letztendlich alle Anwesenden ergreift und sie in eine apathische Starre stürzt. Mit der wahrscheinlich aus dem trivialen Geplauder resultierenden bzw. in ihr zumindest offensichtlichen Abwesenheit von âventiure in Verbindung mit dem Bild der selbstvergessen und vngaz (Cr. 931) dasitzenden Festgesellschaft, schließt der Text an die Artustradition und das Motiv der Essensverweigerung an. Artus speise nie, ohne dass sich nicht âventiure ereignet oder die Nachricht von âventiure am Hof eingefunden habe, heißt es in W OLFRAMS Parzival (Pz. 309,3–11 und 648,18–22).557 W OLFRAM übernimmt dabei eine Stelle von C HRÉTIEN , der die Essensverweigerung als singuläre Begebenheit erzählt (Pe. 2822–2826).558 Im deutschen Artusroman dagegen wird das an fehlende Neuigkeiten gekoppelte Fasten zu einem Brauch (Pz. 309,6 site, Wig. 247 sit, Mantel 447 nach gewonem site) stilisiert und trägt als solcher zur Idealisierung des Artushofs bei. Materielle Bedürfnisse werden, so lässt sich das Motiv deuten, der durch immer neu eintreffende âventiuren gewährleisteten Bestätigung des Artushofs als Zentrum der
557 Siehe zu diesem Motiv W ANDHOFF , Haiko, Künec, vernemt von mir!, S. 130–131. S. auch oben FN 414. 558 Ich schließe mich der Lesart H AIKO W ANDHOFFS (vgl. W ANDHOFF , Künec, vernemt von mir!, S. 130) an. Die Stelle bei C HRÉTIEN , in der Artus schwört, an dem Festtag nichts zu essen, bevor nicht eine novele an den Hof gelangt sei, lässt sich allerdings auch so deuten, dass sich die Äußerung nicht auf das konkrete Pfingstfest, sondern auf jedes Fest mit großer Hofhaltung bezieht; insofern wäre die Iterabilität des Brauchs schon in C HRÉTIENS Perceval ou le Conte du Graal angelegt, ohne explizit z. B. als coutume benannt zu werden:
2825
Ke, fait li rois, laissiez me en pais; Que ja par les oex de ma teste Ne mengerai a si grant feste, Que je cort esforchie tiegne, Jusque novele a ma cort viegne (Pe. 2822–2826)
(Keie, sagte der König, lasst mich in Frieden; denn bei meinem Augenlicht werde ich an so einem großen Festtag, den ich mit großem Hofstaat feiere, nicht essen, bevor nicht Neuigkeiten an meinen Hof gekommen sind, Übers. CG)
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Diegese wie des Erzählens untergeordnet. Die Prekarität des von diesen Nachrichten abhängigen und nicht zuletzt darum sehr störungsanfälligen Artushofs kann in diesem Mechanismus positiv umgedeutet werden, indem das Fehlen von âventiuren zur Gelegenheit wird, Tugendhaftigkeit, Disziplin und Mäßigung zu demonstrieren. Allerdings gestaltet sich die Sachlage in der Crône deutlich anders als in der mittelhochdeutschen Tradition. Nicht ein Brauch hindert die Festgesellschaft am Essen, sondern der Brauch (die gewonheit), während des Festes Essen und eine gegenstandslose Unterhaltung miteinander zu verbinden, wird durch ein akutes senen unterbrochen, das sich aus dem Mangel von âventiure ergibt.559 Auf eine ritualisierende bzw. institutionalisierende Einbindung dieses Mangels, die ein entsprechender Brauch gewährleisten würde, wird in der Crône verzichtet. Das Fehlen von âventiure lässt sich in diesem Kontext nicht diskursivieren, sondern es beeinflusst die Artusgesellschaft wie auch den Gang der Erzählung in der Crône auf existenzielle Weise: Kontrastierend mit anderen Artusromanen, in denen die Zeit bis zum Beginn der durch die fehlende âventiure verzögerten Mahlzeit überbrückt werden kann,560 kommt es in der Crône zur vollständigen Einstellung aller Handlung.561 Der Roman findet mit der Erstarrung der Hofgesellschaft ein anschauliches Bild für die Problematik des Artushofs. Ohne âventiuren verliert er jede Aktionsund Funktionsfähigkeit, er ist auf das von außen eindringende handlungsgenerierende Element der âventiure angewiesen. Diese Interdependenz reflektiert die Gattungstradition sowohl in der intradiegetischen Notwendigkeit der âventiure
559 Die hier vorgenommene Verschiebung des Brauchs von dem Warten auf âventiure hin zu einer Verbindung von Nahrungsaufnahme, Plauderei und einem anschließenden senen könnte als weitergehende Kritik an der Trivialisierung des Artushofs gelesen werden. 560 Im Lanzelet wird das Festgeschehen bis zur Ankunft der Botin mit Tanz, Buhurt und Geschenken fortgesetzt (Lz. 5718–5743), in Strickers Daniel wird beschrieben, dass der König geduldig unz ze nône wartet, bis sich ein maere einfindet (Da. 407–411). Die Überbrückung der Wartezeit muss gemessen an Maßstäben der Höfischkeit und Ritterlichkeit nicht über jeden Zweifel erhaben sein: Im Wigalois und im Ambraser Mantel-Fragment klagt die Festgesellschaft angesichts des sich verspätenden Essens und hält ungeduldig nach âventiuren Ausschau (Wig. 247–257, Mantel 413–419). 561 Auch die zweite Szene der âventiure-Erwartung vor dem Essen in der Crône zitiert zwar die Tradition, verzichtet aber gänzlich auf die Ausgestaltung eines Brauchs. Am Pfingsttag vor Sgoydamurs Ankunft, welche die Handlung um das Maultier ohne Zaumzeug initiiert, ist die fehlende âventiure Gesprächsthema und die Hofgesellschaft setzt sich so, dass sie den Wald im Blick hat, von dem aus âventiure zu erwarten ist. Dies findet kurz vorm Essen statt, darüber hinaus wird das eine nicht mit dem anderen in Verbindung gebracht. Das Desiderat wird mit der zeitnahen Ankunft bzw. Annäherung von Sgoydamurs erfüllt (vgl. Cr. 12627–12648).
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als auch ihrer narratologischen Relevanz. Das Erzählen an sich ist in seiner Existenz und seinem Fortschreiten – ebenso wie der Artushof – an âventiuren gebunden.562 Die für den Artushof wie für den Roman heikle Situation des Mangels an âventiure und des vollständigen Handlungsstillstands wird durch das Eintreffen des Meerkönigsboten behoben. Auch diesbezüglich bedient sich die Crône eines traditionellen Motivs: Boten, häufig mit körperlichen Auffälligkeiten oder anderen Hinweisen auf eine anderweltliche Herkunft ausgestattet, fungieren im Artusroman, wie oben schon angesprochen, des Öfteren als Überbringer von âventiuren und sorgen so für den Fortgang der Handlung. Im Fall der Crône ist das Schema aber wiederum unterbrochen. Der Bote kann zwar die Stagnation des âventiure-freien Fests auflösen, die durch ihn initiierte Handlung der Becherprobe bleibt allerdings an seine Figur und den von ihm mitgebrachten Becher gebunden. Seine Ankunft kann den ereignislosen Stillstand des Festes dementsprechend nicht in einen dynamischen âventiure-Auszug überführen, sondern prolongiert den Zustand des festlichen Beisammenseins während der Dauer seiner Anwesenheit. Innerhalb des geschützten höfischen Raums des Artushofs wird mit der Tugend-Probe ein sich immer wieder wiederholender Mechanismus initiiert, in dem die anwesenden Damen und Ritter zunächst erfolglos ihr Glück an dem Becher versuchen, woraufhin dieses Scheitern ausführlich besprochen und auf seine vermeintlichen Ursachen, die in der literarischen Vergangenheit der Kandidaten zu finden sind, zurückgeführt wird. Die eigentliche Handlung, die, wie schon gezeigt, für den weiteren Romanverlauf unerheblichen Versuche der Artusgesellschaft, aus dem Becher zu trinken, tritt dabei zugunsten der Deutungen in den Hintergrund. Die durch den Boten ausgelöste âventiure-Handlung besteht somit aus einer Rekapitulation bereits abgeschlossener âventiuren, die während der Probe durch die Erwähnung ihrer jeweiligen am Becher scheiternden Protagonisten aufgerufen und daraufhin durch den Erzähler, Key, oder andere Figuren (teilweise allusionsartig) wiedererzählt und neugedeutet werden. In der Becherproben-Episode wird so eine lange Reihe von intertextuellen Bezügen abgearbeitet und reflektiert. Schon zuvor, in der Schilderung der Ankunft und Gestalt des Boten sowie seines Reittiers und des Bechers werden die Weichen für eine poetologische Lesart gestellt. Die Reflexivität ist in der Botenepisode von vorne herein angelegt.
562 T HOMAS G UTWALD UT WALD schlägt eine systemtheoretische Lektüre dieser Situation vor. Der Mangel an âventiure wird als Mangel einer das gesellschaftliche „Interaktionssystem“ des Artushofs einenden Geschichte verstanden, vgl. G UTWALD , Schwank und Artushof, S. 182–188, bes. S. 184– 186.
3.1 Die Becherprobe
167
3.1.3 Die Ankunft des Boten Die Ankunft des Boten erhält zwar in ihrer ausgestellt artifiziellen, rein motivisch und narratologisch motivierten Zufälligkeit den Charakter eines Deus ex machina, doch sein Auftritt vor der Festgesellschaft hat nichts Plötzliches oder Epiphanisches an sich. Sein Eintreffen wird in komplex ineinander verschachtelten Schritten mit einer Reihe von Perspektivenwechseln erzählt. Es findet eine langsame und über mehrere Stufen vermittelte Annäherung des Boten an den in Selbstvergessenheit versunkenen Hof statt. Die Festgesellschaft (hier mit dem indefiniten man bezeichnet, das eine mögliche Erzählerfigur mit einschließt, Cr. 933), sieht den Boten zunächst nicht, sondern nimmt ihn zuerst auditiv als riter (Cr. 934) wahr, der sich mit sirenenhaft schöner Stimme singend der Burg nähert (Cr. 933–937). Die auktoriale Erzählinstanz ergänzt diesen Sinneseindruck, indem sie die Ankunft des Boten an das chastel (Cr. 934) knapp erläutert:
940
Der [gemeint ist der Bote] da ze hove het gedaht Vnd in aventivre braht, Der erpaizt vor dem palas. (Cr. 938–940)563
Motivation des Boten, Zweck seiner Reise und das Eintreffen selbst werden an dieser Stelle in stark reduzierter Form zunächst nur den Lesern erschlossen. Erst danach werden auch Artus und seine Gäste, die bisher nur den Gesang wahrgenommen haben, über die genauen Vorgänge außerhalb ihres Sichtfelds in Kenntnis gesetzt. Das maere, die Nachricht von dem vor dem sal abgesessenen ritter (Cr. 941–944) wird Artus über die nicht näher spezifizierten Kommunikationskanäle des Hofs zugetragen, woraufhin im Saal Freude, wohl über die zu erwartende âventiure, ausbricht (Cr. 945). Der Fokus der Narration löst sich allerdings sofort wieder von der Reaktion der Hofgesellschaft und wendet sich erneut dem Boten zu. Es folgt die Beschreibung des Angekommenen und seines Reittiers (Cr. 946–1002), zu deren Beginn der Erzähler mit dem Verweis auf eine mündliche Quelle hervortritt: Als ich die rede han vernomen (Cr. 947). Wie schon bei der kurzen Darstellung der Ankunft des Boten, sind es vorerst die Leser, vor deren innerem Auge die descriptio ein detailliertes Bild des merkwürdigen Boten zeichnet, während der Artushof exkludiert bleibt. Mehr noch: Auf eine direkte visuelle Konfrontation der Botengestalt mit dem Artushof wird in der
563 Vor dem Palas stieg derjenige ab, der her zum Hof wollte und ihnen Aventiure brachte (Übers. nach K RAGL ).
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Narration gänzlich verzichtet. Als der riter (Cr. 1003) den Festsaal letzten Endes betritt, ist seine Beschreibung abgeschlossen, von seinem seltsamen Äußeren ist nicht mehr die Rede. Die optische Wahrnehmung der Botengestalt durch die Artusgesellschaft muss an dieser Stelle zwar implizit angenommen werden, sie wird jedoch nicht thematisiert. Seitens der Festgesellschaft wird keinerlei Reaktion auf das wunderliche Äußere des Gasts angedeutet. Der Bote wird von den Anwesenden, allen voran König Artus, höfisch empfangen, und er beginnt im Gegenzug umgehend mit seiner ebenso höfischen wie formvollendeten Ansprache (Cr. 1003–1010). Die Schilderung der Ankunft des Boten trennt somit sorgfältig zwischen der narrativ-auditiven Vermittlung des Geschehens und der visualisierenden Beschreibung des Boten. Erstaunlich ist hierbei, dass der Bote trotz seines auffälligen Äußeren innerhalb der Diegese im Grunde genommen unsichtbar bzw. zumindest ungesehen bleibt. Zunächst hört ihn die Artusgesellschaft singen, um kurz darauf ebenfalls akustisch über eine mündliche Meldung Genaueres von seiner Ankunft zu erfahren. Auch als der Bote schlussendlich im Festsaal steht, bleibt die visuelle Ebene weiterhin ausgeblendet und das Augenmerk – oder wohl eher Ohrenmerk – der Anwesenden richtet sich nach dem Begrüßungszeremoniell umgehend auf seine Rede. Sein Äußeres spielt für die Handlung keine Rolle.564 Nicht nur den Figuren des Artusromans scheint der Anblick des Boten verwehrt zu bleiben, auch die Erzählinstanz kann sich nicht auf eine Augenzeugenschaft berufen. Vor dem Beginn der descriptio wird in dem Erzählerkommentar die Authentizität des Berichteten mit dem Hinweis auf eine mündliche Quelle, auf das Hörensagen, gesichert. Die einzigen, die innerhalb dieser Erzählstrategien explizit mit dem sonderbaren Äußeren des Boten konfrontiert werden, sind somit die Rezipienten des Textes, auch wenn es sich dabei selbstverständlich nicht um eine eigene Anschauung, sondern um eine in der Lektüre oder in dem Anhören des vorgetragenen Romans erzählerisch vermittelte Visualität handelt. Das reflexive Potenzial des monströsen Körpers bleibt den geistigen Augen der Rezipienten vorbehalten. Bevor auf die Implikationen des Monsters näher eingegangen wird, erschließen sich schon in der Ankunft des Boten erste poetologische Aspekte. Denn die kurze bisher betrachtete Passage schließt in der Ankunft und Beschreibung des Boten drei Kommunikationszusammenhänge zusammen, in denen der Bote jeweils die gleiche Systemstelle inne hat: Die Figur des Boten
564 M ATT HIAS M EYE EY ERS RS Feststellung, die Gestalt des Boten sei „wunderlich […] aber keinesfalls auffällig[…]“ lässt sich in diesem Sinn verstehen, vgl. M EYER , Verfügbarkeit der Fiktion, S. 74.
3.1 Die Becherprobe
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wird zum Gegenstand von sprachlicher Vermittlung. Dies gilt für den intradiegetischen Bericht von seiner Ankunft am Artushof ebenso wie für den fiktiven produktionsästhetischen Verweis auf die mündliche Quelle und letztendlich auch für die Rezeption des Textes an sich durch die Leser bzw. Zuhörer, die implizit als die einzigen hervortreten, denen ein ‚Blick‘ auf das Äußere des Boten gewährt wird. Ähnlich einer Versuchsanordnung werden mit der Diegese, der Produktion und der Rezeption drei Dimensionen literarischer Kommunikation beleuchtet. Geht man von der historischen Rezeptionspraxis mittelhochdeutschen Erzählens als primär über den mündlichen Vortrag verbreitete schriftliterarische Texte aus, sind alle drei durch eine medial ähnliche Situation charakterisiert. Die Vermittlung geschieht jeweils mündlich-sprachlich, während der visuelle Aspekt zwar einerseits eine gewisse Rolle spielt, andererseits aber medial bedingt ausgeklammert bleiben muss. Der Artushof kann den Boten zunächst nicht sehen, sondern hört ihn singen. Später hört er über ihn berichten und auch nach der Gegenüberstellung mit der Gestalt wird in der Schilderung die optische Wahrnehmung zugunsten der berichteten Rede ausgespart. Ähnlich verhält es sich für den Erzähler, der sich auf das Hörensagen beruft und für die Rezipienten, welche die Erzählung ebenfalls auditiv wahrnehmen. Neben der Thematisierung von literarischer Kommunikation an sich und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in der Ankunft des Boten, die für sich allein schon als ein Aspekt poetologischer Reflexion gelesen werden kann, wird somit auch ihre mediale Eigenart, nämlich der jede literarische Rezeption – sei es nun die des mündlichen Vortrags oder die des geschriebenen Textes – kennzeichnende Mangel an visuellen Stimuli, mitbedacht und unterstrichen. Innerhalb der drei vorgeführten Kommunikationszusammenhänge lässt sich eine Sonderstellung der Rezipienten ausmachen. Sie werden als diejenigen hervorgehoben, denen das Äußere des Boten in einer Beschreibung vorgeführt wird. Im Fall des Erzählers und der Artusgesellschaft wird jeder Effekt der Konfrontation mit dem Boten ausgespart. Diesen Leerstellen im Text kann dahingehend ein Aufforderungscharakter zugeschrieben werden, dass der Fokus auf die in der Darstellung der medialen Situation ohnehin herausgestellten Rezipienten verschoben wird. Sie sind die einzigen, denen eine Reaktion auf das Äußere des Boten ermöglicht, von denen sie möglicherweise auch gefordert wird. Die Art der Reaktion wird nicht spezifiziert. Angesichts der Kontextualisierung und weiteren Ausrichtung der Stelle kann die intendierte Reaktion als ein Einsetzen poetologischer Reflexion gedeutet werden.
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3.1.4 Die Beschreibung des Boten und seines Reittiers Eben wurde schon dargelegt, dass das Äußere des Boten intradiegetisch keine Wirksamkeit entwickelt. Reaktionen auf die seltsame Gestalt durch literarische Figuren ebenso wie wertende Aussagen über seine Physis durch den Erzähler werden aus der Narration ausgespart. Dies ist konsequent, da weder die intradiegetischen Figuren noch der Erzähler die monströse Figur ‚zu Gesicht bekommen‘. Die Beschreibung des Boten und seines Pferdes sind somit zum einen deutlich an den aufmerksamen Leser adressiert, zum anderen jenseits ihrer handlungslogischen Wirksamkeit als Bereiche der Reflexion markiert. Die descriptio des Boten ist eine von drei ausführlich beschreibenden Passagen in der Becherproben-Episode. Unmittelbar im Anschluss an den Boten (Cr. 948–979) wird sein Reittier beschrieben (Cr. 980–1002) und kurz darauf beschreibt und erläutert der Bote selbst den mitgebrachten Becher (Cr. 1078–1125). Die drei Beschreibungen fügen sich in eine klimaktische Struktur. Während der Bote sich zwar durch Besonderheiten in seinen Gesichtszügen hervortut, erscheint er in seiner größtenteils anthropomorphen Gestalt im Vergleich mit dem fabelhaft anmutenden Kompositwesen, das er reitet, relativ unspektakulär. Der Becher letztendlich überstrahlt in seiner wundersamen Pracht und Schönheit und mit seinen magischen Eigenschaften sowohl seinen Überbringer als auch dessen Reitgelegenheit. Parallel zum Beschriebenen ist auch auf der Ebene der Beschreibung eine deutliche Steigerung in der Komplexität der sprachlichen und rhetorischen Gestaltung zu beobachten. Auch wenn der Bote in seiner Körperlichkeit in dieser Reihe am wenigsten hervorsticht, ist seine Gestalt keineswegs einfach zu kategorisieren. Im Verlauf der Beschreibung entzieht sich der Bote weiter und weiter einer eindeutigen Zuordnung in gängige Kategorien und erscheint schließlich als gänzlich von Uneindeutigkeiten und Widersprüchen bestimmt. Zunächst wird seine geringe Körpergröße sam ein chint von sehs iaren (Cr. 950) genannt,565 die gegen Ende der Episode im Kampf gegen Key erneut thematisiert wird. Vor dem Zweikampf findet sich am Artushof keine Rüstung für den
565 Hier bietet sich die Erinnerung an den kindlichen Artus des Prologs, der zum Zeitpunkt des Todes Vterpandragons niht sehs iar alt (Cr. 314) ist, zwar an, daraus eine Nähe zwischen Artus und dem Boten zu konstruieren (vgl. H ABICHT , Der Zwerg, S. 176) erscheint mir allerdings als gewagt. Artus ist zum Todeszeitpunkt seines Vaters noch nicht sechs, sondern fünf Jahre alt und dieser Zeitpunkt gerät lediglich anlässlich seiner Kinderklage in den Fokus des Erzählens. In einer weitgespannten Ellipse springt das Erzählen zu seinem 21. Lebensjahr und den Geschehnissen der Becherprobe. Zur Frage des Alters und der Implikationen der Parallelen zwischen Artus und dem Boten s. auch K AMINSKI , Wâ ez sich êrste ane vienc, S. 267–268.
3.1 Die Becherprobe
171
Boten, selbst an der eigentlich passenden Rüstung des anwesenden Zwergenkönigs Bryan ist ihm der halsperch/ An der coyphen ze enge (vgl. Cr. 2891–2902, hier: 2899–2900). Angesichts der geringen Größe erstaunt seine ungeheure Körperkraft, welche es ihm ermöglicht, Key nicht nur zu besiegen, sondern ihn auch am Schlafittchen zu packen und hinter sich aufs Pferd zu schwingen (Cr. 3050– 3058). Eine ähnliche Diskrepanz zwischen geringer Körpergröße und Kraft findet sich in der mittelalterlichen Literatur häufiger als Eigenschaft von Zwergen, doch die unpassende Rüstung des Zwergenkönigs stellt eine Identifikation des Boten als Zwerg in Frage. Nach der Körpergröße wird die überaus kostbare und modische Kleidung geschildert:
955
Seiniv chleider waren Wol bewart an dem snit Nah der franzoiser sit. Daz was ein chapp von scharlat; Dar vnder het er reich wat Von einem tivrn plyalt. (Cr. 951–956)566
H EINRICH rückt den Boten über die Beschreibung seiner vestimentären Ausstattung mit teilweise wörtlichen Anklängen in die Nähe einer weiteren monströsen Figur mit ebenfalls so eleganter wie extravaganter Aufmachung: W OLFRAMS Cundrîe.567 In ihrer descriptio heißt es: ein brûtlachen von Gent, […] daz was ein kappe wol gesniten al nâch der Franzoyser siten: drunde an ir lîb was pfelle guot. 313,10 von Lunders ein pfæwîn huot, gefurrieret mit einem blîalt. (Pz. 313,4–11)568
566 Seine Kleider waren gut nach französischer Art geschnitten. Er trug einen Umhang aus Scharlach; darunter hatte er reiches Gewand aus kostbarem Plialt (Übers. nach K RAGL ). IMME RMANN , Julia, Hässlichkeit als Konstitutionsbedingung des 567 Zu Cundrîes Körper vgl. Z IMMERMANN Fremden und Heidnischen? Zur Figur der Cundrîe in Wolframs von Eschenbach Parzival und in Albrechts Jüngerem Titurel, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), S. 202– ELDE R hin, vgl. 222. Auf die Parallelen zwischen dem Boten und Cundrîe weist auch G UDRUN F ELDER F ELDER EL DER , Kommentar, S. 82–83. 568 Genter Brauttuch […], ein elegantes Cape nach französischem Schnitt: darunter trug sie feine NEC HT ). Seide am Leib. Ein Pfauenhut aus Londres war mit feiner Seide gefüttert (Übers. nach K NECHT
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Die Garderobe der Gralsbotin ist zwar wesentlich detailreicher gestaltet und beschrieben als die des Meerkönigsboten, doch Parallelen in den Kleidungsstücken (beide tragen eine chapp Cr. 954 bzw. kappe Pz. 313,7), dem Material (plyalt Cr. 956 bzw. blîalt Pz. 313,11) und der Anordnung der Kleidung, der die Beschreibung folgt (Dar vnder Cr. 955 bzw. drunde Pz. 313,9) sind augenfällig. Im Verweis auf den Schnitt nach Französischer Art kommen beide Texte zur Deckung (Cr. 952–953, Pz. 313,7–8). Während Cundrîes Körper aber in komplexen und anspielungsreichen Metaphern von einem immer wieder klagend, spottend oder dunkle Vorausdeutungen äußernden Erzähler geschildert wird (vgl. Pz. 312,2–314,10), verläuft die Beschreibung des Boten in der Crône wesentlich geradliniger. Bis auf den knappen Hinweis, er kenne den Namen des Boten nicht (Cr. 961–962), tritt der Erzähler vollständig in den Hintergrund. Zu Beginn der descriptio steht die betont neutral gehaltene Bemerkung, dass das Antlitz des Boten niht gestalt/ Sam ander anplike (Cr. 957–958) sei. Diese Feststellung erweist sich, so banal dies klingen mag, in beiderlei Hinsicht als zutreffend: Das Gesicht des Boten sieht in der Tat außergewöhnlich aus, und dieses besondere Aussehen bleibt, was in der weiteren Beschreibung bestätigt wird, auf das Gesicht bzw. den Kopf beschränkt. Neben der geringen Größe und der auffälligen Bekleidung gibt es im Text keinen Hinweis auf Besonderheiten im Körperbau des Boten. Wäre nicht sein seltsamer Kopf, handelte es sich um einen nicht weiter bemerkenswerten Kleinwüchsigen, wie sie im literarischen Kanon des 13. Jahrhunderts häufiger anzutreffen sind.569 In der Beschreibung des Kopfs tritt nun der schon im sirenengleichen Gesang des ersten Eindrucks angeklungene maritime Charakter des Boten in den Vordergrund. Das Gesicht mit den straußeneigroßen, weit auseinander stehenden eisgrauen Augen und den ebenso breit auseinanderstehenden Augenbrauen, dem von einzelnen Haaren wie von Barteln bedeckten breiten Mund und der kurzen und platten, dafür aber breiten Nase, hat Ähnlichkeit mit einem Fisch. Entsprechend werden auch die Haare auf seinem Kopf mit Fischflossen verglichen. Als einziges Merkmal, das sich nicht in den Unterwasserkontext einfügt, werden seine großen Ohren erwähnt (vgl. Cr. 961–974).
569 An der Rüstung des Zwergenkönigs Bryan ist es konsequenterweise die Polsterung der Halsberge, die dem Boten zu eng ist und ihn zum ungerüsteten Kampf gegen Key zwingt (Cr. ABIGE R -T UCZ UC ZAY AY , Christa, Zwerge und Riesen, in: 2899–2900). Zum Motiv des Zwerges vgl. auch H ABIGER Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.), Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen 2), S. 635–657 und L ECOUTEUX , Claude, Zwerge und Verwandte, Euphorion 75 (1981), S. 366–378.
3.1 Die Becherprobe
173
Die Beschreibung zeichnet zwar ein relativ genaues Bild der Botengestalt, eine klare Kategorisierung seines Wesens wird aber gerade in der detaillierten und anspielungsreichen Schilderung weitgehend verunmöglicht. Cundrîe, deren problematische Weiblichkeit den Erzähler des Parzival nachhaltig beschäftigt (Pz. 312,2–314,10, bes. 312,15, 313,26–30, 314,10), ist nur eine von einer ganzen Reihe weiblicher Gestalten, mit denen der Bote Gemeinsamkeiten – die Kleidung, das seltsame Äußere und die, wenn auch unterschiedlich gerichtete, Botenfunktion – teilt. Die Forschung570 sieht direkte Quellenbezüge zu der Botin der Meerfee im Lanzelet (Lz. 5744–6213), welche, von ihrer Schönheit einmal abgesehen, zwar nicht von auffälligem Äußeren ist, aber doch Geschehnisse einer Tugend-(/Mantel-)probe initiiert. Motivische Ähnlichkeiten finden sich zudem bei der ebenfalls wunderschönen Botin Nereja im Wigalois, die von einem singenden Zwerg begleitet am Artushof vorreitet (Wig. 1717–1748)571 sowie bei der Botin der Handschuhprobe in der Crône selbst (Cr. 22990–24699), in deren Beschreibung wiederum ironisch auf die hässliche demoisele, Cundrîes Vorgängerin bei C HRÉTIEN ,572 angespielt wird (Cr. 23038–23047). Innerhalb dieses dichten Netzes an Bezügen zu weiblichen Figuren erscheint die Maskulinität des Boten bemerkenswert. Die Genderzuschreibung des Meerkönigsboten als Ritter und Kämpfer wird zwar nicht zur Disposition gestellt, aber durch die dichten und zahlreichen Referenzen auf weibliche Botinnen,573 durch den Vergleich seines Gesangs mit dem einer Syreine (Cr. 937), sowie durch seine Nähe zum Wasser, dem Hoheitsbereich hauptsächlich anderweltlicher Frauenfiguren, erfährt er diesbezüglich doch eine gewisse Veruneindeutigung. Der Text freilich findet während der gesamten Episode ausschließlich deutlich gegenderte Bezeichnungen für den Boten: rit(t)er (u. a. Cr. 934, 943, 2664), bot (passim ab Cr. 1040), gast (u. a. Cr. 2823, 2888), guot kneht (u. a. Cr. 2903) und sogar champhgeselle[…] und reke[…] (Cr. 2999 bzw. 3007, beides sowohl auf Key als auch den Boten bezogen). Damit postuliert er eine eindeutige Männlichkeit des so Bezeichneten ebenso wie dessen unzweifelhafte Menschenähnlichkeit, wenn nicht sogar Menschlichkeit, die in der Beschreibung des fischartigen Kopfes zumindest in Zweifel gezogen werden kann.
570 Vgl. V OLLMANN , Das Ideal des irrenden Lesers, S. 151. 571 Im Fall des Wigalois sind die Parallelen stark ausgeprägt: Der Zwerg singt ein Lied, dessen Schönheit den Artushof in Selbstvergessenheit versinken lässt (vgl. Wig. 1727–1731) und Nereja trägt wie der Meerkönigsbote auch ein kappen (Wig. 1738). 572 Vgl. Pe. 4609–4717. 573 Männliche Boten in ähnlicher Funktion gibt es auch, allerdings nicht mit dieser Fülle an Bezügen. Zu nennen wären der Bote im Mantel-Fragment, der Lai du Cor und der Mantel Mautaillé.
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Sehr wenig menschlich, sondern eindeutig maritim erscheint letztlich auch die Haut des Boten. Er ist mit Schuppen bewachsen (Cr. 959–960) und seine Haut, die überall dort sichtbar ist, wo sein Körper nicht von Kleidung verdeckt wird (Kopf und Hände werden extra hervorgehoben), ist von einer seltsamen Farbe (Cr. 975–979). Diese vrömdiv varbe […]/ Swartz, grâ vnd ysenvar (Cr. 975–976), fügt sich in Kombination mit den Schuppen als Fischhaut zunächst in das submarinanderweltliche Bild. Mit dem Rückbezug auf die kostbare Ausstattung wird eine weitere Dimension der die Figur beherrschenden inhärenten Spannung deutlich: Die anderweltliche Oberfläche des Boten kann von der höfischen Kleidung nur teilweise verhüllt werden. Mit dem Boten dringt die Anderwelt als Sphäre der âventiure in den höfischen Raum des Artushofs ein. Doch die Haut ist nicht nur als Fischhaut mit allen Implikationen der Anderweltlichkeit zu lesen, in ihr findet sich auch eine Verbindung mit dem bereits geschilderte Turniergeschehen. Nach dem Ende des Weihnachtsturniers reinigen sich die beteiligten Ritter von swaiz und eisenmal (Cr. 912), bevor sie sich zum Festmahl begeben, welches durch den âventiure-Mangel unterbrochen wird. Während sich die Ritter die eisenfarbenen Kampfspuren von der Haut waschen, ist die mit dem ritterlichen Kampf assoziierte Farbe flächendeckend in die Haut des Boten und somit in ihm selbst inkorporiert. Zieht man die Parallele weiter, trägt der Bote unbeseitigte Spuren von bewältigten Kämpfen, mithin möglicherweise Zeichen für eine noch andauernde âventiure in seinem Körper.574 Die höfische Kleidung würde in diesem Fall keinen eigentlichen Kontrast zu der Hautfarbe bilden, sondern als über die im Körper verinnerlichte Kampffertigkeit gelegte Schicht den Kampf und die âventiure in den höfischen Kontext einbinden und somit beide bändigen, ohne sie allerdings vollständig überdecken und vereinnahmen zu können: Der Körper des Boten wäre diesbezüglich nicht mehr in seiner gefährlichen Anderweltlichkeit, sondern als Verkörperung eines ritterlichhöfischen Ideals zu verstehen. Neben den motivischen Nähen zur Anderwelt und zum höfischen Kampfgeschehen kann die Eisenfarbe im Zweikampf mit Key auch in Richtung der mit ihr verbundenen Materialität hin gedeutet werden. Gegen Key kämpft der Bote ohne Rüstung. Seine eisenfarbene Haut, in Verbindung mit den schützenden Schuppen als Umhüllung seines Körpers, kann aber zumindest den Anschein einer Panzerung erwecken, so dass der Topos des ungleichen, da einseitig ungerüsteten Kampfs, gebrochen wird. Dies schmälert die über die zwar höfisch integrierten, aber unauslöschlichen Kampfspuren postulierte ritterliche Idealität
574 Im Weihnachtsturnier wird der Turnierkampf mit der âventiure in Verbindung gebracht, vgl. Cr. 751–762
3.1 Die Becherprobe
175
des Boten nicht – in der materialisierenden Lesart seiner Haut als Rüstung, hat er die mit der Panzerung in Verbindung gebrachte Kampffähigkeit und Kampfbereitschaft inkorporiert. Mit den Referenzen auf die Haut endet die Beschreibung des Boten. Seine besondere Körperlichkeit und seine Kleidung werden allerdings noch einmal kurz aufgerufen, als er der Artusgesellschaft den mitgebrachten Becher zeigt, und zwar im Akt der Präsentation selbst. Bevor der Bote sein Mitbringsel überreicht, erwirkt er zunächst weitschweifig die Zustimmung zu einer Blanko-Bitte, die im Zusammenhang mit der bewussten gabe steht. Im Scheitelpunkt des so aufgebauten Spannungsbogens wird mit den Worten Auz seinr gvgel zoh er/ Ein chopf vnd ein lit (Cr. 1072–1073),575 der Becher präsentiert. Der Text setzt an dieser Stelle zwei Homonyme – gvgel, wiederzugeben sowohl als Kapuze wie auch als Kapuzenmantel,576 und chopf, das Becher oder Trinkgefäß ebenso bedeuten kann wie Hirnschale und Kopf577 – die im Vorgang des Hervorholens der Gabe578 aus dem Kapuzenmantel das Enthüllen des eigenen Haupts aus einer Kapuze mit anklingen lassen. Der seltsame Kopf des Boten und der Becher werden situativ ineinander überblendet, sie erscheinen in der gewählten Formulierung als austauschbar. Dieser lexikalische Kunstgriff markiert schon im ersten Auftauchen des Bechers, vor seiner Beschreibung und Erläuterung, die Affinität zwischen dem zauberkräftigen Trinkgefäß und dem bemerkenswerten Kopf des Boten (NB die neuerliche Beschränkung auf den Kopf). Während der Probenhandlung, die das Äußere des Boten vollständig ausblendet und sich auf die Effekte des von ihm herumgereichten Bechers konzentriert, kann somit nach der anfänglichen Gleichsetzung die seltsame und signifikante Gestaltung des Kopfes und damit der Bote in jeder Erwähnung des Bechers präsentifiziert werden. Nach dieser Lektüre wird deutlich: Die den Boten beherrschenden Uneindeutigkeiten lassen sich nicht auflösen. Er oszilliert zwischen Mensch und Tier, zwischen männlich und weiblich, Höfischem und Anderweltlichem, er lässt sich nicht eindeutig als Zwerg kategorisieren und geht mit seiner Gabe, dem Becher, eine schillernde Wechselbeziehung ein. Die Differenzen überlagern einander, es finden fließende Übergänge, Verschiebungen und Neudeutungen zwischen ihnen
575 Aus seinem Mantel zog er einen Becher und einen Deckel (Übers. nach K RAGL ). 576 Lex I, 1113 führt nur die Bedeutung „kapuze über den kopf zu ziehen am rock oder mantel“ auf. BMZ I, 585b ergänzt „mantel mit einer solchen kappe“. 577 Vgl. Lex I, 1676, in der Crône überwiegt zwar weitestgehend die ältere Bezeichnung houbet für den Kopf, an zwei Stellen steht allerdings schon chopf: Cr. 4751 und Cr. 6307. 578 Durch die Verwendung des bestimmten Artikels und die Erweiterung des Akkusativobjekts um den Deckel des Bechers (beides Cr. 1073) sowie durch die pragmatische Situierung des Vorgangs wird die lexikalische Uneindeutigkeit sofort in Richtung des Bechers aufgelöst.
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statt. In seiner Fremdartigkeit und eigentlich weiblich assoziierten maritimen Anderweltlichkeit kann der Bote als höfisch-idealer Ritter verstanden werden, bezüglich des Bechers und der âventiure erscheint er als Überbringer und Mitgebrachtes zugleich. Korrespondierend mit seiner grundsätzlichen Unangepasstheit‚ mit dem Sprengen formaler Wahrnehmungsgewohnheiten und der konzeptuellen Unfassbarkeit, ist die Beschreibung der einzelnen Gesichtszüge des Boten syntaktisch in Doppelverse gegliedert, die sich gegen den Paarreim sperren. Für die Schilderung jedes Merkmals werden zwei Verse verwendet, die allerdings durch den zwischen ihnen stattfindenden Reimwechsel wiederum vereinzelt werden. 965
970
Seiniv ougen waren eisgra, Groz sam ein strauzes ey. Sein winbra schied entzwai Breit zweir spanne bloz. Div nase was churz vnd groz, Vorn preit, enmitten flach. (Cr. 965–970)579
Der Reimwechsel inmitten einer syntaktischen und semantischen Einheit wirkt desintegrativ, indem die Beschreibung jedes Merkmals durch einen formalen Bruch zweigeteilt wird. Doch aus einer globalen Perspektive können die konsekutiven Enjambements auch integrierend wirken. Über die Reime werden Verbindungen zwischen den Einzelmerkmalen geknüpft, welche die eigentlich isoliert stehenden physiognomischen Aspekte formal als Einheit konstituieren. Über die genaue Beschreibung wird, wie schon in der Schilderung der Ankunft des Boten, die Visualität (anplike, Cr. 958) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Wie der gerade zitierte Ausschnitt exemplarisch verdeutlicht, wird zwar ein klares Portraitbild des Boten umrissen, das allerdings auf wenige relativ neutrale, dafür umso präzisere Adjektive zur Skizzierung der Gesichtszüge beschränkt bleibt. Der Mund ist dik weit (Cr. 963)580, die Nase churz vnd groz, vorne preit und in der Mitte flach (Cr. 969–970) usw. Auf das Stilmittel der Komparation wird weitgehend verzichtet. Lediglich die Körpergröße und die Größe der Augen werden über den Vergleich mit einem Sechsjährigen bzw. mit Straußeneiern illustriert und das Haar ist sam vischvlozen (Cr. 972).
579 Seine Augen waren eisgrau, groß wie Straußeneier. Seine Augenbrauen trennte eine zwei Spanne breite Blöße. Die Nase war kurz und groß, vorne breit, in der Mitte flach (Übers. nach K RAGL ). NAP P und N IES IE SNER NER , die in ihrer Ausgabe Dik, weit was sein mvnt (Her580 Im Gegensatz zu K NAPP vorhebung CG) setzen, lese ich dik als modales Adverb der Steigerung.
3.1 Die Becherprobe
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Anders verhält es sich in der Beschreibung des Reittiers. Die Bezeichnung als Pferd wird zwar vom Text selbst vorgenommen – nicht allerdings ohne den Hinweis, dieses ors sei starch ungeleich/ An gesiht andern rossen (Cr. 980–982) – erscheint aber bei einem Wesen, das vor dem Sattel wie eine merphosse[…] (Cr. 983) und hinten wie ein Delfin aussieht, ziemlich gewagt. Immerhin entspricht die Größe des Tieres der eines kastelan[es] (Cr. 985). Schweif und Mähne sind lang und wie Gräten bzw. wiederum wie Flossen gestaltet und nehmen so maritime Motive aus der Beschreibung des Boten wieder auf.581 Die Beine des Tiers sind bis zu den Hufen mit Federn bedeckt, die sich wohl mit Hilfe von Adern – die Textstelle ist schwierig zu deuten – wie Adlerflügel aufspannen lassen. Das Pferd ist weiß und mit einem ringförmigen Muster schwarzer Flecken überzogen (Cr. 980–1002). Die Darstellung folgt zwar in den Eckpunkten der Anatomie von Pferden, indem Hufe, Mähne und Schweif genannt werden, um die einzelnen Körperteile zu präzisieren bedarf es aber in allen Fällen Referenzen auf Tiere und sogar Gegenstände außerhalb des equinen Bereichs. Diese werden über unterschiedliche Formen des Vergleichs geleistet. Der vordere und der hintere Teil des Pferdes sind Nah einr merphossen bzw. als ein delfin […] getan (vgl. Cr. 983–986). In der Formulierung nah/als…getan erscheinen die beiden Meeresbewohner nicht direkt als Vergleichsobjekt, sondern ihre eigene Gestaltung oder Beschaffenheit wird zum Tertium Comparationis, was gleich zu Beginn die Gemachtheit und den künstlichen Charakter des körperlich hybriden Reittiers ausstellt. Allerdings überwiegen einfache Vergleiche. Die metrischen Angaben, die Größe des Tieres und die Größe der das Fell bedeckenden Flecken werden mit der Referenz auf einen Kastellan und auf die Ausmaße von Pfennigmünzen verdeutlicht, die aufspannbare Befiederung der Extremitäten mit Adlerflügeln verglichen. An gewissen Stellen wird die illustrative Kraft der Komparation zugunsten von Ersetzungen aufgegeben. In diesen Fällen steht die Materialität im Vordergrund: Statt eines Schweifs (Daz der zagel sollte sein Cr. 987) trägt das Tier Gräten, und die Mähne wird zwar als solche erwähnt, an Stelle von Haar wallen dem Wesen allerdings Fischflossen bis zu den Knien. Die körperliche Hybridität des Reittiers korrespondiert mit einem im Vergleich zur Beschreibung des Boten höheren Grad an rhetorischer Komplexität, dadurch dass weniger auf beschreibende Adjektive als auf Komparation zurück-
581 Der Text setzt sowohl für die vereinzelten Haare, die über den Mund des Boten hängen (Cr. 964), als auch für den Schweif des Pferdes (Cr. 988) das Wort gran, bzw. visches gran. Im ersten Fall erscheint wegen der Lokalisierung der Barthaare oder stacheligen Haare (vgl. Le I 1068) die Übersetzung mit „Barteln“ zutreffend. In der Kombination visches gran liegt die Übersetzung mit „Gräten“ nahe.
178
3 H EINRICHS VON V ON DEM T ÜRLIN ÜR LIN Crône
gegriffen wird. Der Erzähler stellt der Schilderung zudem das wertende Epitheton wunderleich (Cr. 980) voran. In seiner Semantik bleibt das Wesen aber wesentlich greifbarer als sein Reiter. Motive und Formulierungen aus der Schilderung des Boten werden zwar wieder aufgenommen, das Gewirr von Bezügen, welches diesen jeder semantischen Eindeutigkeit entzieht, findet in der Beschreibung des Pferdes allerdings keine Entsprechung. Das liegt nicht zuletzt an dem sehr beschränkten Raum, den das Reittier im Roman einnimmt. Nach der Beschreibung taucht es lediglich im Zweikampf mit Key als gut funktionierendes Streitross noch einmal auf, seine ostentative Hybridität bleibt somit auf die Äußerlichkeiten beschränkt. Doch auch in der Beschränkung auf seine besondere Körperlichkeit ist das Reittier für eine metaliterarische Reflexion des Textes fruchtbar zu machen, indem es in einen klassischen Diskurs der Textproduktion eingebunden wird. Als geflügeltes und mit dem Wasser assoziiertes Pferd liegt ein Bezug zu Pegasus, dem aus dem Rumpf (oder dem Blut) der geköpften Medusa entsprungenen Sohn des Poseidon, nahe.582 Dieser Zusammenhang ist sowohl in intra- wie auch in intertextueller Hinsicht für die poetologische Lesart hochgradig relevant. Während die Vorstellung des geflügelten Pferdes als ‚Dichterross‘ sich erst in der Neuzeit verfestigte, begegnet Pegasus dem mittelalterlichen Leser schon im Literaturexkurs von G OTTFRIEDS Tristan als derjenige, der jenen Quell der Weisheit zum fließen brachte, aus dem auch H EINRICH VON V ELDEKE seine Kunst und sein Können bezogen hat (Tr. 4727–4732). Der Erzähler des Tristan spielt hier auf den antiken Mythos an, demzufolge das geflügelte Pferd Pegasus den unter Einfluss des Gesangs der Musen in den Himmel wachsenden Berg Helikon mit einem Hufschlag aufgehalten habe. An der Stelle des Aufschlags sei ein Quell entstanden, aus dem sich die Weisheit ergieße. Berg und Quelle wurden wiederum den Musen als Aufenthaltsort zugeordnet. Kurz nach der eben zitierten Stelle schreibt sich der Tristan-Erzähler tiefer in dieses Bild ein, indem er die Herrscher des Êlicône, Apoll und die Musen, um auch nur einen Tropfen des dort fließenden Quells der gâbe […]/ der worte unde der sinne anfleht (Tr. 4860–4907, hier 4868– 4869). Die Musen werden von ihm an dieser Stelle allerdings mit ihrer lateinischen, ursprünglich von Quellnymphen geprägten Namen als Camênen und im darauffolgenden Vers als Sirênen bezeichnet (Tr. 4871–4872).
582 Vgl. FREY , Alexandra, Artikel Pegasos, in: Der Neue Pauly, herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte), Brill Online, 2012 [Reference. Universitätsbibliothek Konstanz. 22 August 2012; http://refeHRIS TINE Z ACH AC H verweist renceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/pegasos-e911670]. C HRISTINE anlässlich der Beschreibung des geflügelten Pferdes auf die Sagengestalt als ‚Musenroß‘, allerdings ohne den Bezug zu historisieren. Z ACH , Erzählmotive, S. 124.
3.1 Die Becherprobe
179
Die Gleichsetzung von Musen und Sirenen geht aus der platonischen und pythagoreischen Tradition hervor, in der beide Gruppen in der Kosmologie den himmlischen klingenden Sphären zugeordnet werden konnten. Entsprechend schließt die Bitte des Tristan-Erzählers in ihrer Wiederholung auch die himelkoere […] (Tr. 4906) als Aufenthaltsort der Angesprochenen mit ein. Der für die mittelalterliche Rezeption sehr einflussreiche Kommentar des M ACROBIUS zu C ICEROS Somnium Scipionis vermittelt beide kosmologischen Modelle auf eine Weise, die eine Austauschbarkeit von Musen und Sirenen nahelegt. Auch in der Consolatio Philosophiae des B OETHIUS findet eine Engführung von Camenae, Musen und Sirenen statt, hier sogar schon im Bereich der Literaturproduktion, wenn auch die Wertung der einzelnen mythischen Gestalten noch unterschiedlich ausfällt.583 Die Musen sind mit Pegasus nicht nur über ihr von ihm erschaffenes Habitat verbunden, in der hellenistischen Tradition wird das geflügelte Pferd zu einem Symbol der Musen allgemein. Dichter wollen – wie G OTTFRIEDS Erzähler – aus dem von Pegasus gestifteten Musenquell trinken und sich und ihr Werk dadurch (so steht es schon bei C ATULL , auch wenn es sich erst in der Neuzeit im kulturellen Gedächtnis festsetzt) auf dem Rücken des geflügelten Pferdes in ungeahnte Höhen schwingen.584 Die Pegasus-Ähnlichkeit des Reittiers ergibt sich somit nicht nur aus der Koinzidenz der körperlichen Merkmale eines geflügelten Pferdes mit Affinitäten zum Element des Wassers, sondern sie wird auch durch die Assoziation seines Reiters mit einer Sirene und deren im mittelalterlichen Verständnis vorhandenen Nähe zu den Musen unterstrichen. Der sirenengleiche Gesang des Boten, der seinen Auftritt im Text markiert, bringt in der Doppeldeutigkeit der mythologischen Referenz sowohl die sphärische Harmonie und Ordnung der kosmologischen Deutung als auch die zerstörerische Verführung und Gefährdung mit sich, welche die homerische Tradition in sich birgt. Letztere schlägt sich auch ikonographisch in der Darstellung von Sirenen als Mischwesen aus Vögeln und Frauen oder in der im Mittelalter vorherrschenden Form als Frau bzw. Nixe mit einem doppelten Fischschwanz nieder.585
583 Vgl. O KKEN , Lambertus, Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, im Anhang: Martin van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg und: Bernhard Dietrich Hage, Heilkunde im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, 2 Bde. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57,58), 2. Gründlich überarbeitete Aufl., Amsterdam, Atlanta 1996. Hier: Bd. 1, S. 277–287, besonders S. 277–281. ÜC KE , Hans-K., L ÜCKE Susanne, Antike Mythologie. Ein Handbuch. Der Mythos und 584 Vgl. L ÜCKE seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst, Reinbek 2006, S. 624. 585 Vgl. dazu M ORAV , Susanne, Die Schöne und das Biest: Weibliche Mischwesen in der Spätantike, in: Annetta Alexandridis, Markus Wild, Lorenz Winkler-Horacek (Hgg.), Mensch und Tier
180
3 H EINR E IN RIC IC HS VON DE DEM M T ÜRLIN Crône
Pegasus sowie die Musen/Sirenen sind seit dem klassischen Literaturdiskurs Projektionsfiguren für die Funktion der dichterischen Inspiration.586 Ein Beispiel für die mittelalterliche Ausprägung dieser Eigenart liefert wiederum G OTTFRIEDS Tristan, in dem aus der Helikonquelle diu wîsheit elliu (Tr. 4732), die gâbe […]/ der worte unde der sinne (Tr. 4868–4869, s. o.) sowie
4900
[…] diu wort […], diu durch daz ôre clingent und in daz herze lachent, die rede durchliuhtec machent als eine erwelte gimme (Tr. 4899–4903)587
entspringen. Auch in der Crône werden der sirenenhafte Bote und sein geflügeltes Pferd – im weitesten Sinne – literarische Produktion anregen. Ihrem mythologischen Subtext und ihrer aquatischen Herkunft gemäß tun sie dies mit Hilfe einer Flüssigkeit. Allerdings wird es in der Becherprobe nicht darum gehen, aus dem Musenquell zu trinken, sondern es sind die missglückenden Versuche der Kandidaten, den Becher zum Mund zu führen, die sowohl den verschütteten Wein als auch die vergangenen literarischen Erlebnisse der Figuren hervorsprudeln lassen. Die körperliche Hybridität und semantische Uneindeutigkeit, jene des Boten und die seines Pferdes, lassen sich dabei als Vorausdeutungen auf die Art und Weise der in der Becherprobe vorgenommenen Präsentifizierung von Literatur lesen. Allen drei Beschreibungen, Bote, Pferd und Becher, wird die Feststellung ihrer Nicht-Kategorisierbarkeit und ihrer Überschreitung von Wahrnehmungsgewohnheiten vorangestellt (vgl. Cr. 957–958, 980–981, 1074–1077). Ebenso werden die Rekapitulationen der literarischen Biographien der Anwesenden Figuren sich den gängigen Rezeptionsmustern entziehen und in ihrer Neudeutung aufschlussreich lesbar.588
in der Antike. Grenzziehung und Grenzüberschreitung. Symposion vom 7. bis 9. April 2005 in Rostock, Wiesbaden 2008, S. 465–479. 586 Für die Musen gilt dies in der Antike wohl nur eingeschränkt, vgl. S ÖFFNE R , J an, Artikel Musen, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption, Die Antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, (Der Neue Pauly Supplement 5), Stuttgart, Weimar 2008, S. 441–457, hier S. 442–444. 587 […] die Worte […] , die durch das Ohr hindurch klingen, und sich ins Herz lachen, dir die Dichtung durchsichtig und klar machen wie ein erlesenes Juwel (Übers. nach K ROHN ). 588 In einer umfangreichen Fußnote schlägt T HOMAS G UTWALD den Bogen vom Priure-Boten zum aventuͤ r hauptman des Wilhelm von Österreich (s. dazu auch Kap. 4 der vorliegenden Arbeit). Insbesondere verweist er auf die Parallelen in der hybriden Körperlichkeit der beiden Monster
3.1 Die Becherprobe
181
3.1.5 Der Becher und die âventiure Am Artushof herrscht an Weihnachten ein Mangel an âventiure. Der Bote schafft Abhilfe, indem er âventiure bringt (vgl. Cr. 939). Allerdings ist dies kein monodirektionaler Prozess. Der Herr des Boten, Aus dem mer künic Privre (Cr. 1013), hat viel von Artus gehört und schickt seinen Emissär Auf selh auentivre/ Daz er iwer [gemeint ist Artus] künd gevahe (Cr. 1014–1015). Das Hörensagen, der gute Ruf des Artushofs führt also dazu, dass der Herr eines anderen, genau genommen sogar anderweltlichen589 Hofs, Kontakt aufnimmt, um mehr zu erfahren. Doch Privre überlässt nichts dem Zufall. Er sendet einen Becher mit, der, über das Rash-boonMotiv als Gabe eingeschleust, dafür sorgt, dass es zu Prozessen kommt, die wiederum in Nachrichten überführt und an den Hof am Meeresgrund zurückgetragen werden können. Die provokative Geste geschieht von vornherein im Zeichen der Generierung von Handlungen und daraus resultierenden Erzählungen. Damit ist ein Motiv des ‚klassischen‘ Artusromans abstrahiert, in dem aus der Provokation eine Handlungsnotwendigkeit entsteht, welche die Integrität des Hofes in Frage stellt und deren Bewältigung das narrative Material des Textes ausmacht. Hier jedoch liegt ein weiterer Unterschied dieser literarisch motivierten Handlungsprovokation. Privre und sein Bote sind im Gegensatz zu zahllosen anderen Aggressoren des Artushofs auf ehrenvolle Geschichten aus. Artus hat über die Blanko-Bitte die Einwilligung zu einer Tugendprobe gegeben. Da der Becher Falschheit entlarvt (nur die Reinen können aus ihm trinken, ohne etwas zu verschütten), soll er in Privres Auftrag dazu verwendet werden, den Artushof auf seine weithin behauptete Idealität hin zu prüfen. In beispielloser Fairness bietet der Bote anstelle der Tugendprobe auch die Alternative eines Kampfes gegen einen der Ritter des Artushofs an, der, im Gegensatz zur Tugendprobe, keine moralischen Implikationen hat. Hier ist die als Zufall gefasste âventiure maßgeblich für den Ausgang und den Gewinn des Bechers:
1175
Gevellet im deu auentivre Daz er mich entschvmphiert, Des ist der hof geziert (Cr. 1173–1175)590
(und im Fall des Boten auch seines Reittiers), welche jeweils wasser-, luft- und landgängige Charakteristiken in sich vereinen. G UTWALD stellt, indem er den aventuͤ r hauptman als Personifikation der âventiure liest, die Überlegung an, ob „die Ikonographie der Botenfigur in der ‚Crône‘ die Intention verfolgt, Assoziationen (mehr sicher nicht) an das Wesen der Aventiure nahezulegen“, UT WALD , Schwank und Artushof, S. 186, FN 172. vgl. G UTWALD ICHT BLAU , Tierherren, S. 119. 589 Vgl. L ICHTBLAU 590 […] wenn es diesem [dem Kampfgegner] gelingt, mich zu besiegen, dann gereicht das dem Hof zum Ruhm (Übers. nach Kragl).
182
3 H EINR E IN RIC IC HS VON DE DEM M T ÜRLIN Crône
Der Becher als kostbares, kunstvolles und magisches Objekt macht den Hof Staunen. Genauer gesagt ist es das Zusammenwirken des Objekts, der Erläuterung seiner Herkunft und Wirkweise, der Botschaft (der Herausforderung) und des Boten, das die Anwesenden in einen reflexiven Zustand versetzt:
1180
1185
Do der bot dise rede gesprach Vnd Artvs den chopf ersach, Dar zuo div reich geselleschaft, Vnd vernamen die botschaft, Di er mit dem chopf braht Si warn alle verdaht An dem chopf vnd an dem boten (Cr. 1179–1185)591
Die bisher ausgebliebene Reflexion wird von dem Becher auch auf den Boten zurückprojiziert. In dieser Situation beginnt die Becherprobe, bittet der Hof Artus, Daz er die auentivre/ An dem chopf prüefen liez (Cr. 1192–1193). Das Verb prüeven mit der Grundbedeutung „des nachdenkenden erwägens, prüfens, erkennens, woraus sich weiter die bedeutungen von: beweisen, erweisen, dartun, schildern; bemerken, wahrnehmen; erwägen, schätzen“592 ergeben, unterstreicht die selbstreflexive Funktion der Episode. âventiure ist in der Becherprobenepisode als reflexives Element zu verstehen. Der Bote hat, das wird in der Beschreibung des Bechers und der damit verknüpften Probe deutlich, âventiure in jeder Beziehung an den Hof gebracht. Der Begriff wird in dem kurzen Abschnitt in praktisch allen überlieferten Semantiken eingesetzt. Zunächst als Quelle (Cr. 918), dann als Desiderat des in der Festfreude stagnierenden Hofes (Cr. 927) und in der Ankunft des Boten, der diesen Mangel behebt (Cr. 939). Der Bote bringt die âventiure im doppelten Sinn als Nachricht oder Bericht (Cr. 939) sowie als Handlungsanlass (Cr. 1192). Er stellt auch die Möglichkeit der âventiure als Zufall in der Tjost in Aussicht (Cr. 1173).593 Doch die Verwendung des Begriffs erschöpft sich nicht in der möglichst vollständigen Abbildung ihrer Relevanz im Artusroman. Die in der Tradition mit der âventiure assoziierten Motive und Strukturen werden zwar jeweils anzitiert, aber
591 Als der Bote das gesagt hatte und Artus und die prächtige Gesellschaft den Becher begutachtet und die Botschaft vernommen hatten, die er mit dem Becher brachte, sinnierten sie alle über den Becher und über den Boten (Übers. nach Kragl). 592 Lex. II, 302–303. 593 Im letztgenannten Beispiel ließe sich der Ansatz einer Personifizierung der âventiure-Instanz ausmachen. Im Verlauf der Becherprobe wird noch das intradiegetische âventiure-Erzählen genannt (Cr. 2008).
3.1 Die Becherprobe
183
zumeist abgewandelt, verfremdet und ad absurdum geführt. Die an den Hof herangetragene âventiure führt nicht zu einem Auszug. Sie stellt zwar eine Provokation dar, doch wird sie durch die Chance zur Erringung von Ehre dem Hof schmackhaft gemacht und zudem um die Alternative des Zweikampfs ergänzt. Auch ist die Botenfahrt als âventiure des Boten Teil einer in einem konkurrierenden, anderweltlichen Hof zentrierten âventiure-Struktur. Der Blick auf die Verwendung des Begriffs im gesamten Text bestätigt dies. Dort wird er zumeist im Kontext des Ausritts und der Suche, als Quelle und (zu erzählende) Begebenheit gesetzt.594 Das Spiel mit den intrikaten Differenzierungen bleibt auf die Becherprobenepisode beschränkt.
3.1.6 Die Becherprobe und der Kampf gegen Key Die Schilderung der Ankunft des Boten am Artushof hat zu Beginn der Becherproben-Episode drei genuin literarische Kommunikationsarten exponiert: das Sprechen innerhalb des literarischen Texts, die mündliche Tradierung literarischer Texte als Quelle sowie ihre Rezeption im mündlichen Vortrag. In der eigentlichen Becherprobe nun tritt die in ihrer Repetitivität nebensächlich erscheinende Handlung zugunsten einer weiteren Größe literarischer Kommunikation in den Hintergrund: des Sprechens über Literatur. Zuerst werden die Damen, dann die Herren des Artushofs der Probe unterzogen. Alle scheitern, nur Artus erweist sich als tugendhaft genug, um ohne etwas zu verschütten aus dem Becher zu trinken. Key begleitet die Geschehnisse mit einem spöttischen, an vielen Stellen ironischen Kommentar, er schafft Kontexte und erläutert die jeweiligen Gründe für das Misslingen der Probe.595 Keys Kommentare zu den scheiternden Artushelden und ihren Damen beziehen sich jeweils auf deren literarische Vergangenheit und spielen somit zunächst mit der Fiktion einer räumlichen und zeitlichen Kontinuität der Artuswelt, die die Abenteuer von Erec, Iwein und Parzival und den anderen erwähnten Rittern und ihrer Damen zu den Geschehnissen der Crône in ein Verhältnis der linearen Vorgängigkeit setzt. In diesem Sinn erscheint Keys Spott als Rede, deren Gegenstand sich innerhalb
594 Suche: Cr. 3884, 4160, 5469, 5671, 5740, 5753, 5768, 7952, 8795, 8866, 10168, 11753, 20477, Quelle: Cr. 7711, 8355, 9902, 16571, Begebenheit: Cr. 4072, 7906, 9726, 9929, 12010, Bericht/ Erzählung: Cr. 7337, 8875. Die Liste stützt sich auf Ergebnisse der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (Online unter: http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/mhdbdb/App?action=SelectQuotation&c=CRO, abgerufen am 30.07.2012, 15:00 Uhr). 595 Zu Keys Rolle als Interpret der Geschichten vgl. B ESAMUSCA , Characters and Narrators, S. 294–297.
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3 H EINR E IN RIC IC HS VON DE DEM M T ÜRLIN Crône
der Diegese befindet. Doch schon durch das Fehlen der Ereignisse im Roman wird die zunächst postulierte Homogenität der Erzählwelt aufgebrochen. Unterstrichen wird dies durch ein chronologisch-logisches Problem. Gemessen an Artus’ im Prolog angedeuteten Alter muss die Artusgesellschaft der Crône noch jung sein, die Vorgängigkeit der geschilderten Begebenheiten irritiert. In der Becherprobe konvergieren die Ereignisse der Artuswelt als Geschichten. Exemplarisch soll hier die Rezeption von H ARTMANNS Iwein näher betrachtet werden. Laudein (Laudine) ist eine der ersten Damen, die sich nach den Königinnen596 und Gaweins Lebensabschnittsgefährtin Flori der Probe stellen muss. Zunächst geht sich die Sache gut an, doch als sie den Becher zum Mund führen will, kommt es doch zum Malheur: 1335
Der chopf ir vndanches Sich von dem mvnd verreit Daz si daz trinchen vermeit Vnd begoz ir vorn di wat. (Cr. 1335–1338)597
Der Erzähler spielt auf das für den Iwein zentrale Thema des verrîten an.598 Der Becher kommt wie Ywein in der Annäherung an Laudein vom Weg ab. Keys Spott ist weniger transparent. Er zitiert das Ringmotiv aus dem Iwein. Zunächst den Zauberring: Wenn Laudein den Zauberring gehabt hätte, den Lvnet dem sich nach dem Mord an Ascalon im Torhaus verbergenden Ywein übergab, hätte sie die Probe bestehen können. C HRISTOPH C ORMEAU versteht die Stelle so, dass sie dann unsichtbar gewesen und daher von der Schmach verschont geblieben wäre,599 doch der Text legt eine weitere Lesart nahe. so het ir wol getrunchen (Cr. 1348) heißt es, der Besitz des Ringes hätte das Versagen also nicht nur verschleiert, sondern sogar verhindert. Der Hintergrund ergibt sich aus Keys weiterem Spott, der sich im Vorwurf der mangelnden triwe (Cr. 1351, 1354) konkretisiert. Er führt sowohl den schnellen Witwentrost (vgl. Cr. 1347) als auch Laudeins Unnachgiebigkeit dem sich verspätenden Ywein gegenüber an, der als Wahnsinniger im Wald beinahe umgekommen sei (vgl. Cr. 1350–1360). Die Ursache von Yweins Wahnsinn liegt – dies schildert Key nicht – in der von Lvnet überbrachten öffent-
596 Gynever lässt der ebenfalls anwesenden (intertextuell unbekannten) Königin von Lantfruht den Vortritt, vgl. Cr. 1215–1292. 597 […] verirrte sich der Becher ihr zum Undank vr dem Mund, so dass sie das Trinken seinlassen musste und sich vorne ihr Gewand anschüttete (Übers. nach Kragl). 598 Die Anspielung ist trotz des einschlägigen Verbs keine wörtliche. Im Iwein wird der Begriff des verrîtens nicht gebraucht, er ist eine Setzung der Forschung. LDER R folgt dieser Deutung, vgl. 599 Vgl. C ORME AU , Wigalois und Diu Crône, S. 174. G UDRUN F EELDE F ELDER EL DER , Kommentar, S. 80.
3.1 Die Becherprobe
185
lichen Verstoßung durch Laudein, anlässlich derer sie auch das Liebespfand, einen zweiten Ring, zurückfordert. Während Lvnet Ywein durch einen Ring das Leben rettet, bringt Laudein ihren Mann durch einen zweiten Ring in Lebensgefahr. Man könnte die Stelle so lesen, dass Lvnet bezüglich der triwe als Gegenfigur zu Laudein entworfen wird, wobei Lvnets Zauberring diese Laudein abgehende Eigenschaft verbildlicht.600 Hätte letztere den Ring, also triwe, besessen, hätte sie die Probe bestanden. So die Logik von Keys Spott. Doch mit Blick auf den Iwein zeigt sich, dass diese Deutung keinesfalls wasserfest ist. Im Gegenteil, sie vernachlässigt die intradiegetischen Motivationen des ursprünglichen Textes und findet auch in der narrativen Umsetzung selbst wenig Entsprechung.601 In der Schilderung von Laudeins Scheitern zeigt sich die generelle „Parteinahme des Erzählers für Iwein“,602 die sich auch in dessen Versuch aus dem Becher zu trinken manifestiert. Yweins Probe wird nur sehr knapp geschildert. Er kann den Becher zwar zum Mund führen, es gelingt ihm aber nicht, daraus zu trinken (vgl. Cr. 2186–2187). Key lacht ihn aus und wünscht sich ironisch den Löwen herbei, der Ywein so häufig aus brenzligen Situationen gerettet hat: Der hiet ivch gerochen (Cr. 2192). Es bleibt bei der Implikation, Ywein habe seine Heldentaten nur mit Hilfe des Löwen bestehen können. Deutlicher wird der Spott im Fall Kalocreants, der sich den Wein übergießt und dafür von Key ironisch zu dieser Leistung beglückwünscht wird, die mit dem großen Erfolg, der ihm beim Begießen des Steines zu Teil wurde, parallelisiert wird (Cr. 2195–2206a). Diese Beispiele, die jeweils aus einem intertextuellen Prätext stammen, sollen genügen, um die Funktionsweise der Probe zu illustrieren.603 Der Bote schafft die Voraussetzung, um die Breite des literarischen Universums der Artuswelt aufzurufen, Keys Kommentare ordnen und präzisieren die Relevanz des intertextuellen Kontinuums. Denn gerade in der subversiven Rede entfaltet sich ein reflexives Potenzial.604 In der Becherprobenepisode geschieht keine umfassende Bestandsaufnahme der literarischen Tradition, sondern die Tradition wird aufgerufen, um sich
600 C ORMEAU ORME AU sieht die Deutung im Sinne der mangelnde triuwe als „völlig inkonsequent gehandhabte […] Motivation [der] Becherprobe selbst, nicht [der] individuellen Vorgeschichte“, C ORMEAU , Wigalois und Diu Crône, S. 174. 601 Vgl. C ORMEAU , Wigalois und Diu Crône, S. 174–175. 602 F ELDER , Kommentar, S. 80. 603 Eine umfangreiche Darstellung und Analyse der einzelnen Probanden von Becher- und Handschuhprobe bietet. C ORMEAU , Wigalois und Diu Crône, S. 166–208, unter dem Gesichtspunkt der Narratologie und Spieltheorie auch G UTWALD , Schwank und Artushof, S. 143–167. 604 Zur Diskrepanz von Körperlichkeit (der Evidenz der Probenhandlung) und Sprache (Keys UT WALD , Schwank und Artushof, S. 133–143. Kommentaren), s. auch G UTWALD
186
3 H EINRICHS VON V ON DEM T ÜRLIN ÜR LIN Crône
mit ihr auseinanderzusetzen. Keys Bemerkungen führen einen produktiven Akt der Rezeption vor. Er präsentiert eine willkürliche Auswahl von Themen und Motiven aus den einzelnen Texten, was dazu führt, dass seine Deutungen nicht selten Verballhornungen gleichkommen. In jedem Fall handelt es sich um nichtkanonische Neudeutungen, in denen aus diesen Texten „völlig inkonsequent gehandhabte […] Motivationen der Becherprobe selbst“605 konstruiert werden. Keys Rezeption illustriert einen kreativen und respektlosen Umgang mit vorhandenen Texten, wobei durch sein fulminantes Versagen bei seiner Tugendprobe in gewisser Weise auch die von ihm angebotenen Deutungen unterlaufen werden. Die unterschiedlichen Geschichten werden syntagmatisch durch den mit dem Becher von Proband zu Proband gehenden Boten miteinander verbunden. Die Lektüre der Becherprobenepisode setzt bei den Rezipienten ein großes literarisches Wissen voraus. Die slapstickartige Komik der sich mit Wein besudelnden Hofgesellschaft wird durch die von Key konstruierten Begründungen unterfüttert, deren Komik sich aus der Verdrehung und Verzerrung von bekannten Texten und Motiven ergibt. Dabei bleibt es nicht. Es gilt auch, die nicht aus der literarischen Tradition entstammenden und in der Crône neu erfundenen Figuren zu identifizieren, die ebenso behandelt werden wie alte literarische Bekannte, um Keys Kommentare überhaupt verstehen zu können. Bezeichnenderweise beginnt die Reihe der Probanden mit der ansonsten nicht überlieferten606 chunigin von Lantfruht (Cr. 1220), so dass diese Möglichkeit der leeren Assoziation von vorne herein betont und gegeben ist. Die Literarizität der Aufzählung zeigt sich auch an ihrem Ende, als Key die Prätexte nicht mehr zu spöttischen Vignetten verdichtet, sondern stattdessen eine lange Reihe wohlklingender Namen weiterer Probanden aneinander gereiht wird (vgl. Cr. 2291–2347). Es handle sich bei dieser Aufzählung, so erläutert der Erzähler, um eine die Gästeliste von Erecs Hochzeit (vgl. Er. 2073–2113) ergänzende Auflistung von edlen Rittern aus dem Artusbereich. Den Ritterkatalog aus dem Erec zu wiederholen sei Vberich und vnlobelich (Cr. 2356), stattdessen werden Di vngenanten genant (Cr. 2358).607 Der Erzähler schaltet sich ein und unterbricht die Illusion einer organischen Artuswelt, indem er die Reihung als literarisches Motiv entblößt. Er nimmt sie zudem zum Anlass, seine Verehrung für H ARTMANN VON A UE in einer Totenklage Ausdruck zu geben. Später werden R EINMAR , D IETMAR
605 C ORMEAU ORME AU , Wigalois und Diu Crône, S. 174 606 Vgl. F ELDER , Kommentar, S. 77. HRÉ TIENS IE NS Erec et Enide, so dass sich doch Über607 Vorlage für die Liste war statt dessen C HRÉT einstimmungen mit H ARTMANNS Text feststellen lassen, vgl. F ELDER , Kommentar, S. 106. Beispielsweise ist eine der wenigen nach der Auflistung ein zweites Mal genannten Figuren, der ZwergenART MANNS Erec anzutreffen ist (Er. 2095). könig Bryan (Cr. 2343), der auch in H ARTMANNS
3.2 Wiederaufnahmen des Boten
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und eine Reihe weiterer verstorbener Autoren mit in die Klage und die abschließende Fürbitte eingeschlossen (vgl. Cr. 2360–2455). H ARTMANN , so vermutet der Erzähler, habe die in der Crône ergänzten Figuren nicht genannt, weil er sie entweder nicht kannte oder sie vor valsch nahred (Cr. 2362) bewahren wollte. Der Schutz des eigenen literarischen Werks vor valschern (vgl. Cr. 2430) ist ein verbreiteter poetologischer Exordialtopos.608 Hier wird er ausgerechnet einem der Autoren in den Mund gelegt, dessen Werk soeben einer parodistischen Neudeutung unterzogen wurde. Der Erzähler der Crône schließt sich dem Anliegen H ARTMANNS und später auch R EINMARS an. Die in der Becherprobe vollzogene karikierende Umdeutung literarischer Vorlagen wird durch die Tatsache, dass der Erzähler seinen Vorbildern Reverenz erweist, konterkatiert. Die Passage der Crône ist vor diesem Hintergrund nicht mehr als einfache Parodie verstanden, sondern wird mit einer darüber hinaus gehenden poetologischen Aussagekraft versehen. Trotz des freien Umgangs mit literarischen Vorlagen zeigen sich in der Becherprobe auch eine Reihe von Konstanten der arthurischen Gattung. Die Probe selbst ist eine Übernahme aus Paralleltexten und insbesondere die Figur Keys bleibt tradierten Handlungsmustern und Motiven verhaftet. Es kommt zu einer der topischen Auseinandersetzungen zwischen Key und König Artus (Cr.1699–1853),609 und nach dem durch das positive Abschneiden des König Artus erfolgreichen Ende der Probe – der Artushof hat den Becher für sich gewinnen können – verlangt Key zusätzlich den Zweikampf mit dem Boten zu bestreiten, in dem er, wie immer wenn er sich als Kämpfer anbietet, spektakulär unterliegt.610 Beide durch den Boten an den Artushof gebrachten âventiure-Alternativen werden somit ausgeschöpft. Die handlungslogische Relevanz der Episode wird dadurch ein weiteres Mal in Frage gestellt
3.2 Wiederaufnahmen des Boten Wie beim Waldmann im Iwein ist der Auftritt des Boten ein singulärer.611 Doch auch in der Crône kommt es zu Szenen, welche die Becherprobe und die Botenfi-
608 Vgl. z. B. Wig. 11–19. 609 Dieser ist deutlich auf die im Zusammenhang mit Kâlogrenants Erzählung geführten Auseinandersetzungen mit Keiî im Iwein bezogen. 610 Zu dieser „Motivtautologie“ vgl. K AMINSKI , Wâ ez sich êrste ane vienc, S. 270–271. E RN herausgearbeitet, vgl. K ERN , 611 Parallelen zwischen Iwein und der Crône hat P ETER K ERN Romanstruktur, S. 199–200.
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gur wieder aufnehmen und aufschlussreich variieren. Für die poetologische Fragestellung sind dabei weniger die zahlreichen monströsen Figuren in den Wunderketten und während der diversen âventiure-Fahrten der unterschiedlichen Ritter interessant als zwei als Varianten des arthurischen Festes ausgestaltete Szenen, nämlich die Geschehnisse um Aamanz Kopf nach der Jagd auf den weißen Hirsch und – mehrfach daran anschließend – die Handschuhprobe während des Festes auf Karidol anlässlich der Rückkehr bzw. ‚Wiederauferstehung‘ des totgeglaubten Gawein.
3.2.1 Aamanz’ Kopf Knapp nach der Hälfte des Romans, während Gawein sich im Durchlauf der zweiten Wunderkette befindet, kommt es nach einer Reihe von Zweikämpfen zu einer Wiederaufnahme der Botenszene. Bezüglich der Vorgeschichte dieser Kämpfe ist für die vorliegende Arbeit nur folgendes relevant: Aamanz ist ein Doppelgänger Gaweins, er wird der ander Gawein (Cr. 16749) genannt. Er verfolgt Gygamet um den Mord seines Bruders zu rächen. Während der Verfolgung wird er in einen Kampf mit Zedoech verwickelt, in den Gawein – ohne die Situation zu kennen – auf Seiten Zedoechs eingreift und Aamanz besiegt. Aamanz weigert sich daraufhin, sicherheit zu leisten, so dass Gawein ihn gutgläubig Zedoech überlässt, der ihn gemeinsam mit Gygamet enthauptet (vgl. Cr. 16497–16713). Parallel findet am Artushof die aus C HRÉTIENS Erec et Enide bekannte coutume der Jagd auf den weißen Hirsch statt (Cr. 16714–16737). Der Erzähler nimmt den im Text nicht genannten Begriff der coutume wörtlich, führt das Geschehen als seinen Zuhörern und Leser wohlbekannten und schon oft erzählten Brauch ein, den er nicht weiter zu erläutern braucht (Cr. 16720–16726) und etabliert damit den Horizont gemeinsamer Lektüren. Während des abschließenden Festmahls – der Hirsch ist erjagt und die Artusgesellschaft speist Mit groszen freudenrichen sitten (Cr. 16744) – reitet Gygamet mit dem abgeschlagenen Kopf des Aamanz vor die Festtafel und richtet das Wort an Artus: 16760 Ein auentùre bring ich her Zü dirre groszen hochzijt. Das uch sunder strijt Zü houe dirre tùre Kom kein auentùre, 16765 Des begynnet ir mir selber jehen Als sie nü hie wurt gesehen. Sehent hie das haubt an,
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das ich hie in der hant han: Das ist Gaweins gewesen (Cr. 16760–16769)612
Nach dieser drastischen und durch den an den Haaren von seiner Hand baumelnden Kopf auch plastisch greifbaren Einführung, berichtet Gygamet von dem Kampf, von seinem ruhmvoll errungenen Sieg. Die Wahrheit des Berichteten gewährleistet das materielle Zeichen des Kopfes. Der Kopf wird im Lauf der Rede Gygamets umfunktioniert von einer Trophäe zur Provokation. Gygamet fordert die Anwesenden zur Rache heraus und legt den Kopf mit der Herausforderung Vf die tafel fùr den kùnig nydder (Cr. 16799), woraufhin er kehrt macht, um vor den Toren auf seine möglichen Gegner zu warten (vgl. Cr. 16770–16802). Es folgt kein erboster Rachefeldzug. Auch der Erzähler wendet sich gelassen von dem Provokateur ab: Von Gygametten ich lasze/ Hie die sage fùrbasz (Cr. 16802–16803) – und dabei bleibt es, Gygamet hat keinen Auftritt mehr. Die Reaktion der Festgesellschaft ist nicht die zu erwartende. Sie kommen der Kampfaufforderung nicht nach, sie sind auch nicht entsetzt oder anderweitig betroffen. Im Gegenteil, die Anwesenden halten die Provokation für einen Scherz und brechen in lautes Gelächter aus. Das liegt unter anderem daran, dass der Kopf etwas ungünstig gefallen ist, (mit dem Hals Richtung König Artus, vgl. Cr. 16853), so dass niemand erkennen kann, Wie [er]gestalt waere (Cr. 16815). Kay613 überrascht in dieser Situation als Stimme der Vernunft. Er setzt durch, dass das Objekt zunächst in Augenschein genommen wird. Er untersucht den Kopf und bricht daraufhin in der Annahme, es handle sich wirklich um Gawein, weinend zusammen 16900 Vnd hatt dis haubt Getrucket zü dem mund Als ob er es an der stund Hett gekùsset da vor. (Cr. 16900–16903)614
Kay beginnt vor dem nun auch trauernden Hof während er den Kopf vil dick […] zuckte gein dem munt (Cr. 19649–19650), eine elaborierte Klagerede zu halten (Cr.
612 Eine Aventiure bringe ich zu diesem großen Fest. Ihr werdet mir selbst einräumen, dass zweifellos nie eine Aventiure von solcher Bedeutsamkeit an diesen Hof gekommen ist, wie man sie hie rnun sehen wird. Schaut dieses Haupt, das ich hier in der Hand halte: Das gehörte Gawein (Übers. nach Kragl). 613 Ich übernehme die Schreibweise der Ausgabe, die sich im zweiten Band nach der Handschrift P richtet. 614 Das Haupt hatte er an seinen Mund gedüpckt, als ob er es unmittelbar vorher geküsst hätte (Übers. nach Kragl).
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16948–17094), anschließend werden die Klagen von Artus und des gesamten Hofs, insbesondere der Königin, Gaweins amye Amurfina und ihrer Schwester Sgoydamur geschildert (Cr. 17095–17311).615 Der Erzähler lässt den Hof in tiefer Verzweiflung zurück und wendet sich wieder Gawein zu, der, nachdem er Aamanz seinen Mördern überlassen hat, weitergezogen ist (Cr. 17312–17320). Die Provokation Gygamets kann in vielerlei Hinsicht als Negativ der Becherproben-Episode gelesen werden.616 Zunächst sind Parallelen im Aufbau der Szene augenfällig. Die Festfreude wird durch einen âventiure-Boten unterbrochen, der anhand eines Objekts ein Handlungsdesiderat an den Hof heranträgt. Es kommt allerdings in beiden Fällen zu keiner Mobilisierung der Artusgesellschaft, die Handlung entwickelt sich am Hof. Key nimmt jeweils eine zentrale Rolle als Wortführer ein und es werden unterschiedliche, in letzter Konsequenz alle Anwesenden integriert. Beide Male kommt es zu einem kollektiven Engagement aller Anwesenden.617 Die Parallelität der beiden Episoden wird durch die teilweise Homonymie des zentralen Objekts – chopf und haubt – mit der schon in Bezug auf den Körper des Meerkönigsboten gespielt wurde, unterstrichen. Das Küssen und an-den-Mund-Führen des Kopfes durch die Trauernden imitiert jene Geste, die in der Becherprobe unmöglich war. Beide Episoden sind auch durch vielfältige literarische Bezüge gekennzeichnet.618 Keys Neudeutungen von Texten wurden oben dargelegt, während der Klage sind es Allusionen an antike Sagengestalten und die kunstvolle rhetorische Stilisierung der Sprache, welche die formale Literarizität in den Vordergrund rücken. Auch nimmt die rhetorische Form der Klagerede die in die Becherprobe eingeflochtenen Klagen um literarische Vorbilder wieder auf. Ein die beiden Szenen darüber hinaus verknüpfendes Glied ist außerhalb der Crône zu finden. Ithêrs von Gaheviez Provokation im Parzival W OLFRAMS VON E SCHENBACH verbindet die beiden Szenen gleichsam zu einer Einheit – bzw. angesichts der historischen Situation müsste man wohl umgekehrt sagen, zentrale Motive der Ithêr-Episode sind auf die Becherprobe und die Provokation des Gygamet aufgeteilt (vgl. Pz. 145,7–161,9). Ithêr von Gaheviez hat am Artushof
615 Zur Klage vgl. vgl. B LLEUMER EUMER , Die Crône, S. 199–202. 616 Vgl. dazu auch G UTWALD , Schwank und Artushof, S. 192–194. EYE R , Verfügbarkeit der Fiktion, S. 138 hat in Bezug auf den Festkontext, den Umfang und 617 M EYER Keys Rolle schon auf diesen Zusammenhang hingewiesen. EUMER sieht in seiner die Crône mit der formalen Gattungskonvention des Artusromans 618 B LLEUMER kontrastierenden Lektüre in der Episode um Aamanz’ Tod und insbesondere der Klage um den vermeintlichen Gawein die „tiefste Krisensituation in der literarischen Geschichte des Artushofes markiert“, er rückt die Szene also in die Nähe der Krise des klassischen Strukturschemas, vgl. B LEUME R , Crône, S. 190 und S. 199–207.
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einen Erbschaftsanspruch geltend gemacht und dafür einen goldenen Becher, einen koph (Pz. 146,20) von der Tafel entwendet, dessen Inhalt er dabei ungeschickterweise Ginovêr in den Schoß gegossen hat. Er wartet, als er Parzivâl trifft, vor den Toren von Nantes darauf, dass einer der Artusritter seine Kampfansage annimmt. Parzivâl übernimmt für ihn einen Botengang, er soll Ithêrs Missgeschick bei der Königin entschuldigen und die Ritter zum Kampf auffordern. Während Parzivâls kurzem Aufenthalt am Artushof kommen die schon beschriebenen Motive zur Geltung: das Lachen (Cunnewâres), Keyes Spott und später die Trauer insbesondere der Damenwelt um Ithêr, den Parzivâl bekanntlich um seiner roten Rüstung willen umbringt (vgl. Pz. 147,21–161,9). Es kommt trotz der deutlichen Anklänge an dieser Stelle zu keinen direkten Referenzen auf W OLFRAMS Parzival. Doch der Erzähler der Crône schiebt in die Trauer um Gaweins vermeintlichen Tod einen Verweis auf C HRÉTIEN ein (Cr. 16940–16947). P ETER S TEIN weist darauf hin, dass die Berufungen auf C HRÉTIEN (der Text kennt derer drei) jeweils an Stellen geschehen, die keine Entsprechun619 H RÉTIENS Überlieferung haben. Die entsprechende Szene im Conte du gen zu C HRÉTIENS Graal schildert allerdings, wie auch Li Vermaus Chevaliers (Pe. 908) die cope des Königs stiehlt und dabei die Königin begießt (vgl. Pe. 899–925). Die aufschlussreiche Wortparallele des kophes ergibt sich allerdings nur im Deutschen. Über die formalen Aspekte der variierten bzw. negativierten Parallelität der Handlung hinaus stellt die Aamanz-Episode auch ein Verbindungsglied zur zweiten Tugendprobe des Romans, der Handschuhprobe dar.
3.2.2 Die Handschuhprobe Die Romanhandlung kehrt nach den Ereignissen um die Burg Salye mit einer Botschaft als Lebenszeichen Gaweins an den bis dahin seinen vermeintlichen Tod betrauernden Artushof zurück. In der Botschaft bittet Gawein den Hof um Unterstützung bei seinem abschließenden Kampf gegen Gyremelanz. Die Hofgesellschaft löst sich aus ihrer Erstarrung (der Hof verharrte bisher One alle kurzwijle […], aller geste bar […] an freude brah (Cr. 21825–21828), freude und mit ihr die höfisch-kurzweiligen Beschäftigungen (Musik, Geschichtenerzählen, Spiele und Ritterspiele) ziehen wieder ein und der Hof macht sich auf den Weg, um Gawein zur Seite zu stehen. Nach der schnellen Erfüllung von Gaweins Verpflichtungen
619 Vgl. S TTEIN EIN , Peter, Integration – Variation – Destruktion. Die Crône Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans, Bern 2000 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 32). S. 63–68.
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in Salye fährt der Hof zurück nach Karidol, wo sogleich ein Fest ausgerichtet wird. Die Festfreude wird allerdings getrübt, als Gawein seine Verpflichtung zur Gralssuche berichtet und seine Bitte um urloup vorbringt. Seine Schilderungen der Ereignisse während seiner letzten Abwesenheit vom Hof beginnt er mit seinem scheinbaren Tod in der Aamanz-Handlung. Er berichtet von den Geschehnissen um den ermordeten ander Gawein (Cr. 16523) in der ersten Person (vgl. Cr. 22586–22504), wodurch die Szene, auch wenn sie nur kurz anzitiert wird, emotionales Gewicht erhält. Mit dem eigentlichen Bericht von Gaweins vngeschiht (Cr. 22586), dem Tod Dahamorhts und der Saelde-Fahrt, steht die Szene abgesehen von der syntagmatischen Verknüpfung einer Ereignisreihe in keinem inhaltlichen Zusammenhang, was für die Lektüre eine motivische und poetologisch-funktionale Verbindung nahelegt. Die Nachricht von seiner bevorstehenden Abreise und der gefahrvollen, wenn nicht sogar unmöglichen, Gralsfahrt sorgt am Hof für Unruhe, die auch die Schilderung der erfolgreichen Fahrt zur Saelde nicht lindern kann (vgl. Cr. 22976–22989). In diese, dem der Ankunft des Priure-Boten vorangestellten Weihnachtsfest gegenüber zugespitzten, aber prinzipiell (da topischen) vergleichbaren krisenhaften Situation der Verunsicherung und existentiellen Bedrohung – Gawein wird als alleiniger Garant für die höfische freude beschrieben (Cr. 22810–22815) und der Schwur zur Gralssuche beinhaltet die Verpflichtung, sich nicht mehr länger als eine Woche am Artushof aufzuhalten Fùr das dirre hoff zergee (Cr. 22797)620 – fällt die Ankunft der Botin und der Beginn der Handschuhprobe. Diesmal ist es eine weibliche Botin, die den Artushof aufsucht – und sie ist vil wonneclich (vgl. Cr. 22990–23005). Sie wird vor dem Burgtor von Ywanet empfangen (Cr. 22997), das ist – zumindest dem Namen nach – der gleiche Knappe, der den jungen Parzival bei W OLFRAM und C HRÉTIEN in Nantes willkommen heißt und ihm schließlich auch hilft, die Rüstung des roten Ritters anzulegen. Die Nennung des Knappen stellt über den intertextuellen Umweg des bzw. der Parzival-Romane eine weitere Verbindung zur Aamanz-Episode her.621 Der versammel-
620 Dieses Details wird in der Aushandlung des Abkommens zwischen Angaras und Gawein nicht erwähnt (vgl. Cr. 18913–18930), hier unterstreicht es die Relevanz Gaweins für den Artushof. 621 Yvanet/Jwanet heißt auch der Knappe, auf den Gawein zu Beginn der Amurfina-Handlung trifft. Er wird von Floys ausgesandt, um am Artushof Hilfe gegen die Angriffe des Riesen Assiles zu erbitten. Gawein trifft ihn unterwegs im Wald zu Presiljan und da gerade alle Artusritter anderweitig verpflichtet sind, nimmt er das Hilfsersuchen sofort an, vgl. Cr. 5638–5766. Auffällig in dieser Szene ist die sehr häufige Nennung und dadurch Hervorhebung des Namens Ywanet. G UDRUN F ELDER und H EINRICH S CHOLL gehen von der Identität der beiden Figuren aus (F ELDER , Kommentar, S. 175 und 585; S CHOLL , Edition/Namensverzeichnis, S. 506).
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te in leid befangene Hof eilt ihr entgegen um sie vor den König zu geleiten, schon ihre Ankunft bewirkt, wie auch die Ankunft des Meerkönigsboten, wenn auch weniger zugespitzt, eine Dynamisierung des erneut im Leid stagnierenden Hofs (Cr. 23000–23006). Die junge Botin wird, wie der Erzähler ausdrücklich betont, nicht eingehend beschrieben. Stattdessen wird auf Jr meister, Cristion von Troys (Cr. 23046) verwiesen, der insbesondere ihre exquisite Kleidung schon hart mit lob prijset habe (Cr. 23047). Die Botin wird somit als explizites Zitat aus – höchstwahrscheinlich – C HRÉTIENS Gralsroman markiert. Es kann sich demnach nur um die hässliche demoisele handeln,622 die bei W OLFRAM zu Cundrîe ausgestaltet wird. Die monströse Körperlichkeit der Gralsbotin bleibt, insbesondere auch angesichts des parallel konstruierten Boten Priures, eine klingende Leerstelle. Mit dem Verweis auf den unter Tugendkundigen bekannten Brauch, Boten aufs Beste auszustatten, verzichtet der Erzähler auf weitere Ausführungen, wobei auch in dieser Leerstelle deutlich die Erinnerung an die ausführliche descriptio des Meerkönigsboten und seiner Ausstattung mitschwingt (Cr. 23050–23057). Die Nicht-Beschreibung wird dreifach begründet: Hinter dem intertextuellen Verweis auf C HRÉTIEN und der intratextuell bedeutsamen Evozierung des Wissens einer die Rezipienten und den Erzähler verbindenden Gemeinschaft von in Tugenddingen Bewanderten, steht die den Erzähler vorantreibende Kraft der auentúre geschiht (Cr. 23043–23044), die ihm Vnmuͦ sz (Cr. 23048) beschert, so dass das eigentlich redebere (Cr. 23040) ungesagt bleibt. Im Gegensatz zur Becherprobe ist die Handschuhprobe handlungslogisch fest in der Diegese verwurzelt, mehr noch, sie ist äußerst aufwendig motiviert. Bevor das Mädchen ansetzt, ihre Botschaft auszurichten, bittet sie, die Damen des Hofs, allen voran Gynever, ohne die die rede mag nit wol verendet/ Werden (Cr. 23025– 23026) kommen zu lassen. Dieses Detail (in der Becherprobe werden die Damen erst nach der Überbringung der Botschaft hinzugeholt, Cr. 1201–1214) ist ein erstes Indiz für den Ursprung der Probenhandlung, der in einem Erzählereinschub nachdem die Botin die Probe des Handschuhs vorgestellt hat, erläutert wird (Cr. 23211–23436). Die Botin ist im Gegensatz zu Priures Entsandten nicht allein mit dem für beide Seiten erstrebenswerten Transfer und der Generierung von âventiure betraut, sondern Teil eines ausgefeilten Racheplans gegen Gawein, wobei Gynever die eigentliche Verantwortliche für die zugrundeliegende Verstimmung ist.623 Vor Beginn der Romanhandlung setzen Geschehnisse um einen Zaubergürtel an, die 622 Vgl. Pe. 4609–4717. EUMER weist auf ein Gendering der Probenrequisiten hin, männliche Figuren würden in 623 B LLEUMER der literarischen Tradition eher Trinkhornproben (in Übertragung auch der Becherprobe), weibliL EUMER UMER , Die Crône, S. 256. che Figuren eher Mantelproben unterzogen, vgl. B LE
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zum einen eng mit der topisch mit Gynever verbundenen Ehebruchsmotivik verbunden sind und an die zum anderen unterschiedliche Episoden des Textes anschließen: Der Gürtel wurde gefertigt von Frau Saelde und ihrer Schwester Gyramphiel für deren Geliebten Fimbeus. Im Gürtel verarbeitet ist ein wunderkräftiger Stein, der unbesiegbar und unwiderstehlich macht. Nachdem Fimbeus den Gürtel Gynever als Geschenk anbietet, diese ihn aber aus Gründen der êre zurückgibt, bittet sie den widerstrebenden Gawein, ihr den Gürtel im Kampf zu gewinnen, was ihm letztlich gelingt, ihm aber den nijt Gyramphiels beschert (Cr. 23418) und ihre Rachegelüste auf sich zieht. Soweit die Erläuterung im Erzählereinschub.624 Dieser erste Teil der Gürtelgeschichte liegt vor dem Beginn der Romanhandlung. Zu Beginn des Romans befindet sich der Gürtel nicht mehr in Gynevers Besitz und Gasoein präsentiert ihn als angeblichen Liebespfand der Königin zur Untermauerung seiner Ansprüche, deren Glaubwürdigkeit allerdings zweifelhaft bleibt (vgl. Cr. 4832–4888). Gyramphiels nijt wird Gawein im weiteren Romanverlauf fast zum Verhängnis, sie schickt ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in einen Drachenkampf, der für Gawein beinahe tödlich endet (vgl. Cr. 15005–15223) es ist der wundertätige Stein des Gürtels (dieser hatte sich bei der ersten Eroberung aus der Fassung gelöst und war in Gaweins Besitz verblieben, vgl. Cr. 14935–14980), der ihm das Leben rettet.625 Die Handschuhprobe ist die direkte Konsequenz aus der durch den gesamten Roman gewobenen Handlungskette um den Gürtel, denn die Botin wurde von Gyramphiel entsandt um den Stein bzw. Gürtel626 zurückzugewinnen. Auf die fest im Text und über den Text hinaus im Artusuniversum verwurzelte Motivation der Handschuhprobe wird später noch einzugehen sein. In ihrer Funktionsweise ist die Probe an andere Proben angelehnt, alle Teilnehmer müssen nacheinander den mitgebrachten Zauberhandschuh anprobieren, der jeweils eine Körperhälfte mit Ausnahme einzelner Körperteile, die Tugendmakel aufscheinen lassen, unsichtbar macht. Die Probenhandlung entspricht jener der Becherprobe. Die Botin – in der Probe wird sie mit dem männlichen Nomen botte und den entsprechenden Pronomina bezeichnet, was die Beschreibung nah an jene der Becherprobe anklingen lässt – bringt den Handschuh zunächst zu allen Damen, dann zu allen Herren der Hofgesellschaft, die ihn jeweils anprobieren und scheitern, wobei Key wiederum scharfzüngig kommentiert. Artus besteht als erster
624 Diese Vorgeschichte des Gürtels wird im Kontext des Drachenkampfs bereits kurz rekapituliert, vgl. Cr. 14976–15004. 625 Es wird nicht ganz klar, ob nur der Stein wundertätig ist oder ob der Gürtel auch ohne den Stein wirkt. G UDRUN F ELDER bietet eine hilfreiche schematische Übersicht über die verworrenen und teilweise widersprüchlichen Details der Gürtelhandlung, vgl. F ELDE R S. 158f. 626 Aufgrund der sehr verworrenen Gürtelhandlung ist z. T. nicht ganz klar, welches der beiden Objekte Ziel Gyramphiels ist.
3.2 Wiederaufnahmen des Boten
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in der Reihe der Herren die Probe und Gawein versucht daraufhin, das Geschehen abzubrechen, wird aber von Key daran gehindert. Die Ereignisse des Textes werden in Keys spöttischen Deutungen des jeweiligen Scheiterns bereits mit in die Probe aufgenommen, ebenso ist das sich der Probe unterziehende Personal im Vergleich zur Becherprobe auf die prominentesten Mitgliedern der Artusgesellschaft und Gaweins Familie beschränkt und durch Figuren des Textes ergänzt. Der Text ist somit zum Teil des literarischen Artusuniversums geworden. Es sind nicht mehr die literarischen Vorgänger, über die sich die in der Probe vollziehende Selbstreflexion der Crône konstituiert, sondern der Text reflektiert sich hier expliziter selbst. Der Erzähler geht so weit, mit einem Brevitas-Gestus auf die angeblich schon von ihm auserzählten Becher- und Mantelprobe zu verweisen (Cr. 23495– 23506). Da die Autorfrage des Ambraser Mantel-Fragments mittlerweile zu Ungunsten H EINRICHS VON DEM T ÜRLIN geklärt ist627 und keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden verschollenen Text bestehen,628 lässt sich diese Engführung (wenn auch mit etwas Vorsicht) ebenfalls als Hinweis auf diese Auflösung der Grenzen zwischen der Crône als von H EINRICH verfasste Texteinheit und der arthurischen Texttradition sehen. Keys Anspielungen und Deutungen der Ereignisse des Textes sind dabei wiederum ironisch, in ihrer Zielrichtung zum Teil unklar, unerwartet und laufen naheliegenden Deutungen entgegen. Die Deutungen und Bedeutungen des Textes werden durch die Kommentare nicht erhellt, Keys Umgang mit dem vorliegenden Text ist ebenso respektlos und kreativ wie mit der arthurischen Tradition, der Leser wird auf seine eigenen Lektüren und Deutungen zurückgeworfen. Unmittelbar im Anschluss an die Probe fährt die Handlung fort. Negative Konsequenzen aus der dank Artus für den gesamten Hof bestandenen, im Scheitern der Ritter und Damen jedoch potentiell prekären Probenereignisse, gibt es wie schon im Fall des Bechers keine. Als Preis für das Bestehen der Probe hat die Botin neben dem Mitgebrachten einen zweiten Handschuh als Geschenk der Saelde in Aussicht gestellt (vgl. Cr. 23104–23110). Der angekündigte Lohn stellt sich auch unmittelbar ein, schon vor der Abreise der Botin erscheint der Ritter mit dem Bock, der den zweiten Handschuh mit sich bringt. Formal handelt es sich um einen Neuansatz, Ein ander auentùre (Cr. 24702), der durch das im Roman ebenso wie in der arthurischen Tradition so häufige Motiv der Ankunft eines Boten markiert wird. Es stellt sich allerdings schnell heraus, auch die Überschneidung
627 Vgl. hierzu maßgeblich K RATZ , Bernd, Die Ambraser Mantel-Erzählung und ihr Autor, Euphorion 71 (1977), S. 1–17. 628 Eine Mantelprobe wird neben dem Ambraser Mantel-Fragment geschildert in den schon mehrfach genannten U LRICHS VON Z ATZIKHOVEN Lanzelet sowie im Mantel Mautaillé.
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mit der Botin deutet darauf hin, dass hier der von Gyramphiel initiierte Racheplan der Probenhandlung fortgesetzt wird.629 Auch die Figur dieses Boten ist durch inhärente Widersprüche gezeichnet, er wird zwar als ritter bezeichnet, ist allerdings ist seine Ankunft und insbesondere das Reittier, der Bock, wenig ritterlich (vgl. Cr. 24731–24736). Neben den typischen Attributen, der höfischen und kostbaren Ausstattung und Rüstung und seiner daraus resultierenden Schönheit, ist er wiederum mit einer besonderen Körperlichkeit versehen, denn er ist, ebenso wie sein ebenfalls aufs beste ausgestattete Reittier, Blang und swarz agleistervar (Cr. 24722) elsternfarben schwarzweiß. Der Begriff lässt den Leser natürlich zunächst an den Parzival-Prolog und Feirefiz denken,630 als zweite Referenz bietet sich Reittier des Priure-Boten an, es ist ebenfalls elsternartig weiß mit schwarzen Flecken, geflügelt und gefiedert (Cr. 991–1000), dem es auch in der über das gemeinsame Tertium Comparationis des castelan angegebenen Höhe gleicht (Cr. 985 und Cr. 24750 f.).631 Der Bote gibt sich als von der Saelde entsandter Helfer für Gawein aus und bietet an, ihn für seine bevorstehende Gralsfahrt vorzubereiten. Offenbar ist der als Lohn für die Handschuhprobe ausgelobte zweite Handschuh ebenfalls an eine Bedingung geknüpft, der Bote stellt den Gewinn des zweiten Handschuhs als Artus’ Ruhm mehrend dar (vgl. Cr. 24807–24812). Es stellt sich, nachdem der Bote mit Verweis auf die fortgeschrittene Tageszeit listigerweise ein Vertagen seiner weiteren Botschaft auf den nächsten Tag erwirkt hat, heraus, dass hiermit allenfalls die an die Rash-boon-Thematik angelehnte Bitte um Erlaubnis gemeint sein
629 B LLEUMER EUMER , Die Crône, S. 161 sieht den Boten auf als „negative Kehrseite der Botin“ 630 Das Elsterngefieder wird schon in Cr. 15635–15641 herangezogen, um die Unvereinbarkeit von Gegensätzen zu illustrieren, die dann allerdings doch überwunden wird: Die unversöhnlichen Gegner Gawein und Laamorz legen ihren Konflikt bei. Wie genau dies geschieht, wird nicht erzählt. Eine naheliegende, wenn auch in ihrer Stoßrichtung zunächst gegensätzliche Referenz ist das Elsterngleichnis aus dem Parzival-Prolog (Pz. 1,3–1,14), in welchem Menschen, die Gutes und Böses in sich verbinden, mit dem Elsterngefieder verglichen werden. Inwiefern hier tatsächlich auf Parzivals gescheckten Halbbruder Feirefiz angespielt wird bzw. in Anbetracht der umstrittenen Textkenntnis der letzten Bücher von W OLFRAMS Parzival angespielt werden kann, ist GegenLE UMER R , Die Crône, S. 161. Im Gegensatz zu den elsternfarbenen Menstand der Debatte, vgl. B LEUME schen aus dem Parzival-Prolog ist der Ritter auf dem Bock deutlich und ausschließlich negativ gezeichnet. Ein erfolgreicher Gebrauch der an die Tugend des Trägers gebundenen Handschuhe kann ihm offenbar nur durch die durch die List erworbenen Hilfsmittel, Ring und Stein, gelingen. 631 Bei der Abreise des Boten stellt sich heraus, dass der Bock fliegen kann, ein weiteres Charakteristikum, das ihn in die Nähe von Vögeln rückt und hybridisiert, vgl. Cr. 25504–25507. Diese Eigenschaft könnte allerdings auch mit dem Zauberstein, den der Ritter in diesem Moment unter der Zunge hat, zusammenhängen, vgl. hierzu die Ausführungen zur Edelsteinsymbolik bei G OUEL , Marianne, Heinrich von dem Türlin. Diu Crône. Untersuchungen zu Prolog, Epilog und Edelsteinsymbolik, Frankfurt/M. 1993, S. 183.
3.2 Wiederaufnahmen des Boten
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kann, damit der Bote Gawein die für die Gewinnung des Grals notwendige Handhabung der von Gawein im Lauf des Romans für den Artushof erworbenen Kleinodien, des Rings der Saelde, des Gürtels und des soeben erworbenen Handschuhs, vorführen darf. Als Beweis für die Aufrichtigkeit seines Unterfangens bringt er sein Wissen um die Kleinodien vor, so dass das Motiv der vorbehaltlos gewährten Bitte verzerrt erscheint.632 Die Gewährung der Bitte richtet sich nicht auf ein Anliegen des Bittstellers, sondern soll nicht nur stellvertretend über die Kunde der erwiesenen milte des Königs, sondern konkret als Hilfestellung für Gawein dem Artushof zugute kommen. Der Bote inszeniert sich als Assistenzfigur, deren Wissen im Zusammenhang mit magischen Objekten dem Helden seine Aufgaben erleichtert und nimmt so eine der prototypischen Systemstellen anderweltlicher und monströser Figuren ein. Als Hinweis auf seine unehrlichen Absichten kann man allenfalls die ebenfalls von Artus gewährte und von allen bis auf Key respektierte Bitte verstehen, dass sich ihm während der Demonstration niemand nähern solle. Der Ritter aktiviert die magischen Kräfte der ihm gutgläubig zu besagtem Zweck ausgehändigten Objekte, indem er den Ring ansteckt, den Stein unter die Zunge nimmt und die Handschuhe anlegt. Er wird somit mit der Gunst der Saelde versehen, von Feindschaft befreit, frei von Tadel und siegesgewiss633 und unsichtbar. Der Artushof gerät, nachdem der Bote nicht wieder sichtbar und damit der Raub offensichtlich wird, in komische Aufregung und Durcheinander, während sich alle auf die Suche nach dem unsichtbaren Ritter machen (Cr. 25335– 25391). Dieser flieht auf dem fliegenden Bock, indem er die List offenbart und Gawein verhöhnend ihm den Tod auf der Gralsfahrt prophezeit (Cr. 25392–25549). Wie nach der Becherprobe befindet sich der Artushof nach dem Ende der Handschuhprobe und der Abreise des Boten in dem gleichen Zustand wie vor ihrem Beginn, in Sorge und Trauer angesichts Gaweins bevorstehender Gralsfahrt, nun allerdings verschärft durch den Verlust der Kleinodien. Die Handschuhprobe und ihre ausführliche Schilderung wird, nachdem sie zu Ende erzählt ist, durch einen Erzählereinschub begründet. Bei dieser aventùre handle es sich um die stùre,634 das ordnende und richtungsweisende Element,
632 Der Bote legitimiert sich wie beschrieben scheinbar als wohlmeinender Helfer. Einspruch gegen die Bitte, wie er im Rahmen von Rash-boon-Handlungen ein häufiges Motiv ist, wird durch die Szene um das weissagende vom Wind erfasste junge Mädchen in die Handlung aufgenommen. Narratologisch erscheint der Einspruch als retardierendes Moment, nachdem der Ritter mit dem Bock Ring und Stein aktiviert hat und bevor er die Handschuhe anlegt, vgl. Cr. 25013–25235. 633 Dies bewirkt die Kraft des Ringes und des Steines, welche es ihm überhaupt ermöglicht, durch die an die Tugendhaftigkeit des Trägers gebundenen Handschuhe unsichtbar zu werden. 634 Inwiefern es sich hier wirklich um ein W OLF RAM -Zitat handelt, muss angesichts der Häufigkeit, mit der âventiure und stiure im Reim kombiniert werden, dahingestellt bleiben.
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aller noch zu erzählenden âventiuren des Textes, ohne die Handschuhprobe könne der Text nicht zu Ende geführt werden und bliebe leere Spielerei (Cr. 24709–24719). Bei genauer Betrachtung ist diese Behauptung des Erzählers ebenso unzutreffend wie aufschlussreich. Diese Probenhandlung (wohlgemerkt bezieht sich der Kommentar nur auf die Handschuhprobe selbst und nicht um das Geschehen mit dem Ritter auf dem Bock) ist im Vergleich zur Vorangehenden nicht isoliert und daher auch nicht als eindeutiger Ursprung der folgenden Handlungsentwicklung zu verstehen: Die Verpflichtung zur Gralsfahrt bestand schon zuvor, die Gyranphiel- bzw. Gürtelhandlung und die Geschichten der Kleinodien nehmen ihren Ausgangspunkt ebenfalls in bzw. sogar vor der bereits erzählten Romanhandlung. Die Kleinodien werden im weiteren Verlauf schnell wiedergewonnen und die Handlung mit Gaweins Erlangen des Grals schnell zu einem Ende gebracht. Auch sind die auf die Handschuhprobe folgenden Episoden in ihrem Verständnis nicht an die besagte Episode gebunden. Die Rückgewinnung der Kleinodien erscheint lediglich als eine weitere Volte in einem an Nebenhandlungen reichen Roman. Der Schluss des Romans wird zügig und vergleichsweise geradlinig erzählt, die behauptete Relevanz der Handschuhprobe als absolute Voraussetzung für das Beenden und Verständnis des Werks, wenn nicht sogar für das Erzählen an sich, erschließt sich aus diesem Blickwinkel nicht. In der Rückschau auf den Roman als Ganzes, wird die Relevanz der Handschuhprobe wie sie für den Romanschluss postuliert wird, nachvollziehbar. 24716 Hett ich die einen [gemeint ist die Handschuhprobe, CG] verlan, Jch müste die andern [âventiuren] han verswiegen, Vnd were min rede gar verziegen Endes vnd ze spelle gediegen. (Cr. 24716–24719)635
In der Handschuhprobe werden die zahlreichen und in ihrem Nebeneinander unübersichtlichen Episoden und Handlungsstränge des Romans gebündelt, bevor sie zum Schluss gebracht werden. Sie ergänzt paradigmatisch die Becherprobe, die Aamanz-Episode, und die Maultierzaumhandlung, über die Gürtelbzw. Gyramphiel-Handlung führt sie die Gasoein-, Saelde- und Amurfinakomplexe zusammen, ihre Einbettung in das Hoffest zu Karidol sowie insbesondere ihre ergänzende Fortsetzung in der Episode um den Ritter mit dem Bock schließt sie an die Gralshandlung samt der Wunderketten-Passagen an. Der Roman ist reich an Nebenhandlungen und in seiner syntagmatischen Struktur auch bezüglich der
635 Hätte ich diese eine ausgelassen, müsste ich auch die anderen verschweigen und meine Rede müsste auf ein richtiges Ende ganz verzichten und wäre zu albernem Gerede gediehen (Übers. nach Kragl).
3.3 Stört der Bote?
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größeren Komplexe unübersichtlich. In der Handschuhprobe werden viele dieser Handlungsstränge zusammengebracht und deutlicher und konzentrierter als zuvor miteinander verbunden und zueinander in Beziehung gesetzt. Die Handschuhprobe ist damit tatsächlich ein wichtiges Element der Ordnung und – späten – Unterstützung des Lesers auf seinem Weg durch den Text. Im Vergleich von Becher- und Handschuhprobe zeigen sich signifikante Unterschiede. Die Abgeschlossenheit der Becherprobe lassen diese als Reflexionsraum erscheinen, in welchem allgemein-poetologische Überlegungen vollzogen werden, wohingegen die Handschuhprobe vor allem den Text der Crône im Kontext der Artusliteratur reflektiert. Die Handschuhprobe geht diesbezüglich weiter als die Becherprobe, sie vermittelt die Dichte der intertextuellen Bezüge und durch die nahtlose Integration von Ereignissen des Romans in die Reihe etablierter Motive und Narrative der Artustradition den Eindruck eines Kontinuums der Texte. Diese Aufhebung von Textgrenzen wird im Kontext der Handschuhprobe strukturell gespiegelt, indem die episodenhafte Struktur des Romans überschrieben wird mit einer markierten Kontinuität der Handlung. Sehr deutlich wird dies anhand von Gyramphiels Plan, der sich über den Neueinsatz von zwei Boten-âventiuren erstreckt. Wie sich darüber hinaus nach und nach herausstellt, laufen in der Handschuhprobenepisode die sonst nur lose verknüpften Teile der Crône zusammen. Versteht man die Becherprobe als „Leseanleitung“,636 so sind die AamanzEpisode und die Handschuhprobe Orientierungspunkte, um welche sich mit Rekurs auf die erste Szene die Romanhandlung ordnet und in sinnträchtige Verbindung gesetzt wird. Insbesondere die Handschuhprobe erhält einen programmatischen Charakter, in ihr wird das in der Becherprobe schon angedeutete intertextuelle Prinzip des Romans spezifiziert als schwellenloses Einschreiben in das Kontinuum der Artustradition, die sie zugleich ironisch und kreativ unterläuft.
3.3 Stört der Bote? Im Kapitel 2 wurde der Aspekt der Störung im Zusammenhang mit der monströsen Figur anhand der lexikalischen Problematik des dem Waldmann unbekannten Lehnworts âventiure betrachtet. Die Störungt nach L UDWIG J ÄGER ist ein Konzept, das sich auch für die Crône anbietet. In der Crône ist die âventiure nun im Gegensatz zum Iwein eine in der literarischen Tradition etablierte, wohlbekannte Größe, davon zeugt die Vielzahl von Nennungen im Text in der gesamten Breite des
636 H ABICHT , Der Zwerg, S. 175.
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Bedeutungsspektrums. In der Crône ist es im Fall der Becherprobe nicht das Wort, das zum Stolperstein wird, sondern ausgehend von dem Wort samt seiner etablierten Semantik und topischen Verwendung im Kontext des arthurischen Festes ergeben sich eine ganze Reihe von ineinander geschobenen, die unterschiedlichen Dimensionen des Textes betreffenden Irritationen. Während des Weihnachtsfests besteht ein Mangel an âventiure. Er unterbricht das Fest, es kommt im âventiure-Sehnen zum Stillstand des Festgeschehens. Diese Unterbrechung ist allerdings aufgrund der literarischen Tradition erwartbar, sie wäre lediglich aus der inhaltsbezogenen Perspektive der Erwartung einer ungetrübten Festfreude als Störung des Geschehens aufzufassen. Mit den Gattungskonventionen des Artusromans vertrauten Lesern ist der Mechanismus von höfisch-festlichem âventiure-Mangel und dessen Auflösung durch einen Boten bekannt. Der Bote selbst stellt somit, im Gegensatz zum Waldmann im Iwein, intradiegetisch keine Störung nach J ÄGERS Verständnis dar, im Gegenteil, er löst die Lähmung der Gesellschaft und setzt ein gewisses Handlungspotenzial frei. Allerdings wirkt diese Aktivierung nicht als Handlungsgenerierung im Sinn eines Ausritts oder allgemein der Initiierung einer literarischen Handlungsfolge, sondern bleibt auf die Becherprobenepisode beschränkt, die, wie oben gezeigt wurde, aufwändig aus dem Kontinuum der Narration ausgeklammert ist. Das Monster bringt mit der Botschaft und dem Becher gewissermaßen seine eigene Handlung mit an den Artushof, in deren Vollzug der Text seine Verfasstheit beleuchten kann, indem er über intertextuelle Bezüge auf sich selbst zurückkommt. Die Probenhandlung als abgetrennter Bereich hat trotz des Fehlens eines initialen Störfaktors Eigenschaften einer time-out-Phase, während der die Narration (bei J ÄGER „die Form des Mediums“) „eine vorübergehende oder dauerhafte ‚Starre‘ derart annimmt, dass auf sie kommunikativ Bezug genommen werden kann“.637 In dem so entstandenen Handlungsleerlauf kann sich literarische Reflexion entfalten, die ihrerseits durch die Reflexivität des Boten initiiert und befruchtet wird. Die sich in der Probe realisierenden Ereignisse sind jene der Literaturreflexion. Im Unterschied zu J ÄGERS Entwurf und auch zu der Waldmann-Szene im Iwein kann hier keine einzelne Störung festgestellt werden, welche die breite transkriptive Bearbeitung rechtfertigen würde, es sei denn, man nähme den oben schon genannten topischen âventiure-Mangel des Fests wörtlich (was einer kontextlosen Lektüre entspräche und der Intention des Textes entgegenliefe) oder die monströse Gestalt als deutlicher markierten Störfaktor als dies der Fall ist. Der Text ist allerdings von eine Reihe von Irritationen durchzogen, die jeweils Ansatz-
637 J ÄGER ÄGE R , Störung und Transparenz, S. 48.
3.3 Stört der Bote?
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punkte zu Transkriptivität bieten, angefangen bei der Unsichtbarkeit des Boten und seinem sich jeder Eindeutigkeit entziehendem Wesen und der betörend lähmenden Schönheit und Pracht von Bote, Pferd und Becher über die Reihe der scheiternden Probanden und Keys eigenwilligen Deutungen des Geschehens bis hin zu der Verdopplung der Probenlogik durch den nachgeschobenen Zweikampf. Der Störungscharakter ergibt sich in diesen Fällen jeweils aus der Auseinandersetzung mit Literatur, vor dem Erwartungshorizont der literarischen Tradition werden eine Reihe von Irritationen wahrnehmbar. In einem zweiten Schritt stellen auch die Aamanz-Episode und die Handschuhprobe poetologisch aufschlussreiche Verschiebungen gegenüber dem wiederum durch die Becherprobe abgesteckten Erwartungshorizont dar. Die Konfrontation des Artushofs mit Aamanz’ Kopf kann als Negativ der Becherprobe gelesen werden, wobei der reflexive Fokus von den Topoi, Motiven und Bedingungen des Artusromans auf Rhetorik, Stilistik und den Umgang mit klassischen Vorbildern sowie der Form der Klagerede gelegt wird; insgesamt nimmt sie, wie schon beschrieben, formale Aspekte unter die reflexive Lupe. Die Handschuhprobe ist der ersten Probe deutlich näher, allerdings wird die in der Reihe der Probandinnen und Probanden sowie in Keys Kommentaren zu erwartende intertextuelle Reflexion auf die intratextuelle Reflexion hin überschritten und in Handlung übersetzt. Während die Narration oder allgemeiner der Text, der im Rahmen der hier betrachteten Szenen thematisiert wird, zur Becherprobe noch kaum begonnen hat, das time-out also strukturell bedingt den Reflexionsraum für allgemeinpoetologische Überlegungen sowie insbesondere die intertextuelle Vorgängigkeit der Artustradition und in der Logik des Textes des kontinuierlichen Artusuniversums öffnet, bietet die Handschuhprobe die Möglichkeit, im Rückblick die vorangegangene Handlung neu deutend und ordnend zu erfassen. Angesichts der Dichte der intertextuellen Bezüge stößt das Konzept der Störungt an seine Grenzen. Der Text spielt ein Spiel,638 in welchem Irritationen sich gegeneinander verschieben und ineinander verschachteln. Diese Prozesse geschehen im Zeichen der Intertextualität, wobei der Text sich in seinem Verlauf selbst zum Prätext macht. Analog zu dieser rekursiven Figur der Intertextualität lässt sich der Aspekt der Reflexivität betrachten. Indem sich die Crône partizipatorisch mit der Artustradition auseinandersetzt, macht sie nicht nur die besagte Tradition, sondern auch sich selbst zum Thema. In der intertextuellen Vielstimmigkeit der Crône spricht immer eine selbstreflexive Stimme mit. Die monströse Gestalt des Priure-Boten initiiert den Lese- und Reflexionsprozess, ergänzt ihn um
638 Vgl. hierzu auch – allerdings auf die Romanstruktur fokussiert – B LLEUMER EUMER , Die Crône, S. 19.
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seine eigene Vielschichtigkeit und reichert ihn mit der ihm als monströse Figur eignenden Reflexivität an.639 Der Modus der Reflexion ist in der Crône jener der Intertextualität. Er lässt sich wie das Medium als „Spur seines eigenen Ursprungs“640 verstehen. Das „Mitsprechen“ der Prätexte geht einher mit dem „Mitsprechen“ des selbstreflexiven Diskurses, in welchem Vermittlung und Vermitteltes untrennbar miteinander verbunden sind, so wie der Bote zugleich der Überbringer (einer Botschaft, des Bechers, einer âventiure) ist und das Mitgebrachte (den chopf in der gvgel, die Probe und die âventiure) verkörpert.
639 Es ist bezeichnend für den Reflexionsmechanismus der Irritation, dass die Wiederaufnahmen des Boten in intertextuell markierten Figuren stattfinden, die sich in ihrer Körperlichkeit deutlich von ihm unterscheiden. Über Gygamets Äußeres erfährt der Leser nichts, doch ist ihm eine Assoziation zu Ithêr von Gaheviez – Liebling der Damen – mitgegeben, Gyramphiels Botin ist HRÉ TIENS demoisele mit. schön, doch klingt in ihr das intertextuelle Echo der Cundrîe bzw. von C HRÉTIENS 640 K IENING , Medialität, S. 332.
4 J OHANNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich Der Wilhelm von Österreich J OHANNS VON W ÜRZBURG wird im Epilog auf die Karwoche 1314 datiert, weit nach der sogenannten literarischen ‚Blütezeit‘ des Iwein und auch deutlich nach der eng daran anschließenden ‚nachklassischen Periode‘ der Crône, und liegt damit auch deutlich außerhalb desjenigen Bereichs, der über einen langen Zeitraum den Fokus der altgermanistischen Forschung darstellte. Die Forschungslage ist für den Wilhelm von Österreich dementsprechend übersichtlich. Er galt lange als minderwertiges, wenn nicht sogar unlesbares Zeugnis eines epigonenhaften Literatentums, das für sich genommen allenfalls unter sprach-, stil- und motivhistorischen Gesichtspunkten von Interesse war.641 Größere Beachtung erhielten seine Beziehungen zu seinen Vorgängertexten – die intertextuelle Verfasstheit des Romans hat die Forschung schon früh nach seinen Vorlagen, Quellen und Adaptationsstrategien der Prätexte fragen lassen – und später dann die an den Wilhelm von Österreich anschließenden Transformationsprozesse auf dem Weg zum frühneuzeitlichen Volksbuch.642 Die neuere Forschung beschäftigt sich immer noch intensiv mit Fragen der Intertextualität und unterschiedlicher Traditionszusammenhänge, die sich im Wilhelm von Österreich kreuzen, oder sogar in ihm ihren Ausgang nehmen. Insbesondere die Frage nach der Gattungszugehörigkeit durchzieht bis heute die meisten Arbeiten. A LBRECHT J UERGENS geht der Frage nach, inwiefern der Text als Fürstenlehre habe funktionalisiert werden können und widmet in diesem Zusammenhang ein Kapitel seiner Untersuchung dem Verhältnis von Fiktionalität und Historizität im Text.643 C ORA D IETL führt die so aufgeworfene Fiktionalitätsdiskussion fort und analysiert die unterschiedlichen Einflüsse von „Minnerede, Roman und historia“ und ihre jeweiligen Interferenzen im Wilhelm von Österreich in einer um überlieferungs- und rezeptionshistorische Kapitel ergänzten Studie.644 A RMIN S CHULZ abstrahiert von den Einflüssen konkreter Gattungsmerkmale und liest den Roman
641 A LBRECHT J UERGENS hat eine ausführliche rezeptionshistorische Studie zur Belegung des Textes mit dem Epigonenurteil verfasst, einschließlich der Untersuchung eines „epigonischen RGENS NS , Albrecht, Wilhelm von Österreich. Johanns von Bewußtseins“ im Text selbst, vgl. J UE RGE Würzburg ‚Historia Poetica‘ und Aufgabenstellungen einer narrativen Fürstenlehre, Frankfurt/M. u. a. 1990 (Mikrokosmos 21), bes. S. 56–310, hier S. 230. IE TL L , Cora, Minnerede, Roman 642 Einen Überblick über die frühe Forschung bis ca. 1990 bietet D IET und historia. Der Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Tübingen 1999 (Hermaea. Germanistische Forschungen NF 87), S. 1–7. 643 J UERGENS , Wilhelm von Österreich, S. 4–55. IET L , Minnerede. 644 D IETL
https://doi.org/10.1515/9783110345353-005
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mittels diverser strukturalistischer Ansätze als hybriden Text im Sinne B ACHTINS , welcher sich durch „Schemabrüche und Strukturinterferenzen“ konstituiert.645 Wie S CHULZ liest auch K LAUS R IDDER den Wilhelm von Österreich vornehmlich als Vertreter einer eigenen, wenn auch stark intertextuell bestimmten Gattung: des späthöfischen ‚Minne- und Aventiureromans.‘646 Zwar ist die Bezeichnung eine „Verlegenheitslösung“647 ex negativo, die mit dem Rekurs auf die beiden sehr breit angelegten inhaltlichen Konstituenten diejenigen Romane zu fassen versucht, die sich nicht in gängige Gattungsraster einfügen lassen, jedoch eine Reihe von Konstanten (struktureller, motivischer und handlungsschematischer Art) aufweisen, insbesondere das spannungsreiche Verhältnis von Minne und âventiure, die je eine eigene Gattung samt Untergattungen ausmachen.648 M ONIKA S CHAUSTEN kombiniert die Frage nach dem Genre mit der Gendertheorie und betrachtet insbesondere die Herstellung von Identität des Helden anhand biographischer Strukturen ebenfalls in Hinblick auf eine intertextuelle Herkunft derselben. Sie bezieht insbesondere geistliche Sinngebungsmuster in ihre Analyse mit ein.649 Damit schließt sie in Teilen an das Anliegen von A LMUT S CHNEIDER an, die den Text als allegorische Realisierung einer Identitätskonstitution des Protagonisten versteht.650 Kleinere Arbeiten liefern – verständlich für einen lange vernachlässigten Text – überblicksartige Gesamtinterpretationen,651 oder beschäftigen sich mit eng umgrenzten Themenaspekten.652 So ist zum einen C ORA D IETL mit einer Arbeit auf
645 S CHULZ CHUL Z , Poetik, hier S. 36. 646 R IDDER , Klaus, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben, Berlin, New York 1998. 647 R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 1. IDDE R , Minne- und Aventiureromane, S. 4–9. 648 Vgl. R IDDER 649 S CHAUSTEN , Monika, Suche nach Identität, S. 27–63. CHNE IDER , Almut, Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in 650 S CHNEIDER Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich und in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland, Göttingen 2004 (Palaestra 321). 651 Vgl. H USCHENBETT , Dietrich, Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich, in: Horst Brunner (Hg.), Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1994 (Reclam Universal Bibliothek 8914), S. 412–435 und V OLLMANN -P ROFE , Gisela, Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991 (Fortuna Vitraea 1), S. 123–135. ÄBERL EIN IN , Bianca, Die Konzeption des Abenteuers im 652 S. auch die neuesten Arbeiten: H ÄBERLE Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg und im Theuerdank Maximilians I, in: Jan-Dirk Müller, Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Maximilians Ruhmeswerk. Künste und Wissenschaften im Umkreis Kaiser Maximilians I., Berlin, New York 2015 (Frühe Neuzeit 190), S. 281–294, H EUER , Sebastian, Deus Creator – Poeta Creator – Homo Creator: Reflexe schöpferischen Bewusstseins im
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die Fiktionalität im Wilhelm von Österreich eingegangen,653 zum anderen hat sich M ONIKA S CHAUSTEN mit einer möglichen mythisch-ätiologischen Funktionalisierung des Textes in Bezug auf die Begründung des österreichischen Herrscherhauses sowie über die ekphrastischen Passagen im Hinblick auf die Minnethematik und ihre poetologische Reflexion aus zwei sehr unterschiedlichen Richtungen dem Text genähert.654 Die Verbindung von Minne und literarischem Reflexionspotenzial beleuchtet auch C HRISTOPH H UBER anhand der zahlreichen Liebesbriefe, die den Text in großen Teilen durchziehen und handlungslogisch beeinflussen.655 E LISABETH S CHMID hat zwei Aufsätze der Figur des aventuͤ r hauptman gewidmet,656 und M ARGRETH E GIDI unternimmt eine differenzierte strukturalistische Lektüre der
Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Köln, Weimar, Wien 2017 (Ordo 14), H IRT , Jens, Literarisch-politische Funktionalisierungen: Eine Untersuchung mittelhochdeutscher Kreuzzugsdarstellungen: Wilhelm von Wenden, Die Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwigs des Frommen von Thüringen, Wilhelm von Österreich und Das Buch von Akkon, Göppingen 2012 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 766), L INDEN , Sandra, wildiu rede und ethische Funktion: zum Konzept der wildekeit im Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Wolfram-Studien 25 (2018), S. 135–156, M EY ER , Matthias, Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich, in: Martin Baisch, Jutta Eming (Hgg.), Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2013 (S. 113–134), M USCHIC K , Martin, Der Brief als Liebesgabe. Zur symbolischen Gestaltung der Briefvermittlung im Wilhelm von Österreich von Johann von Würzburg, in: Margreth Egidi, Ludger Lieb, Mireille Schnyder, Moritz Wedell (Hgg.), Liebesgaben: Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 203–218. IET L , Cora, Du bist der aventuͤ re fruht. Fiktionalität im Wilhelm von Österreich Johanns von 653 D IETL Würzburg, in: Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15. Februar 1992, Tübingen 1993, S. 171–183. 654 S CHAUSTEN , Monika, Herrschaft braucht Herkunft: Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, in: Udo Friedrich, Bruno Quast (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2004 (Trends in CHAUST EN , Monika, Orality, Literacy and/or Ekphrasis? Medieval Philology 2), S. 155–175 und S CHAUSTEN Narrative Techniques of Visualization and the Poetics of Late Medieval Romance: Johann von Würzburg’s Wilhelm von Österreich, in: Mark Chinca, Christopher Young (Hgg.), Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green, Brepols 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy), S. 181–202. 655 H UBE R , Christoph, Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich), in: Mireille Schnyder (Hg.), Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, Berlin, New York 2008 (Trends in Medieval Philology ), S. 125–145. 656 S CHMID , Hybride Figur und S CHMID , Chimäre, passim.
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topographischen Verhältnisse im Text und der damit verbundenen Handlungsstruktur.657 Für die vorliegende Arbeit ist das so umfassend diskutierte Gattungsproblem nur aus der übergreifenden Perspektive der Legitimierung der Textauswahl von Relevanz. Im Gegensatz zum Iwein und zur Crône handelt es sich beim Wilhelm von Österreich zwar um einen höfischen Roman, nicht jedoch um einen Artusroman. Allerdings gewährleistet die intertextuelle Ausrichtung des Romans die Grundlage für die Kommensurabilität der Texte und der monströsen Gestalten in ihnen. Die Umstände der Entstehung und die lückenlose literarische Tradition legen für den Wilhelm von Österreich mit den beiden anderen Texten vergleichbare Voraussetzungen nahe, die eine Lektüre gemäß der gleichen Paradigmata rechtfertigen. Die Gattung des Artusromans ist einer der motivischen, strukturellen und narratologischen Hauptbezugspunkte des Textes. Der Wilhelm von Österreich spielt mit entsprechenden Referenzen und verfremdet sie.658 Auch die beiden hier schon betrachteten Texte stehen zum Wilhelm von Österreich in intertextueller Beziehung. Der Einfluss des Iwein lässt sich insbesondere in der hier relevanten Szene um den aventuͤ r hauptman nachweisen. Direkte Übernahmen aus der Crône sind noch nicht beschrieben worden,659 allerdings ergeben sich auch zu diesem Text Parallelen, z. B. im hier wie da prominenten Motiv der Tugendprobe und in der allgemeinen „Verschärfung“ der schon in der Crône vorhandenen und für einen „extrem hybride[n] Text“ typischen „massive[n] intertextuelle[n] Überdetermination“.660
657 E GIDI , Margreth, Grenzüberschreitungen, passim. 658 Der Roman enthält neben den breiten motivischen Übernahmen wenige explizite Anspielungen auf den Artuskreis. Er arbeitet mit der genealogischen Fiktion, dass der Protagonist über seinen Onkel Gaylet von Spangen weitläufig mit Artus verwandt ist (vgl. WvÖ 12266–12315; Agly stammt aus dem Gralsgeschlecht, vgl. WvÖ 12340–12333). Artus als Gestalt der Sage hat auch einen kurzen Auftritt im Text, da er Wildhelm im Krieg gegen Merlin zur Hilfe eilt. Auf Artus selbst wird wiederum genealogisch über dessen vermeintlichen Nachfahren, den historischen Arthur I. Graf von Bretagne aus dem 12. Jahrhunderts angespielt (vgl. WvÖ 16984–16989), vgl. R EGEL , Ernst, Anhang, in: Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 3), Nachdruck Dublin, Zürich 1970, S. 279–334, hier S. 290. Zu Graf Arthur (einem Neffen und zeitweiligen Thronerben Richards Löwenherz) vgl. B OUSSARD , Jacques, Artikel 1. Arthur I. Graf der Betagne, in: Lexikon des Mittelalters, 10 Bde., Stuttgart 1980–1999. Bd. 1, Sp. 1067–1068. 659 T HOMAS G UTWALD weist auf Parallelen zwischen dem Priure-Boten der Crône und dem aventuͤ r hauptman des Wilhelm von Österreich hin, wenn auch nicht im Sinn einer gegenseitigen Abhängigkeit, vgl. G UTWALD , Schwank und Artushof, S. 186, FN 172. 660 S CHMID , Chimäre, S. 71.
4.1 der aventuͤ r hauptman
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4.1 der aventuͤ r hauptman Der eponyme661 Protagonist kommt als Kind an den Hof von Zyzya im Orient, wo er in Agly, der Tochter des Königs Agrant, das Traumbild seiner kindlichen Fernminne findet. Er wird von ihrem Vater wie ihr Bruder erzogen. Sehr bald konkretisiert sich das Liebesverhältnis zwischen den beiden. Doch Wildhelm ist kein geeigneter Heiratskandidat. Er ist zwar von königlichem Geblüt – sein Vater ist Herzog von Österreich – doch er ist in Zyzya mittellos und inkognito (er nennt sich Ryal)662 angekommen und außerdem in dem heidnischen Land aufgrund seiner Zugehörigkeit zur falschen (der christlichen) Religion als Gatte untragbar.663 Zudem hat er in König Walwan von Frigia einen politisch einflussreichen Konkurrenten um Aglys Hand. Die Hochzeit von Walwan und Agly muss jedoch verschoben werden, als luͤ te von marroch (WvÖ 2817) in Frigia einfallen. Um Ryal von Agly zu trennen und den Nebenbuhler idealerweise endgültig zu beseitigen, wird er von König Walwan auf eine gefahrvolle Mission geschickt. Er soll dem König von Marroch Fehde ansagen (vgl. WvÖ 3046–3073). Ausgestattet mit der Fehdeansage in Briefform und einer Rüstung bricht er, von den Stoßgebeten der Erzählinstanz begleitet (vgl. WvÖ 3113–3114), auf. Drei Tage nach seinem Ausritt trifft er auf eine monströse Gestalt. Das Setting ähnelt stark dem Bereich des Waldmanns im Iwein, allerdings kommt in diesem Fall der locus amoenus vor dem locus terribilis. Die Parallelen zwischen den beiden Texten ziehen sich bis in die Reimstruktur, Ryal findet in ein walt gewilde […] ein wit gevilde (WvÖ 3123–3124, vgl. Iw. 397–398).664 Auf der Lichtung er-
661 Der Text kennt die paretymologisch aufschlussreichen Namensvarianten Wildhelm, WildeCHNEIDE R leitet aus dem Namen das gesamte Romanhelm, Wildhalm und Wildehelmus. A LMUT S CHNEIDER programm ab und liest den Wilhelm von Österreich als Roman, „der sich aus dem Namen des Protagonisten entfaltet“, indem nämlich die wilde zum „handlungs- und figurenbestimmende[n] C HNE IDER , Chiffren, S. 129. Dass Wildhelm seinen sprechenden Namen Element“ wird, vgl. S CHNEIDER ausgerechnet während seines Aufenthalts in der wilden âventiure-Welt abgelegt hat, wird als Analogie zu Tristan/Tantris verstanden, bleibt m. E. aber ein blinder Fleck der Argumentation, CHNE IDER , Chiffren, S. 138–139. vgl. S CHNEIDER 662 Wildhelm nennt sich seit seiner Ankunft in Zyzya Ryal. Der Namenswechsel vollzieht sich in WvÖ 1255–1265. In der vorliegenden Untersuchung wird der Protagonist jeweils situationsabhängig analog zum Roman mit dem einen oder dem anderen Namen bezeichnet. Das genealogische Problem der fehlenden Abstammung sollte durch die Adoption Ryals durch Agrant gelöst sein, doch Agrants Frau macht entsprechende Bedenken geltend (vgl. WvÖ 1788–1793). 663 Die religiösen Überlegungen sind es, die Wildhelm überhaupt zur Verschleierung seiner Identität bringen, vgl. den Dialog mit seinem Retter Wigrich (WvÖ 1245–1254). 664 Iwein setzt sich zudem selbst die Frist, den Brunnenort binnen drei Tagen zu erreichen (Iw. 923). In der Annäherung an die Rodung ist die Reihenfolge umgekehrt, aus dem Gefilde gelangt Kâlogrenant in die wilde.
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streckt sich ein schön anzuschauender Hain voll Blumen und Vogelgezwitscher (vgl. WvÖ 3125–3133). In diesem lieblichen und geschützten Raum – an der selben stat – beginnt nun Ryals âventiure – do habt/ sich an sin aventuͤ ren (WvÖ 3134– 3135). Am Anfang dieses Prozesses (aventuͤ ren steht hier als Verb) steht die Wahrnehmung der monströsen Gestalt (WvÖ 3136–3139). Sie nähert sich Ryal über die Lichtung. Die topischen, durch die Konfrontation mit dem monströsen Körper bewirkten Unsicherheiten, werden in diesem Fall nur anzitiert: do sach er ungehuͤ ren/ gestalt, der doch gehuͤ re was (WvÖ 3136–3137). Das etymologische Spiel mit den Gegensätzen evoziert zwar Kategorisierungsprobleme, hier sind allerdings unterschiedliche Bereiche angesprochen. Das monströse Äußere stimmt nicht mit dem gehuͤ ren Inneren überein; über das Unterlaufen eines ohnehin variablen Kalokagathiekonzepts können die Gegensätze entschärft werden. Auf einen inhaltlichen Spannungsbogen wird verzichtet. Die freundliche (gehuͤ re) Intention des Monsters sowie seine Relevanz bezüglich des aventuͤ rens bzw. als aventuͤ r hauptman (die Namensnennung erfolgt noch vor jeder Beschreibung, vgl. WvÖ 3140), werden sofort klar ausgestellt.665 Affekte bleiben angesichts dieses wohlwollenden und für das Geschehen eindeutig zu funktionalisierenden Wesens auf das Wundern bzw. die Beschreibung des aventuͤ r hauptmans als wunderliche (WvÖ 3139 und passim) beschränkt. wunderlich ist dann auch die einzige affektorientierte Charakterisierung, die der aventuͤ r hauptman in seiner Beschreibung erfährt (WvÖ 3143).
3145
soͤ lt in ein maister male, er hiezze in ein wunderlich gestalt. er was snel und da bi balt, mit menschen antluͤ tze, dar uf ein chrone nuͤ tze von ainem rubin was gemaht; sin augen warn struzes slaht, der halz stark helfenbain im was,
665 Zum aventuͤ r haupman in vergleichsweise ausführlichen Analysen vgl. D IETL IET L , Minnerede, S. 148–155, J UERGENS , Wilhelm von Österreich, 396–404, S CHMID , Hybride Figur, S. 144–147, S CHMID , Chimäre, S. 70–85. In folgenden Untersuchungen wird er zumindest kurz gestreift: E GIDI , IE NING , Christian, Personifikation. Begegnungen mit dem Grenzüberschreitungen, S. 98–99, K IENING Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur, in: Helmut Brall, Barbara Haupt, Urban Küsters (Hgg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 347–387, hier S. 374–376, R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 290–291. Mit dem abenteür hauptmann der Prosafassung des Wilhelm von Österreich (gedruckt 1491 und 1492) setzt ICHE L auseinander, vgl. M ICHEL IC HEL , Unbeachtete Vorlage, S. 100–104. Die folgende sich P AUL M ICHEL EIST Lektüre wurde in einer weniger ausführlichen und anders gewichteten Version schon in G EISTHARDT , Potenzialität, S. 33–39 dargelegt.
4.1 der aventuͤ r hauptman
3150
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sus sagt diu schrift do ich ez las; im stuͤ nden an den ahseln sin zwen fluͤ gel viderin gevider daz waz fluͤ cke; dar under schuppen dicke stuͦ nt der lip nach visches art. so wunderlich kain man nie wart gesehen uf der erden hie: die fuͤ zz da mit er do gie warn als ains wilden lewen fuͤ zz. (WvÖ 3142–3159)666
Die Hybridität des aventuͤ r hauptman wird durch mehrere Faktoren etabliert. Es gibt die sprachliche Strategie des Vergleichs (struzes slaht, nach visches art, als ains wilden lewen fuͤ zz), aber auch eine gleichsam materielle Hybridisierung des Körpers, der aus stofflich unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt ist. Das Gesicht des aventuͤ r hauptman ist menschlich (mit menschen antluͤ tze), er trägt eine aus einem Rubin geschnittene Krone (das einzige Attribut), sein Hals ist aus Elfenbein und die Flügel scheinen einem gefiederten Wesen abgenommen und der monströsen Figur angesetzt worden zu sein.667 Die descriptio des aventuͤ r hauptman ist gleich in mehrfacher Weise abstrahierend aus dem Handlungsgefüge herausgehoben. Er wird – konjunktivisch – als Gemälde imaginiert, dessen Wirkung nicht durch den Rekurs auf ein Publikum, sondern auch auf den malenden Produzenten selbst illustriert wird. Der Maler würde den aventuͤ r hauptman als wunderlich gestalt bezeichnen, wenn er ihn denn gemalt hätte. In eindeutiger Anspielung auf die Ars Poetica des H ORAZ 668 wird 666 Wenn ihn ein Meister malen sollte, würde er ihn als wundersame Figur bezeichnen. Er war kühn und tapfer, mit menschlichem Antlitz, auf dem Kopf trug er eine nutzbringende aus einem einzelnen Rubin geschnittene Krone. Seine Augen waren von Straußenart, der Hals ganz aus Elfenbein, so bekundet es die Schrift, in der ich von ihm las. Aus seinen Schultern wuchsen ihm zwei gefiederte Flügel mit flugbereitem Gefieder, darunter der Leib war mit vielen Schuppen nach Art der Fische besetzt. Ein so wunderlicher Mann wurde noch nie auf der Erde gesehen: die Füße, auf denen er schritt, waren wie die Füße eines wilden Löwen (Übers. CG). IET LS S Vergleich des aventuͤ r hauptman mit dem Waldmann im Iwein ist in Bezug auf die 667 D IETL Beschreibung der Körperlichkeit („Die Physiognomie des aventuͤ r hauptman erinnert in vielem an den waltman in Hartmanns Iwein“) jenseits des allgemeinen Charakteristikums der Hybridität nicht nachzuvollziehen. Auch die in Bezug auf den Waldmann herausgearbeiteten Unterschiede könnten präzisiert werden: „Während die Extremitäten des waltman mit denen eines Auerochsen (V. 431), eines Ochsen (V. 447) oder eines Ebers (V. 456) verglichen werden, ist der aventuͤ r hauptman tatsächlich aus Körperteilen verschiedenster Tiere zusammengesetzt.“ D IETL , Minnerede, S. 148. LISABE TH S CHMID meldet bezüglich der historischen Angemessenheit einer poetologischen 668 E LISABETH Lektüre des aventuͤ r hauptman Bedenken an und legitimiert sie schließlich über den an P AUL
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hier mit den materiell-medialen Unterschieden verschiedener Darstellungsmöglichkeiten gespielt und auf die Gemachtheit der gestalt verwiesen. Später schaltet der Erzähler mit dem Verweis auf die Quellenlektüre (WvÖ 3150) ein weiteres distanzierendes Moment ein. Erst gegen Ende erhält die unmittelbare Wahrnehmung wieder Raum, indem auf die bisher ungesehene Besonderheit des Wesens hingewiesen wird. Der vergleichsweise neutralen Darstellung der Gestalt entsprechend wird die eigentlich erwartbare Reaktion des Erschreckens auf Ryals Pferd verlagert, das vor dem Ungeheuer scheut und flieht.669 Angesichts dieser Reaktion befürchtet Ryal in einem Rückgriff auf das allgemeine Verständnis von âventiure als Bewährungsprobe, dass ihm diese aventuͤ r (WvÖ 3167) wegen seines scheinbar unhöflichen Verhaltens – aufgrund des scheuenden Pferdes hat er dem Gegenüber vor einem möglichen Gruß den Rücken zugedreht – schlecht bekommen werde. Doch es kommt in Übereinstimmung mit der Schilderung des gehuͤ ren Wesens nicht zum Kampf. Der unbewaffnete, friedfertige und wohlwollende aventuͤ r hauptman ist keineswegs an einer Auseinandersetzung interessiert. So kann Ryal, nachdem er sein Pferd wieder unter Kontrolle hat, für sein unhöfisches Verhalten um Verzeihung bitten und dem Monster zur Begleichung seiner Schuld seinen dienst antragen (WvÖ 3184). Es entspinnt sich zwischen den beiden ein Frage- und Antwortspiel, bei dem die merkwürdige Gestalt Ryals Fragen bezüglich ihres Wesens jeweils nicht beantwortet, sondern ihm stattdessen Stück für Stück sein eigenes Wesen und seine Bestimmung erschließt. Der aventuͤ r hauptman ist gänzlich auf Ryal bezogen, ihr Aufeinandertreffen ist kein Zufall, sondern das Monster hat sich Ryal aufgrund seiner zuht gezielt angenähert (vgl. WvÖ 3179–3181) – eine erste Manifestation seiner Relationalität. Die zuht bestimmt den ersten Teil des Gesprächs. Sie ist das Movens hinter Ryals ausgesucht höflicher Anrede (WvÖ 3171–3174), er entschuldigt sich auch als erstes für den durch das Pferd bedingten scheinbaren zuht-Lapsus. Im Gegenzug
M ICHEL angelehnten Vorgriff auf das Titelkupfer des Simplicissimus (vgl. S CHMID , Chimäre, S. 67– 72). Die im Kapitel 1.2.4.2 dargestellte mittelalterliche H ORAZ -Rezeption sollte hier genügen, um solche methodischen Skrupel abschütteln zu können. 669 Eine zweite Reminiszenz an das furchteinflößende Potenzial solcher Gestalten findet sich in der Rede des aventuͤ r hauptman, der Ryal mit der Bitte du scholt miner ungehuͤ ren/ gestalt nit entsitzen (WvÖ 3204–3205) auffordert, nach seinem Wesen zu Fragen. Ryal äußert weder vor dieser Aufforderung noch danach Furcht, seine einzige Befürchtung bezieht sich auf den möglichen Affront, den sein scheuendes Pferd verursacht haben könnte. Auch der Erzähler ist in jedem Moment von dem Wohlwollen und der Gefahrlosigkeit der Figur überzeugt. Die Versicherung der eigenen und dem äußeren Ansehen entgegenstehenden Harmlosigkeit erscheint hier daher als Rudiment einer Tradition, in der von monströsen Gestalten eine Gefahr ausgeht.
4.1 der aventuͤ r hauptman
211
ist es gerade Ryals zuht, die den aventuͤ r hauptman zu ihm hingezogen hat und ihn dazu bringt, ihm seine Fragen (und mehr) zu beantworten (vgl. WvÖ 3179– 3181 und 3186–3189). zuht ist in diesem Zusammenhang in mehrere semantische Ordnungen eingebunden. Im offensichtlichen Sinn referiert sie auf die edle Herkunft, das höfische Wesen und die vollendete Erziehung Ryals. Übertragen kann sie als gerichtete Bewegung allerdings auch als Hinweis auf Ryals Bestimmung, auf seinen weiteren im Text vollzogenen Lebensweg und damit auf die literarische Entfaltung des Geschehens und Ryals Teilhabe daran bezogen werden. So antwortet der aventuͤ r hauptman auf Ryals Frage, wer er sei, auch in einer ambiguen Wendung, indem er das eigene monströse Wesen auf Ryal hin transparent macht:670 3186
ich tuͦ n dir mein natur bekannt durch din hochgeborne zuht: du bist der aventuͤ re fruht, du bist zur aventuͤ r geborn. (WvÖ 3186–3189)671
Über die zuht ist die Stoßrichtung der Deutung des aventuͤ r hauptman vorgezeichnet. Er steht nicht für sich selbst, sondern integriert das dem Text zugrunde gelegte Wertesystem, die Figuren und den Textverlauf zu einer poetologisch aufschlussreichen Einheit. In der Figur des aventuͤ r hauptman wird zuerst die textuelle Bestimmung Ryals (und darauf basierend der Text selbst) zum Thema. Unmittelbar im Anschluss an die zitierten Verse ruft der aventuͤ r hauptman dann auch den Garant für einen gerichteten und reibungslosen weiteren Verlauf von Ryals Lebens- und âventiure-Weg, und damit auch der Erzählung, den Bracken Fuͤ rst, zu sich (WvÖ 3190–3193). Bevor dieser ankommt, wird allerdings die relationale poetologische Deutung fortgesetzt. Auf der Grundlage der engen wesenhaften Verbindung Ryals mit der âventiure fordert der aventuͤ r hauptman Ryal auf: du vrage! (WvÖ 3206). Damit initiiert er einen zweiten Anlauf, in welchem er die Fragen, die er zuvor gleichsam in Absteckung des zu behandelnden Terrains nicht bzw. nur dunkel und deutungsintensiv beantwortet hat, ausführlich erläutert. In Ryals Fragen vollzieht sich ein qualitativer Wandel. Waren die Fragen des ersten Anlaufs noch allgemein auf die Dimension der sozialen Interaktion bezogen – die Richtigstellung des scheinbar zuht-losen Verhaltens, die Frage nach der Identität des aventuͤ r hauptman (so sage mir/ wer du sist, WvÖ 3182– 3183) –, ist die zweite Fragerunde in der Spezifik und Komplexität der Fragen
670 Vgl. dazu S CHNEIDER , Chiffren, S. 78. 671 Ich gebe dir mein Wesen zu erkennen aufgrund deiner edlen Wohlerzogenheit: Du bist das Kind der âventiure, du bist zur âventiure geboren (Übers. CG).
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deutlich gesteigert. Ryal fragt nach der scheinbaren Inkongruenz zwischen innerem Wesen und Aussehen, er erkundigt sich nach der humoralpathologischen Diagnose des aventuͤ r hauptman und nach der Bedeutung seiner einzelnen Körperteile. Aufgrund der expliziten Aufforderung fragt er zum Schluss erneut nach dem Namen des monströsen Wesens. In der Episode durchlaufen Ryals Fragen eine Bewegung vom Allgemeinen ins Spezifische. Sie konkretisieren sich von der ganz allgemeinen Feststellung, dass es mit der wundersamen Gestalt eine besondere Bewandtnis haben muss, über den medizinischen Wesensdiskurs hin zu den Bedeutungen der einzelnen Körperteile und der Frage nach dem Namen. Der aventuͤ r hauptman antwortet in umgekehrter Reihenfolge. Er beginnt mit seinem Namen, erläutert dann der Reihe nach die Glieder seines hybriden Körpers und geht zum Schluss auf seine humoralpathologische complexio ein. Die potenzielle Reflexivität dieser Aussagen ist neben den vergleichsweise expliziten poetologischen Referenzen (aventuͤ re wird zu unterschiedlichen Entitäten in Relationen gesetzt) markiert. Ryal verlässt mit seinen Fragen den Bereich der situativen Interaktion mit dem Wesen, den Austausch von Höflichkeiten und Grußformeln, und bedient stattdessen einen mit lateinischen Fachtermini und Lehnwörten gespickten, gelehrten Diskurs, der eine distanzierende Abstraktion von dem Körper des aventuͤ r hauptman vollzieht. Der Körper wird zum medizinischen Analysegegenstand. Auch sprachlich-literarische Konventionen werden forciert und damit als Richtlinien und Abstraktionen von einer nicht-literarischen Sprache unterstrichen. Die Nennung der Körperteile folgt in der descriptio ebenso wie in Ryals Frage und des aventuͤ r hauptman Antwort der gleichen rhetorisch etablierten Ordnung von Kopf (bzw. Krone) bis Fuß (vgl. WvÖ 3145–3159, 3233– 3245, 3264–3297). Durch die umgekehrt korrespondierende Reihenfolge von Fragen und Antworten lässt sich weiterhin eine eindeutige Zuordnung vornehmen. Die von Ryal zuerst gestellte zentrale Frage
3220
wa von mag wesen din gestalt so wunderlich und manicvalt , und doch menschlich sinne hast? ez ist ein zaichen daz du gast in seltsænr wat. (WvÖ 3219–3224)672
ist erst am Schluss der Ausführungen des aventuͤ r hauptman ausreichend beantwortet. Sämtlichen Selbstdeutungen der monströsen Figur kulminieren in dem sin
672 Weswegen mag dein Äußeres so wundersam und vielfältig sein, obwohl du doch menschlichen Verstand hast? Es ist ein Zeichen dass du seltsam gestaltet bist (Übers. CG).
4.1 der aventuͤ r hauptman
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(WvÖ 3307), der sich in der vollständigen Zuordnung der Gestalt zur âventiure zusammenfassen lässt. Krone, Augen und Hals stehen für den muͦ t der âventiure-Suchenden. Die Krone bedeutet den hohen Mut, die edle Gesinnung derjenigen, die auf âventiureFahrt sind. Ihre Herzen brennen wie die Straußenaugen nach tugent und sind so frei von Wandel und Wankelmut, wie der elfenbeinerne Hals weiß und makellos ist. Der Hals ist auch für die aventuͤ re selbst von wesenhafter Relevanz. Sein Material steht für die sterke (WvÖ 3282), die Macht, die der aventuͤ re, der Geschichte ebenso wie ihrem hauptman selbst,673 eigen ist. Der Körper des hauptman aventuͤ r wird zunächst auf das Rezeptionspotenzial der aventuͤ re und auf ihre Rezipienten hin ausgelegt. Die Flügel dienen dazu, Menschen, Vögeln und Tieren in die Herzen zu fliegen. Gleichzeitig wird in der Ausdeutung des Körpers auch das Universum der aventuͤ re umrissen, d. h. ihr universeller Geltungsbereich. Die auf die Flügel gemünzte Aussage des aventuͤ r hauptman: ich swebe wol enbor (WvÖ 3285), erschließt den Luftraum, die Schuppen verweisen auf den Aufenthalt im Wasser (ich wil auch in dem wage sin/ nach visches art in wazzers grunt; WvÖ 3290–3291) und die Löwenfüße (ich bin auch in der wilde gern WvÖ 3296) bedeuten das unzivilisierte, wilde Land, wo âventiuren traditionell ihren Platz haben. Das menschliche Gesicht wird in dieser Körperallegorese nicht beachtet. Die Deutung der einzelnen Körperteile wird in der medizinischen Frage nach den humores weitergeführt,674 die in Fortsetzung des von Ryal begonnenen gelehrten Diskurses ebenso umfassend wie unspezifisch erläutert wird. Die Zuordnung der vier Säfte zu den vier Elementen675 verbindet die mit den vier Elementen assoziierten Gliedmaßen (brennende Straußenaugen,676 Flügel, Schuppen, Löwenfüße) und ihre Deutungen mit dem Universum des Textes zwischen Luft, Wasser und rotschun muren (WvÖ 3297), in welchem der âventiure-Suchende nach tugenden brinnet (WvÖ 3273). Der aventuͤ r hauptman ist auch in humoralpathologischer Hinsicht ein Mischwesen, er trägt sämtliche Temperamente in sich. Dies
673 Der sich im Übrigen auch einfach Aventuͤ r nennt und ebenso auch von Ryal angesprochen wird, vgl. WvÖ 3262 und 3332. 674 Vgl. zum Thema S CHÖNER , Erich, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, (Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, Beiheft 4) Wiesbaden 1964 und F RIEDRICH , Menschentier, S. 64–72. IE TL L , Minnerede, 675 Vgl. S CHÖNER , Viererschema, S. 9–11, S CHMID , Chimäre, S. 76–80 und D IET S. 78. 676 Auch dem Rubin wohnt im mittelalterlichen Verständnis eine eigene Leuchtkraft, ein metaNGE LEN EN , Ulrich, Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und phorisches Feuer inne, vgl. E NGEL 13. Jahrhunderts, München 1978 (Münsterische Mittelalter-Schriften 27), S. 324.
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resultiert für ihn allerdings nicht in einem der Gesundheit zuträglichen Säftegleichgewicht, sondern auch in einer inneren Hybridität. Die Konsequenz ist, dass er allen âventiure-Suchenden, si sin boͤ se oder uzerlesen (WvÖ 3326), zu Dienst verpflichtet ist. Die Konstitution des aventuͤ r hauptman spiegelt jenseits ihrer Gesinnung bzw. ihres muͦ ts das Wesen derjenigen, die sich auf die Suche nach âventiure begeben. Die umfassende Hybridität des aventuͤ r hauptman ist ein Symptom seiner Universalität. Er inkorporiert jeweils die Totalität677 aller Möglichkeiten, auch wenn diese eigentlich miteinander unvereinbar sind: alle Rezipienten, alle âventiure-Orte, alle humores und damit, ungeachtet ihrer Tugendhaftigkeit, auch alle âventiure-Suchenden. Im dritten Teil der Unterhaltung rückt schließlich Ryals weiterer Weg in den Fokus. Für diesen Weg erhält Ryal vom aventuͤ r hauptman einen Begleiter, den Bracken Fuͤ rst, ein ebenso bunter Hund wie sein ursprünglicher Besitzer. Er hat zunderrotes Fell,678 einen weißen Kopf, ‚mohrenschwarze‘, breite Ohren,679 einen spiegelfarbenen Hals und trägt ein schönes Halsband (vgl. WvÖ 3846–3855). Er ist, wie der aventuͤ r hauptman erläutert, ein „Âventiurenspürhund“,680 der darauf abgerichtet ist, alle âventiuren der Welt zu finden. Den Beweis hat der Hund gleich selbst angetreten, indem er bei seiner Ankunft anschlägt, als er an der zit/ het aventuͤ re vunden (WvÖ 3248–3249) – und genau das hat er, auf der Lichtung befinden sich der aventuͤ r hauptman und der aventuͤ re fruht. Der Hund und der aventuͤ r hauptman sind eng miteinander verbunden. Als Mittel der âventiure-Suche ist der Hund – wie sich im Moment seiner Ankunft zeigt – auf seinen Herrn ausgerichtet. Doch diese Zentrierung wird aufgehoben. Der aventuͤ r hauptman ist der maister (WvÖ 3361) des Hundes; er hat ihm seine Fähigkeiten übertragen: min kunst im git ze stiure/ daz er si wist durch ælliu lant (WvÖ 3370–3371). Aufschlussreich ist hier die Parallele zu dem maister, der als malender Schöpfer des aventuͤ r hauptman imaginiert wurde (WvÖ 3143). So wie der Maler die monströse Figur erschafft und kunstreich gestaltet, formt, beein-
677 R IDDER widmet dem aventuͤ r hauptman einen knappen Exkurs, in dem er seine poetologische Relevanz umreißt und darin dessen Auslegung auf die „Totalität als Welt- und Erzählprinzip“ betont, vgl. R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 290–291, hier S. 290. 678 Die Assoziation mit dem leicht brennbaren Material rückt den Hund in die Nähe der sich nach Tugenden verzehrenden (verbrennenden) âventiure-Suchenden (WvÖ 3270–3273) und bedient zudem das sich durch den gesamten Roman ziehende Feuermotiv. 679 sin oren breit,/ swartz als ein mor (WvÖ 3353–3354) – in dieser Formulierung ist ein Echo des Waldmanns im Iwein vernehmbar (vgl. Iw. 427 und 439–443). IET L , aventuͤ re fruht, S. 171. 680 D IETL
4.1 der aventuͤ r hauptman
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flusst und lenkt der aventuͤ r hauptman seinen Bracken.681 Der Hund verfügt entsprechend über eine von seinem Herrn transferierte maisterschaft (WvÖ 3360), die es ihm ermöglicht, sämtliche âventiuren der Welt zu finden. Mehr noch, diese âventiuren sind ihm allesamt bekant (WvÖ 3360), ihm eignet also ein Wissen über âventiuren, das es ihm ermöglicht, seinen neuen Herrn Ryal zielstrebig und seiner Bestimmung gemäß durch das literarische Universum zu geleiten. Denn Ryal, für den in seiner Eigenschaft als der aventuͤ re kint (WvÖ 3411) der Hund gezogen und ausgebildet wurde, erhält den Bracken, bevor er sich auf den Weg macht, ze stuͤ r (vgl. WvÖ 3399–3413, hier 3402).682 Die Szene zwischen dem Ende der Auslegung des aventuͤ r hauptman und Ryals Abschied ist durchzogen von einer Reihe von Gebeten und Gottesnennungen, deren Adressat nicht immer eindeutig festgestellt werden kann. Die Unbestimmt adressierten Anrufungen beginnen nach dem Ende der Auslegung, als Ryal dem hybriden Wesen angesichts dessen Macht über Leben und Tod, Ruhm und Ehre, Liebe und Leid erneut und um Gottes Willen seinen dienst anbietet, um von ihm aller werdekeite maht zu erhalten (WvÖ 2331–3345). Nach der Ankunft des Bracken formuliert Ryal ein Gebet an den zarte[n] Got, in welchem er diesen auf eine Weise um den Hund bittet, die nahelegt, dass Gott der Besitzer des Hundes ist, bzw. dass der aventuͤ r hauptman mit Got angesprochen wird:
3375
[…] ach zarter Got, wær ich so kunstrich daz ich dich moͤ ht gar dar zuͦ bringen oder geb mir den gelingen geluͤ ck, triwe, ellendes leben daz du mir armen woͤ lltest geben den bracken also wunderlich. (WvÖ 3373–3379)683
681 Die poetologische Relevanz von Malerei und ihrer Ekphrasis im Text untersucht M ONIKA S CHAUST EN , allerdings ohne auf den aventuͤ r hauptman einzugehen. Sie beschränkt sich auf die im Zusammenhang mit Wildhelm und Aglys Minne ebenfalls häufig gebrauchten malerischen Metaphern und Motive, vgl. S CHAUSTEN , Orality, S. 134–145. 682 Die Macht des aventuͤ r hauptman über den ihm wesensverwandten Hund – er spricht ihn an: daz gebiut iu der gewalt min (WvÖ 3410) – gemahnt an den Waldmann als meister (Iw. 495) seiner ihm ebenfalls ähnlichen Tiere. Doch im Iwein wird zwar von der sprachlichen Beherrschung der Tiere berichtet, sichtbar werden sie allerdings nur durch die Präsenz des Waldmanns gebannt. Auch findet kein Wissenstransfer zwischen dem Waldmann und seinen Tieren statt, seine meisterschaft bleibt gänzlich bei ihm (Iw. 497, vgl. allgemein Iw. 490–519). 683 Ach lieber Gott, wäre ich doch so weise und geschickt, dass ich dich dazu bringen könnte oder dass mir das Glück, die Treue oder mein mühseliges Leben zum Erfolg verhelfen würde, dass du mir Armen den wundersamen Bracken schenken wolltest (Übers. CG).
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Die Macht des aventuͤ r hauptman wird im Folgenden noch unterstrichen. Ryal äußert einen Todeswunsch. Er hofft, mit Hilfe des Hundes schnell ein ehrenvolles Ende im Kampf zu finden, um seinem Liebesleid zu entkommen, doch der aventuͤ r hauptman will davon nichts wissen. Zwar betont er, dass Gott Ryal zu ihm geführt habe, doch unmittelbar darauf stellt er ihm selbst richen solt (WvÖ 3394) in Aussicht und verspricht ihm, dass er nach wunsch ein sælic man (WvÖ 3396) werden könne. Die allmächtigen Anklänge werden allerdings sofort wieder zurückgenommen, indem sich der aventuͤ r hauptman nun seinerseits mit einem abgeschwächten, nur mehr floskelhaften Rash-boon-Motiv684 Ryal zu Diensten stellt. Er versichert, alles für Ryal zu tun und bietet ihm selbst den Hund als Geschenk an (vgl. WvÖ 3397–3402), weil er Ryals zuvor geäußertes Begehren schon kennt. In dem Segenswunsch zum Abschied wird der aventuͤ re kint (WvÖ 3411) zu Gotes kint (WvÖ 3416) und Ryal dankt ein letztes Mal in Gottes Namen (WvÖ 3424–3425). Die beiden entfernen sich in entgegengesetzte, wenn auch gleichermaßen unwirtliche Richtungen voneinander. Der an dieser Stelle wieder wilde (WvÖ 3429) aventuͤ r hauptman zieht sich in ein walt gebirge (WvÖ 3428) zurück, während sich Ryal unter Stoßgebeten mit Fuͤ rst uf aventuͤ r wirde schin (WvÖ 3436) in den Tannenwald aufmacht. Die gesamte Szene steht unter dem Vorzeichen der Handlungsgenerierung – nach der Selbstauslegung muss Ryal die Lichtung verlassen und die Geschichte weiterführen. Sein ersehnter (Minne-)Tod ist daher an dieser Stelle in keinem Moment eine Option. Um die Kontinuität der Geschichte und des Textes zu gewährleisten, muss Ryal überleben. Zum Fortgang der Handlung und zur Kontinuität trägt der Bracke Fuͤ rst dann auch in besonderem Maße bei. Die im Iwein und in der Crône mit der âventiure assoziierte Kontingenz ist hier in Übereinstimmung mit dem reduzierten Rash-boon-Motiv stark zurückgenommen. Der aventuͤ r hauptman kennt nicht nur Ryals zuͤ htiges Wesen und seine Bestimmung als aventuͤ re fruht, […] zur aventuͤ r geborn (WvÖ 3188–3189), er weiß auch, welche âventiuren der Bracke ihm auf seinem weiteren Lebensweg bescheren wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben werden: dir wirt noch hoher werdikeit/ von im [dem Hund] kunt, daz wiz ich wol (WvÖ 3406–3407). Der Hund trägt alle möglichen âventiuren und daher alle möglichen Wendungen des Textes in sich. Fuͤ rsts Funktion als Handlungsgenerator lässt sich aktivieren und deaktivieren. Solange er mit Ryal auf dem Pferd sitzt, ist er inaktiv. Setzt man ihn aber auf den 684 Auch hier ergibt sich eine strukturelle Parallele zum Iwein. In beiden Texten wird das Motiv in unmittelbarer Nachbarschaft zu den mit den monströsen Wesen assoziierten Tieren verhandelt und es steht jeweils in Zusammenhang mit der Weiterführung der Geschichte – eine Funktion, die im Wilhelm von Österreich der Hund gewährleistet.
4.1 der aventuͤ r hauptman
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Boden, beginnt er âventiure zu jagen (vgl. WvÖ 3419–3423) und die Handlung voranzutreiben. Durch diese zwei Verhaltensweisen des Bracken gerät er immer wieder in seiner Funktion als âventiuren-Motor in den Blick, anstatt funktional zu einem Attribut Ryals reduziert zu werden.685 Dadurch, dass der Bracke immer wieder zum Aufspüren von âventiuren verwendet wird, wird die Erinnerung an seinen ursprünglichen Herrn im Text immer wieder aufs Neue evoziert. Fuͤ rst transportiert die kunst und maisterschaft des aventuͤ r hauptman und seine große Macht zieht sich in der Gestalt des Hundes durch beinahe den gesamten Text.686 Die sich in der Szene abzeichnenden Unsicherheiten in der Anrede von Gott und dem aventuͤ r hauptman betonen dessen Macht und seine universelle Wirksamkeit. Ähnlich wie ein Schöpfer konstituiert er die von ihm abhängige âventiure-Welt, die von seinem Wirken durchzogen ist. Der Übertritt Ryals aus der bekannten und geordneten Sphäre einer vergleichsweise ‚realen‘ (oder doch zumindest realitätsnahen) Welt in den Bereich der âventiure korrespondiert entsprechend mit einer Ambiguisierung der Gottesfigur. In diesem Bereich existiert zwar Gott zweifellos auch,687 aber er ist nicht mehr die einzige ordnungsgebende Bezugsgröße. Dort erhält er Konkurrenz durch die schicksalsprägende und Handlungen auslösende Macht der âventiure, die eine eigene Dynamik entwickelt und eigene Ziele verfolgt. Der semantische Unterschied zwischen den unterschiedlichen Bereichen ist mehrfach analysiert worden. A RMIN S CHULZ liest den Übergang mit dem bachtinschen Chronotopos. Der Held tritt nach der Trennung von der Geliebten aus der „biographischen Zeit“ in die „Abenteuerzeit“ ein.688 M ARGRETH E GIDI analysiert die verschiedenen Grenzüberschreitungen im Roman – Wildhelm/Ryal wechselt mehrfach die Sphäre, darauf wird weiter unten noch näher einzugehen sein – mittels zweier unterschiedlicher Modelle: Einerseits mit dem der lotmanschen Raumsemantik und deren Sujetbegriff im Sinn einer binären Raumstruktur, andererseits als Entwurf einer ternären Struktur, bei dem zwischen die beiden Sphären, analog zu dem von A RNOLD VAN G ENNEP beschriebenen
685 Attributiv fungiert der Bracke während des aus dem âventiure-Kontinuum herausfallenden Feldzugs gegen Frigia, in dem Wildhelm (der hier wieder mit seinem Taufnamen benannt wird) als herzoge mit dem bracken (WvÖ 6499) den Hund hinter sich auf dem Pferd mitführt. 686 Fuͤ rst verschwindet aus der Handlung, als Wildhelm/Ryal in das von Merlin unterjochte Reich der Parklise vordringt. Der Hund kann die Grenze nicht überwinden und wird zwar nach dem Sieg über Merlin nachgeholt, hat danach aber keine Relevanz mehr. 687 Die Szene endet, wie sie begonnen hat, mit einem Stoßgebet. Zu Beginn war es der Erzähler, der für das Gelingen der Ausfahrt gebetet hat (WvÖ 3113–3119), am Ende ist es Ryal selbst (WvÖ 3432–3433). CHUL Z , Poetik, S. 31–32. 688 S CHULZ
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sozialanthropologischen Muster der rites de passage, ein dritter Raum eingefügt wird.689
4.2 Das reflexive Potenzial des Monsters Die Darstellung des aventuͤ r hauptman ist bezüglich ihres Reflexionspotenzials überdeterminiert. Zusätzlich zu den üblichen reflexiv abstrahierenden Strategien der Beschreibung und Relationierung, wird er in seiner descriptio mit dem Monster der Ars Poetica in Verbindung gesetzt. Die Parallelen zwischen dem antiken Monster und dem aventuͤ r hauptman – der Maler als Schöpfer, der menschliche Kopf, die Anspielungen auf Fische und Vögel und ansonsten diverse Gliedmaßen – gehen deutlich über die zwei Strophen R EINMARS VON Z WETER aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hinaus,690 die gemeinhin als erste mittelhochdeutsche Adaptation des horazschen Motivs angenommen werden.691 Neben H ORAZ selbst kann auch R EINMARS Spruch für den aventuͤ r hauptman eine Vorlage gewesen sein. 99
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Unt solt ich mâlen einen man dêswâr, den wolt ich machen harte wunderlîch getân, daz er doch hieze ein man: ich mâlte sîn niht, als man manegen siht. Er müeste strûzes ougen haben unt eines cranches hals, dar inne ein zunge wol geschaben, unt zwei swînes ôren: lewen herze, des vergæze ich nicht. Ein hant wolt ich im nâch dem arme mâlen; an der andern wolt ich niht entwâlen, ich wolt si bilden nâch dem grîfen, dar zuo die vüeze als einem bern: sus wolt ich ganzes mannes wern: swer des niht hât, von dem mac manheit slîfen.
689 Vgl. E GIDI , Grenzüberschreitungen. 690 Zur Datierung vgl. B RUNNER , Horst, Artikel Reinmar von Zweter, Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 14 Bde., hg. von Kurt Ruh (federführend bis Bd. VIII) zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger (federführend ab Bd. IX) und Franz Josef Worstbrock, Berlin, New York 1978–2008, Bd. 7, Sp. 1198–1207. Näheres zu den beiden Strophen in G ERHARD , Christoph, Reinmars von Zweter ‚Idealer Mann‘ (Roethe 99–100), Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 109 (1987), S. 222–251. C HNITZ , Wolfgang, Ein wunder in der werlde vert. Zur Pragmatik einer Strophen691 Vgl. dazu A CHNITZ folge des Wilden Alexander, Zeitschrift für deutsche Philologie 121 (2002), S. 34–53, hier bes. S. 39–42. Auf den Zusammenhang verweist auch schon M ICHE L , Unbeachtete Vorlage, S. 99, aber ebenfalls S CHMID , Chiffre, S. 74–76 geht auf die Parallele ein.
4.2 Das reflexive Potenzial des Monsters
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Strûzes ougen sol ein man durch lieplich angesihte gegen den sînen gerne hân, unt eines cranches hals durch vürgedenken, waz er sprechen müge. Sîn zunge sol im sin geschaben durch wort gar âne vlecken: der sol er gern unt sol ouch haben durch hœren swînes ôren, wâ im ze stân od aber ze vliehen tüge. Lewen herze durch wer, ein hant nâch dem arne, die sol er hân durch milte, niht ze sparne: die nach dem grîfen durch behalden berenvüeze vür den zorn; alsô hân ich den man erkorn: selh man daz hât, der mac wol manheit walden. (Rei. Str. 99–100)692
Die Straußenaugen finden sich im aventuͤ r hauptman wieder, der elfenbeinerne Hals ist zumindest von einer ähnlichen Farbe wie der Kranichhals. Der Löwe findet sich ebenfalls in beiden Figuren, wenn auch mit unterschiedlichen Referenzen. Der Greif kann zudem als indirekter Verweis verstanden werden (s. u.). Auch die allegorische Deutung des hybrid konstituierten Wesens ist eine Parallele, doch ist die Strategie der Allegorese monströser Gestalten in der mittelalterlichen Literatur allgemein weit verbreitet.693 Während R EINMARS man allerdings auf den vollkommenen Mann hin ausgelegt wird und nur wenige Aspekte auf eine poetologisch aufschlussreiche Lektüre der Strophen verweisen (der schöpferische Prozess des Malens, der lange Hals für ein reflektiertes Sprechen und die geschaben Zunge für eine fleckenlose Ausdrucksweise), gibt im Fall des aventuͤ r hauptman die Ars Poetica nicht nur das Bild des Malers und die einzelnen Körperteile, sondern auch eine Perspektivierung auf den Text hin vor, die in der Selbstaus
692 99: Und sollte ich einen Mann malen, fürwahr, den würde ich aufs Wundersamste gestalten, aber doch als Mann erkennbar: Ich würde ich nicht so malen, wie man schon viele gesehen hat. Er müsste Straußenaugen haben und den Hals eines Kranichs, darin eine reine Zunge und zwei Schweinsohren: Das Herz eines Löwen, das würde ich nicht vergessen. Eine Hand würde ich ihm malen wie bei einem (menschlichen) Arm, bei der anderen würde ich nicht zögern, ich würde sie dem Greifen nachempfinden, dazu die Füße eines Bären. So würde ich einen wahren Mann schaffen: Der diese Eigenschaften nicht hat, dem fehlt es an Mannheit. 100: Straußenaugen soll ein Mann haben, um den wohlgesonnenen Blick auf die Seinen zu haben, den Hals eines Kranichs auf dass er vorher bedenke, was er sagen will. Seine Zunge soll rein sein, so dass seine Worte unbefleckt sind. Er soll auch Schweinsohren haben um gut zu hören, wo es ihm ziemt zu bleiben oder sich zu entfernen. Ein Löwenherz zur Wehrhaftigkeit, die nach dem menschlichen Arm gebildete Hand zur freigiebigen Barmherzigkeit, die Greifenhand um Dinge zu behalten, die Bärenfüße für den Zorn. Dergestalt habe ich den Mann ersonnen, ein Mann der diese Eigenschaften hat, ist voll Mannheit (Übers. CG). 693 Vgl. A CHNITZ , wunder, insgesamt zu einer entsprechenden Deutung von Strophen des W ILDE N A LEXANDER , weitere Beispiele nennt er auf S. 39–40. DEN
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legung unterstrichen und realisiert wird. Die literarische Selbstreflexion ist wahrscheinlich am deutlichsten in der vollständigen Ausrichtung der Figur auf die âventiure sichtbar. Jeder Teil des monströsen Körpers wird auf einen Aspekt des literarischen Feldes hin ausgelegt, welches wiederum durch die âventiure konstituiert und bestimmt wird. Die Erwartungshaltung der Deutbarkeit des monströsen Körpers trägt Ryal stellvertretend für den Rezipienten an die Figur heran: es ist ein zaichen daz du gast/ in seltsænr wat (WvÖ 3222–3223). Die Funktion des aventuͤ r hauptman als Allegorie ist offensichtlich. Er steht im Text in einer Reihe von Allegorien bzw. sprachlichen Bildern – angefangen bei der Feuervergoldungsallegorie im Prolog –, die jeweils ausgedeutet (betuͤ tet) werden. Bezüglich einer Klassifizierung der Allegorese ist der aventuͤ r hauptman nicht eindeutig zuzuordnen.694 In ihm vereinigen sich Aspekte einer Konstruktionsallegorie, bei der heterogene Signifikanten auf ein homogenes Signifikat695 hin auslegbar werden und einer Personifikationsallegorie eines „abstractum agens“,696 in diesem Fall wohl der âventiure, in der sich die Signifikate aus der Gestaltung der Figur, insbesondere in Kombination mit der im Fall des aventuͤ r hauptman vor der Beschreibung genannten Bezeichnung, sinnfällig erschließen. Bei Personifikationsallegorien werden „charakteristische Eigenschaften“697 des darzustellenden Konzepts in der Allegorie konzentriert: Neben den schon genannten moralischen Voraussetzungen auch die topographische Verortung, die Macht, die wilde und, besonders im Hinblick auf die poetologische Lektüre interessant, in der Gesamtschau auch die hybride Verfasstheit. Im Einzelnen vereinigen sich in der Figur Traditionen der Edelsteinallegorese (Rubin), der Tierallegorese und der Qualitätenallegorese (des Elfenbeins).698 Manche dieser Auslegungen sind für sich genommen konventionalisierte reflektiv-poetologische Motive. Rubine beispielsweise „können wegen ihres Glanzes und hohen Wertes auch auf das dichterische Tun verweisen“.699 Eine Übertragung des durch den Stein symbolisierten hochgemuͤ te (WvÖ 3266) der âventiure-Suchenden aus der Diegese heraus auf den Textproduzenten bietet sich daher als weitere Bedeutungsschicht an. Inwiefern auch das Monströse konventionshalber eine entspre-
694 Vgl. hierzu S CHMID , Chimäre, S. 80–81, M IC ICHE HEL L , Unbeachtete Vorlage, S. 102–103 und K IEIE NING , Personifikation, S. 374–376. LISABE TH S CHMID spricht von „Metonymien eines einheitlichen moralischen Systems“, der 695 E LISABETH ritterlichen tugent, die sich insbesondere im Kopf des aventuͤ r hauptman materialisiert, vgl. S CHMID , Chimäre, S. 80. ICHE HEL L , Unbeachtete Vorlage, S. 103. 696 M IC ICHE HEL L , Unbeachtete Vorlage, S. 103. 697 M IC 698 Vgl. dazu M ICHEL , Unbeachtete Vorlage, S. 103. NGE LEN , Edelstein, S. 330. 699 E NGELEN
4.2 Das reflexive Potenzial des Monsters
221
chende Bedeutung transportiert, wird in dieser Arbeit festzustellen sein. Immerhin lassen sich Beziehungen zu vergleichbaren Figuren – dem Waldmann des Iwein, Cundrîe aus dem Parzival und über die Waldmann-Analogie evt. auch dem Boten aus der Crône – beobachten. Abstrahiert man von den Teilallegoresen, ist auch die Tatsache, dass der aventuͤ r hauptman überhaupt gedeutet wird, poetologisch relevant. Die in der Selbstauslegung gipfelnde Selbstbezüglichkeit der Figur unterstreicht das selbstreflexive Potenzial des Textes. Formal hervorgehoben wird die poetologische Relevanz durch die dreimalige Wiederholung der rhetorisch überformten Körperschilderung in drei unterschiedlichen Modi: der Deskription, der Nachfragen des Protagonisten und der Auslegung durch das Monster selbst. Die Auslegungsbewegung vollzieht sich zudem aus dem lateinischen Spezialdiskurs der Medizin in die Volkssprache:
3305
Die vier complexione, der du von sinnen dinen mich vragest in latinen, die will ich nach diner kuͤ r mit tuͤ tscher rede legen fuͤ r. (WvÖ 3302–3306)700
Die Fremd- und Lehnwörter verdoppeln das hermeneutische Desiderat. Nicht mehr nur der monströse Körper, auch die Worte selbst, die an ihn herangetragen werden, müssen fuͤ rgeleit werden. Ebenso wie das Monster trägt auch die Sprache selbst ein Moment der Unsicherheit in sich, das durch eine Deutung behoben werden muss. Doch trotz aller Deutung und Auslegung – die Unsicherheiten bleiben bestehen. Das Verwirrspiel zwischen Gott und dem aventuͤ r hauptman nach Beendigung der Allegorese ist nur ein Symptom dafür. Die Allegorese in sich ist hybride, zumal sie unterschiedliche Signifikate zum Gegenstand hat, das ritterliche Tugendsystem (Auslegung der Kopfpartie), den Bereich der âventiure und die Rezipienten (Auslegung des Körpers) und zuletzt noch die medizinische Dimension der Säftelehre, die mit den âventiure-Suchenden auf den Protagonisten ebenso anwendbar ist wie auf den Produzenten oder aber die Rezipienten des Textes.701 Nicht alle Unklarheiten der Auslegung lassen sich über die Paradoxien der Universalität oder des inhomogenen Signifikats auffangen. Einer rein semiotischen Erschließung des aventuͤ r hauptman sind Grenzen gesetzt. Sie bleibt trotz
700 Die vier Temperamente, nach denen du mich in deiner Weisheit auf Latein gefragt hast, will ich dir nach deinem Willen auf Deutsch erklären (Übers. CG). 701 Zum Teil folge ich hier S CHMID , Chimäre, S. 76–78.
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der Auslegung fragmentarisch, metaphorisch und teilweise widersprüchlich oder schlichtweg unverständlich. So müsste die Metapher der in die Herzen fliegenden Rezeption, um verständlich zu werden, weiter ausgedeutet und das Paradox der Universalisierung sowie der gleichzeitigen Universalisierung der âventiure-Suchenden erläutert werden. Warum neben Menschen auch Vögel und Tiere als mögliche Rezipienten angesprochen werden, bleibt ebenfalls unklar. Die scheinbar so deutlichen Verweise (im Text werden sie häufig mit dem Verb betuͤ ten, also ‚verständlich machen‘, ‚auslegen‘, vgl. WvÖ 3267, 3284, 3288 ausgeführt) bleiben hinter ihrem Anspruch zurück.
4.3 Text und perpetuierte Reflexion Der aventuͤ r hauptman ist ebenso ephemer wie der Waldmann im Iwein und der Bote des Königs Priure in der Crône. Doch ebenso wie die Erinnerung an diese beiden Gestalten zieht sich sein Nachhall durch den gesamten Text. Syntagmatisch gewährleistet dies der Bracke Fuͤ rst, paradigmatisch eine Reihe von Monstern, welche die im aventuͤ r hauptman vorgezeichnete Selbstreflexion immer wieder aktualisieren und aufschlussreich ergänzen.
4.3.1 tugent – âventiure – Genealogie: Der Bracke Fuͤ rst In dem Bracken Fuͤ rst erhält die Macht des aventuͤ r hauptman eine Kontinuität, die sie durch beinahe den gesamten Text wirksam werden lässt. Jenseits des roten Fadens der âventiure-Suche materialisieren sich in dem Hund zudem zentrale poetologische Momente des Textes, nämlich seine genealogische Ausrichtung und in Zusammenhang damit die den Text prägende Größe der tugent.702 Um dies zu illustrieren, muss ein wenig weiter ausgeholt werden. Zunächst scheint der Protagonist Ryal einer Ambiguisierung unterworfen zu werden. Neben die zwei Namen treten zwei Abstammungen. Nachdem er sich seiner österreichischen Abkunft mit der Reise nach Zyzya zumindest nominell entledigt hat, erhält er in der Darstellung des aventuͤ r hauptman scheinbar eine
702 Dieses Motiv des Textes – man könnte es fast Leitmotiv nennen – hat die Forschung intensiv IET L , aventuͤ re fruht, S. 172–175, H US USCHENBE CHE NBE TT , beschäftigt. Vgl. D IETL , Minnerede, S. 68–81, D IETL CHAUS TEN EN , Johann von Würzburg, S. 416–419, R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 294–302, S CHAUST C HNE IDER , Chiffren, S. 129–196. Suche, S. 58–63, S CHNE
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
223
neue Genealogie als der aventuͤ re fruht.703 Poetologisch relevant wird dies, da die Legitimation des Textes mit einer genealogischen Fiktion spielt. Wildhelm wird – zumindest was seinen Namen angeht – in das historische Geschlecht der Herzöge von Österreich eingegliedert. Sowohl sein literarischer Vater Liupold (vgl. besonders die Vorgeschichte WvÖ 174–1448) als auch sein Sohn Fridrich (vgl. WvÖ 18663–18675, 18770–18774, 19420–18929) haben historische und zur Textentstehung zeitgenössische Namensvettern, die beiden Brüder (und als Co-Regenten Herzöge von Österreich) Leopold und Friedrich.704 Ihnen wird der Text gewidmet (vgl. WvÖ 18630–18635). Aus einer Generation – jener der beiden Brüder – werden im Text drei, mit Liupold als Großvater, Wildhelm als Vater und Fridrich als Sohn. Die intradiegetische genealogische Relevanz eines fiktionalisierten Herzogsgeschlechts von Österreich wird zum Ende des Textes erneut unterstrichen, indem der kleine Fridrich nach dem Tod Wildhelms und Aglys sowie seiner Großeltern eilig nach Österreich geholt wird, um dort den Fortgang der Dynastie und der Herrschaft zu sichern (vgl. WvÖ 19420–19473). Eine weitere Rückbindung des Textes an die historische Genealogie möglicher Auftraggeber findet sich im Lob Ruͦ dolfs als tugendreicher Stammvater der Habsburger (vgl. WvÖ 13230–13254).705 Doch der Verweis auf Ruͦ dolf ist nur in einem Handschriftenzweig (H und Hb) überliefert. In den übrigen Manuskripten steht an dieser Stelle ein analoges Lob auf den ebenfalls schon verstorbenen Grafen Albrecht von Hayerloch (Albrecht II von Hohenberg-Haigerloch, vgl. WvÖ 13230–13248),706 der seinerseits den „Ruhm [seines] Geschlechts begründet“.707 In dieser übrigens breiter überlieferten Linie (zu der auch die Gothaer Leithandschrift der Edition gehört) werden zusätzlich zu den Habsburgern auch ein oder mehrere Vertreter des Grafengeschlechts zu Haigerloch als mögliche Gönner ins Spiel gebracht (vgl. WvÖ 13245–13248).
703 Genau genommen könnte an dieser Stelle sogar von einer vierfachen Genealogie ausgegangen werden. Zusätzlich zu der österreichischen Herkunftsfamilie und der âventiure wird Ryal von seinem zukünftigen Schwiegervater Agrant an Sohnes statt angenommen (vgl. WvÖ 1334–1339) und er erhält zusätzlich einen Platz in der universellen literarischen Artusgenealogie (vgl. dazu FN 625); sehr anschaulich in diesem Zusammenhang ist der Ausschnitt aus dem Artus-StammIE TL , vgl. D IETL , Minnerede, S. 80. baum von C ORA D IETL 704 Gemeint sind Leopold I. von Österreich und Friedrich III. der Schöne von Österreich. Zur C HOL Z , Manfred Günter, Zum Verhältnis von Autor und Publikum im Frage der Gönnerschaft vgl. S CHOL 14. und 15. Jahrhundert, Wilhelm von Österreich – Rappoltsteiner Parzival – Michel Beheim, Darmstadt 1987, S. 44–81. RNS T R EGEL EGE L als Anhang IV (S. 285– 705 Diese Variante der Handschrift H ist in der Ausgabe von E RNST 285) ediert. C HOL Z , Autor und Publikum, S. 45. 706 Vgl. S CHOLZ CHOL Z , Autor und Publikum, S. 50. 707 S CHOLZ
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Ohne auf die Feinheiten des Variantenvergleichs näher einzugehen,708 soll hier nur der intratextuell manifeste Aspekt, die Diskursivierung von Genealogie und deren Projektionskraft über den Text hinaus, betrachtet werden, auch wenn sie nicht ungebrochen bleibt. Die meisten Überlieferungsträger führen beide möglichen Gönner auf. Wildhelm wird sich letztendlich in keine der intradiegetischen genealogisch-dynastischen Strukturen einfügen.709 A LMUT S CHNEIDER liest das Motiv des immer heimatlosen Helden in Engführung des Wilhelm von Österreich mit G OTTFRIEDS Tristan auf die „Unvereinbarkeit von Minne und Herrschaft“710 hin, die Wildhelm dazu zwingt, „sich von den dynastischen Forderungen los[zu]lösen und weg[zu]bewegen, um sich dem Ziel seiner eigenen Suche nähern zu können“.711 D IETRICH H USCHENBETT sieht diesen Prozess wiederum in den Bezügen zur außerliterarischen Sphäre verwurzelt, indem er zum Tod des Protagonisten in Hinblick auf die Habsburger Herzöge Leopold und Friedrich feststellt: „Das literarisch ‚überzählige‘ Familienmitglied [Wildhelm] verschwindet wieder aus der Genealogie.“712 Diegese und Kontext wären somit wieder auf einen Nenner gebracht. Mit möglichen Konflikten in Bezug auf präexistierende genealogische Gefüge argumentiert auch C ORA D IETL , welche die Verstöße des Wilhelm von Österreich gegen die zeitgenössischen Habsburger
708 Dies leistet S CHOLZ , Autor und Publikum, S. 44–81. In nuce ist nur festzuhalten, dass der von H abhängige Überlieferungszweig eine „habsburgerische Tendenz“ (S CHOLZ , Autor und Publikum, S. 52) aufweist, neben die in den übrigen Handschriften eine ‚schwäbische‘ Variante tritt und dass aus der Überlieferungslage nicht auf die Entstehungssituation und die Möglichkeiten CHOL Z , Autor einer erfolglosen Gönnersuche bzw. des „Gönnerverlust[s] und Gönnerwechsel[s]“ (S CHOLZ und Publikum, S. 70, S CHOLZ zitiert hier B UMKE , Joachim, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979, S. 268) ebenso IE TL , wenig wie auf eine Richtung eines möglichen Gönnerwechsels geschlossen werden kann. D IETL Minnerede, S. 33–56 liefert ebenfalls eine gegenüberstellende Lektüre der relevanten Varianten und bringt eine mögliche Parallelüberlieferung beider Stränge ins Spiel, vgl. dazu auch R IDDER , CHAUST EN N , Herrschaft, S. 159–162. Ob es sich wirkMinne- und Aventiureromane, S. 159–167 und S CHAUSTE lich um ein Gönnerverhältnis im eigentlichen Sinn handelt, wird zudem in Frage gestellt, da sich der Erzähler im Epilog beklagt, seine Mäzene würden ihn nicht entlohnen und er müsse aus diesem Grund den Text zu einem Ende bringen (vgl. WvÖ 19474–19501). Über die Frage der CHAUS TENS ENS Aufsatz, der den Text mit L UGOWSKI historischen Gönnerschaft hinaus reicht M ONIKA S CHAUST als formalmythische Ätiologie, als narrativ gestiftete Gründungsgeschichte der Habsburger liest, vgl. S CHAUSTEN , Herrschaft, S. 162–175. CHNE IDER verweist darauf, dass Ryal nach der Adoption durch Agrant auch von 709 A LMUT S CHNEIDER Melchinor von Marroch als dessen Nachfolger und von Crispin als deren Ehemann dynastische CHNEIDE R , Chiffren, und herrschaftliche Angebote erhält, die er aber jeweils ausschlägt, vgl. S CHNEIDER S. 140–141. CHNE IDER , Chiffren, S. 141. 710 S CHNEIDER CHNE IDER , Chiffren, S. 139. 711 S CHNEIDER USC HENBETT , Johann von Würzburg, S. 418. 712 H USCHENBETT
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
225
Familienverhältnisse als Fiktionalitätsmarker versteht: „Johann nimmt die Historie in das Geschehen herein, um ihr bewußt zu widersprechen.“713 Analog verfährt der Roman mit der Artussippe, gemäß welcher die am gleichen Tag geborenen Liebenden Wildhelm und Agly durch vier Generationen geschieden sein müssten.714 Ob sich die zeitgenössischen Rezipienten tatsächlich so gut in den Familienverhältnissen der Habsburger und des Artusgeschlechts auskannten wie D IETL es voraussetzt, sei dahingestellt. Zumindest die Genealogie der Artuswelt ist – nicht zuletzt aufgrund der für die Artuswelt konstitutiven zyklischen Zeitverhältnisse – unübersichtlich und die an den Jüngeren Titurel anknüpfende Verortung Wildhelms und Aglys innerhalb des Stammbaums ist im Roman ebenfalls nicht sonderlich transparent dargestellt (vgl. WvÖ 12266– 12333). Die genealogische Fokussierung der Protagonistenbiographie und möglicher historischer Bezüge erhält im Roman eine für die âventiure und damit das poetologische Programm relevante Aktualisierung. Wurde zu Beginn des Romans noch Wildhelms Vater Liupold als fuͤ rst uz Osterlanden (WvÖ 1427) bezeichnet, wird im Verlauf des Textes auch Wildhelm zarter fuͤ rst uz Österrich (WvÖ 6356) genannt. Die Anrede fuͤ rst ist im Text mit seinem fast ausschließlich höfischen Personal nicht selten und kommt auch in Kontexten zu tragen, die für Wildhelm mögliche dynastische Anknüpfungspunkte darstellen.715 Doch vor allem wird Wildhelm über diesen Titel in die Nähe des ihn begleitenden und leitenden Bracken gleichen Namens gerückt. Im Blick auf die Szene um den aventuͤ r hauptman kristallisiert sich hier eine programmatische Verdichtung heraus. Wildhelms Abstammung aus fürstlicher und damit – wie nicht zuletzt mit Rekurs auf die möglichen Mäzene festgestellt wurde – besonders tugendreicher Linie ist es, die in der zusätzlichen Genealogie als ebenfalls durch tugent ausgezeichnete aventuͤ re fruht bestätigt wird. In der Figur des Hundes folgt er seinem Schicksal, der âventiure und seiner fürstlichen Art. âventiure und sein durch die âventiure geprägter wilder Lebensweg, tugent und Genealogie gehen so eine untrennbare Verbindung ein. Diese Lektüre des Hundes hat eine Entsprechung in den konventionalisiert selbstreflexiven Passagen des Textes, dem Prolog (WvÖ 1–173), dem Binnenprolog (WvÖ 10793–10860) und dem Epilog (WvÖ 19468–19585). Insbesondere der
713 D IETL IET L , aventuͤ re fruht, S. 174. IET L , aventuͤ re fruht, S. 175. 714 D IETL 715 In Bezug auf die drei Königsgeschlechter, in die Wildhalm/Ryal integriert werden könnte, ist jeweils von den fuͤ rsten ihres Hofstaats die Rede (Agrant: WvÖ 3049, Melchinor: WvÖ 5684 und 5851, Crispin: WvÖ 12877).
226
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tugent wird ein hoher Stellenwert eingeräumt.716 Sie ist es, die in der vor rede (WvÖ 124), dem Prolog praeter rem (WvÖ 1–131),717 für die Rezeption und die Produktion zur bestimmenden Größe wird. Erzähler und Hörer werden über einen „dialektische[n] Prozeß“718 miteinander verbunden, dessen Grundlage die tugent darstellt. Die Vermittlung von tugent durch den Text wird zur Bedingung, oder zumindest zur Voraussetzung für einen ‚Rücklauf‘ der tugent zum Erzähler bzw. Produzenten (vgl. WvÖ 1–14). An dieser Stelle von einem einfachen didaktischen Programm auszugehen, greift allerdings zu kurz. In der Auslegung der Feuervergoldungsallegorie – um Silber zu vergolden muss das Gold zunächst mit choksilber (Quecksilber) amalgamiert werden, wodurch es seine hervorstechendste Eigenschaft, seine Farbe, verliert; erst durch das Erhitzen im Feuer kommt das Gold auf dem Silber wieder zum Vorschein, da das Quecksilber verbrint (vgl. WvÖ 20–47)719 – werden Produktion, Rezeption und der Text über die tugent aufs Engste miteinander verschmolzen, während scheinbar klare Oppositionen gegeneinander verschoben werden. Zunächst erscheint die Auslegung offensichtlich. Gold und Quecksilber werden mit zweierlei Menschen, tugendhaften und tugendlosen, zusammengebracht. Die tugent schöpfen diese Menschen allerdings nicht aus dem maere, sondern sie ist ihnen inhärent (oder eben nicht). Die angemessene Rezeption von tugentlichen maeren (WvÖ 9) erfordert eine gewisse Disposition, ein schon vorhandenes Maß an tugent:
57
die tugentrichen bietent dar ir ore, da man von tugenden list mit tugenthafter rede […] (WvÖ 56–58)720
Den tugentrichen Rezipienten einer ebenso tugendreichen Geschichte – in der Allegorie: dem Gold – werden die tugentlosen, ungeeigneten Rezipienten gegenüber gestellt – so sollte man meinen. Doch die tugentlosen (WvÖ 66) Menschen
716 Zum Prolog und darin insbesondere zur tugent-Thematik vgl. D IETL IE TL , Minnerede, S. 99–111, J UE RGE RGENS NS , Wilhelm von Österreich, S. 311–336, R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 88–96 CHNE IDER , Chiffren, S. 37–60. und 277–280, S CHNEIDER 717 Die Unterteilung von prologus praeter rem und ante rem kann hier unter anderem aufgrund der Relevanz der tugent für beide Teile nicht anhand der üblichen inhaltlichen Kriterien mit letzter Konsequenz festgehalten werden. Der erste Abschnitt behandelt zwar auf allgemeine Weise das Verhältnis von Rezeption und Produktion, in der Auslegung der Feuervergoldung finden sich allerdings schon Anklänge an die Thematik und die Handlung des Textes. 718 R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 89. 719 Zur Silbervergoldung vgl. z. B. D IETL , Minnerede, S. 100–101. 720 Die Tugendreichen hören gut zu, wenn man mit tugendhafter Rede von Tugenden vorliest (Übers. CG).
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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werden zwar erwartungsgemäß mit dem Quecksilber verglichen, allerdings nicht in ihrer Eigenschaft als Textkonsumenten, sondern als Produzenten von falscher rede, d. h. von Lügen (WvÖ 66–73). Der Erzähler nimmt dies zum Anlass, die Wahrheit seiner Geschichte zu betonen und elaboriert über das destruktive Potenzial auch weniger tugentlose in einer Gemeinschaft von tugentlichen, wo erstere mittels verdrehter rede Unfrieden stiften (WvÖ 74–109). An dieser Stelle wechselt die Argumentation von den Personen auf die Ebene des Worts. boͤ se und cluͦ ge rede (WvÖ 107 und 109) werden durch die manipulierenden und pervertierenden Worte des tugentlosen ununterscheidbar. Die Möglichkeit einer Differenzierung schafft die als Goldschmiedin personifizierte beschaidenhait (WvÖ 112), in deren mit der tugent entzündetem Feuer boͤ siu rede verswint (WvÖ 119). Der Verstand ist eine Instanz, die sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Literatur relevant wird, er ist „die zentrale virtus des Erzählens“.721 Allerdings wird nicht erläutert, wessen beschaidenhait im vorliegenden Fall die Flammen schürt. Ist es der Verstand der tugentlosen selbst, die zur Raison kommen? Eher nicht, denn die beschaidenhait braucht der tugende spachen (WvÖ 115), um ihr Feuer überhaupt zu entzünden. Auch eine Lektüre der beschaidenhait als Kunstfertigkeit des Produzenten, der seinen Text entsprechend aufschlussreich und didaktisch verwertbar gestaltet, ist schwierig, da bei den tugentlosen die Voraussetzung zu einer entsprechenden Deutung nicht gegeben ist. Am ehesten ist die Unterscheidungsgabe der tugentlichen Rezipienten angesprochen. C ORA D IETL ist an dieser Stelle insofern zuzustimmen, als dass hier nicht Menschen, sondern Literatur thematisiert wird, allerdings nicht im Sinn einer klar auszumachenden „didaktischen Funktion der Literatur.“722 Im Vordergrund des ersten Prologteils steht die Etablierung einer tugent-gestützten Kommunikationsgemeinschaft. tugent zirkuliert über den Text zwischen Produzent und Rezipient, wird aber nicht monodirektional vermittelt, sondern muss für eine glückende literarische Kommunikation von beiden Seiten an den ebenfalls von tugent erfüllten Text herangetragen werden. Da der Text schon im Prolog mit seinen Apostrophen und der sehr präsenten Erzählerfigur mit statu-nascendi-Fiktionen arbeitet,723 wird über die Produktion zugleich die Narration und somit der Text in seiner Verfasstheit als ganzer auf die tugent hin perspektiviert. Unterstrichen wird diese Funktion im prologus ante rem, der erneut den Produktionsprozess in den Blick rückt. Auf eine Bitte des Erzählers um Inspiration (WvÖ 131–133), folgt die Formulierung eines anspruchsvollen Vor
721 J UERGENS , Wilhelm von Österreich, S. 323. IET L , Minnerede, S. 101. Sie liest den Prolog sowie den Binnenprolog im Sinne eines 722 D IETL Psychomachie-Motivs als Kampf der Tugenden und der Laster. IDDE R , Minne- und Aventiureromane, S. 89–90. 723 Vgl. dazu R IDDER
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habens (WvÖ 134–151), das von Bescheidenheitstopoi relativiert wird (WvÖ 152– 172). Die Trias tugende, aventuͤ r, minne (WvÖ 134) umreißt die „inhaltliche und strukturelle Programmatik“724 des Textes. Die tugent ist dabei von aventuͤ r und minne geschieden:
147
[…] daz minne und aventiur von mir würde getihtet und tugende dar in gephlihtet uf daz aller beste (WvÖ 146–149)725
tugent ist „als Konzept gedeutet, das seinen Sinn außerhalb der literarischen Ebene konstituiert, um von dort aus in die Erzählung hereingenommen zu werden.“726 A LBRECHT J UERGENS liest aus dem Roman einen „Anspruch[…] auf umfassende lere“ und sieht diese auch im Prolog vorgezeichnet.727 Auch K LAUS R IDDER meint: „Das didaktische Konzept der tugent fokussiert die traditionellen Komponenten [âventiure und Minne] zu einer Einheit“ und weiter: „Das die Erzählung von Aventiure und Minne strukturierende Prinzip ist die lêre.“728 Die für diese Lektüre herangezogenen Stellen (WvÖ 146–149 und WvÖ 160) unterstreichen zwar die Relevanz der tugent, allerdings tritt diese als Prädisposition für die Produktion und Rezeption des Textes in den Vordergrund und ist dem Werk auch wesentlich im Sinn einer integrierenden und alle Ebenen durchziehenden Größe eingeschrieben; ein didaktischer Anspruch im eigentlichen Sinn, nämlich der irgendwie gearteten Anleitung zur tugent, lässt sich hieraus nicht ableiten. Der Erzähler inszeniert sich nicht als Lehrer, sondern als Ratgeber: […] sint gern tugenden holt/ und minnet si, daz ist min rat! (WvÖ 85–86); hap tugent lieb, daz ist min rat! (WvÖ 10844). Eine explizit mit didaktischem Impetus an den Rezipienten herangetragene Aufforderung betrifft ihre Abgrenzung zu den tugentlosen: […] nu lern 10837 daz du die selben [gemeint sind die tugentlosen aus V. 10830] vliehest und din sinne zu den ziehest die tugent und ere minnen! (WvÖ 10836–10839)729
724 R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 94. 725 […] damit Minne und âventiure von mir gedichtet und aufs beste mit Tugend verwoben werde (Übers. CG). CHNE IDER , Chiffren, S. 37. 726 S CHNEIDER 727 J UERGENS , Wilhelm von Österreich, S. 311. 728 R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 95. 729 Nun lerne, dass du die [Tugendlosen] meidest und deine Gesinnung an denjenigen ausrichtest, die Tugend und Ehre lieben (Übers. CG).
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
229
Der positive Effekt der tugent und deren didaktische Vermittlung zeigt sich in dieser Formulierung bestenfalls mittelbar. tugent ist die Eigenschaft, welche die Rezipienten des Textes und den Produzenten von vornherein eint. Eine moralische bezzerunge rückt erst im Epilog in den Blick. Die Klage um die verstorbenen Protagonisten des Romans geht in die Klage des Erzählers um den verweigerten Lohn der Auftraggeber über. Der Erzähler hat nicht mehr die mugende (WvÖ 19473), die Erzählung, insbesondere das Lob der Protagonisten, fortzusetzen. Zwar trägt er noch viele Geschichten in sich (in mir ist noch beslozzen/ vil wilder aventuͤ r, WvÖ 19478–19479), der nicht erhaltene Lohn hat jedoch dazu geführt, dass er seine tugendhafte Einstellung verloren hat (daz untugendet mir den muͦ t, WvÖ 19490) und er konsequenterweise nicht mehr seiner poetologisch-moralischen tugent-Ideologie gemäß literarisch produktiv tätig sein kan: sit daz ist der welt sit,/ so muͦ z ich tihten miden (WvÖ 19494–19495). Er rekapituliert erneut die zwei Arten von Menschen, die verhassten und unverständigen Tugendlosen (bzw. hier die unbesinden/ und ir untugent geswinden, WvÖ 19499–10500) und die tugendhaften und klugen werden, zu deren bezzerunge er diesen Roman verfasst habe (vgl. WvÖ 19400–19510): ain ieglichs daz sich verstat, bezzerunge nimt da von: 19510 wiser muͦ t ist des gewon. (WvÖ 19508–19510)730
Dieses Erlangen von Weisheit im Verbund mit einer mit christlicher Ethik konnotierten bezzerunge ist nur bedingt mit den in den Prologen getätigten Aussagen zum Anliegen des Textes und zu den Rezipienten in Deckung zu bringen. Aufschluss über die neue Perspektive gibt der unmittelbar folgende Abschnitt. Die vermittelte bezzerunge dient zur Begründung des anschließenden Gebets des Erzählers um göttliche Gnade: da von ich bit der uns geschuͦ f[…] daz er mir welle vergeben […] (WvÖ 19511–19513). An die Stelle des verweigerten weltlichen Lohns tritt so die Hoffnung auf eine Entlohnung im Jenseits. Das Gebet zieht sich bis fast zum Ende des Romans (bis WvÖ 10559). Angeschlossen sind noch die neuerliche Selbstnennung als Hanns der schribær (WvÖ 19561) und weitere Produktionsdetails: die Quellenfiktion einer durch König Agrant in Auftrag gegebenen lateinischen Vorlage (WvÖ 19561–19569), das Datum, Ort und Umstände der Beendigung der Niederschrift (WvÖ 19575–195180), der wiederholte Verweis auf die Gönner (diesmal wieder die Habsburger, WvÖ 19572–19573) und zum Schluss erneut die Frage des Lohns. Angesichts des vorangegangenen Gebets um Gnade (als Lohn auf einen moralisch positiven Effekt der Dichtung) und des Verweises
730 Jeder, der Verstand hat, bessert sich daran: man gewinnt dort weisen Mut (Übers. CG).
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auf die Beendigung des Textes in der sühneaffinen Karwoche, läge zunächst ein christlich-jenseitiger Lohn nahe. Doch Hanns hat konkretere Vorstellungen von seinem Objekt sowie dem Schuldner: […] ein guͦ t gewant, des si der commentur gemant! 19585 daz stat in siner gnaden hant. (WvÖ 19583–19585)731
Damit endet der Text. Die vorangegangene resignative Absage an eine Aussicht auf weltlichen Lohn und die etwas konstruierte Begründung für den zu erwartenden himmlischen Lohn erscheinen als topische Floskel exponiert, oder zumindest ironisiert. Nicht mehr Gott erteilt Gnade für die Vermittlung von bezzerunge, sondern der Komtur belohnt kraft seiner Gnade die Mühen des Verfassers mit einem Kleidungsstück. tugent ist damit auch im Epilog vor allem Anderen eine poetologische Größe.732 Diese Funktion der tugent wird insbesondere in Bezug auf die Erzählerfiguren des Textes unterstrichen und damit auch mit dem Bracken Fuͤ rst zusammengeführt. Nach der Nennung der Haigerlocher bzw. je nach Version der Habsburger herren, folgt eine Sentenz von beinahe tautologischer Stringenz, welche das dynamische Tugendverständnis als Vorbedingung und Gegenstand erneut illustriert: Swer tugent und er minnet 13250 billich der gewinnet sæld, tugent und ere. (WvÖ 13249–13251)733
An dieses Diktum, das seine Glaubwürdigkeit implizit aus der prägenden Kraft der vorangegangenen exempla der idealen Gönnerfiguren bezieht, schließt sich ein produktionsästhetischer Exkurs samt Nennung des Schreibers an, der sich diesem Motto gemäß der Literaturproduktion widmet. ze Ezzelingen in der stat 13275 sitzt der selb burgær
731 […] ein gutes Gewand, daran sei der Komtur erinnert. Es liegt in seiner gnädigen Hand (Übers. CG). 732 Ein didaktisches Anliegen im eigentlichen Sinn weist der Roman an anderen Stellen auf, insbesondere im Zusammenhang mit der Minne, und zwar dort, wo die Minnereden-Tradition deutlich sichtbar wird, vgl. dazu D IETL , Minnerede, S. 150–242. Die mit der âventiure verbundene lere kann allerdings auch in Kontexte jenseits aller moralisch-ethischen Relevanz eingebracht werden. Kurz nach dem Treffen mit dem aventuͤ r hauptman werden die offensichtlich nicht sonderlich aufmerksamen Zuhörer durch die âventiure zum Schweigen aufgefordert: diu aventuͤ r iuch lert gedagen (WvÖ 3542). 733 Wer Tugend und Ehre, liebt der erwirbt rechtmäßig Heil, Tugend und Ehre (Übers. CG).
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
231
der ditz und manic guͦ t mær hat gehuset: er ist genant Diepreht der werde, wol erkant schol er sin guͦ ten luͤ ten 12380 die tugent und ere truͤ ten. (WvÖ 13274–12380)734
Dieprecht schreibt sich in das von den Gönnern vorgeprägte, auch den Protagonisten bestimmende und in der von Fuͤ rst erjagten âventiure den gesamten Text durchziehende Tugendmodell ein und integriert in der abschließenden Wendung erneut die Rezipienten des Textes. Die bezüglich der modestia ansonsten schwierig zu rechtfertigende Selbstnennung einer Autorfigur wird den tugend- und ehrliebenden Rezipienten vermittels der Inszenierung eines tugendhaften Textproduzenten als angemessen begründet. Neben dem Anspruch auf die Verfasserschaft verbindet der tugent-Gedanke Dieprecht mit dem zweiten möglichen Schreiber Johannes,735 dessen Selbstnennung knapp siebzig Verse zuvor die Vorstellung der Gönner einleitet. Johannes integriert sich ebenfalls, wenn auch in einer im Vergleich zu Dieprecht deutlichen Zuspitzung der Formulierung, über die Tugend in den Roman: Johannes der tugend schribær/ haiz ich, geborn uz Francken (WvÖ 13207–13208). In welchem Verhältnis Johannes und Dieprecht auch zueinander stehen mögen, sie bestätigen das poetologisch aussagekräftige Beziehungsgeflecht der tugent in seinem Einbezug der Produzenten und primären Rezipienten des Textes, wie sie neben den „literaturtheoretischen“736 Passagen der Prologe und des Epilogs auch der Bracke Fuͤ rst illustriert. Unterstrichen wird die Rückbindung der tugent an den Bracken während der Schilderung der Cetus-Episode, in welcher der – in diesem Moment noch namenlose – Erzähler sein Schaffen in einer Vorwegnahme des âventiure-Jagdhundes Fuͤ rst mit der Jagd vergleicht, in der die metaphorischen Hunde seiner Worte die âventiure zielgerichtet und ohne durch Umwege bedingte Ehrverlust verfolgen.
734 In der Stadt Esslingen ist derjenige Bürger beheimatet, der diese und viele andere gute Geschichten finanziert hat. Er heißt Dieprecht. Er soll den guten Leuten, die Tugend und Ehre lieben, wohl bekannt sein (Übers. CG). 735 Das Verhältnis der beiden Schreiber zueinander, die Verfasserfrage, die Frage nach einer möglichen Hierarchie (Verfasser vs. amanuensis) und die Beziehung zu den möglichen unterIE TL , schiedlichen Entstehungskontexten und Gönnern ist extensiv behandelt worden von: D IETL C HOL Z , Minnerede, S. 33–56, R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 159–167 und 294–296, S CHOLZ Autor und Publikum, S. 44–81. IET L , Minnerede, S. 99. 736 D IETL
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Nu hoͤ rt aber niwe sage! sit ich aventuͤ r jage so laz ich an die hunde (ich main von dem munde diu wort diu ich da tihte, uf daz jagen rihte) daz diu iht abe keren und guͦ te sage uneren von aventuͤ r kuͤ nne. (WvÖ 975–983)737
„Der Erzählvorgang nähert sich damit deutlich der Suche des Helden nach Aventiure (mit seinem Aventiurenspürhund) an.“738 Die Annäherung geht über eine prozedurale und motivische Parallele hinaus. Das Erzählen ist ebenso wie die âventiure und der gesamte Text durch die Leitkategorie der tugent bestimmt. Die Relevanz von tugent für das Schreibhandwerk erhält gegen Ende des Textes in dem tugenthaft Schriber (WvÖ 18536) auch eine intradiegetische Manifestation.739 Als am Ende des Romans Liupold Wildhelm kurzzeitig mit nach Österreich nimmt, lässt er seine vier liebsten Dienstherren in Zyzya bei Agly zurück, unter ihnen den tugenthaft Schriber (vgl. WvÖ 18510–18538). Ihn zeichnet – wie es sich bei den oben zitierten Dieprecht- und Johannes-Nennungen zumindest durch eine textuelle Nachbarschaft zeigt – eine „Nähe […] zu den Repräsentanten des [intradiegetischen] österreichischen Herrscherhauses“740 aus. Und er ist dann auch derjenige, der die Grabrede auf Wildhelm halten wird (vgl. WvÖ 19257–19317). K LAUS R IDDER hat darauf hingewiesen, dass der tugenthaft Schriber zudem als intertextuelle Referenz auf einen gleichnamigen Minneund Sangspruchdichter zu verstehen ist.741 Die tugent durchzieht nicht nur den gesamten Text, sondern ist maßgeblich für dessen Produktion und Rezeption sowie für die Gönner aber auch die schriftstellerischen Vorgänger und die Kollegen – mithin konstituiert sie das gesamte literarische Feld. In dem bunten Hund Fuͤ rst, dessen spiegelnder Hals an die
737 Nun hört aber Neues. Da ich âventiure jage, lasse ich die Hunde zur Jagd frei (ich meine die Wörter aus meinem Mund, die ich dichte und auf die Jagd ansetze) auf dass sie nicht ablassen und damit eine gute âventiure-Geschichte entehren (Übers. CG). IET L , aventuͤ re fruht, S. 181. 738 Vgl. D IETL 739 Zu dieser Figur vgl. J UERGENS , Wilhelm von Österreich, S. 240–241 und R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 297–302. 740 R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 298. IDDE R , Minne- und Aventiureroman, S. 298- 302. 741 Vgl. R IDDER
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
233
moralisch-allegorische Tugenddarstellungen in specula erinnert, laufen alle Fäden zusammen.742
4.3.2 Minne und âventiure Der Bracke Fuͤ rst ist, wie oben gezeigt wurde, ein poetologischer Mittler mit Bezügen zur âventiure, zur Leitkategorie der tugent und zur Genealogie. Die in der Trias des Prologs dem Text programmatisch vorangestellte Minne fehlt. In den bisher betrachteten selbstreflexiven Passagen spielt die Minne keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Sie wird zwar im prologus ante rem im Rahmen der drei cleinode (WvÖ 135) als Erzählgegenstand genannt, als Erzählziel formuliert und in ihrem absoluten Wert sowie ihrer literarischen Relevanz herausgestellt. Aber sie stellt, obwohl ihre Personifikation angerufen und um Verständnis für eine dem hehren Gegenstand möglicherweise nicht angemessene Darstellung gebeten wird (WvÖ 164–172), für die hier betrachteten selbstreflexiven Passagen im Grunde lediglich ein inhaltliches Motiv dar. Bezeichnend ist, dass im Prolog auch die Anklänge an den Tristan-Prolog ohne Referenz auf die Minne auskommen. Namentlich daz edel hertze (WvÖ 3) ist der im Tristan (vgl. Tr. 45– 100) so prominenten Minnebedeutung entledigt, es wird zum tugent-Indikator, indem die ebenfalls übernommene enge Verflechtung von Motiven der Rezeption und der Produktion über die alles einende Größe der tugent auf die edelen herzen projiziert wird.743 Wenn in den selbstreflexiven Passagen überhaupt von minne oder minnen die Rede ist, dann handelt es sich zumeist nicht um eine interpersonale Minne, sondern um eine tugent-gerichtete moralische Einstellung: […] sint gern tugenden holt/ und minnet si[…] (WvÖ 85–86); hap tugent lieb […] (WvÖ 10844); Swer tugent und er minnet […](WvÖ 13249). Dies mag man als didaktisch motivierte Aufforderungen lesen. Angesichts der Konstanz, mit welcher der Text einer solch eindeutigen Funktionalisierung ausweicht, lassen sich diese Äußerungen allerdings auch als Strategie verstehen, Aufmerksamkeit auf die tugent und ihre Relevanz in jeder textuellen Beziehung zu lenken. Die Minnereflexion entfaltet ihr poetologisches
742 Eine ausführliche Referenz auf das im mehrfachen Sinne reflexive Potenzial einer Spiegelmetapher findet sich im Anfangsteil des Romans anlässlich eines elaborierten Minneexkurses, LBRE CHT J UERGENS UE RGENS rückt den gesamten Text in die Nähe eines Fürstenvgl. WvÖ 2669–2759. A LBRECHT spiegels, indem er ihn als »narrative[…] Fürstenlehre“ (vgl. den Titel seiner Monographie) versteht. 743 Zum Verhältnis des Wilhelm von Österreich zum Tristan vgl. R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 88–90 und S CHAUSTEN , Orality, S. 186–187.
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Potenzial und ihre intrinsische Komplexität jenseits der hier betrachteten selbstreflexiven und mit Monstern assoziierten Abschnitte. Der Einfluss von Minnereden und die sich daraus ergebenden reflexiven Tendenzen hat C ORA D IETL eingehend untersucht,744 an dieser Stelle kann nicht näher auf diese Thematik eingegangen werden. C ORA D IETL verbindet in ihrer Lektüre des aventuͤ r hauptman die Minne mit der âventiure: „Was hier über die âventiure gesagt wird, könnte – sowohl auf der Bild- wie auch auf der Bedeutungsebene – ebensogut von der Minne ausgesagt werden.“745 Punktuell und vor allen Dingen intertextuell mag dies zutreffen.746 Intratextuell sind ebenfalls Parallelen feststellbar, doch âventiure wird anders konstruiert und hat andere Funktionen als die Minne, dies wurde schon in der Lektüre des Bracken deutlich. âventiure umfasst im Wilhelm von Österreich die gesamte Breite des überlieferten Bedeutungsspektrums. Auf der Seite der Schilderung eines Ereignisses kann die âventiure den Text oder allgemein eine narrative Struktur (WvÖ 172)747 bedeuten, in Erzählerreden die Quelle des Romans meinen (WvÖ 3507), sie kann als Gattungsbezeichnung dienen (WvÖ 3579) und intradiegetisch Nachrichten bezeichnen (WvÖ 3813). Zur Bedeutung eines Geschehens gehört das Verständnis von âventiure als Bewährungsprobe (WvÖ 3167), als biographischer Abschnitt des Protagonisten (WvÖ 3135) oder als wundersame Begebenheit, insbesondere auch als wundersame oder staunenswerte visuelle Eindrücke (WvÖ 497).748 Auch negative Vorkommnisse wie Wildhelms Verurteilung werden als âventiure bezeichnet (WvÖ 11357). Die alte Bedeutung der âventiure als handlungslogischer Zufall sowie als Schicksalsmacht hinter solchen Zufällen (WvÖ 383, 10853) erfährt im Wilhelm von Österreich ebenfalls eine Aktualisierung. Denn neben dem aventuͤ r hauptman, der ja von Ryal ebenfalls mit der Bezeichnung Aventuͤ r angesprochen wird (WvÖ 3331), tritt im Roman auch die Âventiure als eine in der Apostrophe auf den Begriff reduzierte personifizierte Instanz auf, die der Erzähler um Nachsicht
744 Vgl. D IETL , Minnerede, S. 123–258, vgl. zur Minnethematik ebenfalls H UBER , Minne als Brief, S. 134–145. IET L , Minnerede, S. 150. 745 D IETL IET L den Jüngeren Titurel sowie die ripuarische 746 Zur Unterfütterung der Argumentation zieht D IETL Minnerede Was ist Liebe hinzu, in welchen die Minne mit dem aventuͤ r hauptman vergleichbar skizziert wird vgl. D IETL , Minnerede, S. 150–151. 747 Ich nenne in der folgenden Aufzählung jeweils nur ein Beispiel. Die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank findet bei einer (allerdings unvollständigen) Auflistung 142 Instanzen (Online unter: http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/mhdbdb/App?action=ShowQuotation&c=WVO, abgerufen am 29.07.2012, 15:00 Uhr). 748 Als Wildhelm die Donau herunterfährt, heißt es: sus sahens manig aventuͤ r/ manigen Ruͦ zen ungehuͤ r/ biz gein Bulgarie (WvÖ 496–498).
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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für die eigenen Schwächen und um Inspiration für sich und Unterstützung für den Protagonisten bittet (WvÖ 165, 3724, 4469). Sie spielt auch als Vrau Aventur (WvÖ 8241) eine Rolle, die für die unmuͦ zze des Erzählers verantwortlich ist, welcher auf ihr Geheiß der aventuͤ re nachjagt (vgl. WvÖ 8241–8351). Die Jagdmetaphorik schafft im Zusammenhang mit der âventiure intradiegetisch das Ziel einer Handlungsbewegung und in Hinblick auf die produktionsästhetische Fiktion das Desiderat des Erzählens. Das Moment des Zufallenden und der ziellosen Suche ist durch den Bracken aufgehoben und in eine gerichtete Bahn gelenkt. âventiure ergibt sich nicht situativ aus einer Handlungsstruktur und ist auch nicht handlungslogisch auf den Protagonisten zugeschnitten, sondern von vornherein Teil seiner Biographie und entfaltet sich mit ihr. Im Vergleich zum Artusroman „verändert sich der Charakter der Aventiure (als Form gesellschaftlicher Bewährung) in Richtung auf individueller Welterfahrung“.749 âventiure ist im Wilhelm von Österreich entsprechend nicht mehr von allgemeingesellschaftlicher Relevanz, sondern häufig als Tugendprobe auf den Protagonisten selbst konzentriert. C ORA D IETL liest Fuͤ rst als Ryals Herz, das nach âventiure strebt.750 âventiure bestimmt Wildhelms/Ryals Wesen, er ist der aventuͤ r fruht. Sie wird spätestens in der Begegnung mit dem aventuͤ r hauptman zu einer Art genetischer Disposition. âventiure ist für den aventuͤ r hauptman und den Bracken ebenso wie für den Erzähler, der von seinen Quellen und der personifizierten âventiure geleitet wird, Gegenstand eines privilegierten Wissens. Sie alle kennen Wildhelms/Ryals Schicksal und Lebensweg und gewährleisten, dass die Geschehnisse die vorgesehenen Wendungen nehmen werden. Im Gegensatz zum Waldmann stellt der aventuͤ r hauptman daher nicht die Frage nach âventiure, sondern er verfügt über alle Antworten. Er ist die Antwort auf nahezu alle poetologischen Fragen. Das umfassende âventiure-Konzept des Romans entspricht dem universellen Deutungsanspruch der monströsen Gestalt.
4.3.3 Das Netzwerk der Monster Vor diesem Hintergrund sei noch einmal der aventuͤ r hauptman betrachtet. Lektüren dieser Figur haben häufig seine auf den Protagonisten bezogene Spiegelbildlichkeit betont, nicht zuletzt, da er auf Ryals Fragen zu seinem Körper jeweils mit Informationen zu dessen Wesen und Schicksal antwortet.751 Doch wie oben ge-
749 R IDDER , Minne- und Aventiureromane, S. 5, vgl. dazu auch S CHULZ , Poetik, S. 132–134. IET L , Minnerede, S. 154. 750 Vgl. D IETL IET L , Minnerede, S. 149. 751 Vgl. M ICHE L , Unbeachtete Vorlage, S. 102, D IETL
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zeigt wurde, betrifft dies nur einen Teil der Auslegungen. Der Name und die Selbstallegorese erweisen sich als zutreffend. Im aventuͤ r hauptman findet sich nicht nur das unmittelbare Schicksal des Helden, sondern auch der ganze Roman präfiguriert. In ihm sind, wie er selbst in seiner Allegorese darlegt, unter anderem die Räume des Erzählens vorgezeichnet. Wasser, Land, Luft und Feuer, die vier Elemente, die auch mit der Ausdeutung der complexiones bedeutsam werden, markieren auch die Orte, an die Ryal seine von Fuͤ rst geleitete âventiure-Fahrt führen wird bzw. schon geführt hat. Die Überfahrt über das Schwarze Meer, die Durchquerung der wilden Landschaft, das Feuergebirge und Belgalgan als ‚brennende‘ Länder752 sowie Parklises Flug auf dem Greifen werden in den Fischschuppen, den Löwenfüßen, den brennenden Straußenaugen und den Flügeln prospektiv vorweggenommen. Der aventuͤ r hauptman fungiert somit gleichsam als topographisches Modell, das dem Leser die Raumstruktur des Romans in seiner Ganzheit präsentiert. An den Grenzen zwischen den semantischen und topographischen Räumen der erzählten Welt, die in der ‚Karte‘ des aventuͤ r hauptman kompakt visualisiert werden, sind weitere monströse Figuren angesiedelt. Diese markieren die erwähnten Grenzen nicht nur, sondern ihre wesentliche Funktion besteht darin, die Transgression für den Helden überhaupt zu ermöglichen.753 Die Relevanz dieser Figuren wurde – wenn auch in ganz anderer Perspektive – schon früh erkannt. So sieht bereits M AYSER den Teufel Merlin, die Greifen und übrigen Teufel, den Fisch Cetus und den Zauberer Virgil als „besonders charakteristische Züge der Handlung des Wilhelm von Österreich“, da sie sich nicht auf intertextuelle Übernahmen zurückführen lassen.754 Ihre singuläre Relevanz für den Text ergibt sich allerdings aus ihren Bezügen zum aventuͤ r hauptman. Zwischen ihm und den weiteren Monstern entsteht eine zirkuläre Verweisstruktur. Der aventuͤ r hauptman legt seinen Körper unter anderem auf die unterschiedlichen Räume der Erzählung hin aus, während der Wechsel zwischen diesen Räumen wiederum von Monstern markiert wird, die in ihrer hybriden Verfasstheit die Reminiszenz an den aventuͤ r hauptman in sich tragen und auf ihn zurückverweisen (bzw. im Fall des Cetus vorausweisen). Die monströse Gestalt bleibt in ihrer poetologischen Relevanz im gesamten Text präsent. Am Anfang (und vor dem Zusammentreffen mit dem aventuͤ r hauptman) steht die Überquerung des Schwarzen Meeres auf dem bewaldeten Rücken des Fisches Cetus, eines riesenhaften, aus tierischen und botanischen Teilen zusammenge752 Vgl. D IETL IET L , aventuͤ re fruht, S. 179. 753 Vgl. dazu E GIDI , Grenzüberschreitungen, S. 92–102. 754 Vgl. M AYSER , Eugen, Studien zur Dichtung Johanns von Würzburg, Berlin 1931 (Germanische Studien 101) Nachdruck Nendeln 1967, S. 60–71, hier S. 60.
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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setzten hybriden Wesens (WvÖ 944–1160).755 Cetus trägt auf seinem Rücken einen idyllischen walt/ von clainen edeln risen (WvÖ 952–953), unter ihnen der wohlriechende Baum betellium (WvÖ 986).756 Der Duft dieses Baumes veranlasst Wildhelm dazu, während der Überfahrt an der vermeintlichen Insel anzulegen, um sich dort seiner Fernminne zu widmen. Als er von dem offenbar organisch mit dem Fisch verwachsenen Baum eine Blüte abbricht – hier spielt der Text mit der Doppeldeutigkeit von bluͦ de (WvÖ 1027) als Blüte und Blut – schreckt er den Fisch auf und dieser setzt sich, indem er sein gevider (WvÖ 1036)757 schwingt, in Bewegung. Cetus bringt Wildhelm aus einer ihm heimischen Sphäre (greifbar in dem Boot und den Bediensteten, die ihn von Wien über die Donau bis auf das Schwarze Meer begleitet haben) in das heidnische Reich Zyzya. Die Implikationen dieser Veränderung – der Namenswechsel und Genealogieverlust – wurden oben schon näher betrachtet. Das nächste Überschreiten einer Grenze ist jenes aus der heidnischen, jedoch weiterhin von den höfischen Normen geprägten Welt von Zyzya bzw. aus Walwans Reich Frigia in die wilde, die Welt der âventiure. Dieser Übergang wird durch den aventuͤ r hauptman selbst markiert und mithilfe des Bracken über weite Teile des Texts perpetuiert. Ryal erhält in diesem Fall zwar keinen neuen Namen, dafür aber, als der aventuͤ re fruht, eine neue Genealogie. Ryal folgt, nachdem er den aventuͤ r hauptman verlassen hat, Fuͤ rst durch einen dunklen, donnernden Berg zum Feuergebirge. Nachdem er dieses durch ein Tor betreten hat, findet er an einem Flusslauf eine mechanische Vorrichtung. Zwei eherne Figuren, die eine lachend, die andere von traurigem Ausdruck, werden durch das strömende Wasser eines Baches angetrieben und drehen so ein
755 Am Fisch Cetus ist der Einfluss der Physiologus-Tradition sehr deutlich festzustellen, wenn die allegorische Deutung auch nicht mit übernommen wurde (Phys. S. 17). Im Physiologus strömt der Walfisch aus seinem Mund Wohlgeruch aus, der kleinere Fische anlockt, die er dann verspeist. Auf seinem Rücken wachsen Bäume, so dass Seefahrer sich täuschen lassen und ihn für eine Insel halten. Im Wilhelm von Österreich liegt eine Vermischung der beiden Eigenschaften vor: Wildhelm wird von dem süßen Duft eines blühenden Baumes auf die als locus amoenus gestaltete ‚Insel‘ gelockt. 756 Bedellium ist ein biblisches Motiv. Es kommt im biblischen Paradies vor (Gn 2,12) und das Manna sieht aus wie Bedellium (aspectus bdellii, Nm 11,7). Die hebräische Bedeutung des Begriffs kann nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden, in der lateinischen Tradition wird bdlh/bedolach im Rückgriff auf antike Enzyklopädien (u. a. Plin. nat. XII, 35) als das Harz des Balsambaums ANFRE D , Bdlh („Bdellium“): zur Etymologie, Biblische Notizen 48 (1989), identifiziert, vgl. G ÖRG , M ANFRED S. 12–16. 757 Versteht man das Gefieder nun metaphorisch oder real, der Fisch wird mit Vögeln enggeführt.
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Rad, das sich zwischen ihnen befindet (vgl. WvÖ 3444–3579). Daraufhin kündigt sich die nächste âventiure an: 3580
3585
3590
3595
nu lat iu aber tuͦ n bekant ain wunderliche sage! Ryal, der kuͤ n, nicht der zage, huͦ p da nach prise sere und wart wunders mere. Nu dar, Aventuͤ re! durch sinen pris du stuͤ re den jungen ane kunder mit ainem niwen wunder, der du vil gewaltic bist! do kom an der selben vrist ain vogel, der was wunderlich (von dem wunder merket mich!) her zu dem gebirge haiz. von golde sin gevider glaiz uͤ ber allen sinen lip: von dem wunder, schriber, schrip! daz mær do flogiere! der vogel houbet viere het, als ich geschriben las: [...] (WvÖ 3580–3599)758
Nach dem vergleichsweise sachlichen Bericht von der hydraulischen Maschine zieht der Erzähler in der Schilderung des vierköpfigen Vogels alle Register. Zunächst werden die Rezipienten mit einer Aufmerksamkeitsformel auf die wunderliche sage hingewiesen. Der so angeschobene Spannungsbogen wird sofort unterlaufen – oder zumindest von einer „Ob-überhaupt“-Spannung auf eine „Wie“-Spannung“759 hin verschoben – indem das Ergebnis der nun folgenden Begebenheit, die Vermehrung von Ryals pris, vorweggenommen wird. Danach setzt der Erzähler mit einer an die personifizierte Aventuͤ re gerichteten Apostrophe
758 Nun lasst euch eine wunderliche Geschichte erzählen. Ryal, der tapfere, gar nicht feige, machte sich auf nach Ruhm und errang weitere Wunder. Auf, Âventiure, führe den jungen Tadellosen zu einem neuen Wunder, derer du so viele beherrschst! In diesem Moment kam ein wundersamer Vogel (gebt acht, denn ich habe wunderbares zu berichten!) zu dem heißen Gebirge geflogen. An seinem ganzen Leib glänzte sein Gefieder von Gold. Schreib, dieses Wunder auf, Schreiber! Schmücke die Geschichte! Der Vogel hatte vier Köpfe, wie ich geschrieben las: […] (Übers. CG). 759 Zur Begrifflichkeit vgl. L UGOWSKI , Clemens, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt/M. 1976 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 151), S. 39–45.
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erneut ein und bittet sie, den jungen Helden zu einem niwen wunder, das ihm zu seiner Bewährung dienen möge, zu führen. Dies ist befremdlich, da schon mitgeteilt wurde, dass Ryal auf eine solche Probe treffen, mehr noch, sie bestehen werde. So unvermittelt wie der Vogel auftaucht (do kom an der selben vrist), folgt daraufhin die Schilderung des eigentlichen Geschehens. Das temporale Demonstrativum schließt mit seinem Effekt des Einstiegs in medias res direkt an die Schilderung des mechanischen Rades an. Die in den vorangegangenen Versen zwischen Rezipientenapostrophe, Bitte an die Aventuͤ re und Synthese des kommenden Geschehens aufgespannte Metaebene ist plötzlich wieder in der Ebene der Handlung versunken – jedoch nicht für lange. Nachdem der wunderliche Vogel (zunächst ohne weitere Spezifikation seiner Wunderlichkeit) seinen Auftritt hat, setzt der Erzähler erneut an: Zuerst fordert er die Rezipienten erneut auf, ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Schilderung des Wunders zu richten. Nachdem daraufhin die noch nicht ganz so wunderliche Eigenschaft des goldenen oder zumindest goldglänzenden Gefieders mitgeteilt wurde, wird der dem Erzähler offensichtlich zur Seite stehende Schreiber angefeuert. Er soll schreiben und die Geschichte ausschmücken. Angesichts dieser Aufforderung könnte man auch annehmen, sie sei monologisch an die in statu nascendi erzählende und gleichzeitig aufschreibende Erzählinstanz selbst gerichtet. Doch der Vers daz mær do flogiere ermöglicht eine dritte Lesart im Sinne eines Optativ. In diesem Fall wäre er nicht an eine personale Instanz gebunden, welche die Geschichte ausschmückt. Allerdings soll sich die Geschichte in dieser Deutungsvariante nicht selbst schmücken. flogieren/floyieren kann auch ‚wogen, schweben, flattern’ bedeuten. Bevor der Vogel in all seiner Wunderlichkeit zu Ende beschrieben ist, hat sich das Erzählen schon an seine fliegende Bewegung angepasst, indem sie ständig zwischen Handlungs- und Metaebene hin und her flattert.760 Die klimaktische Struktur findet an genau dieser Stelle ihren Höhepunkt. Jetzt wird endlich das größte Wunder, die vier Köpfe des Vogels, erwähnt. Der darauffolgende Spannungsabfall ist eklatant. Durch das Enjambement ist bereits die Vollendung des Satzes durch das Verb im Folgevers drastisch weniger betont als die houbet viere, die am deutlichsten hervorgehoben sind. Abschließend landet die Erzählung buchstäblich auf dem Boden der Tatsachen, indem noch auf die schriftliche Quelle dieses Wunders verwiesen wird: als ich es geschrieben las.
760 Diese Deutung scheint mir naheliegender als jene, den Vers als Aufforderung an den IE TL L , Minnerede, S. 98. Schreiber zu verstehen, möglichst schnell alles niederzuschreiben. Vgl. D IET CHOL Z , Autor und Publikum, S. 15 und 23 (die auch von R IDDER IDDE R , Minne- und Die Lesart von S CHOLZ Aventiureroman, S. 279 und 289 präferiert wird), hier einen Perspektivenwechsel anzunehmen und die Aufforderungen der Âventiure in den Mund zu legen, die sich an den Erzähler wendet, IE TL L , Minnerede, S. 97–98 mit guten Argumenten angezweifelt. wird von D IET
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In dieser kurzen Schilderung wird das gesamte Universum der Literaturproduktion zusammengeschlossen: die Rezipienten, die âventiure als die die Geschichte steuernde Instanz, der Erzähler, sein Schreiber, die Geschichte selbst und die Quelle, aus welcher der Erzähler sein Material schöpft. Die Instanzen des literarischen Feldes durchziehen gleichsam die Diegese.761 Indem sich aber das Erzählen dem Gegenstand anpasst, wird die Grenze verwischt. Das kleine Textstück, in dem nicht zufällig ein durch seine überzähligen und unterschiedlich gestalteten Köpfe monströses Wesen beschrieben wird, vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß der Hybridität des Erzählvorgangs. Diese Durchdringung ist nicht immer so dicht wie im oben gezeigten Fall, lässt sich aber auch auf größere Strukturen und letztlich auf den ganzen Text anwenden.762 Zu erinnern ist hier an die sämtliche Ebenen durchziehende Jagdmetaphorik763 und die wilde des Erzählens, die sich in der Topographie, auf der Handlungsebene, auf der Ebene des Discours (WvÖ 1449–1457), in verschiedenen Figuren (natürlich besonders den Monstern) und im Namen des Protagonisten, der sich wiederum aus der Vorgeschichte und seiner Herkunft ergibt (WvÖ 555–591), realisiert. Die Szene der Feuerberg-âventiure wurde schon häufig als Adaptation der Brunnenszene im Iwein gelesen.764 Der aventuͤ r hauptman entspricht in dieser Parallelsetzung dem Waldmann als Wegweiser und Stichwortgeber bezüglich der âventiure, der Vogel dem Brunnen, dessen Störung durch den Protagonisten eine Provokation darstellt und einen Kampf mit dem Herrn des Brunnen- bzw. Feuerbergreichs, Ascalon bzw. Joraffin, nach sich zieht, welcher dem Protagonisten wiederum Gelegenheit zur entscheidenden Profilierung gibt. In dem vierköpfigen Vogel, der dem Protagonisten Zugang zur allegorischen Welt des Feuergebirges verschafft, wird die Erinnerung an den aventuͤ r hauptman explizit.765 Ryal fragt ihn: 3625
sag an, bistu gehuͤ r? pfligestu der aventuͤ r?
761 Selbstverständlich handelt es sich jeweils um intratextuelle Phänomene. Es wird ein fiktiver Autor, ein fiktiver Schreiber und ein fiktiver Kommunikationszusammenhang in die ihrerseits fiktive Geschichte integriert, um einen selbstreflexiven Prozess zu ermöglichen. 762 So auch die These von A RMIN S CHULZ , der die Ursache der Hybridität in der intertextuellen C HUL Z , Poetik, Situation sowie in miteinander konkurrierenden Motivationsstrukturen sieht, vgl. S CHULZ S. 124–127. CHUL Z , Poetik S. 129–130 spricht diesbezüglich von der „Parallelisierung der Narration mit 763 S CHULZ der erzählten Geschichte“, vgl. auch R IDDER , Minne- und Aventoureroman, S. 292 und D IE TL , aventuͤ re fruht, S. 181. C HNE IDER , Chiffren, S. 82. 764 Vgl. S CHMID , Chimäre, S. 84 sowie S CHNE 765 Vgl. dazu auch S CHMID , Chimäre, S. 84.
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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oder hastu kainen sin? antwuͦ rt mir sit daz ich bin durch aventuͤ r her geriten! (WvÖ 3625–3629)766
Doch in diesem Fall handelt es sich eben nicht um die Personalisierung der âventiure, sondern um einen ihrer ‚Ableger‘. Der Vogel hat keinen Verstand (sin), er kann nicht antworten, sondern nur, wenn er von Ryal mit der Lanze angestoßen wird, vierstimmig schreien (WvÖ 3630–3643). E LISABETH S CHMID liest den Vogel als eine „Leseanleitung“767 und als „Gebrauchsanweisung“768 für den aventuͤ r hauptman. Der im Gegensatz zum aventuͤ r hauptman in seiner Hybridität weniger komplexe Vogel verweise durch das „Prinzip der getäuschten Erwartung“769 auf selbigen zurück und ermögliche es, dessen Komplexität klarer zu fassen. Ich würde dieses Argument umkehren: Der aventuͤ r hauptman schafft eine Erwartungshaltung, welche die Perspektive auf jede der im Roman angeführten monströsen Figuren prägt. Sie können die Erwartung – das rezeptionsästhetische Vorurteil – erfüllen oder unterlaufen, sie werden immer zum aventuͤ r hauptman in Bezug gesetzt und daher in das poetologisch-reflexive Netz aus âventiure, tugent und Genealogie770 eingebunden. Der Vogelschrei leitet den Joraffin-Kampf ein, als dessen Resultat Ryal das Privileg erringt, sich aus den cleinoͤ den des Feuerbergs den mit Amor geschmückten Tugendhelm, einen Schild und eine Rüstung auszuwählen, die dem Tugendhaftesten zukommen (vgl. WvÖ 3899–4145). Außerdem erhält er ein Pferd. Die Feuerberg-âventiure bedient Motive einer Tugendprobe. Ryal gewinnt, weil er der Tugendhafteste ist, und der neue Helm bleibt solange unverändert schön und strahlend, wie seine Tugend intakt ist – er bleibt den gesamten Roman hindurch unverändert und selbst nach dem Mord an Wildomis kommt es zu keiner Beeinträchtigung des Glanzes. Die neue Helmzier und das Wappen mit der AmorDarstellung ersetzen Ryals bisherige heraldische Zeichen eines dürren Astes und einer trauernden Turteltaube (WvÖ 3086–3109). Das von seinem Widersacher Walwan erhaltene ursprüngliche Wappen illustrierte seine gesellschaftliche und familiäre Isolation an den Höfen Agrants und Walwans und spielte auf seine Herkunft aus dem buchstäblichen Nichts an – Wigrich fand ihn auf jenem Baum auf dem Rücken des Fisches Cetus im Meer sitzend. Über den neuen Helm wird
766 Sag, bist du mir wohlgesonnen? Betreibst du âventiure? Oder hast du keinen Verstand? Antworte mir, denn ich bin auf der Suche nach âventiure hierher geritten (Übers. CG). 767 S CHMID , Chimäre. S. 84. 768 S CHMID , Chimäre. S. 85. 769 S CHMID , Chimäre. S. 84. 770 Die Minne spielt auch hier jeweils nur eine untergeordnete Rolle.
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seine neu erworbene âventiure- und tugent-Genealogie nach außen projiziert.771 Ryal verlässt die allegorische Welt neu ausgerüstet auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen ist. Draußen setzt er seine Fahrt auf Fuͤ rsts Fährte in der Sphäre der âventiure fort. Es folgt die Handlung in Marroch. Hier tritt Ryal wieder in die höfisch-heidnische Welt ein, die neben Zyzya, Frigia und Marroch auch Belgalgan und Kandia umfasst.772 Am Ende dieses Abschnittes steht der Prozess gegen den Protagonisten. Nach seiner Verurteilung für den Mord an Wildomis wird er von Parklise, die einen Greifen (der auch einmal als trache[...] (WvÖ 11379) bezeichnet wird) reitet, mit einem gefälschten Brief von Mahmet gerettet und nach Belgalgan gebracht. Auf dem Weg dorthin unterrichtet sie ihn über die Situation ihrer Herrin Crispin, die in ihrem Reich Belgalgan von Merlin, dem Sohn des Teufels, gefangen gehalten wird. Parklise hat Wildhelm nur befreit, damit er Belgalgan von Merlin erlöst. Diese Begebenheit schließt direkt an den Binnenprolog an. Durch die fliegende Botin wird Wildhelm nicht nur in ein neues Reich, sondern auch in eine neue Geschichte und einen zweiten Handlungsdurchlauf eingeführt.773 Der Greif verweist mit Adlerkopf, Flügeln, Löwenkörper und vier Löwenfüßen774 sogar doppelt auf den aventuͤ r hauptman. An der Grenze zu Belgalgan wird Wildhelm von Parklise verlassen und wieder von Fuͤ rst geführt. Zunächst muss er eine monströse Wächterfigur, ein StierMensch-Monster, besiegen, bevor er ins Landesinnere vordringen kann, um dort gegen Merlin zu kämpfen. Die âventiure ist diesmal ungehuͤ r (WvÖ 11644), das Stier-Mensch-Monster ist sogar diu ungehiurst creatuͤ r (WvÖ 11713), von der der Erzähler jemals gehört hat. Vorne sieht er aus wie ein Stier, er hat aber zwölf Beine und speit rotes und schwarzes Feuer (vgl. WvÖ 11716–11729). Zusätzlich zu dem großen Stierkopf sitzt ihm ains menschen bilde (WvÖ 11722) auf dem Rücken
771 Zum Zusammenhang von Wappen und Genealogie vgl. B IEWER IE WE R , Ludwig, Wappen als Träger von Kommunikation im Mittelalter: Einige ausgewählte Beispiele, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 15), S. 139–154. 772 An diesem Übergang bietet sich eine weitere Gelegenheit zu einer Tugendprobe an. Allerdings nicht in Zusammenhang mit einem monströsen Wesen, sondern mit einem von Menschenhand geschaffenen wunder. Die ‚Überhöhung‘ in Vergils Tugendgestühl (vgl. WvÖ 4890–5214) ist nach dem Zusammentreffen mit dem aventuͤ r hauptman und dem Erringen des Helmes im Feuergebirge die dritte Auszeichnung, die Ryal für seine Tugendhaftigkeit erfährt. 773 C ORA D IETL illustriert die „strenge Symmetrie“ des Romanaufbaus anhand der „Spiegelachse“ des Binnenprologs – nicht zu verwechseln mit seiner Symbolstruktur – in einer tabellariIE TL L , Minnerede, S. 113–116. schen Gegenüberstellung der beiden großen Romanteile. Vgl. D IET 774 Vgl. dazu M C C ONNELL , W inder, Mythos Greif, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.), Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen 2), S. 267–286 und S. 267.
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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über dem Kuhschwanz. Der Kampf mit dem Stier-Mensch-Monster ist nur die Präambel für die Konfrontation mit Merlin. Er trägt Charakteristika eines Wächterkampfes, da die monströse Gestalt die einzige Straße durch das Gebirge nach Belgalgan besetzt. Hinzu kommt die asymmetrische Janusköpfigkeit der Figur. In Merlin ist die schon in seinem Wächter angelegte existentielle Bedrohung maximal zugespitzt. Merlin selbst wird auch mit dem Prädikat ungehuͤ rst bezeichnet, allerdings mit einem deutlichen Überbietungsgestus: den ungehuͤ rsten grozzen/ den man uf erden ie gesach (WvÖ 11922–11923). Der Sohn des Teufels ist eine nur schwierig zu kategorisierende Gestalt. Die Erinnerung an den aventuͤ r hauptman trägt er insofern in sich, als sein Verhältnis zu Wildhelm diametral zu dem der Personifikation des poetologischen Wesens zum Protagonisten konstruiert ist. Merlin und Wildhelm gleichen sich überhaupt nicht: zesamen si nu keren,/ die ungelichen baide (WvÖ 12006–12007). Merlin ist mit Charakteristiken und Attributen eines wilden Menschen ausgestattet. Er trägt eine selbstgefertigte Keule, er jault wie ein Hund, seine Gliedmaßen sind trotz seiner riesenhaften Gestalt kurz und gedrungen, und sein Gesicht ist nicht nur breiter denne ain wanne, sondern auch swertzer denne ain pfanne (vgl. WvÖ 11972–11980). Schwerlich mit dem Bild des wilden Menschen vereinbar ist, dass er die kunstvollen Automaten – von vier Windmühlen angetriebene Blasebälge, die ihrerseits zwei metallene feuerspeiende Drachen betreiben (vgl. WvÖ 11852–11877) –, die Wildhelm zunächst den Weg versperren, selbst bedachet (WvÖ 11872) hat. Seine Urheberschaft wird wiederum durch den Hinweis, sein Vater, der Teufel, schuͦ f geworht das werch (WvÖ 11878) zurückgenommen. Ohne Zweifel von Merlin geschaffen ist dagegen die schon erwähnte Keule, die wenig mit dem einfachen Holzknüppel zu tun hat, den der Waldmann im Iwein trägt. Die Keule ist aus einem Knochengerüst gefertigt, das mit der schuppigen Haut des wundersamen Meer-Tieres Cocantil bezogen und mit Steinen behangen ist (vgl. WvÖ 11930–11952). Aus der Haut eines zweiten Tiers, des hitzigen Fortaspinaht, hat Merlin sich eine Rüstung gefertigt, die unverwundbar macht (WvÖ 11953–11969). Sein Helm ist aus metalli (WvÖ 11987) gefertigt, einem durch Waffen nicht zerstörbaren Material, dessen Beschaffenheit äußerst kompliziert zu bestimmen ist.775 Wie der aventuͤ r hauptman verfügt auch Merlin über die einander entgegengesetzten Elemente Feuer und Wasser. Auch in seinem Fall wird angesichts dieser Widersprüchlichkeit ein Rekurs auf den gelehrten Diskurs notwendig. Die beiden Tiere werden von Verweisen auf S OKRATES und
775 Das natürliche Vorkommen dieses Materials ist auf die Insel Drivallis beschränkt, wo es als Pfahl im Wasser steht. Die im Grund des Gewässers verwurzelten Teile bestehen aus einem nicht näher spezifizierten maximal harten Material (härter als Diamanten), im Wasser ist es kristallin und oberhalb an der Luft aus Holz, vgl. WvÖ 11987–11999.
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A VICENNA begleitet, auch für metalli wird eine allerdings nicht näher spezifizierte schriftliche Quelle angeführt. Im Kampf mit Merlin wird Wildhelms Pferd getötet (durch den Rücken entzweigeschlagen) und Wildhelm gelingt es, Merlin durch das Auge tödlich zu verletzen. Bevor er stirbt, schleudert Merlin seinen ohnmächtigen Gegner noch in das Feuer, in dem er, durch seine Rüstung und seinen Schild geschützt, so lange überleben kann, bis Gaylet von Spangen ihn rettet. Vermittels der Figur des Gaylet wird eine weitere Facette von Wildhelms (und Aglys) Genealogie erschlossen: seine bzw. ihre Verwandtschaft mit dem Artusgeschlecht. Im weiteren Handlungsverlauf werden die zuvor vom Text gesetzten und mit monströsen Wesen markierten Grenzziehungen aufgelöst, wobei die Monster verschwinden. Am deutlichsten ist dies in Belgalgan zu beobachten. Nachdem das Land befreit ist, wird es in die höfisch-heidnische Sphäre integriert und Wildhelm kann sich, ohne auf weitere Monster zu treffen, zum Turnier in Kandia aufmachen. Nachdem Wildhelms Pferd, das Geschenk Joraffins, im Kampf mit Merlin umgekommen ist, erhält er von Crispin ein neues Reittier. Eigentlich ist es kein Pferd, sondern ein tier [nach] rosses art (WvÖ 13624) – ein riesengroßes „Zebra“776 mit Namen Zenefort. Es ist grau, mit schwarzen Streifen und zeichnet den Helden vor allen anderen aus (WvÖ 13641). Auch Wildhelms Rüstung wurde durch das Feuer Merlins in Mitleidenschaft gezogen. Er erhält als Ersatz von Crispin ein Gewand, das von dem indischen Tier Namens Altizar (daz man nach/ tuͤ tet tuͤ tsch besunder:/ wunder aller wunder WvÖ 12653–12655) gesponnen wurde. Das Tier lebt in Paradiesnähe und spinnt glasklare Steine, die auf einem Busch wachsen, zu einem Stoff, aus dem das Gewand gefertigt wurde. Aus seinen seidenfeinen, aber sehr harten Haaren wird für Wildhelm zusätzlich eine Rüstung hergestellt (WvÖ 12595–12660). Die zweite Investitur unterstreicht die Parallele zu der Feuerberg-Episode und der Tugendrüstung und betont den Zusammenhang zwischen dem Protagonisten und seiner tugent und den wundersamen oder monströsen Äußerlichkeiten. Fuͤ rst, der Wildhelm bisher von Monster zu Monster geführt hat, ist nach dem Kampf in Belgalgan funktionslos geworden. Er kann das Land wegen der feuerspeienden Drachen nicht betreten und vertreibt sich solange im Wald die Zeit, bis Wildhelm ihn holen lässt (WvÖ 12965ff). Danach verschwindet er aus der Handlung. Jetzt sind es Briefe, Absprachen und die mit Crispin ausgeheckte List, Agly scheinbar mit dem König aller Heiden zu verloben, welche die Handlung vorantreiben und dem Protagonisten den Weg weisen. Nach dem Turnier in Kandia
776 S CHULZ CHUL Z , Poetik, S. 127.
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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folgt die Hochzeit von Wildhelm und Agly und der sich aus dem Rachefeldzug König Agrants ergebende Kreuzzug der Christen gegen die Heiden, der mit der Niederlage und Massentaufe der Letztgenannten endet. Damit ist auch die Grenze zwischen christlichem Europa und heidnischem Orient hinfällig geworden. Wildhelm kann mit seinem Vater, der schon am Kampf gegen die Heiden teilgenommen hat, nach Österreich zurückkehren und sich nach der Geburt seines Sohnes wieder zu Agly nach Zyzya begeben. In der Kreuzzugsepisode führt der heidnische Fürst Itinorat monströse Völker gegen die Christen ins Feld. Er beherrscht wunder uͤ ber wunder[…]/ in manigem riche wilde (WvÖ 16318–15319). Bei diesen handelt es sich um schon in den antiken Enzyklopädien überlieferte Völker. Die Wahrheitsbeteuerung des Erzählers bezieht sich dementsprechend auch auf eine Mappa Mundi (vgl. WvÖ 16329). Itinorat befiehlt über Blemmiae (luͤ t ane haupt, WvÖ 16327), Zentauren (halp ros halp man, WvÖ 26330), Cynocephali (mit hundes haupten luͤ te groz, WvÖ 16331) und risen (WvÖ 16333). Keines dieser Völker ist der Sprache mächtig: so manigen wunderlichen man/ [...]/ der kainr zungen hat (WvÖ 16324–16326). Mit M ÜNKLER und R ÖCKE könnte man an dieser Stelle argumentieren, es handle sich um eine Strategie, den „fiktionale[n] Entwurf [des Romans] am Weltbild der szientifischen Weltbeschreibung“ teilhaben zu lassen und „den fiktiven Helden damit in einer realen Welt“ zu lokalisieren.777 Die Monster illustrierten in diesem Fall die Ausdehnung der heidnischen Macht bis an die Ränder der Welt und unterstreichen zugleich deren Abseitigkeit. Die Kreuzzugshandlung bedient andere narrative Muster und transportiert einen anderen Authentizitätsanspruch als die größere Teile des Romans ausmachende und stark fiktional gekennzeichnete âventiureFahrt des Protagonisten. Der solchermaßen ‚reale‘ historische Konflikt legt eine entsprechende geographische Verortung nahe. Allerdings wird auch diese ‚historische‘ Episode von der fiktionalen Genealogie des Textes durchdrungen. Kurz nach der Aufzählung von Itinorats Monstern werden die heidnischen Völker Afrikas genannt, angeführt von Aglys Vater, König Agrant, und seinen Brüdern. Einer der Brüder, Aglys Onkel Thytoryzon, ist der Vater des Gralskönigs Titurel (WvÖ 16399–16423). Die Monster werden nur sehr knapp beschrieben. Doch in ihrer Schilderung übersteigen sie die rein geographische Funktion, denn auch in ihr klingt der aventuͤ r hauptman an. Ebenso wie die allegorische Figur werden sie jeweils als wunder, wunderliche und seltsæne prädiziert. Der narrative Umgang mit ihnen ist der gleiche. In beiden Fällen wird ein Superlativ der wunderlichen Wahrnehmung
777 M ÜNKLER ÜNKLE R , R ÖCKE ÖC KE , ordo-Gedanke, S. 710.
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bemüht. Niemals wurde eine wunderlichere Gestalt als der aventuͤ r hauptman gesehen, und zu den monströsen Völkern heißt es: diu welt nie beluht 16337 so manigen wunderlichen man bi ain ander als dar kan. (WvÖ 16336–16338)778
In beiden Fällen werden die Akteure mit einer zu lesenden Quelle – der aventuͤ r hauptman mit einer schrift (WvÖ 3150), die monströsen Völker mit einer Mappa Mundi (WvÖ 16329) – in Verbindung gebracht. Neben das lesen tritt die visuelle Wahrnehmung. Auf der Karte sind die monströsen Völker bildlich dargestellt wie das imaginierte Gemälde des aventuͤ r hauptman. Wie bei allen anderen Monstern des Textes bleibt ihr Auftritt singulär. Eine handlungslogische Wirkung entwickeln sie nicht. Nur die Riesen greifen als letztes Aufgebot von Itinorat ins Kampfgeschehen ein, bleiben aber hinter den mit ihnen verknüpften Erwartungen zurück. Für die Christen stellen sie kaum einen ernstzunehmenden Widerstand dar (WvÖ 17825–17857). Ebenso wie die fiktive Genealogie die scheinbar historischen Aspekte der Geschichte durchzieht, erstreckt sich auch der Einfluss des aventuͤ r hauptman bis hinein in die Motive der von der Sphäre der âventiure differenten und mit der Historizitätsfiktion versehenen Tradition des Kreuzzugsberichts, dessen realgeographische Sphäre damit in die fiktive topographische Ordnung des Romans und in dessen Sinngebungsmuster hineingeholt wird.779 Am Ende der Geschichte steht ein letztes monströses Wesen, das Einhorn. Einer von Wildhelms Jägern hat in den Wäldern von Zyzya die Spur eines riesenhaften ainhuͦ rns gefunden und Wildhelm begibt sich gegen Aglys Willen auf die Jagd. Doch die Jagd bleibt erfolglos: Wildhelm erlegt das Wundertier nicht, ja er bekommt das Einhorn nicht einmal zu Gesicht. Bevor er es erjagen kann, wird Wildhelm aus einem Hinterhalt heraus getötet. So wird auch das letzte Verlassen einer Welt – der diesseitigen Welt – durch ein Monster markiert. Eine Verbindung zum aventuͤ r hauptman ergibt sich in diesem Fall über die materielle bzw. organische Parallele zwischen dessen elfenbeinernem Hals und dem Horn des wunder-
778 Die Welt hat nie so viele wundersame Menschen an einem Ort gesehen wie dort zusammenkamen (Übers. CG). 779 Die aus der Kreuzzugshandlung resultierende Bekehrung und Taufe König Agrants und der übrigen Heiden (vgl. WvÖ 18159–18232) schließt in ihrer narrativen Schilderung wiederum an die durch den aventuͤ r hauptman etablierten semantischen Systeme an, wenn auch mit einer verständlichen christlichen Färbung. Taufe und Bekehrung sind wunderlichiu mær (WvÖ 18159), das göttliche wunder der Bekehrung wird mit der von Fuͤ rst geprägten Metapher des Zunders in Verbindung gebracht, so dass schließlich Agrants sel und muͦ t von göttlicher Minne entzündet wird (vgl. WvÖ 8173–8178).
4.3 Text und perpetuierte Reflexion
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lichen Tieres.780 In der Jagd auf das Einhorn, daz mit hunden/ nieman kann gevellen (WvÖ 18848–18849) und das daher mit Hilfe einer reinen Jungfrau gefangen werden muss, der es sich in den tugenden schain (WvÖ 18852) in den Schoß legt, verbirgt sich eine weitere „Allegorie für das Streben des Menschen nach höchsten Werten“.781 Die letzte Episode kondensiert die zentralen Themen und Motive des Romans der tugent und der Jagd zu einem umfassenden Ganzen, das den Roman zu einem konsistenten Ende führt. Wildhelms/Ryals Leben – und damit der Roman – ist maßgeblich durch die topographischen Gegebenheiten der entworfenen Welt bestimmt. Die Reise ist eines der aus dem antiken Liebes- und Reiseroman übernommenen Motive des Minne- und Aventiureromans.782 In diesem Fall ist die Reise mit dem biographischen Muster der vollständigen Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod überblendet und um eine zeitliche Dimension ergänzt. In diesem Aufbau strukturieren die Monster den Erzählraum, indem sie jeweils die topographischen Grenzen markieren, aber die unterschiedlichen Räume auch zu einem Ganzen zusammenführen. Über den aventuͤ r hauptman erhalten auch die inhaltlich-strukturellen Konstanten der tugent und der Genealogie eine sämtliche topographische Bereiche durchziehende Manifestation. Die im Zusammenhang mit den Monstern auftretenden Bewährungsproben und âventiuren sind zum Teil als Tugendproben markiert. In der Zusammenschau ist der aventuͤ r hauptman von den übrigen Monstern durch seine Sprachfähigkeit und seine Selbstreflexivität hervorzuheben. Im Gegensatz zum eloquenten, lateinkundigen und naturkundlich bewanderten aventuͤ r hauptman werden die übrigen Monster des Textes durchweg unzweifelhaft tierisch dargestellt. Cetus’ einzige Motivation, nach Zyzya zu schwimmen, ist, dass er in der Aussicht auf Nahrungsmittel einem Schiff dorthin folgt. Der vierköpfige Vogel „benimmt sich [...] wie ein Vogel und sagt keinen Ton“783 und der junge Greif, auf dem Parklise reitet, gehorcht einzig seinem Instinkt, wenn er dem Teufel in Gestalt eines alten Greifen folgt, den Parklise mit Hilfe ihrer schwarzen Magie vorausfliegen lässt: er tet als noch manic vogel tuͦ t/ der sinem vater fliuget nach (WvÖ 10900–10901). Der Stier-Mensch an der Grenze zu Belgalgan ist zwar zunächst nicht klar einzuordnen (er [Wildhelm] kund auch nicht erkennen/ weder ez wær mensch oder tier (WvÖ 11716–11717), später allerdings
780 Vgl. H ÖRISCH ÖRISC H , Jochen, Der Wandel des Einhorns, in: Ulrich Müller, Werner Wunderlich (Hgg.): Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter Mythen 2) S. 205–228, hier S. 226. 781 V OLLMANN -P ROFE , Johann von Würzburg, S. 131. 782 R IDDER , Minne- und Aventiureroman, S. 4. 783 S CHMID , Chimäre, S. 84.
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wird er nur noch als stier (WvÖ 11734, 11812) bzw. tier (WvÖ 11779, 11786) bezeichnet. Er kämpft auch wie ein Tier durch Hörnerstöße und hält Wildhelm und sein Pferd mit seinem Maul fest (vgl. WvÖ 11744–11749). Das sich auf seinem Rücken über dem Kuhschwanz befindliche menschen bilde (WvÖ 11722) ist kein Indikator für einen möglichen anthropologischen Status. Es greift zwar in das Kampfgeschehen ein, indem es unter furchtbarem Geschrei mit dem Kuhschwanz Schläge gegen Wildhelm und sein Pferd führt, hat aber keinerlei Gewalt über das Monster. Wildhelm schlägt dem menschen bilde den Kopf ab, ohne dass dies den Stier signifikant beeinträchtigt (vgl. WvÖ 11778–11785). Schließlich tötet der Held den wurm (WvÖ 11725) wie eine Bestie, wobei er ihm sein Schwert in den Schlund stoßen und ihn zerhacken muss, um ihn unschädlich zu machen (vgl. WvÖ 11796–11807). Bei Merlin, dem Sohn des Teufels, ist die Lage etwas weniger eindeutig. Trotz seiner anthropomorphen Gestalt und seiner handwerklichen und technischen Fähigkeiten, beherrscht er keine verständliche Sprache (vgl. WvÖ 12152–12153) und wird regelmäßig als tiuvel, ein Mal auch als unmensch (WvÖ 12132) bezeichnet. Das Einhorn zuletzt bleibt ein Phantom. Allerdings wird es dadurch, dass es als Jagdbeute gesehen wird, ebenfalls deutlich als Tier gezeichnet. Alle Monster, außer der aventuͤ r hauptman, unterstreichen durch ihre Beziehung zu diesem monströs poetologischen Wesen ihr Deutungsdesiderat. Selbst geben sie keine Hinweise in diese Richtung. Wie die Deutung jeweils zu verlaufen hat, wird in allen Fällen vom aventuͤ r hauptman vorgegeben.
4.4 Die Medialität des selbstreflexiven Monsters Der aventuͤ r hauptman ist auf den ersten Blick weniger stark als Störung markiert als der Waldmann oder der Bote des Meerkönigs. Er stellt kein Hindernis dar und führt auch zu keiner Unterbrechung der Handlung. Im Gegensatz zum Waldmann ist die Lichtung des aventuͤ r hauptman keine Sackgasse und die sich um ihn gruppierenden Ereignisse sind auch nicht wie im Fall des Meerboten der Handlungskontinuität enthoben, sondern sind wesentliche Bestandteile ihrer Konstituierung. Seine Alleinstellung wird, wie oben beschrieben, durch die topographischen Gegebenheiten, den deskriptiven und den explikativ-reflexiven Modus, die A TH Akategoriellen Unsicherheiten und die Reaktion des Pferdes unterstrichen. K ATHARINA P HILIPOWSKI zieht eine Parallele der Szene zu einer Störung im medialen Sinn: Die aventiure kann nur dort stattfinden, wo sie selbst nicht gegenwärtig ist. Ihre unmittelbare (allegorische) Gegenwart macht die Fortsetzung der Handlung, den Bericht von den folgenden Taten Wilhelms unmöglich. Erst nachdem der ‚Metadiskurs‘ über das Erzählen
4.4 Die Medialität des selbstreflexiven Monsters
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beendet ist, kann die unterbrochene Erzählung auf der Ebene der histoire wieder fortgesetzt werden.784
Diese Lesart hätte zugegebenermaßen gerade im Rahmen der vorliegenden Arbeit ihren Reiz, doch kann sie der engen Verbindung von Reflexion und Handlung nicht ganz gerecht werden. Der Dialog zwischen Ryal und dem aventuͤ r hauptman ist zwar rein reflexiv, doch die Umstände – der Schwellenort, die Möglichkeit des Zweikampfes, der Bracke, und die genealogisch begründete Untrennbarkeit von Protagonist und âventiure – sorgen dafür, dass Reflexion niemals von der Handlung isoliert betrachtet werden kann. Sie ist Teil der Handlung, denn sie vollzieht sich im Dialog zweier intradiegetischer Figuren (die nur punktuell durch Reflexionen des Erzählers unterbrochen sind). Die Nachwirkung des aventuͤ r hauptman zieht sich dann auch, wie beschrieben, über den Protagonisten als der aventuͤ re fruht sowie den Hund und die häufigen Wiederaufnahmen seiner Gestalt durch den gesamten Text. Wollte man das Störungsnarrativ PILIPOWSKIS weiterführen, müsste man formulieren: Die Störung verstetigt sich und wird zum Regelfall. Entsprechend fügt sich, wie das Beispiel des vierköpfigen Vogels zeigt, dass der aventuͤ r hauptman eine eigene ‚Normalität‘ etabliert, eine auf monströse Gestalten gerichtete Erwartungshaltung, die mit ihnen explizite Reflexion assoziiert und von dem lediglich schreienden und sich aufplusternden Vogel enttäuscht wird. Das Störungspotenzial aller weiteren Monster des Textes ist durch eine Verweisungsfunktion überschrieben, die auf den aventuͤ r hauptman ausgerichtet ist. Sie sind nicht mehr Figuren der Unordnung, sondern der poetologischen Ordnung, die sich auf das poetologische ‚Urmonster‘ des Textes, den aventuͤ r hauptman, rückbeziehen. Die Szene um den aventuͤ r hauptman ausschließlich als Unterbrechung des Handlungsflusses zu sehen, würde auch ihre Binnenstruktur vernachlässigen. Denn auch und vor allem die Allegorese ist gestört. Sie resultiert nicht in einem konsistenten und stringenten betuͤ ten der monströsen Figur, sondern in undurchsichtigen und Ryals Fragen nicht beantwortenden Chiffrierungen – genauer gesagt: Metaphorisierungen – von Universalität. Trotz des eindeutigen Vorhabens wird der metaliterarische Diskurs nur angerissen, das anvisierte Vorhaben wird nicht erreicht. Der Text lässt die Selbstallegorese semiotisch scheitern. Aus der Opazität der Selbstauslegung ergibt sich eine Transkriptivität der Figur, die ihr selbstreflexives Potenzial in den Vordergrund rückt. In Kombination mit den dichten, über den gesamten Text verteilten Verweisen wird das Prozedurale dieser Vorgänge unterstrichen.
784 P HILIPOWSKI , Die Ordnungen des Erzählens, S. 206.
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4 J OHANNS OHA NNS VON W ÜRZBURG Wilhelm von Österreich
Das mediale Substrat, aus dessen Potenzialität sich die Narration speist ist, wie oben dargelegt, als die dem Roman zugrundeliegende implizite Poetik zu verstehen. Es enthält alle Möglichkeiten der Textgestaltung und lässt sich über den literaturtheoretischen Metadiskurs beschreiben. Im Roman zeigt es sich niemals vollständig, sondern es scheint lediglich vorübergehend in der Textgestalt auf. Der Text wiederum ist die Form, die im Prozess der Realisierung des Gestaltungsprinzips aus der Fülle der Möglichkeiten kombiniert und komponiert wird. Implizite Poetik als mediales Substrat und Text als Form bilden somit die durch die Differenz geschaffene Einheit des Mediums. Doch darf nicht übersehen werden, dass die Poetik sich – ebenfalls dem Verhältnis von Schöpfung und Schöpfer vergleichbar – im gesamten Roman prozessual verwirklicht. Somit kann theoretisch jede Textstelle Aufschluss über das Gestaltungsprinzip geben. Der aventuͤ r hauptman nimmt dennoch in diesem System eine zentrale Rolle ein. Als monströse Gestalt hat er auf den ersten Blick eine den Monstern in der Negativen Theologie vergleichbare Aufgabe. Sein Körper ist eine Chiffre für die Unfassbarkeit des ihm zugrundeliegenden Prinzips. Der gesamte Roman besteht in seiner medialen Struktur aus der Differenz des zugrundeliegenden poetologischen Prinzips und seiner je partiellen Ausformung in der Gestaltung. Dieser Prozess ist unterschwellig in der gegebenen Form der Erzählung immer vorhanden, wird aber bei einer ästhetischen Rezeption nicht primär als strukturgebend wahrgenommen. Die explizite Konzentration von poetologischer Reflexion in einer intradiegetischen Figur wie dem aventuͤ r hauptman führt dazu, dass die den Text konstituierende Beziehung zwischen medialem Substrat und Form nachvollzogen werden muss, damit die sonst zurückbleibende Leerstelle gefüllt werden kann. Die prozessuale Struktur des Mediums wie H EIDER und L UHMAN es beschreiben, wird offengelegt und das mediale Substrat gerät unter dem Vorzeichen, sich in der wunderlichen Gestalt nicht erschöpfend darstellen zu lassen, in den Blick. Es sprengt die Form des Monsters sowie des Textes und offenbart in dieser negativen Perspektive seine Potenzialität. Der aventuͤ r hauptman steht zwar in einer Schlüsselposition für das Verständnis des literarischen Universums, aber er kann das poetologische Substrat des Textes nicht erschließen. Er fungiert in erster Linie als Marker für die Möglichkeiten der Erzählung. Ihm obliegt die Evozierung medialer Reflexion. Er sorgt für eine diesbezüglich Sensibilität in der Rezeption, die es ermöglicht, auch in den weniger markanten Textpassagen das zugrunde liegende poetologische Prinzip nachzuvollziehen. In der Figur des aventuͤ r hauptman sind dabei die Prozesse konzentriert, die diese Art der Reflexion ausmachen. Seine motivisch und allegorisch vorgeprägte poetologische Disposition setzt deutliche Hinweise bezüglich der Deutungsrichtung. Die den monströsen Körper bestimmende Hybridität, die sich in ihm ver-
4.4 Die Medialität des selbstreflexiven Monsters
251
dichtenden Differenzen, werden durch die scheiternden Deutungsversuche in der hermeneutischen Annäherung an die Figur gespiegelt. Das Monster ist eine gänzlich schillernde Gestalt. Seine Nicht-Kategorisierbarkeit geht so weit, dass ihm niemals eine greifbare Bedeutung zugeordnet werden kann, sie bleibt in dynamischen Prozessen verstrickt, die sich nach dem Ende der Allegorese über die weiteren Monster und den Bracken Fuͤ rst durch das gesamte textuelle Universum ziehen. Es ergeben sich aus diesen Prozessen jeweils nur okkasionelle Manifestationen der substralen Ebene, während die Deutungsrichtung in jedem Moment markiert bleibt. Die monströse Figur reflektiert nicht nur den Text, sondern auch ihre eigene mediale Aufgabe.
Schluss Volkssprachlich-mittelalterliche Literaturreflexion ist Reflexion über Literatur, die sich mit literarischen Mitteln in der Literatur selbst vollzieht. Soll die Untersuchung dieser selbstreflexiven poetologischen Prozesse über eine deskriptive Bearbeitung von Einzelfällen hinausgehen, sieht sich die moderne Literaturwissenschaft vor die Aufgabe gestellt, eine Methode zu finden, die aktuellen terminologischen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und zugleich die mittelalterliche Textsituation zu ihrem Recht kommen lässt, sie also weder aus dem Blick verliert, noch auf ihre metaphorische Qualität reduziert, noch anachronistisch überstrapaziert. Ein zentraler Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Modus literarischer Selbstreflexion in Texten und der modernen literaturwissenschaftlichen Betrachtung liegt darin, dass für ersteren keine außerliterarische Manifestation eines entsprechenden reflexiven Diskurses überliefert ist.785 Die gängige Dualität von Textebene und reflexiver Metaebene fällt in diesem Fall also im literarischen Text zusammen und in der aktuellen Forschung mit poetologischen Reflexionen häufig assoziierte Vorstellungen eines Ebenenwechsels – beispielsweise durch Illusionsstörung,786 bei denen die Rezeption des fiktiv-literarischen Textes zugunsten der Reflexion unterbrochen wird – haben sich für den Umgang mit mittelalterlichen Texten als nur ungenügend differenziert erwiesen. Die vorliegende Arbeit hat unter diesen Prämissen das selbstreflexive Potenzial von Monstern in mittelhochdeutschen Texten untersucht. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass Monster sich durch ihre inhärente Reflexivität dazu anbieten, insbesondere solche reflexiven Prozesse nachzuvollziehen, die sich wie es in den untersuchten Texten der Fall ist, im zu reflektierenden Objekt selber oder ohne eine eigene Terminologie vollziehen. Denn im Hochmittelalter vereinigen sich in monströsen Figuren diverse Traditionslinien – antikphilosophisch, christlich-theologisch, mythische Volksüberlieferungen – welche Monster jeweils als Bedeutungsträger und somit reflexive Figuren ausweisen. Die monströsen Körper sind durch die ihnen eingeschriebenen Differenzen jeweils semantisch und semiotisch überdeterminiert. Sie sind über ihren Körper auf den unterschiedlichsten Ebenen mit den Objekten und Konzepten ihrer Umgebung vernetzt, so dass sich in monströsen Figuren das selbstreflexive Potenzial mittelalterlicher Texte gleichermaßen verdichtet. Dergestalt produzieren Monster mehr-
785 Darin unterscheidet sich der mittelalterliche Fall auch von modernen Beispielen poetologischer Selbstreflexion. 786 Z. B. W OLF , Ästhetische Illusion, passim.
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Schluss
dimensionale Bezüge, die sich gut eignen, um den problematischen Konzepten mittelalterlicher Selbstreflexion Gestalt zu geben. Eine Grundannahme der Arbeit war, dass in mittelalterlichen Texten auch in selbstreflexiv markierten Passagen der literarische Modus der Textebene nicht verlassen wird. Mittelalterliche Selbstreflexion geht nie in einer Metaebene auf, sondern vollzieht sich in und mit der literarischen Narration. Diesbezüglich wurden in den drei Texten Schlüsselszenen mit Monstern analysiert: die Waldmann-Episode im Iwein (Iw. 396–603), die BecherprobenEpisode in der Crône (Cr. 893–3207) und die Szene um den hauptman aventuͤ r im Wilhelm von Österreich (WvÖ 3113–3436). Diese Stellen operieren, so wurde argumentiert, als Scharnier zwischen der literarisch-narrativen und der reflexiven Funktion, indem sie beide Modi in sich vereinen. In diesen Szenen vollziehen sich zum einen handlungslogisch relevante Aktionen, es werden Weichen für den weiteren Textverlauf gestellt, zum anderen vollzieht sich in ihnen auf dichte und komplexe Weise literarische Selbstreflexion. Um die dynamisch-simultane Funktionsweise von literarischer Selbstreflexion, wie sie sich anhand von Monstern zeigt, auch theoretisch fundiert abzubilden, wurde auf medienwissenschaftliche Beschreibungsweisen zurückgegriffen. Moderne Medienkonzepte zeichnen sich durch die Annahme aus, dass Medien – im Gegensatz zu Zeichen – durch eine Logik des ‚sowohl-als auch‘ gekennzeichnet sind, welche eine Differenzierung z. B. von Inhalt und Form, Gegenstand und Vermittelndem usw. unterläuft. Insbesondere wurde auf zwei Medienkonzepte zurückgegriffen: die MediumForm-Dynamik nach H EIDER und L UHMANN sowie das eng damit verbundene Konzept der Störungt nach J ÄGER . Die historische Angemessenheit dieser Lektüren wurde durch ihre Parallelisierung mit zeitgenössischen mittelalterlichen Ansätzen abgesichert. Es wurde gezeigt, dass die Denkfiguren der modernen Theorien sich – sogar jeweils auf die Diskursivierung von Monstrosität bezogen – in philosophisch-theologischen Gedankengebäuden der Zeit wiederfinden, nämlich in der Negativen Theologie nach P SEUDO -D IONYSIUS A REOPAGITA und J OHANNES S COTUS E RIUGENA sowie in der apologetische Argumentation zur Schöpfung in A UGUSTINUS ’ Gottesstaat. Für die hier untersuchten mittelhochdeutschen Texte weiterhin relevant war der Begriff der âventiure. Zum einen kookkurriert er signifikant mit dem Monstrositäts-Lemma ungehiure, zum anderen spiegelt sich auch in seinen beiden Grundbedeutungen (‚Geschehen‘ und ‚Bericht von einem Geschehen‘) die Gleichzeitigkeit eines literarischen und literaturreflexiven Konzepts. Der historisch erste der drei untersuchten Romane, H ARTMANNS Iwein, setzt dann auch mit dem Begriff der âventiure an. Anhand der Frage des Waldmanns wird die Problematik des die Narration bestimmenden Prinzips allererst sichtbar.
Schluss
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In der medientheoretischen Terminologie kann der Waldmann als mit einer transkriptiven Störung im Sinne J ÄGERS assoziiert, wenn auch nicht mit ihr identisch bezeichnet werden, wodurch er zum Katalysator für Reflexion wird. Ausgehend von der Frage des Waldmanns wurde der Roman neu gelesen, es wurden insbesondere diejenigen Bedeutungsstränge verfolgt, die mit dem Waldmann und der âventiure in engem Zusammenhang stehen. Es konnte gezeigt werden, dass der âventiure-Begriff für den Roman jenseits der Auseinandersetzung mit der chrétienschen Quelle und der Artus-Ideologie und -Gattung eine größere Relevanz hat, als bisher allgemein angenommen wird. In den beiden späteren Texten spielt – wie literarhistorisch anzunehmen war – die Intertextualität eine größere Rolle als bei H ARTMANN . Anhand H EINRICHS Crône wurde dargelegt, wie der Bote des Meerkönigs die schon vorhandene Störung des âventiure-Mangels beim Weihnachtsfest aufnimmt, ausweitet und reflexiv füllt, indem diverse volkssprachliche Texte hinzugezogen und in ihrer Adaptation und Integration in den Text zum Mittel der Reflexion werden. Die punktuelle Lektüre von Parallelstellen zur Becherprobe konnte zeigen, wie auch über die Textgrenze der Crône hinaus ein reflexives System etabliert wird, in welches ein breites Spektrum an deutschen und französischen Texten integriert wird. Im Wilhelm von Österreich von J OHANN VON W ÜRZBURG schließlich entfaltet sich anhand der Figur des aventuͤ r hauptman das im Vergleich zu den beiden anderen Texten dichteste und komplexeste reflexive System. Im Rückgriff unter anderem auf die Ars poetica des H ORAZ werden die zahlreichen monströsen Figuren des Textes zu einem reflexiven Netz verknüpft, das über die Störung hinaus als die mediale Figur der substralen Realisierung einer Form, wie H EIDER und L UHMANN sie entwerfen, beschrieben werden kann. In allen drei Fällen zeigt sich, auch wenn die Umsetzung jeweils unterschiedlich ist, wie mittelalterliche literarische Texte sich selbst reflektieren: in dichten, komplexen und spannungsreichen Konstruktionen, deren Umfang hier nicht erschöpfend ausgelotet werden konnte und die darum Anlass geben zu weiteren Überlegungen.
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Autoren- und Werkregister Accessus de Arte Poetica 69 Albrecht von Scharfenberg – Der Jüngere Titurel 103, 225, 234 Alcuin 69 Ambraser Mantel-Fragment 103, 164–165, 173, 195 Augustinus 39, 51–52, 62, 64–65, 94, 254 – De civitate Dei/Vom Gottesstaat 43, 51–52, 94, 254 Berengars von Poitiers 73 Bernhard von Clairvaux 61, 73 Bibel – 1. Mose/Genesis 53–54, 237 – 4. Mose/Numeri 237 – Apostelgeschichte 56 – Die Offenbarung des Johannes 55 Boethius 179 – Consolatio Philosophiae 179 Catull 179 Chrétien de Troyes 98, 100–101, 104, 116, 164, 173, 186, 188, 191–193, 202, 255 – Conte du Graal 191 – Erec et Enide 104, 186, 188 – Perceval ou le Conte du Graal 164 – Yvain 116 Cicero 70, 179 – De inventione 70 – Somnium Scipionis 179 Conrad von Hirsau 68–69, 72 – Dialogus super Auctores 68–69, 72 Diderot, Denis 79 – Enzyklopädie 79 Dietmar von Aist 186
– Documentum de modo et arte dictandi et versificandi 71 – Poetria Nova 16, 70–72 Geoffrey of Vinsauf s. Galfried von Vinsauf Gottfried von Straßburg 16, 98, 101, 178–180, 224 – Tristan 16, 21, 41, 98, 101, 106, 178–180, 207, 224, 233 Graf Rudolf-Fragment 97 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 77 – Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch 77 Hartmann von Aue 2, 100, 105, 184, 186–187, 254–255 – Erec 42, 100, 103, 106, 109, 120, 131, 186 – Gregorius 125 – Iwein 2, 40–42, 95, 103–106, 108, 113–114, 116, 121, 131–133, 136, 139, 141, 143, 147, 149, 184–185, 187, 199–200, 203, 206– 207, 209, 214–216, 221–222, 240, 243, 254 Heinrich von dem Türlin 2, 95, 103, 255 – Crône 2, 41–42, 95, 103, 105–107, 131, 155–157, 171, 191, 195–196, 203, 206, 216, 221–222, 254–255 Heinrich von Veldeke 178 Herzog Ernst B 41, 107–108 Hildegard von Bingen 76 Horaz 68–71, 73, 76–78, 162, 209–210, 255 – Ars poetica/Epistola ad Pisones 68–73, 76–77, 162, 209, 218–219, 255 Hugo von St. Victor 73, 76
Ebstorfer Weltkarte 45
Isidor von Sevilla 37–39, 45, 48, 52–53, 55, 64, 66, 109, 151, 153, 163 – De origine/Etymologie 37–38, 43, 45–48, 51–53, 55, 64, 109, 151
Galfried von Vinsauf 16, 70–73 – Documentum de Arte dictandi et versificandi 71, 73
Johann von Würzburg 2, 78, 255 – Willhelm von Österreich 2, 40–43, 77– 78, 95, 105–108, 180, 203–206, 222,
https://doi.org/10.1515/9783110345353-009
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Autoren- und Werkregister
224–225, 231–232, 236, 247, 254– 255 Johannes Scotus Eriugena 56–60, 74–76, 254 – Expositiones in ierarchiam coelestem 56, 58–60, 74–76 Ktesias von Knidos 39, 64 – Indika 39, 64
Quintilian 68, 70 – De institutione Oratoria 70 Reinmar von Zweter 186–187, 218–219 – Strophe 99–100 219 Rhetorica ad Herrenium 70 Rudolf von Ems 95 – Alexander 95
Macrobius 179 Mantel Mautaillé 155, 173, 195 Matthäus von Vendôme 70, 72 – Ars Versificatoria 70 Megasthenes 39
Sankt Galler Kommentar zur Ars Poetica 69 Solinus 38–39, 45 – Collectanea rerum mirabilium 38–39, 43, 45 Der Stricker 103, 107, 165 – Daniel von dem blühenden Tal 40–41, 103, 106–107, 165 Suger von St. Denis 61
Nikolaus von Kues 76
Thomas von Aquin 62, 76
Physiologus 39, 45, 51, 65–66, 237 Pictor in Carmine 60–61 Der Pleier 103 – Garel von dem blühenden Tal 40–41 – Meleranz 103 – Tandareis und Flordibel 103 Plinius d.Ä. 38–39, 46, 64–65, 125 – Naturalis Historia 38–39, 50–51 Prosalancelot 103 Pseudo-Dionysius Areopagita 56, 58–59, 76, 254 – Corpus Dionysiacum 56 – Über die himmlische Hierarchie 56, 74–76
Ulrich von Zatzikhoven 103, 195 – Lanzelet 41, 103, 165, 173, 195
Lai du Cor 155, 173
Vergil 75, 242 Wiener Genesis 53 Wirnt von Grafenberg 103 – Wigalois 40–41, 103, 106–108, 164–165, 173, 187 Wolfram von Eschenbach 98, 103, 164, 171, 190–193, 196–197 – Parzival 41, 49, 53, 63, 97–98, 103, 107, 116, 164, 171–173, 190–192, 196, 221
Sachverzeichnis âventiure 3, 27, 95–109, 111–112, 114–125, 128–136, 140, 146, 148, 150, 152–154, 157, 159–161, 163–167, 174, 176, 181– 183, 187–190, 193, 198–200, 202, 204, 207–208, 210–212, 213–217, 220–227, 229–242, 245–249, 254–255 Alterität 44, 48, 89–91, 106, 119 Anderwelt 42, 67, 87, 106–107, 124, 166, 173–176, 181, 183, 197 Artusroman 3, 67, 95, 97–98, 102, 128, 139, 155, 158, 161, 164–166, 168, 181–182, 190, 200–201, 206, 235 auctoritas 56, 65, 115–116 Bestiarien 39, 45, 51, 65–66
209, 212, 214–215, 219–221, 236–237, 240–241, 250 Illusionsstörung 14, 24, 35, 152, 253 implizite Poetik 17–18, 20, 33, 92, 250 Integumentum 100, 140 Intention 8–12, 28, 32–34 Intertextualität 2, 16, 21, 46, 106, 108, 131, 155–156, 158, 162, 178, 185, 192–193, 199–204, 206, 232, 234, 236, 240, 255 Kalokagathie 63, 208 das Karnevaleske 88 Kontingenz 33, 52, 94, 97, 103–104, 108– 109, 120, 127–128, 131, 134, 216
Close Reading 1, 12, 25, 163 descriptio 21, 42, 50, 108, 168, 170–172, 193, 209, 212, 218 Epilog 2, 16, 19, 24, 141, 203, 224–225, 229– 231 Exkurs 16, 19, 24, 92, 101, 118, 155, 178, 230, 233 das Fantastische 65, 85–90 Fiktionalität 6, 18, 22–24, 35, 40, 44, 64, 74, 140–141, 156–158, 168, 183, 190, 203, 205, 225, 245 das Fremde/Fremdheit 54, 65, 85, 87, 89–90, 106–107, 109, 124, 176 Grenze 47, 55, 57, 67, 83, 90, 106–107, 111, 123–124, 236, 242, 244–245, 247 Grenzüberschreitung 67, 106, 217, 237 das Groteske/grotesk 37, 85, 88, 90 Handlungsebene 92–93, 152, 240 hermeneutische Prozesse 19, 35–36, 81, 100, 146, 221, 251 Hybridität 24, 46–51, 60–63, 67, 90, 93, 106, 108, 127, 177–178, 180, 196, 204, 206,
https://doi.org/10.1515/9783110345353-010
Leerstelle 11, 36, 112, 116–118, 152–153, 169, 193, 250 literarisches Feld 17–18, 20–21, 220, 232, 240 Literaturtheorie 15 Literaturtheorie, mittelalterliche 19–20 locus amoenus 67, 106, 145–146, 207, 237 locus terribilis 145, 207 Mappa Mundi 67, 245–246 Medialität 26–37, 151–152, 200–202, 248, 250–251 Medienapriori 29, 91 Metaebene 9, 11–14, 19, 26–28, 33, 35–36, 92, 133, 239, 253–254 Metaisierung 8–14, 19 Minne- und Âventiureroman 3, 204, 247 mirabilium 39 miraculum 39 Monstrosität 27, 37–39, 40–49, 50–56, 58– 59, 60–68, 72–85, 87, 89–95, 104–109, 120, 123–126, 129–130, 132, 134, 150– 152, 155, 157, 162, 168, 170–171, 180, 188, 193, 197, 199–202, 206–214, 216, 219–222, 234–236, 240–251, 253–255 Musen 179–180
286
Sachverzeichnis
Negative Theologie 56, 58–60, 73, 75–76, 93–94, 250, 254
Rhetorik 71, 76, 201 Rhetorik, klassische 16, 19, 75
ordo 44–45, 51, 62, 95
Selbstreferenz 7–9, 11–12, 14–15, 18, 22, 27– 28 Selbstreflexion 5–16, 18–20, 22–28, 33, 35–37, 68–69, 90–95, 109, 134, 145, 152, 182, 195, 201, 220–222, 225, 233, 247– 251, 253–255 Semiose 8, 11, 26, 59–60, 80, 90–92, 94, 102, 104, 145, 151, 221, 249, 253 Semiotik 10, 13–14, 26–28, 32, 38, 91–92, 102, 104, 145, 151, 221, 249, 253 Sirenen 179–180 Spur 32–33, 93, 202 Störung 21, 30, 34–36, 58, 92–95, 103, 132, 152, 165, 199–201, 248–249, 254–255
Pegasus 178–180 Personifikation 97, 113, 115, 181–182, 220, 227, 233–235, 238, 243 Poetik 16–19, 33, 35–36, 68–71, 74–76, 250 Poetologie/poetologisch 1, 3, 16–21, 27, 33, 35–37, 65, 69, 74, 76–77, 93, 95, 98, 100–101, 105, 108–110, 123, 130, 134, 138, 141, 144–145, 147, 149, 151–153, 156–157, 162–163, 166, 168–169, 178, 187–188, 192, 199, 201, 205, 211–212, 214–215, 219–223, 225, 229–231, 233, 235–236, 241, 243, 248–250, 253 Potenzial, selbstreflexives 6, 12, 15, 25, 30, 36, 65–67, 74–76, 80, 91–95, 99–100, 109, 126, 128, 130, 139, 144–145, 149, 154, 158, 168, 185, 205, 212, 218–222, 233, 249, 253 Potenzialität des Medialen 31, 33, 36, 92, 94, 250 Präsenz 50, 102–104, 107, 109, 150, 152–153, 215 Produktionsästhetik 17, 33, 169, 230 Prolog 16, 19, 24, 100, 139–140, 142, 157, 159, 162, 170, 184, 196, 220, 225–229, 231, 233, 242 – prologus ante rem 226–227, 233 – prologus praeter rem 24, 226 Prozesshaftigkeit des Medialen 28–36, 91–95, 151–153, 250–251 Quelle 97–98, 112, 114–118, 122, 133, 155, 167–169, 173, 182–183, 203, 210, 229, 234–235, 239–240, 244, 246, 255 Rash-boon-Motiv 128–130, 136–138, 148, 158–159, 175, 181, 196–197, 216 Rezeptionsästhetik 1, 11–12, 15, 28, 88, 241
Topographie 46, 60, 62, 67, 83, 87, 92, 105, 109, 124, 129, 132, 146, 205, 220, 236, 240, 246–248 Transkriptivität 34–36, 94, 133, 153, 200–201, 249, 255 Typologie 60 Vermittlung 6–7, 9, 28–35, 50, 58–60, 90–95, 98–101, 103–104, 113, 115, 129, 140, 151–152, 162, 167–169, 202, 226– 227, 229–231, 239–240, 244, 254 Vorzeichen 55, 65, 90, 147 das Wilde/Wildheit 41, 46, 53, 55, 67, 105– 106, 108, 119–121, 124–127, 130, 134, 146, 207, 213, 216, 220, 225, 229, 236– 237, 240, 245 Wunder 38–42, 45, 52, 55, 61–62, 64, 76, 78, 85–90, 97, 104, 106, 108, 114, 116, 238– 239, 242, 244–247, 250 das Wunderbare 24, 40, 85–88, 90, 97, 145 Zeichen 32, 34, 38–40, 42, 55, 57, 59–61, 84, 102, 104, 120, 122, 126, 139, 174, 189, 212, 241, 254