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German Pages [108] Year 2019
Dorothea Zimmermann / Silke Birgitta Gahleitner / Marilena de Andrade / Conny Bredereck / Adrian Golatka / Mohammed Jouni
Minderjährige Geflüchtete in der Jugendhilfe
Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann
Dorothea Zimmermann/Silke Birgitta Gahleitner/ Marilena de Andrade/Conny Bredereck/ Adrian Golatka/Mohammed Jouni
Minderjährige Geflüchtete in der Jugendhilfe Mit einer Abbildung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Nadine Scherer Wissenschaftliches Lektorat: Ilona Oestreich Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6436 ISBN 978-3-666-40679-9
Inhalt
Geleitwort der Autoren und Autorinnen sowie der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Minderjährige Geflüchtete in Deutschland: Mythen, Daten und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Gesellschaftlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Daten und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.3 Unbegleitete minderjährige Geflüchtete . . . 15 1.4 Begleitete minderjährige Geflüchtete . . . . . 16 1.5 Ressourcen – häufig vergessen, missachtet oder funktionalisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2 Minderjährige Geflüchtete in der Kinder- und Jugendhilfe: Aufmerksamkeitslinien . . . . . . . . . 22 2.1 »Dass man sich respektiert, dass man sich zuhört und dass man sich auch auf Augenhöhe begegnet«: Im Kontrast zur »viktimisierenden Kultur« eine vertrauenswürdige Haltung ausstrahlen und leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2 »Und das kann […], gerade zu Beginn, die Ent stehung einer vertrauensvollen Beratungsbezie hung ganz schnell zerstören«: Die Herausforderung, Vertrauen zu schaffen . . . . . . . . . . . . . . 26 2.3 »Ich höre ihnen genau zu. Ich höre ihre Bedürf nisse und versuche, ihnen Orientierung zu geben«: Eine bindungskompetente professionelle Beziehung anbieten . . . . . . . . . . . . . . . . 28
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Inhalt
2.4 »Wieso macht Deutschland das? Das kann ich nicht verstehen. […] Hilf mir. Mach doch was«: Traumapädagogische Alltagsunterstützung und -begleitung bieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.5 »Man hat da ja auch […] Stereotype im Kopf«: Transkulturelle Kompetenz als respektvoller, neugieriger Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.6 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3 Alles anders, alles gleich: Familienarbeit mit Geflüchteten im Jugendhilfesystem . . . . . . . 38 3.1 Fallvignette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.2 Ins Gespräch kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3 Familienzusammenführung . . . . . . . . . . . . . 55 4 Minderjährige Geflüchtete in der Schule . . . . . . 66 4.1 Herausforderungen für die Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2 Rolle der Schule und Lehrkräfte . . . . . . . . . . 73 4.3 Was noch zu sagen bleibt . . . . . . . . . . . . . . . 80 5 Empowerment, Partizipation und Selbst organisation in der Kinder- und Jugendhilfe . . 83 5.1 Empowerment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5.2 Was passiert in Empowermenträumen? . . . 86 5.3 Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5.4 Selbstorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Geleitwort der Autoren und Autorinnen sowie der Reihenherausgeberinnen
Dieses Buch ist der Versuch einer Antwort auf das Buch »Zwischen Barrieren, Träumen und Selbstorganisation – Erfahrungen junger Geflüchteter« (Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018) aus derselben Buchreihe »Fluchtaspekte«. Dort kommen Jugendliche selbst zu Wort. Jugendliche, die geflüchtet sind – begleitet oder unbegleitet. Aber nicht das ist es, was sie hauptsächlich oder allein verbindet. Vor allem sind es Jugendliche – mit ganz verschiedenen Bedürfnissen, Belastungen, auch traumatischen Erfahrungen, aber insbesondere Jugendliche mit Hoffnungen und Wünschen. Manchmal wird man von den Texten hineinkatapultiert in ihre Welt, kann verstehen, kann Gefühle nachempfinden, manchmal aber gelingt dies auch nicht, weil eben auch nicht alles nachvollziehbar ist, was Menschen in bewegten Lebensabschnitten erleben. Ein Blick in die zugehörige Fachliteratur zeigt: In den letzten Jahren haben viele Jugendliche aus konflikthaften Regionen Zuflucht in Deutschland gesucht. Nicht selten haben sie kritische Lebensereignisse erlebt, die ein Verlassen des Ursprungslandes notwendig machten (UNHCR u. UNICEF, 2014/2016). Viele berichten von traumatisierenden Ereignissen auf der Flucht (u. a. Kleefeld u. Meyeringh, 2017). Nach der EU-Aufnahmerichtlinie müssen alle Aufnahmeländer die spezielle Situation schutzbedürftiger Personen berücksichtigen (vgl. EU 2013/33/EU, 2013, Art. 22). Neben der aufenthaltsrechtlichen Situation ist zu prüfen, ob Ansprüche auf besondere Unterstützung bestehen. Zuständig dafür ist in Deutschland die Kinderund Jugendhilfe.
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Betrachtet man die ersten Erfahrungen und Ergebnisse aus Studien in diesem Bereich, so wird deutlich, was uns auch die Jugendlichen aus dem oben genannten Buch unserer Reihe nahebringen: Belastungen sind allgegenwärtig, aber bei genauerem Hinschauen vermittelt sich ebenso deutlich: Bei angemessener Unterstützung zeigt sich ein großes Ausmaß an Ressourcen und äußerst gelungenen Adoleszenz- bzw. Integrationsprozessen (Fegert, 2015; Herrmann, Macsenaere u. Wennmann, 2018; Walg, Fink, Großmeier, Temprano u. Hapfelmeier, 2016). Das wirft die Frage nach dem Inhalt »angemessener« Unterstützung auf. Das Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« hat dazu eine Reihe von Aussagen gemacht. In diesem Buch haben wir versucht, dieser zentralen Frage aus weiteren Perspektiven nachzugehen. Nach einem Überblick über bisherige Ergebnisse aus Forschung und Praxis zu Kinder- und Jugendhilfeangeboten für geflüchtete Jugendliche kommen diesmal die Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule und aus Vormundschaftsprozessen zu Wort. Die Interviewaussagen vermitteln anschaulich, welche Chancen und Fallstricke es mit sich bringt, wenn Unterstützung für geflüchtete Jugendliche und Adoleszente angeboten wird und gelingen soll. Im Vergleich mit anderen Jugendhilfeprozessen gibt es eine Reihe interessanter Parallelen und Unterschiede zu entdecken. Hier, so denken wir, liegen noch viele ungenutzte Chancen, zu denen wir als Autoren und Autorinnen wie als Herausgeberinnen mit diesem Band der Reihe einen kleinen Beitrag leisten wollen. Dorothea Zimmermann | Silke Birgitta Gahleitner | Marilena de Andrade | Conny Bredereck | Adrian Golatka | Mohammed Jouni | Barbara Bräutigam | Maximiliane Brandmaier
1 Minderjährige Geflüchtete in Deutschland: Mythen, Daten und Fakten
1.1 Gesellschaftlicher Kontext In einem aufschlussreichen Artikel der »Zeit« mit dem Titel »Die Welt in fünfzig Jahren« (Brost u. Stuff, 2018), für den bekannte Politikerinnen und Politiker darum gebeten wurden, ihre positiven wie negativen Zukunfts szenarien zu schildern, findet sich folgendes Szenario einer AfD-Politikerin: »Es hat eine unkontrollierte Massen einwanderung stattgefunden, und der Islam hat sich in ganz Europa massiv ausgebreitet. Überall gibt es Scharia- Gerichte. […] Kopftücher und Burkas sind im öffentlichen Raum normal, in manchen Gegenden verschleiern sich Frauen, die eigentlich christlichen Glaubens sind, weil sie sonst auf der Straße bepöbelt und angegriffen würden […]. Angst ist das vorherrschende Gefühl auf den Straßen. Kriminalität und mafiöse Strukturen haben massiv zugenommen. […] An den Schulen wird kein echtes Wissen mehr vermittelt, sondern irgendwelche diffusen sozialen Kompetenzen, staatliche Indoktrination und Gender-Ideologie« (S. 16). So irritierend dies auch anmutet: Diese und ähn liche Szenarien sind ein – gewichtiger – Teil des Alltags der Medienberichterstattung und der öffentlichen Meinung. Geflüchtete erscheinen dort an vielen Stellen als gesichtslose – möglicherweise IS-terroristisch geprägte – überwältigende Masse, die möglichst schnell wieder aus Deutschland ausgewiesen werden sollten, um ihr bedrohliches Potenzial nicht zu entfalten. Interessanterweise belegen Daten und Fakten zum Thema vor allem einen Anstieg von Gewalttaten gegenüber Geflüchteten statt von Geflüch-
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teten ausgehend. Im Jahr 2016 wurden 3.768 Vorfälle verzeichnet, dies entspricht etwa 10,3 Taten pro Tag (Pro Asyl, 2017). Tatsächlich beschreiben vereinzelte Studien eine Zunahme von Gewaltkriminalität durch Geflüchtete (Pfeiffer, Baier u. Kliem, 2018). Allerdings weist die umfassende Untersuchung von Herrmann, Macsenaere und Wennmann (2018) mehrheitlich eher auf gegenteilige Prozesse hin: 86,6 % der minderjährigen Geflüchteten haben demnach keine Straffälligkeiten begangen, bei den restlichen 13,4 % handelt es sich um kleinere Delikte wie das Vergehen gegen das Aufenthaltsrecht (7,1 %), Diebstahl (2,7 %) Körperverletzung (2,0 %), Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz und Beleidigung (jeweils 0,6 %). In den Medien wird dies jedoch selten ausgewogen wiedergegeben. Umgekehrt hat jedoch die Tatsache, immer wieder als Gefahr für die deutsche Bevölkerung dargestellt zu werden und mit alltäglichem und strukturellem Rassismus konfrontiert zu sein, Auswirkungen auf das Wohlbefinden geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Zu dieser Thematik führten Lechner und Huber (2017) 104 Interviews durch. Nonverbale Signale des Nicht-willkommen-Seins führen ebenso wie das verbale Ausdrücken von Missfallen oder gar körperliche Gewalttaten bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu Ängsten, sozialem Rückzug und der Verleugnung ihrer Fluchtgeschichte und Herkunft. Ein Jugendlicher beschreibt: »Sie sagen nichts, aber sie gucken nur so böse. […] Und naja manchmal denke ich: ›Bin ich ein Affe?‹ Warum gucken mich alle so böse an? Ich bin auch wie ihr ein Mensch […]. Warum gucken alle so böse?« (S. 102). Aber auch die in den Medien ständig wiederholte Generalisierung von »den Wirtschaftsflüchtlingen« prägt den Alltag geflüchteter Kinder und Jugendlicher: »Viele Leute denken, dass […] die hier hinkommen, wirtschaftliche Geflüchtete sind […], um Sozialhilfe oder Unterstützung zu bekommen. […] Ich bin nicht so was
Daten und Fakten13
[…], ich bin nicht dafür hier, um so was zu bekommen, ich bin hier, um mich zu entwickeln, will ich einfach mich jeden Tag verbessern, die Situation zu benützen, um meine Ziele zu erreichen, damit später die Leute gut über mich sprechen« (S. 103), berichtet eine Jugendliche.
1.2 Daten und Fakten Seit 2015 sind über 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland geflohen. Die meisten Geflüchteten kommen aus den Ländern Syrien, Irak, Nigeria und Afghanistan (Bundeszentrale für politische Bildung [bpb], 2018). Unter ihnen sind viele Jugendliche und Kinder (Maywald, 2018), die Mehrheit der Asylantragstellenden in Deutschland war 2017 jünger als dreißig Jahre. Mit 37 % bilden Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren die größte Gruppe, gefolgt von 19 % im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (bpb, 2018). Manche kommen allein oder mit Gleichaltrigen, andere in Begleitung ihrer Familie. Der Anteil unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter befand sich bis 2013 noch auf einem eher geringen Niveau, 2014 erfolgte eine Zunahme auf fast das Doppelte, 2015 stiegen die Zahlen mit rund 42.000 Inobhutnahmen sogar auf etwa das Vierfache an (Fendrich, Pothmann u. Tabel, 2016). Aufgrund der restriktiven Flüchtlingspolitik gehen die Zahlen seit 2017 insgesamt zurück (2017 gab es 198.317 Asylanträge von Erwachsenen und 9.084 Anträge von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], 2018). Die Gefahren auf der Flucht sind vielfältig. Laut United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) sind 2018 über 2.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken (UNO-Flüchtlingshilfe, 2018). Zudem sind Menschen, die den Fluchtweg hinter sich gebracht haben, stärker gefährdet als andere, psychische Problematiken zu entwi-
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ckeln. Für Kinder und Jugendliche, die allein gereist sind, gilt dies im besonderen Maß (Sukale et al., 2017). Risiken wie z. B. Menschenhandel (Küppers u. Ruhemann, 2016) lauern überall. Nicht alle Geflüchteten haben selbst traumatische Erfahrungen gemacht (Witt, Rassenhofer, Fegert u. Plener, 2015), aber alle sind auf irgendeine Weise mit schwierigen Lebensereignissen oder Traumata in Berührung gekommen (Baer u. Frick-Baer, 2016; Imm-Bazlen u. Schmieg, 2017). Bei bis zu 97 % der minderjährigen Geflüchteten ist davon auszugehen, dass sie potenziell traumatische Erfahrungen gemacht haben (Witt et al., 2015). Je weiter die Belastung steigt und je weniger Unterstützung verfügbar ist, desto weniger Integrationsleistung ist möglich (Sukale et al., 2017). Dies kann in der Folge auch – allerdings nicht zwingend – eine Ursache für externalisierendes Verhalten sein. Häufiger sind nach Möhrle, Dölitzsch, Fegert und Keller (2016) jedoch vor allem internalisierende Verhaltensauffälligkeiten bei belasteten Kindern und Jugendlichen nach Fluchterfahrungen. »Mit den eigenen Nöten und Bedürfnissen nicht aufzufallen und möglichst unsichtbar durch ein nicht einschätzbares Prozedere zu gelangen, haben die jungen Geflüchteten […] häufig bereits in der Vergangenheit als wichtigen und wirksamen Schutzmechanismus kennengelernt« (Quindeau u. Rauhwald, 2017, S. 15). Möhrle und Kollegen (2016) definieren einen Problemgrenzwert, der bei 30,5 % der unbegleiteten Jugendlichen überschritten wurde. Auch Herrmann et al. (2018) halten fest: »So leiden 34,4 % der jugendlichen Flüchtlinge unter Schlafproblemen, bei 16,7 % wird soziale Unsicherheit angegeben, 15,3 % leiden unter depressiven Verstimmungen, bei 10,7 % kommt es zu einem sozialen Rückzug und 10,3 % leiden unter körperlichen Begleitsymptomen bzw. psychosomatischen Symptomen« (S. 41; vgl. auch Witt et al., 2015). Die psychosoziale Situation und die kultu-
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rell-soziale Isolation können generell als sehr problematisch angesehen werden, fassen Sukale und Mitarbeitende (2017) zusammen.
1.3 Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Da sie über einen langen Zeitraum ohne jeglichen Schutz von außen Ohnmachtserfahrungen unterschiedlichster Art ausgesetzt waren, sind unbegleitete minderjährige Geflüchtete noch häufiger von traumatischen Erfahrungen betroffen als begleitete (Witt et al., 2015). Der Anspruch auf Hilfe resultiert jedoch aus dem SGB VIII – als Anspruch auf eine Hilfe zur Erziehung. Die Fluchtsituation ist also dem Kindeswohl untergeordnet (Berthold, 2014, 2015). Nach § 42 SGB VIII werden unbegleitete minderjährige Geflüchtete vom Jugendamt in Obhut genommen und – entsprechend dem Minderjährigenschutz aus internationalen Rechtsnormen (Berthold, 2015) – in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht (Möhrle et al., 2016). Da eine Erziehung, die dem Wohl der Kinder oder Jugendlichen dient, bei der Ankunft nicht gewährleistet werden kann, wird die Hilfe für die Entwicklung als notwendig erachtet (Macsenaere, Köck u. Hiller, 2018, S. 12). Zwischen der Inobhutnahme und dem Übergang in die Einrichtung wird ein Clearing-Verfahren genutzt, um für die jungen Menschen eine möglichst passende und sichere Umgebung zu finden. Der Auftrag einer umfassenden Anamnese in diesem Verfahren wird jedoch selten erfüllt (Herrmann et al., 2018), häufig werden die meisten unbegleiteten Minderjährigen nur notversorgt (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], 2016). Girke (2017) konstatiert, dass das Clearing inzwischen nur noch der Abklärung dient, ob (1) eine Kindeswohlgefährdung durch die Umverteilung vorliegt, (2) sich Verwandtschaft im Ausland befindet,
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zu der Betroffene abgeschoben werden könnten, (3) die Unterbringung zwangsläufig mit Geschwistern oder anderen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erfolgen muss, (4) gesundheitliche Risiken die Umverteilung verhindern und (5) die Altersfeststellung erfolgt ist und es sich nicht um über 18-Jährige handelt. Ein individueller Blick auf persönliche, biografische und lebensweltliche Belange (Gahleitner, Zimmermann u. Zito, 2017) und umfassender Schutz kann in der Regel nicht gewährleistet werden. Anschließend erfolgt seit Oktober 2015 eine bundesweite Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel, die das Kindeswohl jedoch nicht gefährden sollte (Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz [BAJ], 2016). Inzwischen gibt es bei einer falschen Entscheidung die Möglichkeit, eine nachträgliche Abänderung der Zuweisungsentscheidung aus Kindeswohlgesichtspunkten zu beantragen (§ 42 Abs. 4 SGB VIII-E). Unbegleiteten Minderjährigen steht außerdem eine persönliche Vormundschaft als rechtliche Vertretung zu, wobei jedoch viele von monatelangen Wartezeiten bis zur ersten Kontaktaufnahme berichten. Auch enden zahlreiche der Vormundschaftsverhältnisse in einem »Papierverhältnis« mit eher sporadischen Kontakten und minimaler Unterstützung (Lechner, Huber u. Holthusen, 2016).
1.4 Begleitete minderjährige Geflüchtete Unter begleiteten minderjährigen Geflüchteten werden Kinder und Jugendliche verstanden, die entweder in Begleitung von mindestens einem Elternteil oder einem volljährigen Bruder bzw. einer Schwester ankommen, von dem jeweils die amtliche Vormundschaft übernommen werden kann. Auch Kinder und Jugendliche, die während eines laufenden Asylverfahrens in Deutschland geboren
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werden, ordnet man begleiteten minderjährigen Geflüchteten zu (Johansson, 2014). Kommen Kinder mit ihrer Familie nach Deutschland, werden sie zunächst in Not- oder Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und anschließend nach dem Königsteiner Schlüssel in Gemeinschaftsunterkünfte verteilt. Hier müssen sie so lange bleiben, bis das Asylverfahren mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgeschlossen ist und eine eindeutige Antwort bezüglich ihres Aufenthaltes erteilt wurde (Lechner u. Huber, 2017). Da sie (in der Regel) in das reguläre Asylprozedere ihrer Eltern integriert sind, bleiben sie jedoch häufig »mit ihren eigenen Bedürfnissen und ihrer speziellen Situation […] ›unsichtbar‹« (Gerarts, Andresen, Ravens-Sieberer u. Klasen, 2016, S. 744). Dennoch fallen auch begleitete jugendliche Geflüchtete unter § 1 SGB VIII, der ihnen das »Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« zuspricht. Die Entwicklung und Erziehung wird aufgrund der vielfältigen Stressoren während des Asylprozesses auch tatsächlich häufig eingeschränkt. Trotzdem gelangen nur wenige begleitete jugendliche Geflüchtete in die Kinder- und Jugendhilfe. Thiele (2018) sieht Gründe für die Nichtgewährung der Hilfen im finanziellen Druck sowie in Wissensdefiziten bei den Verantwortlichen. Peucker (2018) erwähnt außerdem Barrieren für Geflüchtete wie z. B. die Angst der Eltern vor dem Jugendamt und die Unsicherheit, ob die Inanspruchnahme negativen Einfluss auf die Aufenthaltsfrage hat. Im Vergleich zu den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sind begleitete zudem in den großen Unterkünften1 mit Problemen bezüg1 Vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften mussten und müssen häufig mehrere Hundert, teilweise mehrere Tausend Menschen gemeinsam unterkommen (Rabe, 2018).
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lich Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten, räumlicher Enge und dem Aufbau eines stabilen Alltages konfrontiert (González Méndez de Vigo, 2018) – und dies in der hochsensiblen Phase der Adoleszenz und Ablösung. Obgleich die Familie für die meisten begleiteten Jugendlichen eine wichtige Orientierung bedeutet, wird in der Untersuchung von Lechner und Huber (2017) eine Reihe von Problemen sichtbar. So beschreibt eine Jugendliche: »Ich find’ das ein bisschen schwer […]. Ich bin fast 18 und mit Mama und Papa und Oma und Bruder, alle zusammen in einem Zimmer, also […], es gibt Schwierigkeiten in dieser Situation« (S. 68). Auch der Gestaltungsrahmen außerhalb der privaten Zimmer ist häufig mit Belastungen verbunden. Fehlende oder unpassende Freizeitgestaltungsmöglichkeiten und das Arrangement um die von vielen Familien gemeinsam genutzten Küchen, Essräume und vor allem die Sanitäranlagen tragen regelmäßig zu Auseinandersetzungen und zu Angst vor körperlicher sowie sexualisierter Gewalt bei. Zudem gibt es regelmäßig schwere Konflikte mit SecuritySeit August 2018 sind in Bayern zudem die ersten sogenannten »AnkER-Zentren« in Betrieb genommen worden: »AnkER« steht für Ankunft, kommunale Verteilung, Entscheidung und Rückführung (Hayali, 2018). AnkER-Zentren sind große Einrichtungen (bis zu 1.500 Menschen), in denen alle für die Anträge nötigen Behörden direkt vor Ort vertreten sein sollen und dadurch Ankunft, Entscheidung sowie Rückführung an einem Ort gebündelt sind (Glas, Henzler, Köpf u. Rost, 2018). Die Expertise von Hess, Pott, Schammann, Scherr und Schiffauer (2018), die mögliche Vor- und Nachteile gegeneinander abwiegt, macht deutlich, dass die Zentren mit hoher Wahrscheinlichkeit zur weitgehenden Isolation und zu hohen Belastungen von Geflüchteten führen (werden): »Die bisherige Planung der Anker-Zentren trifft keine Maßnahmen gegen die Gewaltoffenheit: Insbesondere ihre Größe und die Verweildauer wird den Anforderungen der EU-Aufnahmerichtlinie und internationalen Abkommen zum Schutz vulnerabler Gruppen nicht gerecht« (S. 6).
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und anderem Personal, teilweise mit körperlicher Gewaltausübung (Lechner u. Huber, 2017). Außerdem führen gute Deutschkenntnisse der Kinder und Jugendlichen oftmals zu einer Rollenumkehr: Die Verantwortlichkeiten bei Behördengängen oder Arztbesuchen liegen dann primär bei den jungen Menschen (Lechner u. Huber, 2017; vgl. auch Gerarts et al., 2016). Ein zentraler Punkt betrifft § 25a AufenthG: Weisen Jugendliche eine gute Integration in die deutsche Gesellschaft nach, kann eine Aufenthaltsgestattung für die gesamte Familie erfolgen. Ähnlich wie bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten liegt daher unangemessen viel Verantwortung auf den Schultern der Heranwachsenden.
1.5 Ressourcen – häufig vergessen, missachtet oder funktionalisiert Auch Solidarität für Menschen auf der Flucht kann zu Missverständnissen führen. Daraus resultiert beispielsweise der Mythos, dass es sich bei minderjährigen Geflüchteten wie bei Geflüchteten insgesamt um eine homogene, hochgradig traumatisierte Gruppe handelt. Nur selten wird berücksichtigt, dass geflüchtete Menschen eine sehr große Heterogenität aufweisen (Witt et al., 2015) und bezüglich Alter, Herkunft, Biografie, Geschlecht, Nationalität, Bildungsstand und religiöser Zugehörigkeit ein breites Spektrum abbilden. Natürlich befinden sich unbegleitete sowie begleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche in prekären Situationen und benötigen Schutz und Begleitung, gleichzeitig sollte aber nie vergessen werden, dass dies »aktive, kompetent handelnde Menschen [sind], die sich schon in ihrer Vergangenheit durch die Fluchterfahrung an sehr schwierige Situationen angepasst […] und die potenziell traumatisierende Erlebnisse überlebt […] haben« (Sukale et al., 2017, S. 7). Es ist also unangebracht,
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den Begriff des Traumas und der Traumatisierung für defizitäre Zuschreibungen zu verwenden (Zito u. Martin, 2016). Unter den begleiteten geflüchteten Minderjährigen konnte in einigen Untersuchungen z. B. beeindruckend große Resilienz verzeichnet werden (American Psychological Association [APA], 2010; vgl. auch Kindler, 2014). Diese Untersuchungen bescheinigen auch, dass sie »unter den richtigen Bedingungen zu einem wichtigen Potenzial für unsere Gesellschaft oder die Gesellschaft ihres Heimatlandes werden« (Kindler, 2014, S. 11; vgl. auch Herrmann et al., 2018). Auch in breiteren Untersuchungen zur Lebensqualität zeigen sich bei einem substanziellen Teil der jungen Menschen eine positive Anpassung und eine hohe Lebenszufriedenheit trotz widriger Umstände (Möhrle et al., 2016). Resilienz (vgl. auch Kleefeldt, 2018) scheint hier also insgesamt ein zentraler Faktor zu sein. Dieser Faktor soll jedoch keinesfalls der »beunruhigenden Tendenz« (Mlodoch, 2017, S. 51) einer Verschiebung des Blickes auf Krieg und Katastrophen Raum geben, die die Verantwortung für politisches Scheitern in die Hände der Betroffenen zurückspielt und davon ausgeht, dass, wer immer stabil ist, auch solche Belastungen ohne weitere Konsequenzen zu verkraften habe. Es gilt vielmehr, resiliente Aspekte zu unterstützen. Eine weitere Ressource kann bei jüngeren Geflüchteten z. B. der Kindergarten oder die Schule sein. In einer qualitativen Untersuchung mit Kindern zwischen zehn und 13 Jahren (Gerarts et al., 2016) wird ersichtlich, wie zentral die Schule als ein »wichtiger Ort des Ankommens« (S. 747) von den Geflüchteten gewertet wird. Besonders bei begleiteten Geflüchteten kann sich hier neben der Familie als wichtigster Bezugspunkt mit dem Alltag in der Schule und den damit verbundenen Freundschaften weitere Sicherheit aufbauen. Vor allem, wenn Lehrende traumapädagogisches sowie Bindungs- und Beziehungswissen besitzen und somit
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Schutz und Stabilisierung gewährleisten können (Zimmermann, 2012), erkennen viele Kinder »in einzelnen Lehrkräften […] ihre Ressourcen für Wohlbefinden und für ein Vertrautwerden mit Deutschland« (S. 755). Dies hat auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten der (Sprach-)Inte gration: Vom weitaus größten Teil der (vor allem unbegleiteten) minderjährigen Geflüchteten existieren tragfähige Daten über ihre ausgesprochen hohe Zielmotivation, z. B. bezüglich des Berufswunschs (Gravelmann, 2017). Grundvoraussetzung dafür ist das Erlernen der deutschen Sprache (Girke, 2017). Herrmann et al. (2018) konnten bei mehr als der Hälfte (54,8 %) der Jugendlichen gute bis sehr gute Sprachkenntnisse feststellen. Dennoch sollten zu Beginn des Hilfezeitraumes Dolmetschende und Sprachmittelnde zur Verfügung zu stehen, damit die anfänglichen Barrieren möglichst gut überbrückt werden können (Brinks u. Dittmann, 2018).
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Fest steht: Angemessene Hilfen unterstützen einen erfolgreichen Integrations- und Entwicklungsprozess der minderjährigen Geflüchteten. Wie also die Herausforderung meistern? Viele der Standards, die bisher in der Arbeit mit Jugendlichen gegriffen haben, müssen überarbeitet werden. Aufenthaltsrechtliche wie auch fluchtspezifische Belastungen stellen einen deutlichen Unterschied zur Arbeit mit nicht geflüchteten Jugendlichen dar (Fegert et al., 2017). Obgleich die Anzahl von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht die der Erwachsenen übersteigt (Schmitt, 2016), besteht nach wie vor ein eklatanter Mangel an verlässlichen Zahlen und Untersuchungen über diese Gruppe (Pothmann u. Kopp, 2016). Forschung stand in den letzten Jahren oft vor dem Dilemma, dass Ergebnisse durch die stets rasant ansteigenden Zahlen schnell nicht mehr aussagekräftig waren (Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], 2017). Erst seit etwa 2016 wurden Studien – insbesondere im psychologisch-psychiatrischen Kontext – zu den Belastungen von minderjährigen Geflüchteten und zur Wirksamkeit von Unterstützungsprozessen veröffentlicht (s. Übersicht bei Macsenaere et al., 2018; Thomas, Sauer u. Zalewski, 2018). Immer wieder wird gefordert, die Ansprüche für minderjährige Geflüchtete aus dem Geltungsbereich des SGB VIII auszusondern, den damit verbundenen Schutzanspruch zu entfernen und »damit ein ›Zwei-Klassen-Recht‹ für Jugendliche zu etablieren« (Walhorn, 2017, S. 40) – Vorschläge, die sich in den Worten von Struck (2017)
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»weit über den Rand des Grundgesetzes und internationaler Rechtsnormen« hinauslehnen (S. 43). Eine Umsetzung dieser und ähnlicher Forderungen konnte bislang verhindert werden, insbesondere dank des Engagements des Bundesjugendkuratoriums (BJK, 2016) mit der deutlichen Kritik, die Absenkung von Jugendhilfestandards für Geflüchtete widerspräche der UN-Kinderrechtskonvention, dem Genfer Flüchtlingsabkommen und den geltenden Regelungen des Kinder- und Jugendhilferechts (vgl. zur aktuellen Nichteinlösung der UN-Kinderrechtskonvention Prasad, 2018). Fest steht inzwischen, dass im Fokus der Entwicklung neuer Konzepte bedarfsorientierte Veränderungen in der Betreuungsarbeit stehen sollen: »Das pädagogische Aktionsfeld von Klient, Helfer und Setting entwickelt hier eine ganz eigene Dynamik, benötigt besondere Fachkenntnisse, braucht andere, multikulturelle Übersetzungsfähigkeiten, aber auch andere, teilweise sehr spezialisierte, Zusatzangebote. Viele Träger hatten wenig bis keine Vorerfahrungen auf dem Gebiet der Betreuung von Flüchtlingen« (Willmann u. Schwarze, 2017, S. 52). Wie also ist es möglich, eine angemessene und adoleszenzfördernde Entwicklung zu unterstützen und ein sinnvolles Kinderund Jugendhilfeangebot zu unterbreiten? Dazu haben wir Fachkräfte befragt. Ihren Aussagen zufolge lassen sich – korrespondierend zu den Aussagen der Jugendlichen im eingangs beschriebenen Buch vom Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« (2018) – fünf zentrale Vorgehensweisen ableiten, die im Folgenden praxisnah ausgeführt werden sollen.
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2.1 » Dass man sich respektiert, dass man sich zuhört und dass man sich auch auf Augenhöhe begegnet«: Im Kontrast zur »viktimisierenden Kultur«2 eine vertrauenswürdige Haltung ausstrahlen und leben
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»Ich bin […] der festen Überzeugung, dass […] das die Formel ist, dass man authentisch ist«3, formuliert eine der Fachkräfte als zentrale Aussage ihres Interviews. »Und dass man sich respektiert, dass man sich zuhört und dass man sich auch auf Augenhöhe begegnet. Ich glaube, das sind so die Basics.« Alle befragten Fachkräfte – dies gilt auch für Studien zur Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen (vgl. u. a. Wesenberg et al., 2019) – betonen als Basis für ihre Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen eine respektvolle, authentische, verbindliche und vertrauenswürdige Grundhaltung. Mit Bezug auf Kapitel 1.1 zum gesellschaftlichen Kontext von Flucht und Vertreibung wird die Bedeutung dieser Grundprämisse einsichtig: »Ich bin auch wie ihr ein Mensch […]. Warum gucken alle so böse?« (Lechner u. Huber, 2017, S. 102), erzählt ein Jugendlicher von seinen alltäglichen Erfahrungen. Kinder und Jugendliche mit Fluchtbiografien zu unterstützen, erfordert daher von allen im Prozess der Begleitung involvierten Profes2 Traumatisierte sind, wie in Kaptel 1.1 gezeigt, von der Gesellschaft »disconnected« und »disempowered« (Herman, 1992, S. 51 ff.). Briere (1996) bezeichnet die in Kapitel 1.1 geschilderten Verhältnisse als »viktimisierende Kultur« (S. 84). Als Gegengewicht sind daher Engagement und Empowerment gefragt. 3 Alle Zitate und Aussagen in diesem und den folgenden Kapiteln sind ehemaligen Jugendhilfe-Untersuchungen der Autorinnen und Autoren entnommen (vgl. insbesondere Golatka, 2018; Wesenberg, Frank, de Andrade, Weber u. Gahleitner, 2019; Arbeitskreis Therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin [AK TWG], 2009).
Im Kontrast zur »viktimisierenden Kultur« 25
sionellen die Bereitstellung einer sicheren und solida rischen Umgebung als Alternativerfahrung zum diskriminierenden und stigmatisierenden Umfeld (Reddemann, Joksimovic, Kaster u. Gerlach, 2019). Bei den Jugendlichen muss das Gefühl entstehen: »Ich kann ihr alles erzählen, was mich belastet. Sie verstehen mich, sie beurteilen mich nicht«, betont eine Fachkraft. Die Fachkräfte heben in den Interviews die Bedeutsamkeit hervor, transparent und partizipativ zu arbeiten: »Ich arbeite gerne und viel und eigentlich ausschließlich trans parent und sag’ den Jugendlichen auch […], warum ich was mache und wie ich es mache«. Hier lässt sich das humanistische Beziehungsprinzip der Wertschätzung nach Rogers (1957) wiederfinden. Die Jugendlichen werden – unabhängig von ihren Verhaltensweisen – als Person angenommen: »Dass sie sich dann durch mich angenommen füh len«, formuliert eine Fachkraft wortwörtlich als Ziel ihrer Arbeit. Rogers (1959/1987) geht es darum, »eine Person zu schätzen, ungeachtet der verschiedenen Bewertungen, die man selbst ihren verschiedenen Verhaltensweisen gegenüber hat« (S. 35). Auch dies bestätigt die Fachkraft nahezu identisch: »Sie hört zu, und ich fühle mich dann angenom men«, müssten die Jugendlichen sagen können. Oelschlägel (2005) fordert demgemäß eine »reflektierte Parteilichkeit« (S. 275 f.) für die Betroffenen. Die Expertinnen und Experten beschreiben jedoch auch Bedingungen, die empathisches Einfühlen schwierig machen. So sei aufseiten der Jugendlichen zunächst eine basale Sprachkompetenz nötig, um auch implizite und nuancierte Gesprächs- und Erlebnisinhalte zu erfassen. Dies kann – gerade zu Beginn – Betreuung und Beziehungsanbahnung erschweren. Entsprechend plädiert eine Mitarbeiterin: »Ich würde definitiv raten, zuerst mit Dolmet schern zu arbeiten, sodass eine gemeinsame Basis geschaffen werden kann«. In der Triade kann sich – wenn an einem
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Strang gezogen wird – das Vertrauensverhältnis weitervermitteln. Darüber hinaus gibt es jedoch fluchtspezifisch belastende Erlebnisinhalte, die nur schwer empathisch zu durchdringen seien, so eine Betreuerin: »Auch Situationen, die man gar nicht so richtig nachfühlen kann. Also, was weiß ich über eine Fluchterfahrung?« Hier sei es wichtig, authentisch die eigenen Empathiegrenzen zu vermitteln: »Und wichtig ist auch, […] seine Sorgen und Grenzen da ir gendwie zu äußern« – und sich stetig in Fort- und Weiter bildungen Trauma- und Bindungswissen anzueignen. 2
2.2 » Und das kann […], gerade zu Beginn, die Entstehung einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung ganz schnell zerstören«: Die Herausforderung, Vertrauen zu schaffen Zu Beginn der Hilfegestaltung ist die Kluft zwischen den Jugendlichen und den Fachkräften häufig unüberwindlich, da natürlicherweise Misstrauen bei den jungen Menschen vorherrscht. Es muss also zunächst wieder Vertrauen geschaffen werden. Vertrauen als ein »Charakteristikum menschlichen Lebens« (Schweer u. Thies, 2008, S. 136) »reduziert die Vielzahl potenziell denkbarer Handlungsausgänge bzw. -alternativen auf einige wenige; dadurch wird das Individuum […] überhaupt erst handlungsfähig« (Schweer u. Thies, 2008, S. 136; unter Bezug auf Luhmann 1968/1989). Vertrauen beruht auf den gesamten vorherigen gemachten Erfahrungen. Auf der Flucht und in den anschließenden Wochen und Monaten ist oftmals über die Köpfe der Jugendlichen hinweg gehandelt worden. »Vor allem junge Menschen müssen Vertrauen daher wohl bedacht dosieren und verlernen, zu vertrauen, da das eigene Lebensprojekt stets durch andere (den Staat, den Geheimdienst und die Polizei, Schlepper und Kriminelle, durch NGOs oder andere Flüchtlinge) gefährdet scheint« (Roth-
Die Herausforderung, Vertrauen zu schaffen27
baller, 2017, S. 74). Durch den Vertrauensverlust in sich selbst (persönliches Vertrauen), in das Gegenüber (spezifisches Vertrauen) und in die Gesellschaft (Systemvertrauen) wird Bindung mit der Grundvoraussetzung von Vertrauen zu einem kostbaren Gut (Rothballer, 2017). Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen daher vor dem Problem, zunächst – berechtigtes – Misstrauen abbauen zu müssen (Flick, 1989), das heißt, sie müssen in »Vorleistung« gehen und vorab »Vertrauen schenken« (Luhmann, 1973, S. 45 f.). Entsprechend müssen die Jugendlichen, wenn sie in Deutschland eintreffen, zunächst »immer einen Vertrauensvorschuss« erhalten, um wieder neu Vertrauen entwickeln zu können, so eine Interviewte. »Und diese intensive Begleitung, dass wir sie jede Woche zweimal sehen, dass wir gemeinsam kochen oder essen gehen oder einkaufen. Also das gibt den Jugendlichen auch Vertrauen«, erzählt eine weitere Fachkraft und betont dabei erneut die Bedeutung des respektvollen Umgangs und der authentischen Offenheit. Diese Form der Vertrauensvorleistung hat entscheidende Bedeutung bei der Vertrauensentwicklung in asymmetrischen Beziehungen, wie sie die Jugendhilfebeziehung ja immer darstellt. Das bedeutet: Nach den vielen gesammelten Enttäuschungen bedarf es neu geschöpften Vertrauens, Halt und Orientierung, um schließlich gemeinsam nach Lösungen suchen zu können. Ist durch die respektvolle und vertrauenssensible Haltung eine Beziehung gewachsen, können persönlichere Themen besprochen werden. »Ich sehe das auch so ein bisschen als Vertrauensbeweis, wenn jemand zu mir kommt und vielleicht Bedürfnisse äußert, die irgendwie emotionaler Natur sind«, erzählt eine Jugendhilfemitarbeiterin. »Und dann«, berichtet eine andere Mitarbeiterin, »suchen wir gemeinsam nach Lösungen. […]. Wie schaffe ich mein Leben verantwortlich? Also Schule, Wohnungs suche, Praktikumssuche, trotzdem irgendwie noch Jugend
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licher oder junger Erwachsener sein zu dürfen. Genau das besprechen wir ganz viel«. Wenn die gemeinsame Basis gewachsen ist, kommen die Jugendlichen mit ihren Themen, so die Fachkräfte, auch von selbst.
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2.3 » Ich höre ihnen genau zu. Ich höre ihre Bedürfnisse und versuche, ihnen Orientierung zu geben«: Eine bindungskompetente professionelle Beziehung anbieten Alle befragten Fachkräfte sprechen einhellig von Beziehungsphänomenen, aber es scheint gar nicht so leicht, diese konkret zu beschreiben: »Ich gestalte die Beziehung zu meinem Jugendlichen, indem ich schaue, was der braucht. Also, na ja, das ist ja so ein Miteinander«, erläutert eine Fachkraft. Als Grundprinzip der Beziehungsgestaltung wird z. B. auf die korrekte Bedürfniswahrnehmung (vgl. Ainsworth, Bell u. Stayton, 1971/2003) Bezug genommen: »Einfach nur zuhören und versuchen, sie zu verstehen.« Hier finden sich, wie von Imm-Bazlen und Schmieg (2017) für die Arbeit mit minderjährigen Geflüchteten vorgeschlagen, bindungssensible Handlungskonzepte wieder, z. B. das Konzept der Feinfühligkeit nach Ainsworth (1974/1977): Bedürfnisse wahrnehmen, richtig interpretieren sowie zeitnah und angemessen reagieren. Gelungene Beziehungssituationen werden auf diese Weise – ähnlich wie in der Kindheitsentwicklung – Stück für Stück zu einem grundlegenden Prinzip der weiteren Entwicklung (Gahleitner, 2017a, 2017b). Auf dieser Basis kann es auch möglich werden, negative Lebensereignisse über Unterstützungs- und Mentalisierungsprozesse in Resilienz zu transformieren (Fröhlich-Gildhoff u. Rönnau-Böse, 2018). Eine lange vermisste positive Bindungserfahrung, eine »schützende Inselerfahrung« (Gahleitner, 2005, S. 63), also
Eine bindungskompetente professionelle Beziehung anbieten 29
Räume des Verstehens und immer wieder neu Anknüpfens an eine konstruktive Veränderungsmöglichkeit können viel bewirken. Zunächst zeigt sich dies nach Ansicht der Fachkräfte darin, dass man die Themen der Jugendlichen ernst nimmt: »Ich versuche, das ernst zu nehmen, was sie mir dann erzählen«, berichtet eine Fachkraft. Friele (2017) konstatiert: »Junge Geflüchtete brauchen eine bedingungslose Solidarität. Wenn die Betroffenen spüren, dass andere an ihre Zukunft […] glauben und sich für diese engagieren, schöpfen sie daraus Mut, sich strapaziösen Entwicklungs- und Bildungsaufgaben zu stellen« (S. 41). »Man geht in einen Dialog, in eine Kommunikation, in ein Miteinander«, beschreibt es eine befragte Fachkraft. Manchmal kann es aber auch sinnvoll sein, »gemeinsam zu schweigen«. Aus bindungstheoretischer Sicht konstatieren Grossmann und Grossmann (2004): »Besonders in schwierigen Lebensumständen müssen sprachliche Repräsentationen vom Denken, Fühlen und Handeln […] durch offene Kommunikation mit vertrauten Personen ›ko-konstruiert‹ werden« (S. 427). In der Bindungs- und Milieutheorie spricht man von »emotional korrigierenden Erfahrungen« (Brisch, 1999, S. 94) oder »emotional-orientierten Dialogen« (Kühn, 2009, S. 31). Aus dem Alltagszusammenhang heraus können so auf der Basis guter bindungsdiagnostischer Kompetenzen Chancen eröffnet werden. Auf diese Weise wird es möglich, innerhalb der Gemeinschaft biografische Verletzungen aktualisiert und schonend – im Rahmen eines geschützten, aber realen Alltags –, neue, alternative Erfahrungen an diese Stelle zu setzen (Böhnisch, 2004/2008). Zu diesem Prozess gehört die eingangs bereits beschriebene Grundhaltung. »Ich glaube«, beschreibt eine Fachkraft, »dass Menschen das generell spüren, wenn jemand es ernst meint und auch ein ernsthaftes Interesse dahinter ist oder eben nicht. Das spüren […] auch die jungen Ge
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flüchteten«. Tatsächlich zeigt auch die Forschung, dass Jugendhilfeklientel sehr deutlich wahrnimmt, ob »hinter der Rolle eine ›authentische Person‹ steht, die über das Rollenkostüm hinausragt« (Sander, 2012, S. 23; unter Bezug auf Goffman 1974/1977, S. 315). Denn auch im professionellen Feld wird »mit oder durch informelle persönliche Beziehungen in persönliche Beziehungen interveniert« (Nestmann, 2010, S. 22). Es gilt also, die Dimensionen einer »professionelle[n] Rollenbeziehung und persönliche[n] Beziehung« (Großmaß, 2009, S. 545; Erg. v. Verf.) miteinander zu verbinden. Eine Fachkraft beschreibt: »Dass man eine inten sivere Bindung zueinander hat. Weil das einfach so […] ins Herz geht auch.« Die helfende Beziehungsgestaltung ist aus dieser Perspektive ein Vorgang, der nicht nur eine Persönlichkeitsentwicklung des Klienten »fördert«, sondern auch eine andauernde entsprechende Entwicklung der Person der professionellen Fachkraft »er-fordert« (vgl. Schmid, 2002). Inhaltlich erinnert auch dieses Vorgehen stark an humanistische Ansätze (vgl. Spehr, 2010). Als erster Vertreter aus dem helfenden Spektrum formulierte Rogers (1957, 1959/1987, 1967) eine umfassende wachstumsfördernde Beziehung als notwendige und hinreichende Grundbedingung von Hilfeprozessen. »Das höre ich mir an und versuche da natürlich, empathisch drauf einzugehen«, erzählt eine Fachkraft mit Rückgriff auf klientenzentriertes Vokabular.
Traumapädagogische Alltagsunterstützung und -begleitung bieten31
2.4 » Wieso macht Deutschland das? Das kann ich nicht verstehen. […] Hilf mir. Mach doch was«: Traumapädagogische Alltagsunter stützung und -begleitung bieten Dies alles ist jedoch in der Situation, in der sich die minderjährigen Geflüchteten befinden, gar nicht so leicht. Auf die gänzliche oder teilweise Trennung von der Herkunftsfamilie sowie wahrscheinlich vorhandene traumatische Vorerfahrungen trifft eine Reihe zusätzlicher exilbedingter Belastungen (Fegert et al., 2017). Durch die Bedingungen im Herkunftsland und die darauffolgende Flucht sind gerade bei jungen und unbegleiteten, aber auch bei begleiteten Geflüchteten die grundlegenden Fähigkeiten zu vertrauen, sich zu binden und enge soziale Beziehungen einzugehen, oftmals von Angst, Misstrauen und starker Unsicherheit überschattet. In Deutschland angekommen, sind sie mit der mangelnden Transparenz des bürokratischen Geschehens konfrontiert. Das Resultat ist nicht selten Schweigen oder oberflächlicher Kontakt bei einem gleichzeitigen innigen und starken Wunsch nach vertrauensvollen und aufrichtigen Beziehungen (Pereira, 2011). Daraus lässt sich für die Jugendhilfe ein klarer Auftrag ableiten: Fachkompetenz bezüglich Bindung und Trauma und wie man im psychosozialen Bereich damit umgehen kann, sind absolut notwendige Voraussetzungen für eine Arbeit in diesem Bereich (Rothballer, 2017; vgl. dazu ausführlich Gahleitner et al., 2017). Explizit formulierte bereits Keilson (1979/2005) die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger psychosozialer Unterstützung als entscheidenden Faktor bei der Bewältigung traumareaktiver Symptomatik im Aufnahmeland (vgl. dazu die gelungene Selbsthilfebroschüre »Ankommen im Aufnahmeland«; Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF],
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2018b). Wenn das Beziehungsangebot während dieser Sequenz geprägt ist von Unterstützung, Anerkennung des erlittenen Leids und der Fähigkeit, weitere spezialisierte psychosoziale Hilfe zu organisieren, wirkt dies als Schutzfaktor bei der Entwicklung traumareaktiver Symptomatik (Birck, 2002). Besonders gut gelingt dies auf dem Boden reichhaltigen Traumawissens und langjährig erfahrener Kompetenz. Traumaphänomene zu kennen und dieses Wissen an die Kinder und Jugendlichen zu vermitteln, ohne dabei zu pathologisieren oder den Betroffenen etwas aufzudrängen, spielt daher besonders in dieser Phase eine große Rolle in der Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen. Dazu gehört auch eine ausreichende Kenntnis bezüglich der aufzehrenden Asylverfahren. »Die Geflüchteten sind hier und doch nicht hier. Sie befinden sich in einer Schwellensituation, die von vielen Unsicherheiten geprägt ist: das laufende Asylverfahren, die unsichere Perspektive auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, die Suche nach dem passenden Schulplatz, der Quereinstieg ins deutsche Schulsystem« (Jünger, 2017, S. 55). Eine der Interviewten zitiert einen Jugendlichen: »Wieso? Wieso macht Deutsch land das? Das kann ich nicht verstehen. Wieso kannst du mir nicht helfen? Hilf mir. Mach doch was.« Auch wenn man hier zwangsläufig an Grenzen stößt, existieren während des gesamten Asylantragsprozesses dennoch verschiedene vertrauensfördernde Interventionsoptionen, die jeweils den Charakter einer »schützenden Inselerfahrung« (Gahleitner, 2005, S. 63) aufweisen können: z. B. den Anhörungstermin umfassend vorbereiten, Kontakte zu Rechtsanwältinnen bzw. -anwälten oder spezialisierten Beratungsstellen bahnen, während des Anhörungstermins begleiten, gemeinsam – auch rechtlich betrachtet und unter Einbezug der Community – Lösungen suchen. Dabei ist nicht zu unterschätzen, wie eine Fachkraft betont, dass »gerade so eine Kri sensituation einen ja sehr stark zusammenschweißen kann«.
Transkulturelle Kompetenz als respektvoller, neugieriger Zugang33
2.5 » Man hat da ja auch […] Stereotype im Kopf«: Transkulturelle Kompetenz als respektvoller, neugieriger Zugang »Man hat da ja auch […] Stereotype im Kopf, auch wir So zialarbeiter sind davor ja nicht geschützt, dass wir irgendwie Vorurteile haben, uns da immer wieder neu überprüfen müs sen«, berichtet eine Fachkraft von ihrem steten Reflexions prozess. Jugendliche hätten sie bereits auf ihre Vorurteile aufmerksam gemacht: »Was denkst denn du, wie das bei uns da in Syrien abläuft? Nee, wir sind ein weltoffenes Land.« Geflüchtete leben als Minderheit in einer Dominanz gesellschaft und Dominanzkultur (Rommelspacher, 1995). Durch das Ausländerrecht haben sie einen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ungleichen Rechtsstatus. Die Folgen sind soziale Benachteiligung, Ausgrenzung, Rassismus und Diskriminierung als zentrale Lebenserfahrungen – auch in psychosozialen Kontexten (Mecheril, 1994, 2018). Die zwangsläufig bei der Arbeit auftretenden eigenen Vorstellungen und Stereotype zu reflektieren, gehört daher zum täglichen Brot für Fachkräfte in der Kinderund Jugendhilfe. Der beraterische Raum ist »kein extraterritorialer, in dem nach objektiven Regeln diagnostiziert und interveniert wird. Vielmehr ist auch er Ausdruck eines bestimmten kulturellen Normgefüges« (Rommelspacher u. Wachendorfer, 2008, S. 1338). Allein die Vorstellung, was noch »normal« oder bereits »pathologisch« ist, wie Soziale Arbeit und Beratung funktionieren und wie vorgegangen wird, beinhaltet ethnozentristische Vorannahmen. Sehr viel mehr als die Bemühung, »rücksichtsvoll« auf eine »vermutete kulturspezifische Eigenart« reagieren zu wollen, helfen aufmerksame, authentische Offenheit und das stets kritische Hinterfragen der eigenen Zuschreibungen und Normvorstellungen – gepaart mit einer steten Toleranz für das interaktive Geschehen innerhalb der Ge-
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sprächssituation. Eine Fachkraft berichtet: »Darüber mit den Jugendlichen zu reden, ist doch noch mal eine andere Diskussion, als mit einem inländischen jungen Menschen über Rassismus, über Nazis zu sprechen. Ausländerfeind lichkeit und so. Das ist auf einem anderen Niveau.« Den eigenen Standpunkt in diesem Austausch als weiße deutsche Fachkraft beschreiben Rommelspacher und Wachendorfer (2008) als »in der ethnischen Schichtung […] der Gesellschaft verankerte Überlegenheitsfantasien und […] Verhaltensweisen, die diese Hierarchien alltäglich reproduzieren« (S. 1346; vgl. auch Esser, 2000). Daher wird man »den anderen erst zuhören, wenn man sich eingesteht, dass man selbst nicht alles weiß« (Rommelspacher u. Wachendorfer, 2008, S. 1351). Mecheril (2002) nennt diese Voraussetzung »Kompetenzlosigkeitskompetenz«. Eine Fachkraft rät daher, »ehrlich zu sein und, wie sagt man so schön, re spektvoll neugierig«. Eine andere Interviewte betont wiederum: »Ich würde aber auch raten, sich mit […] der Herkunftskultur ein Stück weit auseinanderzusetzen von den Jugendlichen, die man betreut. Weil es einfach ganz viele Gefahren von Missver ständnissen gibt, wenn man sich mit der Kultur nicht ausei nandersetzt.« Solange diese Differenzen kognitiv wie emotional bagatellisiert oder nicht als solche wertgeschätzt würden, sei eine verstehensorientierte, empathische Auseinandersetzung ebenfalls unmöglich. Beides – die eigene Kompetenzlosigkeit und das Verstehen kultureller Besonderheiten – nicht aus den Augen zu verlieren, hilft, individuelle Probleme nicht zu kulturalisieren und umgekehrt kulturelle Probleme nicht zu individualisieren, und wird aktuell unter der Begrifflichkeit »transkulturelle Kompetenz« oder – auf andere Benachteiligungen ausgeweitet – »Diversity-Kompetenz« gefasst (Czollek u. Perko, 2011). Ein Mangel daran kann zu Verwirrungen, Polarisierungen, Überidentifikationen, Gegenübertragungsreaktionen, zur
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Individualisierung struktureller Machtphänomene und umgekehrt zur Politisierung originär individueller Konflikte mit Angehörigen anderer Kulturkreise führen. Dabei ist auch das Phänomen der Diskriminierung nicht eindimensional zu begreifen, sondern »intersektional«, als ein Feld der Überschneidungen verschiedener Diskriminierungs- und Gewaltformen auf individueller, institutioneller und kultureller Ebene (Czollek u. Perko, 2011). Die wesentliche Voraussetzung für eine fachlich qualifizierte Arbeit in diesem Bereich ist daher eine kritisch reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft.
2.6 Resümee Im Überblick betrachtet lässt sich festhalten, dass junge geflüchtete Menschen – mit oder ohne Familie – von einer reflektiert-parteilichen, bindungs- und traumasensiblen sowie diversity-kompetenten Begleitung profitieren können. »Daher wünschten sie sich die Möglichkeit, ihre Situation und ihre Probleme mit einer erwachsenen Person, der sie vertrauen können, zu besprechen«, konstatiert Hargasser (2014/2016, S. 117). Die Fachkraft hat also eine Art Lotsenfunktion. Allerdings bringen junge Geflüchtete dafür – häufig zwangsläufig – eine bereits umfassende Lebenserfahrung mit: »Ich finde schon, dass eine gewisse Reife bei den unbegleiteten Geflüchteten da ist, die bei den inländischen vielleicht in dem Alter nicht da ist«, kommentiert eine Fachkraft, »das liegt mit sehr hoher Wahrschein lichkeit daran, dass sich diese jungen Menschen in ihren Herkunftsländern einfach mit anderen Dingen beschäftigt haben oder beschäftigen mussten.« Herrmann et al. (2018) bestätigen dies in ihrer großflächigen Untersuchung: Im Bereich von Autonomie (Selbstständigkeit/Unabhängigkeit) ist bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten
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ein höherer Wert zu verzeichnen als bei nicht geflüchteten Jugendlichen. Eine Fachkraft erzählt aus der Praxis: »Und ich weiß, dass von denen mehr abverlangt wird. Also schon alleine, wenn man die Hilfepläne liest oder die Hilfe konferenzen.« Darin liegt jedoch auch ein Problem: Viele der ankommenden Jugendlichen sind von dem Auftrag durchdrungen, sich schnell zu integrieren, erfolgreich zu sein und die Wünsche der Familie zu erfüllen. Dies wird nicht selten zu einer erzwungenen Reife und maßlosen Überforderung (Willmann u. Schwarze, 2017). Die Selbstständigkeit von Minderjährigen, sich durchzuschlagen (Überlebenskompetenz) sollte nicht gleichgesetzt werden mit der Selbstständigkeit, sich in einem fremden Land eine (neue) Lebensperspektive zu erarbeiten. In einem komplexen Schul- und Ausbildungssystem zurechtzukommen, sich konkrete Ziele zu setzen und den oft sehr hürdenreichen Weg dorthin durchzuhalten, unterscheidet sich maßgeblich davon, um das Überleben zu kämpfen (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe [AGJ], 2016). Ein neues Leben aufzubauen, während gleichzeitig Heimweh, Belastungen durch die Flucht, Anpassung an eine völlig neue Umgebung mit Schule, komplexem Spracherwerb, Ausbildung und Aufbau von Beziehungen bewältigt werden müssen, stellt eine immense Aufgabe dar, die angemessen unterstützt werden muss (Espenhorst u. Noske, 2015; Lippmann, 2016). Hartwig (2017) plädiert daher für eine entsprechende Stärkung der professionellen Angebote insbesondere für geflüchtete junge Frauen. Dazu treten Diskriminierungserfahrungen (Jünger, 2017) und zahlreiche Enttäuschungen. Viele Einrichtungen der Jugendhilfe nehmen damit Jugendliche auf, die »Überlebenskompetenzen von Erwachsenen und zugleich die Bedürftigkeit von Minderjährigen aufweisen« (Willmann u. Schwarze, 2017, S. 52). Sie befinden sich permanent in einer Ambi-
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valenz zwischen »Autonomiebestreben und Hilfebedarf« (Detemple, 2013, S. 84; vgl. auch Thomas et al., 2018). Gerade für geflüchtete junge Menschen, die den Übergang zur Selbstständigkeit durch die Volljährigkeit in sehr kurzer Zeit vollziehen und damit die Jugendhilfe verlassen müssen – die sogenannten Care-leaver –, ist der Übergang ins Erwachsenenalter daher problematisch (Labatzki, 2017; vgl. auch Thomas et al., 2018). Nicht nur das Setting der Jugendhilfe ändert sich mit Erreichen der Volljährigkeit der Unbegleiteten in der Regel, auch der asyl- und aufenthaltsrechtliche Status muss häufig neu bestimmt werden, wenn die gesetzliche Vormundschaft beendet wird (Huber u. Lechner, 2017). Psychotherapie besteht als Möglichkeit, ist aber nicht immer zugänglich und auch nicht immer die Hilfe der Wahl (Gahleitner et al., 2017; Schneider, Bajbouj u. Heinz, 2017) und sollte niedrigschwelliger gestaltet werden (Thomas et al., 2018). Der zentrale Bedarf einer Weiterbetreuung nach § 41 SGB VIII ist also nicht gering, wird aber nur selten gesehen (Graßhoff u. Homfeldt, 2019). Die Jugendhilfeplanung hat jedoch an dieser Stelle mit ihrem gesetzlichen Auftrag einen maßgeblichen Anteil am Prozess eines gelingenden Ankommens. Ein geeigneter Konzeptionsvorschlag für dieses Dilemma ist die transnationale Biografiearbeit von Graßhoff und Homfeldt (2019), die mithilfe eines stark an den Subjekten und deren persönlichen Geschichten orientierten Modells einen möglichst individuellen Hilfebedarf herausarbeitet. »Wir hätten jetzt die Chance, das Ruder umzudrehen«, so Graßhoff und Schröer (2018, S. 21) hierzu. »Es wäre jetzt ein Prozess zu starten, aus dem eine neue Fachlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe hervorgehen könnte, die eben auch in Zeiten migrationspolitischer Konjunkturen und populistischer Integrationsdiskurse die Hilfen für junge Menschen, die als Geflüchtete hier leben, strukturell und bedarfsgerecht absichern« (Graßhoff u. Schröer, 2018, S. 21).
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3 Alles anders, alles gleich: Familienarbeit mit Geflüchteten im Jugendhilfesystem
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Familienarbeit zum Wohle heranwachsender geflüchteter Minderjähriger ist ein von vielen Komplexitäten geprägtes Feld. Im Folgenden wird entlang eines trotz aller jeweiligen Spezifika in der Arbeit »typisches Beispiel« aus der Praxis aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und entlang der in Kapitel 2 herausgearbeiteten Aufmerksamkeitslinien reflektiert. Anschließend wird auf das Thema Familienzusammenführung näher eingegangen.
3.1 Fallvignette Samiras Geschichte Samira ist mit ihren drei Brüdern in Syrien aufgewachsen. Die Mutter arbeitete als Lehrerin, der Vater als Ingenieur, ein Bruder als Dolmetscher für die US-Amerikaner. Als der jüngere Bruder von islamistischen Kräften aus Rache entführt und gefoltert wird, entschließt sich die Familie zur Flucht. Zunächst flieht die Mutter mit den 14 und sechs Jahre alten Söhnen sowie der zehnjährigen Tochter Samira. Die Flucht dauert vier Monate mit vielen traumatisierenden Erfahrungen für alle vier. Danach lebt die Familie drei Jahre in Deutschland ohne »Auffälligkeiten«. Als der Vater nachkommt, wird die Familiensituation schwierig. Samira berichtet in der Schule und später beim Jugendamt von Gewalt ihr gegenüber durch den heute 17-jährigen Bruder und massive Kontrolle durch den Vater. Auch die Mutter habe sich völlig verändert. Seit der Vater da sei, würde sie Samira gar nichts mehr erlauben, nur manchmal, wenn sie es vor dem Vater und dem Bruder verheimlichen könne. Samira zeigt sich sehr ambivalent, mal
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erzählt sie von heftiger Gewalt, mal zieht sie ihre Angaben zurück und schwärmt von einem glücklichen Familienzusammenhalt. Es wird eine Familienhelferin eingesetzt, die von der Familie als massiv kontrollierend wahrgenommen wird. Daher dürfen ihr keine Probleme erzählt werden. Als Samira auch noch regelmäßig die Schule zu schwänzen beginnt, wird sie vom Jugendamt in Obhut genommen. In manchen Momenten findet sie es gut, gleichzeitig leidet sie unter der starken Sehnsucht nach ihrer Mutter.
Viele Aspekte der schwierigen Kommunikation zwischen Jugendhilfe und den geflüchteten Familien können beispielhaft an diesem Fall gezeigt werden. Vor allem veranschaulicht er die große Bedeutung einer klaren Haltung in Bezug auf die Menschenrechtsverletzung, die jede Gewalt gegen Frauen und Mädchen bedeutet, in welche religiöse und traditionelle Legitimationsform auch immer sie gekleidet ist. Zugleich jedoch ist es in diesem Bereich – wie überall in der Sozialen Arbeit – wichtig, jede Familie sehr individuell in ihrer Unterschiedlichkeit mit ihren vielen verschiedenen (z. T. traumatisierenden) Erfahrungen, aber auch im Kontext von strukturellen Belastungen wie Rassismus und Auswirkungen ökonomischer Benachteiligung zu betrachten. Es liegt nahe, »dass migrationsspezifische Problemlagen, Diskriminierungserfahrungen, Fremdheitsgefühle und tradierte Rollenerwartungen zu Retraditionalisierungstendenzen im Aufnahmeland und zu sehr strengem Erziehungsverhalten führen können« (Berliner Arbeitskreis u. Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, 2017, S. 10) Gleichzeitig erleben wir aber auch, dass die Menschenrechtsverletzungen an Mädchen aus gesellschaftlich anerkannten Machtinteressen entstehen, wie sie per se Männern auch in der Mehrheitsgesellschaft zugestanden wird. Daher ist es ebenfalls bedeutsam, darauf nicht mit kulturellen Zuschrei-
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bungen zu reagieren, nach dem Motto: »Das mag in eurem Herkunftsland üblich sein, in Deutschland aber nicht.«
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Samiras Geschichte aus Sicht des Jugendamts Es gibt Gewalt in der Familie, vor allem durch die Brüder, die ihre patriarchal geprägten Anforderungen an die Schwester mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Die ganze Familienstruktur ist traditionell archaisch geprägt, die kranke Mutter ist Opfer des Vaters, das Mädchen Opfer der Brüder und der islamistischen Familienstruktur. Das Bildungsniveau wird angesichts der vom Jobcenter bezogenen Leistungen als niedrig eingestuft. Der Fall wird als Kinderschutzfall eingestuft, d. h., die Rechte der Eltern werden beschnitten, auch das Mädchen kann nicht einfach sagen, dass es wieder nach Hause zurückkehren möchte. Die Eltern müssen endlich die Verantwortung für ihre Tochter übernehmen und sie nicht auf ihre Söhne abwälzen. Gespräche finden daher nur mit den Eltern statt, und sie sind angehalten, zu Hause für die Umsetzung der Vereinbarungen zu sorgen. Eine Familienhelferin wird eingesetzt, der jedoch von der Familie nur etwas vorgespielt wird. Dieser Kreis muss durchbrochen werden.
Samiras Geschichte aus Sicht der Eltern »Wir verstehen das überhaupt nicht. Sie reden von einem System des Leistungsbereichs und des Gefährdungsbereichs, auf dessen Grundlage Entscheidungen in der Jugendhilfe getroffen werden. Was bedeutet das? Sie sagen, Samira sei schrecklich gefährdet bei uns, wir wollen sie doch nur schützen. Eigentlich gehören Probleme in der Familie gelöst. Die gehen niemand anderen was an. Und dazu werden jetzt auch noch Behörden eingeschaltet. Wir haben doch schon genug Probleme mit der Ausländerbehörde. Die verstehen doch sowieso nicht, was bei uns los ist. Samira hat die Regel durchbrochen und sich an jemanden außerhalb der Familie
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gewandt und damit echt eine Katastrophe ausgelöst. Wir haben gar keine Macht mehr über unsere Tochter. Sie ist weg, und sie will doch eigentlich nach Hause. Das sagt sie uns doch auch immer am Handy. Wir können gar nichts machen, vielleicht sie verstecken, wenn sie zu uns kommt und immer allen sagen, dass es bei uns keine Probleme gibt. Was heißt überhaupt Gewalt, wir haben ganz andere eigene Gewalterfahrungen gemacht. In unserem Land gab es ständig Gewalt gegen uns, der Krieg, die Folterungen, die ständige Angst vor Knast und Bomben, wie auch auf der Flucht […]. Auch unsere Eltern waren nicht zimperlich, wenn wir was falsch gemacht haben. Aber es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn es ihnen egal gewesen wäre, was wir machen. Es muss doch auch jemand zeigen, wie die Regeln sind. Zudem gibt es in der Jugendhilfeeinrichtung für unsere Tochter Regeln, die wir überhaupt nicht gutheißen. Warum haben wir keinen Einfluss darauf, was sie darf und was sie nicht darf? Den Deutschen scheint es ja egal zu sein, was ihren Töchtern nach dem Dunkelwerden auf der Straße passieren kann. Wir machen uns eben große Sorgen, weil sie z. B. erst um 20 Uhr, auch bei Dunkelheit, zu Hause sein muss, draußen treffen darf, wen sie will und am Wochenende bis zu acht Stunden unbeaufsichtigt Freunde treffen darf. Das soll dieser sogenannte ›Kinderschutz‹ sein?«
Der Kontakt zwischen den Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern des Jugendamts und der Familie gestaltet sich von Anfang an sehr schwierig. Er ist von gegenseitigen Zuweisungen geprägt. Gleichzeitig wird immer wieder deutlich, dass die Familie das System der deutschen Jugendhilfe nicht verstanden hat, obwohl zu allen wichtigen Gesprächen eine Sprachmittlerin hinzugezogen wurde. In diesem Kontext hilft der Ansatz der Anerkennung als normatives Prinzip im Kontext von Migration (Winter,
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2016), wonach Anerkennung für die Identitätsbildung und die Entfaltung der Autonomie von zentraler Bedeutung ist. Nur Prozesse der Anerkennung zwischen Individuen und Gruppen ermöglichen eine Veränderung der Identität. Werden Menschen durch kulturalisierende Zuschreibungen zum Objekt gemacht, so kommt es nicht zu einer Erschließung der neuen Welt und damit einer Weiterentwicklung des Selbst (Winter, 2016, S. 476). Häufig erleben die Familien, auch aufgrund der Überforderung der Mitarbeitenden der Jugendämter, dass von ihnen bezüglich Erziehungsnormen und Erziehungsverhalten eine Integration erwartet wird, ohne die Chance zu einer wirklichen Auseinandersetzung. Notwendig wäre daher, eine Haltung intersubjektiver Anerkennung als Grundlage für die Begegnung in diesem Raum zu entwickeln, die wiederum das Einbringen der eigenen kulturellen Haltung ermöglicht, ohne dass sie verleugnet oder untergeordnet werden muss. Dieser Prozess kann den Familien die Sicherheit geben, Pro bleme bis hin zu Gewaltsituationen zu thematisieren und gemeinsam mit einem Hilfesystem nach Lösungen zu suchen. Wird diese Anerkennung nicht wahrgenommen, so bleibt jede Intervention eine Auflage, die als Kontrolle eines Dominanzapparats der Mehrheitsgesellschaft gesehen und damit in keiner Weise internalisiert wird. Stattdessen werden die Kinder und Jugendlichen dazu angehalten, in Loya lität mit ihrer Familie und Kultur diese Vereinbarungen zu unterlaufen und ein Klima der Geheimhaltung gegenüber dem Hilfesystem zu etablieren.
Samiras Geschichte aus Sicht des 17-jährigen Bruders »Während der Flucht war ich für meine Schwester voll verantwortlich. Ich musste sie immer wieder vor den Gefahren durch andere Männer und Jugendlichen schützen. Ich habe es geschafft, sie einigermaßen unversehrt nach Deutsch-
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land und in Sicherheit zu bringen. Ich habe sie im Boot in die Mitte gesetzt, und als andere am Rand ins Meer gestürzt sind, konnte ich mich kaum halten. Alles lief eigentlich ganz gut, bis mein Vater kam. Jetzt trinkt und spielt er. Ich versuche eigentlich auch, nur weg zu sein. Aber für ein Mädchen gehört sich das einfach nicht. Jetzt schminkt sie sich hier, lässt Jungs an sich ran. Sie flirtet mit ihnen. Außerdem lügt sie oft, dass sie zur Schule geht, aber ich weiß genau, dass sie schwänzt. Oft erzähle ich das meinen Eltern nicht, damit sie sich nicht noch mehr Sorgen machen. Aber dann muss ich doch was unternehmen. Wie kann die vom Jugendamt nur sagen, ich soll mich raushalten? Meine Freunde machen sich schon über mich lustig, dass ich meine Schwester nicht unter Kontrolle habe. Keiner hat mich richtig gefragt, was ich denke.«
Heranwachsende mit familiärer Migrationsgeschichte werden häufig durch ihr Umfeld mit unterschiedlichen, mitunter widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Beeinflusst werden sie sowohl vom soziokulturellen Hintergrund ihrer Eltern, bei denen vielfach Angst vor Kulturverlust herrscht, als auch von den Werten und Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft. Dies konfrontiert sie mit Widersprüchen, die die Identitätsentwicklung erschweren. Dieser zwiespältige Status stellt die Jungen und jungen Männer vor eine fast unlösbare Aufgabe. Patriarchale Strukturen und Vorstellungen von Ehre, die vor allem durch Erziehung weitergegeben werden, können in diesem Zusammenhang eine hohe Bedeutung bekommen und Jugendliche aller Geschlechter bei der freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit behindern bzw. ihre möglichen Lebensentwürfe einschränken. In einem solchen Kontext wird es ihnen erschwert, sich in der Entwicklung ihrer Sexualität und der Wahl ihrer Partner bzw. Partnerinnen frei zu fühlen. Zudem finden sie
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so kaum einen Raum, um sich über ihre Erfahrungen und Gefühle auszutauschen. In dieser patriarchalen Dynamik können Mädchen und Frauen in eine schwache Position gedrängt und in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt werden. Jungen jedoch geraten ebenso unter empfindlichen Druck, da sie häufig starre Bilder von Männlichkeit repräsentieren müssen. Darüber hinaus schränkt ihre Kontrollaufgabe sie ein, denn als Söhne und Brüder tragen sie große Verantwortung. Meist sind sie traditionell verpflichtet, die patriarchalen Normen durchzusetzen und im Extremfall die Familienehre durch eine Gewalttat wiederherzustellen (vgl. www.heroes-net.de). Zudem leiden viele männliche Heranwachsende mit familiärer Migrationsgeschichte unter dem öffentlichen Bild des machohaften, gewalttätigen Migranten. Teilweise wird dieses Bild mit angefacht von Studien, die eine Zunahme von Gewaltkriminalität unmittelbar Geflüchteten zuschreiben (z. B. Pfeiffer et al., 2018). Samiras Geschichte aus Sicht des Mädchens »Ich bin sehr froh, dass ich jetzt in Berlin lebe. In Syrien hatten immer alle um mich rum Angst. Es passierten auch zum Teil ganz schreckliche Dinge, an die ich mich gar nicht erinnern will, aber manchmal kommen diese Erinnerungen einfach hoch, obwohl ich das total doof finde. Meine Eltern sagen auch immer, einfach vergessen, dann ist es weg, das finde ich eigentlich gut, aber es klappt nicht immer. Blöd, dass ich keine Schwester habe, meine Brüder nerven mich total, und ich habe auch Angst vor ihnen. Nie bin ich richtig für sie, immer mache ich alles falsch. Wie ich mich anziehe, wie ich mit meinen Freunden und Freundinnen rede. Einerseits sagen alle, ich soll schnell Deutsch reden lernen und mich angepasst verhalten, andererseits soll ich eigentlich nur mit der Familie zusammen sein und darf niemanden außerhalb treffen. Klar schwänze ich dann die Schule, damit ich machen kann, was ich will und mich niemand kontrolliert.
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Aber immer sehen mich welche, die das dann meinem Bruder erzählen, und der schreit mich dann an und gibt mir ’ne Klatsche. Ich mochte mal meinen Bruder gern, auf der Flucht war er auch echt für mich da, aber jetzt, ich glaub’, der mag mich nicht mehr, und ich habe eigentlich nur noch Angst, wenn ich ihn sehe. Er ist so unberechenbar, ich muss immer gucken, wenn er nach Hause kommt, ob er wütend ist. Das hab’ ich einfach nicht mehr ausgehalten. Das musste ich erzählen. Ich wusste eigentlich gar nicht so genau, was dann passieren sollte. Es sollten alle wissen, dass es mir schlecht geht, so, wie es war. Jetzt bin ich in der Krisenwohnung und finde das eigentlich gut. Ich kann endlich meine Freundinnen und Freunde treffen, ich kann anziehen, was ich will, ich kann später nach Hause kommen, und ich muss keine Angst haben. Aber gleichzeitig vermisse ich meine Familie und vor allem meine Mutter total. Wenn die mir sagt, dass es ihr schlecht geht, hab’ ich das Gefühl, sofort zu ihr zurückzumüssen und auch zu wollen. So sage ich denen am Handy immer, dass ich nach Hause will, aber den Betreuerinnen, dass ich noch ein bisschen bleiben will. Es ist aber auch komisch in der Einrichtung, wenn ich Regeln übertrete, reden die immer nur, reden, reden, reden. Eigentlich kann ich machen, was ich will, so schlimm wird es dann nicht. Jetzt kann ich mal Jungs oder auch Männer treffen, das finde ich total spannend, die anderen Mädchen helfen mir dabei. Da die älter sind, müssen die zwar später als ich zu Hause sein, aber das ist ja auch egal. Auf die Schule habe ich erst recht keine Lust mehr, wo jetzt alles so spannend ist.«
Wenn Mädchen aus ihrer Familie in die Jugendhilfe kommen, bedeutet das immer einen Bruch mit den Erziehungswerten und -normen ihrer Herkunftsfamilie und meist auch des Umfelds, ihrer Community. Auch bei Fa-
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milien der Mehrheitsgesellschaft gibt es andere familiäre Rituale, über die Normen transportiert werden, andere Prioritäten, Ansprüche und Verhaltensanpassungen an die Familie auf der einen und die Gesellschaft auf der anderen Seite. Bei Geflüchteten ist dieser Bruch besonders groß, weil schon die neue Umgebung bestimmte Anforderungen und Erwartungen jeweils unterschiedlich an die einzelnen Familienmitglieder stellt. Die Macht, die ihren Brüdern und anderen männlichen Familienangehörigen, auch Cousins, über sie zugestanden wird, passt für viele Mädchen nicht mehr zu ihrem Selbstbild und den Botschaften, die sie von der Mehrheitsgesellschaft insgesamt, aber auch von ihrer Peergroup bekommen. Gleichzeitig wissen sie: Es geht eher darum, »sich nicht erwischen zu lassen«, also vor Familie und Community geheim zu halten, dass sie z. B. Kontakt mit Jungen haben. Bei Mädchen mit traumatisierenden Erfahrungen erleben wir immer wieder, dass sie viel Ablenkung brauchen, um nicht mit ihren teils extrem beängstigenden Erinnerungen konfrontiert zu werden. Diese Ablenkung können sie z. B. im (verbotenen) Kontakt mit Jungen, im Schulschwänzen, aber auch im Drogenmissbrauch als Selbstmedikation finden. Eine häufige Grundkonstellation für die Aufnahme in die Jugendhilfe ergibt sich, wenn die Familie von solchen Übertretungen erfährt und dabei gewalttätig reagiert. In dieser Kon stellation intensiv mit der Familie bzw. dem Umfeld zu arbeiten, kann eine große Entlastung für die betroffenen Mädchen bedeuten, weil sie in der Regel mit extremen Ambivalenzen und Sehnsüchten kämpfen. Dabei ist es wichtig, nicht mit vorgefertigten Bildern und Zuschreibungen auf die Familie zuzugehen, sondern wirkliches Interesse und Offenheit zu zeigen und sich zu fragen, wie eigentlich die Haltungen und Einstellungen der speziellen Familie aussehen.
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3.2 Ins Gespräch kommen Die nachfolgend dargestellten Themen wurden in der Arbeit mit der Familie von Samira im Rahmen des stationären Clearings mit den einzelnen Familienmitgliedern in unterschiedlichen Konstellationen besprochen. 3.2.1 Unterschiedliches Erleben der Fluchtund Ankommensgeschichte bei den einzelnen Familienmitgliedern
Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Entwicklung einer gemeinsamen Geschichtsschreibung in der Familie große Bedeutung hat. Dem Hilfesystem dient dies als Grundlage für Handeln und Gefühle, den Familienmitgliedern als Voraussetzung für ein Verständnis füreinander und sich selbst. Dabei kann gut auf das Konzept der sequenziellen Traumatisierung von Hans Keilson (1979/2005) zurückgegriffen werden (vgl. ausführlich Gahleitner et al., 2017). Ein stark vertrauensbildender Prozess in dieser Familie bestand darin, gemeinsam und in Einzelgesprächen einen Blick auf die verschiedenen Stationen bzw. Lebenssituationen zu erarbeiten. So wurde deutlich, wie gut es der Familie zu bestimmten Zeiten ging, als die Elterngeneration ihrer Ausbildung angemessene Arbeit hatte, weil die Kinder sich gut entwickeln und ihren Ressourcen entsprechend weiterbilden konnten. Je stärker sie jedoch mit Krieg und Gewalt konfrontiert waren, lösten sich die Gewissheiten auf und jeder Tag musste überstanden werden, doch auch in dieser Phase konnte ein Bruder sogar noch vom Krieg ökonomisch profitieren. Samira hatte als Zweitjüngste keine Erinnerung mehr an die »gute Zeit«, als ihre Eltern in jeder Hinsicht die Elternrolle angemessen übernehmen konnten. Die einzel-
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nen Familienmitglieder staunten, dass es z. T. divergierende Erinnerungen daran gab, was den Ausschlag zur Flucht gegeben hatte, sodass auch die Frage von Schuld, Verantwortung und Hilflosigkeit bei den Familienmitgliedern ganz unterschiedlich verinnerlicht war. Dies anzusprechen und die Genese dieser Gefühle und Verarbeitungsmechanismen und deren Folgen auf die familiäre Kommunikation nachzuverfolgen, bedeutete eine große Entlastung für die Familie. Bei ihrer Ankunft in Deutschland kamen alle Familienmitglieder in unterschiedliche Peergroups, die sich stark voneinander unterschieden und entsprechend verschiedene Ansprüche an sie richteten. So wollte die Mutter eigentlich schnell Deutsch lernen und wieder mit einem besser bezahlten Beruf Geld verdienen, wurde aber schnell von den anderen Frauen im Geflüchtetenheim »zurückgepfiffen«. Sie solle sich mehr um ihre Kinder kümmern, sich nicht so sehr anpassen. Sie berichtete, als eine »Streberin« angesehen worden zu sein. Daher trieb sie den Umzug in eine eigene Wohnung sehr stark voran, was ihr erstaunlich zeitnah gelang. Für den jüngeren Bruder war dagegen der Umzug eine Katastrophe. Er verlor seine Spielkameraden und den Halt, den eine Sozialarbeiterin vor Ort ihm geboten hatte. Ihm war es vor allem wichtig, weiterhin zum Fußballspielen dorthin zu gehen, doch nach dem Umzug wurde der Weg für ihn zu weit. Seitdem ist er meist zu Hause mit Computerspielen oder dem Handy beschäftigt. Samira konnte den Auftrag ihrer Mutter gut annehmen, lernte sehr schnell Deutsch und kam damit schon bald in die Rolle der Dolmetscherin für die ganze Familie. Häufig führt dies, so Rabe (2018) zu einer Rollenumkehr innerhalb der Familie, vor allem, wenn die Verantwortlichkeiten bei Behördengängen oder Arztbesuchen plötzlich primär bei den jungen Menschen und nicht mehr bei den
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Erwachsenen liegen. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse konnte Samira zeitnah aus der Willkommensklasse in eine Regelschule wechseln, fühlte sich dort jedoch durch die kulturellen Ansprüche der Mädchen völlig überfordert. Als sie die Botschaft von der Familie erhielt, Behördentermine seien wichtiger als Schule, begann sie auch für ihre Beziehungswünsche die Schule zu schwänzen. In einer qualitativen Untersuchung mit Kindern zwischen zehn und 13 Jahren (Gerarts et al., 2016) wird dagegen ersichtlich, dass die Schule ein haltgebender Ort sein kann, insbesondere, wenn Lehrende traumapädagogisches sowie Bindungs- und Beziehungwissen besitzen und somit Schutz und Stabilisierung gewährleisten können (Zimmermann, 2012). Damit können neben die Familie als wichtigstem Bezugspunkt neue Freundschaften und Austausch mit Gleichaltrigen zu einer großen Sicherheit führen. Dies war für Samira nicht möglich. Der mittlere Bruder floh im Grunde aus der Familie, er war gar nicht mehr zu Hause, gab seine Bildungsbemühungen schnell auf, weil er sich extrem schlecht konzentrieren konnte, und verbrachte die meiste Zeit in Shisha-Bars. Zwischendurch verdient der junge Mann Geld durch unangemeldete Arbeit. Obwohl er immer wieder von unkontrollierbaren Erinnerungen heimgesucht wird, will er keine weitergehende Unterstützung, welcher Art auch immer. Dies ist bei minderjährigen Geflüchteten trotz der hohen Belastung nicht selten, da »neben dem […] oft vorrangigen Wunsch, alten Ängsten und Nöten nicht mehr begegnen zu müssen, […] der Wunsch nach Normalität wie auch ein Nichtverstehen des eigenen Befindens […] starke Motivation« ist, »den eigenen leidvollen Erlebnissen und dem eigenen Befinden den Ausdruck zu versagen« (Quindeau u. Rauhwald, 2017, S. 26). In seiner Peergroup wird sehr genau kommentiert, wie sich seine Schwester in der Öffentlichkeit verhält.
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Für den Vater war das Ankommen in Deutschland ein Schock. Drei Jahre lang hatte er sich bemüht, das Geld für seine eigene Flucht zusammenzubekommen, und musste bei seiner Ankunft in Deutschland eine völlig »neue Familie« erleben, die nicht mehr auf ihn angewiesen war. Sein Umgang damit bestand darin, den Kontakt zu anderen Männern beim Spielen zu suchen und schließlich seine Autorität gegenüber seiner Frau durch Gewalt wiederherzustellen. 3.2.2 Haltung zur Kindererziehung
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»Konflikte zwischen den Adoleszenten und ihren Eltern entstehen oft in Folge der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewältigung der Migrationswirklichkeit« (Baros u. Baumann, 2016, S. 270; vgl. auch Baros, 2001). Den Eltern und den Jugendlichen fällt es schwer, die Perspektive des je Anderen – und damit dessen Verhaltensweisen, die auch als Bewältigungsstrategien zu interpretieren sind – nachzuvollziehen und sie nicht als gegen sich gerichtet wahrzunehmen. Beide Seiten sehen die eigenen Interessen in Gefahr und gehen auf Abwehr. »So ist es den Adoleszenten z. B. unverständlich, warum ihre Eltern gesellschaftliche Widersprüche personalisieren oder warum sie innerfamiliäre Konflikte kulturalisieren« (Baros u. Baumann, 2016, S. 270). Die Jungen und Mädchen versuchen auf ihre sehr unterschiedliche Art, sich gewisse Freiräume zu erkämpfen und ein Gefühl für ihre eigene Autonomie zu entwickeln, während beide Elternteile dadurch – übereinstimmend oder auch in unterschiedlicher Weise – ihr »Migrationsprojekt« gefährdet sehen. Dies verdeutlicht die besondere Erschwernis sogenannter normaler Entwicklungskonflikte unter der Bedingung des aktuellen Migrationsprozesses, um den es sich bei Geflüchteten handelt.
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So wird beispielsweise ein Gespräch über die Haltung zur Kindererziehung mit den Eltern schwierig, wenn es bei »ihr« versus »wir«, »in unserem Land« versus »in Deutschland« stehen bleibt. Diese Erfahrung wird immer wieder thematisiert: »Daher, manchmal, wenn wir mit ihnen uns gegenseitig nicht verstehen, dass sie uns sagen: HIER IST DEUTSCHLAND (auf Deutsch)« (R., zit. in Ghaderi, 2014, S. 17). Diese Haltungen sind im Jugendhilfesystem oftmals sowohl aufseiten des Jugendamts als auch der Eltern anzutreffen. Bei den Mitarbeitenden des Jugendamts, weil sie in ihren scheinbar klaren objektivierbaren Leitlinien eine bestimmte Erziehungshaltung antizipieren und einfordern; bei den geflüchteten Eltern, weil sie sich in einer Abwehr gegenüber dem Hilfesystem, aber auch gegenüber den Autonomiehandlungen ihrer Kinder fühlen, die sie von einem für sie nicht verstehbaren freizügigen Kinderschutzgesetz gegen sie selbst unterstützt sehen. So werden altersangemessene pubertäre Autonomiebestrebungen von den Eltern als ein Aufgeben der Loyalität gegenüber der Herkunftskultur interpretiert. Im Gespräch, zunächst nur mit der Mutter, war es möglich, mit einer respektvollen Haltung ihrer (Erziehungs-) Leistung gegenüber die unterschiedlichen Situationen ihrer Tochter und ihrer Söhne zu diskutieren. Den Vater in diesen Prozess zu integrieren, erwies sich zunächst als sehr schwierig. Im Laufe des Prozesses stellte sich heraus, dass das Setting einer Beratung in einer Beratungsstelle ihm in keiner Weise entsprach. Die Mutter bat darum, dass die Elternberaterin zum Essen käme, das der Vater zubereitete. Diese Situation bedeutete einen Durchbruch im Prozess. Nach dem Essen herrschte eine Stimmung, in der auf Basis gegenseitiger Anerkennung die einzelnen Punkte angegangen werden konnten. Auch der Vater musste hierbei nicht länger betonen, wie wenig sich scheinbar die
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Eltern der Mehrheitsgesellschaft um ihre Kinder sorgen, und dazu polemisch agieren. Wichtig war vor allem, dass vor dem Hintergrund gegenseitiger Zuneigung artikuliert werden konnte, wie sehr die Gewalt und auch sein Spielen die Familie zerstörte. So konnten verschiedene Vereinbarungen getroffen werden, die sich an den Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder orientierten: ȤȤ Die Brüder dürfen keinerlei Gewalt (auch keinen psychischen Druck) auf Samira ausüben. Es werden Wege überlegt, wie gemeinsam mit der Familienhilfe pädagogisch interveniert werden kann, wenn sich die Familie zu viele Sorgen um Samira macht. ȤȤ Der Vater wird der Mutter gegenüber keine Gewalt mehr ausüben. Wenn er merkt, dass sein psychischer Druck steigt, verlässt er die Situation. Er berichtet von einem Freund, bei dem er dann wohnen kann. ȤȤ Der Vater überlegt, sich einer Gruppe mit arabischen Vätern anzuschließen. ȤȤ Gemeinsam mit dem Hilfesystem wird versucht, Samira als Dolmetscherin durch Professionelle zu ersetzen. ȤȤ Es wird eine Unterstützung bei Behördengängen und -korrespondenz vereinbart. ȤȤ Die Familie bleibt im Prozess, eine gemeinsame Geschichtsschreibung zu entwickeln. ȤȤ Samiras Ausgangszeiten werden stärker den Bedürfnissen des Mädchens angepasst. ȤȤ Mit der Schule wird eine enge Zusammenarbeit geplant, damit sofort interveniert werden kann, wenn Samira nicht zur Schule geht. ȤȤ Durch den schulpsychologischen Dienst wird (nicht nur bei Samira) eine Testung vorgenommen, um herauszufinden, ob die Kinder in der Schule überfordert sind bzw. wie ihnen bei Konzentrationsschwierigkeiten geholfen werden kann.
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3.2.3 Gewalt
In der psychosozialen Arbeit gehört die Arbeit mit Gewalttätern und -täterinnen zu den größten Herausforderungen. Oft werden deshalb die »Täterseiten« der Beratenen willentlich tabuisiert (vgl. Kosijer-Kappenberg, 2018, S. 100). In der Regel werden Fragen von Schuld und Verantwortungsübernahme nur dem Bereich der Täterarbeit übertragen. Eine Trennung von Täter- und Opferarbeit wird den Betroffenen und ihren Familiendynamiken in keiner Weise gerecht. Sie müssen jeweils bestimmte Gefühle und Handlungen verleugnen, um in einem gewissen Kontext in Beratung bleiben zu können, und können ihre Ambivalenz – in diesem Falle Samira als »Opfer« gegenüber den Tätern – nicht artikulieren, auch weil sie sonst vielleicht nicht länger geschützt werden. In diesem Bereich der unterstützenden Arbeit diese Ambivalenz auszuhalten, die sich in einer Hinwendung zum Täter zeigt, ist schwierig. Diese Überlegungen entheben in keiner Weise die Beratenden von einer klaren Haltung gegenüber gewaltvollem Handeln. Gewalt ist in keiner Weise zu tolerieren, dennoch ist der aufmerksame Blick auf die Genese in der Familie wichtig, um einen Veränderungsprozess auf den Weg bringen zu können. Es muss gewiss nicht betont werden, dass diese Fragen für jedes Gewalthandeln in jeder Familie gelten und keinesfalls nur geflüchtete Familien betreffen. Aber auch hier gilt, dass der Prozess der Migration den Umgang mit bestimmten Dynamiken erschwert. Die Jugendhilfe ist weniger konfrontiert mit geflüchteten Familien, die Gewalt ausüben, als vielmehr mit großen Ambivalenzen bei den Frauen, Töchtern und Söhnen, da die massiven Loyalitäts konflikte und Dynamiken von Schuld und Verantwortungsgefühlen es den Betroffenen erheblich erschweren, zu Lösungen zu kommen, die einen ausreichenden Schutz garantieren. Immer wieder werden mit großem Aufwand Schutzmaßnahmen erarbeitet, die dann nicht durchgehal-
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ten werden können. Daher ist es so wichtig, diese Ambivalenzen so früh wie möglich in die Prozesse miteinzubeziehen und nicht abzuwerten, wie es im Hilfesystem leider oft geschieht: »Sie hat es ja wieder nicht geschafft.« Die Jugendlichen beschreiben dieses Dilemma sehr anschaulich: »Wenn man sagt, man muss seine Eltern respektieren, ja klar, was mache ich, wenn meine Eltern schlecht sind, meine Eltern böse sind? Was mache ich dann? Bleibe ich trotzdem zusammen, oder löse ich mich ab? Ich kann damit nicht umgehen, dann versuche ich für mich, irgendwie eine gute Lösung zu finden« (Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018, S. 46). Für Samira bedeutete es eine große Entlastung, dass mit dem Vater und dem Bruder geredet wurde. So konnte sie ganz allmählich genug Vertrauen fassen, um die Gewalt auch in den Phasen anzusprechen, wenn sie eigentlich wieder nach Hause wollte. Vorher musste sie sie in diesen Zeiten immer massiv verleugnen und alle Aussagen in dieser Hinsicht zurückziehen. In Bezug auf den Bruder konnte an die Ausführungen von Heroes (www.heroes-net.de) angeknüpft werden. »Ein wichtiges Motiv zur Veränderung ist, dass sie nicht wollten, dass ihre Schwestern Angst vor ihnen kriegen und sie ablehnen, wenn es dann an die Ausübung der traditionellen Rollen geht. Sie wollten die Liebe behalten, fanden dies einen wichtigen Aspekt im Familiengefüge, in der Familienorientierung. Brüder können jedenfalls darüber angesprochen werden« (Dagmar Riedel-Breidenstein, 2019, in privater Korrespondenz). Für den Bruder war es entscheidend, als ihm deutlich gemacht wurde, dass er die Zuneigung Samiras verliert, wenn er einen solchen Druck ausübt. Die Unterscheidung zwischen Angst und Respekt wurde zu einem wichtigen Thema der Gespräche, die teils mit ihm allein, teils mit Samira zusammen stattfanden. Gleichzeitig konnten beide ihre Erinnerungen an
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die Flucht thematisieren und gemeinsame Wahrnehmungen abgleichen. Dadurch entstand wieder eine neue Emotionalität zwischen den Geschwistern. Über seine Foltererfahrungen konnte und wollte der Bruder nicht sprechen. Wahrscheinlich wären diese Berichte auch eine Überforderung für Samira gewesen. Zugleich hatte Samira Angst, nach dem Ursprung der Narben ihres Bruders zu fragen. Veränderungen konnten im Zusammenspiel zwischen Verstärkung von Empathie, Austausch persönlicher (Flucht-)Erfahrungen und eine klare Haltung gegenüber dem gewalttätigen Handeln erreicht werden. Beim Vater zeigte sich zunächst eine starke Relativierung und Bagatellisierung seiner ausgeübten Gewalt. Er definierte seine Handlungen keineswegs als Gewalt. Er habe selbst etwas ganz anderes als staatliche, aber auch häusliche Gewalt erlebt. Diese Sichtweise konnte nur teilweise überwunden werden. Dabei war es wichtig, das (Mit-)Erleben häuslicher Gewalt durch die Kinder zu thematisieren und zu verdeutlichen, dass auch im Herkunftsland die Kinderrechte mit einer klaren Absage an Gewalt unterschrieben wurden. Der gesellschaftliche Wandel findet in dieser Hinsicht überall statt. Die Mutter formulierte nach einem halben Jahr sehr deutlich, es gebe keine Gewalt mehr durch den Vater, er habe Angst davor, dass Samira dann erneut gehen würde. Dies spricht zwar nicht von einem internalisierten Wandel, doch konnte die Mutter Samira danken, dass sie durch ihr Weglaufen den Veränderungsprozess in der Familie in Gang gebracht hatte.
3.3 Familienzusammenführung Seit März 2016 sind subsidiär Schutzberechtigte (inklusive unbegleiteter Minderjähriger) nach § 104 Abs. 13 AufenthG für zwei Jahre vom Anspruch auf Familiennachzug ausge-
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nommen (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], United Nations Children’s Fund [UNICEF], 2017). Damit verschwindet für den größten Teil der jungen Menschen die Möglichkeit, die Eltern zu sich zu holen, da nach Vollendung des 18. Lebensjahrs der Elternnachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG entfällt, die Mehrzahl der Geflüchteten jedoch nicht vor dem 16. Lebensjahr in Deutschland ankommt (Huber u. Lechner, 2017). Dass eine Familientrennung starke psychosoziale Belastungen auslösen sowie zur Verfestigung von Traumatisierungen führen kann, ist durch diverse internationale Studien belegt. Als einer der Hauptgründe für Depressionen, Konzentrations-, Angst- und Somatisierungsstörungen wird von Geflüchteten selbst die stetige Sorge um ihre Familienmitglieder angegeben (BumF u. UNICEF, 2017). Die Gesetzesänderung zur Aussetzung des Familiennachzugs beruht auf der Schätzung, dass pro geflüchteter Person drei bis sieben Personen nachziehen. Die Zahl der Anträge auf Familiennachzug laut Auswärtigem Amt ist jedoch erheblich niedriger: »Von 360.000 anerkannten Flüchtlingen aus Syrien und Irak im Zeitraum 2015 bis Mitte 2017 wurden bisher 102.000 Visa an Familienmitglieder erteilt und 70.000 Anträge befinden sich derzeit in Bearbeitung. Rechnerisch ergibt sich aus diesen Zahlen ein Nachzugsfaktor von 0,5« (BumF u. UNICEF, 2017, S. 5). Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass damit ein expliziter Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 UN-KRK (UN-Kinderrechtskonvention) vorliegt, der verpflichtet, »von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise […] wohlwollend, human und beschleunigt zu bearbeiten«. Diese Gesetzesänderung steht damit im Kontrast zu kinderrechtlichen Belangen. Um in jenen Fällen, in denen die Chance entsteht, die Möglichkeit der Familienzusammenführung mit ihren Anforderungen an alle Beteiligten auf unterschiedlichen Ebe-
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nen gut zu begleiten, muss die Jugendhilfe diese Aufgabe angemessen wahrnehmen. Dabei ist es wichtig, die Familienzusammenführung als Prozess zu verstehen und sich dabei zu vergegenwärtigen, welche Bedarfe sich vor, während und nach der Familienzusammenführung ergeben. 3.3.1 Ausgangslage auf rechtlicher Ebene4
Familiennachzug nach Entscheidung durch das BAMF. Nachzug (aus dem Heimatland oder einem Transitland) zum anerkannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtling (§ 3 AsylG): Auf den Nachzug zum anerkannten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gibt es einen Rechtsanspruch für die Eltern (§ 36 Abs. 1 AufenthG), ohne dass der Lebensunterhalt für die Eltern gesichert sein muss oder eine ausreichend große Wohnung vorhanden ist. Minderjährige Geschwister können nur bei gleichzeitigem Nachzug mit den Eltern nachkommen (§ 32 Abs. 1 AufenthG) oder bei Vorliegen einer »außergewöhnlichen Härte« (§ 36 Abs. 2 AufenthG). Für den Geschwisternachzug sind die Lebensunterhaltssicherung und ausreichender Wohnraum Voraussetzung, Ausnahmen sind nur in seltenen Fällen möglich. Nachzug (aus dem Heimatland oder einem Transitland) zum subsidiär schutzberechtigten unbegleiteten minderjäh rigen Flüchtling (§ 4 AsylG): Im Wege des Ermessens können die Eltern nachziehen, wenn bestimmte besondere humanitäre Gründe vorliegen (§ 36a AufenthG). Minderjährige Geschwister können gleichfalls bei gleichzeitigem Nachzug mit den Eltern mitkommen (§ 32 Abs. 1 AufenthG) oder bei Vorliegen einer »außergewöhnlichen Härte« (§ 36 Abs. 2 AufenthG). Für den Geschwisternachzug sind die Lebensunterhaltssicherung und ausreichen4 Dank an Ronald Reimann für die juristische Überarbeitung.
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der Wohnraum Voraussetzung, Ausnahmen sind nur in seltenen Fällen möglich. Nachzug auf Grundlage von § 22 AufenthG: In sehr wenigen Fällen kann das Auswärtige Amt im Rahmen einer Einzelfallprüfung den Nachzug von Eltern und Geschwistern in Fällen zulassen, bei denen die normalen Nachzugsregelungen nicht greifen, aber besondere »völkerrechtliche oder dringende humanitäre Gründe« (§ 22 Satz 1 AufenthG) vorliegen. In der Praxis kommt diese Vorschrift kaum zur Anwendung. Familienzusammenführung im laufenden Asylverfahren. Wenn die Familie außerhalb der EU lebt, ist eine Familienzusammenführung legal nicht möglich. In der sogenannten Dublin-III-Verordnung (EU-Verordnung Nr. 604/2013) ist festgelegt (Art. 8 iVm Art. 6), dass unbegleitete Minderjährige, die einen Asylantrag gestellt haben, zu ihren innerhalb der EU sowie in Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein lebenden Eltern oder Geschwistern geschickt werden, wenn diese dort einen Asylantrag gestellt haben. Ferner können Eltern, die in einem EU-Staat sowie in Island, Norwegen, Schweiz und Liechtenstein einen Asylantrag gestellt haben, zu ihren in einem anderen EU-Staat lebenden minderjährigen Kind geschickt werden. Beide Konstellationen werden von den zuständigen Asylbehörden geprüft, wenn ein Asylantrag gestellt worden ist, und bedeuten zunächst nur, dass die Familie bei positiver Zuständigkeitsentscheidung zusammen das Asylverfahren durchführt. Ob die Familie dann dauerhaft bleiben darf, hängt von der inhaltlichen Entscheidung im Asylverfahren ab. Familienzusammenführung nach einem negativen Abschluss eines asyl- oder aufenthaltsrechtlichen Verfahrens mit einem Duldungsstatus. Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel! Die Möglichkeit, einen erfolgreichen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlangen, ist deutlich einge-
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schränkt, weil sämtliche Tätigkeiten genehmigt werden müssen, die in Abhängigkeit einer Ermessensentscheidung durch die Ausländerbehörde stehen (Gravelmann, 2017). Auf legalem Wege ist keine Familienzusammenführung möglich. 3.3.2 Ausgangslage der Kinder und Jugendlichen
Ein großer Anteil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen erhält bereits bei der Entscheidung, sie auf den riskanten Weg nach Europa zu schicken, den Auftrag, die Familie nach der Ankunft abzusichern. Der Auftrag besteht in erster Linie darin, Geld zu akquirieren, das ins Herkunftsland geschickt werden soll, oder aber die Restfamilie nachzuholen. Häufig haben die Familien die Kinder und Jugendlichen aus extremen Gewaltsituationen unter Aufbringen aller persönlichen Ressourcen gerettet. Der Anspruch an die jungen Menschen ist daher hoch. Viele Jugendliche leiden jedoch zunächst vor allem unter dem Verlust ihrer Familie und ihrer sozialen Bezüge im Herkunftsland und versuchen daher, so schnell wie möglich einen Weg zu finden, die Familie nachzuholen. Die Situation in einem fremden Land mit in der Regel fremder Sprache und den vielen dort anstehenden Entscheidungsprozessen muss überfordern. Zu verstehen, wie sich ihre rechtliche Situation gestaltet und welche legalen Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen, fordert komplexe Fachkenntnisse. Die Jugendlichen jedoch sind zunächst mit den Anforderungen des Lebens im Aufnahmeland in der Jugendhilfe beschäftigt: Sprache lernen, Abläufe und Regelungen verstehen, sich an Kommunikationsmuster anpassen. Wie bereits erwähnt, ist die Selbstständigkeit, sich durchzuschlagen, nicht gleichzusetzen mit der Selbstständigkeit, sich neue Perspektiven in einem fremden Land zu erarbeiten (AGJ, 2016). Ein neues Leben
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aufzubauen, während gleichzeitig zahlreiche Belastungen, eine Anpassung an eine neue Umgebung und der Aufbau von Beziehungen bewältigt werden müssen, ist eine große Aufgabe. Da die rechtlichen Wege in der Regel ein bis zwei Jahre dauern, müssen komplexe Anträge gestellt und ein langes Verfahren bewerkstelligt werden. Die Sprachanpassung ist zu dem Zeitpunkt meist recht gut gelungen, wie Girke (2017) festhält, da das Erlernen der Sprache von den meisten Jugendlichen als zentrales Thema nach ihrer Ankunft gesehen wird. Auch haben die meisten eine Perspektive in Bezug auf Schule und Ausbildung entwickelt. Sie wurden dabei jedoch durch die Jugendhilfe begleitet. Wenn die Familie nachkommt, dreht sich das System um 180 Grad – äußerlich wie innerlich. Die Unterstützungen fallen weg, aber auch die Freiheiten der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Taschengeld, Hobbys, Ausgangszeiten). Nach der ersten großen Freude nehmen die Jugendlichen nicht selten wahr, dass sie plötzlich die Verantwortlichen sind, ein Parenti fizierungsprozess setzt ein. Zudem besteht die Gefahr eines Ortswechsels, weil viele Familien nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt werden, was ein Herausreißen aus allen aufgebauten Strukturen und den Verlust aller haltgebenden Ressourcen bedeuten kann. Gerade zu diesem Zeitpunkt sind die Kinder aber besonders auf ihr schon aufgebautes Unterstützungssystem angewiesen. Für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hat dies daher weitreichende Folgen. 3.3.3
Psychische Ausgangslage der Eltern
Für die Eltern ist schwer nachvollziehbar, warum der Prozess der Familienzusammenführung so lange dauert: »Will mein Kind nicht mehr, dass wir kommen?« Kinder und Jugendliche können daher bereits im Vorfeld stark unter
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Druck gesetzt werden. Dies belastet beide Seiten sehr. So ist es für Eltern beispielsweise nicht verständlich, dass sie nur nachkommen können, wenn sie Papiere haben, die es in einigen Ländern üblicherweise jedoch nicht gibt. Angesichts der oben beschriebenen Rechtslage haben ohnehin nur wenige Jugendliche die Möglichkeit, legal ihre Familien nach Deutschland nachholen zu können. Hinzu kommt, dass die Eltern in der Zeit, in der ihr Kind in der Jugendhilfe im Aufnahmeland lebt, keinen Einfluss auf dessen Erziehung und Perspektivplanung nehmen können. Oft entstehen daraus für die Kinder und Jugendlichen widersprüchliche Aufträge: »Mach eine gute Ausbildung und schick uns Geld«, »Pass dich gut an, lerne schnell die Sprache und behalte deine Herkunftskultur in jeder Hinsicht«, »Frage mich bei wichtigen Entscheidungen und halte dich an das, was dir von den Erwachsenen in deiner Einrichtung gesagt wird«. Gleichzeitig machten und machen sich die Eltern auch große Sorgen um ihre Kinder, besonders während der Flucht, und ihre Sehnsucht, sie wieder unter ihren Schutz nehmen zu können, ist immens. Insgesamt betrachtet entsteht aus den verschiedenen Situationen eine komplexe Erwartungsgemengelage. Sinnvoll wäre daher, bereits im Vorfeld der Zusammenführung Kontakt herzustellen zwischen den für die Kinder bzw. Jugendlichen Verantwortlichen und den Eltern. Damit könnte frühzeitig eine auf den Einzelfall bezogene Unterstützung konzipiert werden. Den Eltern fiele es leichter, sich ein Bild davon zu machen, mit wem es ihr Kind zu tun hat, und einer eventuellen Konkurrenz könnte vorgebeugt werden. Die Fachkräfte wüssten, auf Grundlage welcher emotionalen Verbindung, aber auch politischen Lage die Kinder bzw. Jugendlichen mit den Eltern kommunizieren. Letzteres hat zudem beachtlichen Einfluss auf aufenthaltsrechtliche Belange.
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3.3.4 B edarfe bei der Zusammenführung: »Alles soll so werden wie früher, aber das wird es nicht«5
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Bei der Ankunft der Eltern kommt es zu einer Reihe von Belastungssituationen, die zu massiven Eskalationen zwischen Eltern und Kindern führen können. Fachkräfte müssen diese Situation in den Fokus nehmen und die Kinder darauf vorbereiten, was auf sie zukommen und was sich verändern kann. Früh sollten auch Ansprechpartner und -partnerinnen bekannt sein. Günstig wäre auch, mit den Eltern bereits eine Kommunikation aufzubauen, da sich wahrscheinlich eine Reihe von Problemen anbahnen wird. Wenn die Familie zusammen wohnt, bedeutet das in den meisten Fällen den Verlust eines eigenen Zimmers, einer Privatsphäre, an die sich die Kinder bzw. Jugendlichen vielleicht gerade erst gewöhnt haben und die oftmals in überfordernden Situationen eine Rückzugsmöglichkeit geboten hat. Die bereits angesprochene Ambivalenz, dass die Familie für die Jugendlichen eine wichtige Kraftquelle darstellt, aber auch Konflikte und anhaltender Stress aus den beengten und herausfordernden Situationen entstehen, kann Jugendliche sehr belasten (siehe oben, vgl. Keilson, 1979/2005; Lechner u. Huber, 2017). Belastend können auch Situationen sein, in denen Mütter bereits mit Kindern im Aufnahmeland leben und der Vater nachkommt. In der Folge gibt es nachweislich erhöhte Scheidungsraten (Aussage von Lina Ganama, Al Nadi Nachbarschaftsheim Schöneberg, beim Fachtag »Gewalt, Geschlecht, Trauma« der Psychotherapeutenkammer Berlin, 22.01.2016 in Berlin). Mädchen verlassen eventuell die Familie, weil sie den patriarchalen Ansprüchen, die wieder neu in der Familie eingeführt werden, nicht länger entsprechen können und wollen. Insgesamt tritt dann häufig eine Überforderung der Kinder auf, da sich die Fa5 Schneider, 2019, o. S.
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milienmitglieder in einem unterschiedlichen Stadium des Ankommens befinden und ihnen die Aufgabe der Vermittlung der Ansprüche des Aufnahmelandes und vor allem der Sprachmittlung zufällt (Gerarts et al., 2016). Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Anforderung, sich wieder als Kind dem familiären Hierarchiesystem unterzuordnen einerseits und Erwachsenenaufgaben zu übernehmen andererseits. Das Rollenverständnis innerhalb der Familie muss daher ganz neu gefunden werden und unterliegt einem schwierigen Entwicklungsprozess, je nachdem, wie schnell auch die Eltern sich im neuen System zurechtfinden. Von den Tendenzen zur Parentifizierung war bereits die Rede. Ein weiterer zentraler Punkt, der eine große Verantwortlichkeit auf die unbegleiteten Geflüchteten überträgt, ist der Paragraf § 25a AufenthG. Wenn sie eine gute Integration in die deutsche Gesellschaft nachweisen, kann über diesen Paragrafen eine Aufenthaltsgestattung für die gesamte Familie erfolgen. Thiele (2018) kritisiert dies deutlich: »Kindeswohlgefährdungen, die in anderen Fällen zu Jugendhilfemaßnahmen führen würden, werden […] als normal hingenommen und führen zu strukturellen Ausschlüssen minderjähriger Geflüchteter und ihrer Familien aus dem Hilfespektrum des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII)« (S. 118). Auch Kindler (2014) stellt fest, dass Kinderschutz nur dann verstärkt greift, wenn Themen wie (drohende) Genitalverstümmelung bei Mädchen, Zwangsverheiratung oder andere schwere Restriktionen von Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit im Raum stehen. 3.3.5 Aufgabe der Jugendhilfe
Wichtige Grundregeln des professionellen Umgangs mit der Situation des Familiennachzugs sind die Verhinderung der Kulturalisierung von »Problemen« und eine Konkurrenz im Sinne von »wir Fachkräfte sind die besseren Erzie-
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Alles anders, alles gleich
henden« zu vermeiden. Eltern haben ein Recht, ihre Kinder zu erziehen, und müssen dabei tatkräftig unterstützt werden. In erster Linie geht es daher um eine Entlastung aller Familienangehörigen, um eine qualifizierte psychosoziale Begleitung und Unterstützung, bei der der jeweilige weitergehende Bedarf im Einzelfall abgeklärt wird. Dies bedeutet ein anderes Ankommen in der Aufnahmegesellschaft für die Eltern, wenn offen und im Interesse einer gegenseitigen Zusammenarbeit Unterstützung angeboten wird. Dadurch wird den Kindern und Jugendlichen die Last der parentifizierten Vermittlungsposition genommen. Wenn die Eltern dagegen von vornherein mit einem kritischen Blick auf ihr Erziehungsverhalten konfrontiert sind, kann Unterstützung nur als Kontrolle und Machtausübung wahrgenommen werden. Das System der Jugendhilfe unterstützt jedoch dieses Gefühl, da Unterstützung nur bei einer defizitären Auffälligkeit der Kinder gewährt wird. Eine Mutter berichtet: »Durch dein Schulschwänzen haben wir die Unterstützung bekommen, dass wir uns alle hier zurechtfinden.« Der Blick sollte sich daher nicht nur darauf richten, wie Problemlagen zu beheben sind, sondern auch darauf, welche Möglichkeiten geboten werden können, als Familie einen guten Prozess des Ankommens und Fortentwickelns zu durchlaufen. So sollte beispielsweise abgeklärt werden, dass (und welche) sprachkundige Personen der Familie zur Verfügung stehen, damit den Kindern und Jugendlichen nicht diese Rolle zugeschrieben wird. Häufig wird ein massiver Leistungsabfall in der Schule erlebt, weil die Kinder und Jugendlichen zum Übersetzen zu Behördengängen und Arztbesuchen hinzugezogen werden (Gerarts et al., 2016). Negativ wirkt sich aus, dass die Jugendhilfe keinen Einfluss auf eine angemessene Unterkunft der Familie hat. Die Möglichkeit des eigenen Wirtschaftens und Kochens hat
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jedoch eine extrem wichtige Auswirkung auf die Familiendynamik. Der Gestaltungsrahmen ist oft so eingeschränkt, dass es in den Familien zu starken Stressentwicklungen kommt. Fehlende oder unpassende Freizeitgestaltungsmöglichkeiten und das Arrangement um die von vielen Familien gemeinsam genutzten Räume führt regelmäßig zu Problemen. Auch mit dem Personal in Großeinrichtungen gibt es oftmals schwere Konflikte mit teilweise körperlicher Gewaltausübung (Lechner u. Huber, 2017). Für viele Jugendliche bedeutet dies, mit ihrer Familie im »Flüchtlingssystem« quasi wieder von vorne anzufangen. Das Kraftpotenzial erschöpft sich zunehmend in komplexen und hindernisgeprägten Alltagsvollzügen. Die Frage der alltäglichen strukturellen Diskriminierung ist daher immer wieder in den Hilfeprozess einzubeziehen, um sich in diesem Machtgefüge zumindest politisch parteilich zu positionieren. Bei der Zusammenfassung der verschiedenen Bedarfe zeigt sich zudem, dass diese nicht allein durch das Jugendhilfesystem gedeckt werden können. Im Rahmen der Familienzusammenführung bedarf es einer ressortübergreifenden Finanzierung interdisziplinärer Zusammenarbeit. Nur dies kann zu einer wirklichen Entlastung der Kinder und Jugendlichen führen.
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4 Minderjährige Geflüchtete in der Schule
»Ich würde ihnen am Anfang erst einmal das deutsche Schulsystem erklären. Sowohl den Eltern als auch den Jugendlichen. Wie es hier funktioniert. Zumindest für das Bundesland, in dem sie leben. Welche Möglichkeiten sie haben.« (Fachkraft der Kinder- und Jugendhilfe in einem Interview)
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Grundsätzlich garantieren die UN-Kinderrechtskonventionen, das EU-Recht und das Grundgesetz allen Minderjährigen das Recht auf Bildung (Daschner, 2017). Die Umsetzung der Schulpflicht in Deutschland ist in den Schulgesetzen der jeweiligen Bundesländer geregelt, sodass 16 unterschiedliche Herangehensweisen existieren (eine umfassende Übersicht wurde 2015 durch das Mercator-Institut erstellt: Massumi et al., 2015). Für minderjährige Geflüchtete muss an dieser Stelle unterschieden werden zwischen Schulpflicht und Schulbesuchsrecht sowie dem Zeitpunkt, zu dem dieses Recht bzw. diese Pflicht eintritt. Beispielsweise unterliegen in Baden-Württemberg alle Asylbewerberinnen und Asylbewerber (aus den Gesetzen übernommene Begriffe) der Schulpflicht, allerdings erst ab sechs Monaten nach dem Zuzug, in Berlin hingegen ohne Einschränkung der allgemeinen Schulpflicht (Massumi et al., 2015). Diverse Verordnungen, Erlasse und Verwaltungsvorschriften der jeweiligen Bundesländer formulieren Rahmenbedingungen für Schulämter, Schulen, Schulleitungen bzw. Lehrkräfte. Trotz vieler Gemeinsamkeiten innerhalb der einzelnen Bundesländer gibt es für die Schulen kaum zwingende Vorgaben, sondern eher Orientierungen und Empfeh-
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lungen, die viel Spielraum für die Auslegung und Umsetzung offen lassen (Bär, 2016; Massumi et al., 2015). So wird nachvollziehbar, dass trotz der Regelung der Schulpflicht und des damit bestehenden Rechtsanspruchs auf einen Schulplatz die Praxis und die Umsetzung in den Schulen oft anders aussehen. Auch für die AnkER-Zentren – die Abkürzung AnkER steht für Ankunft, Entscheidung und Rückführung –, die von verschiedenen Organisationen kritisch hinterfragt werden (Klöckner, 2018; Bayerischer Flüchtlingsrat, 2018; Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], 2018a), liegt bis heute keine verbindliche und einheitliche Regelung für die Umsetzung des Rechts auf Bildung vor. Das Thema Schulbesuch blenden einige Zentren komplett aus, andere richten sogenannte Teilbeschulungen ein, die auf ein paar Stunden Deutschunterricht beschränkt sind, wieder andere kommen ihrer Pflicht nach und organisieren den Schulbesuch der Kinder und Jugendlichen. Durch die Kinder- und Jugendhilfe wurden 2017 insgesamt 22.492 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Obhut genommen (2016 waren es 44.935), davon waren 72 % zwischen 16 und unter 18 Jahren alt (Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge [BumF], 2018c). Neben den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten gibt es noch die oft vergessene Gruppe der begleiteten minderjährigen Geflüchteten in der Jugendhilfe. Hierbei handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die zwar gemeinsam mit ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten einreisten, aber in der stationären Jugendhilfe untergebracht sind. In der Fachliteratur wird diese Personengruppe wenig (bis gar nicht) als eigenständige Gruppe berücksichtigt bzw. eine Unterscheidung zwischen begleiteten und unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in der Kinder- und Jugendhilfe mit ihren jeweils eigenen Themen und Bedarfen ungenügend in den Blick genommen.
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Minderjährige Geflüchtete in der Schule
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete wurden von ihren Familien auf den Weg nach Europa oder Deutschland geschickt, sind ohne Eltern geflohen oder wurden von ihren Familien getrennt. Teilweise kamen sie mit Erwartungen nach Deutschland, die sie aufgrund der Rechtslage nicht umsetzen konnten (Bär, 2016; Thomas et al., 2018). Gegebenenfalls lebt die Familie noch im Herkunftsland oder blieb in einem Land auf dem Weg nach Deutschland zurück, es besteht Kontakt, und es werden Erwartungen an die Jugendlichen formuliert (siehe auch Kapitel 3 Familienzusammenführung). Zudem muss dieser Kontakt oft heimlich gepflegt werden, weil die Jugendlichen befürchten müssen, zurückgeschickt zu werden, sobald die Ausländerbehörde davon erfährt. Sie mussten auf ihrem Weg schwierige Hürden überwinden, Entscheidungen fällen und sich an unterschiedliche Situationen und Menschen anpassen, um ihr Ziel zu erreichen. In Deutschland angekommen, sind sie auf sich gestellt. Sie werden in Obhut genommen und nach dem Clearing-Verfahren stationär untergebracht. Von diesem Zeitpunkt an sind die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe mit ihrem Fach- und Systemwissen für sie ansprechbar und vertreten ihre Interessen auch gegenüber der Schule. Begleitete minderjährige Geflüchtete konnten den Weg nach Deutschland gemeinsam mit ihren Eltern bewältigen. Erst nach der Ankunft sind sie aus diversen Gründen in der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht worden. In diesen Fällen sind neben den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe auch die Eltern grundsätzlich mitzudenken, an Elterngesprächen in der Schule bei Bedarf inklusive Dolmetscherinnen und Dolmetscher zu beteiligen und in die Zukunftsplanung der Kinder und Jugendlichen miteinzubeziehen.
Herausforderungen für die Schülerinnen und Schüler69
4.1 Herausforderungen für die Schülerinnen und Schüler »Dann die Geschichte mit der Flucht, was sie alles auf der Flucht erlebt haben, also Krieg und so. Sie sind psychisch so beeinträchtigt, dass sie es einfach nicht schaffen. Manchmal haben sie solche Schwierigkeiten, über Nacht zu schlafen. Also am nächsten Tag, wenn man in der Nacht nicht gut geschlafen hat oder schlecht einschlafen kann, sie haben Alpträume, dann ist es am nächsten Tag für sie natürlich schwierig aufzustehen und in die Schule zu gehen, weil sie müde sind. Dann sind da Eltern, die von ihnen irgendeine Leistung erwarten, dann die Gesellschaft: ›Da haben wir dich schon eingeschult‹, und auch wegen des Aufenthalts müssen sie das mit der Schule schaffen. Das ist natürlich auch etwas, was ihnen zusätzlich Angst macht. Dieser Leistungsdruck ist schwer auszuhalten.« (Fachkraft der Kinder- und Jugendhilfe in einem Interview)
Mit hoher Wahrscheinlichkeit waren und sind minderjährige Geflüchtete in der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne des Konzepts der sequenziellen Traumatisierung nach Keilson (1979/2005; vgl. ausführlich Gahleitner et al., 2017) traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, sie trauern, erleben einen »Kulturschock«, sind »sprachlos« und müssen mit einem zerbrochenen Familiensystem umgehen (Shah, 2017; Thomas et al., 2018). Wie nachhaltig diese vielen belastenden Ereignisse wirken und wie schwer oder weniger schwer es den Kindern und Jugendlichen fällt, mit diesen Erfahrungen umzugehen bzw. wie stark sie in ihrem Erleben und Wirken dadurch eingeschränkt sind, hängt u. a. von verschiedenen vergangenen und gegenwärtigen Resilienzfaktoren ab. Kleefeldt (2018) beschreibt Resilienz als die Summe von (Über-)Lebenswille, (Über-) Lebensfähigkeiten und (Über-)Lebensmöglichkeiten, die von inneren und äußeren Faktoren beeinflusst und einer ständigen Veränderung unterworfen sind. Wichtig ist, Kinder und Jugendliche nicht auf diese Faktoren zu re-
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duzieren und sich bewusst zu machen, dass diese sich von Situation zu Situation unterscheiden können (Kleefeldt, 2018). Bereits im Kapitel »Ressourcen – häufig vergessen, missachtet oder funktionalisiert« (Kap. 1.5) wurde darauf verwiesen, dass die Kinder und Jugendlichen sich zwar in prekären Situationen befinden, aber auch aktive und kompetent handelnde Menschen sind, die sich schwierigen Situationen anpassen und sie bewältigen konnten (Thomas et al., 2018). Ein Blick in die Literatur macht deutlich, dass der Schule eine zentrale Rolle im Prozess des Ankommens zugesprochen werden muss. Die Kinder und Jugendlichen können dort die Sprache des Ankunftslandes lernen, Kontakte knüpfen und kulturelle Gepflogenheiten kennenlernen (McElvany, Jungermann, Bos u. Holtappels, 2017; Thomas et al., 2018; Seibold u. Würfel, 2017). Für ein erfolgreiches Ankommen (was auch immer das heißen mag) müssen die Jugendlichen eine gesellschaftliche Teilhabe erlangen und in vielfältigen Varianten vertiefen, z. B. über formale Bildungsabschlüsse und lebenspraktisches Wissen (Thomas et al., 2018). Trotz der Auswirkungen der starken Belastungen müssen sie angemessen mit den vielen neuen Eindrücken, den unterschiedlichen Institutionen, aber auch dem Asylverfahren umgehen (Daschner, 2017). An dieser Stelle gibt es – zumindest für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – keine Eltern, die diesen Teil der rechtlichen Situation übernehmen oder auffangen. Wiederum ist für beide Personengruppen die Angst vor der Abschiebung in das Herkunftsland dauerhaft präsent (Thomas et al., 2018; Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018). Ausgrenzung und Rassismus gehören zur Tagesordnung (siehe auch Kapitel 6 »Em powerment, Partizipation und Selbstorganisation«), und die Erfahrung des Fremdseins ist allgegenwärtig (Thomas et al., 2018).
Herausforderungen für die Schülerinnen und Schüler71
Zu hinterfragen ist die »Funktion« der Schule als Allokation, Herstellung und Verteilung der Arbeitskräfte und damit einhergehend auch die Selektion zur Aufrechterhaltung der normierten sozialen Ordnung (Raithel, Dollinger u. Hörmann, 2007/2009; Abels, 2019). Demzufolge beeinflusst die Schule aber Kinder und Jugendliche maßgeblich in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit und der Integration in die Gesellschaft. Als sekundäre Sozialisationsinstanz spielt die Erfahrung des Fremdseins in der Schule eine zentrale Rolle und wird durch mangelnde Sprachkenntnisse und segregierte Beschulung verstärkt. Von Teilhabe und sozialer Inklusion kann an dieser Stelle in der Regel kaum gesprochen werden (Dewitz u. Massumi, 2017). Bezogen auf das schulische Vorwissen herrscht unter den minderjährigen Geflüchteten aus unterschiedlichen Gründen große Heterogenität (Thomas et al., 2018; Dewitz u. Massumi, 2017). Obwohl das Thema der neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler bereits seit den 1970er Jahren in das deutsche Schulsystem Einzug gehalten hat (Bär, 2016) und seit vielen Jahren verbind liche Curricula und Tests zur Feststellung der Lernausgangslage gefordert werden, gibt es hierfür noch keine Lösung. Eine gemeinsame Beschulung von Schülerinnen und Schülern, die sich in einem Leistungsspek trum von Alphabetisierung bis zum Gymnasialniveau bewegen, führt also automatisch bei einigen der Kinder und Jugendlichen zu einer Überforderung, bei anderen zu einer Unterforderung. Darüber hinaus können auch Traumata und Stress z. B. in Form von Konzen trationsschwierigkeiten, Müdigkeit, Aggressivität, Passivität und Vergesslichkeit zu Lernschwierigkeiten und auffälligem Verhalten führen (Wagner, 2017) und sich somit auf die Lerneffizienz und -motivation auswirken (Thomas et al., 2018).
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Minderjährige Geflüchtete in der Schule
Dauerhafte Fremdheitserfahrungen und wenig Erfolgserlebnisse münden teilweise in Frustration, Resignation bis hin zu chronischer Demotivation (Thomas et al., 2018, S. 183). Mit der Familie können die jungen Geflüchteten diese Differenzen und die eigenen Verunsicherungen bzw. Ambivalenzen zwischen Herkunftsund Ankunftsland, vertreten durch die Institution Schule, kaum besprechen. In der Jugendhilfe sollte diese Möglichkeit gegeben sein. Aber auch wenn sich die Jugendlichen anpassen, assimilieren und in der Schule als »gut integriert« gelten, machen sie die Erfahrung von struktureller Diskriminierung. Eine aktuelle Kurzanalyse hat ergeben, dass der Anteil minderjähriger Geflüchteter, die eine Berufsschule oder eine Schule mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen, im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern ohne Zuwanderungshintergrund deutlich erhöht ist, etwa ein Drittel der 17-Jährigen besucht gar keine Schule mehr (Paiva Lareiro, 2019). Zusätzlich wirken Geschlecht und Herkunftsland der minderjährigen Geflüchteten auf ihren Bildungsverlauf (Paiva Lareiro, 2019; Bär, 2016), und der Zugang zu Bildung und Spracherwerb wird mit zunehmendem Alter schwieriger (Nordheim, Karpenstein u. Klaus, 2017). Die Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe birgt den positiven Effekt eines unterstützenden und begleitenden Netzwerks, eine schnellere Bearbeitung von Schulproblemen und eine passgenauere Organisation von Förderunterricht, die sich jeweils positiv auf den Schulverlauf und die Schulleistungen auswirken.
Rolle der Schule und Lehrkräfte73
4.2 Rolle der Schule und Lehrkräfte »Das ist eine sehr wichtige Erfahrung, dass es da Menschen, Lehrer, Sozialarbeiter, gibt, die sie unterstützen. Viele wurden noch nie gefragt, was sie möchten, was sie sich wünschen. Das ist für sie eine positive Erfahrung. Ja, und das macht das Ankommen in dieser Gesellschaft, die Integration einfacher.« (Fachkraft der Kinder- und Jugendhilfe in einem Interview)
Lehrkräften muss bei der Integration minderjähriger Geflüchteter, beim Ankommen in Deutschland und bezüglich der Teilhabemöglichkeit innerhalb der Gesellschaft eine besondere Rolle zugesprochen werden. Sie sind neben den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Behörden und Aufnahmeeinrichtungen die ersten, die einen intensiven Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen haben (sollten) und einen enormen Einfluss auf den beruflichen Werdegang und somit auf die gesamte Zukunft haben. Die Hürden auf diesem Weg können in verschiedene Bereiche geteilt werden: die gesetzlichen Vorgaben und deren Umsetzung, die Lehrer-Schüler-Beziehung in Verbindung mit Migrationspädagogik, die Einbindung in die Schulgemeinschaft und das Lernen im Unterricht (Zahrnt, 2017). Abgesehen davon, dass der Begriff »Integration« grundsätzlich zu hinterfragen ist, wird der Terminus in der Fachliteratur wie auch in diversen Leitfäden immer wieder im Zusammenhang mit minderjährigen Geflüchteten an der Schule verwendet. Obwohl inklusive Schulen bereits vor zehn Jahren initiiert wurden, schließt der Inklusionsbegriff im allgemeinen Verständnis offenbar minderjährige Geflüchtete oft nicht ein.
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Minderjährige Geflüchtete in der Schule
4.2.1 Strukturelle Ausgangslagen »Es hängt viel vom Glück ab, ob die Jugendlichen auf eine gute Schule kommen.« (Fachkraft der Kinderund Jugendhilfe in einem Interview)
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Abhängig davon, ob minderjährige Geflüchteten begleitet oder unbegleitet ankommen, existieren unterschiedliche Wege bis zur schulischen Zuweisung. Grundsätzlich erfolgt die Meldung an das Schulamt nach der Registrierung in der jeweiligen Unterkunft (Chevreux u. Feltes, 2017). Begleitete minderjährige Geflüchtete werden also in der Regel nach Einzug in die Not-, Erstaufnahme- oder Gemeinschaftsunterkunft dem Schulamt gemeldet. Die Zuweisung an eine Schule bzw. in eine Willkommensklasse dauert unterschiedlich lange, von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten. Sie hängt zusätzlich von der Umsetzung der Schulpflicht im jeweiligen Bundesland ab (siehe oben). Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden dagegen erst einmal vom Jugendamt in Obhut genommen und sollen innerhalb eines Monats über ein bundesweites Verteilungsverfahren gemäß § 42b SGB VIII einem Bundesland zugewiesen werden. Erfolgt die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb eines Monats oder wird aus verschiedenen Gründen von diesem Verfahren abgesehen, verbleiben sie in der Obhut des jeweiligen Bundeslands, das in Obhut nahm. Im Anschluss daran erfolgt ein Clearing-Verfahren, um die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten entsprechend ihren Bedarfen und den Kapazitäten innerhalb der Jugendhilfelandschaft auf die Einrichtungen zu verteilen (siehe auch Kapitel 1.3 »Unbegleitete minderjährige Geflüchtete«). In dieser Zeit besteht z. B. in Berlin zwar bereits die Schulpflicht, aber es erfolgt noch keine Schulzuweisung mit der Begründung, dass weder die bezirkliche Zuständigkeit des Jugendamts noch des
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4 Abbildung 1: Schulorganisatorische Modelle für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche (nach Massumi et al., 2015, S. 45)
Schulamts feststeht. Währenddessen werden die Jugendlichen – zumindest in Berlin – lediglich über Sprachkurse in den entsprechenden Übergangseinrichtungen beschult. Erst mit Ankommen in der zugewiesenen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt eine Meldung an das zuständige Schulamt. Durch das im Vorfeld langwierige Verfahren dauert die Zuweisung an eine Schule bzw. Willkommensklasse auch in diesen Fällen zwischen einigen Wochen und mehreren Monaten. Endlich in der Schule angekommen, erfolgt die Beschulung von minderjährigen Geflüchteten abhängig von dem jeweiligen Bundesland und der Ausgestaltung dieser Vorgaben durch jede einzelne Schule. Für den Spracherwerb in Schulen kann zwischen fünf schulorganisatorischen Modellen unterschieden werden (Abbildung 1).
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Minderjährige Geflüchtete in der Schule
In Berlin wurden beispielsweise sogenannte Willkommensklassen eingerichtet, die als paralleles Modell für eine bestimmte Zeit die Beschulung übernehmen und auf die Regelklasse vorbereiten sollen. An Gymnasien sind Willkommensklassen allerdings selten zu finden (Dewitz u. Massumi, 2017). Diese Form der Beschulung verstärkt die Segregation von minderjährigen Geflüchteten, auch wenn Jugendliche diese Situation für sich teilweise anders deuten. So beschreibt das Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen« (2018) die Willkommensklassen auch als Schutzraum, in dem sie unter sich sind. Deutlich wird bei dieser Interpretation, dass die Kinder und Jugendlichen einen sicheren Ort brauchen, um zu lernen. In einem interdisziplinären Austausch mit den Fachkräften der Jugendhilfe kann geklärt werden, welche Form der Beschulung angebracht ist und wie die minderjährigen Geflüchteten unterstützt werden können. Vor allem die Angst vor Abschiebung oder Ausgrenzung und Diskriminierung struktureller oder persönlicher Art sind hinderlich für eine erfolgreiche Inklusion in den Schulalltag und in die Regelklassen. Die Inklusion in die Regelklassen zeigt große strukturelle Hürden. Die Praxis zeigt, dass der in Berlin angedachte Aufenthaltszeitraum von maximal zwölf Monaten (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, 2018) oft überschritten wird. Vor allem bei Umzügen und damit einhergehenden Schulwechseln werden junge Geflüchtete immer wieder in die Willkommensklassen verwiesen, ohne den aktuellen Lernstand zu überprüfen oder die Empfehlungen der überweisenden Schule abzufragen, geschweige denn zu berücksichtigen. So kommt es zu Verweilzeiträumen in Willkommensklassen von bis zu drei Jahren.
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4.2.2 Einfluss der Lehrerinnen und Lehrer
Der Anspruch auf eine inklusive Bildung aller Schülerinnen und Schüler erfordert von Lehrkräften umfangreiches Wissen bezogen auf methodische Vielfalt und binnendifferenziertes Arbeiten (Dewitz u. Massumi, 2017). Selbstverständlich gibt es Schulen und engagierte Lehrkräfte, die sich aktiv mit den Themen der minderjährigen Geflüchteten auseinandersetzen. Dennoch zeigen Studien, Literatur und Praxiserfahrungen häufig bereits mit Regelschülerinnen bzw. -schülern überforderte Lehrkräfte. Die Sensibilität, die die besonders schutzbedürftigen minderjährigen Geflüchteten im Schulalltag benötigen, kann zu oft nicht aufgebracht werden. Die Umsetzung einer inklusiven Bildung hängt von verschiedenen Handlungskompetenzen ab. Auch wenn sich die Forschung uneins ist, wie sich die Kompetenzen von Lehrkräften zusammensetzen (sollten), gibt es einzelne wiederkehrende Elemente: Wissen, Einstellung, Handeln und Reflexion (Otta, Migas, Järvinen u. Burghoff, 2017). Wissen: Um struktureller Benachteiligung und Rassismus im Schulalltag entgegenwirken zu können, bedarf es der Vermittlung von Kompetenzen für eine migrationssensible Unterrichtsvorbereitung und -umsetzung, die endlich als curriculare Standards der Lehrkräfteausbildung eingeführt werden müssen. Oft wird mit Unverständnis auf das Ausbleiben der gewünschten und angestrebten Lernerfolge reagiert (Thomas et al., 2018), ohne dass die belastenden Faktoren Berücksichtigung im Unterricht finden (Dewitz u. Massumi, 2017). Die Einbindung von traumapädagogischem Wissen und traumasensiblen Verfahren und Techniken können Lehrkräfte im Umgang mit den jungen Geflüchteten unterstützen. Einstellungen: Minderjährigen Geflüchteten fehlt häufig das Vertrauen in das deutsche Schulsystem, und es bestehen berechtigte Ängste zum Einfluss, den die Schule auf
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den Aufenthaltsstatus hat. Dies führt zu Widerständen, die im Schulalltag häufig völlig missdeutet werden. Um restriktiven Strafen im Sinne der Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen der jeweiligen Schulgesetze entgegenzuwirken, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den eigenen (eurozentristischen) Werten und Normen (Daschner, 2017), die zu der Aufstellung und Umsetzung der Regeln im Schulalltag führen. Die besondere Lebensrealität minderjähriger Geflüchteter in der Jugendhilfe muss in und von der Schule berücksichtigt werden. Die Jugendlichen brauchen Sicherheit, Klarheit und haltgebende Kontakte, auch außerhalb der Jugendhilfeeinrichtung. Es hat sich gezeigt, dass gute Beziehungen und Erfahrungen mit Lehrkräften zu einer positiven Entwicklung der minderjährigen Geflüchteten und ihrer Schullaufbahn beitragen (Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018). Handeln: Die Lehrkräfte müssen ihr Wissen flexibel und situationsspezifisch anwenden (Otta et al., 2017). In Gesprächen mit den minderjährigen Geflüchteten, gegebenenfalls ihren Eltern und/oder den Fachkräften der Jugendhilfe müssen die Bedarfe der Kinder und Jugendlichen analysiert werden. Um Schule zu einem sicheren Ort machen zu können, bedarf es einer sensiblen Herangehensweise und eines regelmäßigen und im Schulalltag fest verankerten Austauschs mit den Fachkräften der Jugendhilfe. Reflexion: Das angewandte Wissen und die eigenen Handlungen müssen immer wieder infrage gestellt und reflektiert werden (Otta et al., 2017). Wichtig für eine interkulturelle Öffnung (Kalpaka u. Mecheril, 2010) der Schule ist, dass auch die Lehrkräfte ihre eigenen Vorurteile, Affekte und Kognitionen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit einer bestimmten Herkunft mentalisieren und sich mit ihnen auseinandersetzen (Dirim u. Mecheril, 2010; Gingelmaier, 2017).
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4.2.3 Einbindung in den Schulalltag und Lernen im Unterricht »Was nicht zu vergessen ist, die waren manchmal durch den Krieg oder so ein paar Jahre nicht in der Schule, nicht regelmäßig in der Schule. Wenn man dann die Fluchtzeit noch dazu rechnet, dann ist es total schwierig, sich wieder an dieses Schulverhalten zu gewöhnen. Und dann kommt es, dass ihr Wissensstand nicht den Anforderungen der Schule entspricht. Und das ist schwierig, dass da so große Lücken sind.« (Fachkraft der Kinderund Jugendhilfe in einem Interview)
Immer wieder berichten Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter oder andere Akteure an der Schule, dass Willkommensklassen im Keller oder anderen Schulgebäuden weit weg vom Schulalltag unterrichtet werden. Minderjährige Geflüchtete könnten in der Regel ab dem ersten Tag am gemeinsamen Sport- oder Kunstunterricht teilnehmen. Sie könnten eine Klassensprecherin bzw. einen Klassensprecher wählen und an sportlichen Wettbewerben die Schule vertreten. Der direkte wie auch der indirekte Kontakt kann Intergruppenbeziehungen verbessern und Vorurteile reduzieren (Wagner u. Wagner, 2017). Da Vorurteile als Identitäts- und Selbstwertproblematik von Einzelnen und Gruppen nicht verhindert werden können, müssen damit unter anderem einhergehende Verwirrungen, Verunsicherungen, Unbehagen ernst genommen, gegebenenfalls aufgegriffen und sensibel, ohne Bloßstellungen bearbeitet werden. Dafür müssen genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um die Unterrichtspraxis und den Schulalltag »zu entgiften« (Gingelmaier, 2017). Eine schnelle Einbindung in den Schulalltag und der Kontakt zwischen den minderjährigen Geflüchteten und den minderjährigen Schülerinnen bzw. Schülern ohne Fluchterfahrung muss aktiv und gezielt initiiert wer-
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den, sonst kommt es immer wieder zu Ausgrenzungserfahrungen (Wagner u. Wagner, 2017). Viele der minderjährigen Geflüchteten leben mit der Angst, abgeschoben zu werden. Fachkräfte betonen häufig, dass unter diesen Umständen die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Jugendlichen leidet. Es ist eine Herausforderung für diese Schülerinnen und Schüler, sich in der Schule zu engagieren, ohne zu wissen, wie der eigene Aufenthaltsstatus im nächsten Monat ist (Thomas et al., 2018, S. 184). Ein Austausch zwischen Schule und Einrichtungen der Jugendhilfe kann klären, welcher gemeinsame Beitrag möglich ist, um den Aufenthalt der Jugendlichen zu sichern. Auch die sogenannte Ausbildungsduldung bringt Fachkräfte dazu, nicht mehr individuell an den Interessen der Jugendlichen orientiert hinsichtlich der zukünftigen Berufswünsche zu arbeiten, sondern die minderjährigen Geflüchteten mit einer geringen Bleibeperspektive ausschließlich in Ausbildung zu bringen und so eine Duldung und eine Aufenthaltserlaubnis über § 25a Aufenthaltsrecht zu erhalten.
4.3 Was noch zu sagen bleibt An dieser Stelle sei verwiesen auf die Forderungen des Arbeitskreises Junger Flüchtlinge des Flüchtlingsrats Berlin an den Berliner Senat, die in einer Podiumsdiskussion am 30. April 2019 veröffentlicht wurden und die Schul situation für minderjährige Geflüchtete verbessern sollen: »Voraussetzung für gutes Lernen: Aufenthaltserlaubnis während der gesamten Zeit des Schulbesuchs! 1. Der Leitfaden zur Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen in die Kindertagesbetreuung und die Schule muss verbindlich werden 2. Eine verlässliche Datenerhebung über Wechsel und Verbleib der Schüler*innen mit Fluchtgeschichte
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3. Unbedingte Berücksichtigung von individueller Bildungsbiografie, Bildungsmotivation, Familien- und Lebenssituation •• z. B. durch muttersprachliche Eingangstests •• z. B. durch die Möglichkeit der Herkunftssprachenanerkennung als 2. Fremdsprache jederzeit, nicht nur innerhalb des ersten Schulhalbjahres – Änderung § 17 Nr. 6 Abs. 6 Sec I-VO 4. Aufnahme der Prämisse der Chancengleichheit beim Erwerb des bestmöglichen Schulabschlusses für alle Schüler*innen ins SchulG 5. Ein verbindliches landeseinheitliches Curriculum für Willkommensklassen INKLUSIVE des Fachunterrichts für Schüler*innen mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen 6. Ein verbindliches landeseinheitliches Konzept für den Übergang Willkommensklasse – Regelklasse INKLUSIVE eines Sprachförderkonzeptes 7. Für Schulen verbindliche Elternpartizipation z. B. themenspezifische Elternabende mit Sprachmittlung 8. Qualitätssicherung, Evaluation der bisherigen Konzepte •• Befragung von Schulleiter*innen, Lehrer*innen, Schüler*innen, Eltern, Schulämtern •• Gegenüberstellung und Evaluation der vorhandenen Konzepte« (Arbeitskreis Junger Flüchtlinge, 2019, S. 1). Lernen muss in einer geschützten Umgebung ohne Angst vor Abschiebung oder Ausgrenzung stattfinden. Erst über die äußere Sicherheit kann innere Stabilität erreicht werden als Voraussetzung, dem Selbstorganisationsdruck standzuhalten und neue Lebensperspektiven zu entwickeln. Dafür bedarf es neben transparenten Strukturen
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und verbindlichen Curricula auch stabiler psychosozialer Geborgenheit und einer engen Kooperation zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jugendhilfeeinrichtungen und den Lehrkräften. Alle an Schule wirkenden Professionen inklusive der politischen Ebene müssen Sorge tragen, dass die Schule über die Umsetzung der oben genannten Forderungen ein sicherer Ort für minderjährige Geflüchtete wird. Eine inklusive Schule muss ihre institutionelle Verantwortung übernehmen und sich mit Flucht und Migration und den daraus resultierenden Themen wie professionsübergreifender Kooperation, Rassismus und Trauma aktiv auseinandersetzen. So kann Schule trauma- und kultursensibel wirken und soziale Teilhabe ermöglichen. 4
5 Empowerment, Partizipation und Selbstorganisation in der Kinder- und Jugendhilfe
5.1 Empowerment Wie bei vielen politischen und progressiven Konzepten wird der Begriff Empowerment inzwischen inflationär, entpolitisiert, individualisiert und sinnentstellt verwendet, ohne die Historie und den Ursprung dieser Bezeichnung sichtbar zu würdigen. Historisch ist Empowerment ein gemeinsamer und politischer Kampf der Schwarzen6 Bürgerrechtsbewegung in den USA und der Menschen kolonialisierter Länder (Pankofer, 2000, S. 21; vgl. auch Projekt Kompass F/ARIC-NRW, 2018, S. 21). In päda gogischen Diskursen und der Förderlandschaft wird Empowerment oft als Selbstbefähigung, Selbststärkung, Aktivierung der Selbsthilfekräfte, Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit verstanden. Diese Konzepte und Begriffe werden häufig mit Empowerment gleichgesetzt, jedoch stehen alle gleichwertig nebeneinander und sind mit unterschiedlichen Konzepten verbunden. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft und einer kapitalistischen Verwertungslogik benutzen mittlerweile Marketing- und Leadership-Programme den Empowerment-Begriff, um »Mitarbeiter mit neuen Kompetenzen und Verantwortung auszustatten […], um in der zunehmend dynamischen Unternehmenswelt zu
6 Zur Verdeutlichung der ungleich zugeschriebenen sozial-historisch konstruierten Position wird Schwarz großgeschrieben und weiß kursiv und klein.
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überleben« (Glöde, 2018, o. S.). So wird jegliche Verantwortung auf die individuelle Ebene übertragen und ausschließlich das Individuum problematisiert. Die Strukturen der Gesellschaft finden dabei kaum Berücksichtigung. Rassismus und Diskriminierung werden als individuelle Erfahrung herabgesetzt und weniger als strukturelles Problem akzentuiert. Aus Sicht der Sozialarbeit mag diese Perspektive und Herangehensweise in einigen Kontexten sinnvoll sein, wenn beispielsweise mit einer Person individuell an einer problematischen Erfahrung gearbeitet wird. Langfristig jedoch müssen die gesamtgesellschaftlichen Strukturen berücksichtigt, problematisiert und verändert werden. Aus diesem Grund muss der Begriff Empowerment weitergedacht werden. Der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung ging es weniger darum, Einzelne zu »reparieren«, zu therapieren und zu empowern, sondern sich als eine gesamtgesellschaftlich marginalisierte und unterdrückte Gruppe zu befreien, sich Selbstbestimmung zu ermöglichen und selbstorganisiert eigene Handlungsspielräume zu erweitern. Empower ment ist somit ein langfristiger und nachhaltiger Prozess, aber kein Projektkonzept, kein Pilotprojekt. Die Art, in der Empowerment in der deutschen Förderlandschaft verhandelt wird, entspricht nicht dem Geist des Konzepts. Im Kontext von jungen Geflüchteten existieren im besten Fall Projekte von maximal dreijähriger Förderdauer, die schnell verwertbare, vorzeigbare Ergebnisse wie mehrsprachige Hochglanzbroschüren am besten mit Bildern von Schwarzen und Kopftuch tragenden Mädchen liefern und – konträr zum ursprünglichen Empowermentbegriff – an unpassenden Indikatoren gemessen werden. Stattdessen bedarf es struktureller Förderung und langfristiger Ressourcen für Selbstorganisationen und ein klares Bekenntnis der Jugendhilfe zu der Bedeutung und Etablierung von Empowermenträumen.
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Ein Verständnis der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession verpflichtet sich der Umsetzung der Menschen- und Kinderrechte, ist politisch und solidarisch. In diesem Kontext bedeutet praktische Solidarität für weiße Fachkräfte Sozialer Arbeit, Power-Sharing als Konzept zu verstehen und umzusetzen. Das heißt, dass sie ȤȤ die eigenen Privilegien und Machtpositionen in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft erkennen, ȤȤ den Transfer schaffen, wie sie mit diesen Privilegien und Machtpositionen konstruktiv arbeiten können, und ȤȤ sich dann fragen, wie sie ihre Zugänge nutzen können, Ressourcen zur Förderung von Empowermenträumen zur Verfügung zu stellen (Salehi-Shahnian, 2015). Professionelle Soziale Arbeit weiß um die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten und stellt Ressourcen zur Verfügung, damit Expertinnen und Experten sowie Trainerinnen und Trainer mit eigenem und reflektiertem Fach- und Erfahrungswissen zu Rassismus diese Prozesse in Safer-Spaces begleiten können, in denen gemeinsame Handlungsstrategien erarbeitet werden. Safer Spaces sind Räume, die es den Jugendlichen ermöglichen, über eigene Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen zu sprechen, hier werden diese Erfahrungen wertgeschätzt. Diese Räume können befähigen, vertrauensvoll und angstfrei zu erzählen und zu sprechen ohne Furcht vor Viktimisierungen, Sanktionierungen oder Kulturalisierungen. Die Bedeutsamkeit eines Rückzugs der Nicht-Betroffenen wird deutlich, wenn eine Analogie zu Sexismus hergestellt wird: Die Vorstellung, dass ein Raum, in dem sich Frauen über ihre Sexismus-Erfahrungen austauschen, von einem Mann geleitet wird, erscheint absurd. Jedoch ist es Alltag, dass viele sogenannte Empowermenträume, -workshops oder -trainings selbstverständlich von nicht betroffenen weißen dominiert werden.
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5.2 Was passiert in Empowermenträumen?
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Jugendliche Geflüchtete machen oft die Erfahrung, dass sie auf eine wesentliche Identität oder ein Narrativ reduziert werden, z. B. des Geflüchtet-Seins oder Schwarz-Seins. Oft sind diese Identitätszuschreibungen negativ besetzt und mit abwertenden Erfahrungen verbunden. Diese Gruppenzuschreibungen geschehen nicht selten aufgrund des Namens der Jugendlichen, und somit bewirkt beispielsweise das Sprechen über den eigenen Namen in Em powermenträumen eine erste Auseinandersetzung mit Identitäten und Identitätszuschreibungen. Namen geben angebliche Informationen über soziale Konstruktionen wie Rasse, Herkunft, Religiosität, Gender, Klasse. Das Sprechen darüber in einer vertrauten und wertschätzenden Umgebung kann zu einer ersten Dekonstruktion von begrenzenden Erwartungsbildern und Narrativen führen (zur Gefahr einer solchen Reduktion auf eine »Single Story« vgl. Adichie, 2009). Gerade die alltäglichen Erfahrungen von Unterdrückung und Benachteiligung können zur Schaffung von selbstorganisierten Empowermenträumen führen. Gleichzeitig können aber diese Unterdrückungsmechanismen im Kontext von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten so präsent sein, dass ein selbst organisiertes Schaffen dieser Räume unmöglich gemacht wird. Das stellt die Rolle der Sozialen Arbeit noch stärker in den Vordergrund. Damit sich die Jugendlichen den Fachkräften in der Jugendhilfe anvertrauen, müssen diese sich mit ihren eigenen Rassismen auseinandersetzen und die Einrichtung rassismuskritisch betrachten. Im nächsten Schritt können die Fachkräfte auf diese Erfahrungen reaktiv oder interventiv reagieren. Um dies an einem Beispiel zu illustrieren: Ein neu entstandener Jugendhilfeträger arbeitet in einer kleinen Kommune aufgrund der neuen Umverteilung nach § 42b
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SGB VIII mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Er verfügt weder über ausgeprägte Netzwerke noch über langjährige Expertise. Über eine Kooperation mit einer Stiftung wurde ein freiberuflicher Empowermenttrainer für ein Training angefragt. Die Jugendlichen leben in dieser kleinen Kommune widerwillig, viele haben wenig Aussicht auf ein Bleiberecht und erfahren regelmäßig offenen Rassismus im Alltag. Die Geldgeberinnen und Geldgeber ließen viele Freiheiten in der Ausgestaltung des Auftrags, sodass ein ergebnisoffenes und prozessorientiertes Arbeiten möglich war. Es gab keinen Zwang, abschließend ein bestimmtes Resultat abzuliefern. Die Themen der Jugendlichen konnten dadurch offen und frei bearbeitet werden. Bereits zu Beginn des Trainings kamen die Jugendlichen über das Sprechen von ihrem Namen auf die Themen Diskriminierung und Ausgrenzung. Im weiteren Verlauf erhielten ihre Erfahrungen eine Struktur und Bezeichnungen wie z. B. Sexismus, strukturelle Diskriminierung, institutioneller Rassismus, Racial Profiling. Junge Geflüchtete, die noch nicht lange in Deutschland leben, haben in der Regel kein reflektiertes und positioniertes Wissen zu Rassismus und Diskriminierung. Das bedeutet für die praktische Arbeit, zunächst eine gemeinsame Definition zu erarbeiten. Oft individualisieren Jugendliche ihre Erfahrungen und gehen davon aus, dass mit ihnen als Einzelperson etwas nicht stimmt. Sie versuchen diese Erfahrungen über ein eigenes vermeintliches »Fehlverhalten« zu erklären, davon ausgehend, dass die aufnehmende Dominanzkultur im Rahmen ihrer Definitionsmacht recht hat. Die empfundene Dankbarkeit gegenüber der aufnehmenden Gesellschaft ist einer kritischen Auseinandersetzung mit rassistischen Strukturen hinderlich (Thomas et al., 2018, S. 186). Es bedarf einer Ent-Schuldung. Diese Erkenntnis entspannt die Jugendlichen und lenkt den Fokus auf andere Handlungsstrategien.
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Diese oft neue Erfahrung, dass andere sich mit ähnlichen oder gleichen Erlebnissen auseinandersetzen (müssen), inwieweit sich die Jugendlichen mit diesen Zuschreibungen identifizieren oder nicht, kann zu einer Solidarisierung über viele Grenzen hinweg führen. Aus dieser Gruppenkonstruktion von außen – Geflüchtete sind Opfer, arm, traumatisiert – können sich die Jugendlichen eine neue Gruppenidentität aneignen, die mit positiven Attributen wie stark, organisiert, fröhlich, solidarisch, laut, frech und sichtbar konnotiert sind. Auch das Selbstverständnis, ein Subjekt mit Rechten zu sein, kann in Empowermenträumen gestärkt werden, indem sich die Jugendlichen z. B. mit Kinderrechten, Partizipationsrechten und der Rolle der Sozialen Arbeit kritisch auseinandersetzen.
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5.3 Partizipation Partizipationsrechte sind in den Kinderrechtskonventionen und im SGB VIII festgelegt. Fachkräfte der Kinderund Jugendhilfe sind zur Partizipation der Kinder und Jugendlichen entsprechend ihres Entwicklungsstandes gemäß § 8 SGB VIII verpflichtet. Begleitende selbst organisierte Empowermentprozesse und -räume stellen eine Voraussetzung dar für eine echte Partizipation im Sinne dieser Leitlinien und Gesetze. Die Jugendlichen müssen darüber informiert werden, dass sie Entscheidungen von Jugendämtern oder Jugendhilfeträgern nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie können sich als politische Subjekte mit eigenen Rechten am Prozess beteiligen. Diese echte Beteiligung, Beziehung und Subjektwerdung kann dazu führen, dass die Positionen und Entscheidungen von Fachkräften Sozialer Arbeit infrage gestellt werden. Es kann für Fachkräfte anstrengend sein, wenn sie mit Fragen wie »Warum wurde das entschieden?« und »Wer sagt das?« konfrontiert werden. Darauf müssen
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sie in der Kinder- und Jugendhilfe jedoch vorbereitet sein. In vielen Einrichtungen wird Partizipation allerdings auf die Auswahl der Essensmöglichkeiten und der Freizeitgestaltung reduziert. Da beispielsweise eine Neueinstellung von Betreuenden in einer Jugendhilfeeinrichtung Jugendliche direkt betrifft, sind Jugendliche gemäß § 8 SGB VIII an diesem Prozess zu beteiligen. Voraussetzung dafür ist, dass die Jugendlichen überhaupt von Partizipationsrechten und deren konkreter Bedeutung wissen. Die Anhörung ihrer eigenen Meinungen und ihre Beteiligung findet im Rahmen dieser Rechte statt, weniger als Wohltat gegenüber einzelnen Personen. Um eine Entscheidung treffen zu können, brauchen die Jugendlichen grundlegende Informationen unter anderem zu Auswahlkriterien und rechtlichen Vorgaben bei Neueinstellungen. Von echter Partizipation kann aber erst gesprochen werden, wenn den Jugendlichen ein Vetorecht oder Stimmrecht zugesprochen wird. In der Praxis wird diese Vorgehensweise vorerst eher unrealistisch bleiben. Deutlich wird jedoch, dass Partizipation erst möglich ist, wenn die eigene Haltung sowohl der Fachkräfte als auch des Trägers machtkritisch hinterfragt wird, wenn den Kindern und Jugendlichen Beteiligung und Transparenz in der Unternehmenskultur vorgelebt wird. Partizipation ist ein Ansatz, der mit Reibungen verbunden ist und kompliziert sein kann. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, wenn es um die Umsetzung des SGB VIII geht.
5.4 Selbstorganisationen Nach dem 9-Stufen-Modell der Partizipation geht die Selbstorganisation über die Partizipation hinaus. Jedoch ist sie nicht im SGB VIII explizit verankert. Am Beispiel von Personaleinstellungen hieße dies: Die Jugendlichen
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erkennen selbstständig, dass eine Betreuungsperson fehlt, nehmen teil an Formulierung und Veröffentlichung einer Ausschreibung, an der Einladung von Bewerberinnen sowie Bewerbern und an der Auswahl. Selbstorganisation im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet eine machtund adultismuskritische Begleitung. Es ist für Fachkräfte immer eine Gratwanderung dazwischen, sich einzubringen oder zurückzuziehen, den Rücken freizuhalten, im Vorder- oder im Hintergrund zu stehen. Der Verein Careleaver e. V. ist ein gelungenes Beispiel einer Selbstorganisation, die im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe entstand und heute noch erfolgreiche und wichtige Arbeit leistet, die über die Kinder- und Jugendhilfe so nicht abgedeckt werden kann. Der Verein betreibt Aufklärungs- und Kampagnenarbeit und bietet Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe als Vorbild selbstorganisierte Räume für Informationen und den Austausch beispielsweise über die Zukunftsplanung an (vgl. www. careleaver.de). Im Kontext von jungen Geflüchteten kann es hilfreich sein, mit jugendlichen und migrantischen Selbstorganisationen im Kontakt zu stehen, um von deren Expertise zu lernen. Ein Beispiel für eine Selbstorganisation, die explizit junge Geflüchtete anspricht, auch aus der Kinderund Jugendhilfe, ist Jugendliche ohne Grenzen (JoG), ein 2005 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von jugendlichen Geflüchteten. Seine Arbeit folgt dem Grundsatz, dass Betroffene eine eigene Stimme haben und keine »stellvertretende Betroffenen-Politik« benötigen. Er tagt z. B. stets parallel zu den Innenministerkonferenzen, wobei er regelmäßig den »Abschiebeminister des Jahres« wählt (vgl. Autor*innenkollektiv »Jugendliche ohne Grenzen«, 2018).
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In diesem Buch wurden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – aus unterschiedlichen Blickwinkeln verschiedene Felder in der Arbeit mit Geflüchteten im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe beleuchtet. Es zeigt sich durchgängig, dass von den in diesem Feld arbeitenden Menschen – unabhängig von der eigenen Verortung – eine intensive Auseinandersetzung und Qualifikation auf unterschiedlichen Ebenen gefordert wird, um dem Unterstützungsbedarf der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Zusätzlich können Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber strukturellen wie individuellen Bedingungen im Hilfeprozess die Arbeit erschweren. Die Herausforderung stellt sich bei der Unterstützung jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen, geht in der Dimension jedoch darüber hinaus. Unterstützung im psychosozialen Feld bedeutet daher immer auch eine besondere Verantwortung für die dabei hervortretende ungleiche Chancenstruktur, die gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die in das konkrete Handeln mit dem jeweiligen Individuum einbezogen werden muss. Das Themenfeld Flucht konfrontiert massiv mit diesen Phänomenen sozialer Ungerechtigkeit und strukturellem und alltäglichem Rassismus. Die Kinder- und Jugendhilfe darf dies nicht aus den Augen verlieren. Das Konzept des guten Grundes aus der Traumapädagogik kann hier Anwendung finden und weiterentwickelt werden. Der gute Grund kann nicht nur im persönlichen Erleben unaushaltbarer Erfahrungen gefunden werden, sondern auch in den jetzigen unerträglichen rassistischen Alltagserfahrungen und dem Ausgeliefert-
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sein an eine strukturell rassistische Administration und Gesetzgebung. In der Unterstützung braucht es Konzepte des Empowerments wie oben beschrieben, aber auch jede Menge traumapädagogisches »Werkzeug«, um mit den individuellen Folgen der erlebten Gewalt – zu welchem Zeitpunkt auch immer sie stattgefunden hat – leben zu können. Vor allem jedoch bedarf es einer entsprechenden Grundhaltung. Psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Jugendlichen bedeutet daher weder eine Entpolitisierung des Themas noch eine einseitige Identifikation mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen, sondern den Einbezug politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse wie z. B. der umgebenden rassistischen Strukturen. Eine angemessene interdisziplinäre und interprofessionelle Verschränkung zu etablieren ist hier eine wichtige Aufgabe der im Feld Tätigen. Geflüchtete Kinder und Jugendliche, die das Unterstützungssystem der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch nehmen (müssen) haben ein Recht auf die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und ihrer Interessen, und wir als Unterstützerinnen und Unterstützer haben die Aufgabe, dies so gut wie möglich umzusetzen. Dazu hoffen wir, mit diesem Buch einen kleinen Beitrag geleistet zu haben.
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