Migration: Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive 3515106367, 9783515106368

Migration stellt ein zentrales Thema in der Geographie dar: Dieses Lehrbuch führt in die grundlegenden theoretischen Kon

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German Pages 245 [250] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Konzeptioneller Rahmen, Begrifflichkeiten
1.1 Gängige Definitionen, Typen der Migration
1.2 Grenzen und Möglichkeiten der Statistik
1.3 Die institutionelle Verankerung der Migrationsforschung und -verwaltung, Datenquellen
2. Theoretische Ansätze der Migrationsforschung
2.1 Die Anfänge der Migrationsforschung
2.2 Die „Anderen“ in geisteswissenschaftlicher Perspektive
2.3 Das Thema Migration in der deutschsprachigen Geographie
2.4 Zugänge der neueren Migrationsforschung, neue Geographien der Migration
2.5 Arbeitsmarkttheoretische Zugänge
3. Historische und regionale Differenzierung der Migration in Europa
3.1 Migration und Mobilität in Frühzeit und Mittelalter
3.2 Der Übergang zur Neuzeit: Fernmigrationen als Teil regionaler Systeme
3.3 Der Übergang zur Moderne: Dominanz saisonaler regionaler Wanderungen
3.4 Migrationspolitik in Deutschland: Industrialisierung und Kaiserreich
3.5 Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Systematisierung, Kontrolle, Ermordung
3.6 Gastarbeiter für den Boom: willkommene lückenfüller
3.7 Eine deutsche Besonderheit: (Spät-)Aussiedler
3.8 Migration in einem untergegangenen Land: DDR
4. Neue Geographien der Migration in Deutschland und Europa nach der Wiedervereinigung
4.1 Einwanderungsland Deutschland: Weiter Ausnahmen vom Anwerbestopp
4.2 Das europäische Migrationssystem mit seinen Subsystemen
4.3 Neue Territorialisierungen, Borderscapes und Transiträume
5. Migration in globaler Perspektive
5.1 Eine Welt der Ströme und Knoten
5.2 Migration in der internationalen Arbeitsteilung – neue Geographien
5.3 Migration und Entwicklung – vom Braindrain zum Entwicklungsinstrument
5.4 Migrant industries und migrant trajectories
5.5 Klimawandel und Migration
6. Die Metaebene: Stadt und Migration, aktuelle Fragen
6.1 Segregation und Polarisierung in den Städten
6.2 Multikulturalismus und Diversity
6.3 Veränderte Realitäten in den Städten, neue Platzanweisungen
Literatur
Anhang
Register
Personenregister
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Migration: Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive
 3515106367, 9783515106368

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Felicitas Hillmann

Migration Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive

Geographie Franz Steiner Verlag

Sozialgeographie kompakt

Felicitas Hillmann Migration

Sozialgeographie kompakt Herausgeber: Werner Gamerith Wissenschaftlicher Beirat: Ulrike Gerhard Julia Lossau Ute Wardenga Peter Weichhart Band 4

Felicitas Hillmann

Migration Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2016 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany ISBN 978-3-515-10636-8 (Print) ISBN 978-3-515-10971-3 (Ebook)

Inhaltsverzeichnis 1. 1 .1 1 .2 1 .3

Konzeptioneller Rahmen, Begrifflichkeiten Warum ein Lehrbuch zur geographischen Migrationsforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gängige Definitionen, Typen der Migration . . . . . . . . . . . . Grenzen und Möglichkeiten der Statistik . . . . . . . . . . . . . . Die institutionelle Verankerung der Migrationsforschung und -verwaltung, Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Theoretische Ansätze der Migrationsforschung . . . . Die Anfänge der Migrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Figur des Fremden, die Randständigen . . . . . . . . . . . . Die Chicago School und der race relation cycle . . . . . . . . . Die Hobos – eine Massenerscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . Etablierte und Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Anderen“ in geisteswissenschaftlicher Perspektive . . . Das Thema Migration in der deutschsprachigen Geographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .3 .1 Migration in der frühen Anthropogeographie . . . . . . . . . . 2 .3 .2 Migration als Thema der Bevölkerungsgeographie . . . . . . 2 .3 .2 .1 Pull- und Push-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .3 .2 .2 Migration als Teil der Mobilitätstransformation . . . . . . . . . 2 .3 .2 .3 Migration als Frage von Diffusion und Zentralität . . . . . . . 2 .3 .3 Migration als Teil der Sozialgeographie . . . . . . . . . . . . . . . 2 .4 Zugänge der neueren Migrationsforschung, neue Geographien der Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .4 .1 Systemtheoretische Argumentationen: Migration als Teil von Inklusion und Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .4 .2 Kettenmigration, soziale Netzwerke, soziales Kapital . . . . . 2 .4 .3 Transnationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .5 Arbeitsmarkttheoretische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 .5 .1 Segmentationstheorien und Unterschichtung . . . . . . . . . . . 2 .5 .2 Die besondere Position auf dem Arbeitsmarkt: Migrantisches Unternehmertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 2 .1 2 .1 .1 2 .1 .2 2 .1 .3 2 .1 .4 2 .2 2 .3

9 17 23 26 29 31 31 32 37 39 41 45 45 53 54 56 58 60 65 67 72 74 84 86 88

5

INHALTSVERZEICHNIS

3. 3 .1 3 .2 3 .2 .1 3 .2 .2 3 .3 3 .3 .1 3 .4 3 .5 3 .5 .1 3 .6 3 .6 .1 3 .7 3 .7 .1 3 .8 4. 4 .1 4 .1 .1 4 .1 .2 4 .2 4 .2 .1 4 .2 .2 4 .2 .3 4 .3 5. 5 .1 5 .2 5 .3 5 .4 6

Historische und regionale Differenzierung der Migration in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration und Mobilität in Frühzeit und Mittelalter . . . . . Der Übergang zur Neuzeit: Fernmigrationen als Teil regionaler Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge der massenhaften Fernwanderungen: Sklavenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste gezielte Anwerbepolitiken: Hugenotten . . . . . . . . . . . Der Übergang zur Moderne: Dominanz saisonaler regionaler Wanderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf in die neue Welt, auf nach Übersee! . . . . . . . . . . . . . . Migrationspolitik in Deutschland: Industrialisierung und Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Hälfte des 20 . Jahrhunderts: Systematisierung, Kontrolle, Ermordung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitulation: Flüchtlingsströme und Barackenlager . . . . . . . Gastarbeiter für den Boom: willkommene Lückenfüller . . . Ausländerpolitiken für Gäste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine deutsche Besonderheit: (Spät-)Aussiedler . . . . . . . . . . Flucht und Asyl in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . Migration in einem untergegangenen Land: DDR . . . . . . . Neue Geographien der Migration in Deutschland und Europa nach der Wiedervereinigung . . . . . . . . . . Einwanderungsland Deutschland: Weiter Ausnahmen vom Anwerbestopp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demographischer Wandel und Fachkräfteanwerbung . . . . . Europäisierung der Migration, Freizügigkeit und Zirkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das europäische Migrationssystem mit seinen Subsystemen Koexistenz unterschiedlicher Migrationsrealitäten und -regime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meilensteine auf dem Weg in eine europäische Migrationspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Funktionsweise von Migrationsmanagement . . . . . . . Neue Territorialisierungen, borderscapes und Transiträume . . Migration in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Welt der Ströme und Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration in der internationalen Arbeitsteilung – neue Geographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration und Entwicklung – vom Braindrain zum Entwicklungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migrant industries und migrant trajectories . . . . . . . . . . . . . . . .

93 93 96 96 99 104 105 109 113 114 116 120 121 123 124 127 127 132 134 136 138 143 148 151 157 157 163 166 170

INHALTSVERZEICHNIS

5 .5 5 .5 .1

Klimawandel und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klimawandel und Umweltveränderungen in regionaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Definition von Umweltmigration . . . . . . . . . . . . . . . . Der Nexus Umweltveränderungen – Migration in der regionalen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Metaebene: Stadt und Migration, aktuelle Fragen Segregation und Polarisierung in den Städten . . . . . . . . . . Multikulturalismus und Diversity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderte Realitäten in den Städten, neue Platzanweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 188 193

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205 229 237 242

5 .5 .2 5 .5 .3 6. 6 .1 6 .2 6 .3

175 179 182

200

7

1. Konzeptioneller Rahmen, Begrifflichkeiten Warum ein Lehrbuch zur geographischen Migrationsforschung? Die polnischen Putzfrauen, die türkischen Gastarbeiter, die russischen Aussiedler und die Übersiedler aus der DDR: Sie alle bilden einzelne, geradeweg klischeehafte Beispiele für die vielfältige Migrationsgeschichte Deutschlands seit dem Bestehen der Bundesrepublik . „Migration“ stellt damit ein Thema dar, das uns in unseren Alltagsräumen auf Schritt und Tritt begleitet: Wir ziehen um, wir haben im Alltag immer wieder mit Menschen aus anderen Ländern zu tun, wir integrieren und segregieren, wir verreisen über längere Zeiträume, sind unterwegs und merken oft genug erst dann die Bedeutung von Grenzen und Verschiedenheit . Bei näherem Hinsehen zeigen sich die unterschiedlichsten Motivationen und Bedingungen, unter denen Menschen in einen neuen Kontext kommen, wie sie dort bleiben und was sie dann dort tun (oder nicht tun) und wie dies auch die Menschen beeinflusst, die sie zurückgelassen haben . Manche Autoren sprechen von der „Lotterie des Geburtsortes“ . Damit meinen sie: Wo wir geboren werden, bestimmt auch, wieweit wir uns wohin bewegen und welche Chancen wir im Leben nutzen können . Wer kann sich Mobilität leisten (finanziell, zeitlich und rechtlich), wer kann welche Reichweiten ausschöpfen, wer muss bzw . darf bleiben? Migration und Mobilität bedeuten eine Chance auf Teilhabe; Immobilität birgt in einer globalisierten und beschleunigten Welt zusätzliche Risiken . Diese Einführung würdigt den Beitrag der Geographie zur Migrationsforschung und widmet sich der geographischen Dimension von internationaler Migration . Migration wird als ein bedeutsamer Teil von gesellschaftlicher und räumlicher Definitionsmacht interpretiert – in einer Welt, in der Sesshaftigkeit weiterhin die Norm ist . Innerhalb der Geographie wurde Migration lange in erster Linie im Rahmen der Bevölkerungsgeographie diskutiert und vor allem als demographischer Prozess im nationalstaatlichen Rahmen verstanden . Seit einigen Jahren verlässt nun die geographische Migrationsforschung das stützende, doch zugleich auch einengende Korsett dieser Teildisziplin . Diese kurze Einführung macht deshalb einerseits die aktuellen Ergebnisse und Anforderungen der wissenschaftlichen (hauptsächlich deutschsprachigen) Literatur für die Geographie zugänglich und präsentiert andererseits die Forschungsergebnisse der Geographie auch als Anregung für andere Disziplinen . Angeboten wird ein didaktisch orientiertes Programm, das verschiedene Facetten der internationalen Migration verdichtet aufbereitet . Dazu werden multiparadigmatisch und interdisziplinär wichtigste Entwick9

Migration ist gelebte Geographie

Wandern müssen und wandern dürfen

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

eine Vielzahl von theorien und methodischen zugängen

Bedeutung der Migrationskontexte für die theoriebildung

Bis heute ein inspirierender forschungsgegenstand

lungslinien und Konzeptionen der Migrationsforschung in knapper Form vorgestellt, exemplarisch erörtert und auf deren Schlüsseltexte hingewiesen . In der Migrationsforschung koexistiert eine große und manchmal auch verwirrende Vielfalt von theoretischen Ansätzen . Dies hat damit zu tun, dass sich verändernde soziale Wirklichkeiten (wie sie in den verschiedensten Migrationsformen ihren Ausdruck finden) kaum mit einer einzigen stringenten Theorie fassen lassen . Es hilft zum Verständnis von Migrationsbewegungen enorm, wenn man eine Vorstellung vom jeweiligen historischen Kontext besitzt . So hat die Tatsache der Massenauswanderung aus Europa nach Nordamerika im 19 . Jahrhundert Friedrich Ratzel motiviert, über Bevölkerungsbewegungen und Kulturdiffusion nachzudenken (Anthropogeographie) . Simmels Figur des „Fremden“ entstand unter anderem aus der Erfahrung der jüdischen Diaspora in Europa im Geist der Individualisierung, während seit den 1920er Jahren die sogenannte „Chicago School“ die ethnische Gruppenbildung in einer Einwanderungsstadt unter dem Einfluss der Ethnologie untersuchte: daher ihr Interesse an sozialräumlicher, ethnischer Segregation von Polen, Deutschen, Schwarzen, Italienern usw . Seit Ravenstein, zum Ende des 19 . Jahrhunderts, gibt es auch Versuche,Wanderungsprozesse in positivistischer Hinsicht als (mathematische) Gesetzmäßigkeiten zu deuten, um so auch in demographischer und planerischer Hinsicht den Entwicklungen einer Welt, die immer mehr in Bewegung ist, folgen zu können . Auf diese Sichtweise, die Migrationen mit Strömen und Flüssen gleichsetzt, geht ein großer Teil unserer heutigen Vorstellungen über Migration zurück . Es folgten in den 1950er Jahren des 20 . Jahrhunderts funktionalistische Theorien über Push- und Pull-Faktoren der Migration (Lee) und der Mobilitätstransition (Zelinsky) . Seit dieser Zeit gibt es auch, vor allem in den immer stärker multikulturell werdenden USA und in Kanada, eine heftige Diskussion um Assimilation und Ghettobildung, die in den späten 1960er Jahren durch eine intensive Multikulturalitätsdebatte in post-strukturalistischer Hinsicht abgelöst wurde, die wiederum vor allem in Großbritannien von den Nachfahren von Migranten aus dem Commonwealth geführt wurde (Stuart Hall, Homi Bhabha) . Deutschland, das sich in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts vor allem mit der Frage der „Reinheit des Volkes“ beschäftigt hatte, importierte in Ermangelung eigener Ansätze die anglo-amerikanischen Konzepte und übertrug sie auf eine ganz anders gelagerte Einwanderungsstruktur . Zusätzlich versuchten ökonomisch orientierte Theorien des Weltsystems, der Rational Choice- und Systemtheorien, die Prozesse der Migration allgemeiner zu fassen . Klassenorientierte Ansätze wiederum interpretierten die wiederkehrenden Benachteiligungen von Einwanderern auf den Arbeitsmärkten als politischen, nicht allein ökonomischen Prozess . Erst seit den 1980er Jahren wird Migration verstärkt auch als Prozess des Mi10

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

kro- und Mesolevels, als „soziales Ereignis“, das zu einer „mechanischen“ Sichtweise von „Strömen“ und „Flüssen“ nicht passt, interpretiert . Dieser Schnelldurchlauf durch die „Klassiker“ deutet schon an, wie sehr die Thematik der internationalen Migration mit der Idee des „Anderen“ verknüpft ist und wie stark das Thema Generationen von Wissenschaftlern inspiriert hat und aus guten Gründen bis heute inspiriert . In dieser Einführung findet eine Beschränkung auf solche Ansätze statt, die explizit auch Bezug auf den Raum nehmen und in der deutschsprachigen Sozialgeographie rezipiert werden . „Raum“ wird nicht als gegenständlich besetzter Containerraum interpretiert, sondern internationale Migration wird hier als ein Element der Verflechtung verschiedener Handlungs- und Raumebenen betrachtet: Jede Migrationsform und jedes Migrationsprojekt (damit ist jedes individuelle Migrationsvorhaben und dessen Umsetzung gemeint) lässt sich letztlich nur als Ergebnis von strukturellen Rahmenbedingungen im Austausch mit individuellen Entscheidungsprozessen, die über soziale Netzwerke und institutionelle Kontexte innerhalb bestimmter, diskursiv normierter Felder vermittelt werden, verstehen . Mögen die Migranten formal nach Kategorien geordnet sein, in der Realität finden sich fast immer Mischformen . Das bedeutet konkret: Der indische IT-Arbeiter mag vielleicht mit einer deutschen Greencard gekommen sein (= Arbeitsmigrant in einer Ausnahmekategorie des allgemeinen Anwerbestopps), inzwischen hat er aber geheiratet, um seinen Status nicht zu verlieren (= Familienzusammenführung) . Und er wäre auch nicht gekommen, hätte es nicht schon einmal eine Anwerbung von Migranten aus Indien in Deutschland gegeben (= Hinweis auf die Bedeutsamkeit der Migrationsgeschichte), so dass sich in ihm als Person alle drei Ebenen miteinander verschränken . Räumlich teilt sich dies auf in „lokal“, „regional“, „national“ und „global“, sozialfunktional wird eher von „Mikro-“, „Meso-“ und „Makroebene“ gesprochen . Auch handlungssoziologisch gibt es unterschiedlichste Akteurskonstellationen: das Individuum, d .h . die Akteure, den Haushalt, die Nachbarschaften und Gemeinschaften sowie die Netzwerke und Migrationsregime, teilweise sowohl der städtische Kontext als auch transnationale Verbindungen . All dies wird von einer Reihe von politischen und rechtlichen Regulierungen (wie z .B . Ein- und Ausreisebestimmungen, Staatsbürgerschaftsregelungen, Zugänge zu den Ressourcen des Sozialstaates, Arbeitsmarkt- und Bildungsregulierungen) gerahmt . Eine wichtige Bedeutung besitzen darüber hinaus auch die gesellschaftlichen Normen, außerdem die Religionszugehörigkeit, Wertvorstellungen, der gültige Bildungskanon, Sozialverhalten und Entscheidungsfreiheiten, Geschlechterrollen und -zuschreibungen, die unmittelbar auf das Verhalten der Migranten und ihres Umfeldes einwirken . Um Migration ranken sich außerdem die Erzählungen der Gesellschaft, über Diskurse und Alltagspraxen werden die Migranten in der Gesellschaft platziert . In der globalisierten Welt stellen internationale Migrationen gleichsam Kristallisationspunkte des sozialen und räumlichen Wandels dar und 11

Mehrdimensionaler zugang zum Verständnis von Migrationsprozessen

akteurskonstellationen, wild und durcheinander

Migranten werden über Diskurse und alltagspraxen platziert

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

produkt und produzent sozialer Wirklichkeiten

Migrantinnen und Migranten sind dementsprechend zugleich selbst Produkt und Produzent sozialer Wirklichkeiten . Die Schwerpunkte jeder Analyse von Migration verschieben sich, je nachdem, ob man auf die räumliche, relationale, gesellschaftliche oder politische Struktur eingeht, oder ob man eher lokale und mikrosoziale oder globale und makrostrukturelle Faktoren in den Fokus nimmt – oder den Diskursen über all dies nachspürt . Nur auf den ersten Blick ist die Migrationsgeschichte einer Person eine singuläre Erscheinung; auf den zweiten Blick lässt sich meist erkennen, dass jedes Migrationsprojekt Ausschnitte einer überindividuellen gesellschaftlichen Realität widerspiegelt . Die Wege, die Migranten gehen, die Geschichten, die sie erzählen, die Arbeit, die sie verrichten: All dies folgt fast immer einem bestimmten sozialgeographischen Skript .

Abb . 1 fasst einige Elemente dieser Komplexität in einem einfachen Schema zusammen .

abb. 1: ein einfaches Schema der Betrachtungsebenen von Migration 12

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Migration bildet unter anderem deshalb ein zentrales Thema für die Geographie, weil sich diese seit ihren Anfängen mit Verteilungsfragen im Raum befasst (Was und wer ist wo? Wer bewegt sich von wo nach wo und warum?) . Seit der Globalisierung durch die „Entdeckungen“ und den Kolonialismus, insbesondere aber seit der Restrukturierung und Transformation des kapitalistischen Weltsystems in den 1990er Jahren haben sich die weltweite Raumorganisation, und damit auch die Verteilung von Chancen und Risiken für den Einzelnen, grundlegend verändert . Die Verkürzung von Raumzeitdistanzen macht es immer mehr Individuen möglich, bestimmten – an nationalstaatliche Territorien geknüpften – Entwicklungsdynamiken zu entfliehen und sich in andere einzugliedern . Die Ungleichzeitigkeit von sozialräumlichen Prozessen wird zunehmend zur Norm . Viele Migrationsformen (Kolonisation, Arbeitsmigration, Familienzusammenführung, Flucht) führen zur Ablösung von Individuen (oder ganzen Gruppen von Individuen) aus einem regionalen System und zur Hinwendung bzw . Eingliederung dieser Individuen bzw . Gruppen in ein anderes regionales System . Migration verknüpft solche regionalen Systeme und erzeugt damit interregionale (oder eben internationale) Dynamiken . Ein gewisses Maß an länderkundlichem bzw . regionalkundlichem Wissen ist damit eine der Voraussetzungen zu einem tieferen Verständnis von Wanderungsprozessen . Denn Individuen sind in ihren Handlungen immer verortet und durchgängig in regionalen Strukturen sozialisiert .Was Menschen glauben, wie sie agieren, all dies sind Ergebnisse ihrer Prägung in bestimmten raum-zeitlichen Strukturen: Geography matters! Die von den Migranten zusätzlich selbst produzierte „Länderkunde“ ist höchst dynamisch . Migranten verändern den Raum, aus dem sie kommen, durch ihr Fehlen; prägen Transiträume, und dort, wo sie hingehen, leisten sie ihren kulturellen, sozialen und ökonomischen Beitrag zur Raumgestaltung . Im Gegensatz dazu gibt es Kräfte, die solchen Bewegungen entgegenstehen und Immobilität erzeugen . Man denke nur an die zahlreichen Maßnahmen zur Grenzsicherung zwischen den Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens, Einbürgerungsverfahren oder etwa Flüchtlingslager . Hier wird durch den massiven Ausbau von Grenzen physisch Immobilität geschaffen, die Migrationsströme verhindert, lenkt oder durch Ausschluss gar verstärkt oder auf neue Routen lenkt . Es geht noch weiter: Ganze Gruppen von Menschen sind durch soziale Zuschreibungen von Migrationskreisläufen und von Mobilitätsformen abgeschnitten . Dies ist in sehr vielen Regionen der Welt für Frauen der Fall, denen generell weniger Mobilität zugestanden wird als Männern, und weil sie oft auf andere Mobilitätsformen angewiesen sind . Prinzipiell entstehen vor allem den besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen in Krisengebieten durch Immobilität Risiken .

13

Vorhandene Kreisläufe verstetigen sich und weisen zukünftigen Migrationen den Weg

erzeugung von immobilität

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Mit den neuen globalen Herausforderungen, wie beispielsweise den regionalen und lokalen Umweltfolgen des Klimawandels, verschärfen sich angelegte Konfliktlinien zusätzlich und lange angelegte Muster der (Im-)mobilität verstärken sich .

proaktive und reaktive entscheidungsautonomie

indikator für Konfliktlinien, willkommene projektionsfläche

Migranten bewegen sich generell in einem Spannungsfeld, das zwischen den Polen maximaler Entscheidungsautonomie (proaktiv) und nicht existenter Entscheidungsautonomie (restriktiv) oszilliert . Abb . 2 unterstreicht die eingangs angeführte Unterscheidung zwischen denen, die wandern dürfen, und denen, die sozusagen „gewandert werden“ . Die Matrix bildet auf der vertikalen Achse den Grad der „Freiwilligkeit“ von Migration ab (von restriktiv zu proaktiv) . Die horizontale Achse verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen rein ökonomisch motivierter oder aber von sozialen und politischen Faktoren beeinflusster Migration, beispielsweise durch die räumliche Definitionsmacht von Staaten mittels deren Visa- und Aufenthaltspolitiken . Durch diese rechtlichen Bestimmungen haben viele Migranten geringe Kontrolle über die Zielorte oder das Timing ihrer Wanderung . Die im Zentrum der Matrix platzierten Migrationen sind oft besonders stark ökonomisch gesteuert, an den Rändern der Matrix sind sie stärker durch politische Vorgaben gegängelt . In der Wanderungsrealität verschwimmen diese Faktoren häufig (vgl . Richmond 1988: 20 f .) . Migration ist auch, und dies zeigen viele der in dieser Einführung vorgestellten Analysen, ein guter Indikator für unbewältigte, häufig unsichtbare gesellschaftliche Konfliktlinien . Migranten wirken in Gesellschaften hinein, provozieren Konflikte in den Aufnahmegesellschaften und dienen der ansässigen Bevölkerung als Projektionsfläche für eigene Befürchtungen und Ängste, fördern aber auch zugleich Kritikfähigkeit, Innovation und Kommunikation . So kommt es, dass Migrationsthemen „heiße“ gesellschaftliche Themen sind, die dementsprechend auch politisiert sind . Es ist der Anspruch dieses Buches, Migration als gelebte Geographie zu verstehen und als regional eingebettete soziale Konfiguration zu interpretieren . Die Kombination von empirischer Analyse und theoretischen Überlegungen ist eine der großen Herausforderungen der geographischen Migrationsforschung (vgl . beispielsweise Fassmann 2002: 345 ff .) . Dieser doppelten Konstruktion folgend finden in dieser Einführung sowohl empirische als auch theoretische Ansätze zum Verständnis von Migration ihren Platz, wobei sie oft über eine „Unterkategorie“ der Bevölkerungsgeographie hinausgehen und in Richtung einer neuen Sozial- und Kulturgeographie weisen . Migrationen bedeuten eine solch starke Triebkraft des weltweiten Transformationsprozesses, dass in diesem Lehrbuch (zugegebenermaßen etwas schematisch) zwischen den „alten“ und den „neuen“ Geographien der Migration unterschieden wird . Selbstverständlich bestehen zwischen diesen 14

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

abb. 2: Migration: ein Kontinuum zwischen proaktiver und reaktiver entscheidungsautonomie

verschiedenen sozialräumlichen Formationen starke Überschneidungen . Ähnlich wie die Industrialisierung im ausgehenden 19 . Jahrhundert bringt die seit den 1990er Jahren beschleunigt voranschreitende Globalisierung weltweit neue Mobilitätsmuster und neue Formen der Migration mit sich, die wiederum neue soziale und räumliche Entwicklungen anstoßen, behindern oder verstärken . Hinduistische Tempel in Deutschland, zahlreiche mit Rücküberweisungen von Migranten errichtete Gebäude in den Herkunftsorten, in einem Konstanzer Gymnasium sozialisierte Mädchen, die sich in Syrien zu Dschihad-Kämpferinnen ausbilden lassen – diese Beispiele verdeutlichen in markanter Weise die enormen Umwälzungen der letzten drei Jahrzehnte . Die hier präsentierten „neuen Geographien“ der Migration in Form einer kurzen Einführung bleiben fragmentarisch und erheben nicht den Anspruch, ein Gesamtbild der aktuellen Migrationen und deren wissenschaftlicher Bearbeitung wie in einem Handbuch zu entwerfen . Doch sie wollen den Blick dafür öffnen, an welchen Punkten die internationalen Migrationen so etwas wie eine geographische Dimension aufweisen, wollen 15

alte und neue Geographien der Migration

Migration und Mobilität sind teil der neujustierung von zentren und peripherien, geben hinweise auf sich verschiebende Grenzen

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Migration ist ein zutiefst räumlich verankerter prozess

Konzeptioneller rahmen des Buches, Struktur

deren räumliche Verankerung freilegen . Im Fokus dieser Einführung stehen die internationalen Migrationen, während die Flüchtlingsbewegungen – die ebenfalls Teil der internationalen Mobilitätsregime sind – nur am Rande behandelt werden .1 Im ersten Kapitel des Lehrbuchs werden die grundlegenden Begrifflichkeiten und Definitionen vorgestellt . Das zweite Kapitel widmet sich der Aufbereitung der gängigen theoretischen Positionen und den methodischen Zugängen, hauptsächlich in der deutschsprachigen Literatur . Es bringt verschiedene Ansätze mit in den Kanon ein, die bislang in der geographischen Literatur nicht weiter beachtet wurden . Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der historischen und regionalen Ausdifferenzierung von Migration bis zum wiedervereinigten Deutschland . Die darauf folgenden Kapitel vier bis sechs befassen sich mit den neuen Geographien der Migration, wie sie sich aktuell abzeichnen und wissenschaftlich bearbeitet werden . Zunächst wird im vierten Kapitel die Entwicklung im Einwanderungsland Deutschland beleuchtet und dann der europäische Migrationsraum behandelt . Im fünften Kapitel werden die rasanten Veränderungen auf globaler Ebene erläutert . Am Beispiel des Klimawandels wird gezeigt, wie sich globale Prozesse lokal auswirken und in welchem Zusammenhang sie mit Migrationen stehen . Im sechsten Kapitel stehen die lokalen, in der Regel städtischen, Problematiken und Potentiale der Migration im Zentrum des Interesses . An wiederkehrenden Beispielen in verschiedenen Ländern werden auf einer Metaebene die Besonderheiten von Migrationsprozessen als sozialräumlichem Agens aufgezeigt . Wo möglich und sinnvoll, werden die Ausführungen durch regionale Fallbeispiele illustriert . In beiden Textteilen, dem stärker theoretisch (Kapitel eins bis drei) und dem stärker

1

16

Viele Kollegen haben im mehrjährigen Prozess zum Gelingen dieser Einführung beigetragen: Den größten Dank schulde ich dem Herausgeberteam, allen voran Werner Gamerith, Susanne Henkel und Woody Sahr sowie Ute Wardenga . Astrid Mehmel, Andreas Pott, Andreas Farwick, Josef Nipper, Dirk Hoerder, Jochen Oltmer, Giulia Borri und Usha Ziegelmayer haben zu einzelnen Kapiteln Anregungen gegeben oder diese gegengelesen . Zahlreiche Studierende aus Bremen und Köln haben Feedback zu Teilen des Manuskripts eingebracht, Veronika Steffens und Jan Peters (Universität zu Köln) haben den Text in Form gebracht, Regine Spohner und Ulrike Schwedler erstellten exklusiv für dieses Buch Karten und Abbildungen . Kerstin Wegel am IRS übernahm die Schlusskorrektur . Die Universität Bremen, die Freie Universität Berlin und die Universität zu Köln haben mir durch die Möglichkeit befristeter Professuren die Chance gegeben, kontinuierlich an der hier präsentierten Thematik zu arbeiten . Außerdem möchte ich an dieser Stelle den vielen „kleinen Helfern“ der Migration, meiner Familie Tang, Noacks & Bobby, auch den (insbesondere amerikanischen) Freunden für ihre Gastfreundschaft und Anregungen danken . Ohne den Input Vieler hätte diese kurze Einführung nicht zustande kommen können . Mille grazie!

1.1 GänGiGe Definitionen, t ypen Der MiGration

aktuell und empirisch ausgerichteten (Kapitel vier bis sechs), werden zum vertiefenden Verständnis Querbezüge hergestellt2 . 1.1 Gängige Definitionen, typen der Migration Ganz allgemein gefasst, beschreibt Migration eine räumliche und soziale Ortsveränderung, die durch die (häufig subjektive) Festlegung von Kriterien sichtbar gemacht werden kann . Es existiert keine einheitliche Definition dessen, was als „Migration“ gefasst wird – sie ist Teil allgemeiner Mobilität, die wiederum in „soziale Mobilität“ (= Veränderungen des sozialen Status, soziale Auf- und Abwärtsmobilität) und „räumliche Mobilität“, manchmal auch „horizontale Mobilität“ genannt (= alle Bewegungen im Raum), unterschieden wird (Bähr 1992, Han 2005, Oswald 2007) . Die Übergänge zwischen den einzelnen Kategorien fließen, so dass jeder Klassifikation etwas Künstliches anhaftet . Trotzdem sind die Klassifikationen notwendig, um überhaupt systematische Aussagen machen zu können . Im Folgenden werden die wichtigsten für eine Migrationsgeographie notwendigen Definitionen vorgestellt . Zur Klassifizierung von Wanderungsprozessen werden zunächst räumliche und zeitliche Kriterien herangezogen (Distanz und Richtung bzw . Dauer und Frequenz der Migration) (vgl . Bähr 1992, Treibel 1999, Wehrhahn und Sandner LeGall 2011, Han 2005, Hahn 2012, Oswald 2007) . Außerdem erfolgt eine Typisierung über den rechtlichen Status der Migranten (legal vs . illegal, oder aber Familiennachzug) und über die Form der Arbeitsmarktintegration (z .B . nach Branchen oder Beschäftigungstypen wie IT-Arbeiter oder „Saisonarbeiter“) . Diese definitorischen Eingrenzungen von Migrationsbewegungen sind die gängigsten . Manchmal wird auch eine Klassifizierung nach dem Umfang der Migrationsbewegungen (Kollektiv- und Massenwanderungen vs . Einzelwanderungen, Pionierwanderungen) sowie nach dem Grad der Unfreiwilligkeit bzw . Freiwilligkeit vorgenommen . Hinsichtlich der Freiwilligkeit wird eine Skala der Extreme zugrunde gelegt: Sklavenwanderung und Menschenhandel stehen am einen Ende und Formen freiwilliger Altenwanderung an ihrem anderen Ende . Vereinzelt wird auch die Intention (vgl . hierzu auch Treibel 1999: 22 ff .) als Unterscheidungsmerkmal zur Typisierung von Migrationen herangezogen . Als üblich gilt darüber hinaus eine Unterscheidung nach migrationsauslösenden Faktoren, d .h . den angenommenen Gründen von Migration (z .B . ökonomische, soziale, politische, ökologische, kulturelle und religiöse 2

Eine geschlechtergerechte Sprache im Sinne einer Binnen-I-Schreibweise wurde in dieser kurzen Einführung zugunsten einer durchgängigen Betonung der bestehenden und im Migrationsprozess reproduzierten Genderarchitektur zurückgestellt . 17

soziale vs. räumliche Mobilität

Klassifizierungen

es existieren Definitionen über die zeit, den raum, den arbeitsmarkt und rechtliche Bestimmungen und über die zugrundeliegenden Motive

Migrationsauslösende faktoren

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

immigration/ emigration/ transitmigration

long-term migrant/ short-term migrant

intention und freiwilligkeit von Migration

ab wann wird Migration zur flucht? Die Genfer flüchtlingskonvention von 1951

Auslöser) . Manchmal bilden auch die Charakteristika der Migranten selbst (z .B . nach Alter, Geschlecht, sozialer Schicht und Bildungsgrad) die Grundlage für die Typisierung, dies nennt man die „Selektivität“ von Migration . Übersicht 1 fasst die verschiedenen Kriterien zusammen und nennt exemplarisch die wichtigsten Migrationsformen . Distanz und Richtung leiten sich aus der Betrachtungsperspektive (Mikro-, Meso- oder Makroebene) ab, regelmäßig auch einfach aus den bestehenden administrativen Vorgaben . Aus kommunaler Sicht bedeutet bereits die Überquerung von Gemeindegrenzen eine Außenwanderung, während aus nationaler Perspektive erst das Überschreiten einer Staatsgrenze eine Außenwanderung darstellt . Bei der internationalen Migration werden Ländergrenzen überschritten . Sie wird deshalb in Immigration (= Einwanderung), Emigration (= Auswanderung) sowie Transitmigration (= vorübergehende, weiterziehende Wanderung) unterteilt . Man spricht dementsprechend auch von Immigranten, Emigranten sowie Transmigranten . Es ist eine Definitionsfrage, ab welcher Dauer eine Wanderung jeweils als Zirkulation, als nicht-permanente oder permanente Migration aufgefasst wird . Häufige Hin- und Rückwanderungen können bei einer hohen Frequenz als Zirkularität gezählt werden . Gemäß der UN-Nomenklatur wird ein Migrant als long-term migrant bezeichnet, wenn dieser für mindestens ein Jahr seinen Wohnsitz in ein anderes Land verlegt bzw . seinen üblichen Wohnort für einen Aufenthalt von mehr als einem Jahr verlässt . Kurzzeit-Migranten, die short-term migrants, dagegen verlegen ihren Wohnsitz voraussichtlich nur zwischen drei Monaten und einem Jahr in das Zielland . Hier ergeben sich Überschneidungen mit Pendlern,Touristen und zu diplomatischen oder Geschäftszwecken Reisenden sowie mit Militärangehörigen . Laut UN-Definition gehören auch Flüchtlinge und Asylbewerber zu den Migranten, obwohl ihre voraussichtliche Aufenthaltsdauer unklar bleibt . Hier wird die Intention der Wanderung als Unterscheidungsmerkmal herangezogen . Je weniger freiwillig eine Migration geschieht, desto eher spricht man von Flucht . Genau diese Einschätzung über den Grad der Freiwilligkeit der Migration gestaltet sich in der Praxis sehr schwierig und führt zu einer Vermischung der Begrifflichkeiten . In vielen Situationen fehlt es an klaren Indikatoren, ob und ab wann es sich „wirklich“ um eine „Flucht“ handelt, weil die jeweils zugrunde liegenden Risikoeinschätzungen und Ressourcen der Menschen völlig unterschiedlich sind . Wann gilt beispielsweise eine Dürre als Anlass für eine Flucht und welcher Grad der Verfolgung legitimiert dazu, sich politisch verfolgt zu fühlen? Prinzipiell ist der Flüchtlingsbegriff an die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gebunden . Eine Anerkennung als Flüchtling bedeutet, dass rechtliche Ansprüche auf Hilfsmaßnahmen bestehen . Die möglichen Fluchtgründe sind in dieser Konvention festgelegt . Umweltveränderungen gehören beispielsweise nicht zu den dort aufgeführten Gründen und zwar einfach deshalb, weil in den 1950er Jahren, als die Konvention konzipiert wurde, Umweltfragen (noch) kein Thema waren . 18

1.1 GänGiGe Definitionen, t ypen Der MiGration

Übersicht 1: Die Dimensionen der Definitionen von Migration 19

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Exkurs: Die Genfer Flüchtlingskonvention Auszüge im Wortlaut: Flüchtling ist eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ […] Die Vertragsstaaten verpflichten sich „die Bestimmungen dieses Abkommens auf Flüchtlinge ohne unterschiedliche Behandlung aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes an[zu]wenden“ (Artikel 3) . […] statt [H]insichtlich des [freien und ungehinderten] Zugangs zu den Gerichten einschließlich des Armenrechts sowie „hinsichtlich des Unterrichts an Volksschulen“ und der „Freiheit der Religionsausübung“ genießt ein Flüchtling „dieselbe Behandlung wie ein eigener Staatsangehöriger“ (Artikel 16, 22 & 4) . [H]insichtlich des Erwerbs von beweglichem und unbeweglichem Eigentum“, der Sozialen Sicherheit, dem Vereinigungsrecht, dem Wohnungswesen, der (nicht)selbständigen Arbeit, der „öffentlichen Fürsorge“ und dem „über die Volksschule hinausgehenden Unterricht, insbesondere die Zulassung zum Studium“ erhält ein Flüchtling „eine […] jedenfalls nicht weniger günstige Behandlung [ . . .], als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Bedingungen gewährt wird“ (Artikel 13–24) . Es besteht ein Verbot der Ausweisung und Zurückweisung: „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit [ . . .] bedroht sein würde .“ (Artikel 33) . UNHCR, 1951, Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28 . Juli 1951 . – New York, http://www .unhcr .de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_1/FR_int_vr_GFK-GFKundProt_GFR .pdf, (aufgerufen am 24 .02 .2015)

Außer der Genfer Flüchtlingskonvention bestehen weltweite Ansätze zur Regulierung und zum Schutz von Migranten . Generell stehen Wanderarbeiter, wie alle anderen Menschen auch, seit 1948 unter dem Schutz der internationalen Menschenrechtserklärung . Besonderen Schutz sollte die Empfehlung 62 der ILO (International Labour Organisation) von 1939 bieten, die eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit bezüglich der Anwer20

1.1 GänGiGe Definitionen, t ypen Der MiGration

bung, der Arbeitsvermittlung und der Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter der ILO vorsieht und besonders verwundbare Arbeitsmigranten schützen soll . 1949 wurde die ILO Convention Nr . 97 erneuert, seit dem Ölpreisschock schließlich auch durch die ILO Convention 143 auf irreguläre Arbeitnehmer ausgeweitet . Seit 1979 setzt sich eine Vielzahl von Sendeländern für die Ratifizierung der ICRMW (International Convention on the Protection of the Rights of All Migrant Workers and Members of Their Families) ein . Eine Ratifizierung dieser Konvention durch die Zielländer der Arbeitsmigration, d .h . im Wesentlichen die westlichen Industriestaaten, steht jedoch weiter aus (vgl . Cholewinski et al. 2009) . Eine gängige Möglichkeit, Migrationsbewegungen zu klassifizieren, besteht in der Betrachtung der rechtlichen Dimension, d .h . in der Betrachtung des formalen Zugangs zum Aufnahmeland . Wichtigstes Differenzierungsmerkmal bildet die Unterscheidung in den Status legal oder illegal, danach ob die Einreise und der Aufenthalt eines Menschen im jeweiligen Aufnahmeland behördlich anerkannt und bestätigt sind oder ob sie undeklariert und auf eigenes Ermessen des Migranten hin geschehen (Triandafyllidou und Vogel 2010) .Visa und Aufenthaltsgenehmigungen regeln den Aufenthalt der Migranten . Sie bestimmen, wer unter welchen Bedingungen in ein Land einreisen kann und mit welchen Rechten er oder sie ausgestattet ist . Hält sich jemand ohne Visum oder Aufenthaltsgenehmigung in einem Land auf, dann wird er oder sie als „illegal“ bezeichnet . Ist das Visum oder die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen und befindet sich die Person noch im Land, spricht man von „Overstayern“ . Im angelsächsischen Sprachgebrauch spricht man auch von „undocumented“, um damit auszudrücken, dass nicht der Mensch an sich, sondern sein Aufenthaltsstatus nicht geregelt ist . In fast allen Ländern gehört die Einwanderungsgesetzgebung heute zu den komplexesten juristischen Regelwerken überhaupt . Als üblich gilt außerdem auch eine Unterscheidung nach migrationsauslösenden Faktoren . Ökonomische Faktoren bilden einen der Hauptgründe für Migration . Daher ist es kaum erstaunlich, dass sich ein Großteil der Forschung auf die verschiedenen Formen der Arbeitsmigration bezieht (vgl . zu den „Klassikern“ auch Kapitel 2 .5) . Politische Faktoren wirken unmittelbar auf Migrationsprozesse ein . Konflikte, Krisen und gewaltsame Auseinandersetzungen bilden regional bedeutsame Auslöser von Migrationen und von politischer Verfolgung, Umsiedlungsmaßnahmen und planerische Eingriffe wirken auf lokaler oder regionaler Ebene (Zolberg und Benda 2001) . Soziale Faktoren strukturieren den Migrationsprozess, weil sie für die Ausgestaltung von Migrationsnetzwerken und Kettenwanderungen grundlegend sind (vgl . Kapitel 2 .4 .2) . Durch sie werden die gesellschaftlichen Normen des Zusammenlebens festgelegt, sie entscheiden über die Selektivität von Wanderung, d . h . darüber, wer weggeht und wer bleibt . Kulturelle und religiöse Faktoren spielen deutlich in den Migrationsprozess hinein, denn sie umreißen beispielsweise, ab wann Gruppen 21

ilo Wanderarbeiterkonvention

legale/illegale Migration

overstayer

Migrationsauslösende faktoren: ökonomisch/ politisch/sozial/ kulturell/religiös

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Mythenbildung und narrationen

Globaler Wandel, lokale Migrationen

Migration ist ein geschlechtsspezifisch strukturierter prozess.

Biographische ereignisse und Migration

Beweglicher forschungsgegenstand

von der Mehrheit als Minderheiten wahrgenommen werden und in ihrer Repräsentation von der Mehrheitsgesellschaft abgespalten werden (Bha­ bha 2000 oder Hall 2004) . Immer wieder kommt es zu Mythenbildung: Das Bild des Migranten als bewunderter „Held“ beschreibt die Kehrseite der Verachtung und Enttäuschung über denselben Migranten, der seine Angehörigen zu Hause zurückgelassen hat . Die kursierenden Narrationen über die „grüneren Wiesen der Anderen“ bei den migrationsbereiten Teilen der Bevölkerung entwerfen ein Spiegelbild vorhandener allgemeiner gesellschaftlicher Wünsche und Bedürfnisse . Auch ökologische Faktoren entwickelten sich in der vergangenen Dekade zu einem wichtigen Migrationsgrund (vgl . Kapitel 5 .5) . Die verschiedenen Gründe von Migration treten so gut wie nie isoliert voneinander auf, sondern liegen für das wandernde Individuum gleichzeitig in mehreren der genannten Bereiche, überwiegen in bestimmten Altersgruppen, variieren nach Geschlecht und sozialer Gruppe und vor allem auch nach Wanderungsdistanz . Fast genauso viele Frauen wie Männer wandern – doch sie tun es mit anderen Voraussetzungen und Möglichkeiten, sind anderen Erwartungen und Restriktionen ausgesetzt . „Geschlecht“ ist damit eine strukturierende Variable in der internationalen Migration: Weltweit stehen Frauen andere Bildungsressourcen, geringere finanzielle und materielle Mittel zur Verfügung, und sie sind im Migrationsprozess regelmäßig körperlicher Gewalt ausgesetzt . Noch mehr: Weltweit existieren geschlechtsspezifische Geographien der Migration, wie es sich bei der Herausbildung von global care chains oder etwa der männerdominierten Hochqualifiziertenwanderung zeigt (Hillmann und Wastl­Walter 2012) . Das in der Genderforschung bekannte „doing-gender,“ der über die alltägliche Praxis immer wieder neu hergestellte Aushandlungsprozess darüber, was für Frauen und Männer als gesellschaftlich legitim angesehen wird, tritt in der Migration besonders deutlich hervor . Nicht nur, dass in der Forschung weiterhin der männliche Migrant als „Normalfall“ angesehen wird und der Genderdynamik relativ wenig Beachtung geschenkt wird: Migrantinnen werden auch durch die Mehrheitsgesellschaft andere Plätze als Migranten „zugewiesen“ (Wastl­Walter 2010) . In der soziologischen Wanderungsforschung finden sich prominent auch Ansätze, die das Mobilitätsverhalten von Individuen untersuchen . In dieser Lebenslaufforschung stehen die Biographien der Migranten, deren Migrationsverläufe und deren Verwobenheit mit den verschiedenen Lebensabschnitten (Geburt, Ausbildung, Familiengründung, Alter) im Mittelpunkt . Die Migrationsforschung ist auf Statistiken über Wanderungsvorgänge angewiesen . Je genauer und klarer die dort festgehaltenen Wanderungszahlen definiert sind, desto aussagekräftiger können auch die Forschungsergebnisse sein . Doch gibt es hier – dies zeigt der folgende Abschnitt – eine Reihe von Schwierigkeiten, die in der Natur des Untersuchungsgegen22

1.2 Grenzen unD MöGlichKeiten Der StatiStiK

standes liegen: Er ist beweglich . Wer schon mal versucht hat, Fische in einem Aquarium zu zählen, kann sich vorstellen, was für eine anspruchsvolle Aufgabe das ist . 1.2 Grenzen und Möglichkeiten der Statistik Infolge der uneinheitlichen Klassifizierung von Migrationsbewegungen gestaltet sich die Messung von Migrationen als komplexes Unterfangen . In der Statistik unterscheidet man flow data (= Erhebung der Zu- und Abwanderungen, die eine administrative Ebene überschreiten) und stock data (= Bestandsdaten, es werden die in einer administrativen Einheit ansässigen Migranten gezählt) . Eine weitere Unterscheidung in der internationalen Statistik stellt diejenige nach Migrant (allgemeine Bezeichnung für die eingewanderte Person) dar, sie kann sich auf Personen beziehen, die eine andere Staatsangehörigkeit als die des Aufnahmelandes haben, oder auf Eingebürgerte, „Ausländer“ (Menschen mit einer nicht dem Aufenthaltsland entsprechenden Staatsangehörigkeit, d . h . ohne Pass dieses Landes) und Minderheiten (Angehörige einer anerkannten Minderheit mit einem bestimmten ethnischen und religiösen Hintergrund) . Für viele Länder hat sich außerdem eine Unterscheidung nach dem Herkunftskontext (dem sogenannten „Migrationshintergrund“) eingebürgert . So kommt es, dass auch Menschen, die selbst nie gewandert sind, einen Migrationshintergrund besitzen können, einfach weil ihre Eltern oder Großeltern eingewandert sind . Exkurs: Wer ist laut Statistik ein Migrant? Es gibt in Deutschland eine lange und hitzige Debatte darüber, wer als Migrant bezeichnet werden sollte . Denn der Begriff, den man sich von den „Anderen“ macht, repräsentiert immer auch die damit verbundene Eigenwahrnehmung – mit echten Folgen für die Betroffenen . Nachdem man im Deutschen Reich zunächst vom „Fremdarbeiter“ sprach, in der Nazizeit vom „Zwangsarbeiter“, ging man im Nachkriegsdeutschland zum „Gastarbeiter“ über, heute wird gerne der Begriff „mit Migrationshintergrund“ eingesetzt (vgl . Kap . 4 .1 .) . Die Debatte zeigt, dass die Figur des Migranten, trotz einer individuellen Objektivität, in unterschiedlichen zeitlichen Phasen oder räumlichen Kontexten in einer kulturellen Subjektivität gefasst wird . Diese schlägt sich auch in der Statistik jeden Landes nieder .

23

flow data vs. Stock data

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

Die Messung von Migrationsbewegungen und -umfang erscheint schon auf nationaler Ebene äußerst schwierig . Denn die Produktion von Migrationsdaten ist in der Regel auf die speziellen administrativen Zwecke und Regierungsziele eines Landes zugeschnitten und damit uneinheitlich . Die zentralen Statistikämter haben in allen Staaten unterschiedliche Einflussmöglichkeiten auf die Produktion der Daten selbst: Manchmal haben sie nicht einmal Zugriff auf die von den einzelnen Ministerien gesammelten Angaben . So dürfen beispielsweise Polizeidaten, die dem Innenministerium zugeordnet sind, in der Regel nicht eingesehen werden und wenn, dann sind sie so stark aggregiert, dass sie keine detaillierte Analyse erlauben . In vielen Staaten liegen als einzige verfügbare Datenquelle die vergangenen Volkszählungen oder Schätzungen vor . Dort existieren auch die in den OECD-Staaten übliche Registrierung der Bevölkerung und die Ausstattung der Bevölkerung mit Personaldokumenten nicht flächendeckend .

international vergleichende Statistiken

un-Statistik

In den international vergleichenden Statistiken spiegeln sich die Probleme der nationalen Statistiken . Sie sollten deshalb mit größter Vorsicht interpretiert werden, eben weil sie sich auf unterschiedliche Datensätze, Indikatoren und wechselnde Definitionen beziehen . So stehen in Deutschland beispielsweise in den Einwohnermeldebehörden nur die „Zuzüge über die Grenzen der Bundesrepublik“ und die „Fortzüge über die Grenzen der Bundesrepublik“ zur Verfügung, es erfolgt aber nicht die entsprechend der UN-Empfehlung gewünschte Unterscheidung in long-term und short-term migrants . Auch bleiben Aspekte vorheriger Aufenthalte der Migranten wie auch die voraussichtliche Aufenthaltsdauer unberücksichtigt – was in den Statistiken anderer Industrieländer durchaus Erwähnung findet . Die UN-Statistik zeigt, dass sich die internationalen Migrationen insbesondere seit den 1990er Jahren weltweit verstärkt haben und dass sich ihr Anteil an der sesshaften Bevölkerung auf gut drei Prozent erhöht hat . Im Umkehrschluss heißt dies, dass die Mehrzahl, 96,9 Prozent der Weltbevölkerung, keine internationalen Migranten sind, sondern entweder sesshaft oder vielleicht Binnenwanderer . Abb . 3 zeigt die Entwicklung der internationalen Migrationszahlen, Schaubild 1 im Anhang präsentiert die wichtigsten Zu- und Abwanderungsländer . Das Schaubild stellt die Einwanderungsdynamik dar, d .h . den Anteil an internationalen Migranten an der Gesamtbevölkerung des Landes im Zeitverlauf 1990 bis 2013 . Einige Länder zeigen eine hohe Dynamik hinsichtlich der Einwanderung, andere eine Abnahme der Migration, genauso viele sind relativ stabil hinsichtlich ihres Migrationssaldos . 24

1.2 Grenzen unD MöGlichKeiten Der StatiStiK

abb. 3: Geschätzte zahl der internationalen Migranten weltweit, 1960–2013

Sucht man internationale Daten, dann sollte man sich für weltweite Statistiken am besten auf die Daten der UN, Department on Economic and Social Affairs, Population Division, beziehen, wo die verschiedenen nationalen Bevölkerungsdaten in einer Datenbank zusammengefasst sind und zweijährlich aktualisiert werden (siehe: http://esa .un .org) . Diese Datenbank liefert einen sehr guten Zugriff auf Daten zu Fertilität und Mortalität, zu Migration und zu Fragen der Urbanisierung . Internationale Statistiken zu den Flüchtlingsbewegungen und zu den IDPs (Internally Displaced Persons, d .h . Binnenflüchtlinge) bietet die Datenbank des UNHCR (http://unhcr .org) . Für die westlichen Industriestaaten der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) wird seit vielen Jahren das Kompendium International Migration Outlook (vormals: SOPEMI) in Paris herausgegeben . In diesem Bericht werden sowohl länderübergreifende Statistiken, Länderdossiers als auch wechselnde inhaltliche Schwerpunkte präsentiert . Wer Daten und Informationen zu Deutschland sucht, sollte zunächst die Internetseiten des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) oder von DESTATIS (Statistisches Bundesamt) konsultieren . Hier hat man Zugang zu den Primärdaten zur ausländischen und migrantischen Bevölkerung in Deutschland, die entweder über das AZR (Ausländerzentralregister, Köln) oder die fortgeschriebenen Meldestatistiken abgeleitet werden, teilweise auch dem Mikrozensus entnommen sind . Auswertungen aus der Volkszählung, die auch statistische Informationen über die migrantische Bevölkerung enthalten, können beim Statistischen Bundesamt abgerufen werden . Weitere Informationen aus Massendaten, z . B . in Form von Surveydaten, finden sich im SOEP (Sozioökonomisches Panel), das vom DIW (Deutsches Institut für Wirtschaft) in Berlin aufgelegt wird . Sekundäre Datenauswertungen bringen auch die zahlreichen Studien der in der Übersicht 2 aufgeführten Forschungseinrichtungen . 25

Datenquellen

Migrationsdaten für Deutschland

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

1.3 Die institutionelle Verankerung der Migrationsforschung und -verwaltung, Datenquellen

Studiengänge

außeruniversitäre institute

In Deutschland besteht ein breites Netz an Institutionen, die sich mit der Erstellung, Bearbeitung und Interpretation von Berichten über Migrationsbewegungen befassen . Die Themen „Migration“ und „Integration“ sind zudem an verschiedenen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen verankert und werden teilweise von Veranstaltungsreihen und Lehrveranstaltungen flankiert . Seit vielen Jahren existieren an verschiedenen Universitäten in den Studiengängen zur Interkulturellen Pädagogik auch Seminare über Migration und Integration (dies ist 2011 der Fall in Berlin (FU), Hamburg, Münster, Mainz, Essen und Köln) . Einige Universitäten bieten Schwerpunkte in der Lehre auf unterschiedlichen Niveaus und in unterschiedlicher Intensität und Regelmäßigkeit an (Bamberg, Berlin (FU und HU), Bremen, Karlsruhe, Kiel, Köln und Mannheim) . Besonders hervorzuheben ist die Arbeit des IMIS (Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien) in Osnabrück, das durch seine Gründer und langjährigen Leiter, den Historiker Klaus J . Bade und den Soziologen Michael Bommes, bis heute eines der wichtigsten Zentren der universitären Migrationsforschung in Deutschland bildet . In Europa ist Großbritannien das aktivste Land in der universitären Migrationsforschung . Ein großer Teil der Migrationsforschung wird in außeruniversitären Instituten erstellt . Von besonderer Bedeutung für Deutschland ist das 2007 gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen . Verschiedene außeruniversitäre Forschungsinstitute wie das WZB (Wissenschaftszentrum Berlin), das HWWI (Hamburgisches WeltwirtschaftsInstitut) sowie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und das BIBB (Bundesinstitut für Berufsbildung) in Bonn behandeln Migration als Unterthema ihrer allgemeinen Forschungen . Im Jahre 2012 hat auch der SVR (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und für Migration) in Berlin eine eigene Forschungsabteilung errichtet, die handlungsorientierte Empfehlungen für die Politik bereitstellt . Die dem BMI (Bundesministerium des Innern) nachgeordneten Behörden BiB (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) und BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) in Nürnberg arbeiten kontinuierlich zu ausgewählten Fragenstellungen der Migration und führen im Rahmen von sogenannter Ressortforschung auch eigene Untersuchungen durch . Bis zur Novellierung des Zuwanderungsgesetzes im Januar 2005 trug das BAMF den Namen „Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ und diente vor allem der Verwaltung von Flüchtlingen und Asylbewerbern . Heute hat diese Institution ein sehr viel größeres Aufgabenfeld erhalten . Eine weitere wichtige Informationsquelle für Studierende ist auch die bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) in Berlin . 26

1.3 Die inStitutionelle VeranKerunG Der MiGrationSforSchunG

Im Bereich der Flüchtlingsarbeit setzt sich seit vielen Jahren PRO ASYL für die Belange der Flüchtlinge ein und hält teilweise eigene Studien vor . Auch auf europäischer Ebene gibt es eine Reihe von Institutionen, die sich mit Fragen von Migration und Flucht befassen und bei denen sich eine Fülle an Material findet . Das größte wissenschaftliche Forschungszentrum zu Migration COMPAS (Centre on Migration, Policy and Society) befindet sich in Oxford (Großbritannien) und ist Treffpunkt internationaler Nachwuchsforscher . Eine weitere Informationsquelle ist der UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees, auch: UN Refugee Agency) mit Hauptsitz in Genf, der sich seit 1951 im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention für Flüchtlinge weltweit einsetzt und sie vor Ort versorgt . Er wird hauptsächlich durch freiwillige Beiträge von Regierungen, zwischenstaatlichen Akteuren, dem UN-Nothilfefonds CERF und durch Stiftungen und Spenden finanziert . Weiterhin ist IOM (International Organization for Migration), ebenfalls mit Hauptsitz in Genf, für Migrations-Management, d .h . für die Begleitung und Unterstützung von Migranten, auch für deren Rückführung in das Herkunftsland, zuständig . Die Organisation beschäftigt sich mit der Optimierung praktischer Fragen der Migration und berät Regierungen . IOM finanziert sich wesentlich über die Mitgliedsbeiträge der 146 Mitgliedsstaaten .Verschiedene NGOs bieten eine Plattform für den informellen Austausch über mögliche und vor allem koordiniertere Kooperation in Migrations- und Asylfragen . International renommiert ist außerdem das 2001 gegründete MPI (Migration Policy Institute) mit Sitz in Washington, DC, das sich hauptsächlich für den Dialog über Migration in der Gesellschaft einsetzt . Es wird von einer Vielzahl von Stiftungen unterhalten

Übersicht 2: Wichtige informationen und Datenquellen zur Migration 27

europäische institutionen

Viele informelle akteure, viele unterschiedliche politische interessen

1. Konzeptioneller rahMen, BeGrifflichKeiten

cSer

typologisierung

und gilt damit als relativ unabhängig von den Erwartungen der Politik . Auch religiöse Organisationen beteiligen sich aktiv an der Produktion von Wissen über Migration und Integration . Das CSER (Centro Studi Emigrazione) mit Hauptsitz in Rom und Niederlassungen in Manila und Staten Island (New York City), Paris, Buenos Aires und weiteren Orten widmet sich der konkreten Unterstützung von Migranten . Gegründet ursprünglich 1887 von Giovanni Battista Scalabrini zur Betreuung der italienischen Übersee-Auswanderer mit dem Ziel der Missionierung, bieten diese Aufnahmeheime heute Migranten temporäre Unterbringung und Schutz und stellen nebenbei eine wichtige Informationsquelle dar . Durch die statistische und rechtliche Festlegung dessen, was als „Migration“ aufgefasst wird, machen die Nationalstaaten Gebrauch von ihrer räumlichen Definitionsmacht und versuchen, sich durch die aus dieser Ordnung abgeleiteten Statistiken einen Überblick über die Bevölkerung zu verschaffen . Die vorgestellte Typologisierung deutet das Spannungsfeld an, das durch diese Festlegungen und durch die tatsächlichen Bewegungen der Menschen im Raum entsteht . Das nächste Kapitel verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Migrationsprozesse im Raum und illustriert, warum eine einheitliche Definition von Migration geradezu sinnlos wäre . Gelegentlich handelt es sich bei Migrationen um einen in sich widersprüchlichen und paradoxen Prozess . Man muss ganz unterschiedliche Handlungsebenen im Blick behalten, fast schon muss man ein wenig schielen, um diesen Prozess in all seinen Umrissen erkennen zu können .

28

2. Theoretische Ansätze der Migrationsforschung Die Fremde ist ein kaltes Kleid Mit einem engen Kragen Ich hab’s mit meinem Koffer oft Im Leben schon getragen

Als Einzelgänger von Natur Wohn ich nicht gern zu Gaste Ich hause lieber unterm Dach Als fremd im Prunkpalaste

Ich reise ohne Stock und Hut Und tanze aus dem Reigen Wenn einer eine Reise tut Da kann er viel verschweigen.

Mascha Kaléko1

Im eigentlichen Wortsinne tritt Migration als wissenschaftliches Thema erst seit dem späten 19. Jahrhundert in Erscheinung, mal als Unterthema anderer größerer Theoriegebäude, mal als eigenständiges Thema. So beschäftigten sich Geographen schon früh mit Migrationsfragen, doch richtete sich ihr Interesse am Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich auf die Bevölkerungsumverteilungen und, ganz prominent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf eine Beschäftigung mit der „Rasse“ und kultureller Superiorität im Zuge nationalistischer Konzepte. Der Nationalismus betrachtete den Staat als einen Container, den es wirtschaftlich, sozial und technologisch effizient als Gebilde zu organisieren galt und in dessen Rahmen Austauschprozesse nur zwischen bestimmten Hierarchieebenen zugelassen waren. In der Nachkriegszeit hatte sich in der Disziplin Geographie vor allem die Bevölkerungsgeographie mit einem Fokus auf Binnenmigration als Teildisziplin etabliert. Erst die in den späten 1970er Jahren entstehende Sozialgeographie griff dann die in den Sozialwissenschaften längst diskutierten Fragen internationaler Migration und der Integration auf. Bis heute entwickelt sich die geographische Migrationsforschung in Bezugnahme auf die Sozialwissenschaften. Daher werden diese beiden Stränge in dieser Einführung im Zusammenhang diskutiert. Mit dem Aufkommen der „neuen Geographien der Migration“, ausgelöst durch die seit den frühen 1990er Jahren beschleunigte Globalisierung, verschmolzen die verschiedenen disziplinären Stränge der Migrationsforschungen so stark, dass sie hier fachübergreifend behandelt und besonders die sozialgeographischen Aspekte hervorgehoben werden. Zunächst werden die bis heute zentralen theoretischen Positionen der Sozialwissenschaften vorgestellt. Sie beziehen sich anfangs überwiegend auf die Konfiguration des Migranten als soziales Subjekt, auf seine Position des Fremden, des Menschen am Rande der Gesellschaft (Kapitel 2.1.). In der Nachkriegszeit entwickeln die Sozialwissenschaften neue Forschungsan1

›Chanson aus der Fremde‹. Aus: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. © 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag, München. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages. 29

Sozialwissenschaftliche Ansätze, Bevölkerungsgeographie und Sozialgeographie im Zusammenhang

Eigenständiges Forschungsgebiet vs. Unterabteilung

Übersicht 3: theorien, forschungspraxis und Migrationsereignisse 30

2.1 Die anfänGe Der MiGrationSforSchunG

sätze: Die Formierung von Minderheiten, die damit verbundene Repräsentation und die Wahrnehmung eben jener Minderheiten sind Teil der allgemeineren gesellschaftlichen und räumlichen Entwicklung und provozieren eine Beschäftigung mit den Prinzipien und Konstruktionen der Ausgrenzung (Kapitel . 2 .2) . Es folgt eine Aufarbeitung der Beschäftigung mit Migrationsfragen in der Geographie (Kapitel 2 .3 .), die bis in die 1990er Jahre einen Teil der Bevölkerungsgeographie bildete (2 .3 .2), oder aber im Rahmen der Sozialgeographie stattfand (2 .3 .3) . Dann geht es um die Zugänge der neueren Migrationsforschung: Ansätze auf der Makroebene, die Migration als inhärenten Teil von allgemeinen Inklusions- und Exklusionsprozessen interpretieren, werden rekapituliert (2 .4 .1); Ansätze auf der Meso- und Mikroebene, die soziale Netzwerke und Transnationalismus thematisieren, werden erläutert (2 .4 .2 und 2 .4 .3) . Der für die Migrationsforschung enorm relevanten Dimension des Arbeitsmarktes ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet (2 .5) . Diesem Kapitel ist zur besseren Orientierung eine Übersicht vorangestellt . Sie erleichtert die zeitliche Einordnung der wesentlichen theoretischen Zugänge und illustriert den jeweiligen regionalen und gesellschaftlichen Kontext (siehe Übersicht 3) . Migration, in der Forschungsliteratur weitgehend als Ausnahme vom sesshaften Regelfall diskutiert, fördert einen riesigen Schatz an wissenschaftlichen Reflexionen und Einsichten zu Tage .

Soziale ausgrenzungen gehen hand in hand mit territorialen ausgrenzungen

2.1 Die anfänge der Migrationsforschung 2.1.1 Die Figur des Fremden, die Randständigen In vielen Kulturen nimmt der „Fremde“ eine besondere, in der Regel eine von der Mehrheitsgesellschaft abgesonderte, Position ein . Häufig sieht schon die Sprache eine spezielle Bezeichnung, eine Abgrenzung oder Abwertung, für den Hinzukommenden vor . So nennt man einen Deutschen im Alt-Slawischen und im Russischen einen „nemec“, abgeleitet vom Wort „nemoj“ (= „stumm“); im Griechischen bezeichnet der „bárbaros“ den „ungebildeten, rohen, feigen, grausamen, wilden, gewalttätigen, habgierigen, treulosen Nicht-Griechen“ (Enzensberger 1994: 19) . In den altertümlichen Gesellschaften sorgten Tabus und Rituale dafür, den Aufenthalt des Gastes in der Aufnahmegesellschaft, d .h . den Clans, Stämmen und Ethnien, zu reglementieren . Der besondere Status machte den Gast berechenbar . Wissenschaftlich beschrieb der Soziologe und Philosoph Georg Simmel die Besonderheiten des „Fremden“ . In seinem Werk „Soziologie“ (1908) betrachtete er im Abschnitt „Exkurs über den Fremden“ die Position des Fremden als den Wandernden, „der heute kommt und morgen bleibt“ . Für ihn stellt der Fremde einen besonderen Typus des Migranten, den „potentiell Wandernden“, dar . Durch seinen Aufenthalt bei Anderen wird der 31

Georg Simmel

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Der fremde stellt das Denken-wie-üblich in frage

Fremde zu einem ausgegrenzten Teil der Gruppe, er repräsentiert zugleich die Einheit von Nähe und Entferntheit . Die Fremden werden – anders als die Einheimischen – nicht als Individuen, sondern als „Fremde eines bestimmten Typus überhaupt empfunden“ (Simmel 1908: 512) . Simmel bezieht sich in seiner Argumentation auf das historische Beispiel der europäischen Juden und beleuchtet deren Funktion als Zwischenhändler . Diese Zwischenposition des Handels war, anders als die ortsfeste Produktion in der Landwirtschaft, die jeweils nur für das Auskommen der Bodenbesitzer und ihrer Angehörigen ausreichte, elastisch . Sie konnte wie ein Reservoir Zwischenhändler absorbieren und eignete sich deshalb besonders gut für die Platzierung von Fremden . Die Juden waren durch die berufliche Diskriminierung auf das Geldgeschäft festgelegt und handelten also paradoxerweise mit einem hochmobilen Gut, einer Abstraktion des Materiellen, d . h . mit einer abstrakten Wertgröße, nicht mit dem lokalen Produkt an sich – was sie zusätzlich von der restlichen Gesellschaft abhob . Der Fremde, so Simmel, besitzt durch seine herausgehobene Stellung gegenüber den Sesshaften am Rande der Gesellschaft eine zusätzliche Qualität .

Simmel stellt fest, dass man Objektivität auch als Freiheit bezeichnen kann: Der objektive Mensch ist durch keinerlei Festlegungen gebunden, „die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnten . […] er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, mißt sie an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedenzien gebunden“ (Simmel 1908: 510 f .) . Kurz, er stellt das Denken-wie-üblich in Frage (vgl . Merz­Benz und Wagner 2002: 61) . Diese Ideen Simmels inspirierten viele der frühen Soziologen . Einer seiner Schüler, Robert Ezra Park, forschte und lehrte im Chicago des frühen 20 . Jahrhunderts, einer schnell wachsenden amerikanischen Industriestadt, deren Bevölkerung sich hälftig aus Immigranten zusammensetzte . Dort formte Park die sogenannte Chicago School der Soziologie, welche Rassebeziehungen Assimilation und urbane Verdrängungsprozesse zu ihren Themen machte . 2.1.2 Die chicago School und der race relation cycle Die in den 1910er Jahren aufkommende Chicago School führte erstmals Beobachtungen in einzelnen Stadtquartieren durch und bahnte auf diese Weise einer explizit räumlichen Perspektive in der Soziologie den Weg . Ihre eigentliche Forschungsfrage betraf die soziale Organisation von Gruppen 32

2.1 Die anfänGe Der MiGrationSforSchunG

und ihr Gegenteil, deren soziale Desorganisation . Abgesehen von Durkheim untersuchten damals die Soziologen Thomas und Znaniecki (1918) die soziale Desorganisation . Für ihr fünfbändiges Werk „The Polish Peasant in Europe and America“ werteten sie Briefe, Memoiren und Aufzeichnungen von Fürsorgeinstitutionen und Verwaltungsgerichten aus und analysierten auf diese Weise die Migrationswege von polnischen Auswanderern in die USA in den Jahren 1880 bis 1910 in all ihren Facetten . Sie interessierten sich insbesondere für den Prozess der Gruppenbildung und Vereinzelung im Unterschied zwischen der ruralen Herkunft und der urbanen Assimilation . Ihr Werk wurde einer der wichtigsten Referenzpunkte der soziologischen Methodenbildung . Migrationsfragen, die immer auch Fragen der sozialen Integration beinhalteten und auf politischer Ebene Gegenstand verschiedener Sozialreformen waren, gehörten bald zum ‚Kerngeschäft‘ des Faches (Häussermann und Siebel 2004: 48 f .) . Robert Ezra Park (1928) fasste in einem Aufsatz im American Journal of Sociology Migration prinzipiell als Teil gesellschaftlichen Fortschritts auf, wobei das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen und die damit verbundenen Konflikte und Vermischungen zu einer Befreiung aus der räumlichen und sozialen Gebundenheit an die Haushaltseinheit führen würden (Park 1928: 882 f .) . Entsprechend Simmels Vorstellungen prägte Park den Begriff des marginal man, des am Rande der Gesellschaft Agierenden . Der Fremde stellt ein Hybrid dar, der durch die größere Freiheit, losgelöst von traditionellen Fesseln, eine Vorreiterrolle einnehmen kann und den kulturellen Wandel vorantreibt . Diese Marginalität, diese Randstellung, bringt für den Migranten selbst eine psychische Krise mit sich, er fühlt sich entwurzelt und heimatlos, uprooted (Christmann 2007: 93 f .) . Wie Simmel versteht Park den Migranten als Produkt und Produzenten der Moderne; er versinnbildlicht die Wechselwirkungen von Individuum und Gesellschaft .

“the polish peasant in europe and america“

Marginal man Der Migrant als produzent der Moderne

Der marginal man ist der Randständige, ein Hybrid . Er ist entwurzelt und heimatlos, doch er bringt die Gesellschaft voran .

Das, was sich im Chicago der 1910er Jahre abspielte, bedeutete eine komplett neue Situation für die Städte der Neuzeit . Eine solche Vielfalt an Lebenswelten und Kulturen, wie sie in New York und Chicago durch die großen Überseemigrationen entstanden waren, hatte es bis dahin noch nicht gegeben . In der amerikanischen Gesellschaft bewegte bis in die 1920er Jahre daher die Frage die Gemüter, wie die Masse von Einwanderern sich am schnellsten „amerikanisieren“ könnte und welche Rolle dabei die entstandenen Einwandererkolonien spielten . Diese gesellschaftliche Debatte um den Melting Pot, den Schmelztiegel, wurde schnell Teil der US-amerikanischen Identitätsdebatte . Die Kernfrage zielte darauf, wie eine Ameri33

Die Geschichte amerikas ist nicht nur eine Geschichte der präsidenten oder cowboys, sondern auch eine einwanderungsgeschichte.

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

kanisierung, americanization, am besten erreicht werden könnte . Seinerzeit bestand die Grundannahme darin, dass die Integration der Minderheiten über eine Verschmelzung mit der core-culture, d . h . der WASP-Kultur (= White Anglo Saxon Protestant), der damals vorherrschenden Elite aus weißen protestantischen Männern, geschehen sollte . Exkurs: Die Vorstellung eines Melting Pot Die Idee des Melting Pot wurde zunächst durch ein 1908 uraufgeführtes Theaterstück von Israel Zangwill (1864–1926) am Broadway populär . In diesem Bühnenstück wurde die Geschichte Amerikas nicht (wie üblich) als Personengeschichte von Präsidenten wie Washington und Lincoln bzw . als Sozialgeschichte von Cowboys und Siedlern aufgeführt, sondern als eine Geschichte der Immigration paraphrasiert . Das Stück drehte sich eigentlich um das Verhältnis zwischen eingewanderten Juden und Amerikanern, der inhaltliche Aufhänger war die umstrittene Frage der Intermarriage (in diesem Fall der Heiratsabsichten eines jüdischen Mannes und einer amerikanischen Frau) .

Schutz und Stabilität durch die primärgruppe

neue Methoden, neue untersuchungsorte

Wissenschaftler wie W .I . Thomas und R .E . Park vertraten entgegen der herrschenden Ideologie der Assimilation erstmals die Ansicht, dass die Einwanderer durch ihr anfängliches Beharren auf dem eigenen Wertesystem einen Startvorteil in Amerika besäßen . Die Primärgruppe böte Solidarität und Stabilität für den Einzelnen und erleichtere so die Eingliederung in die neue Umgebung . Die Mitgliedschaft in ethnischen Verbänden stünde dem unvermeidlichen Prozess der Amerikanisierung eben nicht entgegen (Herrmann 1996: 314) . Die unterschiedlichen Herkunftsgruppen in der Stadt entpuppten sich als ein willkommener Forschungsgegenstand, die Stadt selbst entwickelte sich zum „Laboratorium“ der Forscher . In Manier von Reportern sollten die Studierenden ausschwärmen und gerade die devianten Orte in der Stadt (Ghettos, Bordelle, Spielhöllen etc .) untersuchen: „Schreib nur auf, was du siehst, hörst und weißt“, lautete die einzige Anweisung von Park an seinen Schüler Anderson (Anderson 1998: 25) . Es blieb dann die Herausforderung für den Wissenschaftler, das Material anzuordnen und aus den Aufzeichnungen Generalisierungen oder Theorien abzuleiten . Um die gemachten Beobachtungen zu erklären, griffen die Forscher gerne auf die seinerzeit gängigen Denkschemata benachbarter Disziplinen zurück, beispielsweise auf die Biologie und die Darwin’sche Annahme des „Survival of the fittest“ . Wie in einer social ecology dachten die Wissenschaftler, dass es in der Stadt von verschiedenen Gruppen bewohnte Territorien mit eigenen sozialen Normen und Traditionen gäbe, die sogenannten natural areas . 34

2.1 Die anfänGe Der MiGrationSforSchunG

Sie dienten als bevorzugter Anziehungspunkt für Gleichgesinnte . Weniger statisch und nicht zwingend physisch-räumlich im Stadtraum verankert, befanden sich die moral regions, d .h . Orte, an denen bestimmte Lebensstile praktiziert werden konnten . Ähnlich wie man es bei Tieren und Pflanzen beobachtete, beschrieben die Wissenschaftler der Chicago School nun die Prozesse des Nachzugs von ethnischen Gruppen in ausgewählte Stadtgebiete als Invasion, Sukzession und damit – quasi als natürliche Folge – als Assimilation .

Aus diesen ökologischen Ideen heraus entwickelten R .E . Park und E . Bur­ gess den sogenannten race relation cycle, ein Schema, das den Anpassungsprozess in verschiedene, nacheinander ablaufende Phasen unterteilt . Dabei gehen sie von einer arbeitsteiligen Gesellschaft aus und verstehen „Wettbewerb“ als maßgebliches, strukturierendes Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens, als elementare Form zwischenmenschlicher Interaktion . Dies entspricht der damaligen politischen Verfassung eines Laissez-faire-Kapitalismus ohne steuernde Eingriffe der Politik in die Gesellschaft . Der als natürlich unterstellte Prozess der Assimilation durchlief demnach verschiedene Phasen und eine wirkliche Verschmelzung, als kulturelle Dimension, konnte erst in der zweiten und dritten Generation erreicht werden (siehe Abb . 4) . Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn liegt in der Systematisierung der Begrifflichkeiten und in der zeitlichen Einordnung des Eingliederungsprozesses, Machtgefälle zwischen den gesellschaftlichen Gruppen wurden nicht beachtet (Aumüller 2009: 58 f .) . Während sich die stärker kultursoziologisch orientierten Vertreter der Chicago School vornehmlich mit qualitativen Fragen der sozialen Beziehungen beschäftigten, konzentrierten sich Vertreter wie Burgess stärker auf die Gesetzmäßigkeiten der räumlichen Strukturierung . Er und seine Kollegen entwarfen, ebenfalls am Beispiel Chicagos, das „Modell der konzentrischen Kreise“ der Stadtstruktur . In diesem Modell wird die Herausbildung von Enklaven, d .h . der räumlichen Konzentrationen von Zuwanderungsgruppen, als ein wesentlicher Teil der Stadtentwicklung porträtiert und in eine Ringstruktur mit Mittelpunkt eingeordnet . Little Germany, Chinatown und weitere ethnisch geprägte Gebiete wie Greektown sind in diesem Modell charakteristische Teile der Stadt . Ausgehend von einem innerstädtischen Geschäftszentrum, dem Loop, siedelten um dieses Zentrum herum die sozial Deklassierten, die Unterwelt sowie verschiedene Einwandererkolonien . In dieser von Slums geprägten Übergangszone (zone in transition) wohnen vor allem die Neuankömmlinge aus Europa und China . Diese Zone wird auch als first immigration settlement bezeichnet (Treibel 1999), denn hier erfolgt die erste Eingliederung der Migranten . 35

Wettbewerb ohne steuernde eingriffe

Das Modell der konzentrischen Kreise

ethnische Gruppen siedeln sich in teilgebieten an

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

abb. 4: Der race relation cycle

Um diesen Ring legt sich ein weiterer Ring, in dem sich die Wohnorte der aufstiegsorientierten Zuwanderer befinden, meist Angehörige der zweiten Generation (second immigrant settlement) . Es schließt sich ein dritter und ein vierter Ring an, in dem die Eigenheime der Mittelschicht lokalisiert sind und die Vororte der Pendler . Quer zu diesen Ringen liegt der Black Belt, der auf die starke Präsenz der schwarzen Bevölkerung verweist, einer Gruppe, die prinzipiell als assimilationsunfähig galt (Aumüller 2009) . 36

2.1 Die anfänGe Der MiGrationSforSchunG

Die von der Chicago School gemachten Aussagen sind mindestens in zwei Punkten starker Kritik ausgesetzt: Erstens sind die von den Vertretern dieser Schule genutzten Begrifflichkeiten wie „Ethnizität“ oder etwa die natural areas nicht genau definiert . Zweitens ist es fraglich, ob die gedanklichen Übertragungen aus der Biologie auf menschliche Gesellschaften mit ihren zahlreichen Steuerungsmöglichkeiten über Verträge, Abkommen und Konventionen bei raumbildenden Prozessen tatsächlich erhellend sind .

Kritik an der Chicago School

2.1.3 Die Hobos – eine Massenerscheinung Ein Schüler Parks, Nels Anderson (1889–1986), befasste sich speziell mit der gesellschaftlichen Randgruppe der „Hobos“, einer Massenerscheinung im Chicago der 1920er Jahre . In dieser Stadt liefen am Ende des 19 . Jahrhunderts die Fäden all der zahlreichen Stadtneugründungen und Industrieansiedlungen, die auf der Ausbeutung der vorhandenen Bodenschätze außerhalb der Stadt beruhten, zusammen . Die Wirtschaftskrise 1873/74 hatte drei Millionen Arbeitslose hervorgebracht, darunter 70 .000 Obdachlose, von denen ein Drittel sesshaft war, der Rest immer auf dem Sprung woandershin . Es entstand, in Anspielung auf die leichtlebige Bohème, eine regelrechte Hobohemia . Die Hobos lebten komplett transitär . Dieses nomadische Proletariat, meist um die 25 Jahre alt und männlich, wohnte dort, wo auch die Arbeitsagenturen angesiedelt waren, bei den slave markets, und bildete eine eigene Kultur aus – mit einem eigenen Jargon und eigener Tageszeitung, eigenen Restaurants (siehe Abb . 5) .

Gesellschaftlicher Bedarf nach einer bestimmten figur

Hobohemia

Erste Studien über Obdachlose zeigen, dass Wanderarbeiter eigene Subkulturen entwickeln . Ihre massenhafte Existenz trägt zur Abgrenzung der sesshaften Lebensweise als Norm(alität) bei .

Familien kamen in dieser Hobowelt nicht vor, Frauen verdingten sich als Prostituierte, als „sisters of the road“ (Thompson 1937) . Der Hobo war Teil einer neuen Massenbewegung, er war amerikanisch . Pointiert könnte man sagen, dass dieser Typus „Wanderarbeiter“ so wie der „Cowboy“ auf die Bühne trat, weil es einen gesellschaftlichen Bedarf nach dieser Figur gab . Nun waren es nicht mehr Individuen und Familien, die westwärts zogen, sondern die Expansion nach Westen war durch Massenwanderungen geprägt . Der Hobo war ein Interims-Arbeiter, der nach den Ersten, die sich den Weg gebahnt hatten, auftrat . Er ging wieder, wenn sich die Siedler mit ihren festen Arbeitsverträgen in den Minen und der Landwirtschaft niedergelassen hatten . Er wanderte weiter an den Eisenbahnschienen entlang oder wartete auf den nächsten Frachtzug, auf den er aufsprang und auf dessen Dach er mitfuhr . 37

Der hobo springt auf fahrende züge auf

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Sesshaftigkeit wird Maßstab seelischer Gesundheit

Die Hobos erfüllten eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Durch die Abgrenzung vom Hobo etablierte sich in diesen Jahren auch die Sesshaftigkeit als erstrebenswerte Norm der Lebensführung noch stärker als zuvor . Die bürgerlichen Lebensläufe mit ihrem Streben nach Position, Stabilität und Eigentum wurden zum Maßstab psychischer Gesundheit erhoben (vgl . Anderson 1998: 154), Obdachlosigkeit zwangsläufig zu etwas Pathologischem degradiert (vgl . Rauty 1998: 3 ff .) .

abb. 5: Die Hobohemia in chicago (rauty 1998: 41)

alternative ansätze diskutieren Diversität

Anfang des 20 . Jahrhunderts existierten in den USA auch andere, alternativ zur Assimilation diskutierte Ansätze in der Untersuchung der migrantischen Communities und deren Wechselwirkungen mit der amerikanischen Gesellschaft . Diese Forscher bemerkten relativ bald, dass die weißen, dem politischen Mainstream zugehörigen Wissenschaftler erstens einen impliziten Rassismus in ihren Arbeiten offen legten und zweitens übersahen, dass Amerika in den 1920er Jahren längst zu einer transnationalen Nation aller Hautfarben und mit allen möglichen Verbindungen in andere Länder geworden war . Diversität wurde in diesen Studien als Grundlage für Kreativität angesehen und nicht, wie in den Studien der Chicago School angenommen, als Ausgangspunkt für Abgrenzung (Hoerder 2015) . Der Afro-Amerikaner W .E .B . Dubois hatte schon 1899 seine empirische Studie „The Philadelphia Negro“ vorgelegt, welche das Leben in einer schwarzen Community in der Metropole Pennsylvanias detailliert untersuchte . Ein Team um Elizabeth Be­ ardsley Butler verfasste das sechsbändige „Pittsburgh Survey“, das sich mit der Verarmung der Immigranten empirisch beschäftigte . Inspiriert von Du­ bois lehnte Boas beispielsweise die vorherrschende Vorstellung von „reinen 38

2.1 Die anfänGe Der MiGrationSforSchunG

Rassen“ ab und vertrat die Auffassung, dass zuallererst die soziale Herkunft bestimmend sei und nicht die ethnische Abstammung . Diese Forschungen wurden von Wissenschaftlern entworfen, die selbst Teil einer (akademischen) Minderheit waren (Schwarze, Frauen) . Es gibt weitere Beispiele für solche fortschrittlicheren Forschungsansätze, die vor allem die Chancen und Gemeinsamkeiten anstelle der Unterschiede betonten (Hoerder 2015) . In Europa setzte die Beschäftigung mit dem „Fremden“, mit dem „Anderen“, erst in der Nachkriegszeit ein . Es wurden andere Zugänge als in der US-amerikanischen Assimilationsdebatte gewählt . Bis heute gehört die Gemeindestudie von Norbert Elias und John Scotson zu den Grundlagen der Integrationsforschung . Ihr Forschungsinteresse richtet sich auf die sozialen und räumlichen Beziehungen zwischen Alteingesessenen (= den Etablierten) und den Hinzukommenden .

entwicklung in europa

2.1.4 Etablierte und Außenseiter Elias und Scotson konzentrieren sich auf die Analyse der Entstehung von Machtungleichgewichten zwischen verschiedenen Siedlungen und darauf, wie diese Ungleichgewichte wie „unsichtbar“ immer wieder neu aufgelegt und verstärkt werden . Die beiden Wissenschaftler untersuchen die der Ausgrenzung zugrundeliegende Soziodynamik der Stigmatisierung, die sich auch an der Siedlungsstruktur festmachte .Was machte eigentlich die einen zu „höherwertigen“ und die anderen zu den „minderwertigeren“ Bewohnern? Gefühle und Phantasien bei Individuen sind – davon gehen Elias und Scotson aus – nicht beliebig und individuell, sondern sie besitzen ihre eigene Struktur und Dynamik, sind Teil von Gruppenprozessen . Die Strafe für eventuelle Abweichungen von dieser Norm oder aber die Nichtbefolgung von Gruppennormen drückt sich in Machtverlust und Statusminderung aus . Spannungen und Konflikte bilden – so nehmen die Autoren an – in allen Gesellschaften ein strukturelles Attribut von Statushierarchien . Bei der von den Wissenschaftlern in den Jahren 1959/60 untersuchten Gemeinde mit dem fiktiven Namen Winston Parva handelte es sich um eine kleine Gemeinde in den englischen Midlands mit einem relativ alten Kernbezirk und zwei daran angrenzenden, jüngeren Bezirken . Zone 1 war eine typische Mittelklassegegend, Zone 2 und Zone 3 bildeten Arbeiterviertel . Bei ihren Studien in den drei Gemeindeteilen bemerkten Elias und Scot­ son, dass die Funktion der Minderheiten, die es in jeder der drei Zonen gab, je nach Sozialstruktur variierte . Mittels Figurationsanalyse kommen sie zu der Erkenntnis, dass das Bild, das die Etablierten von sich selber haben, nach der „Minorität der Besten“ geformt ist und eine Tendenz zur Idealisierung besitzt . Im Gegensatz dazu wurde das Bild der Außenseiter eher „nach der Minorität der Schlechtesten“ geformt und besaß eine Tendenz zur Herabsetzung (Elias und Scotson 1990: 71 ff .) . Wie funktionierte das genau? 39

Struktur und Dynamik von Gruppenprozessen

etablierte richten ihr Selbstbild nach der Minorität der Besten aus, das Bild der außenseiter wird nach der Minorität der Schlechtesten geformt

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Monopolisierung von posten

lokalstolz als zentrales element der aufwertung eines ortes

Klatschmühlen bestimmen, wie das image der Siedlungen ist

Die Dörfler (Zone 1) sicherten ihren kollektiven Status durch eine kontinuierliche subtile Abschottung gegen Neuankömmlinge . Beispielsweise monopolisierten sie sämtliche Posten, die mit sozialer Macht verbunden waren . Vor allem aber verfeinerten sie ihre Ideologie, d .h . ihr System von Glaubensaxiomen, indem sie ihre eigene Überlegenheit betonten, die Bewohner der Siedlungen (Zone 2 und 3) dagegen abqualifizierten . Von Angesicht zu Angesicht kamen die Angehörigen der beiden Gruppen gut miteinander aus, teilweise arbeiteten sie sogar in den gleichen Fabriken . Die Statusideologien wurden erstaunlicherweise weitgehend an Rollen außerhalb des Berufslebens festgemacht . Bei der vergleichenden Betrachtung existierten Unterschiede zwischen den drei Gemeinden: In Zone 1 nutzten die Bewohner beispielsweise häufiger das Telefon, sie zeigten breitere kulturelle Interessen . Bei Hochzeiten,Taufen und Begräbnissen kam die ganze Familie zusammen . Die Rolle der „Mama“, einer zentralen Integrationsfigur, war stark und offensichtlich; die Männer engagierten sich dagegen in vielen Vereinigungen . Den Siedlungsbewohnern von Zone 3 fehlte ein solches Engagement, ebenso der Lokalstolz . Der Kitt, der den Sozialstatus der verschiedenen Quartiere zusammenhielt, war der Klatsch . Die Klatschzentren wurden nach den Gottesdiensten, in Clubs und in Pubs, bei Theateraufführungen und Konzerten mit Neuigkeiten befeuert . Lobklatsch und Schimpfklatsch, ja, vor allem dieser, wurden

abb. 6: Die Konstruktion von insidern und outsidern

40

2.2 Die „anDeren“ in GeiSteSWiSSenSchaftlicher perSpeKtiVe

massiv und lustvoll eingesetzt, um die Gemeinschaft zu stärken . Nicht so jedoch in der abgewerteten Siedlung 3 . Dort verlief der Informationsfluss träge und zog auch kleinere Kreise (vgl . Abb . 6) . Das Verdienst dieser Studie liegt in der Offenlegung der engen Verbindung zwischen räumlicher und sozialer Ausgrenzung und den damit einhergehenden Mustern von Grenzen und Stigmatisierungen . Sie werden von den dort lebenden Individuen immer wieder neu hergestellt . Ganz anders als in den Erklärungen der Chicago School liegt die Begründung für Ausschlussprozesse in der sozialen Interaktion zwischen Individuen . Hier entscheidet nicht nur das Wettbewerbsprinzip über die Exklusion bzw . Inklusion von Gruppen, sondern der Grad an sozialer Organisation und die aktive Besetzung von sozialen Positionen durch die bereits Anwesenden . Damit werden Insider-/Outsiderpositionen in der Gesellschaft als Ergebnis gesellschaftlicher Sinnproduktion beschrieben . Nicht die Ethnizität erklärt die soziale und räumliche Position des Individuums bzw . der Gruppe, sondern vielmehr die Zuschreibung von überhöhenden oder abwertenden Charaktereigenschaften durch statushöhere gesellschaftliche Gruppen .

2.2 Die „anderen“ in geisteswissenschaftlicher perspektive Gerade in den Geisteswissenschaften finden sich Autoren, die sich mit der Konstruktion des „Anderen“ durch die Gesellschaft, sei es auf Ebene des Individuums, sei es im Rahmen von Gruppen und deren Zuordnung im Raum, auseinandersetzen . Ohne einen Rückbezug zur räumlichen Organisation der Gesellschaft kommen die hier vorgestellten Erklärungen nicht aus . Exemplarisch werden hier eine psychoanalytische und eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf die Konstruktion des „Anderen“ präsentiert . Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva erklärt die Sonderposition des Fremden aus einer Kombination aus dessen persönlicher innerer Disposition und dem in der Mehrheitsbevölkerung vorhandenen Bedürfnis nach Abgrenzung . Psychoanalytisch betrachtet, bietet sich der Fremde der Gesellschaft als „das Andere“ an, als das verdrängte Unterbewusste der Gemeinschaft . Kristeva nähert sich dem Umgang mit dem Fremden und Kosmopolitischen historisch, indem sie nachweist, wie schon die Stadtbewohner der Antike für den Fremden den Zwischenstatus des Metöken, eines „Dazwischen“ zwischen einer Vollmitgliedschaft und dem Außenseiterdasein, ins Leben riefen . Seither, so Kristeva, ginge es immer wieder um die Herstellung genau dieser Balance zwischen Kosmopolitismus und Xenophobie (= Fremdenfeindlichkeit) . Immer wieder werde der Status des 41

Welche räume werden den „fremden“ zugestanden und warum?

psychoanalytischer ansatz bei KriSteva

Die antike schafft den zwischenstatus des Metöken

2. TheoreTische AnsäTze der MigrATionsforschung

der fremde stellt seine fremdheit selbst her

Pseudobeziehungen, ein Arbeitstier

Fremden an dessen ökonomischer Verwendbarkeit für das Gastland festgemacht und immer wieder diene der Fremde vor allem auch dazu, die Mehrheitsgesellschaft in ihren Annahmen zu bestätigen (Kristeva 1990: 69). In den assimilationstheoretischen Ansätzen wurde der Fremde als ‚marginalisiert‘ und entwurzelt beschrieben. Die psychoanalytische Lesart bei Kristeva geht noch einen Schritt weiter: Der Fremde selbst sei es, der die eigene Fremdheit immer wieder neu herstelle. Unter seinem harten Panzer sei der Fremde eine „Mimose“. Die Freiheit von Bindungen, die er am Aufenthaltsort erlebe, verwandle sich schnell in Einsamkeit. Er pflege lediglich Pseudo-Beziehungen, denen es letztlich an wirklicher Verbindlichkeit mangele. Menschen werden vor allem deshalb Fremde in einem anderen Land, weil sie innerlich bereits Fremde sind, weil sie sich selbst abgeschnitten haben von den Klängen und Logiken der muttersprachlichen Erfahrungswelt (Kristeva 1990: 24). Gefangen in seiner Stummheit kann der Fremde nur agieren, nicht aber sprechen. Er erledigt Dinge, er tut etwas. Die neue Sprache funktioniert höchstens wie eine Prothese, sie kann aber kein Ersatz für die Herkunftssprache und -kultur sein. Mangels der Fähigkeit zu tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen werden die Fremden am Zielort häufig zu „Arbeitstieren“. In der Sichtweise Kristevas schließt sich der Fremde aus, noch bevor er selbst ausgeschlossen wird. Er ist von nirgendwo, von überall, Weltbürger, „Kosmopolit“ (Kristeva 1990: 39). Bemerkenswert an der psychoanalytischen Sichtweise ist, dass sie den „Fremden“ nicht als abgetrennt von seiner Umwelt ansieht, sondern das Gefühl der Fremdheit als überindividuelles Phänomen erfasst. Für den Einzelnen nährt sich das Fremdheitsgefühl aus der Wahrnehmung der eigenen Position in der Mehrheitsgesellschaft. Doch entsteht unmittelbar in der Auseinandersetzung mit dem Umfeld bzw. durch die wiederholte Auseinandersetzung des Umfeldes mit dem „Fremden“ bzw. Gruppen von Fremden ebenfalls Ausgrenzung.

Literatur­ wissenschaftliche Perspektive bei Bogdal

identitäts­ konstruktionen als willkommene Projektionsfläche

Am Beispiel der Romvölker weist der Germanist Michael Bogdal (2011) nach, wie dem „Fremden“ in den europäischen Gesellschaften ein sozialer Ort zugewiesen wurde. Er bezeichnet diesen Vorgang der Fremdzuschreibung und Bewertung als die „Erfindung der Zigeuner“. Dazu untersucht er das Selbstbild, das die Romgruppen nach außen vermitteln, und außerdem die Bilder, die man sich anhand von Aufzeichnungen und Repräsentationen von ihnen macht. Wissen, Erinnerungen und Gedächtnis dienen als Basis für die Entstehung von Kultur, für die Identitätskonstruktionen und die Selbstinszenierung von Minderheiten. Bei den Sinti und Roma bestehen diese lange Zeit aus oral tradierten Ausdrucksformen wie beispielsweise der Flamencotanz (West 2007: 44 f.). Solche Identitätskonstruktionen werden 42

2.2 Die „anDeren“ in GeiSteSWiSSenSchaftlicher perSpeKtiVe

einerseits aus den Sinnzusammenhängen ethnischer Gruppen entwickelt, andererseits bieten sie der Mehrheitsgruppe eine willkommene Projektionsfläche für Zuschreibungen und Abgrenzungen . Die ethnische Minderheit der Zigeuner präsentierte sich an der Schwelle zur Neuzeit in Europa als eine geschlossene Gruppe mit minimalen und zeitlich begrenzten Kontakten nach außen . Ab dem 15 . Jahrhundert besetzten die Romvölker dann das ihnen zugewiesene Feld des sozialen Außenseiters am Rande der Zivilisation . Ein solcher Status eines „Fremden auf Dauer“ erzeugt für die Betroffenen eine unmögliche Position, weil er nach einer ständigen (Neu-)Erfindung eben jenes Andersseins, die „durch die Zuschreibung ethnischer, rechtlicher, sozialer, ökonomischer und kultureller Merkmale aufrechterhalten und gefestigt werden“ musste, verlangt (Bogdal 2011: 26) . Gesellschaftlich diente der stetig wiederholte Akt des Ausschlusses zum einen der Kontrolle der Zigeuner . Zum anderen beteiligte er die unteren Schichten der Mehrheitsbevölkerung an der Machtausübung . Die Neuzeit mit ihrer Herausbildung der frühmodernen Territorialstaaten, in der die Untertanen der Herrschaften in ein räumlich festgelegtes administratives System eingepasst wurden, brachte mit sich, dass alle diejenigen, die nicht von der Herrschaft erfasst wurden, außerhalb der Ordnung standen, vogelfrei waren . Die einsetzende Territorialisierung führte durch Verfolgung und Vertreibung des „Gesindels“ zu einer sozialen Ausgrenzung, die sich dann in eine geographische Ausgrenzung übersetzte . Die ärmlichen Zigeuner wurden im Gegensatz zum christlichen Bild des almosenbedürftigen Armen als „herrenloses Gesindel“ klassifiziert . Brandmarkungen und Verstümmelungen stigmatisierten die Ausgestoßenen, bedeuteten den sozialen Tod noch vor der Hinrichtung (Bogdal 2011: 48 ff .) . Mit den aufkommenden Religionskriegen um 1600 wurden die Zigeuner zu „Gefährten des Satans“ stilisiert, ihre rituellen Handlungen als Hexerei und Magie abgetan . Die Mehrheitsgesellschaft schaffte sich durch die Dämonisierung der Romvölker einen „Sicherheitsabstand“ . Die Geschichten, die über die Romvölker erzählt wurden, trugen zur Stigmatisierung bei – gerade deshalb, weil sie so schillernd waren . So galten die schöne und sexuell freizügige Zigeunerin und der Zigeunerjunge Mischka als gängige Motive in der europäischen Literatur des 19 . Jahrhunderts . Es kam zu einer eigenen Gattung der Zigeunerromantik, beispielsweise im Werk Lenaus (1802–1850) . Durch die Beschreibung der Zigeunermusik verlieh der Autor dem aufkeimenden Nationalstolz Ungarns Ausdruck . Ausgrenzung und Idealisierung werden zu den zwei Seiten der gleichen Medaille . Wie das Geigenspiel wurde auch der Flamencotanz romantisiert und nach und nach Teil der (zugeschriebenen) Identität . Im späten 18 . Jahrhundert, einer Zeit der Sozialreformen zur Bekämpfung der Armut, wurden die Zigeuner dann als „nicht arbeitende Rasse“, als ein „Relikt des Vergangenen in der Moderne“ abqualifiziert . In den Bildungs- und Zivilisationsprogrammen des 18 . und 19 . Jahrhunderts traten sie als Abgrenzungsfolie zur eigenen europäischen Identitätsfindung auf . Die Betrachtung der ‚rück43

Die außenseiterposition

abstufung als „herrenloses Gesindel“, Brandmarkung

Die schöne zigeunerin und der lustige zigeunerjunge als idealisiertes Bild

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Vorläufer der physischen Vernichtung

ständigen‘ Völker trug dazu bei, dass man sich selbst als „nicht am Ende der Völkerhierarchie“ empfand (Bogdal 2011: 481) . Die Mehrheitsgesellschaft interessierte sich deshalb weniger für die Ähnlichkeiten, sondern vor allem für die Andersartigkeit dieser Bevölkerungsgruppe . Im 20 . Jahrhundert schließlich gipfelte die Ausgrenzung der Zigeuner in Verfolgung und Vernichtung . Alltägliche Probleme und Konflikte mit Minderheiten wurden rassistisch aufgeladen, die Rom-Menschen entrechtet und zum Ziel von Zwangsmaßnahmen . Die biologistischen Bilder des „Volkskörpers“ in der nationalsozialistischen Doktrin verhöhnten die Zigeuner, indem sie diese als Ungeziefer (am kranken Volkskörper) darstellten . Die Zigeuner wurden kriminalisiert, in Lagern interniert, sterilisiert und ermordet . Bogdal stützt sich in seiner Analyse gedanklich auf die Arbeiten von Foucault über die mit der Modernisierung im 19 . Jahrhundert eingeführte Disziplinierung und Normierung der Individuen und über den veränderten Umgang mit der Ressource Zeit und dem Körper, d .h . mit der Anpassung der inneren Ordnung an eine äußere Ordnung (Bogdal 2011: 401) . Für die Sozialgeographie ist dieser geisteswissenschaftliche Beitrag relevant, weil hier gezeigt wird, wie die Konstruktion des Fremden nicht unabhängig von bestimmten Formen der Territorialisierung stattfindet .

Das tradierte Skript der abgrenzung

Auch ganz aktuell sind die Romvölker ein Beispiel dieser territorialen Ausgrenzung . Seit dem Jahre 2012, nachdem die Lebensbedingungen vieler Roma in den Kleinstädten der Slowakei oder am Rande der bulgarischen Großstadt Sofia, im Viertel Hristo Botev, unerträglich geworden waren, wanderten viele von ihnen weiter westwärts – beispielsweise nach Berlin-Neukölln oder nach Duisburg-Marxloh . Die deutschen Medien berichteten wiederholt über diese als „Armutswanderung innerhalb der EU“ . Die Berichterstattung geht von vernachlässigten oder stigmatisierten Gebieten als Herkunftsort der Migration aus und davon, dass diese sich am Zielort in der Regel auf solche Stadtteile, die bereits starke Integrationsleistungen bringen müssen, richtet . Obwohl es nachweislich deutlich mehr gut ausgebildete Migranten aus diesen Ländern gibt, findet insbesondere dieser Teilaspekt der Zuwanderung große Beachtung in den Medien . Damit folgt die Berichterstattung einem tradierten Skript: Der ehemals sozialistische Osten erscheint als grauer, karger Ort, der Westen als Ort der bunten, erreichbaren Fülle . Die Reise nach Westen erscheint – auch den Roma selbst – als Weg „nach oben“, eine Chance, das eigene Leben zu gestalten . Längst nicht alle kommen aus den stigmatisierten Gebieten oder nehmen sich selbst als Roma wahr, werden aber von der Aufnahmegesellschaft bevorzugt so gesehen . Ihnen wird ein Platz zugewiesen (Grill 2012) . 44

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

2.3 Das thema Migration in der deutschsprachigen Geographie Bewegung und fixes Territorium bilden bei Fragen der Migration ein permanent miteinander verknüpftes Paar . Deshalb nimmt die Betrachtung von Migrationsprozessen auch von Anfang an eine prominente Position bei der Herausbildung des Faches Geographie ein . Während Alexander von Hum­ boldt (1769–1859) noch über ein sehr universalistisches Weltbild verfügte (vgl . Ette 2009), legte der erste hauptamtliche Hochschulgeograph Carl Ritter (1779–1859) mit seiner weltweit orientierten Erdkunde mehr Wert auf die Differenzierung der Welt in Regionen (Schultz 1980) . Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Betrachtung von Migration in der deutschsprachigen Geographie . Ausgangspunkt ist das Werk Friedrich Ratzels (1844–1904), des Vordenkers und Begründers der Anthropogeographie, dessen Überlegungen zu Bevölkerung und Migration die frühen Fachvertreter in starkem Maße beeinflussten . 2.3.1 Migration in der frühen Anthropogeographie Friedrich Ratzel entwarf in seinem Werk eine geographische Betrachtungsweise, die sich von der bis dahin üblichen physisch-geographisch ausgerichteten Raumauffassung abhob . Dadurch ergab sich für ihn die Schwierigkeit, sich von der sich ebenfalls entwickelnden Ethnologie abzugrenzen . Er unterschied die „geographische Methode“ von der ethnographischen Methodik, indem er postulierte, dass die Anthropogeographie eine gedankliche „Verbindung mit den Orten und Räumen“ anstrebe, die Ethnologie aber die „Verbindung mit der Seele“ suche (Ratzel 1891:VIII) . Im Gegensatz zu heute barg die Erde zu Ratzels Zeiten noch eine Fülle von „leeren“ bzw . von „primitiven“ Völkern bewohnten Räumen . Europa war der am stärksten bevölkerte Erdteil und in der damals gängigen gesellschaftlich-politischen Logik galt es, weitere Räume zu erobern . Dementsprechend war die „Europäisierung der Erde“ (Ratzel 1891: 293 ff ., Haus­ hofer 1951: 346) ein wichtiges Thema, das auch Ratzel behandelt, unter anderem auch die massenhafte Auswanderung nach Nordamerika, Australien und Südafrika . Gerade Ratzels Schlussfolgerung, dass „andere Völker, welche wachsen, den Platz einzunehmen streben, welche jene schwächeren nicht auszufüllen imstande sind“ (zit . nach Schultz 2006: 31), wurde seit dem Aufkommen einer kritischen Aufarbeitung der Geschichte der Geographie in Teilen der deutschen Kulturgeographie vehement kritisiert und als gedankliche Vorlage für die „Volk ohne Raum“-Politik der Nationalsozialisten angesehen (Reuber und Wolkersdorfer 2005, Rössler 1993) . Ratzel geht es zunächst um die (positivistische) Beschreibung von Bevölkerungsbewegungen . Die verschiedenen Auflagen des Werkes „Anthropogeographie“ variieren erheblich . Die in der ersten Ausgabe des Werkes 45

anthropogeographie vs. ethnologie und psychologie

Die europäisierung der erde

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

rückgang der Bevölkerung bedeutet „Sinken“ der Kultur

ratzel: „Bewegung ist Wirklichkeit, Stand ist abstraktion“

Bevölkerung und Gebiet verschmelzen bei ratzel gedanklich zu einer einheit, dem „Völkergebiet“

noch ausführlich behandelte „politische Geographie“ nimmt er in der zweiten Auflage heraus, den „Völkerbewegungen“ aber gesteht er noch mehr Platz zu .2 In der ersten Ausgabe der „Anthropogeographie“ von 1891 vertrat Ratzel die Ansicht, dass die geographische Beschreibung erstens eine Darstellung der „Dichtigkeit der Bevölkerung“ erfordere, zweitens eine Beachtung des Klimas (welches die Voraussetzung von unterschiedlichen Bodenkulturen sei) erfolgen müsse und drittens Höhenlage und Bodenformen berücksichtigt werden müssten . Die „Bevölkerungsstufen“, so Ratzel, bestimmten die Kulturstufen eines Volkes – und ein Rückgang der Bevölkerung brächte auch ein „Sinken“ der Kultur mit sich (Ratzel 1891: 279) . Je höher die Kulturstufe stehe, desto höher schätze sie auch ein Menschenleben ein (Ratzel 1899, 2 . Auflage, zit . nach 1975: 278) . Für Ratzel ist die Welt immer in Bewegung . „Bewegung ist Wirklichkeit, Stand ist Abstraktion“ (Ratzel 1891: 292) . So unterscheidet er Gebiete der Zu- und Abnahme der Bevölkerung und befasst sich mit der ungleichen geographischen Verteilung der Geschlechter und mit demographischen Veränderungen von Regionen im Zeitverlauf (was sich wie ein Vorgriff auf die erst später entstehende Theorie des demographischen Übergangs liest, vgl . Kapitel 2 .3 .2 .2) . Das Zusammentreffen der Kulturen unterliegt bestimmten Dynamiken . Begegnet eine höhere Kultur, in diesem Fall die „durchsetzungsstärkere europäische“, einer niedrigeren Kultur, in diesem Fall den primitiven/indigenen Völkern in den Kolonien, beginnt ein Gärungsprozess, eine Zersetzung, bei der die „alte[n] Werte sinken, die neuen erst geschaffen werden“ (Ratzel 1891: 349) . Den Kolonisierten werden ein neues Tempo und neue Handelswaren aufgepfropft, was deren eigene Aktivitäten lähmte . Ratzel unterscheidet robustere und schwächere Volksnaturen und mit melancholischer Sympathie sieht er den Untergang der „kulturarmen Völker“ als einen „der traurig-anziehendsten Gegenstände anthropogeograpischer Forschungen […] die Untersuchung des Ab- und Aussterbens ganzer Völker, das in der Geschichte der Raumerfüllung sich ausspricht“ (Ratzel 1891: 363) . Ratzel interessiert sich auch für die Kulturlandschaft, die er als Ausdruck der Kombination von Boden und ‚Volksdichte‘ versteht . In der zweiten Auflage der „Anthropogeographie“ von 1899 sieht er die „Beziehung des 2

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Der zweite Teil seines Werkes „Anthropogeographie“ von 1891 trägt den Untertitel „Die geographische Verbreitung des Menschen“ und bringt im zweiten Abschnitt detaillierte und empirisch gestützte Ausführungen über die weltweite Bevölkerungsentwicklung und über Migration . Im dritten und vierten Abschnitt erfolgt eine Beschäftigung mit der Ethnographie und den zu Ratzels Zeiten breit diskutierten Rassentheorien . Ratzel beschäftigte sich in dieser Ausgabe intensiv mit Fragen nach der Reinheit der Rasse, den ‚Gefahren‘ der Vermischung der Rassen sowie mit Prozessen der kulturellen und intellektuellen Diffusion der europäischen Völker und der Verdrängung von Kulturen .

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Beweglichen zu seinem Boden“ schließlich sogar als einen Hauptgegenstand der Geographie ((1975) 1899: 117 ff .; der Druck von 1975 gibt den Text von 1899 wieder) .Volk und Gebiet verschmelzen zum „Völkergebiet“, das unablässig in Bewegung ist . Durch den Wegebau und durch Erfindungen wie die Dampfschifffahrt verstärken sich Wanderungen zu Völkerwanderungen . Ganz eng wird diese gedankliche Verbindung in seiner Schrift „Lebensraum“: „Was man Wanderung nennt, ist also in Wirklichkeit das Wachstum eines Lebensgebietes über einen alten Raum“ (Ratzel 1901: 128) . Rat­ zel unterteilt die Erde in „Wohnräume“ und „Nahrungsräume“ und sieht „zwischen der Bewegung des Lebens, die nie ruht, und dem Raum der Erde, der sich nicht ändert“, einen spannungsreichen Widerspruch (Rat­ zel 1901: 153) . Was zunächst wie die „gottgewollte Naturbedingtheit der Völker“ als Verbindung und Determinierung durch die physische Umwelt aussieht (Steinmetzler 1956: 135; Uhlig 1967: 15), wird bei Ratzel zur Bühne, zum „Schauplatz der Wander- und Kulturbewegungen“, der die Differenzierungen erst hervorruft (Uhlig 1967: 28; Ratzel 1882: 467) . Damit erhält der Mensch als Handelnder eine etwas stärkere und von der Landschaft unabhängigere Position als in der geodeterministischen Lehre, wie sie sich noch bei Carl Ritter findet . Ratzel leitete seine Beobachtungen größtenteils aus dem reichlich vorliegenden Material der Kolonialbeschreibungen ab . Promoviert hatte er in der Zoologie und angeregt von der Migrationstheorie der Organismen nach Moritz Wagner verglich er die biogeographischen Vorgänge mit den Verbreitungsmustern von Migration . Beobachtungen aus der Tierwelt lieferten ihm die Erklärungen für die sozialen Handlungslogiken der Menschen . Es ist offensichtlich, dass die von Ratzel aufgeworfenen Fragen zur Bedeutung von Rasse und Kolonisierung für die kulturelle Entwicklung als den „Wechsel von Ruhe und Unruhe, Beharren und Herausstreben im Leben eines Volkes“ (Ratzel (1975), 1899: 121) auch als Argumentationshilfen zur Rechtfertigung von Grenzveränderungen für viele der nationalistisch (und später nationalsozialistisch) gesinnte Geographen dienten . Schon in den 1910er Jahren begannen Fachvertreter wie Maull, Obst und Haushofer mit kolonialrevisionistischem Impetus die „Politische Geographie“ als eigenen Forschungszweig aufzubauen . Die Geopolitik leitete sich, so betonte Haushofer, unmittelbar von Ratzel und seiner Bewegungslehre ab (Troll 1947: 21) . Die gemeinsame Abstammung wurde jetzt zum wichtigsten Prinzip der nationalstaatlichen Organisation erhoben . Je homogener die Bevölkerungsstruktur – so die Annahme – desto stärker sei auch der Staat, das Rassenprinzip wurde als Steigerungsform des Nationalitätenprinzips verstanden (Supan 1918: 919), die koloniale Expansion als Zeichen der „Gesundheit“ von Staaten (fehl)gedeutet (Banse 1943: 27) . Die Beschäftigung mit dem „Raum“, ergo dem inhaltlichen Kern des Faches, richtete sich nicht allein auf den Anspruch, Gebietshoheiten (wieder)zuerlangen . In diesen Jahren setzte im Fach Geographie eine starke 47

„lebensraum“

Kolonialbeschreibungen und zoologie als gedankliche Grundlage

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

produktion von landschaftsbeschreibungen

Produktion von Landschaftsbeschreibungen ein, in die direkt eine Bewertung der Landschaften eingewoben war . Die Fachvertreter schrieben den Landschaften selbst bestimmte Wesenszüge zu (z . B . melancholisch, heiter etc .), die das „wahrhafte Wesen der Landschaft“ offenbarten (vgl . Schwarz 1951: 170 f .) . Der Formenschatz der Landschaft wurde so gedeutet, dass er Rückschlüsse auf die eigene kulturelle „Überlegenheit“ nahelegte und hierdurch insbesondere die landwirtschaftlichen Erfolge unterstrichen wurden . Migration wurde als Agens landschaftsverändernder Aktivitäten aufgefasst und ein wesentliches Forschungsinteresse lag in der Auslotung möglicher Besiedelung durch „Weiße“ (Waibel 1921: 313 f .) . Den Landschaften selbst wurde eine Individualität angedichtet, Völker- und Staatenkunde waren Teil der Länderkunde, weil sie „ähnlichen praktischen Zwecken dienen“ (Hettner 1919: 15 sowie 19 f .) . Wichtige Themen der Geographie um die Jahrhundertwende sind: Koloniale Expansion, Rasse und eigene „kulturelle Überlegenheit“, Volk und Völkisches, Seele der Landschaft .

homogenität und „helle rassen“

Die Geographie stellt sich in den Dienst der politik

Kriegswichtig und damit förderwürdig: das fach Geographie

In der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts werden Landschafts- und Bevölkerungsfragen in der Geographie weithin diskutiert (Bobek und Schmit­ hüsen 1947) . Die Überlegungen kreisen im Wesentlichen um drei Themen: erstens die koloniale Expansion und die Gewinnung von Lebensraum, zweitens um „Volk“ und „Völkisches“ und deren Grenzgebiete, drittens darum, welchen Einfluss die „Rasse“ auf das Volk hatte und wie größtmögliche „Homogenität“ der Bevölkerung hergestellt werden könnte – wobei die „hellen Rassen“ den farbigen Rassen überlegen seien (Maull 1934: 23) und eine höhere „Befähigung zur Überwindung“ der durch den Raum gegebenen Schranken besäßen (Hesch 1934: 51) – so die Autoren in einem von Haushofer herausgegebenen Sammelband . Die deutsche Version der akademischen Geographie ist hierbei über ihre – ausnahmslos männliche – Professorenschaft direkt in die Produktion politischer Vorlagen eingebunden: Wie konnte dem „Ausdehnungsdrang“ eines wachsenden Volkes Raum verschafft werden (vgl . Merz 1915, Penck 1915)? Wie lebten die „Deutschen“ im Ausland – beispielsweise in Germantown – und wie wurde das Brauchtum dort gepflegt (vgl . Meynen 1935)? Wie konnte das „Deutschtum“ gestärkt werden (vgl . Schneefuss 1939)? Wegen solcher Fragen hatten Militär und staatliche Stellen schon während des Ersten Weltkrieges ein starkes Interesse auch an der landeskundlichen Forschung entwickelt . Hier bekam geographisches Wissen mehr als nur einen ideellen Wert, es wurde „kriegswichtig“ und damit für die Wissenschaftslandschaft unentbehrlich, sprich förderwürdig . Länderkundliche Überlegungen kreisten beispielsweise um die „Gefahr der englischen 48

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Weltherrschaft“, und viele Autoren stellten ihre Analysen als Beitrag zum Verständnis der tieferen Ursachen zur Verfügung (vgl . Hettner 1917), der Krieg wurde eine „geographische Erscheinung“ und eine pazifistische Einstellung zur Feigheit degradiert (Banse o .J .: 79) . Geographisches Wissen wurde praktisch und politisch verwertbar, und deshalb wurde auch seine Finanzierung von staatlicher Seite über politisierte Stiftungen garantiert (Wardenga et al . 2011: 14 ff .) . Kennzahlen zu Bevölkerungsdichte und Nahrungsbasis dienten als Argumente für die geplante und umgesetzte Kriegsführung . Fast zwangsläufig sind Dichte und Verteilung der Bevölkerung auch bei Penck (1942) die Hauptthemen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der „Beweglichkeit“ des Menschen . Er setzt sie in direkte Beziehung zur Nahrungsmittelproduktion . In „Ausfüllungskurven“ illustriert er, welche Landstriche noch stärker genutzt werden könnten und wie die Bonitierung der Erde vorangetrieben werden sollte (Penck 1942: 165 ff .) . Dabei sieht er es geradezu als Aufgabe der Anthropogeographen, „an die Erfüllung der Erde mit Menschen zu denken“ (Penck 1942: 166 f .) .

Die erfüllung der erde mit Menschen

Die vielfältige und durch unterschiedliche wissenschaftliche Positionen geprägte wissenschaftliche Forschung in der Zeit der Weimarer Republik verengte sich auf die politischen Ziele im Dritten Reich . Nach „1933 stellte sich die Mehrzahl der deutschen Geographen bereitwillig in den Dienst der neuen Machthaber“ (Wardenga et al . 2011: 15) .

In sehr naturalistischer Weise, ganz im Sinne der holistischen Landschaftskunde, untersucht Norbert Krebs die Bevölkerungsbewegungen und untergliedert die Landschaft dabei als migrationsfördernd oder hinderlich . Die Naturlandschaften dienen als Ausgangspunkt für die Bildung von Kulturlandschaften (Hassinger 1940, zit . nach Krebs 1941: 9) . Aus dieser Grundannahme leitet sich die in diesen Jahren besonders starke Suche nach Grenzgürteln, Grenzsäumen und Übergangsgebieten ab, denn erst sie verweisen ja auf die eigentliche Ganzheit . Da gerät dann beispielsweise der östliche Teil des norddeutschen Tieflandes „mit seiner stattlichen Breite und der größeren Ausdehnung gangbaren Sandbodens zum Stromgebiet der Völkerwellen“ (Krebs 1941: 19) . „Lage und Ausstattung, […] Kontinentalität und Insularität, Gebirgs- und Flußlandcharakter, Kammerung und Durchgängigkeit bleiben immer auf allen Kulturstufen wirksam“ (Krebs 1941: 24) . Die Grenzforschung bezog sich besonders stark auf die Frage, wie nun Raumerweiterungen des Deutschen Reiches im Osten, bis zur Memel, einem durch eine „geringere“ Kulturstufe besiedelten Gebiet, erfolgen könnten (Krebs 1940: 797) und darauf, was dies für die deutschen Sprachgebiete bedeutete, wie die Kolonisationswellen verlaufen könnten 49

Die Suche nach „Ganzheit“ braucht „Grenzen“

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

ziel: Biologische „autarkie“

regimekritische und jüdische fachvertreter werden diskriminiert und zur ausreise gezwungen, ins Kz gebracht

Die Suche nach einer nationalen identität geht mit starken auswanderungsbewegungen einher

(Krebs 1940: 806) oder wo der „Gürtel der Grenzdeutschen“ verlief (Na­ wiasky 1926: 9) . Hier wird nicht nur eine aktive Siedlungspolitik gefordert, sondern auch eine aktive Bevölkerungspolitik propagiert . Eines der wichtigsten Ziele sei es, dass die Stadtbevölkerung „biologisch“ wieder „autark“ werden könne (Burgdörfer 1941: 53) – was durch eine Erhöhung der Geburtenziffer, und zwar durch „eigene Fortpflanzung“ und höhere Gebärleistungen anzustreben sei . Fachvertreter wie Passarge (1925) beschäftigten sich mit dem „Rassenproblem“ und den Begabungen der „Herrenrasse“ oder aber mit Geopolitik und der Homogenität des „Volkskörpers“ bzw . deren Gegenfigur, „den rassisch zersetzten Naturvölkern“ (Mühlmann 1943) – Bevölkerungsbewegungen werden so vor allem unter „rassischen“ Aspekten thematisiert . Wie im restlichen Fach der Geographie auch, war der allergrößte Teil der Geographieprofessoren und deren Publikationen „mit faschistischem Gedankengut verwandt“ (Heinrich 1991: 385) . Im deutschsprachigen Raum verloren die Wissenschaften während der Nazi-Gewaltherrschaft rund ein Drittel ihres Personals, darunter Albert Einstein, Luise Meitner, Ernst Bloch, Hannah Arendt und Theodor W . Adorno; vertrieben ihre klügsten Köpfe und büßten ihren bis dahin angesehenen Status in der akademischen Welt ein (Jöns 2003: 216 f .) . In der Geographie erlebte der einzige jüdische Ordinarius, der renommierte Länderkundler und Physiogeograph Alfred Philippson (1864–1953) in Bonn, den aus der Nazi-Ideologie abgeleiteten Ausschlussprozess am eigenen Leib: durch Abwertung der wissenschaftlichen Leistungen und schließlich durch die Deportation . Leo Waibel, mit einer Jüdin verheiratet und regimekritisch, emigrierte 1937 erst in die USA und später nach Brasilien (Mehmel 2007, Böhm 1989, Kohlhepp 2012: 44 f .) . Alfred Rühl, ein Wirtschafts- und Sozialgeograph mit jüdischen Vorfahren, wurde von anderen Geographen als „ungeographisch“ abqualifiziert, war – trotz seiner wissenschaftlichen Pionierleistungen – mit starken Repressalien konfrontiert und nahm sich schließlich das Leben (Troll 1947) . Seit Ende des 19 . Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg dominierte in Europa der Gedanke eines homogenen Volkes, und der Nachweis dieser Höherwertigkeit stand lange Jahre im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Beschreibung . Gleichzeitig jedoch wanderten große Kontingente von Menschen gerade aus den Staaten und Teilen Europas aus, die auf der Suche nach einer Nationalidentität waren (Irland, Norwegen, Dänemark, Deutschland, Ukraine, Polen, Tschechien, Ungarn, Italien) . Die Auswanderer suchten sich ihren Platz in der „Neuen Welt“ (USA, Kanada, Südamerika, Australien) und damit in Ländern, die sich zeitweise multikulturell und um Assimilation bemüht zeigten . Entsprechend haben sich Wissenschaftler dort früh mit Integrationsfragen beschäftigt .

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2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Bis weit in die Nachkriegszeit hinein werden die Konzepte der Migrationstheorie der „Neuen Welt“ in der deutschsprachigen Geographie nicht weiter beachtet . Man orientierte sich an den Bevölkerungswissenschaften und übernahm deren Terminologie und Fragestellungen .

In der frühen Nachkriegszeit wurden die während des Nationalsozialismus vertieften Denktraditionen nur ausnahmsweise in Frage gestellt . Im Bericht des Deutschen Geographentages von 1948 heißt es noch, dass die Geographie dem „deutschen Volke“ dienen solle (Wagner 1949, Nachdruck von 2013: 34) . Die Sicht auf Bevölkerungen in anderen Ländern folgte dem kolonialrassistischen Duktus:

in der frühen nachkriegszeit

„Hier [an der Küste Oberguineas, FH] ist es gelungen, die Schwarzen viel stärker als an anderen Stellen Afrikas in die Erzeugung von Kolonialprodukten einzuschalten . […] Bald ist das Schiff von den Booten der Neger umschwärmt, die ebenso gute Ruderer wie Taucher und Schwimmer sind . [ . . .] Diese Neger sind groß und gut gewachsen, auch fleißiger als viele ihrer Artgenossen . […] Den Wohlstand erkennt man an den großen belebten Negerdörfern, die mehr und mehr an den Verkehr angeschlossen werden .“ (Wagner 1949, Nachdruck von 2013: 22 f .)

Mit Hans Bobek, damals einem der führenden Fachvertreter, vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Hinwendung zu einer Sozialgeographie, weg von der anthropogeographischen Denkweise . Bobek bemängelte ab den 1950er Jahren, dass die „Gesellschaft“ und alle hieraus abgeleiteten Theorien im Fach Geographie keine Rolle spielten . Für ihn nun standen nicht die Individuen, sondern soziale Gruppen als Träger von Funktionen und kollektiver Handlungen im Mittelpunkt . Er nahm an, dass die sozialen Gruppen durch ihre Handlungen „Kräftefelder“ schufen . Als eine handlungsrelevante Sozialfunktion führte er die „migrosozialen Funktionen“ an, die sich auf Wanderung und Standortveränderung bezogen . Diese migrosozialen Funktionen seien besonders für die Analyse der Auseinandersetzung von Gesellschaften mit dem „verfügbaren Raum“ (Expansion, Kolonisation, Migration) relevant . Bobek öffnete die Sozialgeographie für Erklärungsansätze aus den Sozialwissenschaften (vgl . Weichhart 2008: 18 ff .) . Ihn interessierten die Beziehungen von sozialen Gruppen, beispielsweise Siedlungsgruppen, zu der sie jeweils umgebenden Landschaft – traditionell das zentrale Thema in der Geographie .

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hans BoBeK – Wende zur Sozialgeographie

„Soziale Gruppen“ als träger von funktionen

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Wanderung und Kolonisation sind in Bobeks Analysen eine Konstante, ebenso werden verschiedene mobile Berufsgruppen als „Lebensformen“ klassifiziert: Hirten, Fischer, Bündner, Handwerksgesellen oder Pächter sind sein Untersuchungsgegenstand .

Exkurs: Sonderform Nomadismus In der frühen Sozialgeographie nahm die Beschäftigung mit einer Sonderform der Migration, dem Nomadismus, eine herausragende Rolle für die Untersuchung von Mobilität ein . Geiger und Stein­ brink (2012) datieren sogar den Anfang der geographischen Migrationsforschung auf diesen thematischen Fokus . Bei Hans Bobek erschienen die verschiedenen Formen des Nomadismus als Indikator für den gesellschaftlichen Entwicklungsstand überhaupt (Bobek 1959) . Nomadismus wurde in der Entwicklungsländerforschung dann als typologischer Begriff genutzt, der eine mobile, auf Wanderviehwirtschaft basierende Lebens- und Wirtschaftsweise bezeichnete . Er beinhaltete verschiedene Merkmale der Wanderung: erstens eine Selbstversorgung mit allen tierischen Produkten und Transporttieren sowie der Produktion von Fleisch und tierischen Erzeugnissen für die Sesshaften und zweitens das Vorhandensein so karger Naturweiden, dass die Nahrungssuche für die Tiere zwingend immer wieder über große Distanzen erfolgte und einen Wechsel des Siedlungsplatzes nach sich zog sowie angepasste Formen der materiellen Kultur mit sich brachte (besondere Haushaltsgeräte, Webstühle, Kleidung,Waffen und Vorratswirtschaft u .v .m .) . Die Nomaden waren in Clans und Stämmen gruppiert, das Abstammungsprinzip bestimmte den sozialen Aufbau . Unterschieden wurden unterschiedliche, klimatisch angepasste Typen des Nomadismus, die vom Vollnomadismus bis zur Almwirtschaft reichten . Laut Scholz (1995: 20 f .) handelt es sich bei Nomadismus um eine „eigenständige gesellschaftliche Ausdrucksform, um eine Kulturweise, deren interne (soziale, ökonomische) Prozesse, steuernde Faktoren und äußere Erscheinung prinzipaliter dem elementaren ‚Gesetz‘ der Überlebenssicherung dienen“ (vgl . Scholz 1982: 6 f .) . Sie richtet sich „nicht auf Naturbeherrschung und Naturausbeutung, sondern auf das Leben in und mit der Natur“, stellt also eine bewusste Alternative zu Sesshaftigkeit und Ackerbau dar und ist regionsspezifisch . Nomaden finden sich vornehmlich im altweltlichen Trockengürtel, einem Steppe- und Wüstenstreifen, der sich von Nordafrika (Sahara) bis nach China und in die Mongolei erstreckt . Bis heute lassen sich die großen gesellschaft-

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2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

lichen und räumlichen Transformationen gerade am Wandel der Überlebensstrategien dieser mobilen Tierhalter besonders gut erkennen, weil die Wanderungen die veränderte Nutzung von Weiden genau abbilden (Ehlers und Kreutzmann 2000, Ehlers 2000: 77) . Die Studien von Kreutzmann und Dörre (2014) zeigen die zentrale Stellung von mobilen Tierhaltern während des Übergangs von sozialistischen zu marktwirtschaftlichen Strukturen, Akpaki (2002) illustriert am Beispiel der mobilen Tierhalter in Benin die Konflikte, die durch die von der Entwicklungszusammenarbeit eingeführten Anbaumethoden mit der mobilen Tierhaltung entstehen . In ihren Studien beobachten die Wissenschaftler dazu genau, wann welche Frucht zur Saat ausgestreut wird und wie die Bergvölker traditionelle Wirtschaftsformen als Problemlösungsstrategie nutzen . Durch diese ganzheitliche Betrachtungsweise der Mobilitätserscheinungen werden Bevölkerungsbewegungen in den Kontext allgemeiner Entwicklungs- und Konflikttheorien gestellt . So diente Ethnizität den Bergvölkern in Afghanistan und Tadschikistan als eine Gegenstrategie zu sozioökonomischer Deformation und zur Peripherisierung marginaler Gruppen, als Gegenformationsprozess zur hegemonialen Expansion der Nachbarn (Kreutzmann 1996: 325) .

Studien zur mobilen tierhaltung integrieren Wissen über nahrungssysteme mit politisch-ökonomischen Dynamiken

Diese Beispiele aktueller Forschungen zu Nomadismus und mobiler Tierhaltung verdeutlichen die Besonderheit des Faches Geographie, das teilweise bis heute, anders als die Sozialwissenschaften, traditionell auch naturräumliche Faktoren und lokales Wissen in seine Betrachtungen einbezieht . In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen finden Einflussgrößen wie beispielsweise Anbausysteme oder regionale Besonderheiten in der Regel keine Beachtung .

2.3.2 Migration als Thema der Bevölkerungsgeographie Einer der ersten Sammelbände in der Bevölkerungsgeographie, der sich dezidiert Wanderungsfragen zuwandte, wurde 1978 von Wolfgang Kuls herausgegeben . Kuls seinerseits plädiert – wie zuvor auch Bobek – für eine stärkere disziplinäre Hinwendung zu den Arbeiten der Nachbarwissenschaften und bietet den Lesern, so heißt es im Vorwort, einen „grundsätzlichen Beitrag zur Methodik geographischer Wanderungsforschung“ an, außerdem eine Analyse über städtische Selektions- und Segregationsprozesse, dann einen Beitrag über Regressionsanalysen in der Migrationsforschung sowie einen über die Wanderung und die räumliche Verteilung von Pensio53

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

nären aus Paris an ihren Landsitzen (Kuls 1978, 7) . Einen eigenständigen Abschnitt erhält das Thema der „Wanderungen“ erstmals in dem 1980 erscheinenden Lehrbuch von Wolfgangs Kuls . Kuls interpretiert Wanderungen nun als Teil von Mobilitätsvorgängen und differenziert diese, nach einer Präsentation der Datenquellen und Darstellungsformen, nach Wanderungsgründen, den Auswirkungen der Wanderungen, Wanderungstypen und der Migrationsgeschichte .

Wichtigste theoretische Zugänge zur Wanderungsforschung sind in dieser Zeit die „Theorie der Wanderung“ nach E .S . Lee und das Konzept des Mobilitätsüberganges von Wilbur Zelinsky . Beide Ansätze werden bis heute in der Geographie rezipiert und bilden die Grundlage zahlreicher Wanderungsanalysen . 2.3.2.1 Pull- und Push-Modelle

e. G. ravenStein vergleicht Migrationen mit den fließeigenschaften des Wassers, „Gesetze der Wanderung“

Die Anfänge der Migrationsforschung gehen auf die Demographie am Ende des 19 . Jahrhunderts zurück . Erstmals hatte der deutsch-englische Wissenschaftler E .G . Ravenstein Bevölkerungsdaten ausgewertet und hieraus „Gesetze“ über die Wanderung von Menschen entworfen . Er nahm an, dass Migrationsströme mit dem in einer Zisterne fließenden Wasser vergleichbar sind . In seinen allgemeinen Schlussfolgerungen zog er Vergleiche wie diese: „Die Deckung des Bedarfs wird von der unmittelbaren Nachbarschaft ausgehen, und seine Einwirkung wird sich fortbewegen von Provinz zu Provinz […] Es sei mir erlaubt, diese Bewegung mit derjenigen zu vergleichen, die in einer Zisterne entsteht, nachdem man den Wasserhahn aufgedreht hat“ (Ravenstein 1972: 83) . Ravenstein hat den Stellenwert der von ihm zunächst als „Gesetze“ formulierten Generalisierungen in späteren Publikationen relativiert . Doch die Vorstellung einer binären Unterteilung in „Pull“ (= Anziehungs-) und „Push“ (= Abstoßungs-)Faktoren als Auslöser von Wanderungsentscheidungen einzelner Menschen und die gedankliche Rahmung von „Menschenströmen“ wurden fester Bestandteil der Migrationsforschung . Ab den 1960er Jahren wurden solche Anziehungsund Abstoßungsfaktoren durch Regressionsanalysen nun mathematisch in Beziehung gesetzt . Man wollte berechnen, welche Migrationen in welcher Konstellation zu erwarten waren und durch lineare Mehrfachregressionen verstehen, welches die abhängigen Variablen im Migrationsprozess sind . Meist werden die Pull-Push-Modelle von einigen wenigen Variablen wie beispielsweise Einkommensunterschieden oder dem Angebot bzw . der Nachfrage nach Arbeitsplätzen gespeist .

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2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Aus aggregierten Daten werden Wanderungsprognosen destilliert, wobei für die Berechnung der gleichzeitig wirkenden wanderungsfördernden oder wachstumshemmenden Faktoren bestimmte Parameterwerte zugrunde gelegt werden .

Beispiele für eine solche Operationalisierung von Pull-Faktoren sind die Hinzuziehung von Daten zur Arbeitslosigkeit, über die technische und soziale Infrastruktur einer Region, über ethnische Diskriminierung oder aber über die Einhaltung von Menschenrechten, oder auch den Zugang zu Ressourcen . Als Push-Faktoren werden beispielsweise eine hohe Arbeitslosenquote, eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten, starke Umweltdegradation u .v .m . angenommen (Gans 2011: 128) . Solche vereinfachenden, da gewissermaßen ausgerechnete, Annahmen über die enorme Komplexität menschlicher Entscheidungsfindung können zu Fehlinterpretationen führen . Vor allem lassen sie häufig externe Barrieren und Machtverhältnisse, die ein Einzelner weder gestalten noch überwinden kann, außer Acht . Was ein Abstoßungsfaktor bei der Entscheidungsfindung sein mag, kann auch gleichgültig oder sogar vorteilhaft sein . In der Realität unterliegen alle Entscheidungen einer Reihe von mehr oder weniger bewussten handlungsleitenden Normen, die in solchen Modellen keine Spiegelung finden . Aufbauend auf Ravenstein entwirft Lee (1966) eine über das simple Pull-Push-Modell hinausgehende „Theorie der Wanderung“ . Er definiert Migration als permanenten oder semipermanenten Wechsel des Wohnsitzes – egal ob freiwillig oder unfreiwillig . Unterschieden werden vier auf den Migrationsprozess einwirkende Kategorien: a) Faktoren in Verbindung mit dem Herkunftsland, b) Faktoren in Verbindung mit dem Zielgebiet, c) intervenierende Hindernisse und d) persönliche Faktoren . Für Lee ist die einfache Addition der Pull- und Push-Faktoren nicht ausreichend, um Migrationsbewegungen zu erklären . Man müsse eine Kategorie mit „indifferenten Faktoren“ (in der Abb . 7 mit ‚o‘ gekennzeichnet) hinzunehmen, die sich mal migrationsverstärkend, mal migrationsvermindernd auswirken könnten . Und es kämen noch die vielen persönlichen Faktoren hinzu, die sich je nach Lebenszyklus änderten . Manchmal sei sogar die rationale Komponente unbedeutender als die irrationale! Entscheidend sei die „Perzeption der Faktoren“ für die Auslösung von Wanderungen, nicht „so sehr die tatsächlichen Faktoren am Herkunftsort und am Bestimmungsort“ (Lee 1972: 120 f .) selbst . Auch finden in seinem Modell die dazwischenliegenden Hindernisse, z .B . die Entfernung oder wirkliche physische Barrieren (er nennt das Beispiel der Berliner Mauer) sowie Einwanderungsgesetze, ihren Platz .

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Wanderungsrealitäten lassen sich nicht auf Variablen reduzieren

für lee existieren indifferente faktoren

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Die konzeptionelle Weiterentwicklung von Lee ist deshalb so bedeutsam, weil sie von einer Vorstellung abrückt, die Migration zu analysieren, „als bewegten sich unbelebte und mit ihrer Umgebung durch nichts als durch Gravitationskräfte verbundene Objekte durch Raum und Zeit“ (Albrecht 1972: 17) .

Lee markiert damit den Übergang zu interaktionistischen Ansätzen, die den Fokus auf den Austausch zwischen verschiedenen Einflussgrößen legen .

abb. 7: Die Pull- und Push-faktoren bei lee und die intervenierenden hindernisse

lebenszyklusmodelle

Migration tritt in einigen lebensphasen und -situationen gehäuft auf

Auch das Lebenszyklusmodell wird in der Bevölkerungsgeographie intensiv diskutiert . Der „klassische Lebenszyklus“ mit seiner angenommenen Abfolge von Familienereignissen, wie Heirat, wachsende Familie, konsolidierte Familie und schrumpfende Familie, älteres Paar und alleine lebende ältere Person, wird von Kemper (1985) mit den räumlichen Mobilitätsmustern verknüpft . Er errechnet die Mobilitätsraten für die unterschiedlichen Gruppen . In den Sozialwissenschaften sind solche handlungstheoretischen Migrationsmodelle weithin aktuell . Migrationsentscheidungen werden in Abhängigkeit verschiedener Lebensphasen und Lebensziele untersucht . Wann aber werden Migrationsgedanken zu Migrationsplänen und wann kommt es zur Umsetzung dieser Absichten in die Realität (Kley 2009)? 2.3.2.2 Migration als teil der Mobilitätstransformation

Für die Sozialgeographie war die Verknüpfung von Migration mit dem Theoriegebäude des „demographischen Übergangs“ außerordentlich wichtig . Erstmals wurde hier eine eigenständige Theorie vorgelegt . Wil56

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

bur Zelinsky (1971) entwickelte – in Anlehnung an die damals gängigen Modernisierungstheorien – die Hypothese, dass mit steigendem sozioökonomischen Entwicklungsstand auch ein spezifisches Mobilitätsverhalten einhergehe . Er zeichnet diese (idealtypische) Entwicklung von einer immobilen zu einer hochmobilen Gesellschaft nach . Ähnlich wie bei der Theorie des demographischen Übergangs klassifiziert die Theorie der Mobilitätstransformation fünf Phasen, die im Großen und Ganzen die europäischen Entwicklungspfade nachbilden .

In einer ersten Phase (premodern traditional society) liegen hohe Geburtenund Sterberaten bei insgesamt niedrigem Bevölkerungswachstum vor, alle Formen räumlicher Bewegung sind wenig intensiv . Außer in Zeiten von Völkerwanderungen wird der Wohnsitz entweder gar nicht oder nur für zirkuläre Wanderungen zum Zwecke des Besuchs von Messen, Märkten und Pilgerstätten verlassen . In der zweiten Phase (early transitional society) kommt es zu einer Auseinanderentwicklung von Geburten- und Sterbeziffern, es entsteht ein Bevölkerungszuwachs, der zu einer Besiedlung der bis dahin noch nicht oder kaum besiedelten Zonen der Ebenen führt . Allmählich setzt auch die Land-Stadt-Wanderung ein . Mit der Industrialisierung entstehen dichte Wohngebiete um die alten Siedlungskerne . In der dritten Phase (late industrial society) geht das schnelle Bevölkerungswachstum zurück; die Wanderungen vermindern sich, während die zirkulären Wanderungen zur Arbeitsstelle, zum Einkaufszentrum und zu den Bildungsstätten zunehmen . In der vierten Phase (advanced society) ist der demographische Transformationsprozess abgeschlossen . Zelinsky nimmt an, dass am Ende dieses Transformationsprozesses hochmobile Gesellschaften entstanden seien und Auswanderungen nach Übersee kaum noch stattfänden, die Land-Stadt-Wanderung in ihrer Bedeutung abnehme . In einer nächsten Phase komme es dann zu einer Zuwanderung von ungelernten ausländischen Arbeitskräften, während für die einheimische Bevölkerung mit dem steigenden Wohlstand die Freizeitmobilität zunähme . Zelinsky glaubt, dass in einem letzten Stadium (superadvanced society) die Mobilität insgesamt zurückgehen müsse, denn bessere Kommunikationssysteme machten einen Teil der Raumbewegungen überflüssig . Die von Zelinsky entworfene Theorie endet mit dem Übergang in die postmoderne Gesellschaft . Die enge Verbindung zu modernisierungstheoretischen Stufenmodellen ist ebenso offensichtlich wie die starke Anlehnung an die US-amerikanische regionale Entwicklung .Wilbur Zelinsky hat sein Modell nicht weiterentwickelt und rückblickend lässt sich sein Ausblick als vielfach unzutreffend kategorisieren . Die Mobilität der Menschen und die internationalen Migrationen haben in den vergangenen Dekaden nicht abgenommen . 57

Siedlungsmuster und Mobilitätstypen bedingen einander

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

2.3.2.3 Migration als frage von Diffusion und zentralität

rückgriff auf internationale, quantitativ orientierte forschung

nipper, Migrationsfelder

informationsfelder

Kortums hierarchische Wanderungsvorgänge

Suche nach regionalen typen ähnlicher Wanderungsdynamik

Das 1991 erschienene Lehrbuch „Bevölkerungsgeographie“ von Bähr, Kuls und Jentsch erweiterte die von Kuls präsentierten Grundlagen durch die Hinzunahme von Zirkularität in den Lehrkanon . Die Autoren fassen hierunter „räumliche Mobilität ohne Wohnsitzverlagerung“ . In dieses 1000-seitige Standardwerk werden theoretische Zugänge wie beispielsweise Constraints-Modelle, counter-urbanization oder aber das „Lebenszyklusmodell“ und „Aktionsräume“ integriert, die teilweise aus der anwendungsorientierten Demographie und aus den Sozialwissenschaften stammen und die auch in der Münchner Schule der Sozialgeographie bearbeitet wurden (vgl . Weichhart 2008) .Vor allem quantitative Verfahren wurden ausführlich besprochen . Die in dieser Zeit in der Geographie diskutierten Theorieangebote finden sich auch in der Bevölkerungsgeographie wieder . In gedanklicher Übertragung der Diffusionsforschung wird beispielsweise nachgewiesen, dass die Gastarbeiterzuwanderung nach Deutschland in einer ersten Phase nach einem hierarchischen Prinzip in die Orte höherer Zentralität, erst in Süd-, dann in Norddeutschland, abgelaufen ist und sich in einer zweiten Phase durch spezielle Nachbarschaftseffekte in die kleineren Ortschaften fortpflanzte (vgl . hierzu Giese 1978 sowie Nipper 1983) . Nipper (1973) untersucht im Rückgriff auf Hägerstrand Migrationsfelder, die Aufschluss über die Bedeutung der räumlichen Distanz im Entscheidungsprozess der Migration geben sollen . Er berechnet die Distanz als ein Strukturelement dieser Migrationsfelder (1973: 38 f .), indem er Zeitungsannoncen auswertet und hieraus einen neuen distanziellen Raumbegriff entwickelt . Nipper interessiert sich vor allem für den Stellenwert der Information im Entscheidungsprozess, für Informationsdistanzen, die er auf Karten abbildet . Er stellt heraus, dass Münster eine „Solitärstadt“ ist (eine Stadt, deren Umland in allen Bereichen völlig gleich strukturiert ist) und dass dort die Strukturlinien der Informationsdistanz parallel zur Zentralität dieser Stadt verlaufen . Die Ergebnisse fasst er in Metriken, einem verallgemeinerten Distanzbegriff, zusammen . Kortum (1979) hingegen verortet Wanderungsvorgänge hierarchisch, indem er verschiedene Distanz- und Richtungstypen (nämlich: interregional, intrarural, rural-urban, interurban, suburban, innerurban und der Typus des Händlers) in das zentralörtliche Modell von Walter Christaller überträgt . Kortum hebt hervor, dass auf den verschiedenen Maßstabsebenen unterschiedliche Formen der Migration stattfinden und dass diese an Kriterien wie Zentralität und Lebenszyklus gebunden sind . Am Beispiel der türkischen Gastarbeitergemeinde in Kiel weist er mittels der Auswertung vorliegender Statistiken nach, dass die Wanderung der Türken nach Deutschland eine verlängerte Binnenwanderung darstellt und vor allem auch die großen Entwicklungsunterschiede in der Türkei selbst die dortigen Bevölkerungsumverteilungen widerspiegeln (Gans und Kortum 1984) . Die Bevölkerungswissenschaftler destillieren aus den Wanderungsdaten „regionale Ty58

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

pen ähnlicher Wanderungsdynamik“ und unterscheiden Regionen, die von der Zuwanderung profitieren, von solchen, die eben nicht davon profitieren (Bähr und Gans 2003) . Angeregt durch die Theorieentwicklung in den Sozialwissenschaften entwickelt Killisch (1971) Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der räumlichen Mobilität . Er definiert „Mobilität“ in Abgrenzung von „Haftung“, d .h . der Summe aller Hinderungsgründe . Je größer die Haftung, so folgert er, desto geringer die Mobilität . Erst Impulse brächten die Wanderer in Bewegung und veranlassten einen Wohnortwechsel der „mobilen Einheiten“ . Unter Bezugnahme auf die verschiedenen Grunddaseinsfunktionen wird Mobilität als ein Abwägungsprozess von Haftungs- und Hemmnisfaktoren sowie Erwartungen interpretiert . Der räumlichen Distanz kommt die Funktion eines Verstärkers zu . Relativ statisch wird angenommen, dass die Impulswirkungen sich in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich auswirken . Berechnet werden schließlich gruppenspezifische Mobilitätsunterschiede .

KillliSchs allgemeine theorie der räumlichen Mobilität

Die Bevölkerungsgeographie wendet sich vor allem der Binnenmigration zu, sie will Mobilitätsmuster erkennen und erklären .

Heute sind die Forscher – angesichts der heterogeneren und flexibleren Lebensverläufe der Menschen – mit solchen pauschalen Zuordnungen vorsichtiger . Mobilität und Migration sind selbstverständlich an gesellschaftliche Normen und Entwicklungen geknüpft . So wurde in der Forschungsliteratur zwar von Anfang an auch der gutbetuchte Pensionär beschrieben, der sich in der Provinz bzw . im landschaftlich schöneren Umland der Stadt niederließ (vgl . Kuls 1978), doch wäre es beispielsweise noch vor 20 Jahren kaum vorstellbar gewesen, dass gerade der Übergang ins Rentenalter nochmal zu einer verstärkten Mobilität führen kann und dass die Menschen dann von Suburbia zurück in die Stadt ziehen oder sich noch einmal gänzlich neu orientieren (vgl . Schneider 2012), etwa von Bottrop nach Palma de Mallorca übersiedeln . aussagen über Migration sollen durch Constraints-Modelle optimiert werden

In der Bevölkerungsgeographie erfolgte insgesamt eine starke inhaltliche Orientierung an wirtschaftswissenschaftlich argumentierenden Modellbildungen . Besonders die Frage nach den „auslösenden Faktoren“ interessierte in dieser Zeit .

Wie erklärten sich die Wanderungswellen von Einwohnern an die Stadtränder? Die damalige Bevölkerungsgeographie konzentrierte sich auf den 59

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

innerstädtische Wanderungen

Entscheidungsfindungsprozess der Migranten und favorisierte verhaltensorientierte Modelle, die nicht nur die „objektiven Merkmale“ berücksichtigten, sondern auch Platz für „subjektive Interpretation“ ließen . Bähr (1992: 575 f .) berücksichtigt ausdrücklich „einschränkende Faktoren“ (wie Zeit und Geld, aber auch Umweltfaktoren) . Diesen stärker handlungstheoretisch ausgerichteten Überlegungen wird in Constraints-Modellen Rechnung getragen . Bähr (1992: 808 ff .) überträgt diese Vorstellungen von Handlungsspielräumen in die Bevölkerungsgeographie, wenn er die innerstädtischen Wanderungen der unteren Sozialschichten in der lateinamerikanischen Stadt untersucht . Ihm geht es darum, Mobilitätsmuster in der räumlichen Anordnung der Stadt zu klassifizieren . Bähr hält besonders die Wanderungsschritte im Land selbst für interessant . Er kommt zu dem Schluss, dass „Verallgemeinerungen der an Einzelbeispielen erarbeiteten Befunde nur schwer möglich [sind], und Modellvorstellungen […] nur als Leitlinien und Arbeitshypothesen kleinräumiger Detailstudien dienen [können], diese jedoch keinesfalls ersetzen .“ (Bähr 1992: 810) . 2.3.3 Migration als Teil der Sozialgeographie

ungleiche räumliche Verteilung der ausländischen Bevölkerung in den Großstädten. Gastarbeiter als „europäisches problem“

Auch die Sozialgeographie beschäftigte sich seit Mitte der 1970er Jahre mit Fragen der Migration . Anders als in der Bevölkerungsgeographie lag das Erkenntnisinteresse viel klarer auf Fragen der Integration der sogenannten Gastarbeiter . Sie fanden sich nun sozialräumlich konzentriert in vielen Großstädten (siehe auch Kapitel 6 .1), und dort entstanden zunehmend „Integrationsprobleme“ . Um diese zu analysieren, stützten sich die Wissenschaftler, wie in der Bevölkerungsgeographie, zunächst überwiegend auf quantitative Verfahren . Immer wieder stellte sich die Frage, welche Indikatoren Auskunft über den Grad der Ausgrenzung geben könnten . Teilweise gipfelte diese Auseinandersetzung über die richtige Rechenform in regelrechten „Indexkriegen“ (Kemper 2007: 217) .Verschiedene Vertreter der Münchner Schule der Sozialgeographie, darunter Robert Geipel und Volker Kreibich, berechneten Aktionsräume und untersuchten bestimmte soziale Gruppen . Mittels Regressionsanalysen errechneten sie die Ursachen dieser Verteilungsprozesse . Die sozialgeographischen Autoren bewerteten die Migration und das Verhalten der Migranten mehrheitlich von der Warte einer Defizitperspektive: In der Migration wird eine Ausgleichsstrategie für fehlende Chancen gesehen . Den Migranten selbst fehlte ebenfalls etwas, sonst könnten sie ja erfolgreich in die Mehrheitsgesellschaft integriert werden . Migranten wurden bevorzugt als „europäisches Problem“ wahrgenommen (vgl . Schrettenbrunner 1982, Franzen 1978) . In der Perspektive der Münchner Schule verstand man die „Fremdarbeiter“ als 60

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Sozialgruppe, die von der Mehrheitsgesellschaft im Zielland abgegrenzt werden konnte . Schrettenbrunner untersuchte deren Einfluss auf die Heimatgemeinde (in Kalabrien, Süditalien) . Sein sozialgeographisches Anliegen lag im „räumliche[n] Nachweis von gruppentypischem Verhalten“ (Schrettenbrunner 1970: 171), außerdem in der Identifikation der wanderungsbedingten Sonderstellung dieser Bevölkerungsgruppe . Ähnliche Studien finden sich bei Geiger (1975) und Dickel (1970), die beide auch Kartierungen der Verbreitungen bestimmter Wanderungsgruppen, Gemeinden, präsentierten . Die Untersuchung der Gemeinde als „Prozessfeld“ sollte Aufschluss über generelle Sachverhalte wie beispielsweise Zustand der Häuser (überwiegend Neubauten oder häufiger Renovierungen?), Bildungsstruktur und Wanderungstypen (Häufigkeit der Ein- und Auswanderungen?) geben . Man wollte die sozioökonomische Dynamik von Vierteln offenlegen .

Schrettenbrunner ging in seiner Analyse gedanklich einen Schritt weiter, indem er sich genereller mit der Frage der Gastarbeiterwanderung in Zusammenhang mit den Veränderungen in den Heimatländern der Gastarbeiter befasste . Er übernahm Anregungen aus Politik- und Sozialwissenschaften und forderte schon früh eine Mehrebenenbetrachtung der Migration ein, denn er hielt vor allem auch die Wechselwirkungen zwischen Herkunftsland und Zielland relevant für die sozialgeographische Analyse . In den 1980er Jahren befassten sich dann Elisabeth Lichtenberger und ihre Assistentin Helga Leitner (1983) in Wien intensiv mit Fragen der Segregation und Assimilation von Migranten . Erstmals in der deutschsprachigen Sozialgeographie machten die beiden deutliche Anleihen bei der in den USA entwickelten sozialökologischen Schule . Lichtenberger (1984) stellte die ambivalente Zwischenposition der Migranten heraus . Erst die Koexistenz zweier paralleler Wertesysteme mache die eigene Lebenssituation für den Gastarbeiter überhaupt erträglich . Das schaffte der Migrant, indem er dem „unterschichteten“ Wertesystem im westlichen Industrieland, in das er einwanderte, gedanklich das eigene mitgebrachte und „überschichtete“ Sozialsystem im Herkunftsland gegenüberstellt . Bei Heimatbesuchen fielen die Gastarbeiter nämlich durch Aufstieg und Besitz auf und ernteten Anerkennung . Dies relativierte die Entbehrungen im Aufnahmekontext . Eine solche Betonung des Statusunterschiedes des Migranten im Herkunfts- und im Zielkontext ist grundlegend für das Verständnis von Migration, weil er die psychologischen Dynamiken, die in jedem Migrationsprojekt eine wichtige Rolle spielen, auf den Punkt bringt . Es handelt sich um das „Statuspara61

Schon Mitte der 1970er Jahre erfolgt eine hinwendung zu einer Mehrebenenanalyse

fragen der Segregation und assimilation

Das Statusparadox der Migration

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Gastarbeiter„wellen“

Stadtorganismus

Die Kontakthypothese kann Segregation nicht erklären

dox der Migration“, das davon lebt, dass der Migrant einen Statusgewinn im Herkunftsland unter Inkaufnahme eines gleichzeitigen Statusverlustes im Zuwanderungsland akzeptiert (vgl . Nieswand 2011) . Lichtenberger geht von einer Assimilation der Gastarbeiter in die Mehrheitsgesellschaft aus . Damit sind für sie die räumlichen Spuren der Gastarbeiter in der Stadt in Form einer Segregation und deren Aktionsräume in Wien besonders relevant . Helga Leitner untersuchte die „Gastarbeiterwelle“ . Sie befasste sich mit den Folgen von Migrationen im Stadtorganismus und mit der sozialen Aufwärtsmobilität der eingewanderten Bevölkerung . Sie verwendete sozialökologisch geprägte, organische Bilder wie beispielsweise das „Emporsteigen“ einer „inländischen Grundschicht“, die durch das „Einströmen“ von Gastarbeitern in die „sozial unerwünschten Arbeitsplätze“ beunruhigt war (Leitner 1984: 36) . Auch bei ihr stammte das theoretische Rüstzeug weitgehend aus der US-amerikanischen Assimilationsforschung mit ihren Konzepten von Invasion, Sukzession und Wettbewerb . Worauf sonst sollten die Wissenschaftlerinnen bei ihrer Theoriebildung auch zurückgreifen? In der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts hatte sich die Geographie mit der „Rasse“ und den „Grenzen“ beschäftigt und keine eigenen Begrifflichkeiten geschaffen . Lichtenberger und Leitner suchten nach operationalisierbaren Faktoren für eine multivariate Analyse über Prozesse von Invasion und Sukzession . Sie ordneten die verschiedenen Einflussgrößen den aus dem Herkunftsland mitgebrachten Merkmalen, den Einstellungen und Erwartungen der Migranten und den objektiven Gegebenheiten im Zielgebiet zu . Letztlich kam Leitner zu dem Ergebnis, dass es nicht möglich ist, aus räumlich aggregierten Daten (die beispielsweise einen Stadtteil abbilden) auf individuelles Verhalten zu schließen (Leitner 1984: 74) . Genauso verwirft sie die bis heute populäre „Kontakthypothese“ . Die Kontakthypothese besagt, dass die bloße räumliche Nähe, z .B . über private Kontakte, zu einer Verringerung der negativen Vorurteile und zu einer stärkeren Toleranz unter den Bewohnern führt .

Die Diskussion pro und contra „soziale Mischung“ – so resümiert sie – sei eine ideologisch belastete Frage . Denn solange es keine eingehenden empirischen Untersuchungen zur Klärung der Frage nach den Auswirkungen der Segregation für die Betroffenen und nach Art und Ausmaß der Wahrnehmung dieser Segregation durch die Betroffenen gebe, „könne diese Frage nicht wissenschaftlich beantwortet werden“ (Leitner 1984: 77) . Sie fasst „Integration“ und „Assimilation“ in einem Schema zusammen (vgl . Abb . 8) . Leitner unterscheidet zwischen struktureller und kultureller 62

2.3 DaS theMa MiGration in Der DeutSchSprachiGen GeoGraphie

Integration und sieht zwischen diesen beiden nicht eine natürliche Abfolge, sondern einen zeitlich und räumlich aufeinander bezogenen Prozess, d .h . eine manipulierbare Größe .

Quelle: leitner (1984: 62) abb. 8: Modell der abhängigkeitsrelationen im integrations- und assimilationskontext

Typisch für den Mainstream der bundesdeutschen sozialgeographischen Debatte ist bis in die späten 1990er Jahre hinein, dass dort Migration vor allem als Produkt übergeordneter Prozesse wie beispielsweise der Suburbanisierung gefasst wird . Laux und Thieme (2005) untersuchen die Verteilung der Minoritäten in den (US-amerikanischen) Kernstädten und den Grad der Suburbanisierung der verschiedenen Zuwanderergruppen und erstellen ein Ranking der verschiedenen ethnischen Gruppen (Laux und Thieme 2005: 43) . Die Autoren analysieren die Gegensätze von „Schwarz“ und „Weiß“ auf der „ethnischen Landkarte“ und heben die besondere Position der Asiaten hervor . Anders als in der Literatur angenommen, führte die Suburbanisierung der Minderheiten eben nicht zu einer nachhaltigen Reduzierung ihrer räumlichen Segregation . Nur ausnahmsweise widmen sich bevölkerungsgeographische Studien einer Minderheitenthematik . Am Beispiel des Kärntner Minderheitenkonflikts kombiniert Gamerith (1994) große Bevölkerungsdaten mit dem raum-zeitlichen Wandel der Ethnizität, die sich vor allem am Sprachgebrauch festmachen ließ . Erst 2011 erscheint ein sozialgeographischer Reader zu Migration und Integration, der sozialwissenschaftliche Ansätze aufnimmt (Fassmann und Dahlvik 2011). 63

laux und thieme, Schwarz und Weiß verteilen sich ungleich auf der ethnischen landkarte, gemessen am Dissimilaritätsindex

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Mit dem Dissimilaritätsindex (der den Grad der Ungleichheit der räumlichen Verteilung von Einheiten wiedergibt) wird Ungleichheit in der räumlichen Verteilung gemessen . Studien zeigen, dass die ethnische Segregation in den Kernstädten größer ist als in den Suburbs und dass die Segregation zwischen den Bevölkerungsgruppen weitaus stärker ist als die sozioökonomische Spaltung .Von einer Integration kann nicht die Rede sein .

Exkurs: Die Stagnation der Migrationsforschung – nicht nur in der Geographie Die Migrationsforschung konnte sich lange nicht als eigenständiges Teilgebiet in der Geographie etablieren . Dies entsprang zum Teil aus der eigenen Fachgeschichte, die lange um die höchst ideologischen Konzepte von „Rasse“ und „Grenzen“ kreiste und außerdem dem Landschaftsparadigma eng verbunden war bzw . in der Bevölkerungsgeographie verortet blieb . Wie auch in anderen Fächern wurde die Theoriebildung im Vergleich zu anderen Wissensfeldern vernachlässigt, das Thema hatte ein wissenschaftlich geringes Ansehen . Es ist kein Zufall, dass die Forschung zu Migration nahezu ausschließlich auf Probleme in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeiten, Wohnen, Gesundheit, Bildung) oder aber direkt auf soziale Probleme (Unsicherheit, Gewalt und Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Armut, Stadtzerfall) gerichtet blieb (vgl . Martiniello und Rath 2010: 13 ff .) . Auch die Bewertung der psychischen Situation der Migranten im Sinne von „Entwurzelung“, „Entfremdung“ und „Marginalisierung“ betonte die problematische Seite der Migration .

leuchtturm Großbritannien: Symbolik, Maskulinität, aushandlungen des ethnischen

In der angelsächsischen sozialgeographischen Wissenschaft spielt die Migrationsforschung eine herausgehobene Rolle und bildet bis heute einen Referenzpunkt für die deutschsprachige Geographie . Auch hier ist zunächst der bevölkerungswissenschaftlich geprägte Zweig besonders dominant (Salt 2001), oder aber die Beschäftigung mit Minderheiten und deren religiöser Praxis, die unter anderem den Bau von religiösen Zentren erfordert (Peach 2005) . In Großbritannien erfolgt in den 1990er Jahren schon eine starke Hinwendung zu ganz neuen Themen, die in Deutschland erst später diskutiert werden . Linda McDowell (2013) widmet sich beispielsweise der Rolle von Maskulinität und Geschlecht für die Gestaltung von (migrantischen) Arbeitswelten und den Konsequenzen hieraus für die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im ganzen Land . Mittels der Technik der oral history deckt sie immer wiederkehrende und keineswegs nur individuelle 64

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

Narrative der Migranten auf (McDowell 2013) . Die Untersuchung von Migration gibt Aufschluss über die Neugestaltung von Arbeitswelten und dort verankerte Konzepte von Männlichkeit . Dwyer (2004, 2008, 2012) untersucht, wie über transnationale Praxen neue Räume in der Stadt entstehen . Dazu analysiert sie, wie kulturelle Attribute über den Handel und Verkauf von Textilien das multikulturelle London erst hervorbringen und welchen Einfluss diese transnationalen Lebensweisen auf die jüngere Stadtentwicklung generell haben . 2.4 zugänge der neueren Migrationsforschung, neue Geographien der Migration In der Geographie vollzog sich seit der Jahrtausendwende eine deutliche Hinwendung zur Migrationsforschung, was sich oberflächlich an der Zunahme an Publikationen ablesen lässt . Unter dem Stichwort „Migration“ verzeichnet die geographische Zentralbibliothek in Leipzig vor allem seit dem Jahr 2000 eine extreme Zunahme an Titeln (in Zahlen und Dekaden seit 1950: 1; 15; 71; 99; 529; 1280; seit 2010 bis 3/2013: 326) . Wichtiger noch als dieser zahlenmäßige Anstieg ist jedoch die Verschiebung der Forschungsinhalte und Forschungszugänge in der Sozialgeographie insgesamt . Mit der beschleunigten Globalisierung und mit dem Wegfall der offenen Rivalität zwischen Ost und West entstanden weltweit neue ökonomische, soziale, politische und kulturelle Dynamiken . Nach und nach bildet sich seit den 2000er Jahren ein eigenes Forschungsfeld, eine geographische Migrationsforschung, heraus . Sie baute auf der Bevölkerungsgeographie auf und bemühte sich um eine stärkere Integration der internationalen Diskussion . Hier reichte das Theorieangebot der Bevölkerungsgeographie nicht mehr aus . In der Bevölkerungsgeographie hatten sich die Forscher insbesondere auf die Binnenwanderung und auf den demographischen Wandel bezogen, weniger auf die internationale Dimension . Auch hatten die relativ starren Migrationssysteme der Gastarbeiterwanderung abgedankt und die Migrationsmuster wurden vielschichtiger – es entstanden regelrecht neue Geographien der Migration . Immer deutlicher wird eine stärkere Theoretisierung von Migration eingefordert (vgl . Kraler und Parnreiter 2005), und es erfolgen Anleihen bei den aktuellen Themen der internationalen Migrationsforschung, indem beispielsweise nach den Mustern der Remigration gefragt wird, nach der Mobilität von Hochqualifizierten, nach Wanderung unter Schrumpfungsbedingungen (vgl . Thieme 2009, auch Freihöfer 2007, Pethe 2007, Föbker 2009), oder die Governance des internationalen Migrationsmanagements in den Blick genommen wird (Geiger 2010) . Intensiv wird auch die geschlechtsspezifische Dimension von Migration bearbeitet (vgl . Hillmann und Wastl­Walter 2011, Riaño 2011a, Schurr 2011) .Verstärkt fließen kulturwissenschaftliche Fragen, zum 65

extreme zunahme an Migrationsstudien in der Geographie

Die Globalisierung verändert die Migrationsbewegungen und die Sozialgeographie greift diese Veränderungen durch neue forschungszugänge auf

neue themen, neue Blickwinkel, neue autoren

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Multidimensionalität und neue territorialisierungen

Beispiel nach der Repräsentation von Migration oder etwa nach Identität, in die sozialgeographischen Betrachtungen ein . Am Beispiel der Exklaven Ceuta und Melilla befasst sich Meyer mit der Formierung von Identitätskulturen, wie sie über Diskurse und Zuschreibungen stattfindet, wie Zugehörigkeit und Ausschluss umgesetzt werden (Meyer 2007) . Übersicht 4 fasst die Veränderungen zwischen alten und neuen Geographien holzschnittartig zusammen – selbstverständlich mit starken Überschneidungen zwischen beiden . Ausführliche Beispiele dieser neueren sozialgeographischen Forschungen finden sich in den Kapiteln vier bis sechs . Insbesondere drei Theorieströmungen aus den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen fanden in der Sozialgeographie starke Beachtung: die Beschäftigung mit Inklusions- und Exklusionsprozessen im Rahmen der Nationalstaatlichkeit, d .h . systemischen Ansätzen (Kapitel 2 .4 .1), die Forschung zu sozialen Netzwerken und Überlebensstrategien (Kapitel 2 .4 .2) und die Transnationalismusforschung (Kapitel 2 .4 .3) . Alle drei theoretischen Zugänge verweisen auf die Multidimensionalität von Wanderungsprozessen und auf die neuen Territorialisierungen der gesellschaftlichen Organisation .

Übersicht 4: alte und neue Geographien der internationalen Migration im Vergleich 66

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

2.4.1 Systemtheoretische Argumentationen: Migration als Teil von Inklusion und Exklusion Die seit den späten 1960er Jahren geführte Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften, d .h . die Frage nach der „richtigen“ wissenschaftlichen Vorgehensweise und den angemessenen Argumentationswegen, wurde in der Sozialgeographie nur vereinzelt geführt (für die Soziologie vgl . Ha­ bermas 1967, für die Sozialgeographie Eisel 1980, Hard 1973, Heinritz und Helbrecht 1998) . Hinter dieser Methodendiskussion stand die übergeordnete Frage, wie hoch der Stellenwert der Theorie in der Wissenschaft einzuschätzen sei und von welchen empirischen Befunden man sie eigentlich ableiten sollte . In den Sozialwissenschaften standen sich zwei Positionen gegenüber: erstens die hermeneutische Position der sogenannten Frankfurter Schule um Theodor W . Adorno und zweitens die des Kritischen Rationalismus . Die Wissenschaftler der Frankfurter Schule traten für eine historisch-dialektische und induktive Vorgehensweise des wissenschaftlichen Arbeitens ein . Angesichts der Gräuel von Auschwitz, die im Naziregime vor allem auch durch die Mitarbeit der Wissenschaftler möglich geworden waren, sollte Wissenschaft einen aufklärerischen Auftrag verfolgen und gesellschaftlich relevante Themen bearbeiten, sich genau nicht im Elfenbeinturm verschanzen . Konträr dazu argumentierten die Vertreter des Kritischen Rationalismus . Ihrer Ansicht nach basierte Wissenschaftlichkeit in erster Linie auf Überprüfbarkeit und sollte auf die Erstellung von Axiomen, d .h . allgemeingültigen Gesetzen, zielen . Das von den kritischen Wissenschaftlern eingeforderte „Verstehen“ des Forschungsgegenstandes und die Empathie des Forschers mit dem Forschungs„objekt“ werteten sie als wissenschaftsfeindlich ab . Angestrebt wurde stattdessen eine Übertragung exakter, messtauglicher Verfahrensweisen, quasi ein Nachbau der naturwissenschaftlichen Methodik für die Sozialwissenschaften (= szientistisch) . Die szientistische Sozialwissenschaft erforderte eine größtmögliche Abstraktion von einem gegenständlichen Raumverständnis, möglichst „Raumblindheit“ . Für die Sozialgeographie mit ihrem seinerzeit überwiegend traditionellen Raumverständnis war eine solche Vorgehensweise kaum attraktiv . In den USA übernahm die spatial analysis diese Ansätze einer Abstraktion des Raumes und wendete sich relationalen Raumvorstellungen zu .

In dieser Tradition einer szientistischen Vorgehensweise entwickelte in Deutschland erstmals H .G . Hoffmann­Nowotny eine Migrationstheorie, 67

Kritischer rationalismus vs. hermeneutische, aufklärerische Wissenschaft

nie wieder auschwitz und die rolle der Wissenschaft Verständnis oder abstraktion?

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Migration als Spannungsausgleich zwischen Systemen, als ergebnis von Macht und prestige

Machtunterschiede finden Betonung

Migration ist Spannungsausgleich zwischen einheiten

ein Weltmodell, das von regionalen Gegebenheiten abstrahiert

Das liberale paradox

die bewusst von der Perspektive der Erfahrungswelt Abstand nahm . Angelehnt an Peter Heintz und dessen Theorie der strukturellen und anomischen Spannungen entwarf der Autor eine Migrationstheorie, die „Macht“ und „Prestige“ als entscheidende Faktoren des Migrationsprozesses ansah (Hoffmann­Nowotny 1970: 24) . Zwischen dem „Oben“ und dem „Unten“ in der Gesellschaft identifiziert der Autor zwischen den verschiedenen sozietalen Einheiten strukturelle Spannungen, d .h . Machtunterschiede . Unterprivilegierung bedeutete nun, dass ein Machtdefizit besteht . Macht und Prestige wiederum sind in diesem Weltsystem ungleichgewichtig verteilt . Im System selbst, so nimmt der Wissenschaftler an, bestehe eine Tendenz zum weltweiten Ausgleich dieser beiden Faktoren . Hoffmann­Nowotny geht davon aus, dass eine Veränderung der Positionen auf den gegebenen Macht- und Prestigelinien (= Statuslinien) als Mobilität gefasst werden kann . Dies kann bei räumlichen Einheiten (wie Nationen, Provinzen oder auch Kantonen) als auch bei Individuen der Fall sein . Gelingt es einer machtdefizitären sozietalen Einheit gar nicht oder nicht schnell und umfassend genug, ihr Machtdefizit durch ökonomische Entwicklung abzubauen, werden Migrationen provoziert . Migration funktioniert damit als tension release, als Spannungsverminderung . Die „Ungleichgewichtsspannungen“ (= Spannungen zwischen verschiedenen sozietalen Einheiten) sind besonders bedeutsam in Bezug auf die Emigration aus der oberen Unterschicht und Mittelschicht, während die „Rangspannungen“ (= Spannungen aufgrund unterschiedlichen Prestiges) tendenziell wichtiger für die Migration innerhalb der Oberschicht sind . Hoffmann­Nowotny fasst seine Ergebnisse in einem Weltmodell zusammen, das komplett abstrakt bleibt und nur punktuell Rücksicht auf regionale Charakteristika nimmt . Bei Hoffmann­Nowotny wird erstmals eine Abkehr von den bis dahin üblichen individuellen oder gruppenbezogenen Erklärungsmustern für Migration hin zu einer systemischen Sicht vollzogen . Andere Autoren konzentrieren sich auf die Funktionsweise von Nationalstaaten und darauf, wie diese strukturell Ungleichheiten produzieren (müssen) . Wohlfahrtssysteme – so Bommes (2011) – sind auf Sesshaftigkeit und sesshafte Staatsbürger ausgerichtet und erzeugten daher zwangsläufig Ausgrenzungen . Der Wohlfahrtsstaat wirke wie eine „Ungleichheitsschwelle“ . Denn er schaffe durch seine Vergabe von Aufenthalts- und Arbeitsrechten erst die Unterschiede zwischen Staatsbürgern und Zugewanderten . Der Politologe Hollifield (1996) bezeichnet dies als das „liberale Paradox“, einen Grundwiderspruch gesellschaftlicher Verfasstheit . Denn einerseits plädiert der Liberalismus für die Freizügigkeit von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital und sieht diese als entscheidende Grundlage des Wohlstandes der „offenen“, sprich westlichen, Gesellschaften an . Andererseits besteht der Liberalismus aber auch auf der nationalen Souveränität, d .h . dem Vorrecht des Staates, den Zugang zum Staatsterritorium zu be68

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

stimmen . Liberale Einwanderernationen wie die USA und Kanada können auch deshalb mit der Organisation der Migration unbeschwerter umgehen als die europäischen Staaten, weil sie den Einwanderern weniger Sozialstaat anzubieten haben . Das liberale Paradox: einerseits der Anspruch einer offenen Gesellschaft, andererseits die Souveränität des Staates, über das eigene Territorium zu bestimmen .

Die Vorteile der Inklusion für die in den Wohlfahrtsstaaten lebenden Bürger (z . B . in Form sozialstaatlicher Leistungen, als Bildungschancen oder etwa durch das Gesundheitssystem) werden erst durch die (Ab)Schließung gegen andere Gruppen möglich . Jeder Wohlfahrtsstaat formt so über seine Leistungen und Anreize auch die Grundlagen von Freiheit und Solidarität . Immer wieder stehen – so Bommes – vor allem Minderheiten und internationale Migranten unter Illoyalitätsverdacht gegenüber dem Wohlfahrtsstaat . In dieser Ausschlusslogik lässt sich erklären, dass die Migranten zwar Teil der Arbeitsgesellschaft sein können, ihnen aber nicht die vollen Bürgerrechte zugestanden werden . Bommes überträgt diese systemtheoretischen Überlegungen auf die Gastarbeiter-Diskussion in Deutschland: In der ersten Generation der Gastarbeiterwanderung wurden sie im produzierenden Gewerbe auf den Arbeitsplätzen mit hohen physischen Anforderungen als ungelernte Arbeitskräfte in niedrigen Tarifgruppen eingesetzt . Für sich selbst orientierten sie sich an den Inklusions-, Verteilungs- und Einkommensverhältnissen ihrer Herkunftsregion (vgl . auch das Statusparadox der Migration bei Lichtenberger, Abschnitt 2 .3 .3) . Unter anderem deshalb waren sie bereit, sich auch für einen geringeren Lohn beschäftigen zu lassen . Die Gastarbeiter der ersten Generation wuchsen in diese Strukturen hinein . Sie erwarben durch die sozialrechtlichen Bedingungen ihrer Beschäftigung und durch die umfassenden Leistungsbezugsrechte einen Status als „Denizen“, nicht volles Mitglied eines Staates und doch nicht außerhalb . Auch für die zweite Generation, die Kinder der Gastarbeiter, waren die Inklusionschancen nicht gleichwertig zu denen der Einheimischen . Denn eine gleichwertige Teilnahme an innerbetrieblichen sozialen Netzen, die den Zugang zu Entscheidern und vor allem zu den Entscheidungsvorbereitern erst gewährte, stand ihnen nicht in gleichem Maße offen . Für die Kinder der Migranten war der Zugang zu den Kernpositionen der Unternehmen und Institutionen so viel schwieriger als für die einheimische Bevölkerung, weil sich an diesem Punkt die herrschenden Sinnzuschreibungen wie sie sich an Verhaltensweisen und Lebensstilen des Mainstreams festmachten, artikulierten . Anders als Lehrbuchwissen ließ sich dieses „einverleibte Wissen“ nicht einfach übertragen . 69

Wohlfahrtsstaaten funktionieren über Mitgliedschaften und stellen inklusion und exklusion über institutionen her

Der „Denizen“ – ein halbbürger

ethnisch gefasste ungleichheit als teil der funktional differenzierten Gesellschaft

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Bommes schlussfolgert, dass viele Formen der ethnisch gefassten Ungleichheit unmittelbar mit den Strukturen der funktional differenzierten Gesellschaft verbunden sind .

lokale identitätspolitiker

In der Sozialgeographie wird die systemtheoretisch angeleitete Migrationsforschung vor allem durch die Arbeiten von Pott (2004) und Goeke (2007) vertreten . In Abgrenzung von sozialökologischen Ansätzen, die den „Gebrauchswert von Ethnizität im Wesentlichen nur für Ungleichheits- und Benachteiligungssituationen vor[sähen] “ – so Pott – stellt sich die Frage, ob die Mobilisierung von Ethnizität auch zur Bewältigung eines Bildungsaufstiegs genutzt werden kann (Pott 2004: 44) . Durch die Rekonstruktion von Fallanalysen türkischstämmiger Einwandererkinder identifiziert Pott die Handlungsmuster unterschiedlicher Aufsteigertypen, die schließlich eine „ethnische Elite“ hervorbringen . Er spricht vom „lokalen Identitätspolitiker“, der sich als authentischer Experte für die Lösung alltäglicher Probleme von Migranten stilisiert, außerdem vom „Milieutheoretiker“, vom „verletzten Aufsteiger“ und vom „Kosmopoliten“ – allesamt nutzen Ethnizität als spezifische Ressource (Pott 2005: 235) . Fraglich sei, ob sich der Integrationsbegriff überhaupt zur Beschreibung der modernen Gesellschaft eigne (Pott 2005, 231), da diese eine selektive Multi-Inklusion ermögliche . Goeke (2007) übernimmt von Bom­ mes den systemtheoretischen Ansatz, weil dieser keine normative Vorgaben mache und die Bedeutung von Raumgrenzen „ergebnisoffen“ halten könne (Goeke 2007: 340) . Anstelle von „Integration“ gehe es um Inklusion und Assimilation . Die Weltgesellschaft stellte einen „intern differenzierte[n] Kommunikationszusammenhang“ dar . Im Ergebnis zeigt Goeke, dass sich die Bewegungsfreiheit der Migranten in dem Maße erhöhte, wie „die einzelnen sozialen Systeme immer weniger integrieren, weil sie an systemrelevanten Aspekten immer weniger Interesse haben“ (Goeke 2007: 342) . Goeke legt dar, dass gerade der Kindergeneration der ehemals jugoslawischen Auswanderer deshalb der soziale Aufstieg gelang, weil sie Aktivitäten in Deutschland und Kroatien miteinander kombinierte . Den in sich unterschiedlichen systemtheoretischen Zugängen ist gemein, dass sie nicht auf Ebene des Individuums argumentieren, sondern dieses nur als funktionalen Teil einer übergeordneten Struktur betrachten .Verschiedene funktionale Teile der Gesellschaft (z .B . Politik, Wissenschaft, Gesundheitssystem), wie sie durch Institutionen repräsentiert werden, existieren nebeneinander . Zwischen ihnen bestehen immer jeweils nur einzelne Anschlussstellen, über die

70

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

kommuniziert werden kann . Dieses Nebeneinander erzeugt die (widersprüchliche) systemische Logik, nach der oder die Einzelne als Person irrelevant ist .

Auch im Werk von Giorgio Agamben wird radikal mit der Sicht auf den „Einzelnen“ und dessen unterstellter Entscheidungsfreiheit gebrochen . In Anlehnung an Michel Foucault ist das Individuum für ihn Teil eines „Feldes“ und das Verhalten des Individuums ein Ergebnis der kapitalistischen Ordnung, die den Einzelnen diszipliniert . Im Laufe der Jahrhunderte verlagerte sich die (kapitalistische) Ordnung immer stärker in die Individuen selbst hinein, Normen wurden internalisiert . Auf Grundlage der Arbeiten von Michel Foucault, Hannah Arendt und Carl Schmitt identifiziert Agamben die Möglichkeit eines Staates, über seine Bürger zu verfügen, als eines der wichtigsten Elemente der Politik des 20 . Jahrhunderts . Agamben unterscheidet zwischen zoé, der einfachen Tatsache des Lebens bei Tieren und Menschen (= das nackte Leben), und bíos, der Art und Weise des Lebens . Im Mittelpunkt seiner Analysen steht die „Biopolitik“, worunter er den Moment der Politisierung des nackten Lebens fasst . Folgende Frage wird bedeutsam: „Was geschieht mit den Körpern und was bringt Individuen dazu, sich zugleich an eine eigene Identität zu binden und sich an einer äußeren Kontrollmacht zu orientieren?“ (Agamben 2002: 15 f .) . Diese Macht der Einbeziehung des „nackten Lebens“ in die Politik stellt für ihn den verborgenen Kern der Staatsmacht dar . Die Verfügungsgewalt über die Staatsbürgerschaft ist folglich Teil von Herrschaft . In Folge einer unterschiedlichen Gewichtung von Staatsbürgerschaften bilden sich auch unterschiedliche „politische Wertigkeiten“ der Individuen aus . Gemäß dieser Wertigkeiten werden die Individuen als unterschiedlich schützenswert eingeschätzt . In der Tradition von Carl Schmitt konstatiert Agamben, dass für die Ausübung von Macht nicht der „Regelfall“, sondern die „Ausnahme“ entscheidend ist: „Durch den Ausnahmezustand ‚schafft und garantiert‘ der Souverän ‚die Situation‘, derer das Recht für seine Geltung bedarf“ (Agamben 2002: 27) . Unter bestimmten Umständen wird der Ausnahmezustand zur Normalität . Es kommt zu einer räumlichen Aussonderung der Menschen, was wiederum über die Errichtung von Lagern bewerkstelligt wird . Die Einrichtung von Lagern bedeutet die Ausweitung eines Ausnahmezustandes auf die gesamte Zivilbevölkerung . Das ist „der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt“ (Agamben 2002: 177 ff .) . Das Lager stellt ein „Stück Land, das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird“, dar .

71

Giorgio agamBen

Das individuum ist teil eines feldes

Zoé und bíos

Der ausnahmezustand wird zur regel

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Das Lager konstituiert neben den Ordnungsprinzipien Staat, Nation (Geburt) und Territorium die vierte strukturierende Macht .

agamBens thesen sind übertragbar

Non-persone

Die Einrichtung von Lagern ist nicht einfach eine historische Tatsache und damit eine Anomalie, sondern sie bedeutet die „verborgene Matrix“, das ordnende Prinzip des politischen Raumes, in dem wir heute noch leben, schlechthin . Agamben entwickelt seine Überlegungen am Beispiel der Nazizeit und bezieht sich auf das Flüchtlingschaos der Nachkriegszeit mit seinen tausenden Staatenlosen . Seine Thesen lassen sich auch an den Entwicklungen der Jetztzeit nachvollziehen: Sobald ein Migrant keine Staatsbürgerschaft vorweisen kann, wird er oder sie zum Illegalen und bewegt sich in einem unklaren Feld zwischen physischer Existenz und politischer Zuordnung . Es entstehen non-persone, Menschen, die auf dem Territorium anwesend sind, die aber aus politischen oder ideologischen Gründen nicht beachtet werden und denen andere die Existenz aberkennen (Dal Lago 2008: 213 f .) . Migration, dies zeigen die angeführten Beispiele einer systemischen Sichtweise, wirkt in verschiedene Richtungen als räumliche Definitionsmacht: Für eine einzelne Person bedeutet die Migration, dass sie allein durch ihre physische Existenz einen Ort besetzt und eine bestimmte Reichweite in ihrer Bewegungsfreiheit ausleben kann . Für eine Gruppe (z .B . ohne gültigen Aufenthaltsstatus) bedeutet sie, dass die Mehrheitsbevölkerung weniger leicht über sie hinwegsehen kann und sich um eine Lösung bemühen muss . Staaten und Nationen üben durch die Umsetzung ihrer Souveränität räumliche Definitionsmacht aus und es werden, wie man an den zahlreichen Übergangslagern für Flüchtlinge sehen kann, die „Ausnahmen“ in einigen Fällen bis heute über lange Zeiträume hinweg so gelöst (vgl . auch Kapitel 4 .3 .) . 2.4.2 Kettenmigration, soziale Netzwerke, soziales Kapital

Die netzwerke selbst erklären den fortbestand der Migrationsströme

Für die Herausbildung und Aufrechterhaltung internationaler Migration sind soziale, persönliche Netzwerke extrem wichtig . Sowohl die Netzwerke im Herkunftsland sind bedeutsam, als auch diejenigen im Zielland und vor allem die, die zwischen Herkunfts- und Zielort vermitteln . Schon Anfang der 1960er Jahre findet der Begriff der Kettenmigration Eingang in die internationale Migrationsforschung . Beschrieben wird die Tatsache des Nachzugs von (männlichen) Migranten in schon bestehende Netzwerke der Migration (MacDonald und MacDonald 1964 sowie Tilly und Brown 1967) . Durch den Nachzug von Neuankömmlingen entstehen im Aufnahmekontext sozial und regional homogene Gruppen, 72

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

die auf einen padrone, eine zentrale Person, ausgerichtet sind . Als neu erweist sich, dass die sozialen, persönlichen Netzwerke jetzt zur Erklärung des Migrationsprozesses selbst genutzt werden . Zuvor interpretierte man die Migrationsnetzwerke in der Forschung eher als einen losen Zusammenhang von verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und beruflichen Beziehungen . Nun stellten sich gerade die Netzwerke als grundlegende Verbindung zwischen dem Migranten selbst, der Mikroebene, und dem großen Kontext, der Makroebene, dar – man erkannte sie als den bis dahin fehlenden Meso-Link . Die lange gesuchte Verbindung zwischen strukturellen und individuellen Erklärungsansätzen schien gefunden (Faist 1995) . Diese Interpretation legt nahe, dass es zu allererst die persönlichen Beziehungen und die sozialen Kontakte zwischen dem Aus- und dem Einwanderungskontext sind, die zu einem „Mehr“ an Migranten in den Zielländern führen (vgl . Hugo 1981, Fawcett 1989) . Umgekehrt erkannten die Forscher, dass konflikthafte und weniger dichte Netzwerke in den Herkunftsregionen die Migrationswahrscheinlichkeit erhöhen konnten . Nur dann waren die Mitglieder des Netzwerkes wirklich frei, zu gehen (Crawford 1966) . Die Abwanderung aus sozialen, persönlichen Netzwerken stellt daher keineswegs einen Automatismus dar, sondern vielmehr einen Prozess, der direkt durch die Interaktion der migrationsbereiten Menschen mit ihrer Umgebung gesteuert wird . In dieser Sichtweise rücken die zuvor immer wieder als Erklärung für Migration herangezogenen Pull- und Push-Faktoren in den Hintergrund .

Pull- und Push-faktoren rücken in den hintergrund

Nicht die Existenz von Pull- oder Push-Faktoren selbst, sondern deren Einschätzungen durch die Menschen und deren daraus folgende Handlungen auf Grundlage von Netzwerken bestimmen den Umfang von Migrationen .

Sind die internationalen Migrationsnetzwerke einmal institutionalisiert, wird angenommen, dass die Kosten und Risiken für Migration insgesamt geringer werden und die Migrationsströme dazu tendieren, weniger selektiv zu sein (Massey et al . 1993) . Das Vorhandensein eines großen Vorrats an persönlichen Netzwerken, dem sozialem Kapital, gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Funktionieren von Migrationsnetzwerken . Das ursprünglich auf Bourdieu zurückgehende Konzept des sozialen Kapitals wird in der Migrationsforschung in einer Vielzahl von Definitionen verwendet . Grundsätzlich bedeutet soziales Kapital Teilhabe am Netz der sozialen Beziehungen . Dieses soziale Netz hilft dem Migranten dabei, einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu finden und in der neuen Umwelt zu bestehen . Zwischen den sogenannten „losen Verbindungen“ (= weak ties) und den „verbindlichen Verbindungen“ (= strong ties) flottieren Informationen und Ressourcen . Man unterscheidet unterschiedliche Typen von 73

Weniger risiken bedeuten geringere Selektivität

Weak ties und strong ties haben unterschiedlichen einfluss auf die Migration, manchmal sind die losen Verbindungen die wichtigeren

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital

sozialem Kapital, die bei der Formierung von Migrationsnetzwerken eine Rolle spielen . Hierzu gehören beispielsweise Werte (z .B . Altruismus, etwa auch Ressourcentransfer aufgrund moralischer Verpflichtungen, Geschenke von Eltern an die Kinder), Formen der Solidarität (wie z . B . die Unterstützung der In-Group oder etwa Geschenke an die Kirchengemeinde), Reziprozität und Tausch (z .B . Ressourcentausch mit der Erwartung auf Erwiderung, Tipps) oder aber erzwingbares Vertrauen (z .B . Ressourcentausch mit der Erwartung eines Statusgewinns, Transaktionen) . Durch ein hohes Maß an sozialem Kapital können andere Kapitalien, nämlich das ökonomische (Einkommen und akkumuliertes Kapital) und das kulturelle Kapital (inkorporierte Bildung, die an den Körper gebunden ist und die jeder neu durch Erfahrung erreichen muss, durch den Habitus oder etwa kulturelle Güter wie z .B . Gemälde oder etwa Bildungszertifikate), erworben werden . Im Migrationsprozess erfüllen unterschiedliche Typen von sozialem Kapital unterschiedliche Funktionen – entweder sind sie stärker instrumentell und im Sinne eines punktuellen Interesses gelagert (etwa als Kosten-Nutzen-Relationen oder Reziprozität) oder sie treten eher prinzipieller Natur zur Aufrechterhaltung von Werten und Beziehungen auf (etwa als Solidarität einer Gruppe) . Das Sozialkapital umfasst die Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen und die durch Austauschbeziehungen am Leben gehalten werden müssen . Es bildet die Voraussetzung für Kreditwürdigkeit, für Vertrauen und für den Zugriff auf Ressourcen .

2.4.3 Transnationalismus

Mit der Globalisierung entstehen neue Mobilitäten

Bis in die 1990er Jahre hinein bestimmte der nationalstaatliche Rahmen den Forschungszuschnitt in der Migrationsforschung . Die Unterteilung der Bevölkerung in In- und Ausländer auf dem Staatsgebiet bildete ein fundamentales Unterscheidungsmerkmal . Mit der beschleunigten Globalisierung begann – durch den gleichzeitigen Abschied von der auf Produktion ausgerichteten Arbeitsgesellschaft mit ihren stabilen Erwerbsverläufen – eine neue Phase der kapitalistischen Produktion . Sie wird – ganz ähnlich wie in der Industrialisierung am Ende des 19 . Jahrhunderts – von neuen Technologien vorangetrieben und vor allem von neuen sozialen, politischen, ökonomischen und räumlichen Organisationsformen geprägt . Die Forscher beobachteten, dass sich die internationalen Netzwerke der Migranten, d .h . die Verbindungen von Menschen zwischen zwei Staaten, durch transnationale Netzwerke ergänzten . In der Postmoderne beeinflussten nun immer häufiger internationale Akteure die lokale Entwicklung und brachten 74

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

eine gewaltige Verunsicherung des Nationalstaatenprinzips mit sich . Damals zeichnete sich ab, was heute immer öfter vorkommt: beispielsweise ein Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Erdog˘ an in Köln im Mai 2014 – in gezielter Ansprache an die türkische Gemeinde in Deutschland . Zwei wesentliche Entwicklungen waren Anfang der 1990er Jahre Anlass für die Auflösung der Moderne hin zu einer noch weitgehend unbekannten Postmoderne . Erstens erlaubten Erfindungen im Bereich der Kommunikations- und Transporttechnologien eine weitaus schnellere weltweite Herstellung, schnellen Vertrieb, Umsatz und Konsum von Produkten . Zweitens fiel die Systemkonkurrenz weg: Die ehemals sowjetisch dominierten Staaten fielen politisch und wirtschaftlich in sich zusammen .

Große transnationale Unternehmen agierten jetzt mit mehr Macht als einzelne Staaten und machten auf diese Weise den Weg für eine stark kapitalmarktorientierte Weltwirtschaft frei . Nationalstaatliche Regulierungen traten für die zunehmend global agierenden Unternehmen in den Hintergrund, es setzte eine tiefgreifende weltwirtschaftliche Umstrukturierung ein (Harvey 1989a, 1989b, vgl . Kap . 5) . Der Kalte Krieg war beendet, neue regionale Gefüge sollten sich stabilisieren .

transnationale unternehmen werden wichtiger

Exkurs: Neue Vorstellungen von Nationalstaatlichkeit Nationalstaaten sind nicht einfach territoriale Konstrukte, die an einer Grenze enden . Ihre Existenz speist sich maßgeblich aus historischen und kulturellen Zuschreibungen . Die Geschichten, die man sich über die Besonderheiten des jeweiligen Staates erzählte und wiedererzählte, die sogenannten Narrative, dienten seit jeher zur Stabilisierung von Staatsgebilden genauso wie die Schaffung von Institutionen und Grenzanlagen . Erst mit Aufkommen der Nationen im späten 19 . Jahrhundert wurde der Nationenbegriff immer stärker auch rechtlich gefasst . Erste Staatsangehörigkeitsgesetze entstanden – die Nationalitätenfrage beherrschte die politischen Diskussionen (vgl . auch Kap . 3 .4 .) . Knapp 100 Jahre später, in den 1980er Jahren, veränderte sich der Nationenbegriff neuerlich .

Die nation: vorgestellt, erfunden und begrenzt – ein durch Vorstellungskraft zu füllender Begriff

75

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Benedict Anderson (1983) beschäftigt sich historisch mit der Konstruiertheit des Nationenbegriffes . Er spricht von imagined communities . Er argumentiert, dass die Nation (unabhängig von ihrer Größe) immer wieder auf den gleichen Prinzipien beruht: Sie umfasst das Ergebnis einer gemeinsamen Vorstellung (= imagined), die immer wieder neu erfunden werden muss (= invented), und sie ist begrenzt (= limited), weil sie immer wieder an die Grenzen anderer Nationen stößt .

Long distance nationalism

Überwindung des methodologischen nationalismus

Der transnationalismus bringt eine aufweichung von innen- und außenpolitiken mit sich

Diese Gedanken werden in der Migrationsforschung aufgegriffen und auf die sich verändernde Rolle der Minderheiten und Diaspora-Organisationen in den Industrieländern bezogen . Ungefähr seit den 1980er Jahren begannen die außerhalb ihres Heimatlandes lebenden Migranten immer offensichtlicher, die politischen Geschehnisse im Heimatland mit zu bestimmen – obwohl sie sich gar nicht im Ursprungsland befanden (= long distance nationalism) . Menschen befanden sich in der Situation, dass sie sich zu einem Land, in dem sie nicht lebten und das sie vielleicht nicht einmal aus persönlicher Anschauung kannten, stärker zugehörig fühlten als zu dem Land, in dem sie sich tatsächlich aufhielten (vgl . Hunger, Candan und Krannich 2011) . In vielen Einwandererländern begannen Diaspora-Gemeinschaften das politische Leben mit zu bestimmen – und es änderte sich dadurch nach und nach der Umgang mit diesen Gruppen . Die Wissenschaftler suchten jetzt einen Weg, vom methodologischen Nationalismus loszukommen, d . h . weg von der Beschränktheit der Forschung auf einen nationalstaatlichen Rahmen . Nationalstaaten haben Grenzen, Gesetze, Pässe, Parlamente, eine Polizei, meist auch eine Fußballnationalmannschaft – sie sind irgendwie greifbar und im Raum klar repräsentiert . Ganz anders die transnationalen Felder, in denen sich die Migranten bewegen . Sie besitzen eine solche Verräumlichung (noch) nicht und sie verfügen nur ansatzweise über Verfahren zur Durchsetzung ihrer Interessen . Überwiegend bestehen sie aus (wechselnden) sozialen Beziehungen, der Zirkulation von Geld, Gütern und Kommunikation und aus virtuellen Welten (vgl . Nieswand 2005: 46) .Viele Menschen empfinden sie dennoch genauso real wie Nationalstaaten . Die Anerkennung dieser veränderten Realitäten durch die Forschung zeitigte Konsequenzen für den Zuschnitt der Forschungsthemen . Die Forscher interessierten sich nun beispielsweise für die Institutionalisierung der politischen Meinungsbekundung durch Angehörige von Outsider-Gruppen wie etwa Türken und Kurden in Deutschland . Deren stetige politische Aktivitäten wurden als ein möglicher Bestandteil allgemeiner Demokratiebildung, als eine mögliche Variante moderner politischer Mobilisierung untersucht . Welche Informationskanäle wurden von den Diaspora-Gruppen für die Lobbybildung genutzt? Diese Politik über 76

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

Lobbygruppen im Ausland beeinflusste zunehmend auch die zwischenstaatlichen Beziehungen . In dem Maße, wie die nun auf den Plan tretenden transnationalen politischen Netzwerke der Migranten eine De-Territorialisierung des Politischen in Deutschland vorantrieben, versuchten die einheimischen politischen Akteure im Gegenzug, den Umfang und Einfluss solcher Heimatpolitiken (= Homeland-policies) zu begrenzen . Dennoch verwischten die Grenzen zwischen Innenpolitik und Außenpolitik durch die Aktivitäten der Migranten (Østergaard­Nielsen 2003) . Die politischen Aktivitäten unterscheiden sich immer deutlicher in einen transnationalism from above (verschiedene weltweit agierende Institutionen, aber auch das global zirkulierende Kapital) und einen transnationalism from below (staatliche Institutionen und auf lokaler Ebene agierende Organisationen, beispielsweise hometown associations und andere von Migranten geführte NGOs im Aufnahmekontext) (vgl . Smith/Guarnizo 1999) . Politikwissenschaftler befassten sich vornehmlich mit den Fragen der Partizipation, d .h . Teilnahme und Teilhabe von Migranten . Dagegen konzentrierten sich die Anthropologen und Ethnologen früh auf die alltäglichen Praktiken transnationaler Lebensformen . Anders als Gegenstände konnten Erfahrungswelten und Identifikationsmuster im Migrationsprozess einfach „mitgenommen“ werden . Migranten nehmen viel Gepäck symbolischer und normativer Natur auf ihre Reise mit . Exkurs: Die Merkmale einer Diaspora Ursprünglich wurde der Begriff der Diaspora nur für sich im Ausland aufhaltende religiös geprägte Gruppen verwendet . Inzwischen wird er für ganz unterschiedliche Migrationsgruppen genutzt . Als allgemeine Merkmale einer Diaspora im eigentlichen Sinne gelten: die (häufig traumatische) Zerstreuung einer Bevölkerungsgruppe in einer oder mehreren Regionen; die Zerstreuung einer Bevölkerungsgruppe aus einem Heimatland auf der Suche nach Arbeit oder Handelsverbindungen, auch kolonialer Natur; eine kollektive Identität, die auf Mythen und Erinnerungen der Heimatregion besteht; eine Idealisierung der vermeintlichen Heimat der Ahnen und gemeinsame Anstrengungen zur Erhaltung und Restaurierung, eventuell auch die Erschaffung von Gedenkorten; die Entwicklung einer anerkannten Rückkehrabsicht dieser Gruppe; ein starkes Gefühl der Gruppenzugehörigkeit, die über einen langen Zeitraum hergestellt wird und die auf Distinktion, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamem Glauben beruht; ein gestörtes Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft und die Annahme, dass diese die eigene Gruppe nicht vollständig akzeptiert und die eigene Gruppe von Miseren heimgesucht werden könnte; Empathie und Solidarität 77

transnationalismus von oben und von unten

teilnahme und teilhabe – für wen?

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

mit den Mitgliedern der eigenen Bevölkerungsgruppe in anderen Ländern und die Möglichkeit, ein separates, doch erfülltes Leben in einem toleranten Aufnahmeland zu führen (Safran 1991, zit . nach Vertovec 2009: 133) . transnationale lebenswelten Ethnoscapes

alltagshandeln in multilokalen Verortungen

passive Migrationserfahrungen

Mit den Begrifflichkeiten Translokalität und ethnoscapes reagierten Ethnologen auf die veränderten Lebenswelten der Menschen . Immer öfter lebten Menschen an verschiedenen Orten, lebten ein multilokales Leben, das an ein weiter gefasstes Set komplexer Bedingungen und Gegebenheiten gebunden war (Appadurai 1990) . Diese neue Kombination an Möglichkeiten und Restriktionen wie beispielsweise fehlende Ressourcen oder rechtliche Einschränkungen wirkte auch auf die Konstruktion, auf die Aushandlungsprozesse und die Reproduktion sozialer Identitäten zurück – ganz besonders bei Migranten . Diese Felder agieren im Sinne einer räumlichen Definitionsmacht . Denn sie sind weit mehr als nur ein Bestandteil der sich verschiebenden Welt-Ordnungen . Sie selbst (re-)produzieren über Mobilität diese Weltordnungen immer wieder aufs Neue: Touristen, Immigranten, Flüchtlinge und Menschen im Exil, Gastarbeiter und andere mobile Gruppen arbeiten mit an der Herausbildung der ethnoscapes, die Teil der Deterritorialisierung, der abnehmenden Bedeutung von räumlicher Präsenz für die menschlichen Interaktionen im Zuge der Globalisierung darstellen . Die Untersuchungen der Ethnologen konzentrieren sich auf die transnationalen Praktiken der Migranten, auf deren Alltagshandeln . Wie wurden beispielsweise die Warensendungen nach Hause organisiert? Wie verlief der Aufbau von Freiwilligenorganisationen? Wie bildete sich mit großer Regelmäßigkeit die Figur der cultural broker, der Mittelsmänner und -frauen, heraus? Abb . 9 zeigt einmal exemplarisch einen solchen Haushalt in seiner Entstehungsgeschichte . Der dort skizzierte transnationale Haushalt spannte sich Anfang der 1990er Jahre zwischen Südamerika, Nordamerika und Europa (Italien) auf . Ausgangspunkt des Netzwerkes ist Ego – das zuletzt ausgewanderte Familienmitglied . Rückblickend profitierte es zunächst passiv von der Migrationserfahrung anderer Familienangehöriger . Dies signalisierte ihm: Andere waren schon ausgewandert, man konnte es also wagen . Die passive Erfahrung verwandelte sich in dem Moment in aktives Wissen, als sich die Möglichkeit einer Ausreise nach Italien ergab . Erleichternd wirkte außerdem, dass es in den 1990er Jahren einfacher wurde, internationale Geldüberweisungen zu tätigen . Ermöglicht wurde dies durch die Anfang der 1990er Jahre durchgesetzte Liberalisierung des internationalen Bankgeschäfts (Hillmann 2007) . Schon Thomas und Znaniecki (1918) hatten eine umfangreiche Studie über die transnationalen Verbindungen der Migranten vorgelegt; Gast78

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

abb. 9: transnationaler haushalt anfang der 1990er Jahre

arbeiterfamilien lebten seit Jahren transnational – worin also bestand das Innovative der Transnationalismusforschung? Dieses lag vor allem in der neuen Dimension sozialer und geographischer Organisation, die jetzt mit der Globalisierung für sehr viele Menschen direkt erlebbar wurde . Bis dahin als „normal“ angesehene Biographien lösten sich zugunsten von multilokalen Konstellationen auf, für viele Menschen ergaben sich neue Mobilitätschancen . Anfangs wurde diese Entwicklung in der Forschungsliteratur überwiegend in einem positiven Licht dargestellt und als Teil eines Modernisierungsschubes interpretiert . Einer der Begründer des Transnationalismuskonzepts, Steven Vertovec (2001: 576 f .), formuliert als Kritik am eigenen Forschungsansatz: – dass es sich nicht um einen komplett neuen Ansatz handele, sondern klar auf bestehenden theoretischen Konzepten aufgebaut wurde; – dass das Konzept mittlerweile so stark ausgeweitet sei, dass es alle möglichen Gruppen von Migranten umfasse: von der Diaspora bis zum Touristen fände es Anwendung; – dass in vielen aktuellen Arbeiten die Aufarbeitung der Geschichte des Konzepts fehle; 79

Multilokale Konstellationen

Kritik am transnationalismuskonzept

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

– dass allein die Existenz neuer Technologien kein triftiges Argument sei, da es vielmehr auf deren Anwendung ankäme; – dass große Teile der Forschung auf einzelnen Fallstudien und nicht etwa auf koordinierten und aufeinander bezogenen Untersuchungen basierten; – dass Prozesse des Übergangs bei verschiedenen Zuwanderergenerationen untererforscht und theoretisch kaum bearbeitet seien .

transnationalismus narrow und broad

rezeption des Soziologen prieS Methodenmix, reichweiten transnationaler sozialer räume

transmigranten gleichen Surfern

Selbstverständlich, so Vertovec, leben nicht alle Migranten transnational – Transmigranten wiesen alle möglichen Wanderungsformen auf: im Land lebende Migranten, Rückkehrer, Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere, Flüchtlinge und Hochqualifizierte .Auch das Ausmaß und die Regelmäßigkeit der Mobilität und die Intensität der internationalen Praktiken konnten ganz unterschiedlich sein . Manchmal unterscheidet die Fachliteratur zwischen enger, starker (narrow) und weiter, loser (broad) Transnationalität (Itzigsohn et al . 1999) . Die wissenschaftliche Debatte über den Transnationalismus in der Migrationsforschung war Teil eines allgemeineren Trends in den Sozialwissenschaften . Zunehmend kam man von einer akteurszentrierten, individuellen Betrachtungsweise ab – aber auch von den großen, alles erklärenden und weltumspannenden Makrotheorien . Eine wissenschaftliche Alternative boten die bis dahin vernachlässigten Handlungstheorien, die sich dem Wechselverhältnis von agency (der handelnden Person bzw . Institution) und structure (der Struktur, den Rahmenbedingungen) widmeten . Die Netzwerkforschung stellte hier einen willkommenen inhaltlichen Kompromiss dar . In der deutschsprachigen Geographie wurden insbesondere die Arbeiten des Soziologen Ludger Pries rezipiert und weiterentwickelt . Ihm ging es um die „(Re)Konstruktionen von individuellen und Familien-Migrationsbiographien “ (Pries 2000: 64) . Der Methodenmix und die Kombination von Quellenmaterial versprachen, Aufschluss über die Entstehung neuer Formen und Reichweiten des Zusammenlebens in transnationalen sozialen Räumen zu geben . Konkret untersuchte Pries die Pendelwanderungen am Beispiel des transnationalen sozialen Raumes, der sich zwischen Mexiko (Puebla) und den USA (New York) aufspannte . Er verfolgte legale und irreguläre zirkulierende Transmigranten, die unabhängig von ihrem rechtlichen Status in die Familiennetze integriert wurden . Die Rationalität dieser Transmigranten richtete sich nach den Gelegenheiten: „Transmigranten gleichen damit weniger Ruderern, die unterwegs zu einem festgelegten Ankunftsziel sind, sondern eher Surfern, die ihre Lebensroute dynamisch sowohl nach eigenen Kraftanstrengungen und Richtungsentscheidungen als auch nach den jeweiligen Wind- und Wasserverhältnissen, sprich familiär-lebensweltlichen und sozio-ökonomischen Konjunkturen, bestimmen (lassen)“ (Pries 2000: 75) . In dieser Konzeption verschwimmen Pull- und Push-Faktoren . Doch ist jegliches Handeln an Plätze und Orte gebunden – und deshalb steht für Pries die Betrachtung der Verortung sozialen Handelns im (transnationalen) Raum im Fokus (Pries 2008: 75 f .) . Seiner Ansicht nach stapelte sich 80

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

nämlich über dem Flächen- bzw . Containerraum ein teilweise entkoppelter Sozialraum auf, der wiederum Abschottungen und Einkapselungen – also Brüche – enthielt (Pries 1997: 36 f .) . In der Sozialgeographie finden sich seit den frühen 1990er Jahren Ansätze, transnationale Organisationsformen zu verstehen . Müller­Mahn (2002 und 2005) kartierte die Existenz transnationaler Haushalte als Teil der globalen Neuorganisation der Migration . In seiner Studie zu ägyptischen männlichen Migranten in Paris stellt er die bedeutsamen transnationalenVerbindungen für das Alltagshandeln dieser Bevölkerungsgruppe heraus . Einzig durch die transnationalen Netzwerke ließ sich die starke Präsenz der ägyptischen Migranten aus Sabbre in Paris erklären . Nur dank flexibler, jedoch hierarchisch strukturierter sozialer Organisation konnten diese Migranten (oft ohne gültigen Aufenthaltsstatus) überleben, sie konstruierten durch ihr Handeln erst den transnationalen Raum . Zwar waren diese transnationalen Netzwerke vom individuellen Standpunkt aus gesehen jeweils vorübergehender Natur, doch letztlich handelte es sich um eine stabile Größe . Die transnationalen Migrantennetzwerke waren die Broker, die Unterhändler der Globalisierung . Die transnationalen Strategien der Migranten, d .h . die Aktivierung internationaler Spielräume und Nischen, erlaubten vielen überhaupt erst ein Überleben . Anton Escher (2008) analysiert die syrischen und arabischen Netzwerke in Nord- und Südamerika . In seinen Studien zur Diaspora legte er dar, wie sehr arabische Familien über Generationen hinweg ihre Handelstraditionen, ihre sozialen Normen und ihre Identität aufrecht erhalten haben und wie sie ihre die Kontinente überspannenden Netzwerke, gleich einem global village, gezielt zum Wohl und zur Solidarität der Gruppe verwenden (vgl . Abb . 10) .

abb. 10: amar al-hosn, das Dorf in der Welt. escher (2006: 57) 81

transnationale haushalte

Vorübergehend stabil

anton eScher, clan-netzwerke, ein global village

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

transmigration als eine dauerhafte erscheinung

transnationale Verbindungen

Moden, zufälle, hybride identitäten

raum bringt kollektive identitäten hervor

Dieses „Dazwischen“ und das „über die Orte hinweg“ der Migranten ist für die Forscher besonders aufschlussreich . Denn mit der neuen transnationalen Mobilität wurden auch diejenigen Integrationskonzepte obsolet, die von einer eindeutigen Orientierung der Migranten auf die Zielgesellschaft ausgingen (Fassmann 2002: 346) . Und gerade im Konzept der transnationalen Pendelwanderung und Hybridität steckte ein „hohes Maß an persönlicher Rationalität“ . Transmigration ist nicht ein vorübergehender Zustand, sondern „eine dauerhafte Erscheinung in einer „modernen“, vernetzten und globalisierten Welt . [ . . .]“ (Fassmann 2002: 354) . Transnationale Pendelwanderer sind das Produkt der „globalisierten Welt“ und gleichzeitig deren Akteure . Sie sind mit ihrer Lebensform Teil einer transnationalen Gemeinschaft und gestalten damit gleichsam „von unten“ her den Globalisierungsprozess (Fassmann 2002: 358) . Die Beschäftigung mit dem Transnationalismus wird deshalb zu einem wichtigen Zweig der geographischen Migrationsforschung . Von Schlichting (2008) untersuchte die Familiennetzwerke der ecuadorianischen Migranten in Bonn, Leung (2004) befasste sich mit der Transnationalität chinesischer Migranten in Deutschland . Schmiz (2011) legte eine Untersuchung über die transnationalen Räume in der vietnamesischen Community zwischen Hanoi und Berlin vor . Sie skizzierte, wie sich seit ca . zwei Dekaden transnationale Handlungsfelder herausbildeten . Diese transnationalen Felder speisten sich durch ökonomische und soziale Beziehungen mit unterschiedlichen räumlichen Reichweiten, waren aber auch durch Moden, Zufälle und die Herausbildung hybrider Identitäten bestimmt . Schmiz betrachtet die transnationalen Netzwerke vietnamesischer Unternehmer als Teil ihres sozialen Kapitals . Bei der gelebten Transnationalität handelte es sich für die Migranten um eine Handlungsressource – eben nicht um ein Integrationsdefizit . Die aktuelle Stadtentwicklung gibt Schmiz’ Ergebnissen Recht: Nicht nur in Berlin finden sich große, beständige vietnamesische Einzel- und Großhandelszentren . Bundesweit boomen die asiatischen Unternehmen . Glorius (2007) wandte die transnationale Forschungsperspektive auf ihre Untersuchung der polnischen Migranten in Leipzig an . Auffällig ist der ambivalente Charakter der multiplen Verortungen: Transnationale Verbindungen konnten ein dritter Weg der Identitätsentwicklung sein . Räumliche Distanz wurde aber immer dann wichtig, wenn die körperliche Einsatzfähigkeit eingeschränkt war . Denn eine vollständige subjektive (transnationale) Verschmelzung konnte Glorius nicht feststellen . Grenzregime, räumliche Distanz und formale Beschränkungen spielten eine wesentliche Rolle – auch in der Transnationalität . Meyer (2005) beleuchtete den Zusammenhang zwischen gelebtem Raum und der Konstruktion kollektiver Identitäten .Wie verliefen Fragen von Identitätsbildung im Zusammenhang mit sozialräumlicher Entwicklung? Am Beispiel der Enklaven Ceuta und Melilla untersuchte er die sozio-kulturelle Segregation als einen Bestandteil 82

2.4 zuGänGe Der neueren MiGrationSforSchunG, neue GeoGraphien Der MiGration

der Fremd- und Selbstwahrnehmung .Wie wurden hier kollektive Identitäten hergestellt und welche politics of culture ließen sich in der Bevölkerungsstruktur der beiden Enklaven verorten? In der Sozialgeographie entwickelten die Wissenschaftler dieses Leben an verschiedenen Orten weiter . Sie sprechen inzwischen von „Multilokalität“, wenn ein bestimmtes raumzeitliches Ordnungsmuster gegeben ist, das durch eine auf mehrere Wohnorte verteilte Lebensweise geprägt ist, das aktive Leben an verschiedenen Orten zugleich gelebt wird bzw . deren Mitglieder sich zur Existenzsicherung an verschiedenen Orten aufhalten (Steinbrink 2009, Lohnert und Steinbrink 2005) . Familienverbände können sich zeitweise in multilokale Haushalte aufspalten und je nach Bedarf Rückmigrationen erleichtern . Sie folgen den „unübersichtlichen Regeln globaler Märkte“ (vgl . Glorius und Matuschewski 2009: 203) . Multilokalität kann gelebte Alltagspraxis in einem Land sein und hier von Fernpendlern mit Gelegenheitsübernachtungen praktiziert werden (Dittrich­Wes­ buer und Föbker 2013: 391) . Multilokalität und Translokalität zeigen die Transformation von Städten und Regionen an (Didero und Pfaffenbach 2014) und geben Auskunft über gesellschaftliche Entwicklung (Benz 2014) . Auch Göler und Krisjane (2013) greifen Konzepte aus den Sozialwissenschaften auf und konzentrieren sich auf die kleinräumigen Differenzierungen unterhalb der nationalen Ebene, sie gehen von einer räumlich polarisierenden Wirkung transregionaler Netzwerke aus (Göler und Krisjane 2013: 127) .

Multilokalität als gelebte alltagspraxis

Quelle: Göler und Krisjane 2013, in anlehnung an Glick Schiller et al. 1992; pries 2001; Müller-Mahn 2011 abb. 11: transregionalismus 83

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Am Beispiel Benin zeigte Doevenspeck, wie Transmigranten auf die Herausbildung neuer lokalpolitischer Subsysteme einwirken, wie die „Perpetuierung von Unsicherheit die Perpetuierung von Migration zur Folge hat . Migrantenchefs reproduzierten Abhängigkeiten über die Landvergabe an Migranten und durch die Ansiedlung von Migrantendörfern“ (Doevenspeck 2005: 258 f .) . Bei aller Unterschiedlichkeit teilen sozialgeographische Studien den Umstand, dass sie Migration als einen auf verschiedenen räumlichen Handlungsebenen verflochtenen Prozess analysieren und dass sie davon ausgehen, dass dieser Prozess auf grundlegendere Umstrukturierungen im sozialen und kulturellen Raum hinweist .

2.5 arbeitsmarkttheoretische zugänge

Migration als ein ökonomisches projekt

unterschiedliche lohniveaus, ausgleich

Migration bezeichnet in der größten Zahl der Fälle ein ökonomisches Projekt . Menschen befinden sich auf der Suche nach besseren Lebens- oder Arbeitsbedingungen; sie träumen von einer Veränderung der eigenen Situation . Oder sie wollen etwas für andere tun . Dementsprechend richtet sich ein großer Teil der Forschungen zu Migration auf die ökonomische Dimension von Migrationsprozessen . Doch auch bei einer solchen Fokussierung auf die wirtschaftlichen Hintergründe von Wanderungsprozessen entsteht die methodische Herausforderung, dass Makro-, Meso- und Mikroebene sich in widersprüchlicher Weise beeinflussen . In den Wirtschafts- und Arbeitsmarktwissenschaften dominierten lange quantitative Herangehensweisen . Sie fanden ihren Ausdruck in den zahlreichen Pull- und Push-Ansätzen . Diese gingen von den Handlungsrationalitäten eines Homo oeconomicus aus, nach denen die ökonomische Nutzenmaximierung das stärkste Motiv des menschlichen Handelns darstellt und damit auch das wesentliche Motiv für eine Migration sei . Gemäß dieser Humankapitalansätze geht es auf Mikround Makroebene um einen Ausgleich von Lohndifferenzialen . Die auf diesen Annahmen basierende makroökonomische Theorie (vgl . Massey et al . 1993, vgl . auch Kapitel 2 .5 .1 .) nimmt an, dass die internationale Migration durch unterschiedliche Lohnhöhen zwischen Staaten verursacht wird . Nach einer Angleichung der Unterschiede in den Lohnniveaus dürfte keine Migration mehr auftreten . Primär lösen demnach die Lohnunterschiede zwischen den Ländern die internationalen Arbeitskräftewanderungen aus . Zugestanden wird, dass Migrationsflüsse durch die Regulierung der Arbeitsmärkte in den Herkunfts- und Zielländern beeinflusst werden können . Migrationen, das ist die Grundannahme dieser Modelle, führten zum Ausgleich regionaler Unterschiede . Grundlage dieser ökonometrischen Analysen (häufig als Gravitationsmodelle gefasst) ist die Unterstellung, dass Menschen in der Logik des Homo 84

2.5 arBeitSMarK t theoretiSche zuGänGe

oeconomicus handeln, d .h . ihr Handeln auf die eigene Gewinn- bzw . Einkommensmaximierung bei minimalem Aufwand ausrichten . Damit eine Modellbildung zustande kommt, nimmt man in den Gravitationsmodellen an, dass alle Individuen sich gleich verhalten und auch über gleiche Handlungsoptionen verfügen . Der potenzielle Wanderer handelt als satisficer, stets auf der Suche nach einem gewissen Befriedigungsniveau und dem größtmöglichen eigenen Nutzen, dem Nettogewinn . Dieser Nettogewinn kann errechnet werden: aus der „Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung und der Höhe des Einkommens am Zielort abzüglich der Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung und der Höhe des Einkommens am Herkunftsort (den Opportunitätskosten, d .h . dem bei der Wahl der Alternative Migration entgangenen Ertrag), abzüglich der sonstigen Kosten der Migration“(vgl . Haug 2000: 5) . Eine veränderte Neuauflage dieser in den 1960er Jahren entwickelten Humankapitalansätze wurde Ende der 1980er Jahre durch Stark und Tay­ lor (1989) sowie Stark (1991) mit dem Ansatz der neuen Migrationsökonomie (new economics of labour migration = NELM) eingeführt . Die Ökonomen forderten nun eine statistische Mehrebenenanalyse ein, die auch den für die Migrationsentscheidung wichtigen Aspekt der „relativen Deprivation“ einbeziehen sollte . Dazu sollte sich die Analyse nicht länger auf den einzelnen Migranten konzentrieren, sondern vielmehr auf die Strategien zur Risikodiversifizierung und Einkommensmaximierung von Haushalten . Ziel war es, die „realen Gegebenheiten sozialer Zusammenhänge“ auf einem mathematisch hohen Abstraktionsniveau zu fassen (Haug 2000: 30 ff ., vgl . auch Stark/Taylor 1989, Stark 1991) . Diese Konzentration der sogenannten Neuen Migrationsökonomie auf die Einheit des Haushalts förderte andere Untersuchungsergebnisse zu Tage und stellt heute einen der wichtigsten Zugänge in der quantitativen Methodik dar . Die Wissenschaftler verstanden, dass Migrationen auch dann auftraten, wenn es keine Lohndifferenzen gab . Außerdem wiesen sie nach, dass die jeweilige interne Konstellation eines Haushaltes starken Einfluss auf die Migrationsentscheidung hatte . Die wichtigste Erkenntnis aber war, dass Migration für einen Haushalt ökonomisch als risikovermindernde Strategie wirken kann . Auch den Migrationsregulierungen wurde ein stärkeres Gewicht beigemessen . Insgesamt gingen die auf Sjaastad (1962) basierenden Humankapitaltheorien davon aus, dass die potentiellen Wanderer ihre Migrationsentscheidung aufgrund einer Einschätzung ihrer zukünftigen Vorteile und der entstehenden Kosten (physisch und monetär) abwägen . Unterstellt wurde gleichzeitig, dass mit der räumlichen Mobilität zugleich soziale Aufwärtsmobilität einherginge . Es wurde angenommen, dass der Migrant, nachdem er eine Weile im traditionellen urbanen Sektor verbracht hatte, weiter in den modernen, sprich regulierten und besteuerten, Sektor wechselte (vgl . Todaro 1969) . In dieser Sichtweise durchliefen die Migranten, so wurde hier angenommen, eine stufenweise Anpassung an die Moderne . 85

ökonometrische analysen gehen von einem satisficerVerhalten der individuen aus, von einer rationalität eines Homo oeconomicus

nelM – new economics of labour migration

Migration auch wenn es keine lohndifferenzen gibt

Schritte in die Moderne

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

2.5.1 Segmentationstheorien und Unterschichtung

Class over race!

ungleichheit ist kein nebenprodukt, sondern Bedingung kapitalistischer produktion

ausländer, frauen und andere moonlighter

Konträr zu den Homo oeconomicus-Ansätzen entstanden in den späten 1960er Jahren erstmals klassenbasierte Ansätze . Inspiriert von der marxistischen Theorie und überzeugt von der Bedeutung einer Surplusbevölkerung für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft, weichen Castles und Kosack (1972) komplett von den bis dahin üblichen Theorieangeboten für Migration ab . Sie begreifen Migration nicht über Konzepte wie Assimilation oder etwa als Ergebnis von Pull- und Push-Faktoren . Für Castles und Kosack sind die ethnische Zugehörigkeit der Migranten und deren Wertvorstellungen nebensächlich – was zählt, ist die (länderübergreifende) Klassenzugehörigkeit . Class over race! Die Autoren drehen damit die vorherrschende Sicht auf Migration um: Ihrer Ansicht nach wirkt Arbeitsmigration als eine Entwicklungshilfe für die reichen Länder und nicht, wie bis dahin vom Mainstream der ökonomischen Forschung behauptet, als Entwicklungshilfe für die armen Länder . Ausgangspunkt ihrer Theorie bildet die von Engels übernommene Beobachtung, dass die englischen Manufakturen zur Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit in Blütezeiten auf ein Heer von Arbeitskräften in Warteschleife zurückgriffen, die sogenannte Reservearmee bzw . Surplusarbeitsbevölkerung, und diese manipulierten . Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung lieferten die Grundlage und waren nicht Nebenprodukte der kapitalistischen Produktionsweise . Gerade nicht der Ausgleich (wie dies in den Humankapitaltheorien behauptet wird), sondern exakt die Herstellung von Ungleichgewichtigkeit beschrieb das Ziel und Ergebnis von Wanderungsprozessen . Castles und Kosack argumentierten, dass durch die nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industriestaaten verfolgte Vollbeschäftigungspolitik die erforderliche latente Surplusbevölkerung fehlte . Quasi als Nachschub holten die Verantwortlichen zum Wiederaufbau der Industrien ausländische Arbeitskräfte aus der Peripherie ins Zentrum . Diese Hinzugeholten erfüllten auf dem Arbeitsmarkt die gleiche Funktion wie die nicht-arbeitenden Frauen, wie Behinderte und chronisch Kranke oder etwa das „Lumpenproletariat“ – sie waren Reserve – „last hired, first fired“ . Die Autoren beobachteten für Westdeutschland, Frankreich, die Schweiz und Großbritannien, dass die angeworbenen Migranten in diesen vier Ländern nicht länger nur als Lückenbüßer in den Randbereichen wie der Landwirtschaft oder etwa in der Baubranche auftraten, sondern auch in Kernbereichen wie dem Ingenieurswesen oder der chemischen Industrie zum Einsatz kamen . Doch genauso wie die einheimische Arbeiterschaft waren sie von Grundbesitz und der Kontrolle über den Arbeitsprozess abgeschnitten, wurden Opfer der Besitzer und „Blutsauger“ und „Manipulatoren des Konsumterrors“ (Castles und Kosack 1972, zit . nach 2010: 32) . Castles und Kosack argumentierten politisch, nicht ökonomisch, weil sie die Produktionsverhältnisse thematisieren . Dies erwies sich als ein Novum in der Migrationsforschung . 86

2.5 arBeitSMarK t theoretiSche zuGänGe

Ökonomisch stabilisierten die Immigranten das kapitalistische System, weil sie dazu beitrugen, das Lohnniveau niedrig zu halten und damit die Profite der Eigentümer steigerten . Sozial trugen sie zur Spaltung der Arbeiterklasse bei, weil die xenophobe Propaganda der herrschenden Klasse die Arbeiterschaft aufstachelte . Ohne politische Rechte verharrten die Arbeiter in einer machtlosen Position . Anders als in den Assimilationstheorien und in den Humankapitalansätzen, die soziale Aufwärtsmobilität als Ziel und Ergebnis des Wanderungsprozesses ansahen, erwarteten diese die Autoren hier genau nicht . In Europa wurde der bird of passage, der Wanderarbeiter, fester Bestandteil der neuen welfare-Staaten . Erstmals wurden auch die Folgen der Emigration für die Auswanderungsländer thematisiert: der Weggang der Eliten und das Fehlen von qualifizierten Arbeitskräften in den Herkunftsländern . In den Ländern der Peripherie kam es zu einer Verstärkung der Ungleichgewichte (Schierup 1990: 17 f .), teilweise zu einer „Modernisierung ohne Entwicklung“ (Nikolinakos 1980) . Die Studie von Castles und Kosack gilt als ein Meilenstein der internationalen Migrationsforschung, weil sie zeigt, dass Migrationen und Migranten (auch) politische Funktionen erfüllen und außerdem Teil eines in verschiedene Segmente unterteilten Arbeitsmarkts und einer bestimmten Produktionsweise sind . Die im Mainstream der Forschung implizit vertretene Auffassung, dass Migration zu regionalem Ausgleich und sozialer Aufwärtsmobilität bei den Migranten führt, quasi Grundaxiome des Migrationsprozesses selbst, wurden angezweifelt .Vielmehr rückten Dequalifizierung und die Praxis der Nicht-Anerkennung der Studienabschlüsse für viele Migranten als systemimmanente Realität in den Fokus . Der Arbeitsmarkt erwies sich als in sich gespalten bzw . segmentiert, wobei sich ein stabiles, d .h . privilegiertes, von einem instabilen, d .h . unterprivilegierten Segment abgrenzen ließ (Piore 1979), das insbesondere auch Frauen integrierte (Morokvasic 1983) . Das unterprivilegierte, sekundäre Segment übernimmt „unliebsame“ Marktanteile . Hier finden insbesondere Arbeitsmigranten, auch illegal Beschäftigte, Frauen, Unqualifizierte oder wenig Qualifizierte ihren Platz . In diesen fertigungsnahen, restriktiven und belastenden Arbeitsplätzen besteht eine starke Fluktuation und Arbeitsplatzunsicherheit . Die Arbeitskräfte sind untereinander kaum organisiert .

Segmentationstheoretische Ansätze bieten den großen Vorteil, dass sie realitätsnäher als die Modellbildungen der Humankapitalansätze sind . Ein zentraler Kritikpunkt besteht jedoch in der relativ willkürlichen Setzung der Segmentationslinien innerhalb verschiedener Branchen . 87

Systemstabilisierung und Spaltung der arbeiterklasse

Birds of passage

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

3-D-Jobs

Die Gastarbeiter ermöglichen den einheimischen den beruflichen aufstieg

In der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft wirkte sich die Präsenz der zugewanderten Arbeitskräfte erheblich auf die Position der einheimischen Arbeitskräfte aus . Die einheimischen Arbeiter erfuhren dadurch, dass die Gastarbeiter willens waren, die 3-D-Jobs (Dirty, Dreadful, Dangerous) zu übernehmen, soziale Aufwärtsmobilität . Die körperlich strapaziösen und familienfeindlichen Schichtdienste wurden überwiegend von den Gastarbeitern erledigt, ebenso die Akkordarbeit sowie schwere und schmutzige Arbeit . Die Unternehmen trieben Mechanisierung und Rationalisierung voran, was für die verbleibenden Beschäftigten zu monotoneren Arbeitsabläufen führte . Die Gliederung der Arbeitsmärkte entlang ethnischer Zuordnungen (durch Fremdarbeiter) bei gleichzeitiger Statusaufwärtsmobilität der einheimischen Bevölkerung wurde nach und nach von verschiedenen Autoren als „Unterschichtung“ diskutiert (Heckmann 1981) .

fortschrittsbegeisterung

Klare unterteilung von arbeitnehmergruppen

Sowohl die segmentationstheoretische als auch die Unterschichtungshypothese verweisen auf die Transformation des Kapitalismus seit den späten 1960er Jahren . Die damalige Fortschrittsbegeisterung mit ihrem Aufstiegsoptimismus, die sich in der Arbeitswelt in Laufbahnsicherheit, Mitarbeiterbindung, eigenen Karriereprofilen und entsprechenden wohlfahrtsstaatlichen Leistungen spiegelte, ist in dieser Zeit noch unangefochtener Bestandteil eines Sicherheitsdenkens (vgl . Boltanski und Chiapello 2006: 133) . Die interne Arbeitsorganisation in den großen Produktionsbetrieben mit ihren tayloristischen Abläufen der Fließbandarbeit bei klaren Hierarchien in Verwaltung und Management brachte auch eine klare Unterteilung in Arbeitnehmergruppen mit sich . Die Gruppe der ausländischen Arbeitnehmer wurde als transitär und nicht als Teil des Systems gesehen, mit der Konsequenz, dass diese Gruppe institutionell übersehen wurde . 2.5.2 Die besondere Position auf dem Arbeitsmarkt: Migrantisches Unternehmertum Schon in den ersten Studien über die Strukturierung von Arbeitsmärkten durch Ethnizität wurde beobachtet, dass eine Reihe ethnischer Gruppen in verschiedenen Teilen der Welt eine ähnliche Position im ökonomischen Gefüge besetzte (Bonacich 1973) . Bestimmte Merkmale waren in diesen ethnischen Gruppen besonders ausgeprägt – etwa die starke Zukunftsorientierung, die die Zuwanderer dazu anspornte, Geld zu akkumulieren; die Abwesenheit industriellen oder landwirtschaftlichen Unternehmertums; ein hoher Grad interner Solidarität und gegenseitiger Unterstützung; auch 88

2.5 arBeitSMarK t theoretiSche zuGänGe

Heiraten innerhalb der jeweiligen ethnischen Gruppe sowie eine wohnräumliche und kulturelle Segregation von der Aufnahmegesellschaft . Die interne Arbeitsorganisation wurde von den Wissenschaftlern als dem vorindustriellen Kapitalismus verwandt beschrieben, als paternalistisch geprägt . Auch die zwangsweise Organisation hinzukommender neuer Zuwanderer in business leagues und Gilden ist Teil dieser als „ethnische Ökonomien“ beschriebenen Wirtschaftsform (Light 1972) . In den US-amerikanischen Studien wurde nachgewiesen, dass die Enklaven als Ersatzumgebung für die Immigranten fungierten und dass sie bestimmten Zuwanderungsgruppen als Katalysator für die (ökonomische) Integration in die Aufnahmegesellschaft dienlich waren (Portes und Bach 1985) . Ethnische Solidarität fand als eine maßgebliche Ressource in dieser Form der Ökonomie Betonung, die Identifikation mit der tatsächlichen (oder imaginären) Gemeinschaft galt als besonders stark . Auch dass der amerikanische Mythos des Selfmademan die Anstrengungen und Mühen der Familie, insbesondere auch der Frauen, nicht selten überstrahlte, wurde kritisch angemerkt (Ferree 1979) . Die Wissenschaftler suchten nach Erklärungen für dieses unterschiedliche Verhalten der verschiedenen ethnischen Gruppen (Light 1972; Waldinger 1986; Light and Bonacich 1988; Light and Rosenstein 1995) .Weder persönliche Eigenschaften noch unterschiedliche Zugänge zu Finanzierungsstrukturen allein reichten zur Erklärung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen aus . Offenbar spielte der breitere gesellschaftliche Kontext eine wesentliche Rolle . Bestimmte Migrationsgruppen wurden aufgrund spezifischer Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt (beispielsweise Diskriminierung) dazu gedrängt, einer selbständigen Erwerbsarbeit nachzugehen . Es kam zu blocked mobility, buchstäblich einem versperrten Weg in den Arbeitsmarkt . Einmal dort angekommen, befanden sich die Migranten in einer Sackgasse (Barrett und McEvoy 2005: 39 f .) . Ein durchgängig wichtiger Punkt in den Studien zum ethnischen Unternehmertum war die Rolle der Familienmitarbeit . So zeigte beispielsweise eine große Studie zu Los Angeles, dass fast 60 Prozent aller koreanischen Unternehmen überhaupt nur durch (unbezahlte) Familienarbeit existieren konnten (Light und Bonacich 1988) . In diesen frühen Publikationen der 1970er Jahre wurden Frauen höchstens als familiärer Anhang erwähnt, die Studien waren geschlechtsblind . Tatsächlich setzten sich die ethnischen Enklaven fast ausschließlich aus Männern zusammen – doch bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass Frauen unsichtbar einen großen Anteil an der Produktion und Reproduktion der Enklaven hatten . Hier spiegelt sich ein durchgängiges methodisches Problem in der Migrationsforschung: In der Forschungspraxis erweist sich die Befragung der Unternehmerinnen oft als enorm aufwändig; es gestaltet sich schwieriger, Frauen zu finden, es macht meist mehr Mühe, sie zu kontaktieren und dann auch für ein Interview zu gewinnen . Oft fühlen sich die potentiellen Interviewpartnerinnen aus persönlichen, sprachlichen oder zeitlichen Gründen nicht in der Lage, 89

zukunftsorientierung, Solidarität

Mythos des Selfmademan

Blocked mobility

unsichtbare familienarbeit

ausblendung der Geschlechtsspezifik

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

ethnisierung vorprogrammiert

Größe, Dichte, Beschaffenheit der netzwerke

ein Interview zu führen .Viele finden auch, dass ihre Meinung für eine Befragung nicht wichtig genug sei . So vage bzw . breit die Definitionen der „ethnischen bzw . migrantischen Ökonomie“ auch sein mögen, sie beruhen im Großen und Ganzen auf fünf Grundannahmen über die Unternehmensstruktur . Angenommen wird eine stärkere horizontale sowie vertikale Vernetzung zwischen den Unternehmen einer Minderheit, die mit einer räumlichen Häufung einhergehen kann, ein Warenangebot, das in Verbindung mit der Herkunftskultur des Unternehmers stehen kann, eine Rekrutierung von Arbeitskräften, die vorzugsweise auf den Pool der Minderheitenbevölkerung zurückgreift, außerdem Familienmitarbeit . Im Gegensatz zu den nicht-migrantischen Unternehmern kann die Identifikation mit der eigenen Community eine Rolle für die Betreibung des Geschäfts spielen . In der deutschen Debatte wird zur Zeit meist alles, was von Ausländern und Migranten in Selbständigkeit betrieben wird, als ethnische/migrantische Ökonomie bezeichnet . Dabei wird der Begriff Ausländer unterschiedlich benutzt: Für die Behörden ist es ein festgelegter statistischer Begriff, der sich allein auf die Staatsangehörigkeit und das Merkmal nicht-deutsch bezieht; für die Öffentlichkeit und für die Lobbyisten der ethnischen Ökonomie zählen alle nach Deutschland zugewanderten Selbständigen als Teil des ethnischen/migrantischen Gewerbes . Diese Ambivalenz, einmal die rechtliche Interpretation des Ausländerbegriffes und einmal die Definition des Zuwanderers als Minderheit aufgrund der kulturellen Zugehörigkeit, ist ein Grundproblem dieser Herangehensweise, die deshalb auch als ethnisierend kritisiert wird . Denn die Fremdzuschreibung als migrantisch machte die Unternehmer erst zu Migranten . Neuere Untersuchungen zeigen außerdem, dass sich die Migranten schon seit vielen Jahren nicht mehr auf einige wenige Industriezweige und damit auf einen begrenzten Arbeitsmarkt beschränken, sondern ein fester Bestandteil städtischer Arbeitsmärkte sind . Allein, die Interpretation der existierenden Daten fällt höchst unterschiedlich aus: Mal wird die migrantische Selbständigkeit als Beleg für eine gelungene Integration („Selbständigkeit als persönlicher Erfolg“) verstanden, mal als Ausdruck der Ausgrenzung von einem weiter gefassten, allgemeinen Arbeitsmarkt interpretiert („Da sie sonst keine Chancen haben, machen sie sich selbständig“) (Hillmann und Sommer 2011: 29 f .) bzw . „als Überlebensstrategie in Zeiten einer dramatischen Verschlechterung der Arbeitsmarktbedingungen“ (Pütz 2005) . Vor allem die Existenz von und die Verfügbarkeit über Netzwerke, soziales Kapital, wird immer wieder als zentrale Erklärungsvariable für den Erfolg bzw . den Misserfolg dieser migrantischen Unternehmen herangezogen . Die Forscher interessieren sich für die Größe, Dichte und Beschaffenheit der sozialen Netzwerke und dafür, wie diese sozialen Netzwerke von den Unternehmern für ökonomische Zwecke genutzt werden . Untersucht wird die soziale Einbettung der Unternehmen, nicht das Unternehmen an sich 90

2.5 arBeitSMarK t theoretiSche zuGänGe

(Granovetter 1983, 1995; Waldinger 1986; 1997; Portes und Sensen­ brenner 1993; Light und Gold 2000) . In der Sozialgeographie legt Pütz (2004) eine dezidiert kulturgeographische Untersuchung der ethnischen Ökonomien vor . Er will Aufschluss über die kulturellen Bezugssysteme der Akteure und deren „oftmals inkommensurabel konstruierten symbolischen Ordnungen“ erlangen – so seine Fragestellung (Pütz 2004: 31) . In Anlehnung an die Überlegungen des Philosophen Welsch zur Inter- und Multikulturalität adoptiert er den Forschungsansatz der Transkulturalität als Praxis und fokussiert strategische Transkulturalität als unternehmerische Leistung von Migranten . Die Konstruktion von Transkulturalität bei den Unternehmern, so Pütz, ginge mit der Trennung eines Innen und Außen einher und deshalb beschäftigt er sich in seiner Interpretation auch mit Fragen der Identitätsstiftung und -findung .

transkulturalität als praxis

Gerade demjenigen gelingt der Erfolg, der die eigene Identität nicht als zerrissen, sondern als transkulturell wahrnimmt bzw . nutzen kann . Die Zugehörigkeit zu einer herausgehobenen, in diesem Fall ethnisch konnotierten Gruppe wirkt deshalb als Ressource .

Ein weiteres, in der Sozialgeographie stark rezipiertes Konzept, dass das Zusammenspiel von handelnder Person und Umfeld betont (= interaktionistisch), ist das der mixed embeddedness von Rath und Kloosterman (2001) . Die Autoren nehmen die immigrierten Unternehmer selbst, aber auch die Möglichkeitsstrukturen und Rahmenbedingungen in den Blick . Sie argumentieren in einer reinen Marktlogik und beziehen sich gar nicht mehr auf einzelne migrantische Gruppen . Nur müssten die Märkte für Unternehmer auch zugänglich sein . Kloosterman und Rath (2011: 95 ff .) distanzieren sich durch dieses Vorgehen von den kulturalistischen Ansätzen, die besondere kulturelle Vorlieben, Abneigungen oder transkulturelle Strategien als handlungsleitend für die migrantischen Unternehmer ansehen . Stattdessen gehen sie davon aus, dass sich die Unternehmer in bestehende Regulationsregime einpassen müssen . Nur so ließe sich erklären, dass in einigen Bereichen gar keine, wenige oder aber viele Unternehmen gegründet würden . Das vorherrschende Muster von migrantischen Klein- und Kleinstunternehmern führen Kloosterman und Rath auf die unterschiedlichen Wachstumspotentiale innerhalb der urbanen Ökonomien zurück . Idealtypisch benennen sie vier Segmente (industriell vs . postindustriell, stagnierende Märkte vs . wachsende Märkte, mit jeweils hohen vs . niedrigen Zugangsschwellen) . Innerhalb dieser Segmente gibt es bestimmte Möglichkeitsstrukturen, manchmal auch lückenhafte Formationen, die eine Teilhabe 91

Märkte müssen allen zugänglich sein

Vier regulationsregime nach KlooSterman und rath

2. theoretiSche anSätze Der MiGrationSforSchunG

Barrieren und Verordnungen

von Migranten begünstigten . Formelle Barrieren entstünden durch Regeln und Verordnungen (z .B . über den Ausschluss von Migranten durch die Verweigerung einer Genehmigung) oder durch informelle Barrieren (z .B . durch den sozialen Ausschluss aus Wirtschaftsvereinen oder aber durch die Blockierung von Arbeitsplätzen für immigrierte Neu-Unternehmer) .

92

3. Historische und regionale Differenzierung der Migration in Europa Der Homo migrans und die Femina migrans sind Teil der Menschheitsgeschichte. Aus sozialgeographischer Sicht interessiert besonders, welchen Anteil Migrationen an der Siedlungsgeschichte hatten, wie sie Teil internationaler Wirtschaftsstrategien wurden und wie sie zur Herausbildung von Regionen beitrugen. Migrationen traten historisch immer wieder als räumliche Definitionsmacht auf: Migranten schufen Fakten, indem sie sich ansiedelten, Herrscher verfügten über Menschen (und deren Arbeitskraft), setzten ihre Bevölkerungen für eigene politische Interessen ein. Viele der sich aus diesem Kräftespiel herausbildenden Gesellschaftsformationen haben bis heute Relevanz und prägen die soziale und räumliche Organisation unserer Gesellschaften. Einiges, was uns heute in der Regulierung von Migration und Mobilität neu vorkommt, wurde in der Geschichte vielfach erprobt. Nach einem knappen Überblick über die frühe europäische Migrationsgeschichte (Kapitel 3.1) folgt die exemplarische Darstellung zweier massenhafter Fernwanderungen der Neuzeit, die den gesellschaftlichen und regionalen Umbruch verdeutlichen. Erstens wird der Sklavenhandel als eine Form der Zwangsmigration vorgestellt, der den Aus- und Umbau Europas zur größten Wirtschaftsmacht der Welt überhaupt erst erlaubte und den Militäraristokratien und handelstreibenden Gesellschaften enorme Vorteile verschaffte (Kapitel 3.2.1). Zweitens wird – kontrastierend zu dieser kolonialen und rassistischen Form der Migration – die Migration der Hugenotten, die erste gezielte Fachwanderung innerhalb Europas, skizziert (Kapitel 3.2.2). Der Übergang zur Moderne brachte ein Mehr an regionalen Wanderungen und massive Emigrationen mit sich (Kapitel 3.3), Industrialisierung und Kaiserreich die erste Systematisierung von Ausländerpolitiken (Kapitel 3.4). Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war geprägt von Zwangsarbeit und Kontrolle (Kapitel 3.5), in der Nachkriegszeit erfolgte in Deutschland die Einführung des Gastarbeitersystems (Kapitel 3.6), dann der Zuzug von Aussiedlern (Kapitel 3.7) und bis zur Wende bestanden unterschiedliche Migrationsregime in der BRD und der DDR (Kapitel 3.8). 3.1 Migration und Mobilität in Frühzeit und Mittelalter Die historische Migrationsforschung geht von einer Besiedlung Europas und der Ausbreitung des Homo sapiens vor rund 200.000 Jahren aus. Historiker fanden außerdem Spuren starker Bevölkerungsbewegungen in den 93

Homo migrans und Femina migrans als Teil europäischer Geschichte

Fernwanderungen markieren den Übergang von regionalen Systemen

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

fruchtbare flussdeltas und ebenen

Die antike polis hatte eine festgelegte einwohnerzahl

niedergang der Städte

umstrittene Völkerwanderungen

hafenstädte verbinden Küste und hinterland

Der Status als gesicherter oder ungesicherter Stadtbewohner

kultivierten, fruchtbaren Ebenen in den Flussdeltas der außereuropäischen Welt – in Mesopotamien und im Industiefland, aber auch im Inkareich und dem Zhou-Imperium . Die Ebenen an den Mündungen der großen Ströme waren Gunstgebiete: Die Böden ließen sich leicht bepflanzen und durch Bewässerungsanlagen gezielt kultivieren . Der fruchtbare Boden der Schwemmländer erbrachte starke Ernten, die Grundlage für den aufkommenden Tauschhandel waren . Mit der Entstehung der ersten Städte im Neolithikum setzte eine stärkere soziale und räumliche Ausdifferenzierung ein und in Folge eine markantere Unterscheidung der Bevölkerung in Wandernde, Minderheiten und Sesshafte . Man weiß, dass die Griechen in der antiken Polis im 2 . Jahrtausend vor Christus erstmals eine aktive Regulierung von Wanderungsbewegungen betrieben . Die Bevölkerungszahl in der Stadt sollte einen bestimmten Wert nicht überschreiten, so dass die Städter sich im Falle eines Angriffs noch verteidigen konnten, die Funktionsfähigkeit der Bürgerversammlungen aber nicht eingeschränkt war . Wohnten zu viele Bewohner in einer Stadt, gründete man fernab eine neue Kolonie (vgl . Benevolo 1993: 93) . Im römischen Reich erleichterte dann der regelhafte Ausbau des Straßennetzes die Mobilität beträchtlich . Mit dem sich über 500 Jahre erstreckenden Niedergang der römischen Städte bis circa zur ersten Jahrtausendwende fiel ein Großteil Europas dann wieder zurück in einfache Formen der agrarischen Bewirtschaftung (Benevolo 1993: 329 f ., Sennett 1997: 193) . Die Siedlungswanderungen richteten sich jetzt verstärkt auf bevölkerungsärmere Gebiete . Germanische Siedler und Stämme drangen nach Süd- und Westeuropa vor . Alemannen und Franken wanderten über den Rhein, über den Limes hinaus – was als Völkerwanderung gefasst wurde . Neuere historische Studien bezweifeln, dass diese Völkerwanderungen als gezielter kollektiver Prozess abliefen . Sie zeichnen stattdessen ein Bild von Pionieren und Einzelgruppen, die sich bei günstigen Bedingungen schließlich sesshaft machten (Hahn 2012) . Um das 10 . Jahrhundert setzte in Europa ein allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung ein . Grundlage hierfür bot eine erhöhte landwirtschaftliche Produktion und eine Intensivierung von Handwerk und Handel – was zu einer Vergrößerung und Veränderung der Städte führte . Stadtstaaten wie Amalfi, Pisa und Genua entwickelten sich stark . In einigen Fällen wandelten sie sich zu Seemächten und kolonisierten das Mittelmeer (Braudel 2003) . In dieser Periode stellten die Küstenstädte die wichtigste Verbindung zum verstärkten Handel mit den Binnenländern dar (Benevolo 1993: 333) . Bestimmte Berufsgruppen wie Händler, Soldaten, Scholaren und Pilger waren per definitionem mobil und bewegten sich in den vielen Kleinreichen des aufgespalteten Territoriums Europas, das von einer Vielzahl von Herrschaftsverbänden und nur in Ausnahmefällen durch ein einzelnes Herrschaftsmonopol regiert wurde (z .B . Karl der Große als Herrscher über die Franken) . Der Rechtsstatus der Menschen richtete sich nach der Grundherrschaft, der Provinz, der Stadt, in der sie lebten . 94

3.1 MiGration unD MoBilität in frÜhzeit unD Mit telalter

Ein wesentliches Zugehörigkeitsmerkmal der Bürger zur Stadt bestand aus deren Status zwischen aufenthaltsrechtlich gesicherten und ungesicherten Stadtbewohnern, worüber die Stadtregierungen selbst entschieden . Ferner gab es die gängige Unterscheidung zwischen denen, die sich selbst ernähren konnten, und denen, die auf Almosen angewiesen waren . Wer aus diesem ständischen Organisationsraster herausfiel, galt als vogelfrei und sollte möglichst von den Städten ferngehalten werden (vgl . Dohse 1985: 12 f .) . Die mittelalterliche Gesellschaft war territorial über Burgen, Höfe und Klöster organisiert . Die Zugehörigkeit zu Städten und Territorien bedeutete für deren Bewohner Leibeigenschaft und Bewegungsrestriktionen . Während die Unterschichten zwar lokal aufwuchsen, aber je nach den Erfordernissen der Feudalherren mobil im Raum bewegt werden konnten, agierten die Adelsfamilien ganz selbstverständlich über die Territorialgrenzen hinweg . Gezielte Erbfolgen, durch Heiratsverträge gesteuert, schufen neue Territorialgrenzen und sicherten den Dynastien über Generationen hinweg die Hoheit über Gebietschaften . Die Wanderungen des Klerus und der beruflichen Eliten dagegen folgten festgelegten Protokollen . Große Handelsverbünde wie beispielsweise die Hanse besaßen eine eigene externe territoriale Organisation mit zugehörigen Dependancen, Höfen und Kontoren weitab vom Zentrum . Diese Exklaven boten den wandernden Handelsleuten Schutz, waren zugleich Sitz einer eigenen Gerichtsbarkeit und Vermögensverwaltung und besaßen das Recht der Selbstbesteuerung (Pagel 1963: 273 f .) . Nowgorod beispielsweise, eines der ältesten hansischen Kontore, beherbergte Sommer- und Winterfahrer und unterhielt Wohn-, Ess- und Trinkgesellschaften, sogenannte Maskopeien, mit eigenen Ordnungen und sozialen Rängen . Wie eng soziale und räumliche Organisation voneinander abhängen und wie stark sie über die Regulierung von Migration und Ausgrenzung erst hergestellt werden, zeigt auch das historische Beispiel der Juden . Die jüdische Migrationsgeschichte entfaltet sich als eine Geschichte der Diaspora . Hier führte die räumliche Aufspaltung (sephardische Juden ließen sich hauptsächlich in Spanien, Portugal und in anderen Teilen des Mittelmeerraums nieder, während der aschkenasische Zweig sich nach Frankreich, Deutschland und Osteuropa orientierte) auch zu einer unterschiedlichen Entwicklung des Brauchtums und der Gemeindeorganisation sowie einer unterschiedlichen Ausübung von Religion und Wissenschaften (vgl . Jersch­Wenzel 2007: 385) . Die Herausbildung einer besonderen Stellung der Juden in der mittelalterlichen Gesellschaft ist etwa ab dem 10 . Jahrhundert dokumentiert . In der Literatur wird beschrieben, dass die Juden aufgrund ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit als Geldleiher oder als Händler Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt waren . Diese Verfolgung war politisch gewünscht: So zielten die Laterankonzile, d .h . die Kirchengesetzgebung im 12 . Jahrhundert, darauf, die Juden weiter aus dem christlichen Leben auszuschließen . Dieser explizite 95

Bettler, arme und Vagabunden waren vogelfrei

Der adel ist mobil, die untertanen werden im raum bewegt

Die hanse unterhält Kontore, Maskopeien

Die Diaspora der Juden

Juden werden angefeindet und ausgegrenzt

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Städte können nur durch zuwanderung überleben

Das Ghetto wird teil der Stadt

Ausschluss veränderte die europäischen Städte . Abgesehen von der bis dahin typischen räumlichen Segregation verschiedener Berufsgruppen (beispielsweise als „Schustergasse“) kamen nun in der europäischen mittelalterlichen Stadt Abgrenzungen nach religiösen Merkmalen (zum Beispiel als Judenviertel) oder als individuelles Merkmal an der Kleidung (wie Judenhüte oder, selten, ein gelber Fleck) hinzu . Praktisch alle großen Städte beherbergten Ansiedlungen von Juden (etwa London, Frankfurt, Rom) . Manche Städte richteten auch mit Pforten versehene jüdische Viertel und Straßen ein . Die auf dem Wasser gebaute Stadt Venedig wies den Juden eigens eine Inselgruppe zu (Sennett 1997: 274 f .) . Die schlechten sanitären Verhältnisse in den mittelalterlichen Städten führten bei den Stadtbewohnern zu Krankheiten, Epidemien und Todesfällen . Damit die Städte überhaupt überleben konnten, war eine kontinuierliche Zuwanderung vom Lande erforderlich .

3.2 Der Übergang zur neuzeit: fernmigrationen als teil regionaler Systeme

Vier große Migrationssysteme

Der Übergang zur Neuzeit wird von zahlreichen Migrationen begleitet . Es schälen sich erste großräumige Unterscheidungen von Migrationsbewegungen heraus, besondere regionale Migrationsmuster, die man als Migrationssysteme bezeichnet . Bestimmte Regionen oder Städte bildeten jeweils Knotenpunkte dieser Systeme . Bis ins 19 . Jahrhundert unterscheiden die Historiker vier große Migrationssysteme: das afro-atlantische Sklavensystem, das asiatische Kontraktarbeitersystem, das Migrationssystem des atlantischen Wirtschaftsraums sowie das weitgehend separate, aber zeitgleich funktionierende russisch-sibirische Wanderungssystem (vgl . Harzig 1999) . Wie im Mittelalter waren es in der Neuzeit weiterhin die Städte, die ihren Bewohnern Sicherheit und Schutz vor Fehden,Wegelagerei, Räuberei oder Kriegsgewalt boten . Mit Beginn der Neuzeit nahm die Zahl der Ausweisungen und Verbannungen von Bettlern,Vaganten oder kriminell Verdächtigen enorm zu (Hahn 2012: 96) . In diese Zeit fallen eine Reihe von Bewegungen im Kontext von Arbeits-, Siedlungs- und Bildungswanderungen . 3.2.1 Die Anfänge der massenhaften Fernwanderungen: Sklavenhandel Im Übergang zur Neuzeit wurde der Sklavenhandel Grundlage der sich formenden internationalen Handelsbeziehungen . Die ersten erzwungenen Fernwanderungen finden in einem bis dahin ungekannten Ausmaß statt . 96

3.2 Der ÜBerGanG zur neuzeit: fernMiGrationen alS teil reGionaler SySteMe

Zwischen 1520 und 1850 wurden schätzungsweise zwischen 8 und 15 Millionen Afrikaner im transatlantischen Sklavenhandel nach Amerika verschleppt, und von 1750 bis 1850 befand sich ungefähr ein Zehntel der afrikanischen Bevölkerung in einem Sklavenstatus (Osterhammel 2009: 233) . Der Sklavenhandel gewann unter anderem auch deshalb an Attraktivität, weil sich die weißen Siedler, die man zuvor auf den Plantagen in den Kolonien zur Arbeit eingesetzt hatte, als ungeeignet erwiesen . Auch die Kooption indianischer Arbeiter scheiterte . Kulturelle Differenzen, tropische Krankheiten wie Malaria und ständige Konflikte vereitelten den Einsatz dieser Arbeiter (Morgan 2007: 19) . In den kolonialen Territorien fanden die Kolonialherren ihre Verbündeten teilweise in den lokalen Eliten . Sie unterstützten die Ausfuhr von Versklavten . Weil sie den Handel vor Ort kontrollierten, bestimmten sie mit über den Wert der exportierten Menschen und trugen so zum Fortbestehen dieses Handels bei – so berichten es einzelne Autoren (Pétré­Grenouilleau 2009: 50) .Vielerorts kam es zu heftigem Widerstand gegen die Sklaverei, so z .B . von König Gbêhanzin in Dahomey (heutiges Benin), zu Angriffen auf Sklavenschiffe auf den Flüssen Senegal und Gambia sowie Revolten während der Überfahrt in die Amerikas und schließlich zur haitianischen Revolution (1791–1804) unter Toussaint Louverture, der ersten und einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte (Diouf 2008) . Die Menschen wurden durch Invasionen, durch Sklavenfang, aber auch durch den Tausch etwa von Glasperlen oder Gold über Mittelsleute versklavt . Neben die physische trat die psychische Gewalt . Durch die Verschleppung wurde der Gefangene einem Prozess der Entfremdung von seinem Herkunftskontext unterworfen – ein wichtiges psychologisches Grundmuster der Versklavung . Denn besonders die Entfremdung auf der Reise und am Zielort machte die versklavten Menschen gefügig (Meil­ lassoux 1989) . Kartographie, Geographie und Ethnographie sorgten in den kolonialen Mutterländern für die begleitende koloniale Rhetorik und beförderten die Herabstufung Afrikas im Vergleich der Kontinente . Sie konstruierten ein Bild Afrikas, das „primitive Völker“ den europäischen „Hochkulturen“ gegenüberstellte und auf diese Weise die wirtschaftliche Ausplünderung des Kontinents legitimierte (Gamerith 2013) . In den christlich geprägten Ländern Europas lebte der Sklavenhandel mit den portugiesischen Erkundungsfahrten entlang der afrikanischen Küste insbesondere in den Hafenstädten des Mittelmeers auf . Die Gebiete der afrikanischen Westküste wurden in das große atlantische Migrationssystem einbezogen, während der orientalische Sklavenhandel seine Versklavten aus Ostafrika bezog und diese ebenfalls zur Arbeit auf den Plantagen oder in den Haushalten und Harems der Wohlhabenden oder aber für die Militärsklaverei nutzte . Mit der Entdeckung Amerikas verstärkte sich der Import von Versklavten nach Nord- und Lateinamerika, vor allem auch in die Karibik und nach Brasilien . Die Versklavten verrichteten Zwangsarbeit im Bergbau und in der Plantagenwirtschaft . 97

Der Sklavenhandel als koloniales und rassistisches herrschaftssystem

Komplizenschaft und Widerstand

fremdheit als psychologisches Grundmuster der Versklavung

Koloniale rhetorik durch Geographen, Kartographen und ethnologen

zwangsarbeit ermöglicht den unternehmern riesige Gewinne

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Die Versklavung als teil regionaler entwicklung in europa und der zerstörung in afrika

rohstoffe und versklavte Menschen im tausch gegen Waffen, alkohol, Schmuck und textilien

Sklavenhandel als ein großes Geschäft

zwei Millionen Versklavte starben auf der mittleren passage

Das erbe der Kolonialzeit wirkt bis heute nach

Bis zum Ende des 17 . Jahrhunderts blieb die Verschiffung von Sklaven das Vorrecht ausgewählter Handelsgesellschaften . In vielen Fällen wurden die Versklavten von Afrika direkt ohne Umweg in die Neue Welt verschifft . Doch in weiten Teilen lief der Handel mit den Sklaven über große Häfen in Europa . Ab 1740 übernahm Liverpool die führende Position im Rahmen des britischen und europäischen Dreieckshandels . 1795 war jedes vierte Schiff, das in Liverpool auslief, ein Sklavenschiff, das Kurs auf Westafrika nahm (Zehner und Wood 2010: 59 f .) . Organisiert wurde der Dreieckshandel (Rohstoffe wie Diamanten, Gold und Baumwolle sowie Genussmittel wie Zucker, Rum, Tabak und Kaffee aus den Kolonien in die kolonialen Mutterländer; Waffen, Schmuck und Textilien in die Kolonien auf Tauschbasis mit der Verschiffung von Sklaven) von privilegierten Handelsmonopolgesellschaften in Europa . Es handelte sich um ein teilweise in sich geschlossenes Handelssystem, das den Unternehmern hohe Gewinnmargen erlaubte . Die Verschiffung der Versklavten bot diesen Städten, ähnlich wie später den Auswandererhafenstädten, eine regionale Entwicklungsperspektive . In den Hafenstädten bildeten sich eigene Quartiere heraus, die von den Seefahrern und ihren Gästen lebten . Die Sklavenverschiffung erforderte eine bestimmte regionale Ausstattung: (1) Investoren mussten vorhanden sein, (2) Agenten, die im Auftrag des Unternehmens die Passage abwickelten, mussten engagiert werden, (3) Kapitäne, die erfahren genug für ein solches Unterfangen waren, mussten angeheuert werden, (4) Schiffe, die für den Transport von Menschen ausgerüstet waren, mussten gefunden werden, (5) das Kapital zur Finanzierung der Reise und der für die Überfahrt benötigten Waffen etc . musste bereitgestellt werden, (6) Ärzte, die zur Kontrolle von Zähnen und Gliedmaßen sowie zur Brandzeichnung und zur notdürftigen gesundheitlichen Versorgung der Versklavten während der Überfahrt eingesetzt wurden, mussten verpflichtet und (7) die Besatzung, die oft zwangsweise auf dem Sklavenschiff arbeitete, rekrutiert werden (Bailey 2005: 125) . Ungefähr ein Fünftel der Versklavten überlebte die Überfahrt nach Amerika wegen fehlender Hygiene, Mangelernährung und Platznot an Bord nicht . Schätzungen zufolge wurden im 17 . und 18 . Jahrhundert insgesamt 12,4 Millionen Menschen über die mittlere Passage, dem Fahrgebiet über den Atlantik von Afrika, von den dortigen Sklavenforts zur amerikanischen Gegenküste, verschifft . Rund zwei Millionen Versklavte starben auf der Überfahrt (Hahn 2012: 21; Zehner und Wood 2010: 59) . Der Sklavenhandel erreichte kurz vor der Unabhängigkeitserklärung der USA 1776 seinen Höhepunkt . Die Sklaverei im Allgemeinen wurde 1833 für illegal erklärt, nach und nach zogen sich die Handelsunternehmen aus dem Geschäft zurück . Mit der Abschaffung der Sklaverei 1804 wurde die Zwangsverschleppung afrikanischer Menschen nach Nord- und Südamerika beendet . Die bis dahin 98

3.2 Der ÜBerGanG zur neuzeit: fernMiGrationen alS teil reGionaler SySteMe

millionenfach bereits in Amerika angekommenen versklavten Menschen beeinflussten durch ihre Präsenz die amerikanischen Gesellschaften und stellen die Vorfahren eines Großteils der heutigen schwarzen Bevölkerung in den USA, der Karibik und Lateinamerikas dar . Die Dekolonisierung und das darin anschließende Postkoloniale schufen zwar nach den Unabhängigkeitserklärungen damals neue Geographien, doch wirkt das Erbe der Kolonialzeit bis heute nach . Die seinerzeit auf die kolonialen Mutterländer ausgerichtete monokulturelle Wirtschaftsstruktur besteht in vielen Ländern bis heute fort . Die Unterdrückung und Zerschlagung der einheimischen Kulturen, das koloniale Verhältnis von Macht und Ohnmacht und die Verschleppung eines Großteils der aktiven Bevölkerung lähmte die Entwicklung eigenständiger Gesellschaften vor Ort nachhaltig . Bis heute werden schwarzen Menschen oft europäische Beobachtungsraster übergestülpt, die teilweise immer noch auf der vermeintlichen Überlegenheit der weißen Mehrheitsgesellschaft gegenüber allen „Anderen“ basieren . Die Debatte um die rassistische Sprache in den PippiLangstrumpf-Büchern mit dem „Negerkönig“ ist nur ein Beispiel für den bis in die 1980er Jahre unreflektierten Alltagsrassismus, ein weiteres ist die Motivwahl eines Quartettspieles (vgl . Foto 1) .

foto 1: Wumba-neger aus der Kiste, Quartett-Spiel um 1980 © Disney

alltäglicher rassismus

3.2.2 Erste gezielte Anwerbepolitiken: Hugenotten Vom 16 . bis zum 18 . Jahrhundert produzierten die starken konfessionellen Machtkämpfe in Europa massenhaft Migranten . Zuvor hatte der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) die Bevölkerungszahlen extrem vermindert . Kriegsbereite Fürsten heuerten Soldaten als Zeitarbeiter von transeuropäischen Unternehmungen an, das Söldnerwesen florierte (Hoerder 2010: 48 f .) . Im Unterschied zum Mittelalter waren Macht und Bevölkerung jetzt zunehmend zentral organisiert: Beides fand sich nicht mehr über das Territorium zerstreut, sondern zunehmend gebündelt in den Städten (Mumford 1961: 414) . Sozialgeographisch besonders interessant ist der Fall der Hugenotten . Erstmals in der europäischen Geschichte kam es hier zu einer gezielten internationalen Anwerbung von Arbeitskräften zur Belebung der regionalen Entwicklung (vgl . Birnstiel und Reinke 1990: 35) .

99

Konfessionelle Machtkämpfe

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

hugenotten: verfolgt, aber nicht zwangsverschleppt

Katholisches frankreich und protestantischer nordwesten europas

edikt von nantes

Wie im Falle der Zwangswanderung der Sklaven sind Herkunfts- und Zielregion über vermittelnde Instanzen direkt an der Produktion der Migrationsbewegungen beteiligt . Der Unterschied besteht jedoch im Grad der Freiwilligkeit: Anders als die Sklaven wurden die Hugenotten zwar verfolgt, aber nicht zwangsverschleppt . Im Gegensatz zu den Sklaven waren sie am Zielort von den Herrschern erwünscht und mit Privilegien ausgestattet . Anders als die Sklaven wurden sie von den Herrschenden als aktiver Teil der regionalen Entwicklung und des Staatsaufbaus angesehen, nicht nur als Arbeitskraft ausgebeutet und ansonsten politisch ignoriert . Im Unterschied zur Sklaverei handelt es sich nicht um eine von Unternehmern gesteuerte Migration, sondern um die erste staatlich gestaltete Migrationspolitik in Europa, bei der die Wanderung über die Selbstorganisation einer religiösen Gruppe und entsprechende Aufnahmelager unterwegs organisiert wurde . Im Vergleich zum Sklavenhandel, der auf einem kolonialrassistischen System der vermeintlichen Überlegenheit der europäischen „Rasse“ basierte, wurden Hugenotten als Menschen angesehen und nicht wie Versklavte als Sache oder Ware ohne jegliche Rechte . Wie kam es aber zu diesen Migrationsbewegungen der Hugenotten? In einigen Städten Frankreichs hatten sich seit 1520 die reformatorischen Gedanken und Schriften Luthers ausgebreitet . Mönche, die mit diesen Vorstellungen sympathisierten, wurden verfolgt und verbrannt . Trotz dieser Verfolgung breitete sich die Reformation weiter aus, Calvin entwarf in der Schweiz sein theologisches System der Prädestinationslehre . Um 1550 wurde das Bekenntnis zum protestantischen Glauben in Frankreich, egal ob geheim oder öffentlich ausgesprochen, mit der Todesstrafe geahndet . Zur Befriedung der ständigen Glaubenskriege leitete Katharina von Medici ab 1560 eine neue Konfessionspolitik ein, indem sie den Protestanten in einigen Bereichen Zugeständnisse machte . Trotzdem kam es in Folge zu (acht) Hugenottenkriegen, in denen die von den Jesuiten aufgehetzte katholische, oft in Armut lebende Bevölkerung auf die ökonomisch in der Regel besser gestellte protestantische Bevölkerung losging . Im Jahre 1569 wanderten etwa 10 .000 Hugenotten ins Elsass ab, weitere 6 .000 nach England . 1598 sicherte der französische König Heinrich IV . im Edikt von Nantes der französischen Bevölkerung schließlich Religionsfreiheit zu . Der Katholizismus blieb dennoch Staatsreligion und der Kirchenzehnt war an die katholische Kirche zu entrichten . Die Protestanten durften nun allerdings eigene Steuern einsammeln . Sie erhielten außerdem Zugang zu allen zivilen und militärischen Ämtern (Lausberg 2007: 41) . Trotz ihrer Anerkennung als Glaubensgemeinschaft gerieten die Hugenotten in den 1660er Jahren in Frankreich erneut in Bedrängnis . Durch die Aufhebung des Edikts (1685) durch den Sonnenkönig wurden sie entweder zur Konvertierung oder zur Flucht außer Landes gezwungen . Ein Fünftel der 900 .000 reformierten Protestanten floh als Glaubensflüchtlinge ins Ausland, teilweise bis in die Kolonie Kanada (vgl . Klingebiel 2006: 100

3.2 Der ÜBerGanG zur neuzeit: fernMiGrationen alS teil reGionaler SySteMe

11 ff .) . Verschiedene Flüchtlingsgruppen harrten jahrelang in der Schweiz, dem Zentrum des Calvinismus, einer Zwischenstation, aus . Von dort aus organisierten sie sich neu und warteten auf günstige Bedingungen, sprich auf besonders gute Aufnahmeprivilegien in England, in den Niederlanden, in Dänemark und Russland, oder auch in Preußen . Zu dieser Zeit grenzten sich die Zielregionen der Hugenottenzuwanderung, die protestantischen Länder England, die Niederlande und das aufstrebende Brandenburg-Preußen, gegen das militärisch mächtige Frankreich unter Ludwig XIV. ab . Die Anwerbung von Hugenotten kam diesen Abgrenzungsbestrebungen zupass . Man bezog sie, je nach den regionalen Erfordernissen, aktiv in den Aufbau der Staaten ein . Stärker entwickelte Länder wie die Niederlande und England zogen vor allem die besser gestellten Hugenotten an . In Preußen richtete sich der Große Kurfürst mit seinem Edikt von Potsdam (1685) hauptsächlich an die mittellosen und arbeitsamen, handwerklich und kaufmännisch qualifizierten Einwanderer . In Deutschland nahmen Brandenburg-Preußen und die hessischen Staaten, besonders die Gegend um Kassel, die meisten Hugenotten auf . Die Reise von Frankreich über die Schweiz nach Deutschland war gefährlich und musste durch die Bezahlung von Mittelsmännern organisiert werden . Durch die Rekonstruktion der Registre d’assistance weiß man, dass die weiblichen Flüchtlinge mit größeren Schwierigkeiten als die männlichen Flüchtlinge zu kämpfen hatten; für sie war es oft nicht möglich, sich niederzulassen .Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde ihr beruflicher Abschluss nicht anerkannt, die Landesherren interessierten sich nicht für sie . Wenn sie verwitwet waren, verloren sie jeglichen Schutz und hatten kein Recht mehr, sich im Land aufzuhalten (Magdelaine 2006: 52) . In dieser Zeit galt die Herrschaft über viele Untertanen als Ausdruck von Wohlstand, bedeuteten sie doch für den Fürsten mehr „Kanonenfutter“, mehr besteuerbare Milchkühe und mehr Mieteinkünfte (vgl . Oster­ hammel 2009: 184, Mumford 1961: 427) . Aus dieser Zeit stammt auch die Vorstellung des Bevölkerungsreichtums. Auswanderung wurde von den Herrschenden dementsprechend als Aderlass wahrgenommen . Sie ließen die Landesgrenzen bewachen, um die Untertanen im Land zu halten, die Hugenotten mussten den Untertaneneid sprechen (Enzensberger 1994: 34, Lausberg 2007: 76) . Diese Auseinanderentwicklung geschieht in einer Zeit, in der sich auch der Merkantilismus als Wirtschaftsform herausbildet .Viele Herrscher hofften durch diese Wirtschaftsform nach den vielen Kriegsjahren und den Bevölkerungsverlusten durch die Pest auf eine ökonomische Wiederbelebung ihrer Territorien . Sie führten dazu neue Gewerbepolitiken ein . Die Landesfürsten förderten das einheimische Handwerk und die entstehenden Manufakturen durch die Subventionierung von Rohstoffen . Gleichzeitig behinderten sie durch Zölle die Einfuhr von Waren aus anderen Ländern . Der Hof des Herrschers rückte in den Mittelpunkt des kulturellen Lebens . 101

Die Schweiz als zentrum des calvinismus und als zwischenstation

hugenotten werden in den Staatsaufbau einbezogen

Besser gestellte hugenotten gehen in die niederlande und nach england, handwerker nach Deutschland

Witwen verlieren jeden Schutz

abwanderung ist aderlass

neue Gewerbepolitiken

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Stapelrechte, zölle, Kollekten als Geldquellen

Bedarf an luxusgütern und luxusmoden Die französische Kultur, très chic!

Die drei Maximen des Merkantilismus Peuplierung, Gewerbefleiß und Commercium treten hier besonders deutlich hervor (Zumstrull 1983: 156) . Zahlreiche Hugenottenstädte wurden angelegt, Stadterweiterungen durchgeführt, verfallene Häuser zur Ansiedlung genutzt . Neue Kanäle wurden gegraben, in der Absicht, die Stapelrechte der anderen Fürstentümer zu umgehen (Zumstrull 1983: 187) . Um diese Ansiedlungen und Einwanderungsgruppen zu finanzieren, wurden Kollekten ausgeschrieben – was immer wieder zu Konflikten in der Aufnahmegesellschaft führte (Niggemann 2008: 119 ff .) . Nachgefragt wurden Kaufleute, Manufakturleiter sowie Fachkräfte in der Tuch-, Zeug- und Strumpffabrikation . Allesamt waren dies Waren, die man auf den eingeführten mechanischen Webstühlen herstellte und für die Ausstattung des Heeres und der Bürokratie brauchte . Auch die steigende Nachfrage nach prunkvollen Luxusgütern des Hofes und der Adelsgesellschaften wurde so gedeckt . Sonderkulturen wie Maulbeerbaumplantagen in Potsdam und Berlin dienten zur Gewinnung von Rohseide und lieferten das Rohmaterial für die Manufakturen . Die Luxusmoden waren ein wichtiger Markt und so fertigten die hugenottischen Gold- und Silberschmiede Porträtmedaillons, Gold- und Emailledosen oder etwa Porträtringe und Tafelgeschirr . Die französische Kultur besaß ein so hohes Ansehen, dass in den deutschen Residenzstädten französische Sprach-,Tanz- und Hauslehrer nachgefragt wurden . Die Niederlassung in einem Refugium, einem Aufnahmeort, bedeutete für die Zuwandernden schnelle Aufstiegschancen sowie weitreichende wirtschaftliche Privilegien . Das Edikt von Potsdam (1685) sicherte den Hugenotten beträchtliche Privilegien zu: Glaubensfreiheit, die Ausübung des Kultus in französischer Sprache durch eigene Prediger, ein in Teilen unabhängiges Rechtssystem, die zeitweilige Steuerbefreiung, kostenlose Mitgliedschaft in den Zünften, die Verleihung des Bürgerrechts, eine Anschubfinanzierung für gewerbliche Existenzgründungen, Grundstücke und kostenloses Baumaterial .

Kolonien beugen Konflikten vor

Durch die Anlage von Kolonien für die hugenottischen Zuwanderer oder aber durch die Ansiedlung in der durch den Dreißigjährigen Krieg brachgefallenen Bausubstanz wollte man den vorprogrammierten Konflikten mit der heimischen Bevölkerung vorbeugen: Man stellte die Hugenotten unter getrennte Verwaltungen und begrenzte die rechtlichen Regelungen zeitlich . Die Kolonie diente als Element mittelbarer Integration, sie war vergleichsweise kostensparend und effizient, weil sich die einzelnen Zuwanderer nicht immer wieder aus eigener Kraft durchsetzen mussten, sondern nach und nach als Gruppe integriert wurden (Dölemeyer 2006: 165) . 102

3.2 Der ÜBerGanG zur neuzeit: fernMiGrationen alS teil reGionaler SySteMe

In der Geschichtsschreibung dieser Zeit erfuhren die Hugenotten eine Überhöhung . Man porträtierte sie als Avantgarde der staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung Preußens, d .h . der Hohenzollernmonarchie . Auf zeitgenössischen Abbildungen sind die Hugenotten als Glaubenszeugen und Märtyrer des Evangeliums zu sehen . Spiegelbildlich dazu prangt der Sonnenkönig als Antichrist und Missetäter . Den Hugenotten garantierte diese Überhöhung die kontinuierlichen Unterstützungsleistungen der protestantischen Regierungen und der evangelischen Kirchengemeinden . Als diese Unterstützungsleistungen gegen Ende des 18 . Jahrhunderts aufhörten und die Hugenotten zu „Normalbürgern“ wurden, verloren sie auch ihre innovative Kraft (Birnstiel und Reinke 1990: 127 ff ., Siebeneicker 2006: 63) . Die dem Calvinismus zugeschriebene Wirtschaftsethik mit ihrem Kern einer Rationalisierung der Lebensführung und einem Verzicht auf Wallfahrten, Feiertage und anderen Begleiterscheinungen der Heiligenverehrung überdauerte . Die Tüchtigkeit der Hugenotten in Arbeit und Beruf hing mit deren Glauben an die von Calvin vertretene Prädestinationslehre zusammen . Hiernach war die Erfüllung von Pflichten im Beruf das einzige Mittel, gottgefällig zu leben . Max Weber griff diese Wirtschaftsethik in seinem Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05) auf und führte sie als Begründung für den wirtschaftlichen Erfolg der Protestanten an (Siebeneicker 2006: 63) . Der zeitweilige Minderheitenstatus schien die im Calvinismus bereits angelegte Leistungsorientierung zusätzlich zu steigern . Das kulturelle Erbe dieses Assimilationsprozesses findet sich bis heute in Redewendungen im Berliner Dialekt, da gibt es Petitessen, Buletten oder Fisimatenten . Am Beispiel der Hugenotten zeigt sich das bei Migrationsprozessen – außer bei Zwangssystemen wie der Sklaverei – häufig zu findende Schlüssel-Schloss-Prinzip: Sowohl der Wanderungsgruppe selbst, als auch der sich herausbildenden hegemonialen Gruppe, wie beispielsweise den Hohenzollern in Preußen, gereichte die Migration zum Vorteil . Die Hugenotten entflohen ihrem unsicheren Umfeld in Frankreich und genossen in den Zielorten eine Reihe von ökonomischen, kulturellen und räumlichen Privilegien – wie etwa das Leben in einer Kolonie . Die anwerbenden Kurfürsten wiederum importierten sich Innovationen: Die durch den Dreißigjährigen Krieg versäumten Fortschritte wurden durch Einwanderer wettgemacht . Sie profitierten davon, dass sie nicht umständlich alles neu und selbst erfinden mussten . Durch die Hilfe der Hugenotten waren die Herrscher in der Lage, schneller und effektiver ein neues Staatssystem aufzubauen und den protestantischen Glauben tiefer in der Gesellschaft zu verankern .

103

Überhöhung der hugenotten

protestantische Wirtschaftsethik

hugenotten ersetzen fehlende eigene innovationen

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

3.3 Der Übergang zur Moderne: Dominanz saisonaler regionaler Wanderungen

Starke interne Wanderungen

hollandgängerei

Wanderung in saisonalem rhythmus

Saisonal regional, kontinental, transatlantisch

Um 1700 waren die großen Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjährigen Krieg weitgehend ausgeglichen . Doch in den größeren Städten bestand schätzungsweise über ein Viertel der Bevölkerung aus Gelegenheitsarbeitern und Bettlern, sprich Bedürftigen (Mumford 1961: 503) . Es folgten starke interne Wanderungen, meist in angrenzende Gebiete . In den Städten selbst besaß nur eine Minderheit die vollen Bürgerrechte und konnte die damit verbundenen Privilegien auch nutzen . Reiche Zuwanderer konnten sich Bürgerrechte kaufen und verfügten so schnell über Rechte, die den einheimischen Armen nicht zugestanden wurden . In den weitgehend autonomen Teilen Europas (dies waren der Nordwesten sowie Gebiete in Süd- und Mitteleuropa) war in der Frühen Neuzeit die freie Migration die Regel – und die Regionen brachten den Migranten ein ganz unterschiedliches Toleranzverhalten entgegen (vgl . Lucassen und Lucas­ sen 2009: 21 ff .) . Für den gesamten nordwestdeutschen Raum war im 17 . Jahrhundert bis zum Anfang des 18 . Jahrhunderts insbesondere die Hollandgängerei im Nordseesystem bedeutsam . Aufgrund von spätabsolutistischen ökonomischen Strukturen auf dem Land (d . h . einer hierarchischen, auf Privilegien basierenden Gesellschaftsordnung, mit Steuerabgaben und dominiert vom Besitzerbrecht des Erstgeborenen), eines starken Bevölkerungswachstums und geringer Arbeitsmöglichkeiten waren viele Männer aus dem Nordwesten Deutschlands gezwungen, in den Niederlanden und Ostfriesland Arbeit zu suchen . Diese Männer stammten hauptsächlich aus der ländlichen Unterschicht, waren Kleinbauern, Besitzlose, Heuerleute . Die Wanderung erfolgte in einem festgelegten zeitlichen Rhythmus: Die Bauern gingen nach der Einsaat auf dem Heimathof auf Wanderschaft, verbrachten den Sommer in Holland und kamen im Herbst oder Winter zurück . Die wirtschaftlich florierenden Niederlande benötigten Erntehelfer in der Landwirtschaft, zum Heuen und für die Grasmahd, außerdem zur Torfstecherei in den Mooren . Insgesamt war zu dieser Zeit das Wanderungsgeschehen in Europa weniger durch Einwanderungen als durch die kontinentalen und überseeischen Auswanderungen geprägt . Ab ca . 1750 bis in die 1830er Jahre dominierte die kontinentale Migration nach Ost- und Südosteuropa, später die transatlantische Auswanderung . Wandernde Handwerker aus Baden, Franken, Württemberg und Vorderösterreich, Luxemburg und Lothringen zogen in den südosteuropäischen Donauraum mit Siedlungen im Banat, in der Batschka und in Siebenbürgen sowie ostwärts in die Gebiete des von Zarin Katharina II. gerade eroberten unteren Wolga-Tals nördlich des Schwarzen Meeres . Für die gern gesehenen deutschen Siedler gab es von Katha­ rina der Großen zahlreiche Privilegien an Wolga und Don: kostenfreies Land, Kredite, Steuerfreiheiten und Befreiung vom Militärdienst durch das 104

3.3 Der ÜBerGanG zur MoDerne: DoMinanz SaiSonaler reGionaler WanDerunGen

Einwanderungsdekret von 1763 (vgl . Bade 2000: 146 f ., Hoerder 2010: 39 f ., Lucassen und Lucassen 2009: 14) . Zusätzlich entstand durch die Trockenlegung von Feuchtgebieten entlang von Oder,Warthe und Neiße Platz für neue, hochproduktive Siedler (Hoerder 2010: 41) . Das 18 . Jahrhundert brachte einen starken Bevölkerungsanstieg . Es vollzog sich so etwas wie ein demographischer Spurt, der die Bevölkerung in den Ländern Europas enorm ansteigen ließ . In England, das um 1750 nur rund 5,9 Millionen Einwohner zählte, wuchs die Bevölkerung bis 1900 auf 39 Millionen an – jetzt gleichauf mit Frankreich, das über Jahre hinweg mit 25 Millionen Einwohnern das bevölkerungsstärkste Land in Europa gewesen war . Der demographische Übergang bedeutete, dass „die Familien größer wurden, weniger Kinder starben und sich der Zeithorizont von Lebensentwürfen verschob“ (Osterhammel 2009: 198) . Die kleinräumigen Wanderungen innerhalb Europas traten angesichts der sich im 19 . Jahrhundert eröffnenden Möglichkeit der Fernwanderung nach Übersee allmählich in den Hintergrund . Massenhafte Fernwanderung wurde zur charakteristischen Mobilitätsform . Auf dem Lande verarmten die Menschen aufgrund der Freisetzung von Arbeitskräften, sie wanderten in entfernte Industrie- und Bergwerksregionen nahe der Mittelgebirge, um Arbeit zu finden (als sogenannte Sachsengänger) . Das 19 . Jahrhundert selbst war eine Epoche der gesteigerten Mobilität, und die Einwanderergesellschaft kann als eine der großen sozialen Innovationen des 19 . Jahrhunderts gelten (Osterhammel 2009: 199 sowie 235) .

anwerbung von Siedlern

Bevölkerungsanstieg

land-StadtWanderungen begleiten das ende der agrargesellschaft

Sachsengänger

3.3.1 Auf in die neue Welt, auf nach Übersee! Bis etwa 1815 bot das Redemptioner-System (oder Indentur), eine Art Schuldknechtschaft auf Zeit, vielen verarmten Menschen (den sogenannten labouring poor) eine Möglichkeit der Auswanderung (Hoerder 2010: 58) . Dabei verpflichtete sich der oder die Ausreisewillige gegenüber dem Transporteur, meist dem Kapitän, freiwillig für sich und seine/ihre Angehörigen nach der Überfahrt in Amerika zu bezahlen . Einmal angekommen, blieben den Redemptionern zwei Wochen Zeit, vor Ort einen Dienstherrn zu finden, der für die verbliebenen Fahrtkosten aufkommen konnte . Die Schuldknechte wurden nach der Überfahrt in Amerika von den Kaufleuten und Reedern für fünf bis sieben Jahre an Dienstherren oder Arbeitgeber verkauft . Es gab unterschiedliche Vertragsformen, die Verträge wurden entweder schon im Auswanderungsland oder dann erst bei der Ankunft in der Neuen Welt unterzeichnet . Im Unterschied zu den Sklaven konnten die Redemptioner ihren Dienstvertrag mit dem Dienstherrn aushandeln (indentured labour (Arbeitsverpflichtung) oder indentured servitude (Schuldknechtschaft)) . Zeitweise erwiesen sich diese Arbeitskräfte als billiger als die Anschaffung von Sklaven (Brinck 1993: 26 ff .) . 105

Schuldknechtschaft

Sieben Jahre Knecht oder Magd

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Die neue Welt lockt einwanderer an

Siedler für die Kolonien

einwandererbriefe, auswandererfieber

1830–1850: ein frauenanteil von 30–40% ab 1880 ist das Siedlungsgebiet in den uSa aufgeteilt

Der langsame Niedergang des Sklavenhandels führte dazu, dass Afrika zunehmend aus den etablierten weltweiten Migrationssystemen herausfiel, das transatlantische Migrationssystem zwischen Europa und Amerika hingegen an Bedeutung gewann (Osterhammel 2009: 231) . Auf der ganzen Welt entstanden „neue transnationale Migrationstopographien“ (Bade 2000: 69), insbesondere in Europa und Asien . Die Neue Welt in Nordamerika lockte mit ihrem schier unbegrenzt scheinenden Siedlungsraum in Richtung Westen . Angesichts der Verelendung der bäuerlichen Unterschichten in Deutschland durch die Bauernbefreiung und die Einschränkungen im Zugang zur Allmende stellte die Auswanderung bis zum Einsetzen der Industrialisierung für weite Teile der Bevölkerung eine attraktive Option dar (Lambkin 2009: 41 f .) . In der Neuen Welt entstanden neue Gemeinden wie zum Beispiel Berlin oder New Melle, regelrechte Klone ihrer Ursprungsgemeinden in Deutschland (vgl . Kamphoefner 2010: 51) . Viele Redemptioner zog es an diese Orte, weil sie hofften, dort bereits ansässige Auswanderer anzutreffen (Brinck 1993: 27) . Gezielt wurden Auswanderern von Agenten Versprechungen gemacht, beispielsweise dass sie 50 Acres (ca . 200 .000 m²) Land und für die ersten Jahre eine Befreiung von den Abgaben sowie Waffen mit Munition und Gerätschaften zur Bewirtschaftung des Landes erhalten würden (Brinck 1993: 55 f .) . Die massenhaften Auswanderungen nach Übersee speisten sich aus einer Kombination von Migrationsnetzwerken, d .h . durch von den Herkunftsgemeinschaften zusammengehaltenen Kommunikationssystemen, und zirkulierenden Einwandererbriefen . Zusätzlich befeuerte eine sich etablierende Migrationsindustrie die Wanderungsdynamik und sorgte für Nachschub an Emigranten .Viele Auswanderer und Auswanderinnen aus der Unterschicht wurden durch Gerüchte über angeblich kostenlose Überfahrten und andere idealisierte Geschichten oder etwa durch gefälschte Jubelbriefe über die USA vom Auswandererfieber gepackt (Brinck 1993: 98ff, Rössler 2000: 44 f .) . In Irland führten die mehrfachen Kartoffelmissernten 1846–1848 und die durch die post-famine-adjustments veränderte soziale und ökonomische Situation zu einer massenhaften Auswanderung in die USA . Absentee landlords, die in London lebenden Hauseigentümer, kamen zu der Überzeugung, dass es billiger war, die Armen mit einem Ticket nach Nordamerika zu schicken, als sie weiterhin durch die Armenfürsorge zu unterstützen (Harzig 1999: 12) . Ungefähr seit 1840 setzen sich die deutschen Auswanderer nach Amerika aus Bauern, unterbäuerlichen Schichten sowie Handwerkern und Arbeitern zusammen . Frauen wanderten aus und verdingten sich als Dienstmädchen oder Näherinnen in den Fabriken . Doch schon um 1880 war das Siedlerland für Farmer in den USA weitgehend aufgeteilt und die Arbeit von Emigranten war vor allem in den Fabriken oder im Eisenbahnbau nachgefragt . Das Lohnniveau in Europa und in der Neuen Welt glich sich bald an . 106

3.3 Der ÜBerGanG zur MoDerne: DoMinanz SaiSonaler reGionaler WanDerunGen

foto 2: ellis island heute, hillmann 2014

In den USA selbst bildeten die Deutschen neben Italienern und Russen die stärkste Einwanderungsgruppe, vor allem in den Städten des Ostens die sich entlang einem Gürtel von New York über die ländlichen Gebiete Pennsylvanias sowie Cincinnati und Chicago bis nach St . Louis hinzogen (vgl . Hoerder 2010: 61 f .) . Durch die von Einwanderern mitgebrachten unterschiedlichen Kulturen formierten sich nach und nach zahlreiche ethno-communities . Zusammenschlüsse wie die German-Americans kultivierten eigene Bräuche und pflegten ihre in Europa erlernte Alltagskultur . Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Auswanderungswellen dieser Zeit sollte man im Hinterkopf behalten, dass die Statistiken zwar die Aus- bzw . Einwanderungen in die USA erfassten, nicht aber den hohen Anteil an Rückund Weiterwanderungen registrierten . Sie machten wohl rund ein Viertel der ehemaligen Auswanderer aus (Kleinschmidt 2011) . Auch waren die Rückwanderungsraten der Frauen wahrscheinlich geringer als bei den Männern, eventuell weil sie in Amerika auf egalitärere Geschlechterrollen hoffen durften (es gab dort beispielsweise keine Mitgift) . Die deutsche Massenauswanderung nach Übersee im 19 . Jahrhundert zeigte Wanderungsspitzen von insgesamt mehr als einer Million Auswanderern in den Jahren um 1854, zwischen 1862 und 1873 sowie zwischen 1883 bis 1893 . Sie umfasste insgesamt rund fünf Millionen Personen (Lampkin 2009: 39) . Das Auswanderungsland Deutschland verabschiedete das erste Staatsangehörigkeitsrecht 1871 . Es untersagte die Emigration nicht, knüpfte sie aber an Bedingungen wie beispielsweise die Bezahlung eines Stempelgeldes 107

Ethno-communities an der ostküste German Bräuche

ein Viertel rückwanderer

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Stempelgeld zum erhalt der Staatsbürgerschaft

regionale Muster der auswanderung

Südwesten, nordwesten, nordosten

zwecks Erteilung von Ausweispapieren . Die Emigranten mussten sich im Aufnahmeland registrieren lassen, sonst verloren sie die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl . Kleinschmidt 2011: 177 f .) . Im 19 . Jahrhundert erfolgten die Migrationsbewegungen in einem bestimmten regionalen Muster: Bis 1865 war der Südwesten Deutschlands, geprägt durch Realteilung und Klein- und Kleinstwirtschaft, eines der wichtigsten Herkunftsgebiete der überseeischen Auswanderungen . Um 1860 wuchsen dann die Anteile der westlichen und nordwestlichen Regionen an den großen Auswanderungsbewegungen . Zwischen 1865 und 1895 lag der räumliche Schwerpunkt der Auswanderung schließlich auf den ländlichen Regionen im Nordosten des Deutschen Reiches . Tagelöhner, Heuerleute und Dienstboten überwogen – die Wanderungen fanden jetzt weniger im Familienverband, sondern individuell statt: Sie versorgten den in den Städten Amerikas entstehenden sekundären und tertiären Sektor mit Arbeitskräften (Bade 2000: 148 f ., Lambkin 2009: 39) . In Scharen ausgewandert wurde immer dann, wenn es konkrete Anlässe in der Heimatregion gab: Missernten durch Kälte, Nässe, Trockenheit oder Schädlinge; bei durch die Herrschaften leergejagten Wäldern bei gleichzeitigem Jagdverbot für die Bauern; bei einer Einschränkung der Allmende und wenn es gleichzeitig Aussicht auf bessere Chancen woanders gab (Brinck 1993: 138 f .)

individualisierung der Wanderung

Eine deutliche Individualisierung der Wanderungen erfolgte am Ende des 19 . Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg: Nun wanderten besonders alleinstehende Frauen und Männer aus allen Teilen des Deutschen Reiches aus . Exkurs: Hafenstädte als Katalysatoren der Migration Das Aufkommen der Dampfschifffahrt verstärkte die massenhafte Auswanderung . Für viele Reeder, etwa in Bremen und Hamburg, bedeutete die Verschiffung von Auswanderern einen attraktiven Geschäftszweig . Allein von Bremerhaven emigrierten zwischen 1880 und 1914 knapp fünf Millionen Menschen . Es entstand eine regelrechte Migrationsindustrie, die den Reedern, den Transitorten und den Migranten selbst entgegen kam . Lange beschäftigte die Reeder das Problem, dass sie mit ihren Schiffen mit zu wenig Fracht nach Übersee aufbrechen mussten . Um das Schiff stabil auf Kurs zu halten, brauchte es Ballast . Es bot sich an, anstelle von Fracht Auswanderer in die USA zu exportieren . Die Schiffe brachten dann von

Der transport von Menschen als Geschäft für reeder und transitorte

108

3.4 MiGrationSpolitiK in DeutSchlanD: inDuStrialiSierunG unD KaiSerreich

dort Tabak und Baumwolle zurück nach Deutschland (vgl . Knauf/ schröder 1993: 16, Dünzelmann 2001: 273) . Für Reeder wie Hapag-Lloyd und Ballin in Hamburg bedeutete der Transport von Auswanderern einen Handelsvorteil, durch den sie ihre Geschäfte zusätzlich absichern konnten . Gewöhnlich wurde Fracht erst bei erfolgreicher Zustellung bezahlt; Fahrkarten hingegen mussten schon vor der Überfahrt von den Passagieren in Vorleistung gekauft werden . Die auf diese Weise zusätzlich erzielten Gewinne ermöglichten niedrigere Preise für die Verschiffungen und waren außerdem dem Ausbau der eigenen Marktposition dienlich . Die zusätzlich fließenden Gewinne befeuerten wiederum die Industrialisierung in den Hafenstädten . Die einflussreichen norddeutschen Handelshäuser besaßen Filialen in den USA, wo Kaufleute und Emigranten vorübergehend arbeiteten . Auch die Auswanderungsstädte selbst sorgten nach und nach für einen möglichst sicheren und reibungslosen Ablauf der Wanderungen, indem sie in einigen Stadtteilen besondere Dienstleistungen wie Herbergen und Fuhrmannsgasthöfe vorhielten (Dünzelmann 2001: 273) .

auswanderer anstelle von Ballast

Stadtteile bieten Dienstleistungen

3.4 Migrationspolitik in Deutschland: industrialisierung und Kaiserreich Bis heute beziehen sich die Geschichte der „Ausländerpolitik“ und der Regulierung von Migration in Deutschland aufeinander . Sie sind von Brüchen gezeichnet, die ihren Ausgang im späten 19 . Jahrhundert nahmen . Die Art und Weise, wie die Migrationen abliefen, wie sie von den Machthabenden in dieser Zeit bewertet wurden und wie der Migrationsprozess an sich immer wieder einen kleinen Profit für die beteiligten individuellen Akteure abwarf, lässt Rückschlüsse auf die soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft insgesamt zu .Tatsächlich griffen die Behörden im 19 . Jahrhundert bei der Anwerbung von Arbeitskräften auf das durch die Hugenottenwanderung erworbene Know-how zurück (vgl . Klingebiel 2006: 16) . Während des Kaiserreichs geschah dann etwas auf den ersten Blick Paradoxes: Deutschland blieb Auswanderungsland und wurde zugleich „Arbeitseinfuhrland“ . In der Landwirtschaft herrschte „Leutenot“, in der Industrie „Arbeiternot“ (Bade 1992: 311) . Diese Widersprüchlichkeit erklärt sich im Kontext der regionalen Entwicklung . Einmal abgesehen von den Auswanderungswellen nach Übersee dominierte in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts die saisonale Einwanderung von Ost nach West . Der Preisverfall für Korn und die inzwischen mögliche Mechanisierung der Landwirtschaft veranlassten viele Großgrundbesitzer dazu, auf den Anbau von Zuckerrüben umzustellen . Für diese arbeitsintensive Felderwirtschaft beschäftigten die Großgrundbesitzer „Ruhrpolen“ (die der Staatsangehö109

ausländerpolitik: Kontinuität und Brüche

auswanderungsland und „leutenot“

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

ruhrpolen für die feldarbeit

Vier parallele Dynamiken

rigkeit nach Inländer waren) aus Zentralpolen und Galizien (im Grenzgebiet Österreich-Ungarn) . Außerdem erfolgte ein Import von Migranten zur Arbeit in den Bergwerken im Ruhrgebiet . In Preußen dienten russische „Kongresspolen“ als saisonale Landarbeiter in der Landwirtschaft . Sie waren billiger und anspruchsloser als die einheimischen Arbeitskräfte und konnten bei Auseinandersetzungen außerdem einfach als „lästige Ausländer“ aus dem Reich abgeschoben werden . Der einsetzende Umbruch der Agrargesellschaft hin zu einer Industriegesellschaft bedeutete die Umwandlung der territorialen Organisation, weg von der Agrarbewirtschaftung in Richtung der Erfordernisse der internationalen Märkte und der Industrie .Vier parallel ablaufende, doch eng miteinander verwobene Dynamiken wirkten sich in diesem Umbruch auf die Migrationen aus: erstens die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten (= die soziale Frage), zweitens die ungeklärte Landarbeiter- bzw . „Polenfrage“, drittens der in dieser Zeit virulente Nationalitätenkampf und viertens die Herausbildung des bürgerlichen Rechts und des Ausländerrechts . Die soziale frage

zentren und peripherien verschieben sich

Im 19 . Jahrhundert kam es überall in Europa zu Verschiebungen in der Bevölkerung . Die Bauernbefreiung, d .h . die Entbindung der Menschen von der Leibeigenschaft, hatte bis um 1900 den größten Teil der Bauern in Europa zu gleichberechtigten Staatsbürgern mit allen Rechten gemacht und gleichzeitig zu Steuer- und Pachtzahlern (Osterhammel 2009: 1001 f .) . In Deutschland trieben das Bergwerkgewerbe, die Fabriken und der Eisenbahnbau seit der Mitte des 19 . Jahrhunderts die Industrialisierung voran, das Handwerk verlor an Bedeutung (Sennett 2009) . Politisch ruhte die soziale und räumliche Transformation auf der Abschaffung von Zünften und auf der Durchsetzung eines freien Marktes für Arbeitskräfte, außerdem dem gesteigerten Verkauf von Waren . Die europäischen Länder hielten sich ihre Kolonien einerseits als Rohstoffquelle für die eigene Produktion, andererseits als Absatzmärkte für die eigenen Produkte (Mumford 1961: 521) . Die Welt unterteilte sich relativ stabil in Zentren und Peripherien . Doch gerade in den Zentren änderte sich durch die wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen das regionale Gefüge, die Hierarchien und Handlungsspielräume der Regionen zueinander verschoben sich . Das entstandene hohe Mobilitätsvolumen richtete sich in erster Linie auf die Städte, in denen sich die rasch expandierenden Leitsektoren der Industrialisierung (erst die Textilindustrie, dann der Bergbau und die Schwerindustrie, später Chemie- und Elektroindustrie) befanden . In den Ballungsräumen kam es zu einem Wanderungsumschlag von bis zu 30 % (vgl . Oltmer 2010: 23) . In den Industriestädten selbst wirkte sich die Fabrikarbeit auf alle Lebensbereiche der Menschen aus . Lange Arbeitszeiten, eintönige Arbeit, niedrige Löhne und die Ausnutzung von Kinderarbeit trugen zur Herausbildung eines Proletariats in den Städten bei . Es hauste 110

3.4 MiGrationSpolitiK in DeutSchlanD: inDuStrialiSierunG unD KaiSerreich

in menschenunwürdigen Zuständen . Anders als zuvor konnten die Arbeiter nicht mehr auf selbst erzeugtes Obst und Gemüse aus dem Garten zurückgreifen . Sie lebten ganz und gar in Abhängigkeit von der Stadt . Die Bevölkerung konzentrierte sich in den Kohlerevieren entlang der neuen Eisenbahnlinien, dort wo sich auch die neue Schwerindustrie angesiedelt hatte . Im Hinterland dagegen nahmen die Bevölkerungszahlen und die gewerbliche Produktion ab (Mumford 1961: 530 f .) .

abgeschnitten von der Selbstversorgung

Die weitgehende Abschaffung des Handwerks machte den Weg für die standardisierte Massenherstellung frei, die mit ihren Fabrikaten allmählich in alle Bereiche des Lebens vordrang . Jetzt erst garantierte die Anbindung an Versorgung und Markt den Menschen die eigene Existenz, und sie waren deshalb vollkommen auf den Ausbau der Transport- und Verkehrswege, auf mehr Mobilität, angewiesen .

Die landarbeiterfrage

Insbesondere in Preußen traten die Differenzen zwischen den Agrargebieten und den aufsteigenden Industriestädten deutlich zutage . Die Landbesitzer setzten immer stärker auf den rentableren Anbau von Hackfrüchten (z .B . Kartoffeln und Zuckerrüben) zu Ungunsten des Getreideanbaus – was mit einer körperlich viel anstrengenderen Feldarbeit verbunden war . Die bis dahin übliche Selbstversorgung der Bevölkerung, unter anderem die Hausweberei, wurde eingeschränkt, was wiederum die Abhängigkeit der Landbevölkerung von den Märkten und von einer Beschäftigung beim Junker erhöhte . Ebenfalls wurde von den Dorfoberen die Errichtung weiterführender Schulen auf dem Lande vermieden . Sie befürchteten eine Abwanderung der dann besser Gebildeten; Hoffnung auf ein besseres Leben sollte erst gar nicht aufkeimen . Die einheimischen Arbeitskräfte wanderten deshalb vor allem aus den ostdeutschen Agrargebieten nach Westen weiter, wo sie im Akkord mehr verdienen konnten . Den Agrariern im Osten Deutschlands blieb nichts anderes übrig, als in großem Stile zugewanderte Arbeitskräfte aus Polen herbeizuholen . Im Sommer wurden diese Zuwanderer zur Feldarbeit als „Kartoffelbuddler“ gebraucht (Weber 1892: 803 f .) . Im Winter, wenn es nur einige Arbeiter für die Viehversorgung und die Dungausfuhr brauchte, entließen die Großgrundbesitzer sie wieder . Die Agrarier bevorzugten systematisch „Ausländer“ für die Landarbeit, weil diese längere Arbeitszeiten in Kauf nahmen und sich auch mit geringeren Löhnen zufrieden gaben . Max We­ ber, der große Soziologe, schrieb seine Habilitation über „die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ . Er fasste die Vorteile der Wanderarbeiter für den Agrarbesitzer in deutlichen Worten zusammen: Die Wanderarbeiter sind anspruchsloser, billiger, sie essen weniger, sie arbeiten 111

Keine Bildung für alle

Wanderarbeiter

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

länger und vor allem nur zu den Zeiten, zu denen man sie tatsächlich brauchte . Man musste für sie auch keine weiteren Verantwortlichkeiten in Kauf nehmen (vgl . Weber 1892: 918) . Die nationalitätenfrage und die einführung des Staatsbürgerrechts

Die polenfrage

legimitationszwang, rückkehrzwang, Karenzzeiten

Der lästige ausländer

rechtsstaatlichkeit vs. polizeistaatlichkeit

Das ausgehende 19 . Jahrhundert war eine Zeit des Ringens um den einzuschlagenden gesamtgesellschaftlichen Kurs Deutschlands . Die Junker auf dem Land stellten sich den absehbaren Veränderungen entgegen, da sie um ihre Privilegien fürchteten . Die meisten waren überschuldet und hielten wenig von einer demokratisch aufgebauten Gesellschaft, noch viel weniger von einer Sozialdemokratisierung . Sie brauchten die billigen Wanderarbeiter zur Bestellung ihrer Felder . Die stete und wachsende Inanspruchnahme von Polen, von Hofgängern, zur Bewältigung der landwirtschaftlichen Arbeiten (Weber 1892: 838) und die damit verbundene Abhängigkeit von diesen Arbeitskräften stand in krassem Widerspruch zum ebenfalls virulenten politischen Nationalitätenkampf, der sich gegen die Herausbildung eines bereits aufkeimenden polnischen Nationalstaates richtete . Die Wanderarbeiterfrage implizierte die Polenfrage . Damit sich die stete Zuwanderung aus dem Osten nicht zu einer dauerhaften Einwanderung verfestigte, entwickelte Preußen ab den 1890er Jahren ein System der Auswandererkontrolle . Es enthielt einen Legitimationszwang, einen Rückkehrzwang und Karenzzeiten, d . h . zwangsweise Beschäftigungsverbote . Frauen und Männer arbeiteten in Arbeitskolonnen, eine Schwangerschaft bedeutete die Ausweisung, die Arbeitnehmer (der Frauenanteil betrug 50 %) waren auf den jeweiligen Arbeitgeber festgelegt (Bade 1992: 314 f .) . Bei dem schließlich 1871 eingeführten Staatsbürgerschaftsrecht handelte es sich um ein zutiefst widersprüchliches Prinzip . Es sicherte dem Staat das Recht zu, unliebsame oder einfach nur verleumdete Bürger auszuweisen . Es reichte, dass man sie als „lästige Ausländer“ verurteilte . Zwei Handlungslogiken prallten aufeinander: Rechtsstaatlichkeit und Polizeistaatlichkeit . Während die Rechtsstaatlichkeit an die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebunden war, verfuhr die Polizeistaatlichkeit nach ordnungsrechtlichen Prinzipien – eine widersprüchliche Handlungslogik, die sich bis heute im Umgang mit Migranten finden lässt .

112

3.5 Die erSte hälfte DeS 20. JahrhunDertS: SySteMatiSierunG, Kontrolle, erMorDunG

3.5 Die erste hälfte des 20. Jahrhunderts: Systematisierung, Kontrolle, ermordung Der Erste Weltkrieg leitete eine Periode intensiver Flucht- und Zwangsbewegungen in Europa ein, die bis Mitte des 20 . Jahrhunderts andauerten . Durch die Mobilmachungen in den Kriegen sank in Deutschland jeweils die Produktion . Massenentlassungen und -arbeitslosigkeit waren die Folge . Wiederkehrende Versorgungskrisen und die gleichzeitige Rekrutierung von Arbeitskräften für das Militär machten den Import von Arbeitern notwendig – wie im Kaiserreich entstand wieder ein Nebeneinander von Unterbeschäftigung und Arbeitskräfteimport . Zusätzlich hatte das kriegsführende Deutsche Reich von 1914 bis 1918 rund 2,5 Millionen Kriegsgefangene zu versorgen . Die Probleme bei der Unterbringung,Verpflegung und Bewachung führten dazu, dass man die Gefangenen von privaten Unternehmern beschäftigen ließ und Gefangene aus unterschiedlichen Herkunftsländern verschiedenen Branchen mit Arbeitermangel zuwies (Herbert 2003: 88 ff .) . Diese Zwangsarbeit lohnte sich erst, wenn sie in großem Stil betrieben wurde: Die Administration musste Schritt halten können mit der Organisation dieser vielen Menschen . In der Weimarer Republik verdichtete sich die Verrechtlichung und Verstaatlichung des Arbeitsmarktes und der Ausländergesetzgebung . Durch die neuen Instrumente Anwerbung und Abschiebung verfügte der Staat nun über weitreichende Kompetenzen . Das Inländerprimat, d .h . die Bevorzugung von Arbeitskräften mit deutscher Staatsbürgerschaft, wurde gesetzlich festgeschrieben . Polizei und Verwaltung kontrollierten die Anwerbung und Beschäftigung von Ausländern jetzt systematisch . Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die Ausländerbeschäftigung zahlenmäßig zwar ein Randphänomen, doch waren Verrechtlichung und Zentralisierung als willkommene Kontrollinstrumente der Arbeitsmarktsteuerung vorangeschritten . Dazu gehörte die genaue statistische Erfassung der ausländischen Bevölkerung . Hierzu riefen die Verwaltungen im August 1938 die Ausländerzentralkartei ins Leben, den Vorläufer des heutigen Ausländerzentralregisters (AZR) . Die Karteiverwaltung arbeitete eng mit den Sicherheitsbehörden und den damals sogenannten Abwehrstellen zusammen . Durch die Ausländerbeschäftigung ergab sich ein gesellschaftlicher Widerspruch: Wies Deutschland durch die große Zahl an Ausländern nun noch eine homogen deutsche Bevölkerung auf? Barg die Zuwanderung von Arbeitskräften nicht „blutliche Gefahren“ durch das „Fremdvölkische“? – wie es in der Naziterminologie hieß . Konnte Deutschland eigentlich noch ohne die Arbeitskräfte aus dem Ausland, aus eigener Kraft, existieren? Das Naziregime reagierte auf diesen faktischen Widerspruch mit einer pronatalistischen, d . h . geburtenfördernden, Politik für die einheimische Bevölkerung (vgl . Kap . 2 .3 .) und mit einer gezielten kollektiven Ausblendung und Abwertung der eingewanderten (Arbeits-)Bevölkerung . 113

ein nebeneinander von unterbeschäftigung und arbeitskräfteimport

inländerprimat

ausländerzentralkartei

Geburtenkontrolle

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Der „poleneinsatz“

Der „russeneinsatz“

Deutschland kann Krieg führen, weil es zwangsarbeiter gibt

Verfolgung und ermordung

Der Staat und seine Bürokratie hatten aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gelernt . Frühzeitig und langfristig geplante Maßnahmen für den Einsatz der ausländischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft wurden ab 1937 vorbereitet, ein Masseneinsatz war nicht geplant . Ab 1939 wurde dem Arbeitskräftemangel zunächst durch die Verstärkung der Arbeitsbelastung bei der einheimischen Bevölkerung begegnet . Mehr einheimische Frauen wurden zur Arbeit in den Rüstungsbetrieben eingesetzt (auch wenn dies dem nationalsozialistischen Mutterideal widersprach) . 1940 erfolgte der massenhafte Einsatz von polnischen Arbeitskräften im „Reich“ dann per Anordnung: Eine Million polnische Arbeiter, davon 75 % für die Landwirtschaft, darunter 50 % Frauen, wurden, teils zwangsweise, rekrutiert . Die Polen hatten die höchsten Leistungen zu erbringen, sie erhielten dafür die niedrigsten Löhne, wurden von der deutschen Bevölkerung separiert untergebracht und mit einem „P“ auf der Kleidung gekennzeichnet . Anknüpfend an die schon im Kaiserreich erfahrene Diskreditierung galten sie als „rassisch unterlegen“ . Wie auch die Juden durften sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, nicht Fahrrad fahren, keine Schwimmbäder oder „einheimischen“ Veranstaltungen besuchen . Sogenannte Polenerlasse regelten alles bis ins kleinste Detail (Herbert 2003: 134 ff .) . Nach dem „Poleneinsatz“ folgte nach dem Überfall auf die Sowjetunion der „Russeneinsatz“ mit entsprechend schlechter Behandlung, maximaler Ausbeutung und Todesstrafe auch bei geringen Vergehen . Die Beschaffung von „Ostarbeitern“ wurde regional delegiert: Die einzelnen Regionen hatten Pflichtkontingente zu stellen, ganze Jahrgänge wurden zwangsverpflichtet, Menschen wurden auf offener Straße oder bei Festen herausgegriffen und millionenfach zwangsrekrutiert . Nur durch die Beschäftigung der ausländischen Bevölkerung war es Deutschland möglich, gleichzeitig Krieg zu führen und die Versorgung der einheimischen Bevölkerung sicherzustellen . Die deutsche Bevölkerung empfand den Einsatz von Fremdarbeitern nicht als problematisch oder gar illegitim . Sie zeigte angesichts der eigenen Nöte wenig Interesse am Schicksal der Zuwanderer (vgl . Herbert 2003: 187 f .) . Die Juden und die stigmatisierten Gruppen wanderten – solange dies bis 1937 noch möglich war – massenhaft aus . Die Gesamtzahl der aus Deutschland emigrierten Juden wird auf 280 .000 Menschen geschätzt, hinzu kommen zahlreiche Minderheiten und politisch Verfolgte (Oswalt und Schmelz 2012) . Ab 1941 wurden die stigmatisierten Gruppen in Eisenbahnwaggons zur Ermordung geschickt . Die Errichtung von Lagern ging der physischen Vernichtung voraus . 3.5.1 Kapitulation: Flüchtlingsströme und Barackenlager Nach der Kapitulation Deutschlands am 8 . Mai 1945 und der Teilung Deutschlands in die zwei Staaten Bundesrepublik Deutschland und Deut114

3.5 Die erSte hälfte DeS 20. JahrhunDertS: SySteMatiSierunG, Kontrolle, erMorDunG

sche Demokratische Republik war die deutsche Gesellschaft sprichwörtlich „unterwegs“: Soldaten kehrten aus dem Krieg und aus der Gefangenschaft zurück, evakuierte Familien zogen zurück in die Städte, Kinder kamen aus den Kinderlandverschickungslagern nach Hause . Flüchtlingsströme aus Osteuropa dominierten das Migrationsgeschehen . Die Überlebenden aus den Konzentrationslagern kamen nach Deutschland (zurück) und machten einen Großteil der zehn bis zwölf Millionen Displaced Persons (DPs) aus . Internationale Hilfsorganisationen und die alliierten Besatzungsmächte sammelten diese DPs und brachten sie in ihre Heimatländer zurück, oft zwangsweise (Oltmer 2010: 45 ff .) . Bis Ende 1946 ging die Zahl der DPs zurück . Viele entschlossen sich angesichts der in den osteuropäischen Ländern eingeführten sozialistischen Staatsapparate dazu, im Westteil Deutschlands zu bleiben . Tausende hatten in der Heimat keine Verwandten mehr oder waren krank . Sie blieben mit ihrem Schicksal sprichwörtlich „Draußen vor der Tür“:

unterwegs, vielleicht zurück nach hause

„TOD: na ja, ich hab in diesem Jahrhundert ein bißchen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut. Ein Krieg gibt dem anderen die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden dieses Jahrhunderts.Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit“ (Borchert 1947, Ausgabe von 2009: 121)

Die 1947 gegründete IRO (International Refugee Organization) führte Rücksiedlungsprogramme durch . Das am 25 .04 .1951 erlassene „Gesetz über die Rechtstellung heimatloser Ausländer“ stellte die Flüchtlinge im Vergleich zu den internationalen Flüchtlingen zwar besser, aber nicht mit den deutschen Flüchtlingen gleich . Auch die bei den Bombenangriffen evakuierten Menschen, die Ausgebombten, kehrten an ihre zerstörten Herkunftsorte zurück . Hinzu kam die Entlassung der Kriegsgefangenen auf Grundlage der wieder aufgenommenen diplomatischen Beziehungen, erst aus den amerikanischen und zuletzt aus den sowjetischen Lagern . Nach dem Krieg machten sich rund 14 Millionen „Reichsdeutsche“, meistens aus Gebieten jenseits von Oder und Neiße, auf den Weg nach Westen . Sie waren auf der Flucht vor der Wut und den Racheaktionen der Bevölkerung in den ehemaligen Ostgebieten . Der Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung lag 1947 in den verschiedenen Besatzungszonen unterschiedlich hoch (in der sowjetischen Besatzungszone bei einem Viertel, in der amerikanischen Zone bei 17,7 Prozent, in der britischen Zone bei 14,5 Prozent, die französische Zone weigerte sich anfangs, Flüchtlinge aufzunehmen) . Die einheimische sesshafte Bevölkerung empfand die Flüchtlinge als „Störenfriede“, man errichtete Flüchtlings- und Durchgangslager für sie (Oltmer 2010: 50) . Bis zum Ende der 1950er Jahre wurden zusätzlich zahlreiche Umsiedlungs115

iro International Refugee Organization

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Wirtschaftsaufschwung

Der Mauerbau stoppt die Wanderungen von ost nach West

programme durchgeführt, eine Auswanderung aus Deutschland war bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1947 verboten . Im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland gab es für die Flüchtlinge nur in der Landwirtschaft Arbeit und im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs dann lediglich in statusniedrigen Berufen . Der wirtschaftliche Aufschwung setzte unter anderem durch die amerikanischen Finanzhilfen, insbesondere den Marshallplan, und durch die erneute Ausweitung des Außenhandels ein . Flüchtlinge und Vertriebene füllten bis dahin die Lücken auf dem wachsenden Arbeitsmarkt . Mancherorts waren sie in den Barackenlagern der vormaligen Fremd- und Kolonnenarbeiter untergebracht, die einheimische Bevölkerung reagierte immer wieder mit Ressentiments gegen die „Fremden“ . Anfang der 1960er Jahre gab es verschiedene Gründe dafür, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht im Inland gedeckt werden konnte . Durch den Mauerbau versiegten die Übersiedlerwanderungen aus der DDR nach Westdeutschland endgültig, die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge traten auf den Arbeitsmarkt, eine abgesenkte Rentengrenze und verlängerte Ausbildungszeiten taten ihr Übriges . Wollte man den Aufschwung nutzen, so brauchte man schnell und möglichst ohne weitere langwierige gesellschaftliche Veränderungsprozesse Arbeitskräfte! 3.6 Gastarbeiter für den Boom: willkommene lückenfüller

Diskriminierung von frauen durch leichtlohngruppen und Beschäftigungsverbote

In den seit Mitte der 1950er Jahre laufenden Vorbereitungen zur Anwerbung von ausländischen Arbeitern spielten lohnpolitische Überlegungen eine wichtige Rolle . Das Wirtschaftsministerium und die Industrie wollten keine Lohnzugeständnisse an die Arbeitnehmer machen . Die Gewerkschaften wiederum strebten nach einer arbeitnehmerfreundlichen Politik und forderten eine Eindämmung der Praxis von Überstunden durch die Einführung der 40-Stunden-Woche (Herbert 2003: 203) . Eine stärkere Einbindung der Frauen in den Arbeitsmarkt war politisch nicht gewünscht, denn dies hätte unmittelbar einen Ausbau der Betreuungsinfrastruktur nach sich gezogen und außerdem das politisch favorisierte sogenannte männliche Alleinernährermodell mit seinen traditionell hohen Löhnen in Frage gestellt . Die vorhandene Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt (hauptsächlich durch Leichtlohngruppen oder überhaupt durch das Beschäftigungsverbot für verheiratete Frauen) hätte aufgehoben werden müssen . Es war die Zeit der starken Systemkonkurrenz: BRD und DDR wetteiferten darum, wer die fortschrittlicheren Sozial- und Arbeitsmarktsysteme zu entwickeln vermochte, welches System den größeren Wohlstand für seine Bevölkerung hervorbringen würde . Die Wirtschaft legte zwischen 1950 und 1953 um 8,6 Prozent zu . Dies basierte vor allem auf den industriell gefertigten Exportgütern (Oltmer 116

3.6 GaStarBeiter fÜr Den BooM: WillKoMMene lÜcKenfÜller

2012: 9) . Um den nun entstehenden riesigen Bedarf an Arbeitskräften zu befriedigen, schloss die Bundesrepublik Deutschland in den Jahren von 1955 bis 1968 eine Reihe von Anwerbeabkommen mit südeuropäischen Mittelmeeranrainerländern . Eine Anwerbung aus nicht-europäischen Ländern erfolgte nur vereinzelt (Schönwälder 2001) . Nicht nur die Anwerbeländer versprachen sich einen Profit von der Rekrutierung der Arbeitskräfte, auch die Regierungen der Gastarbeitsländer waren an der Abwanderung ihrer Bevölkerung interessiert . Denn in den ärmeren, ländlichen Regionen bestand ein Überangebot an Arbeitskräften . Von den zu erwartenden zukünftigen Rimessen erhofften sich die Regionalpolitiker zusätzlich eine Stabilisierung dieser Regionen . Mancherorts traf dies dann auch tatsächlich ein (vgl . Schrettenbrunner 1970 zu Kalabrien) . Deutsche Institutionen und arbeitskräftesuchende Unternehmen trieben die Anwerbung aktiv voran . Die Agentur für Arbeit (seinerzeit noch „Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“) eröffnete dazu eigens Außenstellen in den Auswandererregionen .Vor Ort prüfte die Bundesanstalt, wer für eine Ausreise in Frage kam . Gelegentlich warben Mitarbeiter der Unternehmen selbst während ihrer Heimaturlaube weitere Arbeiter an . Die privaten Agenturen waren auf einen schnellen Gewinn aus, die Einwanderung war unkontrolliert und unorganisiert, die Unterkünfte für die angeworbenen Arbeiter ärmlich bzw . unzumutbar (Rist 1980: 61 f .) . Der heute 60-jährige Sohn eines türkischen Auswanderers aus Bremerhaven erinnert sich:

Geringe außereuropäische anwerbung

Überangebot an arbeitskräften

Direkte anwerbungen

„Es war Winter und wir sind mit zwölf Mann in einem VW-Bus eingereist . Außer meinem Vater kannte ich diese Männer nicht . Mein Vater hat zu der Zeit schon hier in Deutschland gearbeitet und hatte mich einfach mitgenommen . Die anderen Personen waren wohl seine Arbeitskollegen, die zuvor in der Türkei Urlaub gemacht hatten . Der Bus gehörte dem Dolmetscher der Firma . Er hatte die Angestellten in die Türkei in den Urlaub gefahren und auf dem Rückweg zusätzliche Arbeiter, wie mich, mitgebracht .“ (Hillmann 2010: 33)

Die Bundesrepublik Deutschland schloss die ersten Anwerbeabkommen mit Italien (1955, 1965) und setzte die importierten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft Baden-Württembergs ein . 1960 folgten Anwerbeabkommen mit Spanien und Griechenland, 1961 und 1964 mit der Türkei, 1963 (sowie 1966 und 1971) mit Marokko, 1964 bzw . 1965 mit Portugal bzw . Tunesien und 1968 schließlich mit Jugoslawien . Diese bilateralen Verträge formalisierten die vormals irregulären Migrationen (Schrettenbrunner 1970: 21, Berlinghoff 2013) . Wiederholt bestanden seit 1963 kurzfristige 117

zahlreiche anwerbeabkommen 1955–1968

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Anwerbeabkommen für Arbeitnehmer aus Korea, die zur Arbeit im Bergbau oder aber als Krankenpflegerinnen angeworben wurden (Kim 1998, zit . nach Schubert 2006), wie auch aus den Philippinen . Die jungen Frauen und Männer für die Industriearbeit wanderten vornehmlich aus ländlichen Regionen wie Andalusien, Anatolien oder Kalabrien aus . Sie entstammten fast immer armen Haushalten und waren ungebildet . Für viele italienische Gastarbeiter stellte die Wanderung ins Ausland schon die zweite Etappe dar . Zuvor waren sie bereits vom Land bzw . aus den peripheren Regionen in die großen Städte des Landes ausgewandert .

aufwärtsmobilität für die einheimischen arbeiter

Migration wirkt systemerhaltend

Gewerkschaften, Kirchen und Sozialverbände gegen die rotation

Die Verteuerung des Ölpreises, der sogenannte Ölpreisschock 1973, brachte die erdölbasierte Industrie in Deutschland ins Stocken . In dieser Krise wirkten diese Arbeitskräfte als Konjunkturpuffer: Die Ausländerbeschäftigung ging jeweils dann zurück, wenn die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung lahmte (vgl . Oltmer 2010: 53 f .), die Migranten fungierten als „Reservearmee“ (vgl . Kapitel 2 .5) . In der Bundesrepublik selbst, nach innen, wirkten sich die zugewanderten Arbeitskräfte auf die Position der einheimischen Beschäftigten aus . Denn sie erfuhren dadurch, dass die Gastarbeiter die 3D-Jobs (dirty, dreadful, dangerous) übernommen hatten, selbst soziale Aufwärtsmobilität . Eine einheimische Arbeiterschicht, die sonst ohne Aussicht auf Beförderung war, stieg ökonomisch und sozial auf . Gastarbeiter besetzten die untersten Ränge des Arbeitsmarktes . Die Unternehmen zogen handfeste finanzielle Vorteile aus der Gastarbeiterbeschäftigung: Die Einwanderer nahmen nicht an der betrieblichen Altersvorsorge teil, sie feierten keine kostspieligen Arbeitsjubiläen und brauchten noch keine Erholungskuren, denn sie waren ganz überwiegend im besten Erwerbsalter zwischen 18 und 45 Jahren (Herbert 2003: 210) . Die Beschäftigung von Ausländern wirkte systemerhaltend und modernisierungsverzögernd: Eigentlich rationalisierbare Arbeitsplätze wurden nicht abgebaut, sondern gehalten, technologische Neuerungen aufgeschoben . Die Strukturkrise der 1980er Jahre mit ihren Massenentlassungen traf dann genau diese Arbeitnehmer am stärksten . Mit der ersten Rezession 1966/67 kehrten viele Gastarbeiter wieder in ihre Herkunftsländer zurück . Die Arbeitgeberverbände verfolgten das „Rotationsprinzip“ . Dadurch hielt man die allgemeinen Infrastrukturkosten für die ausländischen Arbeitnehmer möglichst gering und schloss einen Daueraufenthalt aus . Dieses Vorgehen entpuppte sich für die Unternehmen bald als Nachteil, denn einmal eingearbeitete Arbeitskräfte mussten rasch wieder gehen . Gewerkschaften, Kirchen und Parteien widersprachen dem Rota118

3.6 GaStarBeiter fÜr Den BooM: WillKoMMene lÜcKenfÜller

tionsprinzip dagegen in erster Linie aus ethischen und sozialen Gründen (Rist 1980: 113 f .) . Eine öffentliche Debatte darüber, ob und wie viele Arbeitskräfte nach Deutschland geholt werden sollten und wie sich eine solche Einwanderung auf den Arbeitsmarkt und auf die Gesellschaft auswirken könnte, fand in den 1960er Jahren nicht statt (Herbert 2003: 208, Schönwälder 2001) . In Folge lebten die Gastarbeiter auf Abruf in Deutschland, sie schickten ihre Ersparnisse in die Heimat zurück, sie verzichteten auf Konsum und Freizeit vor Ort und organisierten sich zunächst nicht gewerkschaftlich . Anfang der 1960er Jahre lebten zwei Drittel der Gastarbeiter in Gemeinschaftsunterkünften mit niedrigen hygienischen Standards – eine Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft fand nicht statt, war auch nicht erwünscht . Erst das Ausländergesetz von 1965 hob die Erlasse aus der Vorkriegszeit auf, doch es verkörperte ein rigides Arbeits- und Aufenthaltsrecht für Ausländer aus Nicht-EWG-Staaten (Herbert 2003: 211) . Abb . 12 zeigt die Wanderungssalden nach (West-)Deutschland seit 1950 . Bis 1969 bilden die angeworbenen Italiener die größte Einwanderungsgruppe, gefolgt von Spaniern und Griechen . Ab 1971 machen die Türken den größten Anteil der ausländischen Wohn- und Erwerbsbevölkerung aus . Wiedervereinigung 1990 Asylkompromiss und Asylverfahrensgesetz 1993

1,6 1,4 Anwerbung 1955-1968

Zu- und Fortzüge (in Mio.)

1,2

Rückkehrhilfen 1983

1,0

Steigende Flüchtlingszahlen - Syrienkrise 2012

EU-Erweiterungen 2004/2007 Green Card 2000-2004

Anwerbestopp 1973

Mauerbau 1961

Ende der Übergangsfristen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit 2011

0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 1950

1960

1970

Wanderungen deutscher Staatsbürger: Zuzüge aus dem Ausland Fortzüge nach dem Ausland positiver Wanderungssaldo

1980

1990

2000

2010

Wanderung von nichtdeutschen Staatsangehörigen zwischen Deutschland und dem Ausland: Zuzüge insgesamt Fortzüge insgesamt Zuzüge von Asylsuchenden

negativer Wanderungssaldo konjunkturelle Abschwungphasen

Quelle: Statistisches Bundesamt 2014, Löffelholz 2011

Grafik: R. Spohner

abb. 12: Wanderungssalden deutscher und ausländischer Bevölkerung und konjunkturelle entwicklung 1950–2013

119

auf abruf in Deutschland

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

3.6.1 Ausländerpolitiken für Gäste

einzelne Stadtteile übernehmen die integration

zugangssperren

integration auf Widerruf

ein Spagat für die zweite Generation

offene fremdenfeindlichkeit

Was ist integration?

Mit dem Anwerbestopp 1973 blieben viele, die eigentlich zurück in ihr Herkunftsland gehen wollten, vorerst lieber in Deutschland . Sie wollten ihr provisorisches Leben umkrempeln: Sie zogen aus den Wohnheimen aus, suchten Mietwohnungen, verringerten ihre Sparquoten und die Verbindungen nach Hause wurden loser . Sie holten ihre Familien nach . Sie zogen in billige, fabriknahe Wohnungen oder in Sanierungsgebiete in den Innenstädten der Großstädte . Es entstanden „Einwandererkolonien“ mit einer doppelten Funktion . Für Neuankömmlinge wirkten sie als Integrationsschleuse in die neue Gesellschaft und waren für die Einwanderer doch gleichzeitig ein Ort der Orientierung und des Halts in der Herkunftskultur (Heckmann 1981) . Als Reaktion auf die nun entstehenden regionalen Konzentrationen wurden von 1975 bis 1977 in einigen deutschen Städten Zuzugssperren eingerichtet, womit einer weiteren Zunahme ausländischer Bevölkerung in bestimmte Stadtteile entgegengewirkt werden sollte . Die ausländerpolitische Leitlinie der Bundesregierung im Jahre 1974 lautete: „Integration auf Widerruf“ . Vor allem für die heranwachsende zweite Generation, für die Kinder der Gastarbeiter, bedeutete dies einen kaum zu erfüllenden Spagat . Sie sollten im deutschen Schulsystem bestehen, gleichzeitig aber sprachlich, emotional und sozial an die (häufig nie erlebte) Heimat gebunden bleiben . Gerade Kinder, die erst später von ihrenVerwandten nachgeholt wurden, erlebten einen Schock . Sie lernten schnell, dass ihre Biographien nicht mit denjenigen der einheimischen Jugendlichen vergleichbar waren . Die lange aus der öffentlichen Diskussion verdrängten Probleme der Integration wurden nach und nach im Stadtraum sichtbar und führten zu heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit . 1979 wurde die Stelle des Ausländerbeauftragten eingerichtet . Dies war erst Hans Kühn, später Lieselotte Funke . Das „Heidelberger Manifest“ vom 17 . Juni 1981, auch von Professoren und Ministern unterschrieben, warnte vor „Überfremdung“ und „Unterwanderung“ . Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung sich die Ausländer wieder „weg“ aus Deutschland wünschte (1983 80 % der Befragten) (Herbert 2003: 241) . In den Jahren der Regierung Kohl blieb die politische Prämisse, dass Deutschland (trotz Millionen Migranten und Migrantinnen im Land) kein Einwanderungsland sei und auch keines werden dürfe . Eine weitere Einwanderung, auch über Familiennachzug, sollte möglichst unterbunden werden oder, wenn überhaupt, nur bis zu einem gewissen Alter erfolgen . Diese Regelungen erwiesen sich jedoch als nicht vereinbar mit dem im Grundgesetz festgeschriebenen besonderen Schutz der Familie . Nun stellten sich gesellschaftlich grundsätzliche Fragen wie: Wie sollte Integration umgesetzt werden? War unter Integration Einbürgerung zu verstehen? Wie sollte man mit den Kindern der Einwanderer hinsichtlich des Schulbesuchs verfahren? Welche Sprache sollten die Kinder lernen: ihre Herkunftssprache oder Deutsch? 120

3.7 eine DeutSche BeSonDerheit: (Spät-)auSSieDler

Der Kern der Debatte bezog sich auf die Gruppe der türkischen Einwanderer . Die anderen großen Gastarbeitergruppen hatten durch die Freizügigkeitsregulierungen der EG bereits weitgehende Rechte erhalten . 1983 bestand einjährig eine Rückkehrhilfe: Rund 140 .000 Ausländer (darunter 120 .000 Türken) machten davon Gebrauch . Auf eine weitere Runde einer solchen Rückkehrhilfe verzichtete man, da sich die Effekte des Gesetzes kaum messen ließen . Bähr, Kuls und Jentsch (1992) thematisieren den Hauptwiderspruch der deutschen Politik in dieser Zeit, nämlich dass Deutschland trotz massiver Zuwanderung immer noch nicht konzediere, ein Einwanderungsland zu sein, Arbeiter anwerben wolle, aber eben keine Siedler akzeptiere (Bähr, Kuls und Jentsch 1992: 672) .

Widersprüchliche politik

Laut Koalitionsvertrag von 1982 (CDU/CSU und FDP) war „Deutschland kein ‚Einwanderungsland‘ und sollte es auch nicht werden“ . Erst mit der Wende 1990 und schließlich mit der rot-grünen Regierung 1998 erfolgte im Jahre 2000 erstmals eine explizite, doch gebremste Öffnung der gesamtdeutschen Migrationspolitik .

3.7 eine deutsche Besonderheit: (Spät-)aussiedler Der Zuzug von Aussiedlern stellt einen speziellen Fall in der deutschen und europäischen Migrationsgeschichte dar . In der internationalen Migrationsliteratur werden die Aussiedler auch als ethnic Germans bezeichnet – was im Deutschen unüblich ist, den Sachverhalt allerdings gut trifft . Es handelt sich um eine äußerst große und heterogene Einwanderungsgruppe . Seit Beginn der Aussiedleraufnahme 1950 wanderten fast 4,5 Millionen Aussiedler, Spätaussiedler und deren Familienangehörige nach Deutschland ein . Es handelte sich um die Nachfahren von ehemals ausgewanderten Deutschen . Sie machten von einer Gesetzesregelung Gebrauch, die auf dem Abstammungsrecht basierte (dem sogenannten Ius sanguinis) . Teilweise waren die Vorfahren dieser Einwanderer schon vor Jahrhunderten nach Osteuropa ausgewandert (beispielsweise die Banater Schwaben) . Gemäß Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG), § 4 von 1953 waren sie dennoch berechtigt, als „Aussiedler“ die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen . Der Höhepunkt der Zuwanderung von Aussiedlern lag unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der sowjetisch dominierten Staaten um 1990 (vgl . Abb . 13) . Bis zu 397 .000 Zuwanderer kamen pro Jahr . Nun sah sich die Bundesrepublik, die im Kalten Krieg für diese Länder jahrelang Ausreisefreiheit gefordert hatte, mit einer äußerst dynamischen Entwicklung konfrontiert . Die Politik reagierte darauf mit der Einforderung von Nachweisen über erfahrene Diskriminierung im Herkunftsland (Dietz 2007: 400) . 121

Ius sanguinis, das abstammungsrecht

Kriegsfolgenbereinigungsgesetz

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

Gesetze und gelebte praxis

Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 schließlich begrenzte die Anerkennung als Spätaussiedler auf diejenigen, die vor dem Stichtag 31 .12 .1992 geboren worden waren (vgl . Oltmer 2010: 57) – mit Ausnahme derjenigen, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kamen . Viele Aussiedler leben heute räumlich segregiert in Deutschland, was sowohl Ausdruck der starken Netzwerke dieser Gruppe bei der Einwanderung ist als auch Ergebnis behördlicher Regulierung und der Kräfte des freien Wohnungsmarktes . Frau Winter, eine Familienangehörige von Aussiedlern aus Wladiwostok, erzählt, wie die räumliche Zuteilung der (Spät-) Aussiedler in den 1990er Jahren in der Praxis funktionierte und wie offizielle Regelungen einvernehmlich unterlaufen wurden: „Wir waren dann noch ungefähr einen Monat hier in Deutschland in diesen Aufnahmelagern, wo man das ganze Bürokratische klärt und den ersten Integrationskurs hat . Und das dient ja mehr dazu, ja, den ganzen Papierkram zu erledigen und da entscheidet man auch, in welcher Gemeinde man zugeordnet wird und wo man dann die nächsten paar Jahre verbringen wird . Man konnte auf jeden Fall Präferenzen äußern und wenn man sie auch gut begründen konnte, dann war das ja meistens kein Problem . Ja, wenn da die Höchstzahl für die Aufnahme erreicht wurde, dann ging das nicht . Aber dann gab‘s ja halt als ’ne Lösung, dass man dann noch länger in diesem Aufnahmelager erstmal bleibt, bis dann die Sperre wieder aufgehoben wird für den nächsten Monat .“ (Hillmann 2010: 82) .

abb. 13: Spätaussiedler nach herkunftsregionen (Quelle: Bundesverwaltungsamt, eigene Darstellung), entwurf: elena Sommer. 122

3.7 eine DeutSche BeSonDerheit: (Spät-)auSSieDler

Mit dem Erhalt des Registrierscheins von den Ämtern erwarben die (Spät-) Aussiedler ihre deutsche Staatsangehörigkeit und ihnen wurden zahlreiche Sozialleistungen gewährt . Doch auf dem freien Wohnungsmarkt besaßen sie wegen der hohen Mieten kaum Chancen . Sie zogen bevorzugt in Wohngebiete, die durch den Abzug britischer, amerikanischer oder sowjetischer Truppen frei geworden waren . Durch diese einseitige Integration in den Wohnungsmarkt entstand für diese Gruppe – trotz der vorhandenen Staatsangehörigkeit – eine räumliche Segregation, die dafür sorgte, dass diese Zuwanderungsgruppe bis heute deutliche Integrationsdefizite hinsichtlich der Sprache, der Arbeitsmarktintegration und des Bildungserfolgs aufweist (Dietz 2007: 404) . In den frühen 1990er Jahren gab es noch eine weitere aktive Anwerbung zur Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden in Deutschland . Bundeskanzler Helmut Kohl gewährte Juden aus der Sowjetunion durch eine Sonderreglung freien Zuzug nach Deutschland (Der Spiegel 1996) .

Massive integrationsprobleme trotz hilfen

3.7.1 Flucht und Asyl in der Bundesrepublik In den Nachkriegsjahren bis zur Wiedervereinigung ist in Deutschland noch das nach den Schrecken der NS-Zeit liberal angelegte Asylgesetz in Kraft . Demgemäß genossen laut Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 16, politisch Verfolgte Asyl . Anders als in anderen Staaten handelte es sich um ein Grundrecht, nicht lediglich um eine völkerrechtliche Verpflichtung, wie sie sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ableiten ließ (vgl . Kasten 1) . 1980 überschritt die Zahl der Asylgesuche erstmals die Schwelle von 100 .000 Anträgen (Oltmer 2010: 56), in den Jahren 1988 und 1992 stellten jeweils fast 440 .000 Menschen einen Asylantrag . Neben dem Familienzuzug der Gastarbeiterbevölkerung und den Aussiedlern bildeten Asylbewerber damals die wichtigste Zuwanderungsgruppe in Deutschland . Ein Großteil der Asylanträge wurde abgelehnt und es erfolgte häufig eine Abschiebung auch in Staaten, die die Rückkehrer folterten . Für Aufsehen sorgte der Fall des von der Abschiebung bedrohten Türken Kemal Altun, der sich am 30 .08 .1983 aus Verzweiflung aus dem Fenster des Oberverwaltungsgerichtes Berlin in der Nähe des Bahnhofs Zoo zu Tode stürzte . Wie viele andere politisch aktive Asylbewerber wusste er, dass er bei Auslieferung an die Türkei mit Folter rechnen musste . Die Bundesregierung versuchte in den 1980er Jahren auf verschiedenen Wegen, den Zuzug von Asylbewerbern zu verhindern .Viele von ihnen reisten über die damalige Grenze von Ostberlin nach Westdeutschland ein . Da die Bundesrepublik die Berliner Grenze nicht als Grenze ansah und in Folge auch nicht kontrollierte, reisten bis 1985 viele Asylbewerber aus Afrika und Asien über den Flughafen Schönefeld in Ostberlin nach Westberlin ein (Herbert 2003: 270) . Bis Mitte der 1980er Jahre war der überwiegende 123

Besonders liberales asylrecht bis 1993

Kemal altun stürzt sich aus dem fenster des Gerichts

Besondere Grenzsituation, einreise über ostberlin

3. hiStoriSche unD reGionale DifferenzierunG Der MiGration in europa

eine Duldung bedeutet aussetzung der abschiebung

Teil der Asylbewerber aus Entwicklungsländern gekommen . Seitdem stieg der Anteil der Osteuropäer (vor allem Jugoslawen, besonders Kosovaren, Rumänen und Türken, besonders Kurden) . Heute werden durchschnittlich 84 % der Asylanträge abgelehnt . Dies bedeutet für die Antragsteller, dass sie die Bundesrepublik Deutschland verlassen müssen . Sollten sie nicht reisefähig sein, keinen Pass für eine Rückkehr besitzen oder die Situation im Herkunftsland eine Rückreise nicht erlauben, besteht rechtlich die Möglichkeit einer Duldung, was eine Aussetzung der sofortigen Abschiebung bedeutet . Eine solche Duldung kann sich über Jahre erstrecken . Sie bedeutet für die Betroffenen ein Leben in ständiger Unsicherheit, meist ohne das Recht auf Arbeit oder Integrationsmaßnahmen . Manche erhalten nach einiger Zeit ein humanitäres Aufenthaltsrecht .

Abb . 15 in Kapitel 4 illustriert den mit rund 200 .000 Duldungen hohen Anteil Geduldeter an der Gesamtzahl der Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013 . In Deutschland gehört die Asylgesetzgebung – wie auch die Ausländergesetzgebung – zu den kompliziertesten Rechtswerken überhaupt . Grob vereinfachend gilt, dass Aufenthalte über drei Monate oder Aufenthalte, die zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit führen, für Nicht-EU-Ausländer (ausgenommen EWR-Staaten und Schweiz1) grundsätzlich nur mit einem Visum erlaubt sind . 3.8 Migration in einem untergegangenen land: DDr Auch die DDR rekrutierte Arbeitskräfte, wenngleich in einem deutlich geringeren Ausmaß als dies in der Bundesrepublik der Fall war . Die Einwanderer stammten aus den sogenannten sozialistischen Bruderländern . Zunächst kamen sie überwiegend aus Polen und Ungarn (1967–1979), ab 1974 aus Algerien und von 1979 bis 1990 vor allem aus Kuba, Mosambik und Vietnam (Mac Con Ulach 2005: 52) . Diese offiziell als Werkvertragsarbeiter bezeichneten Einwanderer wurden von der Staatsführung und ihren Organen nicht weiter thematisiert . Alle Verträge mit ihnen waren „Geheime Verschlusssache“, nicht einsehbar für die Öffentlichkeit . Zuverlässige Statistiken gab es kaum . Anfangs wurden nur ausgewählte und mit der Staatsführung des Herkunftslandes „abgespro1

124

http://www .auswaertiges-amt .de/DE/EinreiseUndAufenthalt/Visabestimmungen_node .html#doc350344bodyText8 (aufgerufen am 25 .2 .2015)

3.8 MiGration in eineM unterGeGanGenen lanD: DDr

chene“ Migranten für einen Arbeitseinsatz in den großen Kombinaten der Textilindustrie und der Geräteherstellung angeworben . Später löste sich dieses Prinzip zunehmend auf . Einmal in der DDR angekommen, lebten die Werkvertragsarbeitnehmer abgeschottet von der einheimischen Bevölkerung in Wohnheimen . Ein Kontakt in Form von bi-nationalen Beziehungen war unerwünscht und durch behördliche Auflagen sanktioniert . Im DDR-Jargon hieß es, dass eine „Verherrlichung der westlichen Lebensart“ und „ein Zugang zu Westattributen“ (lies: westliche Kleidung und Musik) vermieden werden sollten . Die Werkvertragsarbeitnehmer standen unter Generalverdacht, waren rassistischen Anfeindungen ausgesetzt . Vorschriften und Kontrollen wurden in der Lebenspraxis allerdings immer wieder unterlaufen (Mac Con Ulach 2005: 62 ff .), einigen vietnamesischen Werkvertragsarbeitern gelang sogar der Aufbau einer parallelen Ökonomie . In ihrer Freizeit fertigten sie mit den Nähmaschinen der Kombinate, in denen sie tagsüber arbeiteten, auf eigenes Risiko heimlich eigene Jeanskreationen zum lokalenVerkauf . Eine Geschäftspraxis, die gut lief und nach der Wende vielen von ihnen den Schritt in die berufliche Selbständigkeit erleichterte (Hillmann 2005, Schmiz 2011) . Übersicht 5 stellt die Einwanderung aus Vietnam nach (West-)Deutschland mit der in die DDR vergleichend dar und pointiert die beiden verschiedenen Migrationsregime .

Übersicht 5: zwei Migrationsregime (BrD/DDr) 125

anwerbung von Vertragsarbeitnehmern

parallele ökonomie der Vietnamesen

4. Neue Geographien der Migration in Deutschland und Europa nach der Wiedervereinigung Zum Verständnis der heutigen Dynamik zwischen Migration und Integration im wiedervereinigten Deutschland sind drei Einflussgrößen maßgeblich: die seit dem Jahre 2000 sich vollziehende politische Wende Deutschlands hin zu einem Einwanderungsland und die damit verbundene stärkere Anerkennung von Migration als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft, zweitens der demographische Wandel, drittens die zunehmende Europäisierung der Migration durch einen Zuwachs an EU-Binnenmigration und eine Zunahme an europäisierten Migrationspolitiken (Kapitel 4.1). Kapitel 4.2 widmet sich der aktuellen Migrationsdynamik in Europa, betont die verschiedenen Migrationsrealitäten und Migrationssubsysteme der EU-Staaten, erläutert Abkommen und Instrumente auf dem Weg in eine gemeinsame europäische Migrationspolitik. Schließlich werden die neuen Territorialisierungen in Form des Ausbaus von Kontrollpolitiken umrissen (Kapitel 4.3). 4.1 Einwanderungsland Deutschland: Weiter Ausnahmen vom Anwerbestopp In Deutschland wirken die unterschiedlichen Migrationsregime der DDR und der BRD bis heute nach. Bereits die Anteile und die Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung sind regional unterschiedlich. In den westlichen Bundesländern lag der Ausländeranteil im Jahre 2011 bei mindestens 5,2 % (Schleswig-Holstein) und bis zu 14 % (Berlin), in den neuen Bundesländern hingegen bei 2,5 %. Allein in den drei Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern – und dort jeweils in den industriellen Ballungsgebieten – leben 60 % aller 7,4 Millionen Ausländer. Mit 1,9 % besitzt Sachsen-Anhalt den geringsten Ausländeranteil in Deutschland. Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg weisen einen Ausländeranteil von um 13 % auf; die kreisfreien Städte Frankfurt, München, Stuttgart, Köln, Nürnberg und Düsseldorf liegen mit jeweils mindestens 17 % deutlich darüber. In absoluten Zahlen liegt der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Berlin, Hamburg und München am höchsten (vgl. Abb. 14). Hinsichtlich ihrer Bevölkerungszusammensetzung gehören Frankfurt (43 % Bevölkerung mit Migrationshintergrund), Stuttgart (38 %) und Nürnberg (37 %) zu dem am stärksten durch Migration geprägten Städten in Deutschland. In Stadtteilen wie München-Milbertshofen-Am Hart, Berlin-Neukölln oder 127

Die Migrationsregime von DDR und BRD wirken nach

Ungleichmäßige räumliche Verteilung der Migranten

Spitzenreiter Berlin, Hamburg, München

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

etwa im Frankfurter Gallus-Viertel liegt der Anteil der migrantischen Bevölkerung inzwischen bei mindestens 50 % (Engler 2012) .

13,1% 25,0%

Berlin 12,4% 29,0%

Bremen

12,9% 29,0%

Dortmund

3,9% 7,0%

Dresden

16,9% 32,0%

Düsseldorf

13,4% 27,0%

Hamburg 25,6% 43,0%

Frankfurt/Main

Bevölkerung ausgewählter Städte (2013) (Bezugsbasis: Kreisfreie Stadt)

17,0% 31,0%

Köln

Ausländische Bevölkerung

5,2% 8,0%

Leipzig

22,7% 36,0%

München 17,7% 37,0%

Nürnberg

Bevölkerung mit Migrationshintergrund*

21,9% 38,0%

Stuttgart 0

1 Mio.

13,4% (%Ausländer) 27,0% (%Bev. mit Migrationshintergrund)

Bevölkerung ausgewählter Städte (2011) (Bezugsbasis: Kreisfreie Stadt) 2 Mio.

3 Mio.

4 Mio.

* Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, im Ausland geboren, nach 1949 zugewandert, ein Elternteil zugewandert bzw. ausländische Staatsangehörigkeit, Kinder von in Deutschland geborenen Ausländern mit späterer Einbürgerung Quelle: Statistisches Bundesamt 2013, Engler 2012

Grafik: R. Spohner

abb. 14: anteil der ausländischen Bevölkerung in den bundesdeutschen Städten

2013 höchste zuwanderung seit 20 Jahren

europäisierung der Migration

ein rechtsvakuum nach der Wende, Verhandlungen über das Bleiberechtsabkommen

Abb . 12 (Kapitel 3 .6) veranschaulichte die Zu- und Abwanderung nach Deutschland im Zeitverlauf . Beinahe durchgängig stehen hohen Zuwanderungszahlen in Deutschland hohe Abwanderungszahlen gegenüber . In den Jahren 2008 und 2009 war Deutschland sogar Nettoauswanderungsland . 2013 ist die Zuwanderung nach Deutschland auf dem höchsten Stand seit 20 Jahren – mit einem Wanderungsüberschuss von 437 .000 Personen . Die Herkunftskontexte der Migranten in Deutschland sind relativ homogen und die aktuellen Statistiken bilden einen Trend der Europäisierung durch die EU-Erweiterungen ab . Übersicht 6 veranschaulicht, dass bis heute die ausländische Bevölkerung in Deutschland maßgeblich auf die ehemaligen Anwerbeländer sowie EU-Länder zurückgeht . Die Einwanderung aus den OECD-Staaten und aus Drittstaaten ist weniger stark vertreten . Die Wiedervereinigung bedeutete einen extremen Umbruch für die bundesrepublikanische Gesellschaft, und erst recht für die hier lebenden Migranten . Für viele Einwanderungsgruppen bestanden zur Zeit der Wiedervereinigung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine passenden gesetzlichen Richtlinien . Faktisch tat sich ein Vakuum auf, das der Gesetzgeber nicht 128

4.1 einWanDerunGSlanD DeutSchlanD: Weiter auSnahMen VoM anWerBeStopp

Übersicht 6: ausländische Bevölkerung in Deutschland nach Staatsangehörigkeit (2012)

schnell aufheben konnte . Viele der angeworbenen Arbeiterinnen und Arbeiter in der ehemaligen DDR kehrten in ihre Herkunftsländer zurück . Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus erhielten teilweise Duldungen . Letztlich war die Anmeldung eines Kleingewerbes für diese Migranten seinerzeit der einzige Weg, das eigene Überleben und das ihrer Angehörigen zu sichern . Oft geschah dies in dieser Zeit, wenn ein legaler Zugang nicht gegeben war, in Form illegalen Zigarettenhandels als Ausweichstrategie (Berger 2005: 73 f .; Weiss 2005: 83) . Im Rahmen der Verhandlungen über die Bleiberechtsregelungen folgte dann ein langer politischer Streit um die Anerkennung von Aufenthaltszeiten . Erst ab 1997 bestand Rechtssicherheit . Bis dahin schoss die Zahl der Asylanträge in die Höhe . Viele Ausreisewillige nutzten seinerzeit die Gunst der Stunde und besorgten sich Papiere, die ihnen eine Ausreise in Richtung Westen ermöglichen sollten . Die mit der Wiedervereinigung angelegten regionalen Integrationsmodi wirken bis heute nach . Auch hinsichtlich der soziostrukturellen Integration bestehen regionale Unterschiede zwischen der migrantischen Bevölkerung und der bundesrepublikanischen Mehrheitsbevölkerung fort .

Abb . 15 bietet einen groben Überblick über die Situation der registrierten Aufenthaltstitel der ausländischen Bevölkerung in Deutschland . 129

1997 rechtssicherheit

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

Aufenthaltserlaubnis (zeitlich befristet)

insgesamt

zum Zweck der Ausbildung

zum Zweck der Erwerbstätgkeit völkerrechtliche, humanitäre, politische Gründe

familiäre Gründe

besondere Aufenthalte

Niederlassungserlaubnis sonstige Fälle (z.B. von Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis befreit [AuslG 1990], Antrag auf AT gestellt) EU-Recht, EU-Aufenthaltstitel/Freizügigkeitsbescheinigung Duldung Aufenthaltsgestattung 0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

Ausländische Bevölkerung (in Mio.) Zeitreihe der Ausländischen Bevölkerung (in Mio.) nach Aufenthaltsstatus und Anteil des weiblichen Geschlecht

2014 2010 2005 Anteil des weiblichen Geschlechtes

Quelle: Statistisches Bundesamt 2015 Grafik: R. Spohner

abb. 15: aufenthaltstitel der ausländischen Bevölkerung in Deutschland

zahlreiche Daten, unterschiedliche Methoden erschweren die analyse

ethnische vs. soziale interpretation der Daten

Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die unterschiedlichen und uneinheitlich strukturierten Statistiken mit dem Ziel eines Vergleichs auszuwerten und zu interpretieren . Mit Ausnahme der Mikrozensusdaten (die erstmals 2005 den Migrationshintergrund ausweisen) erscheint es fast nicht möglich, die verfügbaren Daten mit anderen Merkmalen, wie zum Beispiel dem Alter oder dem sozioökonomischen Status, in Beziehung zu setzen . Dies bringt die Gefahr mit sich, die Daten tendenziell als ethnisch und weniger in ihrer sozialen Dimension zu interpretieren . Schaubild 2 im Anhang präsentiert eine Zusammenschau der wichtigsten soziostrukturellen Merkmale im Vergleich und belegt Unterschiede bei den Schul- und Berufsabschlüssen, bei der Sicherung des Lebensunterhalts und bei der Erwerbstätigkeit . Im Jahre 2009 – Deutschland verzeichnete de facto einen negativen Wanderungssaldo – drehte sich die öffentliche Debatte um diese Frage: Wie integriert sind die Zuwanderer? Auslöser war ein Interview des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin in der Zeitschrift Lettre International . Die Diskussionen offenbarten eine unübersichtliche Datenlage, die leicht für populistische Zwecke missbraucht werden konnte . Sarrazin behauptete, 130

4.1 einWanDerunGSlanD DeutSchlanD: Weiter auSnahMen VoM anWerBeStopp

dass die muslimischen Migranten generell integrationsunfähig seien und „Kopftuchmädchen“ produzierten . Er führte dies unter anderem auf die genetische Disposition der Einwanderer zurück . In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ brachte Sarrazin (2010) dann eine Reihe von Statistiken, die eine Desintegration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland belegen sollten . Ein Team von Sozialwissenschaftlern griff seine Argumente auf und überprüfte deren statistische Stichhaltigkeit – mit anderen Ergebnissen, die wiederum die zahlreichen Erfolge der Integrationsbemühungen sichtbar machten (vgl. Foroutan et al . 2010) . Ähnlich kontrovers wie die gesellschaftliche Integration der Migranten wird seit ca . 2010 die Regulierung des Zugangs der ausländischen Bevölkerung zum deutschen Arbeitsmarkt diskutiert . Bis heute gilt die ASAV (Verordnung über Ausnahmeregelungen für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis an neueinreisende ausländische Arbeitnehmer (= Anwerbestoppausnahmeverordnung)), die nur eingeschränkt Ausnahmen vom geltenden Anwerbestopp zulässt . Im Zuge solcher Ausnahmeverordnungen werden seit vielen Jahren Arbeitskräfte für Sektoren mit Arbeitsplätzen im niedrigqualifizierten Segment, zum Beispiel in der Landwirtschaft und in der Pflege, angeworben . Ausländische Arbeitskräfte stellten im Jahre 2010 gut ein Drittel der 1,1 Millionen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 45 % dieser Saisonarbeitnehmer waren Frauen (Destatis 2011) . Die Saisonarbeiter erhalten eine dreimonatige Arbeitsgenehmigung zur Arbeit in der Landwirtschaft . Die massenhafte Beschäftigung von Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft, vor allem im arbeitsintensiven Spargel- und Erdbeeranbau, ist keine neue Entwicklung . Die Saisonarbeitskräfte sorgen dafür, dass bestimmte arbeitsintensive Bereiche der Agrarwirtschaft und im Gartenbau überhaupt noch wachsen können (Becker 2010) . In einer vergleichenden Untersuchung zeigt Becker, dass es sich zwar jeweils um ein regionales Phänomen handelt, dass sich allerdings die eigentlichen Beschäftigungsmuster in unterschiedlichen Regionen (hier: Brandenburg und Niederrhein) kaum unterscheiden . Bei den Saisonarbeitern handelt es sich nicht um eine quasi zufällige und veränderliche Größe, sondern um ein Strukturelement dieser Branche: Saisonarbeiter werden über einen längeren Zeitraum hinweg beschäftigt (überwiegend sieben Jahre und mehr) und ihr Einsatz wird schon bei der Unternehmensgründung als feste Größe einkalkuliert . Die Saisonarbeiter weisen ein Durchschnittsalter von 38 Jahren auf – die meisten sind zwischen 35 und 44 Jahre alt . Zwei Drittel sind Frauen, 80 % sind verheiratet und 88 % haben Kinder . Der Auslandsaufenthalt bringt den Saisonarbeitern keinen beruflichen Vorteil . Was ihre formale Qualifikation angeht, so disqualifizieren sie sich durch ihre Arbeit auf dem Erdbeerhof . Doch ein Drittel der Saisonarbeiter ist im Herkunftsland Polen ohne weitere Einnahmen als Hausfrau/Hausmann beschäftigt und so lohnt es sich dann eben doch . Hier zeigt sich das in Kapitel 2 .3 .3 beschriebene Statusparadox der Migra131

Die integrationsdebatte verschiebt sich: Stigmatisierung von muslimischen einwandern und deren nachkommen

ausnahmen vom anwerbestopp

Saisonarbeitskräfte in der landwirtschaft

einkalkulierter Billiglohn

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

transnationale netzwerke sorgen für nachschub

tion . Die Migranten vergleichen sich nicht mit den anderen (einheimischen) Arbeitnehmern am Zielort, sondern schätzen ihre Situation vor dem Hintergrund ihrer Möglichkeiten im Herkunftsland ein . Die Saisonarbeiter verfügen in der Regel nur über geringe Deutschkenntnisse, ihre Einkünfte aus der Saisonarbeit fließen mehrheitlich in die Bereiche Wohnungsausstattung und Berufsausbildung der Kinder zu Hause . Fast immer hörten sie von der Möglichkeit der Saisonarbeit auf dem Erdbeerhof durch Bekannte und Freunde . Durch diese bestehenden transnationalen Netzwerke können sich die Arbeitgeber die aufwändige eigene Suche nach Arbeitskräften ersparen (Becker 2010: 146) . In Polen entwickelte sich eigens ein Sektor von Serviceagenturen, der als Bindeglied zwischen Arbeitgebern und Saisonarbeitnehmer fungiert und Dienstleistungen wie den Busverkehr regelt oder etwa Übersetzungsarbeiten anbietet (Glorius 2010: 114 f .) . 4.1.1 Demographischer Wandel und Fachkräfteanwerbung

höhere lebenserwartung, weniger Geburten, heterogene Bevölkerungsstruktur der Generationen

Sozialstaat basiert auf annahmen der 1960er Jahre

Seit den 1970er Jahren Schrumpfung

Der demographische Wandel in Deutschland ergibt sich durch die veränderte Zusammensetzung der Parameter Geburten, Lebenserwartung und Migration . Dieser Dreiklang aus einer Kombination einer längeren Lebenserwartung der Individuen, sinkenden Geburtenzahlen und einer heterogeneren Bevölkerungsstruktur wirkt sich auf alle Bereiche der Gesellschaft aus . Während die jüngeren Generationen in Deutschland schon als Teil einer Einwanderungsgesellschaft aufgewachsen sind, sind die älteren Generationen noch durch eine größere Einheitlichkeit in der Bevölkerungszusammensetzung geprägt (vgl . auch Kapitel 6 .2) . Diese heutige soziale und räumliche Organisation, basierend auf dem sogenannten Generationenvertrag, baut auf einem wohlfahrtsstaatlichen Gefüge auf, das in den frühen 1960er Jahren auf der Annahme eines stabilen Bevölkerungs- und steten Wirtschaftswachstums und von Vollbeschäftigung entworfen wurde . Dieses Gefüge passt nicht mehr zu den aktuellen demographischen Entwicklungen, was bedeutet, dass auch die von diesem Gefüge abhängigen Sozialsysteme (Arbeits- und Bildungsmarkt, Gesundheitswesen, Rentenkasse) neu justiert werden müssen . Die Bundesrepublik Deutschland hat seit der Nachkriegszeit keine explizite Bevölkerungspolitik betrieben . Konrad Adenauers schlichtes Credo lautete 1957: „Kinder kriegen die Leute immer“ . Damals lag die Geburtenrate noch bei 2,36 Kindern pro Frau – was sich mit der Einführung der Pille auch für junge, unverheiratete und kinderlose Frauen Ende der 1960er Jahre nachhaltig ändern sollte . Mit der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln gingen die Geburtenzahlen rasch zurück . Einmal abgesehen von der hohen Geburtenrate trug über viele Jahre auch die stete Zuwanderung zuerst aus den Ostgebieten, dann aus dem Ausland, zum Bevölkerungszuwachs in Deutschland bei . 132

4.1 einWanDerunGSlanD DeutSchlanD: Weiter auSnahMen VoM anWerBeStopp

Exkurs: Demographischer Wandel in Deutschland Bereits seit 2003 geht die Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland zurück . Gemäß der gegenwärtigen Geburtenzahl von durchschnittlich 1,38 Kindern (pro Frau) und bei einem immer späteren durchschnittlichen Alter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes wird ein Rückgang der Gesamtbevölkerung in Deutschland von 82 Millionen (im Jahre 2008) auf 77 Millionen im Jahre 2030 und auf 64 Millionen im Jahr 2060 erwartet . Anders als in früheren Jahren kann dieser Prozess nicht mehr durch Migrationen ausgeglichen werden – er ist unumkehrbar, weil bereits die geburtenstarken Jahrgänge nicht die Kinder geboren haben, die heute wiederum Kinder bekommen könnten . Angenommen wird, dass die Zahl der alten Menschen, die auf 100 Personen im Erwerbsalter (d . h . zwischen 20 und 65 Jahren) kommt, sich von 34 Personen im Jahr 2009 auf mehr als 50 im Jahre 2030 erhöhen wird . Im Jahre 1970 lag dieser sogenannte Altenquotient mit 25 Personen noch halb so hoch . Die Sterbefälle bleiben ungefähr konstant, während die Gruppe der über 80-Jährigen stetig anwächst . Statistisch lässt sich belegen, dass sich die Lebenserwartung bei der Geburt kontinuierlich verlängert hat . Ein 2009 geborenes Mädchen hat, je nach Berechnungsweg, rein statistisch eine Lebenserwartung von 82 bis 90 Jahren, ein Junge zwischen 77 bis 86 Jahren . Schon heute wirkt sich der demographische Wandel auf bestimmte Branchen des Arbeitsmarktes aus . Im Jahre 2012 rechnete die Bundesanstalt für Arbeit mit einem Rückgang des Arbeitskräftepotentials um 6,5 Millionen Personen bis zum Jahre 2025 – bei einem etwa gleichbleibenden Anteil Arbeitsloser am Erwerbspersonenpotential . Von diesem Fachkräftemangel sind in erster Linie der Pflegesektor, das Handwerk und die IT-Branche betroffen – seit 2012 herrscht ein massiver Pflegenotstand in Deutschland, die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich bis 2030 auf 3,4 Millionen verdoppeln (Bertelsmann 2012) . Auch das Handwerk vermeldet inzwischen Probleme bei der Besetzung von Stellen . Die gezielte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften spielt in diesem Sektor eine untergeordnete Rolle, vielmehr setzt sich der Zentralverband für eine bessere Ausbildung der Jugendlichen ein (Zentralverband des deutschen Handwerks 2011) . Die lange bestehenden und stark national strukturierten Ausbildungszeiten und die Qualitätsstandards erschweren einen schnellen Import von Arbeitskräften . Die Datenlage und infolge auch die Debatte über den tatsächlichen Bedarf an Fachkräften verläuft kontrovers . Denn weder zeigt die Lohnentwicklung durch gestiegene Löhne, dass eine Knappheit an Arbeitskräften 133

rückgang des erwerbskräfte potentials

Das handwerk kann weniger schnell „umsatteln“

Kontroverse Debatte, unvollständige Datengrundlage

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

zirkuläre Wanderung von hochqualifizierten

Blue Card-initiative

besteht, noch hat sich die Zahl der erwerbslosen Fachkräfte vermindert . Mit Ausnahme der Gesundheitsberufe ließ sich aus Sicht der Arbeitsmarktexperten keine ausgeprägte Knappheit an Arbeitskräften feststellen – eher schon eine Fachkräfteschwemme (Brenke 2010: 5 f .) . Eine objektive Feststellung des reellen Bedarfs an zukünftigen Arbeitskräften erscheint unmöglich, weil die Unternehmen nicht verpflichtet sind, offene Arbeitsplätze an die Arbeitsämter zu melden . Keine Institution besitzt deshalb einen vollständigen Überblick über die Situation am Arbeitsmarkt . In erster Linie klagen die arbeitgebernahen Institutionen seit einigen Jahren über ein strukturelles Fachkräftedefizit, sie betonen die Angst vor den Folgen für „Wohlstand und Arbeitsplätze“ (BDA 2010: 12 f ., DIHK 2010) . Mit ihrer Öffnung in Teilbereichen des Arbeitsmarktes reagiert die Bundesrepublik nicht nur auf die Anforderungen des heimischen Arbeitsmarktes, sondern vor allem auch auf die Vorgaben der EU-Gesetzgebung zur Unterstützung der zirkulären Wanderung von Hochqualifizierten im EU-Raum . Erstmals vollzog sich eine solche aktive Anwerbung von Hochqualifizierten für ausgewählte Bereiche des Arbeitsmarktes durch die Greencard im Jahre 2000 . In der kurz nach dem IT-Boom einsetzenden IT-Krise wurden jedoch viele der angeworbenen Arbeitskräfte arbeitslos und wanderten in ihre Herkunftsländer zurück .Trotzdem besaß die Anwerbung dieser IT-Kräfte eine Signalwirkung, denn sie brachte erstmals eine positive Besetzung des Themas Migration mit sich (Kolb 2003: 166) . Die IT-Fachkräfte rekrutierten sich zwar größtenteils über firmeninterne Arbeitsmärkte, doch handelte es sich um eine aktive Entscheidung der Wandernden selbst (Pethe 2007: 327 ff .) . Für die zwölf Jahre später eingeführte Blue Card wurden die Bewilligungskriterien abgesenkt . 4.1.2 Europäisierung der Migration, Freizügigkeit und Zirkularität

Bedingungen für eine Blue Card Viele Blue Cards an absolventen aus Drittstaaten an deutschen unis

Die Bundesrepublik wandelte durch ihren Gesetzentwurf vom Februar 2012 und die darauf folgende Umsetzung im August 2012 die Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union in nationales Recht um . Die Blue Card-Regelung zielt besonders auf MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und auf Ärzte – allesamt Branchen mit Nachwuchssorgen . Das Gesetz sieht vor, dass Akademiker, die einen Arbeitsplatz mit einem Bruttojahresgehalt von € 46 .400 im Jahr vorweisen, kurzfristig ein Visum und eine EU-Aufenthaltsgenehmigung erhalten . In sogenannten Mangelberufen liegt die Einkommensgrenze inzwischen bei € 36 .200 . Nach drei Jahren kann die EU-Blue Card in einen Daueraufenthalt münden . Seit Start der Initiative im August 2012 bis Juni 2013 wurden 8 .879 Blue Cards vergeben, darunter 1 .149 an Studierende, die unmittelbar nach Abschluss ihres Studiums in Deutschland einen Arbeitsplatz in Deutschland fanden (Wirtschaftswoche 2013) . Die meisten Blue Card-Inhaber stammen aus Indien, China und Russland (BMI 2013, Pressemitteilung) . 134

4.1 einWanDerunGSlanD DeutSchlanD: Weiter auSnahMen VoM anWerBeStopp

Der Anteil der nach Deutschland einwandernden Hochqualifizierten, d .h . der Menschen mit Hochschulabschluss, nimmt kontinuierlich zu – wie auch der Anteil an Unionsbürgern am Wanderungsgeschehen (SVR Jahres­ bericht 2012) . Diese EU-ropäisierung der Migration in den EU-Mitgliedsstaaten wird durch verschiedene Freizügigkeitsabkommen bestimmt, wobei der Arbeitsmarktzugang weitgehend reguliert ist . Große Probleme bestehen hingegen bei der Integration der EU-Bürger in die unterschiedlichen Sozialversicherungssysteme . Weil die EU als Wirtschaftsverbund konzipiert ist und nicht als Sozialverbund, berühren sich durch die Mobilität von EU-Bürger grundlegend unterschiedliche Sozialsysteme und Absicherungslogiken . So können beispielsweise arbeitssuchende EU-Bürger in Deutschland zwar nicht Arbeitslosengeld II, dafür jedoch Sozialhilfe beantragen . Grundsätzlich ist Deutschland laut EFA (Europäisches Fürsorgeabkommen) verpflichtet, Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten (= Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Türkei) „in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zu gewähren“ (Genge 2012) . Die Bundesrepublik Deutschland machte 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen geltend – seitdem flammt die Diskussion um die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ in den Medien noch gelegentlich auf . Die vielen junge Spanier, die sich aufgrund der Wirtschaftskrise in Spanien in Deutschland arbeitslos gemeldet haben, und damit die Zahl der arbeitslosen Spanier, z .B . in Berlin, stieg rasch an – allerdings von einem bescheidenen Niveau aus (im Jahre 2011 betraf dies 567 Personen, vgl . Tagesspiegel 2012, 05 .03 .2012) . Universitäten und Hochschulen sind traditionell Orte mit einer starken Präsenz internationaler Arbeitskräfte . Denn für die Universitäten gehört die Internationalisierung ihrer Institute zu ihren wichtigen Zukunftsressourcen angesichts des internationalen Wettbewerbs . Stipendien und Preisträgeraufenthalte von Mittlerorganisationen wie beispielsweise dem DAAD (Deutscher Akademischer Auslandsdienst) strukturieren diesen Austausch der Wissenschaftler (Jöns 2003: 440 f .) . Der „globale Nomade“ stellt eher die Ausnahme dar, vielmehr steuert und strukturiert eine Vielzahl an Programmen den Zuzug von mobilen Wissenschaftlern . Eine vergleichende Studie zur Situation ausländischer Wissenschaftler in Aachen, Bonn und Köln belegt, dass die meisten hochqualifizierten Hochschulangestellten aus Europa stammen . Außereuropäische Wissenschaftler, in vielen Bereichen auch Wissenschaftlerinnen, sind generell unterrepräsentiert (Pfaffenbach et . al 2010: 66 f .) .

135

eu-ropäisierung der Migration

Die eu ist als Wirtschafts-, nicht als Sozialverbund konzipiert

Streit um die auslegung des fürsorgeabkommens

internationale arbeitskräfte an der universität

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

entgrenzter Bausektor braucht vor ort arbeitskräfte von überall

austauschbare arbeitskräfte

Grad der entgrenzung hängt von nationalem tarifrecht ab

Migrationsregime

Auch andere Branchen erlauben aufgrund ihrer internen Struktur eine Entgrenzung des nationalen Arbeitsmarktes . Lange war beispielsweise der Bausektor der einzige Sektor mit einer sehr starken Europäisierung . Dies hängt unmittelbar mit der Beschaffenheit des erzeugten Produkts zusammen: Das Produkt, in der Regel ein Bauobjekt, ist fast immer immobil und erfordert daher umso mehr eine Mobilität der Beschäftigten . In dieser Branche arbeiten viele kleine Subunternehmen mit Werkverträgen anstelle von Festanstellungen . Die Arbeitnehmer brauchen kaum sprachliche Kompetenzen, sie sind austauschbar . Zusätzlich erleichterten die Liberalisierungen seit der GATT-Runde in Uruguay 1993 die Internationalisierung dieser Branche, weil dort die internationale Ausschreibung öffentlicher Bauprojekte durchgesetzt wurde (vgl . Hunger 2003) .Trotz dieser Einflussgrößen hängt der Grad der Entgrenzung der nationalen Arbeitsmärkte in erster Linie von der Ausgestaltung des nationalen Tarifrechts ab – wie es ein europäischer Vergleich zu Tage fördert . 2004, als die EU zehn neue Beitrittsstaaten aufnahm, öffneten Schweden, Großbritannien und Irland ihre Arbeitsmärkte für die Zuwanderer aus diesen neuen Ländern . Nicht das geographisch nahe Schweden verzeichnete schnell eine starke Zuwanderung aus Polen und den baltischen Staaten, sondern Großbritannien und Irland . Diese beiden Länder erlaubten die Beschäftigung von Einwanderern im Niedriglohnsektor .Viele der britischen Arbeitgeber zogen die meist jüngeren und genügsameren, fleißigen Migranten den einheimischen Arbeitskräften vor . Zehntausende Polen, Balten, insbesondere Letten, wanderten nach Großbritannien aus . Nach Schweden zog es nur wenige – hier entsprachen die Einkommen der eingewanderten EU-Arbeitskräfte denen der Einheimischen, die gewerkschaftliche Organisation der Beschäftigten war stark und die Tariflohnbindung flächendeckend (Thränhardt 2013: 18 f .) . Die mit der Migration einhergehende sozialräumliche Differenzierung, dies zeigt der folgende Abschnitt, hängt unmittelbar mit den jeweiligen Migrationsregimen, d .h . dem Zusammenspiel aus den jeweiligen nationalen politischen Regulierungen, der Ausgestaltung des Arbeitsmarkts, den historischen Verbindungen und dem gesellschaftlichen Umgang mit Migration und Migranten zusammen . 4.2 Das europäische Migrationssystem mit seinen Subsystemen

Subsysteme im europäischen Migrationsraum

In der EU existiert längst ein eigenständiger europäischer Markt- und Finanzraum mit eigener Währung . Dies bedeutet jedoch nicht, dass es auch einen einheitlichen europäischen Migrationsraum gibt (Gans, Lang und Pott 2013: 362 ff .) . Vielmehr existiert eine Vielzahl heterogener und miteinander verschränkter Subsysteme . Trotzdem: Auf dem Weg zu einer einheitlicheren Migrationspolitik gibt es Meilensteine, Aushandlungen über 136

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

die räumliche Definitionsmacht von Staaten und von suprastaatlichen Gebilden . Dies drückt sich in einer Vielzahl von Abkommen und Maßnahmen aus, begleitet von konkreten Aktionen, im EU-Jargon auch als „Operationen“ bezeichnet . In der vergangenen Dekade entwickelte sich ein eigenständiges Repertoire an Begrifflichkeiten, Verfahren und Praktiken der Regulierung von Migrationen . Der Umgang mit den Migranten kann entweder unmittelbar in Form von Sicherheitspolitiken geschehen (sogenannte High Politics) oder mittelbar über Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken (sogenannte Low Policies, manchmal auch soft power genannt) (Kuptsch 2012, 22 ff .) . Aus dem Zusammenspiel dieser verschiedenen Politiken mit ihren jeweiligen involvierten Ministerien und Akteuren, zum Beispiel Sozialträgern wie der Caritas und den Gewerkschaften, entstehen unterschiedliche „Migrationsregime“ . Die Aktivierung dieses Konglomerats von bi- und multilateralen Regulierungsversuchen auf verschiedenen politischen Ebenen mit dem Ziel der Steuerung von Migrationsprozessen wird als Migrationsmanagement bezeichnet . Trotz des unklaren Souveränitätsanspruchs der EU liegt dieser weichen Steuerung ein klares Handlungsziel zugrunde . Im Ergebnis geht es bei den auf den unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Politiken um die selektive Öffnung von Grenzen bei gleichzeitiger Beschränkung von Einwanderung . In diesem Prozess sind neue Grenzhierarchien, neuartige Ausformungen von Territorialität entstanden . Die EU trägt Züge eines imperialen Gebildes, das dynamisch nach steter Expansion strebt und das zugleich kein „wirkliches imperiales Machtzentrum“ besitzt und dennoch durch neue Formen der Kontrolle gesteuert wird (vgl . Feldman 2012) . Eine Art neokoloniale postmoderne Ordnung entstand (Krause 2009: 358 f .), bei der sich die wohlhabenden Teile der EU von ihren Rändern her abschirmen (Eigmüller und Vobruba 2011) . Migrationen sind grundlegend für die Herstellung der europäischen räumlichen Neuordnung . Entstanden sind neue Raumtypen, etwa Auffanglager und Transiträume in der EU und um die EU herum . Ein hochausgerüsteter Kontrollapparat agiert mit pragmatischen lokalen Lösungen in einem rechtlich unübersichtlichen Gespinst von Abkommen .

Die „Festung Europa“ steht längst . Viel mehr noch: Durch integriertes Grenzmanagement wurden viele migrationssteuernde Abläufe in Staaten fern der EU vorverlegt .

137

High Politics und Low Politics

Migrationsmanagement

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

4.2.1 Koexistenz unterschiedlicher Migrationsrealitäten und -regime

Großbritannien, Deutschland, Spanien und italien nehmen die meisten einwanderer auf

Schätzungsweise 1,7 Millionen Menschen aus Ländern außerhalb der EU wanderten 2011 in die EU ein, außerdem wechselten rund 1,3 Millionen Menschen von einem EU-Mitgliedsstaat in einen anderen . Am 1 . Januar 2012 besaßen 20,7 Millionen Menschen in der EU–27, das sind 4,1 % der Gesamtbevölkerung, keine EU-Staatszugehörigkeit . 13,6 Millionen besaßen die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedsstaates (Eurostat 2013) . 2011 standen den rund 3,2 Millionen Immigranten in den 27 Mitgliedsstaaten rund 2,3 Millionen Emigranten gegenüber . Den größten Teil dieser Einwanderer, rund 60 %, nahmen die vier Mitgliedsstaaten Großbritannien, Deutschland, Spanien und Italien auf (vgl . Abb . 16) .

abb. 16: europäische länder mit starker Wanderungsdynamik im Jahre 2011

in vielen eu-Staaten überwiegt die auswanderung

relativ wenig einwanderung aus ländern mit niedrigem hDi

etwas mehr Männer als frauen unter den einwanderern in europa

In den EU-Staaten Bulgarien,Tschechien, Irland, Griechenland, Polen, Rumänien und den drei baltischen Staaten überwog die Auswanderung . Bezogen auf die Wohnbevölkerung der EU-Länder verzeichnete Luxemburg die höchste Zahl von Einwanderern, gefolgt von Zypern und Malta . Der Großteil der Einwanderer in die EU stammte aus relativ wohlhabenden und entwickelten Ländern (mit einem vergleichsweise hohen HDI-Index1) . Lediglich 6,3 % der Einwanderer kamen aus weniger entwickelten Ländern (mit einem niedrigen HDI) . In einigen Ländern bestehen die als Einwanderer registrierten Migranten faktisch aus Rückwanderern . In Litauen waren 2011 knapp 90 % aller Einwanderer Rückkehrmigranten, in Portugal knapp 64 % und in Kroatien über die Hälfte (55,3 %) . Die Geschlechterverteilung war in der EU 2011 mit 52,1 % Männern gegenüber 47,9 % Frauen fast ausgeglichen . Der Altersaufbau der Migrationsbevölkerung erweist sich als deutlich jünger als derjenige der Gesamt-EU-Bevölkerung . Mehr Migranten als Einheimische waren im Erwerbsalter zwischen 15 und 65 Jahren, der Me1

138

Der international anerkannte Indikator HDI (Human Development Index) setzt sich zusammen aus den Variablen Lebensstandard (gemessen an der Lebenserwartung in Jahren), der Bildung (Zahl der Schuljahre pro Kopf) und der ökonomischen Stärke (Bruttosozialprodukt pro Kopf) und gibt so Auskunft über den Entwicklungsstand eines Landes . Deutschland gehört bei dem so erstellten Ranking zu den zwanzig am stärksten entwickelten Ländern der Welt .

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

Bestand der drei jeweils größten Migrationsgruppen in den EU-Ländern (%) Belgien Bulgarien Dänemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Irland Italien Kroatien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Österreich Portugal Polen Rumänien Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschech. Republik Ungarn Verein. Königreich Zypern

IT

FR

Summe

NL RU RO UA DE TR PL TR PL RU RU UA BY RU SE EE DZ MA PT AL BG RO GB PL LT RO AL MA BA RS SI RU BY UA RU BY UA PT FR IT GB AU CA TR SR MA DE RS TR AO BR FR UA DE BY MD IT BG FI IQ PL CZ HU UA BA HR RS RO MA EC UA SK VN RO DE UA IN PL PK keine Angaben

0% Quelle: United Nations 2013

493.686 32.297 99.076 3.698.077 192.469 138.564 3.027.723 669.425 415.994 1.883.014 664.898 231.969 111.173 137.135 19.028 568.154 539.578 393.840 384.449 95.518 374.482 108.343 184.695 1.994.461 262.420 298.321 1.894.097

100% Grafik: R. Spohner

abb. 17: Die wichtigsten drei einwanderungsgruppen in den eu-ländern

dian der EU-Bevölkerung lag bei 41,9 Jahren, während die Einwanderungsbevölkerung mit 34,7 Jahren deutlich jünger war . Nur ein gutes Viertel aller im Jahre 2011 ausgestellten Aufenthaltsgenehmigungen wurde zur Arbeitsaufnahme ausgestellt, ein gutes Fünftel zu Ausbildungszwecken und knapp ein Drittel aus Gründen des Familiennachzugs (vgl . auch Abb . 15) . Der EU-Migrationsraum unterteilt sich in verschiedene heterogene Subsysteme, die wiederum Überschneidungen und Abgrenzungen aufweisen . Die einzelnen Subsysteme sind in dieser kurzen Einführung nach ihrer geographischen Lage in Europa, ihrer geopolitischen Position, betitelt . In der Nachkriegszeit mussten ehemalige koloniale Mutterländer ihre Staatsangehörigkeitspolitiken früh überdenken, weil sie den Umgang mit Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien zu regeln hatten . Im Gegensatz dazu brauchten industriell geprägte Länder mit den entsprechenden Energievorkommen besonders Arbeitskräfte für das produzierende Gewerbe . Die südeuropäischen Staaten waren lange durch starke Auswanderungen geprägt und wurden erst seit den 1980er Jahren Ziel tausender Migranten 139

familiennachzug dominiert

ehemalige Kolonialländer weisen Minderheiten auf, Gastarbeiterrekrutierung, neue zuwanderung

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

Kriterien für Subsysteme

aus Afrika und Asien .Vereinfacht lassen sich aktuell fünf Subsysteme voneinander abgrenzen . Zugrunde gelegte Kriterien sind: die Bevölkerungszusammensetzung, die Arbeitsmarktintegration der Migranten und der historische und politische Umgang mit der Einwanderungsbevölkerung . Abb . 17 gibt Auskunft über die jeweils drei stärksten Zuwanderungsgruppen in den EU-Ländern, Schaubild 3 im Anhang präsentiert die im folgenden Abschnitt zusammengefassten Subsysteme im Überblick . Subsystem nordwest

Bevölkerung aus dem commonwealth und aus den Kolonien

Die nordwesteuropäischen Länder weisen in der Struktur ihrer Migrationsbevölkerung bis heute auf ihren ehemaligen Status als koloniale Mutterländer hin (= Großbritannien, Frankreich, die Niederlande, teilweise auch Belgien) . Dies zeigt sich schon an der Bevölkerungszusammensetzung . Auch heute noch stammt ein Großteil der Zuwanderer mit ausländischem Pass in Großbritannien aus den ehemaligen Kolonialstaaten und dem Commonwealth . Indien und Pakistan gehören immer noch zu den drei wichtigsten Geburtsländern der in Großbritannien lebenden, aber im Ausland geborenen Bevölkerung (= foreign born) . Es folgen die polnisch-stämmigen Zuwanderer, die seit der EU-Erweiterungsrunde 2004 verstärkt nach Großbritannien einwanderten . Insgesamt verdoppelte sich der Bestand der ausländischen Bevölkerung in Großbritannien in den zwanzig Jahren von 1993 bis 2012 von 3,8 auf 7,8 Millionen, der Frauenanteil liegt bei 54 % . Rund ein Drittel (2,7 Millionen) lebt in London und Umland . Gut 40 % aller Einwohner Londons gehören zu einer der vielen Minderheitengruppen . Seit dem British Nationality Act von 1948 erlaubt Großbritannien die doppelte Staatsbürgerschaft ohne Einschränkungen und verfolgt multikulturelle Politiken (Garton Ash et al . 2013: 36, Dwyer 2012) . Die (auch religiöse) Vielfältigkeit zeigt sich im Stadtbild: Während die erste Generation der Zuwanderer noch relativ zurückhaltend ihre Gebetsstätten errichtete, setzen die Communities heute immer spektakulärere Bauvorhaben um, darunter der Swaminarayan-Tempel in Neasden oder die Jame Masjid in Handsworth .

in frankreich nachfahren aus den ehemaligen Kolonien

Auch in Frankreich und in den Niederlanden ist die Bevölkerungsstruktur durch die Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien gekennzeichnet, in Frankreich prägen die Migranten aus Nordafrika (Marokko,Tunesien, Algerien), umgangssprachlich auch als pieds noirs bezeichnet, die Bevölkerungszusammensetzung, außerdem Portugiesen . Frankreich, bis zu Beginn der 1930er Jahre neben den USA das wichtigste Einwanderungsland weltweit, führte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Anwerbeabkommen durch und verfolgte seit den 1990er Jahren eine Null-Einwanderungspolitik 140

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

(= immigration zéro) . 2006 führte das Land das Gesetz zur Chancengleichheit ein (loi pour l’égalité des chances), Neuankömmlinge mussten nun einen Integrationsvertrag unterschreiben . Die doppelte Staatsbürgerschaft ist erlaubt . Durch das Ius solis (Recht des Bodens) erhalten alle in Frankreich geborenen Kinder automatisch die französische Staatsangehörigkeit . Frankreich besitzt heute die größte islamische Community in der EU, seit 2011 ist die Verschleierung von Frauen in der Öffentlichkeit verboten – ein Gesetz, das wiederum von der muslimischen Bevölkerung als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit verstanden wurde und heftige Kontroversen auslöste (Engler 2012) . Die Niederlanden unterscheiden die Einwanderungsbevölkerung danach, ob jemand einen im Ausland geborenen Elternteil aufweist (= Allochthone vs . Autochthone) sowie nach westlichen und nicht-westlichen Einwanderern . Die meisten Ausländer stammen aus der Türkei, Marokko, Deutschland, Belgien, Großbritannien und Polen, das wichtigste Herkunftsland der Allochthonen ist die ehemals niederländische Kolonie Indonesien . In der Dekade bis 2010 hat die Zuwanderung aus China stark zugenommen – neben einer Zuwanderung aus den ehemaligen Anwerbeländern Marokko und Türkei . Indonesischstämmige und Migranten aus Surinam prägen die Einwanderungsstruktur (vgl . auch Kapitel 6, Exkurs) .Auch Belgien war zwar koloniales Mutterland und hat aktiv Arbeitskräfte angeworben, es gilt aber bezüglich seiner Bevölkerungszusammensetzung aufgrund seiner speziellen Position in EU-Europa als Sitz der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates und des dementsprechend überproportionalen Anteils an EU-Ausländern als Sonderfall . In Luxemburg kommt knapp die Hälfte der Bevölkerung aus dem Ausland, überwiegend aus den anderen EU-Staaten . Was die Dynamik der Zuwanderung in diesen nordwesteuropäischen Ländern in der letzten Dekade betrifft, zeigt sich mit Ausnahme der Niederlande ein europaweit vergleichsweise hohes Zuwanderungsniveau . Der Anteil der Bevölkerung mit ausländischem Pass an der Gesamtbevölkerung liegt 2011 in diesen Ländern zwischen 4 und 10,6 % (Eurostat 2013) . Der Anteil der Drittstaatler, d .h . nicht EU-Ausländer, an diesen Einwanderern liegt durchweg hoch, zwischen 35 bis 65 % . Der Anteil der Ausländer am Arbeitsmarkt bewegt sich in den drei Ländern Belgien, Großbritannien und Frankreich zwischen 3,7 und 8,9 % und liegt damit niedriger als in den Ländern, deren Migrationssystem grundsätzlich auf der Gastarbeiterzuwanderung beruht (Deutschland, Österreich, Schweiz, s .u .) . Subsystem zentrum

Deutschland, Österreich und die Schweiz bilden ein eigenes Subsystem mit Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Zuwanderungsstruktur . Allein schon durch die sprachliche Nähe beziehen sich die Integrationspolitiken dieser Länder in vielen Punkten aufeinander . Alle drei Länder haben durch aktive Rekrutierungspolitiken bis 1973 Arbeitskräfte angeworben, vorzugsweise auf Rotationsbasis . Die Nachfahren dieser seinerzeit zugewanderten 141

Ius solis Kopftuchverbot in frankreich

Belgien und luxemburg als eu-ausnahmen

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

Starke anteile von zuwanderern, starke anteile einer zweiten und dritten Generation

integration, nicht Multikulturalität

Migranten leben inzwischen in der zweiten und dritten Generation in diesen Ländern . Wichtigste Zuwanderungsgruppen sind in Deutschland und Österreich die türkischstämmigen und aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Migranten, der Ausländeranteil liegt 2012 insgesamt zwischen 9 und 11 %, wobei der Anteil der EU-Ausländer in diesen beiden Ländern zwischen 37 und 39 % liegt und der Anteil an Drittstaatlern zwischen 61 und 63,5 % . Der politische Umgang mit den Migranten legt seit vielen Jahren einen Schwerpunkt auf Integration in die Mehrheitsgesellschaft, nicht auf Multikulturalität . Die Schweiz bildet mit einem Ausländeranteil von 22,4 % an der Gesamtbevölkerung, davon zwei Drittel aus EU-Ländern, eine Ausnahme . Der Ausländeranteil am Arbeitsmarkt liegt bei knapp einem Drittel und ist auf strikte Rotation ausgerichtet . Die Integrationspolitik gestaltet sich restriktiv, die Schweiz hat seit 2009 ein Minarettverbot . Subsystem Südeuropa

portugal und Spanien wieder auswanderungsländer

informelle arbeitsmärkte, illegalisierte Migration

Spanien, Portugal und teilweise auch Italien bilden ein weiteres Subsystem, das noch Bindungen in die ehemaligen Kolonien hinein besitzt . Diese südeuropäischen Länder waren bis in die 1980er Jahre hinein Emigrationsländer, sie erlebten in der Nachkriegszeit starke interne Migrationen . Heute besteht in diesen Ländern eine hohe Migrationsdynamik, der Anteil der irregulären Migranten liegt deutlich über dem europäischen Durchschnitt, insbesondere in Griechenland . Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 2012 in diesen Ländern Südeuropas zwischen 4 und rund 12 %, größtenteils stammt dieser aus außereuropäischen Drittstaaten . Über ein Zehntel der Arbeitnehmer in Spanien und Italien kommt aus dem Ausland, in Portugal sind dies keine 3 % . Nach Portugal kommen zumeist Immigranten aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien, zunehmend aber auch aus Rumänien (OECD 2006), wobei sich Portugal mittlerweile wieder zu einem Auswanderungsland zurückentwickelt . Nach Italien kommen in großem Umfang Einwanderer aus Rumänien, Albanien und Marokko, aber auch aus den Philippinen . Spanien gehört seit Anfang der 2000er Jahre zu den begehrtesten Zuwanderungsregionen in Europa, seit der Wirtschaftskrise 2008 erfolgen jedoch schnell wieder starke Ab- und Rückwanderungen aus diesem Land . In allen südeuropäischen Ländern arbeiten die Migranten überwiegend als Erntehelfer, in Schlachtbetrieben, im Baugewerbe oder in der Pflege . Auch die regelmäßig stattfindenden Legalisierungsmaßnahmen unterscheiden diese Länder vom restlichen Europa . Durch diese Legalisierungen definiert sich in vielen Teilen auch die Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung, weil die Möglichkeit zur Legalisierung immer wieder Migranten aus allen Teilen Europas anzog .

142

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

osteuropa

Die wenigen vorliegenden Zahlen lassen erkennen, dass die Immigration heute vor allem aus anderen osteuropäischen Ländern erfolgt . Insbesondere Russland und die Ukraine sind wichtige Herkunftsländer dieser Kaskadenmigration, einer schrittweisen Migration von einem Land ins nächste . Einige Länder, wie zum Beispiel Polen und Tschechien, befinden sich im Übergang vom Auswanderungs- zum Transitland . Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung liegt im Jahre 2011 bei maximal 4 % in der Tschechischen Republik, in den meisten anderen Ländern weit darunter . Der Anteil der Drittstaatler beträgt in allen Ländern, mit Ausnahme der Tschechischen Republik und der Slowakei, über 90 % . Der Anteil der Ausländer auf dem Arbeitsmarkt bewegt sich bei geringen 0,1 bis 2,4 % . Mehrfach versuchten Wissenschaftler, das Migrationspotential aus Osteuropa nach EU-Europa zu schätzen . Fragen die Wissenschaftler ganz allgemein nach der Absicht, auszuwandern, so erhalten sie sehr viel öfter eine positive Antwort als wenn nach konkreten Absichten (und den damit verbundenen Vorbereitungen) gefragt wird . Der Anteil der Entschlossenen bewegt sich dann zwischen 0,7 % und 2,1 % bei der über 14-jährigen Bevölkerung (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn) (Fassmann 2002) . Osteuropäische Staaten wie Bulgarien und Rumänien sind sogenannte Transitländer der Migration – sie erleben Zuwanderung, obwohl sie als Auswanderungsländer gelten . Litauen ist ein Ausnahmefall, weil hier die große russische Minderheit, die erst durch den Staatszuschnitt nach der Wende in den Statistiken zu „Ausländern“ wurde, abgebildet wird .

Vom auswanderungszum transitland

Wenig ausländische Bevölkerung

Migrationspotentiale werden überschätzt

nordeuropa

Die skandinavischen Länder sind durch interne Migrationen gekennzeichnet . Daneben lässt sich vor allem eine Zuwanderung aus Krisengebieten erkennen: Irak, Iran, Afghanistan (aber auch Bosnien-Herzegowina und China) stellen wichtige Herkunftsländer für Flüchtlinge nach Schweden, Irak und Somalia für Norwegen dar . Für Finnland bildet Russland ein wichtiges Herkunftsland . Die Dynamik der Zuwanderung hält sich insgesamt eher in Grenzen . Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung liegt 2011 mit 7,5 % in Norwegen am höchsten; in den anderen Ländern ist dieser teilweise deutlich niedriger . Der Anteil der EU-Ausländer beträgt circa ein Drittel . Der Ausländeranteil am Arbeitsmarkt ist mit maximal 6,4 % (in Dänemark) als moderat einzuschätzen . 4.2.2 Meilensteine auf dem Weg in eine europäische Migrationspolitik Die Europäische Gemeinschaft, hervorgegangen aus der EWG bzw . der Montanunion, verkörpert ein Friedensprojekt, das maßgeblich auf der gegenseitigen und grundsätzlichen Anerkennung der bestehenden territori143

in nordeuropa starker anteil an flüchtlingen an der Migrationsbevölkerung

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

Gegenseitige anerkennung von Grenzen

Maastricht-Vertrag

regulierungen nur für erwerbstätige

Schengener abkommen, Schengenland

alen Grenzen beruht . Mit dem europäischen Einigungsprozess wurden die Grenzen der EU nun nach und nach in einen neuen Kontext gestellt, in Folge änderten sich auch die Grenzfunktionen . Historisch weist der Trend von maximaler Grenzschließung zu selektiver Grenzöffnung (Georgi 2007, Eigmüller und Vobruba 2012) . Erste Versuche einer Vereinheitlichung der europäischen Migrationspolitik gehen auf den Maastrichter Vertrag von 1992 zurück . Bis dahin waren alle Migrationsangelegenheiten und die Migrationsgesetzgebung ausschließlich Angelegenheit der Nationalstaaten . Gelegentlich kam es in einzelnen Punkten zu Kooperationen . Seit der Gründung der EWG im Jahre 1957 bezogen sich die Regelungen über die Mobilität von Personen, entsprechend der damaligen Zielsetzung der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes, noch ausschließlich auf Erwerbstätige . Nach und nach übertrugen die Politiker die Freizügigkeit auch auf Nicht-Erwerbstätige . 1985 wurden von der Kommission erstmals wirkliche Leitlinien für eine Wanderungspolitik verabschiedet . Die auf der Basis dieses Weißbuches verabschiedete Einheitliche Europäische Akte (EEA) diente schließlich als Richtlinie für die Vollendung des für Dienstleistungen, Personen und Kapital grenzenlosen Binnenmarktes . Entgegen der Befürchtungen bei der Einführung der Freizügigkeit in Europa blieben die EU-Wanderungen dann de facto unter dem erwarteten Ausmaß und pendelten sich lange auf einem Niveau von ungefähr 1,5 % aller Wanderungsbewegungen in der EU ein . Bis heute von herausragender Bedeutung für die Abstimmung der einzelnen nationalen europäischen Migrationspolitiken aufeinander war das Schengener Abkommen, das 1985 aus einer Reihe bilateraler Abkommen hervorging . Fünf Unterzeichnerstaaten (Belgien, Luxemburg, Niederlande, Frankreich und Deutschland) einigten sich auf eine Ergänzung der EU-Freizügigkeit insofern, als nun immer deutlicher die Außengrenzen der EU gegen Zuwanderung aus Drittstaaten gesichert wurden . Beide Umstrukturierungen, die Einführung der Freizügigkeitsregelung und die Errichtung von Schengenland, erfolgten über bis zu zehnjährige Übergangsfristen . Dies geschah im Falle Griechenlands, Spaniens und Portugals so und später beim Beitritt der Ost-EUStaaten ebenfalls .

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die Einwanderung nach Europa bewegte sich noch auf niedrigem Niveau, nahmen die gemeinsamen Migrationspolitiken konkreter Gestalt an . Die Maueröffnung 1990 und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche (und Migrationen) lagen in weiter Ferne, so auch die starken Flüchtlingsbewegungen nach der Wende oder etwa die Pendelwanderungen von Ost- nach Westeuropa . In erster 144

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

Linie dachten die EU-Politiker seinerzeit an die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes . Die Migrationspolitiken stellten für sie eine Art Laboratorium für die neue politische Vorgehensweise und den Ausbau des Generaldepartments (DG) Justice and Home Affairs (JHA) dar . Die EU befand sich in einem Kontroll-Dilemma . Einerseits wollten die Verantwortlichen einen gewissen Grad an Offenheit bei der Kontrolle von Migration erreichen, auch um potentielle Touristen nicht zu verschrecken (die Tourismusindustrie profitierte seinerzeit von bezahltem Arbeitnehmerurlaub und der Einführung von Billigfliegern), und andererseits auch andere, gegen eine Ausweisung geschützte Gruppen (z .B . Familienmitglieder oder Langzeit-Ansässige) nicht ausgrenzen (Guiraudon 2000: 259) . Migrationspolitiken diskutierte man hinter den verschlossenen, „vergoldeten“ Türen der Bürokratie . Sie entstanden eben nicht durch die Partizipation migrantischer Gruppen in den Einwanderungsländern – was die europaweite Ähnlichkeit der Migrationsgesetzgebung bei den ganz heterogenen Einwanderungsmustern in den verschiedenen Ländern erklärt (Guiraudon 2000) . Das zweite Schengener Abkommen (Schengen II, 1990) konkretisierte die Vorgaben des ersten Abkommens, indem es auf den völligen Abbau von Personenkontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen zugunsten einer stärkeren Kontrolle der EU-Außengrenzen zielte . Geregelt wurde nun der Reiseverkehr der Drittausländer bzw . Drittstaatler (= Personen ohne Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates der Europäischen Gemeinschaft), ebenso wurde die Verpflichtung der Staaten, nationale Rechtsvorschriften über die „Rückschaffung“ von solchen Personen an den Außengrenzen zu erlassen, geschärft (siehe Art . 26, Schengen II) . Erstmals verpflichtete der Staat jetzt private Unternehmen, zum Beispiel Beförderungsunternehmen, zur Kontrolle der Reisedokumente ihrer Passagiere – im Grunde eine Delegation ordnungspolitischer Maßnahmen an Privatunternehmen . Es folgten ein intensivierter Informationsaustausch und eine länderübergreifende gegenseitige Unterstützung bei der Verfolgung von Verdächtigen und Straftätern, der Auf- und Ausbau des Schengener Informationssystems (SIS) in Straßburg . Schengen II sah den weitgehenden Abbau von Kontrollen des Warenverkehrs vor, bessere Datenschutzstandards sowie Sanktionen gegen Schlepper . Der Maastrichter EU-Vertrag überführte die Migrationspolitik in den institutionellen Rahmen der EU, man blieb allerdings bei einem Mischmodell von intergouvernementalen und gemeinschaftlichen Regelungen (Geiger 2010) . Seit dem Maastrichter Vertrag verfolgte die europäische Migrationspolitik zwei wesentliche Ziele: erstens die stärkere Kontrolle und Verhinderung irregulärer Zuwanderung aus Drittstaaten in die EU und zweitens eine bessere Integration der bereits in der EU lebenden legalen Einwanderer . Ende der 1990er Jahre waren durch diese Politiken einer Unterteilung in EU- und Nicht-EU-Ausländer auch neue Kategorien von Migranten in der EU entstanden: einmal Staatsbürger der EU-Mitgliedsstaaten und zum 145

Kontrolldilemma: Wo hört tourismus auf, wo fängt einwanderung an?

politik hinter verschlossenen türen

abbau von personenkontrollen nach außen, Verlagerung nach innen

Weiterhin ein Mischmodell

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

Mehr Kontrolle, Verhinderung irregulärer Migration, integration der anwesenden Migranten

Die Vergemeinschaftung als ein unerreichtes ziel

Sicherheitsfragen als treibende Kraft

9/11 als legitimation

anderen die Drittstaatler, die weiterhin den nationalen Visapolitiken unterstanden . Es handelte sich um eine aktive Strukturierung der Exklusion, wobei den Schweizern (von EU-Grenzen umgeben) immer wieder besondere Rechte zugestanden wurden (Miles und Thränhardt 1995) . Migrationsund Asylpolitik wurden zunehmend getrennt diskutiert und verhandelt . Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 erfolgte die Überführung der Migrations- und Asylpolitik in die erste Säule des EU-Vertrages, sie wurde so zu einer gesamteuropäischen Aufgabe . Die Umsetzung der Regulierungen blieb dennoch Angelegenheit der einzelnen Staaten . Innerhalb von fünf Jahren sollte eine Vergemeinschaftung erfolgen – bekanntermaßen ein bis heute unerreichtes Ziel . Die dringlichsten Probleme sind ungelöst: die Umsetzung der Genfer Konvention, der Schutz und die Integration von Flüchtlingen, die Verteilung der Lasten zwischen den europäischen Partnern sowie die Entwicklung und Harmonisierung von Integrations- und Anti-Diskriminierungspolitiken, der Umgang mit den an den Mittelmeerküsten anlandenden Migranten . Übersicht 7 fasst die wesentlichen Abkommen und Instrumente der europäischen Migrationspolitik in einer Synopse zusammen . Von Anfang an stellten Sicherheitsfragen eine treibende Kraft der Aushandlungsprozesse in der Migrationspolitik dar . Bereits 1975 gründete sich anlässlich der terroristischen Attacken auf die Olympischen Spiele 1972 die TREVI Group, eine Arbeitsgruppe von zwölf Mitgliedsstaaten . Aus dieser entstand dann 1986 die Ad-Hoc Working Group on Immigration (AHWGI), die sich dezidiert auf die Verbindung von irregulärer Migration mit kriminellen Aktivitäten konzentrierte und in Richtung einer kohärenteren Visapolitik und einer Kontrolle der Außengrenzen arbeitete (Bigo 1994) . Die weltpolitische Lage begünstigte diese Zuspitzung: Mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs zwischen Ost und West entfiel für den Westen nun auch die jahrelang proklamierte humanitäre Verpflichtung, Migranten aus den sowjetisch dominierten Ländern aufzunehmen . Seit den Anschlägen des 11 . September 2001 dominierten Sicherheitsfragen die Politik dann vollständig, die Europäisierung der Migrationskontrolle verlief weiter in einem zähen Aushandlungsprozess . In erster Linie waren nicht-bindende Abkommen und informelle Arrangements maßgeblich . Ein Patchwork informeller Akteure und formeller Institutionen wob das heutige Geflecht der europäischen Migrationspolitik gemäß des übergeordneten politischen Ziels eines Nebeneinanders von Kontrolle und der Integration bereits legal in der EU lebender Migranten in der EU .

146

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

Zeitraum

Abkommen/ Programm

Ziele, Maßnahmen und Instrumente Grenzfreies Europa, Wegfall der internen Grenzkontrollen und stärkere Kontrolle der Außengrenzen, Einführung von SIS, nationale Büros (SIRENE), gemeinsame Visa-, Asyl- und Migrationspolitiken

1985

Schengen I (Benelux, D und F)

1990 (1995 in Kraft getreten)

Schengen II

1990 (1997 in Kraft getreten)

Dublin

1992 (1993 in Kraft getreten)

Maastrichter Vertrag

1997 (1999 in Kraft getreten)

Amsterdamer Vertrag

Visa-, Migrations- und Asylangelegenheiten sowie externe Grenzkontrollen werden in die erste Säule des EU-Vertrages übernommen, Harmonisierung der Visaregeln

1999 bis 2004

Tampere Gipfel und Programm

Herstellung der EU als ein Gebiet des Friedens, der Sicherheit und Gerechtigkeit durch die volle Umsetzung des Schengen-Acquis, Betonung der Bekämpfung irregulärer Migration, Verankerung von Migrationspolitik in allen außenpolitischen Feldern der EU, u.a. auch Rücknahmeabkommen, Beginn der Externalisierung von Grenzkontrollen, VIS (Visa Information System) zur Bekämpfung gefälschter Dokumente, Verbesserung von Visa-Überprüfung und Verwaltung (bis 2006)

2005 bis 2010

Haager Programm

Einführung von migration management durch ein Kontinuum von Sicherheitsmaßnahmen, EU Action Plan on Combating Terrorism mit verschärften Visapolitiken, der Kampf gegen den Terrorismus und irreguläre Einwanderung wird zu Hauptzielen der Innen- und Justizpolitik

2005

Gründung von Frontex (Warschau)

Koordination der Grenzsicherung durch Risikoanalyse, Planung, Forschung und Entwicklung, technische und operative Unterstützung durch RABITs (Rapid Intervention Teams) und Gastoffiziere, Entwicklung eines gemeinsamen Grenzschutzcodes

2005

Gesamtansatz Migration (Global Approach to Migration)

Förderung des Dialogs mit Sendestaaten/mit Nachbarstaaten im Mittelmeerraum (Euromed), Netzwerke sog. ILO (Immigration Liason Officers) entlang der Hauptmigrationsrouten, Präventivmaßnahmen im Bereich der Entwicklungspolitik, AENEAS Programm unterstützt Drittstaaten, Einsetzung der Africa EU Partnership on Migration, Mobility and Employment

2006 bis 2010

LIMES MARISS

Intensivierung und Identifikation von bedrohlichen Ereignissen mit Hilfe von Satelliten, luft-, wasser- und landbasierten Überwachungstechniken (LIMES = Land and Sea Integrated Monitoring for European Security/ MARISS = European Maritime Security Services), EURODAC (Fingerabdrucksystem für Drittstaatler, illegale Migration)

2007

Vertrag von Lissabon

Arbeitsmarktbezogene Zuwanderung wird weiter durch das Einstimmigkeitsprinzip im Rat geregelt; deshalb ist europäisches und harmonisiertes Handeln auch zukünftig nicht zu erwarten

2008

EUROSUR (European Border Surveillance System)

Elektronische Datenerfassung nach US-Vorbild als Überwachungssystem zur Überprüfung von Irregulären und Einwanderern als Kriminalitätsprävention, stärkere Pflichten des Arbeitsgebers, die Arbeitnehmer auf ihren Aufenthaltsstatus zu überprüfen, Identifikation von best practices zur Vorbeugung und Bekämpfung von Menschenhandel

2008 (2009 in Kraft getreten)

Richtlinie für die Überführung sich illegal aufhaltender Einwanderer

2008

CIGEM (Migration Information and Management Centre) in Bamako/Mali

Betonung von Entwicklungskooperationenmit der EU, Information über die Chancen und Risiken von Auswanderung, Ausbildungsmöglichkeiten, Erleichterung der Rücküberweisung durch das „African Remittances Institute“ unter Leitung der Afrikanischen Union

2009 (2012 in Kraft getreten)

Bluecard Initiative

Durch die befristete Zulassung von qualifizierten Arbeitskräften in Teilbereichen des Arbeitsmarktes soll dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Vorgesehen ist Zirkularität, nicht Einwanderung.

2010 bis 2014

Stockholmer Programm Mobilitätspartnerschaften

ISA (Convention Implementing the Schengen Agreement) Drittstaatenregelung, d.h. Asylanträge müssen im Land des Grenzübertritts gestellt werden, „sichere Drittstaaten“ sind ausgenommen (d.h. Länder, in denen keine politische Verfolgung stattfindet). Einrichtung der Datenbank Dactyloscopy mit Fingerabdrücken von Asylbewerbern, die über 14 Jahre alt sind. Institutionalisierung von Migrationsangelegenheiten in der dritten Säule des JHA (Justice and Homeaffairs), jedoch Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten, Schaffung von Europol (European Police Office), Einführung der EU-Staatsbürgerschaft

Vereinheitlichung der Abschiebepraktiken von Menschen ohne Papiere in die Herkunftsländer

Integriertes Grenzmanagement, insbesondere Tätigkeit von Frontex, ebenenverknüpfendes Modell der Grenzsicherung, Solidarität mit den von Immigration stark betroffenen Mitgliedsstaaten

Zusammenstellung nach: Angenendt (1999 und 2012), Togral (2013), Guiraudon (2000), Bendel (2009), Emmert (2008), Geiger (2010), Tohidipur (2011). Entwurf: F. Hillmann Graphik: U. Schwedler

Übersicht 7: ziele, abkommen und instrumente der europäischen Migrationspolitik 147

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

4.2.3 Die Funktionsweise von Migrationsmanagement

zunächst informelle plattformen, icMpD

Schließlich eine formalisierung

Schaffung eines Dialoges durch globale foren

ein unsichtbares Kontrollzentrum entsteht

Anfänglich ging die Diskussion über die Umsetzung des Schengener Abkommens Hand in Hand mit der Zunahme zwischenstaatlicher NGOs und Diskussionsforen, die sich im Laufe der Jahre verstetigten . Heute besteht eine Vielzahl von NGOs, die eine mehr oder weniger informelle Plattform des Migrationsdiskurses auf einer halb institutionalisierten Ebene bieten . Ein gutes Beispiel für eine solche supranationale informelle Diskussionsplattform stellt das ICMPD (International Centre for Migration Policy Development) in Wien dar . Zu den Tätigkeitsfeldern dieser Organisation gehörten anfangs Dienstleistungen für die Mitgliedsstaaten, Auftragsforschungen, operative Projekte und Sekretariatsdienste . Das Budget speiste sich aus Mitgliedsbeiträgen und Projektmitteln verschiedener Geldgeber . Durch die Sekretariatstätigkeit wurden Tagesordnungen geschrieben, Hintergrundberichte erstellt und Aktivitäten angestoßen, Debatten vorstrukturiert und Ergebnisse betont oder verkleinert, es entstanden Kontakte (Georgi 2007: 31) . In einer zweiten Entwicklungsphase rückte das ICMDP in den Mittelpunkt der europäischen Migrationspolitik . Laufend produzierte es Forschungsergebnisse, unterhielt Kooperationen mit allen migrationsrelevanten internationalen Organisationen (wie etwa IOM, UNHCR, ILO, Interpol), führte Ausbildungsprojekte durch und entwickelte ein eigenes Informationssystem . 2003 wurde das Institut als Akteur verstetigt . Im Rahmen des sogenannten Budapester Prozesses, einsetzend mit der Einrichtung der High Level Working Group (HLWG), sollte in der EU dann die Wende hin zu einer offensiven Migrationspolitik vollzogen werden (Ge­ orgi 2007: 47, siehe auch Geiger 2010) . Nun erfolgte eine Ausweitung des Aktivitätsbereichs des Centers, eine Reorganisation mit dem Ziel einer Ausdehnung des Migrationsregimes auf die GUS-Region sowie Zentralasien und eine engere Zusammenarbeit mit anderen, neuen globalen Foren zur Migrationspolitik wie der Global Commission on International Migration (GCIM) . Formal gab es zwar keine eigene programmatische Position des ICMDP, doch existierte durchaus eine eigene handlungsleitende Agenda . Es ging um Migrationskontrolle und um die Bekämpfung irregulärer Migration, um die Begleitung des Integrated Border Management (= die Kombination von sicheren Drittstaaten, sicheren Herkunftsländern und Sanktionen an die eingebundenen Beförderungsunternehmen) als Teil einer restriktiven Flüchtlingspolitik . Migrationsmanagement veränderte sich von der relativ einfachen Ausstellung von Visa und dem Stempeln von Pässen hin zu einem umfassenden grenzübergreifenden Monitoring transnationaler Bewegungen . Es bildete sich ein unsichtbares Kontrollzentrums heraus, gespeist durch die pragmatische Einführung von Technologien und disziplinierenden Verfahren – kurz, ein „Panoptikum“ im Foucault’schen Sinne (Feldman 2012: 61) . Neben die stärkere informelle Strukturierung der Steuerung von Migration trat die zunehmende Kooperation mit Staaten außerhalb der EU . Sie 148

4.2 DaS europäiSche MiGrationSSySteM Mit Seinen SuBSySteMen

sollten sich schon im Vorfeld an der Steuerung der Migrationen in die EU beteiligen . Eine Vielzahl bilateraler Abkommen, bei denen zum Teil materielle Hilfen, manchmal als Entwicklungshilfe verpackt oder etwa als Visa-Erleichterungen zur Einreise in die EU konzipiert, als Gegenleistung für eine verschärfte Kontrolle vergeben werden, regeln dies (Wiedemann 2008) . Eines der bekanntesten Abkommen war dasjenige zwischen Italien und Libyens ehemaligem Präsidenten Gaddafi im Jahre 2008 . Exkurs: Massengrab Mittelmeer Jahrelang kommen an Italiens Seegrenzen tausende Schiffbrüchige aus Afrika an, das Land dient Migranten und Schleppern als Zielpunkt verschiedener Routen von Afrika nach Europa . Die östliche Mittelmeerroute führt über den Landweg von Ägypten aus über Jordanien und Syrien in die Türkei und von dort mit Booten nach Griechenland oder Zypern . Der Großteil der aus Libyen startenden Boote landet entweder auf Malta oder auf Lampedusa . 2007, als noch ein Luft- und Waffenembargo von Seiten der UN und der EU nach Libyen bestand, intensivierten Italien und Libyen ihre Kooperation . Im Dezember 2007 unterzeichnete der damalige Außenminister Italiens, Giuliano Amato, ein protocol of understanding, Vorläufer des formalen Vertrages .Vereinbart wurde die Bereitstellung von sechs italienischen Schiffen, die gemeinsam patrouillieren und Libyens Küstenüberwachung ausbauen sollten . Migrantenboote sollten abgefangen und zurück nach Libyen geschickt, auf diese Weise Menschenleben gerettet werden . 2008 schlossen Gaddafi und Berlusconi dann einen Vertrag, der vorsah, dass Italien Libyen Reparationszahlungen für die Kolonialherrschaft Italiens in Libyen (1911–1943) in Höhe von 250 Mio . € jährlich zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten zahlte . Im Gegenzug vereinbarten die Vertragspartner den „Kampf gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität, Drogenhandel und illegale Migration“ (Bonse 2011: 53) . Die irreguläre Einwanderung ging in Folge dieser Maßnahmen stark zurück . Viele der im Land abgefangenen Migranten wurden von Gaddafis Regime sprichwörtlich zurück in die Wüste geschickt, viele verendeten dort . Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL, Amnesty International und das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisieren solche Abkommen immer wieder, weil sie die Migranten erst auf noch gefährlichere Routen drängten und außerdem das völkerrechtliche Prinzip des non-refoulement unterliefen (Bendel 2009: 15, Bonse 2011) . Flüchtlinge werden so schon vor ihrem Eintritt in die EU abgefangen und es wird ihnen die Möglichkeit eines Asylverfahrens genommen (Klepp 2011) . 149

Migrationskontrolle für Gegenleistungen

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Am 7 . Oktober 2013 kenterte ein weiteres Boot mit 500 Migranten aus Afrika, mehrheitlich Eritrea und Somalia, vor der Küste Lampedusas . Weit über 300 Menschen ertranken . Auf dem dicht besetzten Schiff standen die Menschen, die wenigsten von ihnen konnten schwimmen . Die Aufnahmelager auf der Insel Lampedusa sind völlig überfüllt, die Menschen schlafen im Regen . Gegen die 154 überlebenden Migranten laufen Verfahren wegen illegaler Einwanderung . Italien delegiert die Schuld an die EU und erwartet mehr Hilfen zur besseren Absicherung der Seegrenzen (Tagesspie­ gel, 10 .10 .2013) .

Counting the uncountable

zwischen 1,9 und 3,8 Millionen irreguläre Migranten in europa

Stabilisierung der peripherien

Seit 2004 enp

In den Medien sind die Bilder gestrandeter Migranten und überfüllter Boote allgegenwärtig, Diese Migranten stellen jedoch nur den kleineren Anteil der illegal in die EU einwandernden Menschen . Der weitaus größte Teil, etwa Dreiviertel aller Illegalen, bleibt mit abgelaufenen Papieren einfach im Lande – sie sind sogenannte overstayer (Bonse 2011: 46) . “Counting the uncountable” heißt es in der Migrationsforschung, weil niemand ganz genau wissen kann, wie viele Menschen sich irregulär in den EU-Staaten aufhalten . Man weiß jedoch, dass die südeuropäischen Länder mit ihren langen Küstenstreifen und ihren stark informell geprägten Arbeitsmärkten tendenziell als Transitländer mehr irreguläre Migranten aufnehmen als die Nordländer . Das EU-finanzierte clandestino-Projekt geht von einer Abnahme der irregulären Migranten in der EU-15 aus: 2002 befanden sich zwischen 3,1 und 5,3 Millionen irreguläre Migranten in Europa, 2008 zwischen 1,9 und 3,8 Millionen . Die Frage der irregulären Zuwanderung ist hoch politisiert und die damit einhergehenden Zahlenspielereien sind verschiedenen Seiten dienlich . Sie helfen sowohl beim Aufbau einer Bedrohungs- und Kriminalisierungskulisse durch die Behörden als auch zur Betonung der Marginalität und Verwundbarkeit der irregulären Migranten als Teil der größeren Debatte um soziale Rechte und Menschenrechtsdiskurse (Clandestino Project 2009) . Der Umgang mit den illegalen Migranten und mit den Flüchtlingen spiegelt Tendenzen einer Peripherisierung ganzer Regionen in der EU . Sobald ein Peripherieland selbst EU-Mitglied geworden ist, entwickelt dieses sogleich ein starkes Interesse an der Stabilisierung der eigenen Peripherie (Eigmüller und Vobruba 2011: 122 ff .), wobei die Aussicht auf bessere Migrationskontrolle einen großen Teil der Verhandlungsmacht ausmacht . Geregelt wird dies seit 2004 im Rahmen von Europäischen Nachbarschaftspolitiken (ENP) . Im Rahmen dieser Politiken handelt die EU mit einzelnen Ländern besondere Abkommen aus, die neben wirtschaftlichen Kooperationen auch Möglichkeiten der legalen Einreise für ausgewählte Gruppen und außerdem Visaerleichterungen vorsehen . Seit 2007 bestehen zusätzlich „Mobilitätspartnerschaften“ mit Ländern, die starke illegale Migrationen 150

4.3 NEUE TERRITORIALISIERUNGEN, BORDERSCAPES UND TRANSITRÄUME

aufweisen . 2011 wurden Pilotpartnerschaften mit Kap Verde, Moldau, Georgien und Armenien eingerichtet (Angenendt 2012: 5) . Im Sommer 2013 unterzeichneten Marokko und im März 2014 Tunesien Mobilitätspartnerschaften mit der EU,Vorgespräche laufen mit dem Königreich Jordanien . Die Länder verpflichten sich zu einer aktiven Zusammenarbeit bei der Steuerung der Migrationsströme und bei der Bekämpfung der illegalen Migration . Im Gegenzug können die Länder Visa und Möglichkeiten der legalen Migration für ihre Staatsbürger in die EU sowie für eine befristete Dauer eine Arbeitsgenehmigung erhalten (Eigmüller und Vobruba 2011: 118; Parusel 2010: 216) . An der grünen Grenze zu Osteuropa strukturieren lokale Abkommen (sogenannte LBTA, Local Border Traffic Agreements) den Grenzverkehr . Im Rückblick zeigt sich, dass die Anschläge vom 11 . September 2001 in den USA und die Bombenattentate in Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) dazu führten, die gesamte Debatte über Migrationskontrolle immer enger an den Diskurs über Sicherheit bzw . Sicherheitsrisiken zu binden . Diese „Versicherheitlichung“ des Diskurses, eine Übernahme des in der angelsächsischen Literatur verwendeten Terminus securitization, legitimierte bestehende Überwachungspolitiken und diente als Begründung für die Einführung von Technologien aus dem militärischen Bereich an den EU-Außengrenzen (vgl . Togral 2012) . Der aufkommende Fokus der Politik auf Sicherheitsfragen gestaltete sich äußerst schwierig, weil völlig unklar war, wer genau der Feind war und wie man ihn bekämpfen sollte . Gegen den homegrown terrorism, wozu auch die Radikalisierung religiöser Gruppen im eigenen Land gehörte, waren die Sicherheitsbehörden mit den herkömmlichen Instrumenten nicht gewappnet .Verschärfte Grenzkontrollpraktiken und die Einführung biometrischer Verfahren (Gesichtserkennung und Fingerabdrücke) für EU-Ausweise sollten Abhilfe schaffen, ebenso neue Überwachungsstrategien wie zum Beispiel die entpersonalisierte Rasterfahndung .

(im)Mobilitätspartnerschaften

tausche Visa gegen abwehr

Securitization

radikalisierung und homegrown terrorism

entpolitisierung und neoliberale Weltpolitik

Kritiker sehen in der starken Informalität der Verfahren eine Ausschaltung demokratischer Kontrolle und eine Verwässerung von Verantwortlichkeiten, andere betonen die damit einhergehende Entpolitisierung im Zuge einer neoliberalen Weltordnungspolitik .

4.3 neue territorialisierungen, borderscapes und transiträume An den Grenzen Europas zeigen sich längst die räumlichen Konsequenzen dieser zunächst unsichtbaren Lenkung . Dort sind de facto neue Landschaften entstanden, sogenannte borderscapes. Sie funktionieren weltweit ähnlich . Ein 151

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

ein sieben Meter hoher zaun mit nato-Draht in Melilla

besonderes Merkmal ist die Errichtung von hochtechnisierten sichtbaren und unsichtbaren Zäunen . Allein der Zaun an der europäischen Grenze der spanischen Exklave Melilla ist sieben Meter hoch und mit messerscharfem Stacheldraht umwickelt . Beim Versuch, diesen Zaun zu überwinden, sterben viele Menschen, immer wieder auch bei Massenanstürmen . Einen Vorläufer für die stattfindende Umgestaltung von Grenzräumen stellt die Grenze zwischen den USA und Mexiko dar . Zugunsten einer besseren Grenzkontrolle wurde dort das gesamte Erdreich eingeebnet und angepasst (siehe Foto 3) . Die entstehenden borderscapes besitzen nicht nur eine

foto 3: Grenzstreifen zwischen los angeles county und tijuana, hillmann 2011. 152

4.3 NEUE TERRITORIALISIERUNGEN, BORDERSCAPES UND TRANSITRÄUME

besondere physische Struktur, sondern es handelt sich im weiteren Sinne auch um geopolitische Pufferzonen, die zwischen kulturell und ökonomisch unterschiedlich geprägten Regionen angesiedelt sind und eine besonders starke Migrationsfrequenz aufweisen . In diesen Räumen konkretisiert sich, was zuvor auf politischer Ebene beschlossen wurde, und dort liefert die Praxis der Umsetzung die Erfahrungswerte für das zukünftige politische Vorgehen auch andernorts . Die Festung Europa ist traurige Realität, eine Task Force Mediterranean wurde nach den oben beschriebenen Ereignissen von Lampedusa noch im Oktober 2013 eingesetzt, das operative Hauptquartier für die Operation Atalanta in Northwood, Großbritannien, angesiedelt (Deutscher Bundestag 2014) . In Europa verkörpert die 2005 eingerichtete Grenzschutzagentur Frontex (abgeleitet von frontières exterieures) einen weiteren Schritt hin zu einer Institutionalisierung der vormals informellen Migrationspolitiken . Frontex hat die Aufgabe, die Kontrollen an den EU-Außengrenzen zu unterstützen, indem den jeweiligen nationalen Grenzschützern operative Hilfen wie technisches Gerät und Know-how zur Verfügung gestellt und sogenannte Rückführungen begleitet werden . Regelmäßig werden Risikoanalysen erstellt, die Auskunft über die Aufdeckung von illegalen Grenzübertritten, über die Routen, über Festnahmen von Schleppern und Fluchthelfern, Asylanträge, Dokumentenfälschungen und andere illegale Ereignisse an der Grenze geben . Durch die Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates erweiterte sich Frontex über einen Mechanismus zur Bildung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (RABIT-VO) nochmals . Für diese Teams werden von den verschiedenen Mitgliedsländern abgestellte Beamte rekrutiert, die im Namen von Frontex verantwortlich für die Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten bei ihren Außengrenzen sind (Tohidipur 2011) . Die Organisation verwaltet das von den Mitgliedsstaaten bereitgestellte technische Gerät wie Flugzeuge, Hubschrauber, Schiffe, Wärmebildkameras, Hundestaffeln und Einsatzpersonal . In Zusammenarbeit mit dem nationalen Grenzschutz entstehen neue Einsatzformen (siehe Foto 4, Kasten 9) . Rechtlich handelt es sich um eine Agentur mit eigenen Exekutivkompetenzen und eigener Rechtspersönlichkeit innerhalb der Unionsverwaltung mit Sitz in Warschau . Frontex schloss im Februar 2011 mit 13 Staaten Arbeitsübereinkommen (darunter: Russland, Georgien, Kap Verde, Bosnien, Ukraine, die USA und Weißrussland) . Zusätzlich bestehen mit zahlreichen Mittelmeerländern und Balkanstaaten unterschiedlich weit vorangeschrittene Verhandlungen über die verbesserte Grenzkontrolle und Vorverlagerung des Grenzschutzes vor die EU-Grenzen . Allein im 4 . Quartal 2012 wurden 13 .613 Menschen direkt an den Grenzen aufgegriffen – man kann sich leicht vorstellen, was die Vorverlagerung der Kontrollen bedeuten wird .

153

Militarisierung, Task Force

frontex betreibt das operative Geschäft

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

foto 4: polizeipräsenz, Schulung an der Grenze des Dreiländerecks Bulgarien – türkei – Griechenland (hillmann Mai 2012)

Exkurs: Zu Besuch an der griechisch-türkischen Grenze Das Dreiländereck Bulgarien – Türkei – Griechenland ist im Jahre 2013 eine der am stärksten frequentierten Grenzen von Migranten auf dem Weg in die EU . Auf der griechischen Seite, am Ufer des Flusses Evros, agieren NGOs, die nationale Polizei und abgeordnete Frontex-Beauftragte . Die hier aufgeführten Zitate wurden im Mai 2013 bei Gesprächen mit den verschiedenen Repräsentanten mitgeschnitten .Was sagen die Beteiligten über ihre Vorgehensweise? Was über die Dynamik der Migrationssituation an der Grenze? Was sind die Konsequenzen der stärkeren Abschottung? Die Position der griechischen Polizei, der Polizeidirektor: „Illegale Migration ist ein Riesenproblem, besonders seit 2010 . 2009 hatten wir hier 3 .500 illegale Migranten, 2011 36 .000, wovon 26 .000 in den 12,5 Kilometern über die Grenze kamen, wo der Fluss Evros ein relativ breites Bett hat . Also entschlossen wir uns dazu, den Zaun zu bauen .Wir bekamen Unterstützung durch 1 .000 griechische Polizisten und Hilfe durch Frontex . Die Zahlen sind seitdem stark zurückgegangen, im August 2012 hatten wir noch 154

4.3 NEUE TERRITORIALISIERUNGEN, BORDERSCAPES UND TRANSITRÄUME

800 Migranten, nachdem es im Juli 5 .400 gewesen waren . So ging es weiter: September 2012: 71, Oktober 30, November 26, Dezember: 24 . (…) Meistens sind Schlepper und Korruption beteiligt . (…) Jetzt haben wir das Problem des Managements der illegalen Migranten . 2012/13 kamen die meisten aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, Iran, Irak, Algerien . Die Leute in der Region helfen eigentlich viel, durch Kleiderspenden und Medizin usw . Entlang der Landgrenze sind etwa 7 .000 Personen in Lagern .“ Was ist die Einschätzung von Frontex? Der aus Österreich abgeordnete Grenzpolizist: „Wir haben jetzt eine stabile Situation durch die Reaktion der griechischen Polizei . Wir haben fest 51 Experten aus 22 Ländern hier und unser Auftrag ist es, die Griechen zu unterstützen . Wir unterstützen in focal points und in border crossing points, je nachdem mit Hunden oder Wärmebildkameras und Helikoptern mit Piloten . Alles, was wir nutzen, kommt von den Mitgliedsstaaten . Alle vier Wochen wechselt das gesamte Team, wir sind hier in Hotels untergebracht“ . Die Position der NGO, einer Menschenrechtsorganisation: „Die Grenze verschiebt sich immer wieder ins Binnenland und folgt nicht dem Flussbett, es kostet 100 bis 500 €, die Leute über die Grenze zu schicken, es sind Leute mit guten Kontakten in Istanbul, vier bis fünf Agenturen, die auch die Landwirtschaft kontrollieren, sie bestimmen das Geschäft . Auch bei der Küstenwache ist eine Menge Platz für Korruption auf höchstem Niveau, es gibt Machtkämpfe unter den verschiedenen Gruppen .“ Beim Besuch in der Grenzregion zeigte sich, dass die Zahlen der Migranten seit dem Einsatz von Frontex extrem zurückgegangen waren . Doch jetzt wählten die Migranten die noch gefährlichere Route über das Meer .Was dem Grenzort auf dem Land jedoch blieb, ist eine blühende Kontrollindustrie . In dem Grenzort sind tausende Polizisten stationiert, die auch die Auffanglager und neu errichteten Polizeistationen verwalten . Es entstand eine Kontrollmaschinerie, die in erster Linie den Baufirmen und den lokalen Unternehmen nutzte . Das was der police officer als Problem des Managements der Migranten bezeichnet, zeigt sich überall in Europa: Wo keine politische Lösung vorliegt, greift man auf die Errichtung von Zwischenzonen, von Lagern zur Unterbringung der Migranten zurück . Diese Auffanglager, Anfang der 1990er Jahre noch die Ausnahmesituation, finden sich inzwischen in ganz Europa und beherbergen tausende Migranten . Die massenhafte Errichtung dieser 155

territorialisierung übergeordneter Konflikte

4. neue GeoGraphien Der MiGration in DeutSchlanD unD europa

transitorte und -phasen werden bedeutsamer

Wartesäle auf dem Weg nach europa

Behinderung traditioneller Mobilität

netzwerke helfen oft nicht

Lager spiegelt den übergeordneten Konflikt zwischen dem Anspruch der Menschenwürde jedes Menschen und den Prinzipien der Nationalstaatlichkeit wider . Wie bei Agamben theoretisch beschrieben, wird die Ausnahme in der Praxis zur Regel, das Lager zur strukturierenden Größe (vgl . Kapitel 2 .4 .1 .) Unter diesem Blickwinkel der zunehmenden Abschottung von Nationalstaaten rückt auch der heute beobachtbare große Zuwachs an transnationalen Lebensformen der Migranten in ein anderes Licht . Wo es keine Lösungen gibt, werden Zwischenlösungen willkommen geheißen . Transitorte, eine Grauzone zwischen Ort A und Ort B, werden ausgedehnt, Transitphasen werden für die Menschen bedeutsamer . Oft durchleben die Menschen auf ihrem Weg nach Europa lange Phasen der Immobilität und verlieren ihre ursprünglichen Pläne aus den Augen . Ganze Länder werden zu Pufferzonen, zu Wartesälen, in denen man keine Nummer ziehen kann . In Teilen des subsaharischen Westafrikas waren die Menschen es gewohnt, frei zwischen den verschiedenen Ländern unterwegs zu sein . Der Wunsch der EU nach einer stärkeren Regulierung der Migration und die Außenverlagerung der Grenzkontrollen bedeuten für diese Länder und ihre Bevölkerungen einen Eingriff in deren angestammte Mobilitätsmuster .Viele der Migranten mit dem Ziel Europa werden im Laufe ihrer Migration immobil, weil ihnen die finanziellen Ressourcen ausgehen . Im Vorfeld der Wanderung und unterwegs mussten sie Schleuser bezahlen und Grenzposten bestechen . Im Transitland finden sie vielleicht keine Arbeit, müssen hohe Mieten bezahlen und verfügen sehr oft – anders als in der Forschungsliteratur immer wieder beschrieben – nicht über tragende persönliche Netzwerke .„Bleiben“ ist für sie nur die zweitbeste Option (Schapendonk 2008: 135) . Neue Untersuchungen zeigen, dass viele Menschen in Afrika bis zu 18 Jahre lang unterwegs sind, bevor sie in Europa ankommen .

156

5. Migration in globaler Perspektive Mit der beschleunigten Globalisierung seit den 1990er Jahren geriet die weltweite Gewichtung von Zentren und Peripherien ins Wanken, indem Schwellenländer wie China und Indien als neue Player an die Verhandlungstische traten.Wie auch bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wirkte die Globalisierung auf die Lebensrhythmen und Biographien der Menschen ein, Normen und Risikoeinschätzungen wurden neu ausgehandelt, sichtbare und unsichtbare Grenzen neu errichtet. Migranten funktionieren als Vorboten und Vorreiter dieser allgemeinen Veränderungen: Sie dienen als Projektionsfläche für Wünsche und Ängste der Mehrheitsgesellschaft, sie selbst suchen aktiv nach einem besseren Leben für sich und probieren neue Wege, neue Rationalitäten aus. Migranten erkunden aktiv neue (Über-) Lebensweisen, lernen sich in neue und andere Denkweisen einzufinden. Ihr Umfeld verhält sich dabei alles andere als passiv: Es unterstützt oder behindert, es strukturiert sich um, weil ein Platz leer bleibt. Migration verändert Räumlichkeiten, sie ermächtigt die Handelnden, kontrolliert, schafft Erzählungen und produziert Vorstellungsräume. Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die globalen Veränderungen und beleuchtet deren Einfluss auf Migrationen, deren Umfang und Richtungen (5.1), thematisiert die bevorzugt durch Migranten bedienten, globalisierten Arbeitsmärkte (5.2) und stellt regionale Antworten auf Migration und Entwicklung vor (5.3). Die veränderten Migrationswege selbst stehen im Mittelpunkt (5.4), außerdem die lokalen Auswirkungen des globalen Umweltwandels (Kapitel 5.5).

Neue Gewichtung von Zentren und Peripherien

Migranten als Projektionsfläche für die Mehrheitsbevölkerung, Kundschafter neuer (Über-) Lebensweisen

Umfeld der Emigranten

5.1 Eine Welt der Ströme und Knoten Seit den 1990er Jahren veränderten sich zunächst die weltweiten Ströme des Kapital- und Warenverkehrs, und die Zahl der ausländischen Direktinvestitionen in den Entwicklungsländern stieg (Giese et al. 2011: 88 f.). In den 1980er Jahren hatten viele der großen Unternehmen aus den Industriestaaten begonnen, ihre arbeitsintensive Produktion in Billiglohnländer auszulagern und auf den Ausbau von Freihandelszonen zu drängen. Schwellenländer wie Brasilien, Indien und China industrialisierten sich, es formte sich eine neue, auf globalisierten Handelsketten basierende Arbeitsteilung. Schnelle Technologien, allen voran die Computerisierung und das Internet, ermöglichten die weltweite Vernetzung der Finanz- und Warenströme. Große transnationale Unternehmen profitierten von dieser Vernetzung außerhalb nationaler Grenzen, organisierten sich um und gliederten 157

Herausbildung globalisierter Handels- und Produktionsketten

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

Die new economy ist abhängig von der einbindung in informationskreisläufe Sweatshops heuern co-ethnics an

Konsum für alle durch Migrantenarbeit

Die abkopplung produziert Überflüssige

Migration als teil der neuordnung

sich in die sich herausbildende weltweite Netzwerkgesellschaft ein . Diese durch Ströme und Knoten strukturierte new economy hing vollständig von ihrer Einbindung in globale Informationsflüsse ab (Castells 2011) . Durch diese Neukonturierung von Waren- und Kapitalströmen waren auch regionale Neusortierungen vorprogrammiert: Ehemals bereits mächtige Knotenpunkte innerhalb der Kreisläufe konnten ihre Position weiter stärken, wurden zu Global Cities, zu Großstädten mit global steuernder Bedeutung . Abgesehen von ihrer herausragenden globalen Zentralität wiesen sie eine interne Sozialstruktur auf, die einerseits auf die Rekrutierung von Hochqualifizierten zurückgriff und andererseits ein Heer von Migranten in billigen Dienstleistungsjobs beschäftigte (Sassen 1991 sowie 1996) . Die Zunahme informeller Teilarbeitsmärkte bis hin zu sweatshops in den Global Cities war Teil dieser Umstrukturierung . Sweatshops produzierten nun informell für einen globalen Markt und beschäftigten vor allem Migranten . Sie unterliefen alle üblichen Arbeitsstandards wie angemessene Vergütung, Ruhezeiten und Beschäftigungs- und Arbeitsplatzsicherheit . Fast immer wurden hierfür co-ethnics, Landsleute, angeheuert . Durch dieses downgraded manufacturing konnten jetzt zusätzlich auch die Konsumbedürfnisse der unteren Schichten befriedigt werden . Umgekehrt ermöglichte die Globalisierung die gezieltere Ausbeutung kollektiver Ressourcen durch private Akteure . Ein Beispiel hierfür sind die über thailändische Heiratsmigrantinnen in Schweden organisierten, aus Thailand „importierten“ Waldbeerenpflücker, die gegen geringes Entgelt die schwedischen Wälder abernten und danach wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren (Eriksson und Tollefsen 2013) . Liberale Denker interpretierten die Globalisierung positiv als Chance einer zusammenwachsenden Welt und entwarfen die Vision einer postmodernen Risikogesellschaft (Beck 1986) .Viele Entwicklungsforscher blieben skeptisch und betonten die sozialen Risiken und die Gefahr der Herausbildung einer abgekoppelten Restwelt durch die wirtschaftliche Globalisierung . Sie vermuteten eine Entstehung von Inseln des Reichtums in einem Meer der Armut, und zwar in den Ländern sowohl des Globalen Nordens als auch des Globalen Südens (Scholz 2002) . Durch diese Abkopplung von den globalen Kreisläufen wurden Menschen zu „Überflüssigen“, nicht mehr gebraucht und an verlorenen Orten versammelt (Bauman 2005) . Die Globalisierung, die unaufhörliche räumliche und soziale Expansion des Kapitalismus, schaffte und vergrößerte Migrationspotentiale und gleichzeitig Immobilität . Am Beispiel Mexikos belegte Parnreiter (1999), dass immer dann Entwurzelungswellen der ländlichen Bevölkerung erfolgten, wenn sich die agrarische Produktion in übergeordnete Kreisläufe neu einordnen musste . Migration, so zeigten seine Studien, resultierte direkt aus der Globalisierung und war Teil der Neuordnung (Parnreiter 1999: 131 ff .) . In den Ländern des Südens entstanden arme und reiche Megacities . Reiche Megacities (z .B . Mumbai in Indien, Guangzhou in China) profitierten 158

5.1 eine Welt Der StröMe unD Knoten

von der Einbindung in die weltweite Arbeitsteilung und erfuhren eine stärkere Einbeziehung in globale wirtschaftliche und politische Netzwerke . Teilweise gelang es ihnen, Steuerungsfunktionen zu übernehmen . Die armen Megacities (etwa Manila auf den Philippinen) dagegen dienten als Auffangbecken für die ländliche Abwanderung und verzeichnen bis heute einen hohen Bevölkerungsanteil, der dauerhaft unterhalb der Armutsgrenze lebt (Kraas 2007: 81) . Typisch für Global Cities und Megacities ist, dass so gut wie immer bestimmte Viertel existieren, die als Eingangstore für die neu zuwandernde Bevölkerung dienen . Diese Stadtteile sind auf die Neuankömmlinge ausgerichtet und wirken für diese als Katalysatoren in die Gesellschaft hinein, sie erlaubten die Herausbildung einer (prekären) Mittelschicht in den Megacities (Saunders 2010) . Gerade für ökonomisch aktive Regionen, wie beispielsweise das Pearl River Delta, bekräftigen die Forschungen über die sozialräumliche Transformation die enge Verbindung zwischen regionaler Entwicklung und internen Migrationen . Lange bildeten dort die internen, unqualifizierten Migranten die Mehrheit der Arbeitsbevölkerung . Mit dem Aufkommen vorteilhafterer Beschäftigungsbedingungen und neuer Ansprüche der zweiten Generation stand für die Migranten aber nicht mehr allein die Unterstützung der eigenen Familie im Vordergrund . Neue Migrationsmotive und -strategien wurden sichtbar (Hartmann et al . 2012: 62 f .) . Die Provinzhauptstadt Guanghzou im Pearl River Delta besaß durch ihre Nähe zu Hongkong, Macau und Taiwan bereits eine lange Tradition als Messeplatz für die internationalen Händler und regulierte seit den 1990er Jahren durch die waishi-Strategie auch den Zuzug von Ausländern in die Stadtentwicklungspolitik . Diese Politiken bestimmten in den chinesischen Städten, wo Ausländer wohnen, welche Geschäfte sie eröffnen können, wie und wen sie heiraten und welche Bildungseinrichtungen sie nutzen dürfen . Eine Verschärfung der Visapolitiken, aber auch eine gezielte Ansiedlungspolitik für erwünschte Migranten war Teil dieser aus dem hukou-System heraus entwickelten politischen Strategien (Bork­Hüffer 2012) . Heute leben zahlreiche afrikanische Migranten, z .B . aus Nigeria, in der Stadt . Sie sind Studierende, manchmal Diplomaten, vor allem aber auch Kleinunternehmer, die – wie dies für die migrantischen Ökonomien typisch ist – in einigen Straßenzügen ihre Geschäfte abwickeln und anderswo leben (Bork et al . 2012: 160 f .) . Remigranten stellten sich als ideale Akteure für den Anstoß von wissensbasierten Regionalentwicklungsprozessen heraus (Schaland 2012: 118) . Durch den massiven Zuwachs an Land-Stadt-Wanderern gerät vor allem auch das Gesundheitssystem der Megacities unter Druck . Die schnelle Urbanisierung führt zu starker sozialer Polarisierung und räumlicher Segregation, außerdem zu großen Verlusten an Ackerland und Biodiversität (Bork­Hüffer 2012: 87): Der starke Druck auf die Wasserressourcen und die ungenügende Abwasser- und Müllentsorgung bedeuten die Gefahr von Seuchen und Infektionskrankheiten . 159

Megacities entstehen weltweit

Arrival cities sind normalität

pearl river Delta

Spezielle ausländerpolitiken als teil regionaler entwicklungsstrategien

Überlastete städtische infrastrukturen

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

foto 5: rasantes Wachstum von neuen Stadtteilen, hier istanbul, hillmann 2013

Weltweite Migrationsregime mit/durch die Globalisierung

Anders als Waren- und Kapitalkreisläufe erweist sich die Mobilität von Menschen nur als schwer kontrollierbar . Sie entwickelt eigene Dynamiken und unterliegt wechselnden Spielregeln unterschiedlichster und immer wieder wechselnder Akteure und Interessen . Dieses komplexe Zusammenspiel von gesetzlichen Regulierungen, dem politischen Umgang mit Migration, der Migrationstradition und den Kulturen der Migration in den verschiedenen Regionen der Welt resultiert in unterschiedlichen „Migrationsregimen“, die sich in vielen Teilen der Welt herausgebildet haben .

autonomie der Migration

Die Kontrolle und Disziplinierung von Migration und Migranten ist ein wesentliches Element von Migrationsregimen, das sich mit der „Autonomie der Migration“, der Selbständigkeit der Migration gegenüber den Regulierungsversuchen, reibt (Moulier Boutang 2002) .

Hier setzt die migrationsbezogene Verwundbarkeitsforschung an, sie konzentriert sich auf die Haushalte und deren Ausstattung, deren Aktiva und deren Einfluss auf Migrationshandlungen . Eben weil Migrationen mit erheblichen Investitionen verbunden sind, sind es nicht die Ärmsten der Armen, die sich auf den Weg machen, sondern die mit einem gewissen Startkapital Ausgestatteten – wie dies beispielsweise bi- und multilokale Studien über translokale Formen der Überlebenssicherung und livelihoods in Thailand zeigen (Etzold und Sakdapolrak 2012: 139) . 160

5.1 eine Welt Der StröMe unD Knoten

Exkurs: Weltweite Migrationsströme Aktuelle Zahlen zu den internationalen Wanderungen belegen einen deutlichen Anstieg der internationalen Migranten von 1990 bis 2012 (von 175 Millionen auf 232 Millionen Menschen) (IOM 2013, UNDESA 2013), besonders in der Dekade von 2000 bis 2010 . Gemessen an der Zunahme der Weltbevölkerung in diesem Zeitraum von 5,3 auf 7,1 Milliarden bleibt der Anteil an internationalen Migranten an der Weltbevölkerung jedoch nahezu konstant und liegt 2013 bei 3,2 % (vgl . Abb . 3) . Von diesen internationalen Migrationen spielt sich ein gutes Fünftel, 22 Prozent, zwischen den Industriestaaten auf der Nordhalbkugel ab . Laut UN lebt einer von sechs Migranten in den Ländern der entwickelten Welt . Süd-Nord-Wanderungen stellen 40 % aller Wanderungen dar, Wanderungen von Nord nach Süd hingegen lediglich 5 % . Besonders bedeutsam sind die Wanderungsbewegungen zwischen den Ländern des Südens . Sie machen zumindest ein Drittel aller registrierten internationalen Wanderungen aus (IOM 2013), wenn nicht sogar inzwischen die Hälfte (OECD 2013) . Hinzu kommen die vielen Binnenwanderer und die nicht-dokumentierten Wanderungsbewegungen in den Ländern des Südens . Auch sind die Migranten in den Ländern des Südens im Schnitt neun Jahre jünger als die Migranten in den Regionen des Globalen Nordens und sehr viel öfter unter 20 Jahre alt . Eine weltweit wachsende und extrem vulnerable Migrationsgruppe besteht aus den sogenannten internally displaced persons (IDPs), den Binnenflüchtlingen, rund 26,4 Millionen Menschen im Jahr 2011 (UNHCR 2013) . Weil diese Menschen im eigenen Land auf der Flucht sind, fallen sie nicht unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention und müssen sich notgedrungen in dem Land arrangieren, in dem sie vorher von Armut, Hunger, Gewalt oder durch Umweltkatastrophen bedroht waren . Meist leben die IDPs in notdürftig errichteten Flüchtlingslagern aus Zelten oder Planhütten: Provisorien, die mitunter jahrelang bestehen . Die Kinder gehen dort zur Schule, die Erwachsenen sind zur Immobilität gezwungen . Seit 2013 versucht der UNHCR auf diese Problematik der Perspektivlosigkeit der Lagerbewohner zu reagieren und immer häufiger werden Flüchtlinge in schon bestehenden Dörfern angesiedelt . Weltweit konzentriert sich die Hälfte aller internationalen Migranten auf nur zehn Länder: die USA (45,8 Millionen), Russland (11 Millionen), Deutschland (9,8 Millionen), Saudi-Arabien (9,1 Millionen), die Vereinigten Arabischen Emirate sowie Großbritannien, Frankreich, Kanada, Australien und Spanien . 48 % der internationalen Wanderer sind Frauen (vgl . Schaubild 1 im Anhang) . 161

50 % aller Migranten in nur zehn ländern

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

unterschiedlich dynamische Migrationssysteme

Migration als teil des alltagshandelns, des lebensmodells

institutionell verankerte Migration

Hoch dynamische Migrationssysteme finden sich im transatlantischen Raum, in den ostasiatischen Ländern und auch in Westafrika . Man kann in diesen Migrationssystemen wiederum besonders aktive Auswanderungsund Einwanderungsregionen unterscheiden und einen starken Austausch zwischen einzelnen Regionen feststellen . Manchmal legen sich ganze Staaten auf die Rolle des „Lieferanten“ für einen bestimmten Typus von Migranten fest . In Staaten mit besonders aktiven Migrationsregimen entstehen cultures of migration, d . h . Migration ist längst selbstverständlicher Teil alltäglicher Praxen und Lebensplanung geworden, und Sesshaftigkeit bildet nicht zwangsläufig die (angestrebte) Norm des gesellschaftlichen Zusammenlebens . In den Kulturen der Migration besteht ein ständiger Aushandlungsprozess aller beteiligten Akteure über die Migration und ein entsprechend ausgeprägter gesellschaftlicher Diskurs zu dieser Thematik . Die Aushandlungsprozesse über die cultures of migration finden zwischen den Migranten und ihrem gesellschaftlichen Umfeld statt (Hahn und Klute 2007: 16) . Die Philippinen, Mexiko, aber auch Indonesien gehören zu den Ländern, die mit staatlichen Programmen die Auswanderung ihrer Landsleute unterstützen und in denen cultures of migration in die Gesellschaft eingewoben sind . Ein großer Teil der Wirtschafts- und Sozialstruktur dieser Länder ist auf den Export von Migranten ausgerichtet, es existieren Institutionen, die die Auswanderung lenken und erleichtern . Exkurs: Cultures of migration auf den Philippinen Die Philippinen stellen das aktivste Migrationsland der ASEAN-Staaten dar und werden gelegentlich auch als migrant nursery, als Kinderstube zukünftiger Migranten, bezeichnet . Staatliche Programme und eine tief in die Gesellschaft eingeschriebene Kultur der Migration tragen zu ihrer Verstetigung bei . So nahm die Zahl der TOFWs (Temporary Overseas Filipino Worker) seit der Einrichtung des Overseas Programme, 1974 im Arbeitsgesetz der Philippinen verankert, kontinuierlich und rasch zu . Ursprünglich sollte das Programm der Marcos-Regierung nur vorübergehend eine Wirtschaftskrise überbrücken . Doch dabei blieb es nicht . Die Philippinen mutierten zu einem Exportland der Migration . Im Land wirkende Push-Faktoren wie die fehlende wirtschaftliche Entwicklung, die politische Instabilität, das Bevölkerungswachstum und niedrige Beschäftigungsraten kombiniert mit niedrigen Löhnen verstärkten die Auswanderung . Gleichzeitig wirkte der Bedarf an Arbeitskräften für den Ausbau der riesigen Infrastrukturprojekte in den erdölproduzierenden arabischen Staaten als Pull-Faktor . Bis in die 1980er Jahre wanderten jährlich bis zu 50 .000 Menschen aus, dann jährlich Hunderttau-

Migrant nurseries, ausgerichtet auf den export von Migranten

Wirtschaftliche Stagnation führt zu Wanderungen

162

5.2 MiGration in Der internationalen arBeitSteilunG – neue GeoGraphien

sende . Ab 2004 wanderten pro Jahr bereits eine Million Menschen aus – die Hälfte von ihnen Frauen . Die Auswanderungsziele bleiben seit einer Dekade stabil: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Singapur und Hongkong . In Europa stellt Italien eines der der wichtigsten Ziele dar . Die Behörde POEA (Philippine Overseas Employment Administration) überwacht die Lizensierung, die Regulierung und die privaten Rekrutierungsagenturen zur Unterstützung der Auswanderungswilligen . Die Verwaltung untersteht dem Arbeitsministerium und ist mit weiteren Behörden, so auch den Konsulaten und Botschaften im Ausland, vernetzt . Im Herkunftsland existieren tausende kleiner Rekrutierungsbüros, die sich in einer Grauzone zwischen Legalität (in den Philippinen) und Illegalität (in der internationalen Wahrnehmung) bewegen (s . u . Migrationsindustrien) . Es gehört zur Kultur der Migration, dass junge und alte Menschen wandern und alle Qualifikationsstufen vertreten sind . Auf den Philippinen gehört jeder sechste Auswanderer zu den über 45-jährigen und jedes zweite Kind zwischen 10 und 12 Jahren wünscht sich, eines Tages ebenfalls im Ausland zu arbeiten . Die Kinder von overseas foreign workers rechnen sogar mehrheitlich damit, später ebenfalls zu migrieren (Asis 2006) . In der Herkunftsgesellschaft werden die Auswanderer als „Helden“ gefeiert – der global filipino ist von einer Rhetorik der Professionalisierung und Überhöhung geprägt (Michel 2012: 101 f .) . In den USA, dem ehemaligen kolonialen Mutterland, finden sich zahlreiche philippinische Nurse Associations, die an der Formulierung von Regulierungen und Lizenzen direkt beteiligt sind (Choy 2003: 166); der Traum junger Filippinas ist es, in New York City als Krankenschwester zu arbeiten (Choy 2003: 103 f .) . Weil in den meisten Haushalten Migrationserfahrungen vorhanden und transnationale Haushalte üblich sind, fällt die Entscheidung für eine Auswanderung entsprechend leicht (Parrenas 2003) . Auch wenn die Frauen eigentlich gar nicht unzufrieden an ihrem Herkunftsort sind, wirken die Narrative der bereits emigrierten Landsleute stimulierend, Rücküberweisungen suggerieren glänzende Aussichten anderenorts (Capones 2013) .

eine Million auswanderer im Jahr

Direkte Verbindungen zwischen regierung und agenturen

Der lebenstraum der auswanderung Der global filipino

narrative stimulieren zusätzlich

5.2 Migration in der internationalen arbeitsteilung – neue Geographien Die sich verändernde Arbeitsteilung zwischen den Nationen ließ die Nachfrage nach mobiler Arbeit ansteigen . Es wurden „Köpfe“, Hochqualifizierte, gebraucht . Weltweit gehören drei Sektoren zu den besonders aufnahmefähigen für diese mobilen Arbeitskräfte . Teilweise hängen sie völlig von der Beschäftigung eingewanderter Arbeitskräfte ab: der Bausektor, 163

Wanderarbeiter im Bausektor, in der nahrungsmittelproduktion, im Dienstleistungssektor

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

Sklavenähnliche arbeitsverhältnisse

Das Bodenpersonal der Globalisierung

Global care chains

Kommodifizierung von reproduktionsarbeit

Ganze abschlussklassen siedeln um

die Nahrungsmittelproduktion (Feldarbeiten und Schlachthöfe) und das Dienstleistungsgewerbe . So arbeiten in Saudi-Arabien massenhaft Wanderarbeiter aus Indonesien, den Philippinen und Bangladesch in sklavenähnlichen Verhältnissen, in den südeuropäischen Ländern pflücken Scharen von Feldarbeitern aus Nordafrika Obst und Gemüse, in Deutschland zählt die polnische Pflegekraft im Haushalt der pflegebedürftigen Alten zur gängigen Praxis . Dieses „Bodenpersonal der Globalisierung“ (Hess 2002) wird überwiegend von Migranten gestellt . Wie in der Industrialisierung, als sich die Arbeitsmöglichkeiten für das Gesinde in den Haushalten der Reichen vervielfachten (als Sekretäre, Verwalter, Gärtner, Kutscher, Kammerzofen und -diener, livrierte Lakaien und Dienstmädchen), bringt die Globalisierung in vielen Industriestaaten eine Ausweitung des bezahlten Haushalts- und Pflegesektors mit sich . Das „Dienstmädchen vom Lande“ gab es lange, jetzt aber internationalisierten sich diese Dienstleistungsketten . Viele der notwendigen sozialen reproduktiven Arbeiten (Pflege, Betreuung,Versorgung, Reinigung) in den ökonomisch besser gestellten Ländern wurden an Migrantinnen aus Entwicklungsländern weitergereicht . Es entstanden weltumspannende Pflege-Dienstleistungsketten (Hillmann 1996) . Die Migrantinnen aus Entwicklungsländern ließen ihre eigenen Kinder in ihren Herkunftsländern zur Betreuung bei der Verwandtschaft zurück . Stattdessen kümmerten sie sich in den reicheren Ländern um die Kinder anderer Leute oder übernahmen die Pflege älterer Menschen . Soziale Dienstleistungen entwickelten sich so zu einer internationalen Ware, wurden kommodifiziert . Für die häufig illegal Beschäftigten bedeutete diese Internationalisierung wegen ihrer Herauslösung aus den nationalen Bezugssystemen eine noch größere Unsicherheit . Bei einem Fehlverhalten der Arbeitgeber konnten sie keinen Schutz erwarten . Allerdings verdienten sie viel besser als sie dies je im eigenen Land hätten tun können . Diese Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit bezeichnet einen bedeutsamen Teil der Neoliberalisierung der weltweiten Arbeitsmärkte (Hondagneu­Sotelo 2002, Strüver 2011) . Bekannte Beispiele dieser globalen care chains sind Mexiko-USA oder Philippinen-Japan . Die internationale Vernetzung der care worker läuft fast wie immer über schon bestehende Netzwerke professioneller oder persönlicher Natur . So siedelten in den 1990er Jahren ganze Krankenschwester-Abschlussklassen aus Lima nach Mailand über . Sie entflohen einem Land, das ihnen keine Sicherheit gab und keine Perspektive bot (Hillmann 1996: 174 f .) . Auch im Falle der internationalen Dienstleistungsketten verlief die Migration nach einem in regionale Hierarchien eingebetteten Schlüssel-Schloss-Prinzip . Für die italienische Gesellschaft bedeutete der Import von ausländischem Hauspersonal, dass bestehende Betreuungs- und Dienstleistungslücken im nationalstaatlichen Rahmen schnell und flexibel geschlossen werden konnten . Es mussten nicht extra Betreuungsplätze für Kinder oder Heimplätze für Alte geschaffen werden . Die bedürftigen 164

5.2 MiGration in Der internationalen arBeitSteilunG – neue GeoGraphien

Haushalte konnten maßgeschneiderte Dienstleistungen einfach einkaufen . Grund für diese veränderte Nachfrage war das neue Erwerbsverhalten der jungen Italienerinnen . Sie hatten bessere Bildungsabschlüsse erworben, sie drangen auf eine stärkere Teilhabe am Arbeitsmarkt . Gleichzeitig änderten sich die Rollenerwartungen an Frauen und Männer kaum, die Frauen blieben weiterhin für Haushalt und Kinder zuständig . Der Einkauf von Dienstleistungen bedeutete Konfliktvermeidung, weil die traditionellen Rollenverständnisse der Arbeitsteilung von Frauen und Männern unangetastet blieben . Auch für die „importierten Dienstleisterinnen“ war das eingegangene Arbeitsverhältnis zunächst günstig . Dadurch, dass sie sich mit dem Arbeitsplatz zugleich eine Unterbringung und teilweise Verpflegung bei ihrem Arbeitgeber sicherten, konnten sie relativ schnell vergleichsweise hohe Summen an Geld zurücklegen und an die Angehörigen im Heimatland zurücksenden . Sie selbst hatten kein Interesse an einer längerfristigen Perspektive im Zielland, denn eine entsprechende Rente oder Sozialversicherung würden sie sich im Zielland nicht erarbeiten können . Sie waren überzeugt, dass sie nach einer gewissen Zeit, wenn die Ausbildung der Kinder bezahlt oder genug Kapital für den Bau eines Hauses gesammelt war, in ihre Heimat zurückkehren würden . Außerdem waren ihnen die minimalen Beschäftigungschancen im Herkunftsland bewusst . Mittelfristig war beiden Seiten durch diese Konstellation gedient, langfristig lagen die Risiken in der Regel bei der Hausarbeiterin, die in vielen Fällen miterleben musste, wie die Wünsche der Familienangehörigen zuhause ins Unermessliche wuchsen oder wie Schicksalsfälle im Heimatland immer neue Geldforderungen nach sich zogen und schließlich eine Entfremdung von der Familie unvermeidlich war . Rückreisen nach Hause waren für die meisten Migrantinnen nicht möglich . Sie erwiesen sich nicht nur als teuer, sondern aufgrund der fehlenden Aufenthaltsgenehmigung auch als gefährlich, denn eine erneute Einreise konnte fehlschlagen . Die mit der Wanderung verbundenen emotionalen Kosten lassen sich geschlechtsspezifisch zuordnen . Die Kinder im Heimatland leiden unter der permanenten Abwesenheit eines Elternteils, die Eltern unter der Trennung von den eigenen Kindern . Die Migrantinnen müssen sich am Zielort neu erfinden, meist sprechen sie die Landessprache nicht . Diese in jedem Migrationsprozess entstehenden „sozialen Kosten“ unterscheiden sich in ihrer Ausprägung individuell, werden jedoch immer wieder mit dem Grundmotiv der Einsamkeit und der emotionalen Vernachlässigung verbunden . Auch die Räume, die von den Migrantinnen genutzt werden, lassen sich geschlechtsspezifisch zuordnen . In der Regel haben alle Hausarbeiterinnen an bestimmten (halben) Tagen frei und versammeln sich in der Stadt an immer denselben Plätzen . Die Geschlechtsspezifik der Migration erklärt sich durch eine Kombination mehrerer Faktoren: durch eine in der Regel geringere Bildung und niedrigere soziale Position der Frauen im Vergleich zu Männern im Heimatland, durch erlernte Rollenmuster, durch meist 165

Maßgeschneiderte Dienstleistungen einkaufen

Vermeidung von rollenkonflikten

Mittelfristig vorteilhaft, langfristig nachteilig

teure und gefährliche rückreisen

emotionale und soziale Kosten der Migration

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

Genderkategorien strukturieren den Migrationsprozess

geringere zur Verfügung stehende finanzielle und materielle Ressourcen, durch das Erleiden von körperlicher Gewalt (im Migrationsprozess), durch andere Erwartungen des Aufnahmekontextes an Frauen und Männer . Mancherorts, wie in Bangladesch, können Frauen erst seit 2006 offiziell selbstständig ausreisen (Dannecker 2015) . In islamischen Gesellschaften koppelt sich die soziale Position der Frau oft direkt an den Ehemann/den Vater/ den Bruder, eine autonome Entscheidung über eine Migration ist für diese Frauen ausgeschlossen . Aufgrund des geringeren Status der Frau in den vielen Gesellschaften ist die Teilhabe von Mädchen und Frauen an Bildung und Ausbildung stark beschränkt – was deren Zugang und die eigenständige Beurteilung von Migrationsmöglichkeiten und -risiken verringert (Hillmann und Wastl­Walter 2011) .

im Mikrokosmos der ehe wirken Migrationshierarchien

Global householding

Economic citizenship

Die oben beschriebenen Dienstleistungsketten können als Teil von Regionalisierungsprozessen interpretiert werden (Willis und Yeoh 2002) . Die internationale Kommodifizierung reicht bis in die intimsten Beziehungen hinein . Am Beispiel vietnamesischer Frauen, die über eine kommerzielle Ehevermittlung einen Ehemann in Singapur gefunden hatten, untersuchen Yeoh et al . (2014) die Auswirkungen dieser Vermittlung auf die Liebesbeziehungen . Im Mikrokosmos zwischen Eheleuten verstärkten sich strukturelle Ungleichheiten und ließen sich vor allem am Umgang mit Geld festmachen . Die Autorinnen bezeichnen die Erweiterung der Kommodifizierung der sozialen Dienstleistungen als global householding . Besonders häufig kam dies bei binationalen Ehen vor, die sehr stark in existierende patriarchale Strukturen eingebettet waren . Auch wenn die nationale Gesetzgebung für Frauen und Männer egalitär sein kann, muss dies für die Einwanderungsgesetzgebung nicht der Fall sein . Die oder der mitreisende Ehepartner besitzt beispielsweise in vielen Ländern nicht das Recht, selbstständig eine Arbeit aufzunehmen und bleibt damit von seinem Ehepartner komplett abhängig . Es gibt kein Anrecht auf economic citizenship, d .h . keine eigenständige Einbindung in das sozialversicherungspflichtige System (Riaño 2011b) . 5.3 Migration und entwicklung – vom Braindrain zum entwicklungsinstrument

Globale Migrationsarchitektur

Die globale Migrationsarchitektur unterscheidet sich regional durch den Umfang und die Richtungen der Migrationen und auch durch die unterschiedliche Qualifikation der Wandernden . Lange galt in der Migrationsforschung die Faustregel: Je größer die Distanz der Wanderung, desto höher 166

5.3 MiGration unD ent WicKlunG – VoM BrainDrain zuM ent WicKlunGS inStruMent

der Bildungsgrad der Wandernden . Im Zeitalter weltumspannender Kommunikations- und Verkehrsnetze gilt dies nicht länger . So kommt es, dass in den OECD-Staaten der Anteil der hochqualifizierten Wanderer generell schnell wächst, der Anteil von weniger qualifizierten Wanderern in der vergangenen Dekade allerdings ebenfalls zunimmt (OECD 2013) . Es wurden mehr unqualifizierte Arbeitskräfte benötigt und es reisten mehr unqualifizierte Wanderer als Familienangehörige mit in die OECD-Länder ein . Verglichen mit der Masse der Migranten und Flüchtlinge handelte es sich bei den hochqualifizierten Wanderern um eine quantitativ zu vernachlässigende Größe, eine Elite . Im Zuge der globalen wirtschaftlichen Umstrukturierungen nach 1990 gewann sie jedoch stark an Bedeutung (Findlay 1991, Gould und Findlay 1994, Salt 1992) . Prinzipiell verläuft die internationale Mobilität von Hochqualifizierten vergleichsweise stark institutionalisiert und wird durch Visa- und Arbeitsmarktpolitiken der Nationalstaaten kanalisiert . In vielen Fällen besteht sie als Teil firmeninterner Arbeitsmärkte oder internationaler Austauschprogramme . In multinationalen Unternehmen gehört die Entsendung von Fach- und Führungskräften zur Personalentwicklung – als Karrieresprungbrett für vielversprechende Nachwuchskräfte oder aber als elegante Versorgung überflüssig gewordener (älterer) Arbeitnehmer . Pethe (2007) wendet diese Perspektive der Kanalisierung der Migration über interne Arbeitsmärkte auf die IT-Arbeiter in Deutschland an und bestätigt die Annahmen der internationalen Studien . Gemäß ihrer Studie hatte ein großer Teil der angeworbenen Arbeitskräfte zuvor schon bei dem entsprechenden Arbeitgeber gearbeitet . Mit der Globalisierung internationalisierten sich die Stammsitze, sie ordneten sich jetzt einem weltweiten Markt unter, Englisch wurde zur neuen Lingua franca (Rudolph und Hillmann 1998) . Einen Sonderfall der Hochqualifiziertenwanderung bildet der Braindrain – die prononcierte Abwanderung von gut oder sehr gut ausgebildeten Migranten aus weniger entwickelten Ländern in Länder mit einem höheren sozioökonomischen Standard . Erstmals kam der Begriff des Braindrain auf, als sich die Konturen der heutigen Migrationssysteme der Nachkriegszeit herausbildeten und die Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften von Großbritannien in die USA in einem dramatischen Licht erschien . Doch allmählich rückte immer deutlicher das Ausmaß der Wanderung von hochqualifizierten Eliten aus Entwicklungsländern in die Industrieländer (beispielsweise in die USA, Kanada und Großbritannien), allen voran aus den asiatischen Staaten, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit . Stark politisiert bezeichneten die Forscher diese Wanderungen als Abwanderung von „Hirnen“ . In der Perspektive der Entwicklungsländer handelte es sich bei der aktiven Abwerbung von qualifizierten Fachkräften aus den Entwicklungsländern durch die Industrieländer um eine intellektuelle Ausblutung des Südens (der Buchtitel „Die offenen Adern Südamerikas“ von E . Galaneo, 167

Distanzen spielen eine untergeordnete rolle Mehr hochqualifizierte, und auch mehr unqualifizierte Wanderer

Kanalisierte Wanderungen

internationale Stammsitze, Lingua franca englisch

Kampfbegriff Braindrain

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

auslagerung von ausbildungskosten

fehlende arbeitsmöglichkeiten im herkunftsland

1988, bringt diese Sichtweise zum Ausdruck), und es wird argumentiert, dass die Industrieländer auf diese Weise auch die Ausbildungskosten für Teilbereiche des Arbeitsmarktes umgehen könnten . Eine Zeitlang wurde von den Regierungen der Zielländer über finanzielle Entschädigungen diskutiert, beispielsweise durch die Einführung einer Braindrain-Steuer (vgl . Bhagwati 1976) . In manchen Entwicklungsländern, beispielsweise in Ägypten, bestanden kurzzeitige Auswanderungsverbote zur Unterbindung der Abwanderung von Hochqualifizierten . Im Gegensatz zu dieser dependenztheoretischen Perspektive steht die neoklassische, modernisierungstheoretisch orientierte Argumentationsweise, nach der die Produktivfaktoren (in diesem Falle die Hochqualifizierten) so verteilt werden sollten, dass sie im ökonomischen Verteilungsprozess optimal genutzt werden können bzw . für sich als Arbeitskräfte selbst die besten Bedingungen suchen . Ein weiteres Argument der Befürworter des Braindrain war, dass es in den Entwicklungsländern ohnehin keine ausreichende Zahl an hochqualifizierten Arbeitsplätzen gäbe und auf diese Weise brain waste (sic!) vermieden werden könne, eine Entlastung des heimischen Arbeitsmarktes eintreten könnte (vgl . Hunger 2003b: 10 ff .) . Exkurs: Ausbildung in Ghana, Arbeit in den USA Die Auswertung aller in der Datenbank AMA Physician Masterfile (AMAPM) verzeichneten Ärzte zeigt, wie problematisch der Braindrain von Ärzten aus Afrika in die USA nach wie vor ist . Im Jahr 2011 emigrierten insgesamt über 17 .000 Ärzte aus Afrika in die USA . Zwei Drittel aller Ärzte aus Subsahara-Afrika erhielten ihren Abschluss in Nigeria und Südafrika, auch Liberia war von dem Exodus betroffen . Die Verluste von Ärzten aus Äthiopien, Ghana, Kenia oder Nigeria waren schon lange hoch und nahmen weiter stark zu . Hinzu kam die Abwanderung von ausgebildeten Ärzten aus Kamerun und Sudan . Der Nachschub an Ärzten wurde in einigen wenigen Zentren ausgebildet, die seit den 1970er Jahren durch Austauschprogramme zwischen den USA und diesen Ländern aufgebaut worden waren . Seit 2005 wanderten anteilig auch immer mehr Ärztinnen aus . Ab 2001 verkürzte sich der Zeitraum, den die Ärzte nach ihrer Ausbildung in ihrem Heimatland verbrachten, weiter . Durchschnittlich nur 2,4 Jahre arbeiteten die ausgebildeten Ärzte in ihrem Heimatland, dann wanderten sie in die USA ab . Diese Abwanderung hat Konsequenzen für die Länder des Südens: „Wenn nur die Hälfte der in Ghana ausgebildeten Ärzte, wie sie in der AMA-Datenbank von 2011 registriert sind, und der ghanaisch-stämmigen Absolventen der besten US-Ausbildungsstät-

168

5.3 MiGration unD ent WicKlunG – VoM BrainDrain zuM ent WicKlunGS inStruMent

ten zum Praktizieren nach Ghana zurückkehren würden, würde die dortige Ärzteschaft um 30 % zunehmen . Und es ist sehr wahrscheinlich, dass sich auch die Qualität des Gesundheitssystems, die Ausbildung und die Forschung dort durch diese zurückkehrende Expertise erhöhen würden . Solche Annahmen bleiben allerdings […] problematisch und höchst romantisch, wenn die zurückkehrenden Doktoren nicht mit dem nötigen Handwerkszeug ausgestattet werden“ (Tankwanchi 2012: 46) . Die Mobilitäten von Hochqualifizierten wurden wesentlich auch über die Netzwerkarbeit einzelner Berufsverbände in der Diaspora gesteuert . Netzwerke wie CALDAS (The Colombian Network of Researchers and Engineers Abroad) und SANSA (The South African Network of Skills Abroad) organisierten Konferenzen zum Thema Wissenstransfer und internationale Kooperation in den Herkunftsländern . Die Internationale Organisation für Migration (IOM) lancierte 2001 in Kooperation mit der Afrikanischen Union (OAU) die Programme MIDA (Migration for Development in Africa) und TOKTEN (Transfer of Knowledge Through Expatriate Nationals), die in Zusammenarbeit mit dem UNDP (United Nations Development Programme) durchgeführt wurden . Diese Programme starteten mit dem Aufbau einer Datenbank und integrierten regelmäßige Aufenthalte der ausgewanderten Hochqualifizierten im jeweiligen Heimatland . Allein über das Programm TOKTEN wurden zwischen 1977 und 1997 5 .000 qualifizierte Arbeitskräfte mit Kurzzeitverträgen in 49 Länder vermittelt . Alle diese Versuche, eine endgültige Abwanderung der Hochqualifizierten aus ihren Herkunftsländern durch vorgesehene Heimataufenthalte zu verhindern, erwiesen sich als schwierig . Diese Rückkehroptionen empfanden die meisten Auswanderer als kaum attraktiv (Goethe und Hillmann 2008) . Ende 2010 koppelte sich die Braindrain-Debatte von einer breiteren Diskussion über „Migration und Entwicklung“ ab . In vielen Entwicklungsländern schnellten die Rücküberweisungen der Migranten in die Höhe, teilweise waren sie bedeutsamer als die Entwicklungshilfe . Ganze Staatshaushalte von Entwicklungsländern, beispielsweise der Philippinen oder Mexikos, basieren auf diesen Rücküberweisungen . Dieser Trend eines Kapitalabflusses von den Migranten in die Entwicklungsländer zurück – vielfach durch die Diaspora kanalisiert – lässt sich auch in der räumlichen Struktur vieler Entwicklungsländer ablesen . In manchen Orten mit starken Auslandsgemeinden kann man große Bauten, prächtige Tempel und eine gut ausgebaute Infrastruktur finden . In Mexiko veränderte sich durch die von den Auswanderern errichteten Gebäude sogar die Alltagsarchitektur (Lopez 2010) . Die möglichen Antworten der Politik auf Fragen von Migration und Entwicklung werden gelegentlich auch als die 6 Rs der Migrationspolitik 169

internationale programme leiten die Mobilität von hochqualifizierten

rückkehrprogramme fruchten nicht

Staatshaushalte sind auf rücküberweisungen angewiesen

Die Kapitalflüsse der Migration verändern Baustruktur und -architektur

Die sechs rs der politik

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

anstieg der rücküberweisungen

hohe Gebühren, Migrationskosten Konzepte der Weltbank

Reverse remittances

bezeichnet: Return (Rückkehr der Migranten in ihr Herkunftsland); Restriction (Eindämmung von internationaler Mobilität zugunsten der eigenen Staatsangehörigen und der ausländischen Arbeiter); Recruitment (Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte); Reparation (Kompensationen für die Abwanderung von Humankapital); Resourcing (Hilfestellungen für die Diasporagemeinden); Retention (das Zurückhalten von Migranten durch Politiken im Bereich des Bildungssektors und durch ökonomische Entwicklung) . Der seit Anfang der 2000er Jahre schnelle weltweite Anstieg der Rücküberweisungen von Migranten hat sich seit 2010 nochmals beschleunigt . Die Weltbank (2013) rechnet mit einem Geldfluss von 550 Milliarden US-Dollar im Jahr 2013 und erwartet ein weiteres Anwachsen um 8 % bis 2016 . Die Rücküberweisungen der Migranten übersteigen die internationale Entwicklungshilfe um das Dreifache . In vielen Ländern, insbesondere in Südasien, gehören sie zu den wichtigsten Devisenquellen . Zu den Top-Empfängerländern für Rücküberweisungen zählen Indien (71 Mrd . US-Dollar), China (60 Mrd . US-Dollar), die Philippinen (26 Mrd . US-Dollar), Mexiko (22 Mrd . US-Dollar), Nigeria (21 Mrd . US-Dollar) und Ägypten (20 Mrd . US-Dollar) – außerdem Pakistan, Bangladesch und Vietnam . Die Kosten, die von den Migranten für die Rücküberweisung entrichtet werden müssen, liegen bei etwa 9 % . Manchmal entstehen außerdem Kosten beim Abheben des Geldes im Heimatland (= lifting fees) . In einigen Ländern werden zusätzlich Steuern auf die Rücküberweisungen erhoben . Im Zielland müssen die Migranten auch die getätigten Reise- und Vermittlungsgebühren abstottern . Eine Hausarbeiterin oder ein Bauarbeiter aus Bangladesch braucht im Schnitt 5 bis 14 Monatseinkommen, um die in die Reise investierte Summe wieder zu erwirtschaften . Diese als Migrationskosten bezeichneten Finanzströme stellen eine feste Größe im Migrationsgeschäft dar, die Weltbank arbeitet zurzeit an Konzepten zur besseren Steuerung dieser Kosten bzw . der Kapitalströme . Schaubild 4 illustriert, wie sich die legalen Rücküberweisungen global verteilen, Schaubild 5 zeigt dies für Europa . Umgekehrt nehmen die Geldüberweisungen ebenfalls zu: Im Ausland lebende Familienangehörige erhalten Hilfe . Man spricht in diesem Fall von reverse remittances . Dies lässt sich beispielsweise für die ghanaische Community in den Niederlanden nachweisen (Mazzucato 2010: 68 f .) . 5.4 Migrant industries und migrant trajectories In den 2000er Jahren investierten viele Industrieländer massiv in den Ausbau von Systemen zur besseren Migrationskontrolle . Sie wollten dem Anspruch eines Migrationsmanagements durch den Aufbau eines migration apparatus (Feldman 2012, Koslowski 1998, Pecould und Geiger 2013), eines Ensembles aus Kontroll- und Überwachungstechniken, gerecht wer170

5.4 MIGRANT INDUSTRIES UND MIGRANT TRAJECTORIES

den . Kontrolle und Disziplinierung der Migranten sowie die räumliche Definitionsmacht über Mobilität sind die Kernstücke dieses migration apparatus . In dieser Konstellation kommen sichtbare und unsichtbare Kontrollsysteme zusammen: Zäune und Grenzstreifen werden von border patrols und Nachtsichtanlagen durchkämmt, Betonpfeiler sind in einem Abstand von ca . 20–30 cm in den Boden gesetzt, sodass sie nur für Tiere durchlässig sind, biometrische Verfahren zur Iriserkennung und digitale Fingerabdrücke gehören mittlerweile zum Standard der Grenzkontrollen (Lemberg­Pederson 2013, vgl . auch Kap . 4 .3 .) . Im Falle Bangladeschs wird ein gesamtes Land eingezäunt – und die Menschen, die diese Grenze überschreiten wollen, werden kriminalisiert . Durch die Verschärfung von Kontrolle entwickelte sich Migration zu einem Riesengeschäft – streckenweise mafiös organisiert . Entstanden ist eine migration industry, ein eigenständiges Geschäftsfeld, das eine Palette nicht-staatlicher Akteure umfasst und migrationsbezogene Dienstleistungen anbietet . Auch die (kurzfristige) „Rettung“ von Migranten gehört dazu (Nyberg Sörensen und Gammeltoft 2013: 9) . An den migrant industries beteiligen sich ganz unterschiedliche Akteure . Sie wissen oft nichts voneinander . Erstens große transnationale Unternehmen, die überhaupt erst die technische Logistik bereitstellen . So lieferte das italienische Unternehmen Finmeccanica das nötige Equipment für die Grenzsicherung und das Know-how nach Libyen und in andere Länder . Eine zweite große Gruppe von Akteuren setzt sich aus den verschiedenen Agenturen und Unternehmen zusammen, die den Zugang zur legalen Migration regeln . Drittens gehören broker dazu, Reisebüros mit echten oder gefälschten Papieren, Allround-Angebote (Übersetzung, Kredite, Arbeitsverträge, Unterbringung), die einmal von der Regierung zertifiziert sind und ein anderes Mal nicht . Oft überblicken die Migranten nicht einmal, dass es irgendwelche Schwierigkeiten geben könnte bzw . dass sie sich in der Logik des Ziellandes illegitim verhalten . Diese Migrationsindustrien, diese „kleinen Helfer“ der Migration, sorgen immer wieder für Nachschub an Migranten (Spaan und Hillmann 2013) . Sie passen auf, dass die Migranten weiterkommen, sie bestimmen Richtung und Umfang der Wanderungen . Viertens findet man eine Reihe von kleineren Unternehmen, oft von den Migranten selbst geleitet, die ihre Dienste für den Transport, für Rechtsangelegenheiten und allgemeine Beratung anbieten .Viele von ihnen arbeiten im informellen Sektor, im Handel, manche als people pusher . Eine fünfte Gruppe innerhalb dieses „Geschäftszweiges“ besteht aus den zahlreichen informellen und teilweise kriminellen transnationalen Akteuren, die die aufwändige und meist langjährige Reise der Migranten befeuern . Es hängt vom Auge des Betrachters ab, ob die Dienste dieser „Dienstleistungen“ als kriminell oder als humane Geste zu bewerten sind, jedenfalls fallen diese unter die Kategorie des Menschenhandels . Sechstens setzen sich religiöse Verbände für die Migranten ein und nehmen sie zeitweise auf, helfen ihnen beim Transport . Andere Initiativen engagieren sich durch Anti-Im171

Migration apparatus

Ganze länder werden eingezäunt

Migration industry

hauchdünne Grenzen zwischen legitimen und illegitimen Verfahren

People pusher

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

hilfsorganisationen produzieren das feld mit

Trafficking

Rite de passage

Vom fischerdorf nach europa

migrationskampagnen für das Gegenteil . Beide Arten von NGOs werden oft indirekt von den Staaten selbst finanziert, d .h . sie führen eine staatlich gewünschte Politik aus, ohne dass dies nach außen offensichtlich würde (Nyberg­Sörensen und Gammeltoft 2013: 11) . Menschenhandel umfasst nicht nur ein Geschäft mit Profitspannen wie beim Drogenhandel, er stellt auch einen wachsenden Markt dar . Zwischen 2008 und 2010 verzeichnete EUROSTAT in den EU-Mitgliedsstaaten knapp 24 .000 Personen, meist Frauen und Kinder, die als Opfer von Menschenhandel registriert wurden bzw . bei denen der Verdacht naheliegt, dass sie zu einem Opfer des Menschenhandels geworden sein könnten . Durch die genaueren Erfassungsmethoden und die verstärkte Aufmerksamkeit der Fahnder auf trafficking erklärt sich der Anstieg der Zahlen des Menschenhandels, d . h . von „Rekrutierung, Transport, Transfer, Beherbergung oder Empfang von Personen ( . . .) durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt ( . . .) oder (…) Machtmissbrauch ( . . .) zum Zweck der Ausbeutung“ (Richtlinie 2011/36/EU vom 5 .4 .2011, zit . nach Netzwerk Migration in Europa 2013: 7 f .) . Die meisten Opfer von Menschenhandel in der EU stammten aus Rumänien und Bulgarien . Beim Menschenhandel haben es Fahnder, Polizei- und Sozialbehörden, NGOs, Krankenhäuser sowie Auslandsvertretungen mit einer Grauzone zu tun, die sie nur durch enge Kooperation transparent machen können . Durch die striktere Abschottung der EU gegenüber den Drittstaaten und durch die Vermittlung einer closed door policy in die Drittstaaten hinein kam es in den vergangenen Jahren zu einer Verstärkung der Versuche von Migranten, sich mit Hilfe von Schleppern einen Weg in die EU-Staaten zu suchen . Innerhalb der „Kulturen der Migration“ in Westafrika gehört die Reise (nach Europa) nicht nur zu einer ökonomischen Strategie, sondern ist auch zum Teil fest verwurzelt als rite de passage – als Übergangsritus – der mit entsprechenden spirituellen und rituellen Handlungen aufgeladen wird . Im Senegal werden spirituelle Führer, Marabouts, damit beauftragt, durch die richtigen Talismane und durch Gebete die senegalischen Ausreisewilligen in ihrem Vorhaben zu unterstützen . Sozio-kulturelle Aspekte erlangen im Migrationsprozess eine enorme Bedeutung . Heute sind zehntausende Afrikaner seit Jahren unterwegs zu ihrem Traumort Europa, sie nehmen Rückschläge und Umwege in Kauf . Keiner weiß, wie viele es sind . Aus ihrem kleinen Fischerdorf an der leer gefischten Küste Senegals oder Ghanas stranden sie, wenn es gut geht, irgendwann in den Peripherien Europas .Wie zum Beispiel John, der schließlich in Neapel landete und ins Drogengeschäft einstieg – immer weiter auf der Suche nach einem besseren Ort, leidend, ohne sich jedoch in diese gesuchten wirklichen Zentren der Mobilität einklinken zu können (Lucht 2011: 66 ff .) . Mobiltelefone sind für diese Migranten überlebenswichtig, der Verlust der SIM-Karte eine Tragödie . Bereits Anfang der 1990er Jahre hatte Du Toit (1990: 308) auf die Bedeutung von Migration als einem räumlich organi172

5.4 MIGRANT INDUSTRIES UND MIGRANT TRAJECTORIES

sierten, flüssigen Prozess hingewiesen . Nicht so sehr dem Herkunfts- oder dem Ankunftsort solle Beachtung geschenkt werden, sondern vielmehr der Reise an sich, die meist nicht-linear verläuft . Denn oft ist sie durch den Migranten nicht kalkulierbar, zumal dann nicht, wenn der Migrant oder die Migrantin über wenige Ressourcen und Kontakte verfügt . Da die meisten Migranten gar nicht ganz genau wissen, wo sie hinwollen und ob sie dann an dem Ziel auch unbedingt bleiben wollen, kommt es manchmal zu wirren Migrationswegen . Die Migranten loten immer wieder neue Ziele aus, gliedern sich in veränderte Abläufe und Situationen ein . Die neuere Literatur unterstreicht deshalb die Bedeutung dieser Nicht-Linearität und erkennt an, dass inzwischen neue translokale Kommunikationstechnologien und -strategien höchst bedeutsam in der Migration sind . Durch sie sind die Migranten in der Lage, ein Kontinuum zwischen dem Herkunfts- und dem Ankunftskontext herzustellen . SMS, E-Mail und soziale Netzwerke (persönliche, aber auch Facebook und andere Dienste) erweisen sich als eine wesentliche Komponente dieser trajectories (Schapendonk 2010: 304 f .) .

Kontrolle über Migration braucht ressourcen

nicht linear, Mobiltelefone überlebenswichtig

Migration trajectories beschreiben Migrationen als nicht-lineare, flexible und in Mobilitätsregime eingebettete, wiederkehrende Abfolgen und Stationen des Wanderungsprozesses .

Mit dem Begriff der trajectories wird der Tatsache Rechnung getragen, dass jegliches Migrationsprojekt auf dem Zusammenspiel unterschiedlicher Motive basiert, dass allerdings der Migrant nicht über alle notwendigen Informationen zur Durchführung des Migrationsprojektes verfügt . Häufig ist sie oder er von Migrationsmythen geblendet bzw . lediglich über die eigenen sozialen Netzwerke informiert und damit abhängig von begrenzten Einblicken in komplexe Zusammenhänge . Immer wieder orientieren sich Migranten an Mythen . Immigrant myths sind so etwas wie „Gegenerzählungen“, die dabei helfen, die eigene Situation zu plausibilieren und Schwierigkeiten, auch Illusionen, auszuhalten (Vasta und Erdemir 2010: 21) . Jedes Migrationsvorhaben erscheint damit zwar höchst individuell und doch gleichen sich die Migrationsprojekte: Man kann kollektive Muster, bestimmte Pfade im Raum und biographische Übereinstimmungen identifizieren, den Einfluss von Genderregimes nachweisen . Migrationen verlaufen daher in der Regel entlang bestimmter Korridore, in ähnlichen raum-zeitlichen Konfigurationen . Migrationsindustrien, die den Migrationsprozess flankierenden informellen und formellen Dienstleistungen, sorgen für eine Perpetuierung und Verselbstständigung von Migrationsbewegungen .

173

fehlende, unzulängliche informationen

Kollektive Muster, biographische Übereinstimmungen, pfade im raum

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

5.5 Klimawandel und Migration

Knappe ressourcen, starke Bevölkerungsdynamik

Verschärfung angelegter Konfliktlinien

Schätzungen von bis zu 300 Millionen Migranten

Vor-ort-hilfe durch nGos

Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass sich die durch den globalen Klimawandel ausgelösten Umweltveränderungen insbesondere auf die Länder des Globalen Südens, d .h . auf die Entwicklungs- und Schwellenländer, konzentrieren werden . Dies sind gleichzeitig auch die Länder, die über die geringsten Mittel zur Abfederung dieser Umweltveränderungen verfügen . Zusätzlich sind sie durch eine junge und weiterhin wachsende Bevölkerungsdynamik charakterisiert . Wann ist der Punkt erreicht, der tipping point, der Migration zu einer Option, zu einer Überlebensstrategie für die Betroffenen macht? Die zunächst in den Industrieländern geführte Debatte spiegelt zwei grundlegende Ängste wider: die Furcht davor, dass der Umweltwandel die erreichten Entwicklungsfortschritte in den Ländern des Südens wieder zunichte macht und dass die Verknappung von Ressourcen zu einer Ausweitung von Konflikten vor Ort führen könnte . Lange Zeit bestehende Konfliktlinien in vielen Regionen der Welt, etwa die zwischen Ackerbauern und mobilen Viehhirten, könnten sich weiter zuspitzen . Die Industrieländer fürchten außerdem, dass es durch die sich verschlechternden Lebensbedingungen zu Massenwanderungen kommen könnte . In der Literatur variieren die Schätzungen über die Zahl dieser Migranten seit 1995 zwischen 25 Millionen Umweltflüchtlingen bis hin zu 200 bis 300 Millionen Migranten (Stern 2007, Müller et . al 2012: 33) . Wissenschaftler stehen solchen Prognosen mehrheitlich skeptisch gegenüber, geben jedoch auch nicht Entwarnung (Gemenne 2011) . Hilfsorganisationen wie „Brot für die Welt“, „Misereor“ und viele andere NGOs sind mit zahlreichen Hilfseinsätzen direkt in den betroffenen Ländern tätig . Wenn ein Starksturm eine Schneise der Verwüstung hinterlässt, eine Überflutung die Lebensgrundlagen der Menschen, deren livelihoods, zerstört, dann helfen sie mit Nahrungsmitteln, technischer Unterstützung, gesundheitlicher Versorgung und Umsiedlungsprogrammen . Doch besonders dann, wenn es sich um die Auswirkungen langsamer Umweltveränderungen auf die Migrationsentscheidung handelt oder wenn Mobilität bereits traditionelle Anpassungsstrategie ist, ist der Zusammenhang zwischen Umweltwandel und Migration schwer zu identifizieren . In diesem Kapitel werden die verschiedenen regionalen Formen des Umweltwandels diskutiert, die entsprechenden Definitionen beleuchtet und ausgewählte regionale Beispiele skizziert .

174

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

5.5.1 Klimawandel und Umweltveränderungen in regionaler Perspektive Die wichtigste Studie zum Klimawandel, der Bericht des Klimarates IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), definierte Klimawandel bis 2014 vor allem auf Grundlage statistischer Messungen und differenzierte nach deren zeitlichen Verlauf . Erst der IPCC-Bericht 2014 verweist auf die UNFCCC-Definition (United Nations Framework Convention on Climate Change) von Klimawandel, der sowohl vom Menschen verursacht sein als auch natürliche Ursachen haben kann (vgl . UNFCCC, WGII Background Box SPM .2, SPM, in IPCC 2014: 5). Im Gegensatz zu vorherigen IPCC-Berichten unterstreicht der 5 . Bericht des Klimarats, dass alle Facetten des Klimawandels in steigendem Maße mit einer anthropogenen Verursachung verknüpft sind: Erderwärmung, veränderte globale Wasserkreisläufe, Abschmelzungen, Meeresspiegelanstieg . Auch die Erderwärmung seit Mitte des 20 . Jahrhunderts ist in erster Linie menschengemacht (vgl . WGI D .3, SPM, in: IPCC 2013: 17) . Die noch in den 2000er Jahren von vielen Wissenschaftlern gemachte Unterscheidung zwischen einem „natürlichen“ Klimawandel und den anthropogen, d . h . durch den Menschen, erzeugten Veränderungen (vgl . Carius, Tänzler und Winterstein 2007: 14) wird zurückgenommen . Als „natürlicher Klimawandel“ wurden häufig wiederkehrende Temperaturschwankungen der Erdatmosphäre sowie zu einem gewissen Grad auch Klimaextreme bezeichnet . Zu den ursprünglich rein auf höherer Gewalt beruhenden Naturkatastrophen gehören etwa Vulkanausbrüche und Erdbeben . Zu den anthropogen verursachten Veränderungen durch den Klimawandel zählt auf globaler Ebene der Anstieg der Treibhausgase durch erhöhte CO2-Emissionen . Auf regionaler Ebene fallen darunter beispielsweise die Abholzung von Wäldern, auf lokaler Ebene die Übernutzung von natürlichen Ressourcen, insbesondere Boden und Wasser . Zusätzliche Probleme der Umweltdegradationen können auch klimaunabhängig sein, z . B . Überreste eines Tageabbaus oder Minen, in Form von Verseuchung mit toxischen und radioaktiven Stoffen (wie im Falle von Tschernobyl und Fukushima) oder etwa Vermüllung . Unterschieden wird außerdem zwischen erneuerbaren und nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen, wobei zwischen begrenzt vorhandenen materiellen Gütern (Öl, Diamanten, Gold u .a .) in Form von Rohstoffen und prinzipiell wieder erneuerbaren Ressourcen der Natur (Trinkwasser, Boden,Wald, Luft, Meere, Biodiversität u .a .) differenziert wird . Eine weitere gängige Unterscheidung von Umweltveränderungen in der Literatur klassifiziert nach deren zeitlicher Dynamik (slow onset vs. rapid oder sudden onset und Naturkatastrophen [disaster] als Teil der schnellen Veränderungen) sowie deren räumlichem Ausmaß (lokal, regional, national, global) . Die Anpassungskapazitäten an diese Veränderungen sind regional unterschiedlich, besonders vulnerabel sind dicht besiedelte Gebiete . Aktuell 175

erhöhung des Strahlungsantriebs

Vorrang anthropogener Verursachung

Slow onset und sudden onset

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

werden in der Forschung insbesondere die Auswirkungen des Anstieges des Meeresspiegels (= sea-level rise), der Temperaturanstieg der Atmosphäre und veränderte Regenfallmuster, außerdem Starkwinde und Stürme untersucht . Abb . 18 fasst die wichtigsten Formen des Klima- und Umweltwandels in einem Überblick zusammen .

abb. 18: Die zeitliche Dynamik von Klima- und umweltveränderungen

erderwärmung

regionalisierte prognosen des ipcc

Die lineare Wärmeentwicklung seit Mitte der 1950er Jahre belegt eine deutliche Beschleunigung des polaren Temperaturanstiegs (WGI 3 .2, SPM; in IPCC 2007: 30) . Die Zeitspanne 1983–2012 umfasst laut IPCC sogar die wahrscheinlich wärmsten 30 Jahre in der nördlichen Hemisphäre in den letzten 1400 Jahren überhaupt . Der Temperaturanstieg verteilt sich über den ganzen Globus, wirkt jedoch am höchsten in den höheren bzw . nördlichen Breitengraden sowie in Südamerika und Teilen Nordafrikas (vgl . WGI B .1, SPM, in: IPCC 2013: 5 f .) . Angestiegen sind ebenfalls die durchschnittlichen arktischen Temperaturen, wobei sich das Festland schneller aufgewärmt hat als die Ozeane . Doch auch die Durchschnittstemperatur der Ozeane hat sich in den Tiefen von mindestens 2000 m erhöht (vgl . WGI B .2, SPM, in: IPCC 2013: 8) . Regionalisierte Prognosen zeigen, dass insgesamt betrachtet der Einfluss des Klimawandels auf Wasserknappheit in Afrika im Vergleich zu anderen Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Veränderung der Landnutzung relativ gering ausfallen wird . Enorme regionale Unterschiede finden sich vor allem in Gebieten, die heute schon von Wasserknappheit betroffen sind und unter verstärkter Trockenheit leiden wie z .B . Nordafrika oder Teile des südlichen Afrikas (vgl . WGII 22 .3 .3, Chapter 22, in: IPCC 176

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

2014: 1216 f .) . Der IPCC-Bericht 2014 prognostiziert für Nordafrika bis 2050 zwar eine Zunahme der Wasserknappheit, allerdings in erster Linie aus sozioökonomischen Gründen und „nur“ zu knapp einem Viertel aufgrund des Klimawandels (vgl . Droogers et al . 2012, zitiert in WGII 22 .3 .3, Chapter 22, in: IPCC 2014: 1217) . Aufgrund von Reduktionen in der durchschnittlichen Niederschlagsmenge, im Abfluss und in der Bodenfeuchte wird im südlichen, nördlichen und westlichen Afrika insbesondere die Desertifikation zunehmen (IPCC 2001: 14) . In Afrikas Nahrungsmittelproduktion besteht eine besondere Abhängigkeit vom Regenfeldbau, und sie weist eine starke intraund intersaisonale Variabilität mit periodischen Dürren und Fluten auf . Die weitverbreitete Armut schränkt die Anpassungsmöglichkeiten zusätzlich ein . Erwartet werden daher mit fortschreitendem Klimawandel geringere Erträge bei den Hauptanbauprodukten . Als Anpassungsszenarien werden Verkürzungen in den Anbau- und Erntezeiten sowie eine stärkere Konzentration auf Viehhaltung anstelle von Ackerbau erwartet – vor allem in der westafrikanischen Sahelzone sowie in Teilen Ost- und Südostafrikas (Jones und Thornton 2009, in WGII 22 .3 .4, Chapter 22, in: IPCC 2014: 1218) . Bis 2080 wird für Afrika ein Zuwachs von 5–8 % an ariden bis semi-ariden Landflächen vorausgesagt (WGII Box TS .6, 9 .4 .4, in: IPCC 2007: 50) . Der IPCC-Bericht rechnet für Zentral-, Süd- und Ostafrika mit einer Konterkarierung bisheriger sozioökonomischer Entwicklungserfolge (vgl . WGII 22 .3 .5 .3, Chapter 22, in: IPCC 2014: 1222) . Steigende Nahrungsmittelpreise, die Gefährdung von Transportinfrastruktur, z .B . durch Unterspülungen, und verringerte Lagerungsmöglichkeiten sorgen in den rasch wachsenden Städten Afrikas zusätzlich für Probleme (vgl . WGII, Chapter 22, in IPCC 2014: 1221) . In Asien hängen die Auswirkungen des Klimawandels auf die Bevölkerung stark vom Entwicklungsstand der einzelnen Länder ab . Die Anpassungssysteme an den Klimawandel in dieser Region werden als ungenügend, die Vulnerabilität der meisten dortigen Entwicklungsländer als hoch eingestuft (IPCC 2001: 14) . Hauptrisiken des Klimawandels für Asien bestehen laut IPCC-Bericht 2014 aus vermehrten Fluten mit Schäden für Infrastruktur, livelihoods und Siedlungen, einem zahlreicheren Auftreten von Hitzewellen und einem steigenden Risiko von Unterernährung durch Wasser- und Nahrungsknappheit bei Dürren (WGII, Box SPM .2 Table 1, in: IPCC 2014: 28) . In den 2050er Jahren wird der Frischwasserzugang im ariden und semi-ariden Asien, d .h . in Zentral-, Süd-, Ost- und Südostasien, besonders in den großen Flussbecken, zurückgehen (WGII 10 .4 SPM, in: IPCC 2007: 50, IPCC 2001: 14) . Deltas sind von zunehmender Versalzung durch zurückgehende Zuflüsse in der Trockenzeit und steigende Meeresspiegel bedroht (WGII, Chapter 24, in: IPCC 2014: 12) . Der Meeresspiegelanstieg und die Zunahme an Intensität und Häufigkeit von tropischen Zyklonen in tiefliegenden Küstengebieten des klimatisch gemäßigten und 177

afrika

Veränderte regenfallmuster und anbaumöglichkeiten

zuwachs an ariden Gebieten

Konterkarierung bisheriger entwicklungserfolge

asien

Gefahr für livelihoods

erschwerter frischwasserzugang

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

zyklone, Überflutungen, Dürren

rückgang der artenvielfalt

auftauen der permafrostböden Gletscherschmelze zentral- und Südamerika

ertragssteigerungen

des tropischen Asiens werden viele Menschen zur Umsiedlung zwingen . Je nach Region sind die Hälfte bis zu zwei Drittel der asiatischen Städte mit einer Million oder mehr Einwohnern einer oder mehreren Gefahren (= hazards) ausgesetzt, wobei Fluten und Zyklone die größten Risiken darstellen (UN 2012, zitiert in: WGII 24 .4 .5 .3, Chapter 24, in: IPCC 2014: 1346) . Erwartet wird eine Zunahme von Krankheits- und Sterberaten aufgrund von Überflutungen und Dürren (beispielsweise Hitzebelastung, Überträger- und Durchfallerkrankungen) in Ost-, Süd- und Südostasien (WGII 10 .4 SPM, in: IPCC 2007: 50, IPCC 2001: 14,WGII SPM .2 Table 1, in: IPCC 2014: 28) . Aufgrund des Meeresspiegelanstiegs werden die Menschen massenhaft in die Städte wandern . Die Artenvielfalt wird weiter zurückgehen, es wird zu Schädigungen an den heute noch weitgehend intakten Ökosystemen der Mangroven und der Korallenriffe kommen . Küstenregionen mit ihren Lagunengebieten werden versalzen, Ackerflächen knapper werden . Außerdem wird die abzusehende Verschiebung der südlichen Grenze der Permafrostzonen Asiens eine Zunahme der thermokarstischen und thermalen Erosion zur Folge haben – mit den entsprechenden Konsequenzen für die dort verlaufende Infrastruktur (wie etwa Öl-Pipelines) (IPCC 2001: 14) . Für 2100 prognostiziert IPCC einen 20–90 %-Rückgang der Permafrostfläche und ebenfalls der Eisdecke (Schaefer et al . 2011, zitiert in WGII 24 .4 .2 .3, Chapter 24, in: IPCC 2014: 1341) . Als vom Klimawandel besonders stark betroffen gelten auch die asiatischen Megadeltas wie der Ganges-Brahmaputra und der Zhujiang (Perlfluss) . Für den Himalaya wird durch die Gletscherschmelze eine Zunahme an Überflutungen und Steinlawinen sowie eine Störung des Wasserhaushalts erwartet . Für Zentral- und Südamerika nennt IPCC 2014 drei Hauptrisiken des Klimawandels:Wasserknappheit in semi-ariden und von Gletscherschmelze abhängigen Regionen sowie Überflutungen und Erdrutsche in urbanen und ländlichen Gegenden durch extreme Niederschläge, Rückgang der Nahrungsmittelproduktion und -qualität, Ausbreitung von durch Insekten übertragenen Krankheiten (= sogenannte vector borne diseases) (WGII Box SPM .2 Table 1, in: IPCC 2014: 29) . Der Temperaturanstieg und der damit zusammenhängende Rückgang der Bodenfeuchte wird Mitte des 21 . Jahrhunderts in Ostamazonien tropische Wälder graduell durch Savannen, semiaride Vegetation durch aride Vegetation ersetzen (WGII 13 .4 SPM, in: IPCC 2007: 50 ff .,WGII 27 .3 .2 .1, Chapter 27, in: IPCC 2014: 1524) . Erwartet wird in den ersten Jahrzehnten des 21 . Jahrhunderts ein moderater Klimawandel, der durch wärmere und feuchtere Bedingungen, kombiniert mit technologischer Weiterentwicklung der Landwirtschaft, zu einer (vorläufigen) Ertragssteigerung von z .B . 40 % bis 90 % im Mais- und Bohnenanbau in Brasilien führen kann – allerdings mit starken regionalen Unterschieden (WGII 27 .3 .4 .1, Chapter 27, in: IPCC 2014: 1527) . Bis zum Ende des 21 . Jahrhunderts könnte Südamerika zwischen 1 % und 21 % seines fruchtbaren Bodens durch Klimawan178

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

del und Bevölkerungswachstum verlieren (WGII 27 .3 .4 .1, Chapter 27, in: IPCC 2014: 1527) . Im industrialisierten Europa und in Nordamerika rechnet man in den Städten zukünftig mit stärkeren Hitzewellen (WGII 14 .4 SPM, in: IPCC 2007: 52, WGII SPM .2 Table 1, in: IPCC 2014: 27) . Küstengemeinden und -habitate werden verstärkt den Auswirkungen des Klimawandels wie zunehmender Verschmutzung und Überflutungen ausgesetzt sein (WGII 14 .4 SPM, in: IPCC 2007: 52, WGII SPM .2 Table 1, in IPCC 2014: 27) . Außerdem droht Wasserknappheit durch sinkende Grundwasservorräte und Flusspegel sowie durch die steigende Nachfrage (WGII SPM .2 Table 1, in IPCC 2014: 27) . Die Auswirkungen des Klimawandels führen zu einem erhöhten Risiko von Inlandblitzfluten und regelmäßigeren Küstenüberflutungen und zu einem Mehr an Erosion und größerem Artenverlust . In den Gebirgsregionen ziehen sich die Gletscher zurück, die jahreszeitliche Schneebedeckung verringert sich . Südeuropa, eine Region mit starken Klimaschwankungen, wird mit weit mehr Dürren konfrontiert sein, der Zugang zu Wasser wird schwieriger werden, die Ernteerträge werden abnehmen (WGII 12 .4 SPM, in: IPCC 2007: 50) . Die hier umrissenen Prognosen über die Auswirkungen des Klimawandels auf die einzelnen Regionen der Erde machen die besondere Gefährdung der Entwicklungs- und Schwellenländer deutlich . Aufgrund geringerer Anpassungskapazitäten werden dort mehr Menschen von den Folgen des Klimawandels direkt betroffen sein, hungern, verarmen oder umkommen . In der Forschung wurden auf Grundlage dieser vorhandenen Umweltdaten bestimmte Hotspots, Regionen, in denen sich die verschiedenen Risiken ballen, identifiziert .

industrialisiertes europa und nordamerika

Mehr hitzewellen, Wasserknappheit

inlandblitzfluten, geringere Schneedecke

abnehmende ernteerträge

unterschiedliche anpassungskapazitäten

hotspots, Vulnerabilität

Zu diesen Hotspots gehören vor allem vier als besonders vulnerabel eingeschätzte Landschaftstypen: die tiefliegenden Küstengebiete, vor allem auch die Flussdeltas, durch Regenfeldbau gekennzeichnete Landschaften sowie von Schneeschmelze abhängige Landwirtschaft an Flüssen, semihumide und trockene Gebiete (Sahel, Mexiko und Zentralamerika) und die tropischen Regionen in Südostasien (Hugo 2013) .

5.5.2 Die Definition von Umweltmigration Schon die frühen Bevölkerungsforscher, so beispielsweise Ravenstein am Ende des 19 . Jahrhunderts, erwähnten ein unattraktives Klima als Grund für anhaltende Migrationen . Doch die späteren Migrationsforscher ignorierten 179

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

Klima spielte in der Migrationsforschung eine untergeordnete rolle

meist die Rolle des Klimas und dessen Auswirkungen auf das Migrationsverhalten der Menschen . Erst seit etwa den 1980er Jahren spielt das Klima durch die aufkeimende Klimawandeldebatte wieder eine Hauptrolle in der Migrationsforschung . Allein schon in der Terminologie steckt politischer Sprengstoff . An den gewählten Begrifflichkeiten hängt der gesamte politische Umgang mit der Thematik .

abb. 19: Verschiedene terminologien in ihrer zeitlichen abfolge

am anfang: der environmental refugee

Bis Anfang der 1980er Jahre war der environmental refugee eine gängige Bezeichnung, die erstmals vom International Institute for Environment and Development (IIED) in London, später dann von El Hinnawi im Rahmen eines UNEP-Berichts verwendet wurde . Im ersten UN-Bericht über den Klimawandel hieß es, dass „the gravest effects on climate change may be those on human migration as millions will be displaced“ (Piguet 2011: 4) . Der Begriff bezeichnete Menschen, die aufgrund deutlicher Umweltveränderungen gezwungen wurden, ihre Lebensräume vorübergehend oder langfristig zu verlassen . In diesen von der UN angeregten Debatten ging es in erster Linie darum, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die eventuell mit dem Klimawandel auftretenden Problematiken zu schaffen . Renommierte Migrationsforscher sprachen sich gegen eine solch einfach gestrickte 180

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

Interpretation des Zusammenhanges von Klimawandel und Migration aus und mahnten zur Vorsicht im Umgang mit Begrifflichkeiten . Derlei Analysen seien nur mit allergrößter Vorsicht zu verwenden – wenn überhaupt (s .u .) . Der Begriff des climate refugee taucht erstmals im Jahr 2006 häufiger auf . Er soll die Unfreiwilligkeit der umweltbedingten Migration hervorheben und die Notwendigkeit zur Erstellung eines internationalen Handlungsplans, darunter humanitäre Hilfeleistungen, unterstreichen . Abb . 19 fasst die unterschiedlichen Begrifflichkeiten in der aktuellen Debatte zusammen . Die Debatte ist hochpolitisiert, weil der Begriff des Flüchtlings in der internationalen Politik lediglich für solche Menschen verwendet wird, die vor Gewalt fliehen . Rechtlich gesehen ist der Begriff Umweltflüchtling demnach irreführend, da er nicht durch das Abkommen über die Rechtsstellung der Genfer Flüchtlingskonvention gestützt wird (vgl . Kap . 1) . Umweltveränderungen sind in der Genfer Konvention von 1951 nicht als Fluchtgrund aufgeführt . Sowohl UNHCR als auch die Organisation für Migration (IOM) lehnen deshalb den Begriff des Umweltflüchtlings ab und verweisen auf environmentally displaced persons, wenn sie sich auf eine durch die Umwelt induzierte Migrationsbewegung beziehen . Mit dieser Definition sprechen sie den Flüchtenden den Flüchtlingsstatus und die damit verbundenen Privilegien in der Behandlung im Aufnahmekontext ab . Hinter diesem Vorgehen steht die Angst, dass der internationale Flüchtlingsbegriff durch die Variable Umwelt eine weitere Schwächung erhalten könnte und die ohnehin schon sehr verwundbare Gruppe der Flüchtlinge noch weiter in Bedrängnis geriete .

Dann climate refugee

flüchtlinge haben einklagbare rechte

Verwässerung des flüchtlingsbegriffes

Die Anwendung des Flüchtlingsbegriffs bringt die moralische Dimension der Umweltveränderungen stark zum Ausdruck und mahnt gleichzeitig die globale Verantwortung der Länder des Nordens als (Haupt-)Verursacher des Treibhauseffekts an . Die Anerkennung von Umweltmigranten bedeutete dann das politische Eingeständnis der Verantwortlichkeit der den Klimawandel verursachenden Staaten (McNamara 2007, zitiert nach Klepp 2012: 7) .

Die in ihrer Einschätzung deutlich skeptischere Gegenposition hinsichtlich des Einflusses der Umwelt auf die Migrationen wird am prominentesten von Black (2001, 2011) vertreten . Er hält die alarmistischen Prognosen für wissenschaftlich nicht haltbar . Diese ignorieren, dass in vielen Ländern bestimmte Formen der episodischen Migration (z .B . als Nomadismus) traditionell existierten . Außerdem flössen mögliche Anpassungsstrategien nicht in die Analyse ein (und verzerren damit die abgeleitete Prognose) . Maßgeblich seien nicht die Umweltveränderungen an sich, sondern die Fähigkeit der verschiedenen Länder und Gesellschaften, auf diese Veränderungen zu 181

alarmistische prognosen

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

fragwürdige Dualität von Menschumwelt-Beziehungen

einbeziehung von Bottom-Up-ansätzen

reagieren . Die wissenschaftlichen Einwände gegen solche Vorhersagen beruhen gedanklich auf einer Kritik, die sich gegen eine Konstruktion von Mensch-Umwelt-Beziehungen als einer Dualität, als voneinander separiert, richtet (vgl . Tacoli 2009) . Auch die Umwelt gilt als sozial konstruiert und Umweltfaktoren beeinflussen Migration auf eine spezifische, besonders dynamische Weise (vgl . Tacoli 2009), und zwar: komplex, nicht linear, multipel, multi-dimensional (sowohl push als auch pull) und zeitgebunden (saisonal, wiederkehrend und allmählich) . In der Praxis verbinden die verschiedenen Antriebsfaktoren (drivers) eine Vielfalt an Komponenten miteinander, die nur schwer voneinander zu trennen sind . Anders als in den deskriptiv vorgehenden Top-Down-Ansätzen, bei denen bestimmte Hotspots identifiziert werden, liegt in dieser Herangehensweise der Fokus auf den Bottom-Up-Ansätzen, d .h . auf den Anpassungsstrategien, auf der Risikowahrnehmung durch die Bevölkerung und auf der Frage nach der Verfügbarkeit von sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Ressourcen sowie auf den Macht- und Geschlechterverhältnissen (vgl . Gu­ hathakurta 2011) . Eine Reihe von Autoren sieht außerdem die Gefahr, dass durch hohe Schätzungen über den Umfang umweltbedingter Migration politische Reglementierungen umgesetzt werden, die nicht primär die Rechte der besonders Verwundbaren schützen, sondern die im Gegenteil die etablierten Interessen und den weiteren Ausbau eines Systems der Abwehr von Migration gewährleisten (Piguet 2008) . 5.5.3 Der Nexus Umweltveränderungen – Migration in der regionalen Praxis

Rapid-onset-ereignisse lösen kurzzeitige, interne Migrationen aus

Bodenversalzung und abholzung haben Migrationen zur folge

Detaillierte Studien zeigen, dass rapid-onset-Umweltveränderungen (z . B . durch Vulkanausbrüche oder Erdbeben) eher zu kurzzeitigen und internen Bevölkerungsverschiebungen führen als zu dauerhaften Migrationen in entfernter gelegene Gebiete . Häufig kehren die Menschen in die zerstörten Gebiete zurück und errichten dort ihre Häuser neu . Manchmal führen solche extremen Ereignisse paradoxerweise auch zu einer stärkeren Anziehungskraft: Durch Aufbauarbeiten sind zahlreiche Hilfsorganisationen mit ihrer Crew vor Ort und ziehen weitere Menschen an . Die Literatur zeigt auch, dass eine gewisse Regelmäßigkeit von Umweltkatastrophen die Menschen dazu treibt, abzuwandern und dass Desertifikation, Wasserknappheit, Bodenversalzung und Abholzung Migrationen zur Folge haben: „Environmental factors – except for floods – have a significant positive impact on the migration flows . […] The most significant environmental factors are soil quality and availability of suitable water“ – wobei sich die Autoren auf Modellrechnungen beziehen (Affifi und Warner 2008: 16) . Als eher langfristiger und schleichender Natur gilt die Abnahme des Niederschlags im subsaharischen Afrika . Dieser Rückgang führte zu einer Abwanderung vom Land in die Stadt (vgl . Barrios 2006, zit . nach Piguet 182

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

2011) . Die Dürren in den 1980er und 1990er Jahren brachten Millionen von Umweltmigranten mit sich – wobei der Einfluss sozialer und politischer Konflikte, die den Ausschlag zur Migration gaben, stark sein dürfte . Bestimmte konflikthafte Vorbedingungen wie abnehmende Qualität und Quantität von erneuerbaren Ressourcen, Bevölkerungswachstum und Konsumsteigerungen oder ungleicher Zugang der Bevölkerung zu Ressourcen führen zu ökologischer Marginalisierung (= Verdrängung von Bevölkerungsgruppen in weniger fruchtbare Gegenden) und Ressourcenraub (z .B . zu einer Konstruktion von Dämmen, um privilegierten Zugang zu Wasser zu erlangen) (Clark 2007: 12) . Mit anderen Worten:

entscheidende Bedeutung von konflikthaften Vorbedingungen

ressourcenraub

Wo die Umweltveränderungen in einem bereits konflikthaften regionalen Setting stattfinden, wirken sie konfliktverstärkend .

Weniger klar erscheinen die Ergebnisse von Studien, die sich auf einen Methodenmix stützen . Zwei Überblicksstudien im ländlichen Mali zeigen sogar, dass die Dürren zu einer Abnahme der Migration führten, weil die Menschen keine Finanzierungsmöglichkeiten mehr für die Reise aufbrachten . Ähnliche Ergebnisse lieferten historische Studien zu den Dürren in den mexikanischen Regionen Zacatecas und Durango . Naudé (2008) kann in einer Studie zu 45 subsaharischen Ländern ebenso keine Korrelation zwischen Emigration und Wasserknappheit finden . Piguet (2011) kommt zu dem Schluss, dass ein Zusammenhang zwischen Niederschlagsmangel und Migration zwar besteht, dieser jedoch hochgradig kontextuell ist . Schon deutlicher artikuliert sich der Zusammenhang zwischen dem Meeresspiegelanstieg und der Abwanderung der Bevölkerung in tiefliegenden Küstengebieten oder auf den Inseln . Im Pazifik sind einige Inseln bereits vom Meeresspiegelanstieg betroffen, die sogenannten sinking islands . So bereitet sich Kiribati, eine aus 32 Atollen bestehende Inselgruppe, schon auf den Untergang seiner Landfläche vor, indem es Auswanderungsprogramme in die umliegenden Regionen vorantreibt . „Move in dignity“ nennt die Regierung ihre Programme und bemüht sich darum, dass die vorgesehenen Maßnahmen gleichzeitig als Entwicklungsstrategien im Sinne der Pazifikstaaten selbst zu verwerten sind . Dazu vereinbart die Regierung des bisher überwiegend subsistenzwirtschaftlich orientierten und durch Entwicklungshilfe und Rücküberweisungen gestützten Staates Quoten mit anderen Pazifikstaaten wie Neuseeland und Australien über die Auswanderung in bestimmte Berufszweige (vgl . Klepp 2012) . Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach dem derzeitigen Forschungsstand der Klimawandel keinen singulären Auslöser für Migration darstellt, sondern dass hierdurch die Multikausalität des Migrationsprozesses verstärkt wird und dass die mit dem Klimawandel einhergehenden Um183

Methodenmix bringt andere ergebnisse

Sinking islands

Verschränkung von entwicklungshilfe und rücküberweisungen als anpassungsstrategie Klimawandel kein singulärer auslöser von Migration

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

Kurze Distanzen, Binnenmigration, temporär anpassung

Wer wandert, verfügt über ressourcen partizipative Strategien

weltveränderungen eine zunehmend wichtige Rolle für die Migrationen insbesondere in Hotspots spielen . Ferner kann man sagen, dass die Mehrzahl der Migrationen auf kurze Distanz, temporär und als Binnenmigration erfolgt . Zukünftig werden die umweltinduzierten Migrationen daher vor allem internen, nicht internationalen Charakters sein . Migration zählte schon immer als ein bewährter Anpassungsmechanismus. Doch haben sich in den betroffenen Gegenden die traditionellen Anpassungsstrategien durch die veränderten sozioökonomischen und ökologischen Bedingungen grundlegend gewandelt (insbesondere land- oder viehwirtschaftliche Wirtschaftsweisen) . Es zeichnet sich ab, dass die, die wandern, ein Mindestmaß an finanziellen Ressourcen besitzen . Die Migrationsmuster verändern sich und es werden neue Formen der Regulierung notwendig werden, höchstwahrscheinlich stärker partizipative und damit konfliktvermeidende Strategien (Newland 2011) . Exkurs: Anpassung, Resilienz und Vulnerabilität Eine Vielzahl von Studien betont die Funktion von Migration als einer Hilfe zur Anpassung an den Klimawandel . Die persönlichen Netzwerke der Migranten unterstützen zum Beispiel durch Geldüberweisungen oder die Organisationen der Diaspora kümmern sich um die Bereitstellung von Gerätschaften zur medizinischen Versorgung vor Ort etc . Migranten wirken so über den Transfer von Wissen, Technologie und Rücküberweisungen in ihre Herkunftsländer innovativ auf die Anpassungsstrategien ein . Solche Anpassungsleistungen können in Form von allgemein entwicklungsrelevanten Angeboten wie berufsbildendem Unterricht (Senegal), dem Bau fester Häuser anstatt einfacher Hütten (Ruanda) oder dem Bau von Wasserpipelines (Marokko) geschehen . Die Diasporagemeinschaft des jeweiligen Landes ist direkt in die Entwicklungszusammenarbeit eingewoben und zur Prävention von zukünftigen Migrationen angehalten (vgl . Marmer, Scheffran und Sow 2011) . In vielen Handlungsstrategien schwingt mit, dass es ein „Zuhause“ gibt, in das die Menschen zurückgehen können (Bakewell 2008), Sesshaftigkeit wird nach wie vor als Norm des politischen Handelns gesehen . Diese Fokussierung, in der Fachliteratur als sedentary bias bezeichnet, bringt in der Entwicklungspraxis Probleme mit sich, weil sie eine positive Sicht auf Migration und die damit verbundenen gesellschaftlichen Ereignisse tendenziell verstellt . Lange Zeit war Migration in der Entwicklungsdebatte negativ konnotiert, wurde gar als das eigentliche Problem angesehen . Seit einigen Jahren schlägt das Pendel nun in die andere Richtung . Eine überaus positive Sichtweise, ein mobility turn, der vor allem darauf zielt,

persönliche, Soziale netzwerke und die Diaspora unterstützen

Sesshaftigkeit als normativer Bezugsrahmen der entwicklungspolitik

184

5.5 KliMaWanDel unD MiGration

Migranten in die Lage zu versetzen, weitere Migrationen zu verhindern, setze ein (vgl . hierzu Verne und Doevenspeck 2012: 86) . Je nach Grad der Vulnerabilität, d . h . der jeweiligen Kombination von Stressfaktoren und der Verfügbarkeit und dem Zugang zu Ressourcen bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, dient Migration als eine mögliche Form der Anpassung an die neuen Herausforderungen (Newland 2011, Hillmann, Pahl, Rafflen­ beul und Sterly 2015) . In dieser Forschungsperspektive werden die tatsächlichen Umweltveränderungen nicht als gegeben, sondern als sozial konstruiert aufgefasst (Oliver­Smith 2009: 12) . Als wie riskant, als wie gravierend und andauernd werden die Umweltveränderungen von der ansässigen Bevölkerung wahrgenommen? Gerade wenn Rücküberweisungen von Angehörigen fehlen, werden Haushalte besonders anfällig für Krisen . Dann wird Immobilität zu einem Risikofaktor, zu einer Falle für die immobile Bevölkerung (Black 2011) . Umweltwandel verstärkt den Wettbewerb um knappe Nahrungsmittel und den Zugang zu Trinkwasser immer, wenn nicht zeitweise auf mehr Hilfen von außen wie Nahrungsmittelhilfe, Rücküberweisungen oder andere Handelsbeziehungen zurückgegriffen werden kann (Newland 2011: 5, Fritz 2010: 5) .

Stressfaktoren sozial konstruiert

Trapped population

Nicht die Umweltfaktoren an sich, sondern die sozialen und politischen Einflüsse auf diese Faktoren bestimmen die Zusammensetzung, die Dauer und die Ziele der Migration .

Saisonale Mobilität überwiegt vor allem in vom Regenfeldbau abhängigen Gebieten, in denen es praktisch keine weiteren Erwerbsmöglichkeiten für die Bevölkerung gibt . Die akuten Umweltkrisen fielen genau in eine Zeit, in der ohnehin ein starker ökonomischer und sozialer Umbruch stattfand und dem sich Strukturanpassungsmaßnahmen anschlossen – dies zeigt sich bei der Analyse regionaler Fallbeispiele (Tacoli 2011: 20 f .) . In der neuesten Literatur tritt immer deutlicher hervor, dass die heute sich auswirkenden und mit dem Klimawandel in Beziehung gesetzten Umweltveränderungen menschengemacht sind . In vielen Fällen repräsentieren sie lediglich den (vorläufigen) Endpunkt nicht-nachhaltiger Entwicklungsstrategien in der Vergangenheit . Von großen asiatischen Institutionen wie der Asian Development Bank werden Migranten inzwischen als Teil der Lösung von Klimaproblemen gesehen und die Politik wird als Ermächtiger solcher Lösungsstrategien identifiziert, beispielsweise durch die Einräumung eines Rechts auf Mobilität oder durch die Gewährung von finanziellen Hilfen zur vorüber185

umweltkrisen sind teil ökonomischen und sozialen umbruchs

Menschengemachte umweltveränderungen als endpunkte verfehlter entwicklungsstrategien

5. MiGration in GloBaler perSpeKtiVe

foto 6: umweltveränderungen in Semarang, indonesien, hillmann 2014

Banken richten cat bonds ein

Die nansen-initiative

gehenden Migration in Notunterkünfte . Durch die Einrichtung von cat bonds (Katastrophenbonds) und weather derivatives (Wetterderivate) streben die Banken eine stärkere Versicherungsdichte und Risikodiversifizierung in diesen Ländern an – angelehnt an die Kapitalmarktlogik (Gemenne et al . 2011) . Um in absehbarer Zeit eine einheitliche Strategie im Umgang mit regional grenzüberschreitenden, durch Umweltveränderungen ausgelösten Migrationsbewegungen einzuführen, riefen die UN 2013 die Nansen-Initiative ins Leben, deren Aufgabe zur Zeit in der Erhebung des Wissenstandes über die verschiedenen Verfahren der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen in Grenzregionen besteht .

186

6. Die Metaebene: Stadt und Migration, aktuelle Fragen Ohne Migration gibt es keine Städte und Migranten wandern meistens in Städte. Der Umgang der Städte mit Migration erfolgte immer wieder in Form von Ausgrenzung, etwa indem den Migranten besondere Orte in der Stadt zugewiesen wurden, Kolonien, Chinatowns oder einfach Herbergen. Besonders augenfällig erscheint die Segregation heute in den schnell wachsenden Megacities in den Ländern des Globalen Südens. Viele von ihnen besitzen migrantisch geprägte Stadtteile. Marginalsiedlungen am Stadtrand fungieren als erster Aufnahmeort für die Migranten (Saunders 2012). Die Favelas, Shantytowns, Banlieues und Gecekondus liegen häufig an Berghängen, an Flussufern oder in Nachbarschaft von Mülldeponien. Sie dienen den Migranten als Stadtteile mit bescheidenen Einstiegsjobs und bieten Überlebensmöglichkeiten, die es anderswo nicht gibt. Paris, London und Berlin besaßen während der Industrialisierung ähnlich verwahrloste und verschmutzte Stadtteile, am Stadtrand von Barcelona stand eine riesige Hüttensiedlung. Die Großstädte wuchsen und mit ihnen die Gefahr von Epidemien und Seuchen, ständige Unruhen gehörten zum Alltag (Mumford 1961). In den aufstrebenden Industriestaaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts sorgte die einsetzende soziale Fürsorge dafür, dass sich diese Stadtteile allmählich stabilisieren konnten. Anders als in den USA, wo ethnische Enklaven wie Little Italy und Chinatown als selbstverständlich galten, richteten sich die Stadtentwicklungspolitiken in Deutschland seit der Nachkriegszeit auf den Ausgleich sozialer und räumlicher Ungleichheiten. Die Entstehung von Polarisierung und Parallelgesellschaften wurde als Versagen des sozialen Zusammenhalts problematisiert (Kapitel 6.1). Später lieferte die europäische Diskussion über Multikulturalität Impulse für die bundesdeutsche Integrationspolitik (Kapitel 6.2), die demographische Zusammensetzung der Städte und die städtischen Realitäten änderten sich rasant (Kapitel 6.3). Inzwischen spaltet sich die Debatte über die Integration in eine stärker akademisch geprägte Diskussion über Partizipation, Diversität und postmigrantische Identitäten und in eine populistische, aufgeheizte Debatte über neue Einwanderer aus der EU, insbesondere aus Bulgarien und Rumänien und, seit 2014, über Flüchtlinge (Kapitel 6.4).

187

Marginalsiedlungen bieten einen Zugang

Parallelgesellschaften als Zeichen versagenden sozialen Zusammenhalts

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

6.1 Segregation und polarisierung in den Städten

Das provisorische leben hat ein ende

Stadtteile wirken als integrationsschleusen

Sanierungsgebiete: nicht anpassungsfähig

Bis in die 1980er Jahre hinein wurde die Anwesenheit von Migranten in den bundesdeutschen Städten von den Politikern als provisorisch angesehen und es wurde unterstellt, dass die Gastarbeiter in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden . Bis zum Anwerbestopp 1973 lebten sie in Sammelunterkünften, waren Teil der Arbeitswelt, nicht aber Teil der Stadt . Im politischen Raum durchlebten sie eine Zeit der „Integration auf Widerruf“, so die ausländerpolitische Leitlinie der Bundesregierung im Jahre 1974 . Mit dem Anwerbestopp 1973 erlaubte die Gesetzgebung erstmals den Familiennachzug . Dies führte dazu, dass die Gastarbeiter ihr provisorisches Leben umzukrempeln versuchten: Sie zogen aus den Wohnheimen aus, suchten Mietwohnungen, sparten weniger für die Rückkehr, und ihre Verbindungen nach Hause wurden loser (Herbert 2003: 233) . Die Ausländer zogen in billige, fabriknahe Wohnungen oder in Altbauten in den Sanierungsgebieten der Innenstädte (etwa nach Wedding, Kreuzberg und Nord-Neukölln in Berlin, nach Gröpelingen und Walle in Bremen, in den Gallus in Frankfurt, nach St . Pauli in Hamburg) . Seit Mitte der 1970er Jahre ging die allgemeine Wohnungsproduktion in der Bundesrepublik zurück . Die Umschichtung der Nachfrage zugunsten des Eigenheimbaus verstärkte die Versorgungsdisparitäten zwischen den sozialen Gruppen in den Städten (Strassel 1979: 59) . In Städten wie Frankfurt und Berlin entstanden nach und nach Einwandererkolonien, die eine doppelte Funktion besaßen: Für Neuankömmlinge wirkten sie als Integrationsschleuse in die neue Gesellschaft, und gleichzeitig dienten sie als Ort der Orientierung und des Rückhalts in der Herkunftskultur (Heckmann 1981) . Häufig handelte es sich um Stadtteile mit Planungsunsicherheiten . Die Flächensanierungen in den vernachlässigten Altbauquartieren der Innenstädte in den 1970er Jahren verliefen parallel zu einem Städtebau, der den Ausbau von Großwohnsiedlungen mit gehobenem Komfort vorantrieb . Armut galt als sozialpolitisch beherrschbares Problem einer kleinen Randgruppe (Farwick 2012: 383 ff .) . Mit dem ökonomischen Strukturwandel war jedoch ein Sockel struktureller Arbeitslosigkeit bei den ehemaligen Industriearbeitern entstanden . Viele der ehemals Angeworbenen waren jetzt kontinuierlich auf staatliche Transferleistungen angewiesen . Absehbar war, dass sie keinen Weg zurück in den regulären Arbeitsmarkt finden würden . Sie konzentrierten sich in Quartieren, die den Planern als „Ghettos von sozial leistungsschwachen Familien“ bekannt waren und die als „rückständige“ Viertel in der soziologischen Literatur Karriere gemacht hatten (vgl . hierzu Zapf 1969: 55) . Die Bevölkerung der Sanierungsgebiete wurden in Wissenschaft und Öffentlichkeit „gerne als Negativ-Bild zur ‚Normalbevölkerung‘“ dargestellt: „als mittellos, überaltert, ungebildet, leicht asozial, nicht anpassungsfähig und nicht anpassungsbereit“ (Zapf 1969: 126) . 188

6.1 SeGreGation unD polariSierunG in Den StäDten

In der fordistischen Arbeitsgesellschaft waren die Migrantinnen und Migranten funktional für die Arbeitswelt . Im Deutschland der Nachkriegszeit bis zur Wende wurden sie in den Städten überwiegend in zweierlei Hinsicht wahrgenommen: erstens als defizitär hinsichtlich ihrer (erwarteten oder unterstellten) Integration in die Stadtgesellschaft und zweitens als bedrohlich jeweils dann, wenn sie begannen, im öffentlichen Raum mit eigenen Symbolen wie beispielsweise Moscheen aufzutreten .

Segregation bezeichnet „das Ausmaß der ungleichen Verteilung von Elementen über städtische Teilgebiete eines Gebietes“ (Friedrichs 1977: 217, zit . nach Welz 2014: 279) . In einer dynamischen Sicht beschreibt Segregation den Prozess der räumlichen Differenzierung, Sortierung und Separierung; in einer statistischen Sicht wird hierunter das Muster einer disparitären Verteilung von Bevölkerungsgruppen im Raum gefasst . Räumliche bzw . residentielle Segregation wird durch unterschiedliche Kriterien definiert: etwa durch die sozioökonomische bzw . soziale Zusammensetzung oder das Lebensalter der Bewohnerschaft (= demographische Segregation) oder durch die ethnisch-kulturelle Zuordnung (Farwick 2012: 381) .Viele Ansätze zur Erklärung von Migration unterstellen individuelle Entscheidungsfreiheit (sogenannte Präferenzen) und lassen sozioökonomische Restriktionen tendenziell außer Acht (Welz 2014: 31) . Im Gegensatz hierzu betonen polit-ökonomische Ansätze die Bedeutung der materiellen Ausstattung von Haushalten . Die drei Kernfragen der Segregationsforschung lauten: Erfolgt Segregation freiwillig oder ist sie erzwungen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen räumlicher Nähe und sozialer Distanz? Und: Produziert der Raum selbst, d .h . das Ensemble der in einem bestimmten Gebiet stattfindenden sozialen, wirtschaftlichen und ökonomischen Beziehungen und Handlungen, Segregation? Bei einer Segregation handelt es sich häufig um einen sich selbst verstärkenden Prozess, der eine zusätzliche Stigmatisierung sozial schon benachteiligter Quartiere einleitet . Die Medien heben dann bevorzugt auf negative und kriminelle Neuigkeiten ab, sie schreiben das Stadtteilimage „runter“ . Stadtviertel wie Nord-Neukölln oder aber auch Großwohnsiedlungen (wie Bonn-Tannenbusch oder Bremen-Tenever) gehören zu den Beispielen für solche Abwertungsspiralen (vgl . für Neukölln Kolland 2012) .

189

Die Definition von Segregation

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

Segregation als selbstverstärkender prozess

Urban marginality

Die neoliberalisierung bringt eine Kriminalisierung der armut mit sich

nutzungskonflikte im öffentlichen raum

In diesen Stadtteilen kamen verschiedene, sich gegenseitig verstärkende Faktoren zum Tragen: eine geringe Ressourcenausstattung innerhalb der Quartiere, das soziale Erlernen von spezifischen destruktiven Handlungsmustern und Normen sowie stigmatisierende und diskriminierende Wirkungen von benachteiligten Quartieren (Farwick 2012: 390) .

Im angelsächsischen stadtsoziologischen Jargon bezeichneten die Forscher die zunehmende Peripherisierung und Stigmatisierung armer Nachbarschaften bald als urban marginality . Sie beobachteten eine stärker kontrollierende Verwaltung von Segregation und Integration und interpretierten dies als neue Form sozialer Kontrolle mit dem Ziel des Schutzes der wohlhabenden Klassen (vgl . hierzu Wacquant 1999) . Das amerikanische Ghetto mit seinen urban outcasts und seiner underclass war wesentlich an die Geschichte der Diskriminierung von Afro-Afrikanern gebunden . Mit der neoliberalen Revolution, so Wacquant, vollzog sich auch in Europa ein Wechsel weg von der sozialstaatlichen Regulierung hin zu einer bestrafenden Verwaltung, die das „städtische Subproletariat in eine wütende Kaste Verstoßener“ verwandele und eine Kriminalisierung von Armut mit sich bringe (Wacquant 2006: 7 ff .) . In diesen Überlegungen ging es nicht mehr um die Präferenzen bei der Wohnungswahl, sondern um die strukturelle Frage, welche Rolle eigentlich dem Staat und seinen Verwaltungsinstitutionen, auch den Medien, bei der Entstehung von städtischen Marginalgebieten und Segregation zufiel – indem sie Stadtteile in „Verlierer“ oder „Abstiegsstadtteile“ abqualifizierten und dementsprechend berichteten . Diese Sichtweise auf die Marginalisierung betonte den strukturellen Charakter der Veränderungen in Europa . Seit der Nachkriegszeit waren Massenproduktion und Massenkonsum mit der Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten verknüpft gewesen . Die fortschreitende Auflösung dieser Regimes zog auch neue Armut nach sich . Bestimmte Stadtbezirke und ihre Bevölkerung isolierten sich zunehmend, eine neue Ghettoisierung trat ein . Staaten funktionierten nicht länger als „Stratifikationsmaschinen“ (vgl . Esping­Andersen 1993) . In Folge war die räumliche Entwicklung stärker als zuvor von Konzentration und Stigmatisierung geprägt . Seit den späten 1980er Jahren traten die Unterschiede nun auf engstem Raum auf . Gerade von denen, die ohnehin schon am stärksten belastet waren, wurden sie durchlebt (Madanipour 2003: 155) . Diese Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum brachten eine Neudefinition der Quartiere mit sich . Es entfachte sich eine normativ aufgeladene Diskussion darüber, ab wann eigentlich (positive) Differenz in (negative) Polarisierung umschlägt und ab wann Interaktion (Inklusion) in Schließung (Exklusion) übergeht (Hennig 190

6.1 SeGreGation unD polariSierunG in Den StäDten

2004: 78) . Die Segregation behinderte nicht nur die Lebenschancen Einzelner, sondern hatte auch eine Abnahme der sozialen Kohäsion insgesamt zur Folge (Häussermann 2008: 124 f .) . Zusätzlich wirkte sich die mit der Strukturkrise wachsende internationale Konkurrenz zwischen den Städten auf die innere Struktur der Städte aus: Verstärkter Wettbewerb verschärfte die soziale Ungleichheit (Güntner 2007: 61 f .) . Der Urban Decline, der städtische Verfall in Europa, leitete relativ bald eine Suche nach neuen Ansätzen in den EU-Regionalpolitiken ein . Benachteiligte Gebiete in der Europäischen Union fanden Berücksichtigung in den zukünftigen Förderkulissen, d .h . den europäischen Strukturfonds . Gefragt war nun ein neuer Typus von Stadtpolitik, neue Lösungen, um der Auseinanderentwicklung der Stadtteile zu begegnen . Vielerorts in Europa setzte die Stadtpolitik jetzt auf area-based orientierte Handlungsansätze (Andersson und Musterd 2005: 378 ff .) – anstelle der üblichen sektoralen Politiken, die über die Schulen oder den Arbeitsmarkt abgewickelt wurden . Der jetzt feststellbare Übergang von Armut (einem punktuellen Ereignis) zu Ausgrenzung (einem Zustand) tangierte die Städte in ihrem Innersten . Die Folgen zeigten sich besonders in den Großsiedlungen, einer Wohnform, die ursprünglich als Pendent zur groß-industriellen Fabrik geschaffen wurde, nicht aber für Alleinstehende oder Arbeitslose gedacht war (Kronauer 2002: 221) . Genauso gehörten die innerstädtischen Altbauquartiere zu den „Problemkindern“ . Wie zuvor der Staat, verlor nun die „Integrationsmaschine Stadt“ ihre Integrationskraft, die riskanten Entwicklungen und Polarisierungen in der Stadt mit ihrer multifaktoriellen Verursachung gingen einher mit einer Betonung des „ethnisch-kulturellen Konfliktpotentials in unseren Städten“ (Heitmeyer, Dollase und Backes 1998: 16) . Die Stadtforscher beobachteten, dass strukturelle Ungleichheiten soziale Folgen produzierten . Die Städte drohten in Gebiete zu zerfallen, die bestimmte Bewohnergruppen besonders stark anzogen und die polarisierenden Effekte zusätzlich verstärkten . Wissenschaftler sprachen von den „Rändern der Städte“ und meinten benachteiligende Lebensorte (Häus­ sermann et al . 2004: 28 f .) . Steuerliche Anreize wie die Eigenheimzulage (und Pendlerpauschale) hatten den Besserverdienenden über viele Jahre hinweg einen Anreiz geboten, ins Umland zu ziehen . Die Wohngebiete in den Innenstädten, hauptsächlich von Arbeitern bewohnt, unterlagen einem Fahrstuhleffekt (nach unten), aus dem Arbeiterquartier wurde ein „Arbeitslosenquartier“ (Häussermann 2000: 17 f .) . In den 1990er Jahren lagen viele Sozialindikatoren auf lokaler Ebene nicht vor, schon gar nicht nach Migrationshintergrund differenziert . Welche Kontexteffekte gingen vom Leben in einem benachteiligten Quartier auf dessen Bewohner aus? Wie abgeschottet lebten die Migrantinnen und Migranten eigentlich und was bedeutete dies für die restliche Stadt? Einer der zentralen Glaubenssätze der traditionellen Migrationssoziologie lautete, „dass räumliche Abschottung Kontakte mit Einheimischen verhindere 191

Area-based-politiken in den europäischen Städten

Die integrationsmaschine Stadt verliert ihre integrationskraft

aus arbeiterquartieren werden arbeitslosenquartiere

Welche rolle spielen Kontexteffekte?

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

zunahme von Segregation, fortschreitend in bestimmten Quartieren

Migranten sind mit traditionellen instrumenten schwer zu erreichen

und damit Integration erschwere“ (Häussermann 2009: 240) . Farwick (2009) wies am Beispiel Bremens nach, dass sich die Nachbarschaft nicht auf die Häufigkeit der interethnischen Kontakte auswirkte . Es stellte sich damit für die Stadtforschung immer dringender die Frage, wie die ethnischen und sozialen Effekte einer räumlichen Konzentration überhaupt voneinander unterschieden werden könnten . Denn die Benachteiligung durch den Wohnort wirkte sich nicht auf alle Bewohner benachteiligter Gebiete gleichermaßen aus, sondern vor allem auf die „Unterschicht“, die nur kleinräumige Aktionsräume besaß . Dem Staat standen in der Stadtentwicklung die stadtpolitischen Instrumente der Städtebauförderung und der Stadterneuerung zur Verfügung . Die soziale Entwicklung der Städte kam darin höchstens am Rande vor . Eine ganzheitliche, stadtteilbezogene Politik fehlte, daher wurden die neuen Stadtpolitiken gemeinsam von verschiedenen Planungsebenen (Bund, Länder, ARGEBAU und Forschungszentren) entwickelt . Die Politik zielte auf eine Kompensation der Marginalisierung, auf den Aufbau neuer Unterstützungsangebote wie beispielsweise das Quartiersmanagement (Berlin) oder Wohnen in Nachbarschaften (Bremen) . Die stadtpolitischen Maßnahmen konzentrierten sich auf die sozialen Brennpunkte, später „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“, manchmal auch „überforderte Nachbarschaften“ genannt, im Rahmen des Programms Soziale Stadt seit 1999 . In der Regel lebte in diesen Stadtteilen ein hoher Anteil an migrantischer Bewohnerschaft . Die neue soziale Frage vermischte sich immer deutlicher mit der ethnischen Frage . Bis heute verwenden Stadtforscher mangels anderer Daten den Anteil der nichtdeutschen Bevölkerung als kleinräumigen Armutsindikator, denn die Stadtteile mit einer in der Regel älteren und sozial etablierten einheimischen Bevölkerung haben fast immer niedrige Ausländeranteile . Die soziale und demographische Segregation in den Städten Nordrhein-Westfalens hat in den letzten drei Jahrzehnten stetig zugenommen und gilt als Indikator für das sozialräumliche Gefüge insgesamt (Stadt Essen 2013: 19 f .) . Das Wohnquartier bot den gesellschaftlich marginalisierten Gruppen im besten Fall soziale Ressourcen wie lokale familiäre Bindungen und stabile Nachbarschaftsbeziehungen . Die Sozialreformen achteten nun auf die Einbeziehung von institutionellen Ressourcen in Form staatlicher und privater Einrichtungen (vgl . Vogel 2003: 203, Schnur 2013) . Die Sozialpolitik setzte bei den quartiersbezogenen Ansätzen dementsprechend auf empowerment und auf Partizipation der Anwohner, auf Bewohnerbeteiligung . Ein Anspruch, der sich in der Realität nur schwer umsetzen ließ . Migrantische Gruppen waren von den Stadtentwicklern in den meisten Fällen nur schwer, oft gar nicht, zu erreichen (Selle 2013) .

192

6.2 MultiKulturaliSMuS unD DiVerSit y

6.2 Multikulturalismus und Diversity Der in 2000er Jahren populär gewordene Begriff der Diversity bedeutet zunächst einfach nur Vielfalt und bezieht sich auf ganz unterschiedliche Aspekte der Bevölkerungszusammensetzung . Nur zum Teil wurzelt er in der Multikulturalismusdebatte . Anders als in den Niederlanden oder in Großbritannien gab es in Deutschland keine multikulturellen Politiken .Auch das weltweite Beispiel Kanadas mit seinem Motto „Diversity our strength“ und dem in der Verfassung festgeschriebenen Recht auf Andersartigkeit bot keinen Orientierungspunkt für die bundesrepublikanische Migrationspolitik . Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich im Jahr 2010 kritisch über „Multikulti“ . „Multikulti ist gescheitert“ sagte sie und bezog sich damit auf die Parolen des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer („Multikulti ist tot“) . Im gleichen Jahr hatte Thilo Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ die Befürworter des Multikulturalismus als Träumer und Verleugner von in Deutschland angeblich existierenden Parallelgesellschaften attackiert . Ein gewisses Maß an Assimilation sei Bedingung erfolgreicher Integration, heißt es dort (Sarrazin 2010: 310 ff .), und „wer in Deutschland einwandert, ist versorgt – unabhängig von seiner eigenen Kraft und Leistungsbereitschaft“ (Sarrazin 2010: 321) . Der deutsche Sozialstaat zöge durch seine „üppigen“ Sozialtransfers eine „negative Auslese von Zuwanderern“ an (Sarrazin 2010: 323), es fehle an „Integrationsdruck“ . Damit zielte Sarrazin in populistischer Manier auf verschiedene, dem Multikulturalismus tatsächlich innewohnende Paradoxa und ignorierte gleichzeitig die langjährige ernsthafte Auseinandersetzung mit Problematiken von Inklusion und Exklusion . Die Anwendung von Multikulturalismus-Politiken wurde in den westlichen Einwanderungsländern von Anfang an kontrovers diskutiert . Die zentrale Kritik zielte auf die Unvereinbarkeit von multikulturellen Politiken mit liberal-demokratischen Prinzipien . Tatsächlich werden bei den Multikulturalismuspolitiken Gruppenrechte über Individualrechte gestellt . Allein die Annahme, dass man Menschen aufgrund von Herkunft und Ethnizität anders als die Mehrheitsgesellschaft behandeln sollte, widerspricht dem Gleichheitsanspruch westlicher Demokratien (vgl . Banting und Kymlicka 2006) . Die Befürworter des Multikulturalismus sind dagegen der Ansicht, dass gerade durch eine solche vorsätzliche Ungleichbehandlung bestehende Ungleichheiten bzw . Nachteile überhaupt erst ausgeglichen werden können . Zu dieser bis heute diskutierten, in gewisser Weise philosophischen Grundfrage (die sich ähnlich auch beim Zuschnitt der Frauenförderung stellt) gesellte sich in den frühen 1990er Jahren die Furcht, dass „Multikultipolitiken“ den Sozialstaat gefährdeten . Gegner des Multikulturalismus vermuteten eine Schwächung des Sozialstaats und des sozialen Miteinanders, sogar eine Verlangsamung der Integration . Sie fühlten sich durch die Anschläge des 11 . September in den USA in ihren Annahmen bestätigt: Die 193

integration, assimilation oder Sarrazin?

Gruppenrechte über individualrechte

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

abkapselung als nährboden für radikalisierung?

Separierung und Bereitstellung von gesonderten institutionellen Strukturen für Migranten erleichtere die Radikalisierung fundamentalistischer Migranten . In den von der Mehrheitsgesellschaft abgekapselten Gemeinschaften gediehen – so ihr Argument – terroristische Absichten besonders gut . In ihrem Kern thematisiert die Debatte um den Multikulturalismus Verteilungsgerechtigkeit und Ressourcenausstattung . Kaum überraschend, dass sie zeitlich parallel zu den Sozialreformen in den Einwanderungsländern verlief . Banting et al . (2006: 49 f .) . unterscheiden zwei miteinander verbundene Axiome in der Multikulturalitätsdebatte: erstens die Heterogenity/ redistribution-trade-off-Hypothese. Sie besagt, dass es umso schwieriger wird, einen soliden Sozialstaat aufzubauen oder zu halten, je größer der Anteil der Minderheiten in einem Land ist . Die Anerkennung und die Einpassung von ethnischen Gruppen erzeuge Dynamiken, die den Sozialstaat gefährdeten . Zweitens identifizieren sie die Recognition/redistribution-trade-off-Hypothese . Sie besagt, dass es umso schwieriger wird, diese Multikulturalitätspolitiken gegenüber der allgemeinen Verteilungspolitik zu rechtfertigen, je mehr es davon gebe .

Gefährden multikulturelle politiken den Wohlfahrtsstaat?

Es gibt bis heute keine allgemeingültige Definition von multikulturellen Politiken, doch es gibt multikulturelle Politiken in Form von öffentlicher Anerkennung oder beispielsweise durch die Unterstützung und die Ansiedlung von Institutionen .

Die europäischen Länder mit den umfangreichsten „Multikulti-Politiken“ waren die Niederlande und Belgien . Exkurs: Multikulti im Praxistest – Experimentierfeld Niederlande Jahrelang galten die Niederlande als Paradebeispiel für einen praktizierten Multikulturalismus – ein Land mit einem hohen Anteil an Minderheitenbevölkerung aus den ehemaligen Kolonialländern und im Rahmen des Gastarbeitersystems angeworbenen Migranten . In den 1950er Jahren ermunterte die Regierung durch Sozialpolitiken eine große Zahl so genannter repatriates aus Indonesien oder Surinam ausdrücklich, sich in die niederländische Gesellschaft zu integrieren . In den 1960er und 1970er Jahren trugen die Sozialpolitiken dann gezielt zur Versorgung der ankommenden Immigranten bei . Die angeworbenen Gastarbeiter stammten aus dem Mittelmeerraum (Marokko und der Türkei) . In der transitären Logik eines „Gastaufenthaltes“ machten beide Seiten keine weiterreichenden 194

6.2 MultiKulturaliSMuS unD DiVerSit y

ermunterung zum erhalt der identität

Integrationsanstrengungen . Im Gegenteil: Der Staat hielt die Migranten an, sich die eigene kulturelle Identität zu erhalten . Dazu unterstützte er den muttersprachlichen Unterricht für Migrantenkinder in den Grundschulen und förderte den Aufbau eigener Verbände und Beratungsstellen für die Minderheiten . Mit dieser sozialpolitischen Vorgehensweise fügten sich die Neuankömmlinge in die bereits seit langem bestehende niederländische Tradition der „Versäulung“ ein, dem Prinzip einer Sozialisierung der Kinder über konfessionelle (katholische, protestantische, jüdische) oder politisch orientierte Institutionen (z .B . liberal, humanistisch), die vom Staat finanziert wurden (vgl . Entzinger 2005: 180 f .) . Die Jugendrevolten in den 1960er Jahren mit ihrer Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter, nach freier (Homo-) Sexualität, Meinungsfreiheit und breiten demokratischen Rechten, veränderten das gesellschaftliche Klima in den Niederlanden grundsätzlich . Das kollektive Erschrecken über die systematische Kooperation der niederländischen Behörden mit den Nazis und die in Folge europaweit niedrigste Rate an überlebenden Juden beflügelte die Herausbildung einer kritischen Linken, die sich für einen toleranten Umgang mit Minderheiten aussprachen (Lucassen und Lucassen 2015) . In den 1980er Jahren zeichnete sich ab, dass die meisten Migranten nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden . Die niederländische Regierung sprach von den Migranten als „ethnische Minderheiten“, bezeichnete den Prozess selbst als ethnicization oder aber minorization, nicht aber als Multikulturalismus . Um 1983 erreichte die Einkommensumverteilung in den Niederlanden ihren Scheitelpunkt, die Schere zwischen arm und reich öffnete sich weiter, überdurchschnittlich oft landeten die Migranten im sozialen Netz . Doch die Niederlande reagierten nicht mit Rückkehrprogrammen . Auch eine Assimilationspolitik wie in den USA, wo sich statt eines Melting Pots eine salad-bowl-Gesellschaft (= alle migrantischen Gruppen leben durcheinander gewürfelt nebeneinander, aber nicht miteinander) entwickelt hatte, konnte – so der gesellschaftliche Konsens – nicht das Ziel der libertären Niederlande sein . Die Niederlande hielten an ihrem Konsens fest, doch erst in den 1990er Jahren wurden über eine stärkere Arbeitsmarktintegration der Migranten wirkliche, nachhaltige Integrationserfolge erzielt . In der Bevölkerung gärte es längst unter der Oberfläche: Die Unzufriedenheit mit der linken politischen Elite, die die im Stadtraum vorhandene Problematiken wie etwa die black schools (Schulen mit einer Mehrzahl von migrantischen Kindern) schönredete, bahnte sich schließlich mit Wucht ihren Weg . Politiker wie Pim Fortuyn

Versäulung bringt Separierung

Konsens mit unterströmungen

195

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

mobilisierten den Unmut, indem sie öffentlich vor einer Islamisierung der niederländischen Kultur warnten . Einige Wochen vor der Wahl wurde der homosexuelle Politiker, als er gerade ein Fernsehstudio in Hilversum verließ, am 6 . Mai 2002 von einem Tierschutzaktivisten erschossen . Seine Partei, die Leefbar Amsterdam, zog auch nach seinem Tod mit 35 % ins Parlament ein . Durch den Anschlag auf das World Trade Center in New York City lebte die Anti-Immigrations-Stimmung weiter auf . Immer deutlicher stellte sich die Frage, inwieweit westliche Werte eigentlich mit dem Islam kompatibel waren . Zwei Jahre später, 2004, wurde der Regisseur Theo van Gogh von einem niederländisch-marokkanischen Islamisten auf offener Straße brutal erstochen . Er hatte mit der somalisch-niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali ein Video gedreht, in dem frauenfeindliche Suren auf den nackten Körper einer verschleierten Frau projiziert worden waren (Filmtitel: Submission I) . Das polarisierende und islamfeindliche Klima führte in den Niederlanden zu einer Erhöhung der Integrationshürden: Der Zugang zur Staatsangehörigkeit wurde erschwert und die obligatorischen Integrationskurse für Neuankömmlinge waren nun von diesen selbst zu bezahlen (Entzinger 2005: 199 f .) . Heute haben die Niederlande eine der restriktivsten Migrationspolitiken europaweit . Im Januar 2015 wiederholte sich in potenzierter Form die Tragödie der Niederlande in einem anderen Teil Europas: Terroristen mit muslimischem Glaubenshintergrund stürmten die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris und töteten, „Allah akbar“ skandierend, zwölf Menschen .

ist der islam mit westlichen Werten kompatibel?

Gewalt gegen öffentliche personen

angriff auf die Meinungsfreiheit

und in Deutschland?

Deutschland verstand sich nicht als einwanderungsland

In Deutschland existierte der Multikulturalismus nie als politisches Programm . In der Periode der SPD-FDP-Regierungen (von 1969 bis 1982) waren nur einige wenige Außenseiter willens, Deutschland als Einwanderungsland aufzufassen, und in den Regierungsjahren unter dem konservativen Kanzler Helmut Kohl (1982 bis 1998) fand kaum eine aktive Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft statt . Im Gegenteil: In der Koalitionsvereinbarung von 1982 hieß es, „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – was das politische Credo für viele Jahre bleiben sollte . Ziel war die Stärkung der nationalen Identität, einer Leitkultur . Ungefähr in den 1970er Jahren begannen Akademiker und Lehrer in der Praxis damit, Konzepte der „interkulturellen Pädagogik“ zu diskutieren, 1975 organisierte die Kirche erstmals den „Tag des ausländischen Mitbürgers“, der bis heute in vielen Gemeinden als „interkulturelle Woche“ fortlebt . 1980 wurde ein programmatisches Dokument vorgelegt, das Deutschland als „multikulturelle Gesellschaft“ betitelte (vgl . Kraus und Schönwälder 2006: 203 ff .) . Ein Jahr zuvor forderte das Memorandum 196

6.2 MultiKulturaliSMuS unD DiVerSit y

des Ausländerbeauftragten Kühn (1979) stärkere Integrationsbemühungen und die Aufhebung des getrennten Unterrichts in den sogenannten Ausländerklassen . 1989 sorgte die Eröffnung des ersten „Amtes für multikulturelle Angelegenheiten“ in Frankfurt für Diskussionen, da hier auf lokaler Ebene auch Anti-Diskriminierungspolitiken eingeführt wurden . In den 1990er Jahren bleibt Deutschland weiter bei seinem politischen Credo, kein Einwanderungsland zu sein . Es agiert im Bereich der Integrationspolitik überwiegend pragmatisch, d .h . ohne eine zentrale Steuerung und mit einer Vielzahl von Aktionen der unterschiedlichen Sozialträger in Deutschland wie der Caritas oder der Gewerkschaften . Im Jahre 2000 wurde die Süssmuth-Kommission eingesetzt, die mit dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ Empfehlungen für eine zukünftige Zuwanderungs- und Integrationspolitik entwarf . Ab den 2000er Jahren gab es erstmals ein Zuwanderungsgesetz und zunehmend Bemühungen, auch lokale Migrantenvertretungen zu etablieren .

Es sollte jedoch noch sieben Jahre dauern, bis durch einen „Aktionsplan Integration“, der Anleihen bei typisch multikulturellen Konzepten machte, ein Schritt in Richtung Diversitätsdebatte getan wurde, 2007 wurde der nationale Integrationsplan vorgestellt . Der Fokus der Debatte verschob sich dann ab den 2010er Jahren schnell:Während die akademische Diskussion den Integrationsbegriff zunehmend ablehnt und immer häufiger von Partizipation oder Inklusion spricht, schwankt die Mehrheit der Bundesbevölkerung zwischen einer gewissen Gelassenheit und jedoch wachsendem Bedrohungsgefühl (Allens­ bach 2014) . Die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden und vergleichbare Anti-Islam-Kundgebungen in Leipzig, Bonn, Berlin und die manchmal stärker besuchten Gegendemonstrationen im Winter 2014/2015 zeigen, wie stark das Thema Migration bzw . die Wahrnehmung dieses Themas die Republik bewegt . Auch die Repräsentation von Migration ist Teil räumlicher Definitionsmacht: Lange blieben die Lebenswelten der Migranten durch die Medien, Schule und bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern ausgespart und damit unsichtbar bzw . nur in einer defizitorientierten Perspektive wahrnehmbar . Wie eng die städtische Entwicklung an Migrationsprozesse geknüpft ist, zeigt sich auch im Umgang mit der Flüchtlingsproblematik, die seit 2012 in den bundesdeutschen Städten zu Tage tritt . Im Stadtteil Kreuzberg in Berlin, am Oranienplatz, endete ein Protestmarsch von mehreren hundert Flüchtlingen 2012, die sich für eine Aufhebung der Residenzpflicht einsetzten . Sie lenkten durch ihren Protest die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes und angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen wichtiges gesamtgesellschaftliches Thema, das die Städte bewältigen müssen (siehe Foto 7) . 197

aktionsplan integration

peGiDa und Gegendemonstrationen

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

foto 7: flüchtlingscamp am oranienplatz, Berlin, hillmann 2013

Von „integration“ zu „Diversity“, „hyperdiversity“ in den Städten

Diversity vs. leitkultur

Seit den 2010er Jahren übernimmt Deutschland immer stärker Ansätze der Diversity. Die Migrationsbevölkerung in den Städten hat sich ausdifferenziert, eine Vielzahl von Akteuren in der Stadtentwicklungspolitik stellt die starren Vorstellungen einer mehrheitlichen „Leitkultur“ in Deutschland in Frage . In einer postindustriellen Gesellschaft mit zunehmend individualisierten Risiken kann ein Migrationshintergrund vielleicht sogar zu einer Ressource werden . Genau diese Aufwertung von im Grunde benachteiligenden Eigenschaften in einem anderen Umfeld beschreibt die Herangehensweise von Diversitätspolitiken . Exkurs: Diversity Anfangs war die Diversity-Debatte Teil von Personalentwicklungsstrategien nordamerikanischer Unternehmen . Die Personalentwickler werteten die uneinheitliche Zusammensetzung ihrer Belegschaften zu einer Ressource um . Diversität bezog sich auf verschiedene Dimensionen der Persönlichkeit . Unterschieden werden „innere Dimensionen“ (Alter, Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, physische Fähigkeiten, ethnische Zugehörigkeit) von „äußeren Dimensionen“ der Person (geographische Lage, Einkommen, Gewohnheiten, Freizeitverhalten, Religion, Ausbildung, Berufser198

6.2 MultiKulturaliSMuS unD DiVerSit y

fahrung, Auftreten, sozialer Stand) oder aber die Zugehörigkeit und der Status in Organisationen (Funktion/Einstufung, Arbeitsinhalte und -felder, Abteilung oder Klasse, Dauer der Zugehörigkeit, Arbeitsort, gewerkschaftliche Zuordnung) . Angenommen wurde, dass nur dann, wenn sich alle Arbeitskräfte als Teil eines gemeinsamen Teams sahen, auch die Produktivität des Unternehmens stieg . Dieser mentale Umbruch in der betrieblichen Organisation hing maßgeblich mit den seit den 1990er Jahren erfolgenden Veränderungen in der Arbeitswelt zusammen . Die tayloristische Arbeitsproduktion mit ihren festgelegten Abläufen stellte sich als zu unflexibel für die Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft heraus . Japan stellte als eines der ersten Länder auf projektförmiges Arbeiten um . Für einzelne Aufgaben wurden immer wieder neue Teams aufgebaut . Sie lösten sich nach der Erreichung von Zielvorgaben auf . Dies bedeutete auch, dass individuelle Hierarchien, die bis dahin wesentlich auf Position und Betriebszugehörigkeit fußten, jedes Mal wieder in Frage gestellt und neu ausgehandelt werden mussten (vgl. Boltanski und Chiapello 2006) . Diversity-Strategien waren ein Instrument zur Konfliktminimierung, ein Schmiermittel der Flexibilisierung und Ausdruck der Neoliberalisierung . Inspiriert wurden die Diversity-Politiken der Unternehmen durch die Erfahrungen mit den in den 1960er Jahren etablierten Affirmative Action-Programmen . Sie erlaubten eine positive Diskriminierung von Personen, die nicht zur dominanten Mehrheitsgruppe gehörten und bahnten so den Weg zu besseren Chancen bei Bildung und Arbeit – eine wichtige Forderung der Schwarzen-Bewegung in den USA der 1960er Jahre . Mit der Veröffentlichung des Workforce 2000 Reports in den 1990er Jahren verschob sich der Schwerpunkt weg von der gleichstellungspolitischen Motivation hin zu einem erhöhten wirtschaftlichen Nutzen . Jetzt lautete das Motto „affirming diversity“ statt „affirmative action“ . Das Konzept der Diversity wurde in die Verwaltungen, in die Bildungsarbeit und soziale Arbeit übertragen . Ziel bildete die bessere Einbindung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen . Die in den USA in den 1990er Jahren ironisch als PPPP (pale patriarchical penis people) bezeichnete Personalkonstellation in den Entscheidungspositionen fand sich auch in Deutschland . Gleichzeitig verschwamm immer mehr, in welches „Vorhandene“ eigentlich integriert werden sollte . Diversity verweist auf das „Zusammenleben in einer geteilten Zukunft“ (Terkessidis 2010: 204) . Diese Formulierung trifft exakt den Kern der gesamten laufenden Debatte: Gehört man einer Gesellschaft dadurch an, dass man eben immer schon zugehörig war oder gibt es aushandelbare Kriterien? Hier setzen die Diversity-Konzepte an . Sie unterstellen, dass die neuen Zugehörigkeiten verhan199

Was ist die Grundlage von partizipation, wer darf mitmachen?

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

delbar seien und damit auf Leistungskriterien basieren sollten, um in einer pluralen Gesellschaft zu funktionieren . Die aktuelle Diskussion um urban citizenship knüpft an diesen Diversitätsgedanken an, ebenso die Konzeptualisierung von post-migrantischen Identitäten . Für die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund stellt diese Herangehensweise eine Bedrohung dar, weil sie um den Verlust von bislang automatisch vorhandenen Privilegien fürchten muss . 6.3 Veränderte realitäten in den Städten, neue platzanweisungen

Weniger Klassen und Schichten, eher Milieus

Seit den 2010er Jahren hat sich die Debatte um Migration und städtische Entwicklung stark verändert – was mit der veränderten Bevölkerungszusammensetzung in den Städten zusammenhängt, mit internationalen Einflüssen und mit neuen Einwanderungsbewegungen . Die aktuellen Statistiken dokumentieren, dass die Erwerbslosenquoten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund heute im Schnitt mit Werten zwischen 5,7 % (Bayern) und 20,2 % (Berlin) deutlich höher liegen als bei der einheimischen Bevölkerung (Bundeszentrale für Arbeit 2013), dass die Bildungsabschlüsse sich anders zusammensetzen und dass Menschen mit Migrationshintergrund über weniger Haushaltseinkommen verfügen, auch häufiger arm sind (vgl . Schaubild 2) . Diese durchschnittlichen Statistiken können teilweise noch auf regionale Kontexte herunter gebrochen werden . Sie versagen dann, wenn es darum geht, die regionalen und lokalen Lebenswelten der Menschen zu erfassen – etwa auch die veränderten Einstellungen und Lebensstile einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft . 2008 wurden vom privaten Forschungsinstitut SINUS Untersuchungen vorgelegt, die von verschiedenen großen Stiftungen wie auch Ministerien finanziert worden waren . Sie sorgten deshalb für großes Aufsehen, weil hier erstmals qualitative, ethnographische Studien mit dem Ziel der Quantifizierung durchgeführt worden waren . Erfasst wurden Lebensstil, soziale Lage als auch die Werteinstellung der migrantischen Bevölkerung . Schon die Bezeichnung „soziale Lage“ illustriert, dass es in diesen Studien nicht darum ging, Klassen oder Schichten zu isolieren, sondern um die Abbildung der Vielfalt in der Gesellschaft, um Milieus . Ein wichtiges Ergebnis der Studie bestand darin, dass Menschen des gleichen „Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund mehr miteinander verbindet als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus“ (Sinus­Studie 2008: 2) . Auch die den Zuwanderern so oft zugeschriebene starke Religiosität spielt gemäß den Ergebnissen der Studie nur eine moderate Rolle: 85 % der befragten Migranten meinten, dass Religion Privatsache sei . Diskriminierungserfahrungen waren bei den Zuwanderern selten und die Bemühungen um den eigenen Aufstieg über Bildung groß . Teilweise, so die Studie, seien die 200

6.3 VeränDerte realitäten in Den StäDten, neue platzanWeiSunGen

Zuwanderer leistungsbereiter als die einheimische Bevölkerung . In einer Matrixdarstellung werden soziale Lage (niedrig, mittel, hoch) und Wertorientierung (Tradition, Moderne, Neu-Identifikation) in Beziehung gesetzt . Die so konstruierten acht querliegenden verschiedenen Milieus überlappen sich und reichen vom „religiös verwurzelten Milieu“ bis zum „multikulturellen Performermilieu“ . Die in der Sinus­Studie insgesamt relativ positiv dargestellte gesellschaftliche Stellung der migrantischen Bevölkerung wird von jüngsten Studien zur Diskriminierung nicht unterstützt . Eine Diskriminierung ist häufig schon durch den Namen einer Person gegeben . Auch bei vergleichbaren Qualifikationen und Fähigkeiten und deutscher Staatsangehörigkeit erhielten Bewerber mit einem türkischen Namen 14 % weniger positive Antworten als Bewerber mit einem deutschen Namen, vor allem bei kleineren Unternehmen (Kaas und Manger 2010) . Erst wenn positive Gutachten vorheriger Arbeitgeber beigelegt wurden, änderte sich die Einschätzung der Unternehmen .

religiosität weniger wichtig

Weiterhin Diskriminierung

In den Städten besteht die Realität der strukturellen Benachteiligung der migrantischen Bevölkerung am Arbeitsmarkt und im Bildungssektor fort . Es kommt zu einer Ausdifferenzierung in unterschiedlichste Milieus .

Auch der Stadtraum veränderte sich, er wurde zur Bühne für das „Migrantische“ in den Städten . Er repräsentiert heute die internationalen Einflüsse, beispielsweise in Form von Shisha-Cafés als Ausdruck einer von den Migranten installierten Populärkultur, als Teil der räumlichen bricolage der eigenen Identität (Pagés El­Karoui 2010: 58) . Verschiedene alternative Projekte wie die „Werkstatt der Kulturen der Welt“ in Berlin-Neukölln banden Migranten bewusst als städtische Akteure ein . Inzwischen professionalisierte und kommerzialisierte Veranstaltungen wie der Karneval der Kulturen, 48-Stunden Neukölln und der Samba-Karneval in Bremen gingen aus dieser alternativen Struktur hervor . Die seit einigen Jahren angeheizte Debatte um die Rolle der Kreativität hat einen zusätzlichen Bedeutungszuwachs des städtischen Raums mit sich gebracht – vor allem auch der migrantischen Kultur (Habermann­Niesse et al ., 2009: 20 f ., Kolland 2012) . Internationale Beispiele wie Chinatown in Amsterdam und Banglatown, Brick Lane, in London zeigen, wie Stadtteile eine Kommerzialisierung und Kommodifizierung von migrantischem Unternehmertum durchleben können . Die ethnisch geprägten Straßenzüge und Viertel werden sogar zu Motoren der Stadtentwicklung und der Freizeitindustrie, denn mit ihrem Reiz des Exotischen locken sie Tausende von Touristen an . Was vor einigen Jahren noch als Teil von Superdiversität aufgefasst wurde (vgl . Vertovec 2006), 201

Die Stadt als Bühne

6. Die MetaeBene: StaDt unD MiGration, aK tuelle fraGen

neue Deutsche, postmigranten

Migranten werden plätze und mögliche identitäten zugewiesen

Über die anrufung erfolgt die platzvergabe

entwickelte eine starke Eigendynamik, die solche Stadtteile zu Konsumorten verwandelt (vgl . für London Shaw und Bagwell 2012), Hyperdiversität nach sich zieht (Vertovec 2015) . Risiken und Nebenwirkungen sind unübersehbar: Ethnische Stereotype werden reifiziert, die kulturelle Diversität durch eine gewisse Vorhersehbarkeit gezähmt und Multikulturalität auf eine reine Konsumfunktion zusammengeschnurrt (vgl . für Amsterdam Aytar und Rath 2012) . Auf einer theoretischen Ebene wird die Entwicklung einer Gesellschaft, der die Vorstellung einer Integration einer Minderheit in eine Mehrheitsgesellschaft zunehmend abhanden gekommen ist und die die Vision einer offenen Gesellschaft hat, als postmigrantisch diskutiert . Wie kann ein transkulturelles und translokales Verständnis von Partizipation erreicht werden, wie können Lern- und Überlebensstrategien und lokale Alltagspraxen in einer globalen Welt aussehen (Bukow et al. 2011)? Was bei Bhabha noch als „hybride Strukturen und Kulturen“ firmierte, stellt die Grundlage der neuen postmigrantischen Identitäten, die die „neuen Deutschen“ hervorgebracht haben, dar (Foroutan et al . 2012) . Auch in der Sozialgeographie griffen die Wissenschaftler auf neue Zugänge zurück, um die neuen städtischen Realitäten in Worte zu fassen: Sie beschäftigen sich mit den Mechanismen der Platzzuweisungen, die die Gesellschaft für die Migranten bereithält . Diese Sichtweise impliziert eine Abkehr von einer Integrationsperspektive . Im Werk von Homi Bhabha tritt das Unheimliche im eigenen Heim, im eigenen Selbst und in der eigenen Kultur als Teil der Ausgrenzung auf; auch im Werk von Stuart Hall geht es um die Spannung von Konstruktion und Dekonstruktion des Fremden in der Gesellschaft (Wilden 2013) . In der Sozialgeographie richten Di­ dero und Pfaffenbach (2014) den Fokus ihrer Untersuchungen auf den Zusammenhang zwischen Sprachkenntnissen und sozialer Positionierung, Didero fragt sich, wie „Subjektpositionen eingenommen und wieder verlassen werden“, „wie Identitäten her- und dargestellt“ werden und welche Rolle die Medien bei der Repräsentation des deutschen Islambildes spielen . (Didero 2014: 67 ff .) Sie knüpft hier an die Arbeit von Meyer (2007) an, in der es darum geht, „die räumlichen Dimensionen des sozialen Lebens in ihrer Vielfalt“ zu thematisieren (Didero 2014: 20) . Bezugnehmend auf Bourdieu geht Didero nicht davon aus, dass das Individuum frei in seinen Entscheidungen ist, sondern es geht ihr um das Verhältnis von Subjekt, Diskurs und Handlungsmacht . Es geht um die „Anrufung“ der Migranten durch die Mehrheitsgesellschaft, um den Habitus, um deren Positionierungen in der sozialen Welt, wie sie durch den Aufnahmekontext geschieht . Am Beispiel der marokkanischen Migranten interessiert sich Didero für die Rückwirkungen des deutschen Islambildes auf die gruppen- und raumbezogenen Zugehörigkeitsgefühle, unter anderem für Diskriminierungserfahrungen .Teilweise ruft erst die Diskriminierung als Muslim/a „eine vertiefte Hinwendung zur Religion“ oder ein stärkeres Misstrauen gegenüber der 202

6.3 VeränDerte realitäten in Den StäDten, neue platzanWeiSunGen

Mehrheitsbevölkerung ins Leben (Didero 2014: 372) . Ähnlich argumentiert Bachmann (2014), die sich mit den Praktiken der „Anrufung“ von Migrantinnen auf Arbeitsmarktpositionen beschäftigt . Sie belegt, wie soziale Positionierung von Migrantinnen über deren Einstufung in Integrationskurse reproduziert werden . Die Migrantinnen werden, ungeachtet ihrer Potentiale, festgelegt, „sie haben keine Chance“ . Bei einigen sozialgeographischen Autoren hat sich der Blickwinkel geändert: Nicht der Migrant an sich, sondern vielmehr die Diskurse und Images, die ihnen anhaften und die über sie „erfunden“ werden, stehen im Mittelpunkt . Diskurse und Alltagspraxen weisen den Migranten den Platz in der Gesellschaft erst zu und kennzeichnen andere Plätze als „bereits besetzt“ oder unzugänglich .

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227

Anhang

> 25% bis 50% > 50% bis 100%

> -25% bis -10% > -10% bis

Schaubild 1: Die Veränderung der anzahl der Migranten

> 10% bis 25%

0%

> 0% bis 10%

< -50% > -50% bis -25%

> 500%

> 250% bis 500%

> 100% bis 250%

Veränderung der Anzahl der Migranten je Nation in Prozent (1990-2013)

Quelle: United Nations 2013 Layout: F. Hillmann, R.Spohner, J. Peters Kartographie: R. Spohner

anhanG

231

anhanG

1,6% 0,5% 13,6%

Allgemeiner Schulabschluss

32,7%

Hauptschule Abschluss polytechn. Oberschule (DDR) Realschulabschluss (o. gleichwertig)

10,2% 0,5% 26,0%

24,4%

Fachhochschulreife Abitur

0,5%

18,1% 7,4%

6,1% 20,1%

16,1% 4,5%

17,8%

0,7%

12,3%

noch in Ausbildung/noch nicht schulreif Ohne Schulabschluß Keine Angaben

Beruflicher Abschluss

44,2%

Lehre/Berufsausbildung im dualen System

18,1%

Berufsfachschule Meister/Techniker/Fachschulabschluss 26,3%

24,1% 1,9% 3,0% 2,8% 7,5% 1,3%

2,2% 18,1%

2,2%

6,1% 3,0% 0,7% 0,8% 22,7%

32,5%

7,6%

Fachhochschulabschluss

0,6%

1,4%

Universitätsabschluss/Promotion Sonstiger Abschluß* noch in schulischer/berufsqualifizierender Ausbildung, berufliches Praktikum..... ohne Abschluß Keine Angaben

Überwiegender Lebensunterhalt 45,1%

Eigene Erwerbs-/Berufstätigkeit Arbeitslosengeld I 1,7% 7,6% 0,4%

Renten, Pension

1,9% 39,1%

Unterstützung durch Angehörige Eigenes Vermögen, Vermietung, Zinsen... Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt Leistungen nach Hartz IV

0,8%

25,4%

37,6%

1,1% 10,6%

Sonstiges (z.B. BAföG, Elterngeld)

Beteiligung am Erwerbsleben

47,5%

50,1%

Erwerbstätige Erwerbslose Nichterwerbspersonen 51,1% 44,5%

2,4%

ohne Migrationshintergrund (65,571 Mio.)

* Anlernausbildung, Vorbereitungsdienst 4,4% für den mittleren Dienst, Berufsakademie mit Migrationshintergrund Quelle: Statistisches Bundesamt 2013 im engeren Sinne (16,343 Mio.) Grafik: R. Spohner

Schaubild 2: Sozialstrukturelle unterschiede der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland 232

anhanG

NORD

ZENTRUM

NORD-WEST

OST

SÜD

0

Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung (2011) 0,0 - 2,5 % >2,5 - 5,0 % >5,0 - 7,5 % >7,5 -10,0 % >10,0 % Keine Daten

SÜD

Subsysteme

500

1000km

Anteil Drittstaatler an allen Ausländern (2011)

Länder außerhalb des europäischen Migrationssystemes kein EU-Mitglied Gastarbeiteranwerbeabkommen Ausgangsländer der Gastarbeitermigration

Anteil EU-25 Ausländer an allen Ausländern (2011) Ausländeranteil am Arbeitsmarkt (2012)

Keine Daten Lettland: hoher Anteil russischstämmiger Bevölkerung Luxemburg: Standort europäischer Institutionen (>50% EU-Bürger) Quelle: Eurostat 2011, 2012 Kartographie: R. Spohner

Layout: F. Hillmann, J. Taube

Schaubild 3: europäische Systeme – sozialstrukturelle unterschiede 233

Schaubild 4: rücküberweisungen weltweit

anhanG

234

anhanG

Jährliche Geldüberweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer 2012 (in Mio. USD) inflow

outflow

keine Daten

> 40000 > 20000 > 10000 > 5000 > 1000 > 500 > 100 > 50 > 5 > 0

bis bis bis bis bis bis bis bis bis bis

68820 40000 20000 10000 5000 1000 500 100 50 5

Quelle: Worldbank 2014 Layout: F. Hillmann, R.Spohner Kartographie: R. Spohner

Schaubild 5: rücküberweisungen in europa

235

Register (Spät-)Aussiedler 121 ff . 11 . September 146, 151, 193 Abschottung 40, 81, 154, 156, 172, 191 Abstammungsprinzip 52 Agentur für Arbeit 117 Agrargesellschaft 105, 110 Alltagskultur/-praxen 11, 83, 107, 202 f . Anthropogeographie 10, 45 f ., 51 Anwerbeabkommen/-politiken 99, 117 f ., 140, 233 Anwerbestopp 11, 119 f ., 127 ff ., 188 Arbeitgeber- 105, 112, 118, 132, 134, 136, 164 f ., 167, 201 Arbeitslosen- 55, 117, 135, 191, 232 Arbeitsmarkt- 10 f ., 17, 31, 84 ff ., 88 ff ., 113, 116 ff ., 123, 131, 133 ff ., 157 f ., 164 ff ., 188, 191, 195, 201, 203 Arbeitsteilung 64, 157, 159, 163 ff . Armut 44, 159, 192 Ärzte 98, 134, 168 f . Assimilation 10, 32 ff ., 50, 61 ff ., 70, 86 f ., 103, 193, 195 Asylanträge 123 f ., 129, 147, 153 Asylbewerber 18, 26, 123 f ., 147 Asylgesetz 123 f . Aufenthaltsgenehmigung 21, 134, 139, 164 Auschwitz 67 Ausgrenzung 31, 39, 41 ff ., 60, 68, 90, 95, 187, 202 Ausländer 23, 74, 86, 90, 110 ff ., 115, 119 ff ., 124, 127 f ., 141 ff ., 145, 159, 188 Ausländerpolitik 109 Ausländerzentralregister 25, 113 Australien 45, 50, 161, 183 Auswanderung 10, 18, 45, 50, 57, 61, 87, 101, 104 ff ., 116, 128, 142 f ., 138 f ., 147, 162 f ., 168, 183 Bausektor 136, 163 Berlin 44, 55, 103, 123, 127, 130, 201 Berufsgruppen 52, 94, 96

Beschäftigung- 17, 69, 85 f ., 111 ff ., 116, 118, 131 f ., 136, 158 f ., 162 f ., 165 Beschäftigungstypen 17 Bevölkerungsgeographie 9, 14, 29, 31, 53, 56, 58 ff ., 64 f . Bevölkerungsumverteilung 29, 58 BIBB (Bundesinstitut für Berufsbildung) 26 Bildung 11, 18, 22, 26, 43, 55, 57, 61, 69 f ., 74, 96, 116, 123, 132 f ., 139, 147 f ., 159, 165, 167 f ., 170, 199 ff . Biologie 34, 37 Braindrain 166 ff . Broker 78, 81, 169 Calvinismus 101, 103 Chicago 32 f ., 37, 107 Chicago School 10, 32, 35 ff ., 41 CSER (Centro Studi Emigrazione) 28 cultures of migration 162 Dänemark 50, 101, 135, 139, 143 DDR 9, 93, 116, 124 f ., 127 ff . demographischer Übergang 46, 56 f ., 65, 105, 127, 131 ff . Deutsches Reich 23, 108, 110, 113 f . Deutschland 10 f ., 15 f ., 23 ff ., 50, 58, 64, 67, 69 f ., 75 ff ., 82, 90, 93, 95, 101, 106 f ., 109 ff ., 113 ff ., 127 ff ., 161, 164, 167, 187, 189, 193, 196 ff . Diaspora 10, 76, 79, 81, 95, 169, 184 Dienstleistung 68, 109, 132, 144, 148, 164 ff ., 171, 173 Dienstmädchen 106, 164 Diskriminierung 32, 55, 89, 121, 146, 190, 197, 199 ff . Diskurs 10 f ., 66, 148, 150 f ., 162, 202 f . Dissimilaritätsindex 63 f . Diversität 38, 159, 175, 187, 197 f ., 200, 202 Dreieckshandel 98 Drittstaaten 128, 134, 142, 144 f ., 147 f ., 172 Drogenhandel 149, 172 Duisburg-Marxloh 44 237

reGiSter

Duldung 124, 129 f . Einwandererkolonien 33, 35, 120, 188 Einwanderung 18, 24, 33, 55, 73, 102 ff ., 107, 109, 112, 117, 119 ff ., 125, 128, 132, 135, 137 ff ., 144 f ., 147, 149 f ., 162, 166, 193 ff ., 200 Einwanderungsland Deutschland 16 England 39, 48, 54, 86, 100 f ., 105 Enklaven 35, 82 f ., 89, 187 Entscheidungsautonomie 14 f . Entwicklungsländer 52, 124, 157, 164, 167 ff ., 177 Entwicklungsstand 52, 57, 138, 177 Erntehelfer 142 Ethnien 10, 23, 26, 31, 34 ff ., 55, 63 f ., 69 f ., 86 ff ., 130, 158, 187, 189, 191 ff ., 198, 201 f . ethnisch geprägte Gebiete 35 ethnische Gruppen 10, 34 f ., 43, 63, 77, 88 f ., 91, 194 Ethnizität 37 ff ., 53, 63, 70, 88, 193 Europa 10, 26, 35, 39, 43, 45, 50, 78, 87, 95 ff ., 127 ff ., 163, 170, 172, 179, 190 f ., 196 Europäische Gemeinschaft 143, 145 Europäische Union (EU) 44, 124, 127 ff ., 134 ff ., 153 f ., 156, 172, 187, 191 Exklaven 66, 95 Exkurs 20, 23, 31, 34, 52, 64, 75, 77, 108, 133, 141, 149, 154, 161 f ., 168, 184, 194, 198 Fachkräftedefizit 134 Fallbeispiele 16, 185 Familienzusammenführung/ -nachzug 11, 13, 17, 120 f ., 123, 139, 188 Fernwanderungen 93, 96, 105 Festung Europa 137, 153 Figur 10, 23, 31, 37, 40, 50, 78 Flucht 13, 18, 27, 100, 113, 115, 123, 161, 181 Flüchtlinge 15 f ., 18, 25 ff ., 72, 78, 80, 100 f ., 114 ff ., 119 ff ., 143 ff ., 148 ff ., 161, 167, 174, 181, 187, 197 Flüchtlingsbegriff 18, 181 Flüchtlingslager 13, 161 Forschungseinrichtungen 25 ff ., 192, 200 Freiwilligkeit 14, 17 f ., 100, 181 Fremdarbeiter 23, 60, 88, 114 238

Galizien 110 Gastarbeit 9, 23, 58, 60 ff ., 65, 69, 78, 88, 93, 116 ff ., 139, 141, 188, 194 Genfer Flüchtlingskonvention 18, 20, 27, 123, 146, 161, 181 Geographie 9 ff ., 22, 29, 31, 44 ff ., 69 f ., 80 f ., 83, 91, 97, 99, 140, 144, 198, 202 f . geopolitisch 139, 153 germanische 94 Geschlecht/Gender (Frauen wie Männer) 11, 13, 15, 17 f ., 22, 34, 37, 39 f ., 46, 58, 64 f ., 84, 86 f ., 89, 104, 106 ff ., 111 f ., 114, 116 ff ., 130 ff ., 138, 140 f ., 161, 163 ff ., 173, 182, 195 f ., 198 Gesundheit 38, 47, 64, 69 f ., 98, 132, 134 f ., 159, 169, 174 Ghetto 10, 34, 96, 188, 190 Glaubensgemeinschaft 100 Global Cities 158 f . Globaler Norden 13, 158, 161 Globaler Süden 13, 158, 174, 187 Globalisierung 13, 15, 29, 65, 74, 78 f ., 81 f ., 157 ff ., 164, 167 Grenzveränderungen 47 Großwohnsiedlungen 188 f . Handelsketten 157 Handwerk 52, 94, 101, 104, 106, 110 f ., 133, 169 Haushalte 11, 33, 52, 78 f ., 81, 83, 85, 97, 118, 160, 163 ff ., 169, 178, 185, 189, 200 Helden 22, 163 Herkunft 15, 20, 27, 33 f ., 39, 42, 44, 55, 61 f ., 69, 72 f ., 84 f ., 87, 90, 100, 106, 108, 113, 115, 118, 120 ff ., 124, 129, 131 f ., 134, 141, 143, 147 f ., 158, 163 ff ., 168 ff ., 173, 184, 188, 193, 195 Herkunftskontext 23, 61, 97, 128, 173 Hilfsorganisationen 115, 172, 174, 182 Hochqualifizierte 22, 65, 80, 134 f ., 158, 163, 167 ff . Hugenotten 93, 99 ff ., 109 HWWI (Hamburgisches WeltwirtschaftsInstitut) 26 Identität 33, 42 f ., 50, 66, 70 f ., 77 f ., 81 ff ., 91, 187, 195 f ., 201 f . illegale Migration 21, 147, 149 f ., 154 f .

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Immobilität 9, 11, 13, 156, 158, 161, 185 Industrialisierung 15, 57, 74, 93, 109 ff ., 157, 160, 164, 187 Industriearbeiter 188 Innovation 14, 103, 105 Integration- 26, 28 f ., 33 f ., 44, 60, 62 ff ., 70, 89 f ., 102, 119 f ., 122 f ., 127, 129, 131, 135, 140, 142, 145 f ., 187, 190, 192 f ., 195, 197 f . Investitionen 157, 160 IOM (International Organization for Migration) 27, 148, 161, 169, 181 Irland 50, 106, 135 f ., 138 f . irreguläre Migration 117, 146 ff ., 150 Italien 10, 28, 50, 61, 78, 107,117, 119, 135, 138 f ., 142, 149 f ., 163, 165 Juden 32, 34, 95 f ., 114, 123, 195 Kanada 10, 50, 69,100, 161, 167, 193 kapitalistische Ordnung 71 Kettenwanderungen 21 Klassen 10, 86, 190, 200 Kolonien/Kolonialismus 13, 33, 35, 46, 94, 97 f ., 102, 106, 110, 120, 139 f ., 142, 187, 188 Kommunikation 14, 57, 70, 75 f ., 106, 167, 173 Konflikte 14, 21, 33, 39, 44, 53, 97, 102, 155, 165, 174, 183, 190 Konfliktlinien 14, 174 Korea 89, 118 Körper 44, 50, 71, 74, 196 Kosmopolitismus 41 f . Krieg 49, 75, 99, 102 ff ., 113 ff . Kriminalität 64, 149 Krisengebiete 13, 143 Kritischer Rationalismus 67 Kulturstufen 46, 49 Kurden 76, 124 Lager 13, 44, 71 ff ., 100, 114 ff ., 122, 137, 150, 155 f ., 161 Landarbeiterfrage 111 Länderkunde 13, 48 Landschaftsbeschreibungen 48 Land-Stadt-Wanderer/-ung 57, 105, 159 Landwirtschaft 32, 37, 48, 86, 88, 94, 104, 109 f ., 114, 116 f ., 131, 155, 178 f . Lebenslaufforschung 22

Lebensraum 47 f ., 180 Lebensstile 35, 69, 200 Lokales Wissen 53 long-term 24 long-term migrant 18 Macht 35, 39 f ., 68, 71 f ., 75, 99, 109, 113, 155, 172, 182 Marginalisierung 64, 183, 190, 192 Marginalsiedlungen 187 Maskulinität 64 Massenauswanderung 10, 107 Maueröffnung 144 Mehrheitsbevölkerung 41, 43, 72, 129, 157, 203 Melting Pot 33 f ., 135 Menschenwürde 156 Migrationsindustrie 106, 108, 163, 171, 173 Migrationsnetzwerke 21, 73 f ., 106 Migrationspolitiken 100, 109 ff ., 121, 127, 136, 143 ff ., 153, 169, 193, 196 Migrationspotentiale 143, 158 Migrationsregime/-systeme 65, 96 f ., 106, 125, 136 ff ., 162, 167 Militär 48 Minderheiten/Minoritäten 22, 31, 34, 39, 42 ff ., 63 f ., 69, 76, 90, 94, 104, 114, 139 f ., 143, 194 f ., 199, 202 Mittelmeer 94 f ., 97, 117, 146 f ., 149, 153, 194 Mobilitätsmuster 15, 56, 59 f ., 156 Modellrechnungen 182 Modernisierungstheorien 57 MPI (Migration Policy Institute) 26 f . Multilokalität und multikulturell 10, 50, 65, 78 f ., 83, 91, 140, 142, 160, 187, 193 f ., 196 f ., 201 f . Muslim/a 131, 141, 166, 196 f ., 202 Narrationen 22 Nationalsozialisten 45, 113 Nationalstaaten 9, 13, 28, 47, 66, 68, 74 f ., 112, 144, 156, 164, 167 Neuzeit 33, 43, 93, 96 f ., 104 New York 20, 28, 33, 80, 107, 163, 196 Nomadismus 52 f ., 181 Nordamerika 10, 45, 78, 106, 179 Norm/en 9 ff ., 21 f ., 34, 37 ff ., 55, 59, 71, 81, 157, 162, 184, 190 Norwegen 50, 135, 143 239

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oral history 64 Overstayer 21, 150 PEGIDA 197 Pendelwanderungen 80, 82, 144 Peripherien 15, 86 f ., 110, 150, 157, 172 Pflegesektor 118, 131, 133, 142, 164 Polen 10, 50, 109 ff ., 131 f ., 136, 138 f ., 141, 143 Population 25, 27 post-migrantisch 200 Postmoderne 57, 74 f ., 137, 158 Potentiale 16, 203 Prognosen 55, 174, 176, 179, 181 Protestanten 93, 99 ff ., 109 Pull- und Push-Modelle 10, 54 ff ., 73, 80, 86, 162 race relation cycle 35 ff . Redemptioner-System 105 Regressionsanalysen 53 f ., 60 Religion 11, 20, 43, 95, 100, 198, 200, 202 Remigranten/Rückkehrer 80, 123, 159 Remittances 15, 78, 147, 163, 169 f ., 183 ff ., 234 f . Rentenalter 59 Repatriates/Expatriates 169, 194 Repräsentation 22, 31, 42, 66, 197, 202 Resilienz 184 Risiken 9, 13, 73, 147, 151, 158, 165 f ., 177 ff ., 198, 202 Risiko 18, 85, 125, 147, 153, 157 f ., 177, 179, 182, 185 f . Romgruppen, Sinti- und Roma 42 ff . Rotationsprinzip 118 Rückwanderer, Remigranten 107, 138 Ruhrpolen 109 f . Schengen 144 f ., 147 f . Schleuser 156 Schulbesuch 120 Schwarze/schwarze Bevölkerung 10, 36, 38 f ., 51, 99, 199 Segmentation 86 ff . Segregation 10, 53, 61 ff ., 89, 96, 123, 159, 187 ff . Selektion 53 Selektivität 18, 21, 73 short-term 24 short-term migrant 18 240

Siedlungswanderungen 94 Sklaven 17, 96 ff ., 100, 105 f ., 164 slave markets 37 social ecology 34 Solidarität 34, 69, 74, 77, 81, 88 f ., 147 Souveränität 68 f ., 72, 137 Sowjetunion 114, 121 ff . Sozial- und Kulturgeographie 14 soziale Aufwärtsmobilität 85, 87 f ., 118 soziale Kosten 165 soziale Mischung 62 soziale Netzwerke 10, 31, 72 f ., 184 soziales Kapital 72 ff ., 90 Sozialindikatoren 191 Sozialpolitik 192, 194 Sozialstaat 11, 69, 132, 190, 193 f . Sozialstruktur 39, 132 f ., 158, 162 Sozialsysteme 61, 132, 135 Sozialwissenschaftler 67, 131 Soziologie 29, 31 f ., 51, 53, 56, 58 f ., 61, 63, 66 f ., 80, 83, 131, 191 Städte 33, 44, 60, 63 f ., 83, 94 ff ., 97 ff ., 104, 108 f ., 110 f ., 115, 118, 120, 127 f ., 158 f ., 177 ff ., 187 ff ., 197 f ., 200 ff . Stadtteil 44, 62, 109, 120, 127, 159 f ., 187 ff ., 197, 201 f . Statistik 22 ff ., 28, 58, 107, 124, 128, 130 ff ., 143, 200 Statistikämter 24 Statistisches Bundesamt 25 Status 11, 17, 21, 31, 39 ff ., 43, 50, 61 f ., 68 f ., 72, 74, 80 f ., 88, 94 f ., 97, 103, 116, 129 ff ., 140, 147, 166, 181, 199 Statushierarchien 39 Statusparadox 61 f ., 69, 131 Stigmatisierung 39, 41, 43 f ., 114, 131, 189 f . Suburbanisierung 63 Südamerika 50, 78, 81, 98, 167, 176, 178 SVR (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und für Migration) 26, 135 Sweatshops 158 Tempel 15, 140, 169 Territorialisierung 43 f ., 66, 77 f ., 127, 153 ff . trajectories 170 ff .

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Transformation 13 f ., 53, 56 f ., 83, 88, 110, 159 Transitland/-räume 13, 137, 143, 151 ff . transnational 11, 38, 65 f ., 74 ff ., 106, 132, 148, 156 f ., 163, 171 Transnationalismus 31, 74, 76 f ., 79 f ., 82 Transport 52, 75, 98, 105, 108 f ., 111, 171 f ., 177 Tschechien 50, 138, 143 Türkei 9, 58, 70, 75 f ., 117, 119, 121, 123 f ., 135, 141 f ., 149, 154, 194, 201 Übergangsritus 172 Überlebenssicherung 52, 160 Überlegenheit 40, 48, 99 f . Ukraine 50, 143, 153 Umweltwandel 157, 174, 176, 185 Ungarn 43, 50, 110, 124, 139, 143 UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) 20, 25, 27, 148, 161, 181 Urbanisierung 25, 159, 176

USA 10, 23, 38, 50, 61, 67, 69, 80, 98 f ., 106 ff ., 140, 151 ff ., 161, 163 f ., 167 f ., 187, 193, 195, 199 US-amerikanische 33, 57, 62 f ., 89 Versicherheitlichung 151 Vielfalt 10, 33, 140, 178, 182, 193, 200, 202 Vietnam 82, 124 f ., 166, 170 vulnerable Gruppen 13, 161 Wanderarbeiter 20 f ., 37, 87, 111 f ., 163 f . Weltkrieg 48, 50 f ., 86, 108, 113 f ., 140 Weltsystem 10, 13, 68 Werkvertragsarbeiter 124 f . Wohlfahrtsstaat 68 f ., 88, 132, 190, 194 Wohnräume 47 WZB (Wissenschaftszentrum Berlin) 26 Xenophobie 41 Zuwanderungsgesetz 26, 197 zweite Generation 35 f ., 69, 120, 142, 159 Zwischenhändler 32

241

Personenregister Adorno, T . W . 50, 67 Affifi, T . 182 Agamben, G . 71 f ., 156 Akpaki, J . A . 53 Albrecht, G . 56 Anderson, N . 34, 37 f ., 76 Andersson, R . 191 Angenendt, S . 147, 151 Appadurai, A . , 78 Arendt, H . 50, 71 Asis, M . 163 Aumüller, J . 35 f . Aytar,V . 202 Bach, R . L . 89 Bachmann, S . 203 Backes, O . 191 Bade, K . J . 26, 105 f ., 108 f ., 112 Bagwell, S . 202 Bähr, J . 17, 58 ff ., 121 Bailey, A . 98 Bakewell, O . 184 Banse, E . 47, 49 Banting, K . 193 f . Barrett, G . 89 Bauman, Z . 158 Becker, J . 131 f . Benda, P . 21 Bendel, P . 147, 149 Benevolo, L . 94 Benz, A . 83 Berger, A . 129 Berlinghoff, M . 117 Bhabha, H . K . 10, 22, 202 Bhagwati, J . N . 168 Bigo, D . 164 Birnstiel, E . 99, 103 Black, R . 181, 185 Bloch, E . 50 Bobek, H . 48, 51 ff . Bogdal, K . M . 42 ff . Böhm, H . 50 Boltanski, L . 88, 199 Bommes, M . 26, 68 ff . Bonacich, E . 88 f . Bonse, A . 149 f . 242

Borchert, W . 115 Bork, T . 159 Bork-Hüffer, T . 159 Braudel, F . 94 Brenke, K . 134 Brinck, A . 105 f ., 108 Bukow, W .-D . 202 Burgdörfer, F . 50 Burgess, E . 35 Candan, M . 76 Capones, E . 163 Carius, A . 175 Castells, M . 158 Castles, S . 86 f . Chiapello, É . 88, 199 Cholewinski, R . 21 Choy, C . C . 163 Christaller, W . 58 Christmann, G . 33 Clark, W . A .V . 183 Crawford, C . 73 Dahlvik, J . 63 Dal Lago, A . 72 Dannecker, P . 166 Dickel, H . 61 Didero, M . 83, 202 f . Dietz, B . 122 f . Diouf, S . A . 97 Dittrich-Wesbuer, A . 83 Doevenspeck, M . 84, 185 Dohse, K . 95 Dölemeyer, B . 102 Dollase, R . 191 Dörre, A . 53 Du Toit, B . 172 Dünzelmann, A . 109 Dwyer, C . 65, 140 Ehlers, E . 53 Eigmüller, M . 137, 144, 150 f . Einstein, A . 50 Eisel, U . 67 Elias, N . 39 Engler, M . 128, 141 Entzinger, H . 195 f . Enzensberger, H . M . 31, 101

perSonenreGiSter

Erdemir, A . 173 Eriksson, M . 158 Escher, A . 81 Esping-Andersen, G . 190 Ette, O . 45 Etzold, B . 160 Faist, T . 73 Farwick, A . 60, 188 ff . Fassmann, H . 14, 63, 82, 143 Fawcett, J . 73 Feldman, G . 137, 148, 170 Ferree, M . 89 Findlay, A . 167 Föbker, S . 65, 83 Foroutan, N . 131, 202 Franzen, J . 60 Freihöfer, J . 65 Fritz, C . 185 Funke, L . 120 Galaneo, E . 167 Gamerith, W . 16, 63, 97 Gammeltoft-Hansen, T . 171 f . Gans, P . 55, 58 f ., 136 Garton Ash, T . 140 Geiger, M . 52, 61, 65, 145 f ., 170 Geipel, R . 60 Gemenne, F . 174, 186 Genge, J . 135 Georgi, F . 144, 148 Giese, E . 58, 157 Glorius, B . 82 f ., 132 Goeke, P . 70 Goethe, K . 169 Gold, S . 91 Göler, D . 83 Gould, W . T . S . 167 Granovetter, M . 91 Grill, J . 44 Guarnizo, L . 77 Guhathakurta, P . 182 Guiraudon,V . 145, 147 Güntner, S . 191 Habermann-Niesse, K . 201 Habermas, J . 67 Hahn, S . 17, 94, 96, 98, 162 Hall, S . 10, 22 Han, P . 17 Hard, G . 67 Hartmann, P . 159 Harvey, D . 75

Harzig, C . 96, 106 Haug, S . 85 Haushofer, A . 45, 47 f . Häussermann, H . 33, 191 f . Heckmann, F . 88, 120, 188 Heinrich, H .-A . 50 Heinritz, G . 67 Heitmeyer, W . 191 Helbrecht, I . 67 Hennig, E . 190 Herbert, U . 113 f ., 116 ff ., 188 Herrmann, D . 34 Hesch, M . 48 Hettner, A . 48 f . Hillmann, F . 22, 65, 78, 90, 107, 117, 122, 125, 147, 152, 154, 160, 164 ff ., 185, 198 Hoerder, D . 16, 38 f ., 99, 105, 107 Hoffmann-Nowotny, H . J . 67 Hollifield, J . 68 Hondagneu-Sotelo, P . 164 Hugo, G . 73, 179 Hunger, U . 76, 136, 161, 168 Itzigsohn, J . 80 Jersch-Wenzel, S . 95 Jöns, H . 50, 135 Kaas, L . 201 Kaléko, M . 29 Kamphoefner, W . D . 106 Kemper, F .-J . 56, 60 Killisch, W . 59 Kleinschmidt, H . 107 f . Klepp, S . 149, 181, 183 Kley, S . 56 Klingebiel, T . 100, 109 Kloosterman, R . 91 Klute, G . 162 Knauf, D . 109 Kohl, H . 120, 123, 196 Kohlhepp, G . 50 Kolb, H . 134 Kolland, D . 189, 201 Kortum, G . 58 Kosack, G . 86 f . Koslowski, R . 170 Kraas, F . 159 Kraler, A . 65 Krannich, S . 76 Kraus, P . 196 Krause, J . 137 243

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Krebs, N . 49 f . Kreibich,V . 60 Kreutzmann, H . 53 Krisjane, Z . 83 Kristeva, J . 41 f . Kronauer, M . 191 Kühn, H . 120 Kuls, W . 53 f ., 58 f ., 121 Kuptsch, C . 137 Kymlicka, W . 193 Lambkin, B . 106, 108 Lang, C . 136 Lausberg, M . 100 f . Laux, H .-D . 63 Lee, E . S . 10, 54 f . Leitner, H . 61 ff . Lemberg-Pederson, M . 171 Leung, M . 82 Lichtenberger, E . 61 f ., 69 Light, I . 89 ff . Löffelholz, H . D . 119 Lohnert, B . 83 Lopez, S . L . L . 169 Lucassen J . und L . 104 f . Lucht, H . 172 Mac Con Ulach, D . 124 f . MacDonald, J . und L . 72 Madanipour, A . 190 Magdelaine, M . 101 Manger, C . 201 Marmer, E . 184 Martiniello, M . 64 Massey, D . S . 73, 84 Matuschewski, A . 83 Maull, O . 47 f . Mazzucato,V . 170 McDowell, L . 64 f . McEvoy, D . 89 Mehmel, A . 16, 50 Meillassoux, C . 97 Meitner, L . 50 Merkel, A . 193 Merz, A . 48 Merz-Benz, P .-U . 32 Meyer, F . 66, 82, 202 Meynen, E . 48 Michel, B . 163 Miles, R . 146 Morgan, K . 97 Morokvasic, M . 87 Moulier Boutang,Y . 160 244

Mühlmann, W .-E . 50 Müller, B . 174 Müller-Mahn, D . 81, 83 Mumford, L . 99, 101, 104, 110 f ., 187 Musterd, S . 191 Naudé, W . 183 Nawiasky, H . 50 Newland, K . 184 f . Nieswand, B . 62, 76 Niggemann, U . 102 Nikolinakos, M . 87 Nipper, J . 16, 58 Nyberg Sørensen, N . 17 f . Oliver-Smith, A . 185 Oltmer, J . 16, 110 f ., 115, 118, 122 f . Østergaard-Nielsen, E . 77 Osterhammel, J . 97, 101, 105 f ., 110 Oswald, I . 17 Oswalt, A . 114 Pagel, K . 95 Pagés El-Karoui, D . 201 Park, R . E . 32 ff . Parnreiter, C . 65, 158 Parrenas, R . S . 163 Parusel, B . 151 Peach, C . 64 Pecould, A . 170 Penck, A . 48 f . Pethe, H . 65, 134, 167 Pétré-Grenouilleau, O . 97 Pfaffenbach, C . 83, 135, 202 Philippson, A . 50 Piguet, E . 180, 182 f . Piore, M . J . 87 Portes, A . 89, 91 Pott, A . 16, 70, 136 Pries, L . 80 ff . Pütz, R . 90 f . Rath, J . 64, 91, 202 Ratzel, F . 10, 45 ff . Rauty, R . 38 Ravenstein, E . G . 10, 54 f ., 179 Reinke, A . 99, 103 Reuber, P . 45 Riaño,Y . 65, 166 Richmond, A . H . 14 Rist, R . C . 117 ff . Ritter, C . 45, 47 Rosenstein, C . 89 Rössler, H . 45, 106 Rudolph, H . 167

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Sakdapolrak, P . 160 Salt, J . 64, 167, Sandner LeGall,V . 17 Sarrazin, T . 130 f ., 193 Sassen, S . 158 Saunders, D . 159, 187 Schaland, A .-J . 159 Schapendonk, J . 156, 173 Scheffran, J . 184 Schierup, C .-U . 87 Schmelz, A . 114 Schmitt, C . 71 Schmiz, A . 82, 125 Schneefuss, W . 48 Schneider, N . 59 Schnur, O . 192 Scholz, F . 52, 158 Schönwälder, K . 117, 119, 196 Schrettenbrunner, H . 60 f ., 117 Schröder, H . 109 Schubert, A . 118 Schultz, H .-D . 45 Schurr, C . 65 Schwarz, G . 48 Scotson, J . L . 39 Seehofer, H . 193 Selle, K . 192 Sennett, R . 94, 96, 110 Sensenbrenner, J . 91 Shaw, S . 202 Siebel, W . 33 Siebeneicker, A . 103 Simmel, G . 31 ff . Sjaastad, L . 85 Smith, M . P . 77 Sommer, E . 90, 122 Sow, P . 184 Spaan, E . 171 Stark, O . 85 Steinbrink, M . 52, 83, Steinmetzler, J . 47 Sterly, H . 185 Stern, N . 174 Strassel, J . 188 Strüver, A . 164 Supan, A . 47 Tacoli, C . 182, 185 Tankwanchi, A . B . S . 169 Tänzler, D . 175 Taylor, J . 85

Terkessidis, M . 199 Thieme, S . 63, 65 Thomas, W . 33 f ., 78 Thompson, B . 37 Thränhardt, D . 136, 146 Tilly, C . 72 Todaro, M . 85 Togral, B . 47, 151 Tohidipur, T . 147, 153 Tollefsen, A . 158 Treibel, A . 17, 35 Triandafyllidou, A . 21 Troll, C . 47, 50 Uhlig, H . 47 Vasta, E . 173 Verne, J . 185 Vertovec, S . 78 ff ., 201 f . Vobruba, G . 137, 144, 150 f . Vogel, B . 21, 192 Von Humboldt, A . 45 Von Schlichting, I . 82 Wacquant, L . 190 Wagner, J . 32, 47, 51 Waibel, L . 48, 50 Waldinger, R . 89, 91 Wardenga, U . 16, 49 Warner, C . 182 Wastl-Walter, D . 22, 65, 166 Weber, M . 103, 111 f . Wehrhahn, R . 17 Weichhart, P . 51, 58 Weiss, K . 129 Welz, J . 189 West, C . 42 Wiedemann, C . 149 Wilden, A . 202 Willis, K . 166 Winterstein, J . 175 Wolkersdorfer, G . 45 Wood, G . 98 Yeoh, B . S . A . 166 Zapf, K . 188 Zehner, K . 98 Zelinsky, W . 10, 54, 57 Znaniecki, F . 33, 78 Zolberg, A . R . 21 Zumstrull, M . 102

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Peter Weichhart

Entwicklungslinien der Sozialgeographie Von Hans Bobek bis Benno Werlen Sozialgeographie Kompakt – Band 1

Peter Weichhart skizziert mit vielen Beispielen aus der Forschung die verschiedenen sozialgeographischen Ansätze von der Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek in den 1940er Jahren über die Wien-Münchener Schule zur handlungstheoretischen Sozialgeographie Benno Werlens. Auch poststrukturalistische Ansätze und die Neue Kulturgeographie werden als jüngste Entwicklungslinien des Faches diskutiert.

Peter Weichhart Entwicklungslinien der Sozialgeographie Von Hans Bobek bis Benno Werlen 2008. 439 S., 84 s/w Abb. Doppelband, Kartoniert. ¤ 26,90 & 978-3-515-08798-8 @ 978-3-515-09483-2

Das mit reichhaltigem Anschauungsmaterial ausgestattete Lehrbuch stellt so in prägnanter Form die wichtigsten Konzepte und Denkmodelle der Sozialgeographie vor und bietet Studierenden eine übersichtliche Einführung in Entwicklung und neue Forschungsansätze der Disziplin. ....................................................................

Aus dem Inhalt Vorwort |Sozialgeographie zwischen Anspruch und Wirklichkeit – ein erster Befund | Die Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek | Die „Wien-Münchener Schule der Sozialgeographie“ | Raum, Räumlichkeit, die „drei Welten“ und der Zusammenhang zwischen Sinn und Materie | Der Aufbruch der Sozialgeographie im englischen Sprachraum | Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie – eine erste Übersicht | Die klassische Sozialraumanalyse | Mikroanalytische Ansätze I: „Wahrnehmungsgeographie“ | Mikroanalytische Ansätze II: handlungsorientierte Sozialgeographie [...]

Franz Steiner Verlag

Doris Wastl-Walter

Gender Geographien Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen Sozialgeographie kompakt – Band 2

Geschlecht ist heute als Analysekategorie auch in der Geographie etabliert. Daher sollen in diesem einführenden Band der Reihe „Sozialgeographie kompakt“ die wesentlichen theoretischen Grundlagen, die relevanten Methoden und die wichtigsten Forschungsfelder und Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Dabei steht nicht das biologische Geschlecht (Sex) im Zentrum der Überlegungen, sondern Gender, das soziale Geschlecht, das als Kategorie diskursiv und in der alltäglichen Praxis hergestellt wird.

Doris Wastl-Walter Gender Geographien Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen 2010. 242 S., 28 s/w Abb., 2 s/w Tab. 13 Karten. Kartoniert. ¤ 24,90 & 978-3-515-08783-4 @ 978-3-515-09985-1

Eine geschlechtsbezogene Geographie widmet sich den raumrelevanten Aspekten von Geschlechterrollen und Geschlechterrelationen, beschreibt und analysiert die Handlungsspielräume und Restriktionen durch die Konstrukte „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ und diskutiert Möglichkeiten, diese oft einschränkenden Konzepte zu verändern. Viele empirische Beispiele geben einen Einblick in die deutschsprachige und internationale Geschlechterforschung in der Geographie. ....................................................................

Aus dem Inhalt Vorwort | Einleitung | Theoretische Konzepte von Geschlecht und Raum | Körper und Körperlichkeit im Raum | Natur/Umwelt und Naturwissenschaft/ Technik aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive | Das Geschlecht der Arbeit | Geschlechterkonstrukte und globalisierte Geographien |Stadt – ein geschlechtsloser Raum? | Nationalstaaten und Gender Regimes | Geschlechterkonstruktionen in Sicherheitsdiskursen | [...]

Franz Steiner Verlag

Manfred Rolfes

Kriminalität, Sicherheit und Raum Humangeographische Perspektiven der Sicherheitsund Kriminalitätsforschung Sozialgeographie kompakt – Band 3

Manfred Rolfes Kriminalität, Sicherheit und Raum Humangeographische Perspektiven der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung 2015. 211 S., 40 s/w Abb. Kartoniert. ¤ 24,90 & 978-3-515-10635-1 @ 978-3-515-10870-6

Erstmals für den deutschsprachigen Raum liegt ein geographisches Lehrbuch vor, dass sich in kompakter Form mit den Zusammenhängen von (Un-) Sicherheit, Kriminalität und Raum befasst. Auf Basis einer umfassenden Quellenrecherche skizziert und diskutiert Manfred Rolfes aus einer konstruktivistischen Perspektive die zentralen Aspekte einer humangeographischen Sicherheitsund Kriminalitätsforschung. Traditionelle und zeitgenössische Ansätze der Kriminalgeographie werden ebenso kritisch in den Blick genommen wie Methoden zur Beobachtung und Analyse des Zusammenhangs von Sicherheit, Kriminalität und Raum, raumorientierte Präventionspolitiken und Sicherheitsproduktionen oder Beobachtungen über urbane (Un-) Sicherheiten. Ein Blick auf das Forschungsfeld aus globaler und geopolitischer Perspektive runden die Einführung ab. Alle behandelten Themenbereiche werden (raum-) theoretisch durchleuchtet und mit anschaulichen Fallbeispielen verdeutlicht. ....................................................................

Aus dem Inhalt Subjektive Sicherheit und ihre Bestimmungsfaktoren | Riskante Entscheidungen und (Un-)Sicherheitskommunikation | Kriminalität, abweichendes Verhalten und ihre sozialen Bedingungen | Rolle der Medien bei der Produktion von Sicherheit, Risikoeinschätzungen und Kriminalität | [...]

Franz Steiner Verlag

Migration stellt ein zentrales Thema in der Geographie dar: Dieses Lehrbuch führt in die grundlegenden theoretischen Konzepte seit Beginn der Fachgeschichte bis zur Herausbildung der „neuen Geographien der Migration“ ein. Historische und aktuelle regionale Beispiele zeigen, wie Migration als Ausdruck und Triebkraft sozialen und räumlichen Wandels wirkte und heute einen elementaren Bestandteil der globalisierten Welt bildet. Lange wurde

ISBN 978-3-515-10636-8

„Migration“ als Teil der Bevölkerungsgeographie diskutiert, neuerdings finden zunehmend auch international diskutierte Konzepte der Migrationsforschung Eingang in die Sozialgeographie. Das Lehrbuch greift diese neueren Entwicklungslinien beispielhaft auf und stellt die unterschiedlichen Forschungsfelder und Forschungsansätze vor. Empirische Beispiele illustrieren, wie Migration mit globalen Dynamiken, beispielsweise Klimawandel und Urbanisierung, interagiert.

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