Menschen und Probleme: Reden, Vorträge und Aufsätze 9783111512105, 9783111144375


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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Gutenberg und sein Werk
Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia
Luther
Philipp Melanchthon, der humanistische Genosse Luthers
Johann Sturm
Kant
Schiller
Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen
Pestalozzi
Wilhelm von Humboldt
Johann Gottlieb Fichte. Zum 19. Mai 1912
1813–1913
Die Leipziger Schlacht
Zwei Bismarckreden
Hegels Anschauung vom krieg
Ludwig Feuerbach
Richard Rothe
David Friedrich Strauß
Friedrich Theodor Discher
Gustav Binder
Eduard Zeller
Adolf Hausrath
Edmund Pfleiderer
Zum Fall Schrempf
Nietzsche und Hölderlin
Nietzsche und Sokrates
Zwei Kritiken
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Menschen und Probleme: Reden, Vorträge und Aufsätze
 9783111512105, 9783111144375

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Menschen und Probleme Reden, Vorträge und Aufsähe von

Theobald Ziegler

Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer

1914

Alle Rechte, insbesondere das der Über­ setzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Meiner lieben Kau,

der ersten Hörerin, Leserin und Kritikerin dieser Nrbeiten.

Vorwort.

3

M Jahr 1877 habe ich neun „Studien und Studienköpfe aus der

neueren und neuesten Literaturgeschichte" veröffentlicht. Das sah aus wie Unbescheidenheit und war doch nur literarische Unerfahrenheit und Nichtwissen, daß ein junger Mann keine gesammelten Schriften herausgeben darf, sondern daß dies das Vorrecht des Alters ist. Jetzt bin ich alt genug und will es daher aufs neue wagen. Doch komme ich hier nur mit denjenigen meiner Reden, Vorträge und Aufsätze, die stch mit „Menschen" beschäftigen. Mit den „Problemen" bin ich noch nicht fertig, und so kämen sie auch jetzt noch zu früh; die zweite Reihe dieser Sammlung wird daher noch auf sich warten lassen. Natürlich ist, was ich hier zusammengestellt habe, auch nur eine Auswahl. Nach dem Grundsatz, bei einer solchen nur das Beste zu geben, hätte ich wohl noch strenger sein müssen. Aber absichtlich sollte neben Gewichtigerem auch Leichteres und Kürzeres eine Stelle finden. Denn es ist auf eine gewisse Vollständigkeit oder doch Reichhaltigkeit ab­ gesehen, ich möchte zeigen, womit ich mich in meinem Leben beschäftigt, und in diesem Band speziell, mit welcher Art von Menschen ich mit Liebe und Vorliebe Umgang gepflogen habe. Zwei Namen vermisse ich freilich selber am meisten — Goethe und Schleiermacher; allein diese Sammlung erscheint kurz nach meinen besonders herausgegebenen Vorträgen über „Goethes Welt- und Lebensanschauung", und folgen sollen ihr demnächst besondere Veröffentlichungen über Schleiermacher: so ist es nicht ein zu wenig, sondern eher ein zu viel, was mich hier über sie schweigen läßt; und ungenannt bleiben beide darum doch nicht.

Die Auswahl ist also subjektiv, und bei solchen Sammelbänden darf sie es sein. Dagegen ist die Anordnung im wesentlichen eine äußerlich chronologische: die Gegenstände der Arbeiten reichen vom 15. bis in das 20. Jahrhundert. Natürlich beziehen sich die einzelnen Reden oder Aufsätze nicht immer auf den ganzen Menschen, sondern bisweilen nur auf eine bestimmte Seite seines Wesens oder seiner Leistungen. Der Ort, wo sie gehalten wurden oder erschienen sind, bestimmt das von vornherein, und deswegen habe ich ihn jedesmal in einer Fußnote ausdrücklich genannt. Alle Stücke sind so wiedergegeben, wie sie einst gesprochen und veröffentlicht wurden. Nur kleine stilistische Änderungen sind ab und zu vorgenommen, positiv Falsches ist verbessert worden. Im übrigen sollen sie so, wie ich zur Zeit ihrer Enfftehung gedacht habe, auch jetzt vor den Leser hintreten. Ob ich in einzelnem heute anders denke oder meinen Gedanken einen anderen Ausdruck geben würde, darauf kommt nichts an. Zu meinem Verkehr mit den Menschen allen, die hier dem Leser vorgeführt werden, gehöre, wie bei meiner Strauß­ biographie, eben auch ich und meine Art, sie zu sehen; und wenn ich mich in den dreißig Jahren, über die hin zerstreut diese Arbeiten liegen, in dem und jenem laut oder leise gewandelt und allerlei hinzu­ gelernt haben sollte, so sehe ich keinen Grund, das heute zu verbergen oder mich dessen zu schämen. Natürlich ist auch der Ton nicht immer der gleiche: Festreden klingen anders als Vorträge, und diese wieder anders als Aussätze. Das „Pathetische", über das der „moderne" Jüngling lächelt, vielleicht aus Impotenz lächelt, gehört zu meinem Stil und meiner Vortrags­ weise, und eine Rede ist immer eine Rede, sie darf und soll „rhetorisch" sein. Aufdringlich ist aber mein „Pathos" jedenfalls nicht; ich pflege mich auch als Mensch nicht auf- und vorzudrängen. Auch solche Stücke habe ich unverändert gelassen, die wie der Vortrag über Bischer seinerzeit Zorn erregt und mir Angriffe zu­ gezogen haben. Ob der Zorn inzwischen verraucht ist oder im Gegenteil durch die Wiederholung aufs neue angefacht wird, ist mir gleichgültig. Daß unter den Menschen meines geistigen Verkehrs besonders viele Schwaben sind, ist selbstverständlich. Als Schwabe kenne und verstehe ich meine Landsleute am besten. Ein Partikularistisches liegt

darin nicht, höchstens daß es nun eben einmal Tatsache ist, daß das kleine Württemberg besonders viele bedeutende und originelle Menschen hervorgebracht hat. übrigens gehört zum Bilde meines Verhältnisses zu meiner schwäbischen Heimat angesichts der Gaben, die ich ihr hier dar­ bringe, doch auch die Erwähnung eines Schmäharttkels, der im Organ der württembergischen Volkspartei, dem Stuttgarter „Beobachter", in seiner Nr. 11 vom 15. Januar dieses Jahres gegen mich erschienen ist und der mir als „Verächter süddeutscher Auffassung" und als „Über­ läufer" zu — Preußen den Stuhl vor die Türe meines Heimatlandes stellen möchte. Nach dem Rat Friedrichs des Großen, so etwas „niedriger zu hängen", soll hier ausdrücklich auf ihn hingewiesen sein. Endlich bleibt mir noch übrig, den Herren Verlegern und Heraus­ gebern der in Zeitschriften, Jahrbüchern und Enzyklopädien oder auch separat veröffentlichten Arbeiten für die Bereitwilligkeit zu danken, mit der sie mir den Abdruck in dieser Sammlung gestattet haben. Frankfurt a. M., 1. Mai 1914.

Theobald Ziegler

Inhaltsverzeichnis Gutenberg und sein Werk. 1900........................................................ Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia. 1689. Luther. 1883........................................................................................... Philipp Melanchthon, der humanistische Genosse Luthers. 1897 . Johann Sturm. 1908 ........................................................................ Kant. 1904............................................................................................. Schiller. 1905 Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen. 1905.............. Pestalozzi. 1896.................................................................................... . Wilhelm von Humboldt. 1906............................................................. Johann Gottlieb Fichte. 1912............................................................ 1813—1913. 1913................................................................................. Die Leipziger Schlacht. 1913............................................... ........................... Zwei Bismarckreden. 1891. 1895..................................................................... Hegels Anschauung vom Krieg. 1912............................................................ Ludwig Feuerbach. 1891.................................................................................... Richard Rothe. 1899 .......................................................................................... David Friedrich Strauß..................................................................................... a) Zum 27. Januar 1908 .......................................................................... b) Festrede zur Einweihung des Sttaußdenkmals in Ludwigsburg am 22. Mai 1910........................................................................................... c) David Friedrich Strauß als Vater. 1911........................................ Friedrich Theodor Bischer. 1893 ...................................................................... Gustav Binder. Ein Nekrolog. 1885............................................................... Eduard Zeller. 1908 .......................................................................................... Adolf Hausrath. 1909......................................................................................... Edmund Psleiderer. 1902 .................................................................................. Zum Fall Schrempf. 1892. 1893. 1900 ....................................................... Nietzsche und Hölderlin. 1898........................................................................... Nietzsche und Sokrates. 1912............................................................................. Zwei Kritiken........................................................................................................ a) Paul Heyses Maria von Magdala. 1903........................................ b) Zum Lärm über Gerhart Hauptmanns Festspiel. 1913...............

Ziegler, Menschen und Probleme.

Sette 1 7 18 31 46 63 74 90 103 118 140 149 164 176 196 205 216 226 226 238 245 259 285 296 317 323 334 383 400 416 416 421

b

Erste Reihe: Menschen

Gutenberg und sein Werk^). Es ist etwas wie eine Phantasiefeier, wenn in diesen Tagen das deutsche Volk den fünfhundertsten Geburtstag Gutenbergs festlich be­ geht; denn wann er geboren ist, ist uns nicht bekannt, weder Tag noch Jahr. Und so ist es vielmehr symbolisch als historisch zu verstehen, wenn wir ihm den Beginn eines neuen Jahrhunderts und die Tage des vollsten Lichtes als Geburtszeit zuweisen, als ob wir sagen wollten: ein neuer Zeitabschnitt hat mit Gutenberg begonnen und viel Licht ist von diesem Johannistag ausgegangen. Und auch das ist bezeichnend für dieses Fest, daß wir von dem, den wir feiern, persönlich fast gar nichts wissen: ein schweres Leben draußen im Exil wie in der Heimat zu Hause, Schulden, Prozesse, Verkennung aller Art, aber von dem, was er innerlich gefühlt und erlebt, wie er es getragen und sich dagegen zur Wehre gesetzt hat, x>6 der äußerlich Arme wenigstens innerlich reich gewesen ist, — von alle dem so gut wie nichts! Mr bemühen uns, die Menschen nach dem zu beurteilen, was sie gewollt und wie viel von ihrem Eigensten sie in ihr Werk gelegt haben; hier können wir das nicht, müssen vielmehr urteilen nach dem Erfolg, nach der äußeren Tat und dem äußeren Gelingen. Und auch da noch erheben sich Zweifel und Bedenken. Wie groß war der Anteil und das Verdienst dieses einzelnen am Werk und seinem Ge­ lingen? Daß Gutenberg der Erfinder der Buchdruckerkunst gewesen ist, nicht Fust und Schösser in Mainz, nicht Mentelin in Straßburg, nicht Janszoon Coster in Haarlem, steht ja heute fest. Aber was hat Guten­ berg eigentlich erfunden? Mehr als bei anderen Erfindungen lag die Idee dazu sozusagen in der Luft; statt ganzer Platten bewegliche Lettern, statt Holz Metall — das kommt uns heute fast vor wie das Zipfelchen

*) Zur Gutenbergfeier im Juni 1900 in der „Frankfurter Zeitung", Sonntag, 17. Juni 1900, erstes Morgenblatt. Zieg l er, Menschen und Probleme.

auf ein schon vorhandenes i, wie das Kolumbus-Ei, das er nur vollends auf die Spitze gestellt hat. Gewiß, wir täuschen uns, der Schritt war größer, als er uns heute scheint; aber es sind fraglos weit größere und schwierigere Erfindungen gemacht worden, an denen der Erfinder mehr Anteil gehabt und in die er weit mehr Genialität hat hineinlegen müssen, als dies hier der Fall gewesen ist. Die Erfindung ist somit verhältnis­ mäßig einfach. Mer groß ist ihre Wirkung, ihre kulturhistorische Be­ deutung. Hinter ihr tritt die Persönlichkeit zurück, das Innenleben des Erfinders wird fast gleichgültig. Und daher ist es in Wahrheit auch nicht Gutenberg, den wir feiern, sondern abgelöst von ihm seine Erfindung, seine Kunst und ihr Anteil an der Entwicklung der menschlichen Kultur. Es ist, wie wenn die spärlichen Nachrichten über den Menschen zu aus­ schließlich kulturhistorischer Betrachtung nötigten und in diesem Falle wenigstens der kulturhistorischen Geschichtschreibung Recht geben wollten vor der individualistischen. Mit diesem Unpersönlichen hängt es wohl zusammen, daß die Be­ deutung der neuen Erfindung den Menschen nicht mit einem Schlage klar geworden ist, sich auch tatsächlich nicht sofort in ihrem vollen Um­ fang gezeigt und eingestellt hat. Man hatte schon vorher einen ent­ wickelten Buchhandel, das Bücherabschreiben war zuerst in den Klöstern, dann später auch in den Städten bei unternehmenden Händlem ein blühendes Gewerbe. So bringt die neue Erfindung im ersten Augen­ blick keine eigentliche Umwälzung, keine wesentliche Veränderung. Und doch hat schon im Todesjahr Gutenbergs ein Italiener den springenden Punkt erfaßt, wenn er darüber.an den Papst Paul II. schreibt: „Gerade in Deiner Zeit ist zu den übrigen Gnadenerweisen Gottes auch dieses glückliche Geschenk hinzugekommen, daß auch der Ärmste für wenig Geld sich eine Bibliothek erkaufen kann. Oder ist es vielleicht ein geringer Ruhm Deiner Heiligkeit, daß Bände, die man sonst kaum für hundert Dukaten kaufen konnte, heute für zwanzig und weniger Goldstücke er­ standen werden und nicht wie früher voller Fehler sind? Oder daß Bände, die der Leser früher kaum mit zwanzig Dukaten erkaufte, jetzt für vier oder sogar billiger zu haben sind?" In dieser Verbilligung der Bücher liegt die durch und durch demokratische Tendenz der neuen Er­ findung. Die Bahn ist frei; das Buch kann nun zum Gemeingut eines ganzen Volles werden.

Zunächst aber trat die Kunst Gutenbergs in den Dienst einer Aristokratie des Geistes, in den Dienst der Renaissance und des Humanismus. In Italien, wohin die beiden Deutschen Pannartz und Sweynheim sie schon frühe, noch zu Lebzeiten Gutenbergs gebracht hatten, begann man alsbald mit dem Abdruck lateinischer und griechischer Handschriften, und dabei stellte sich ein neuer Gewinn heraus: die Gleichmäßigkeit der Bücher einer Ausgabe und damit Hand in Hand gehend die größere Korrektheit; nicht jedes einzelne Exemplar mußte korrigiert werden und nicht jedes wies neue und andere Fehler auf. So erst konnte die Philologie zu jener Goldschmiedekunst des Wortes werden, wie sie Nietzsche genannt hat. Auf die Renaissance folgt die Reformation. Erasmus hat es Luther nie verziehen, daß durch ihn die paar kurzen Herrschaftsjahre der Philo­ logie und feinen Bildung vorübergingen wie ein Sommemachtstraum, und an ihre Stelle die tumultuarische Zeit der religiösen Reformation und Revolution getreten ist; er hat es ihm nicht verziehen, weil er ihn darin nicht hat verstehen können, daß dieser sächsische Bauernsohn an sein deutsches Volk geglaubt und sich daher an das Volk im ganzen, an die Massen gewandt hat mit seiner Verkündigung der Freiheit des Glaubens und der Gewissen. Für diese demokratische Bewegung Luthers war die demokratische Kunst Gutenbergs das richtige Werkzeug. In dem Bund zwischen dem Wittenberger Reformator und dem Mainzer Erfinder lag sozusagen die erste große Woge, die die neue Kunst auf ihre welt­ geschichtliche Höhe gehoben hat. Die Fülle von Flugschriften, unter denen die von Hutten obenan stehen, die zahlreichen Werke Luthers selbst und vor allem seine Übersetzung der Bibel — das war das Material, an dem die Buchdruckerkunst zum erstenmal ihr Können betätigen und ihre weltbefreiende Mission erfüllen sollte. Und höchstens darüber kann man streiten, ob der Humanismus und Luthers religiöse Reform der Buchdruckerkunst ihre weite Verbreitung und ihren Sieg zu danken haben oder ob nicht umgekehrt diese beiden weltgeschichtlichen Umwälzungen ihr erst ihre Bedeutung und Geltung für Geistesleben und Kultur gegeben haben. Sie kam, als die Zeit erfüllet war, das heißt: als man sie am nötigsten brauchen konnte und brauchte. Von da an ist der Faden nicht mehr abgerissen, der sich zwischen Gutenbergs schwarzer Kunst und allem geistigen Leben der Völker gei*

knüpft hat. In Deutschland brachte natürlich der dreißigjährige Krieg einen Mckgang: wer mochte damals lesen? Aber um das verwüstete Land her flutete das Leben weiter, und das achtzehnte Jahrhundert holte auch bei uns nach, was int siebzehnten versäumt worden war. Die Aufklärung ist ihr Werk, und unsere Klassiker sind durch sie in tausend und abertausend Exemplaren in unser Volk hineingetragen worden und haben eine Fülle von Schönheit und Licht unter uns verbreitet. Und doch verschwindet das fast gegen die Macht der Druckerpresse im neunzehnten Jahrhundert. Seit den Enzyklopädisten und der fran­ zösischen Revolution ist sie in den Dienst der Politik getreten und hat sogar einem Napoleon, der sonst ein Verächter alles Ideologischen war, das Wort abgenötigt, daß sie die fünfte Großmacht sei, mit der auch er zu rechnen habe. In unserem Maschinenzeitalter kam aber auch technisch noch ein Neues hinzu, die Erfindung der Druckmaschine, der Schnell­ presse — auch durch einen Deutschen, durch Friedrich König von Eis­ leben. Dadurch erst war die Massenwirkung des gedruckten Wortes ge­ sichert, der Presse im engeren Sinn, den Zeitungen und ihrer Verbrei­ tung freie Bahn gemacht, und die neuen Transportmittel, Dampf und Elektrizität, sorgten dann für die rascheste Zirkulation des Gedruckten. So flogen nun die Gedanken durch die Welt und drangen aus der Re­ daktionsstube oder aus dem fällen Gelehrtenzimmer hinaus in jedes fernste Land, hinab in jede kleinste Hütte. Gutenbergs Kunst hatte die Welt erobert. Aber ob das eitel Segen und Gewinn ist für die Welt? Schon Schiller klagt über sein tintenklecksendes Säkulum, und wir Kinder des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts haben noch viel mehr Grund, uns vor einer neuen Sintflut zu fürchten, die uns in Druckerschwärze und Papier ersaufen läßt. Auch leidet die Kunst der freien Rede, das gesprochene Wort unter dem gedruckten, unser Stil wird unanschaulich und unlebendig, wird papierner Buchstil, und die Hast, mit der der Setzer unsere Manu­ skripte in Leitartikel und Feuilleton, in Broschüre und Buch verwandelt, schädigt Inhalt und Form. Und endlich haben ja nicht nur die Ver­ treter des Lichtes und des Fortschritts sich der neuen Kunst bemächtigt: viel Rückschrittliches und Dunkles, viel Unwahres und Täuschendes, viel Unsittliches und Häßliches geht mit Hilfe von Satz und Druck hinaus in alle Welt. Daher lag es von Anfang an nahe, Maßregeln zu ergreifen

gegen den Mißbrauch der neuen Kunst, die Kirche mit ihrem Index, der Staat mit seiner Zensur taten alles, um zu hemmen und zu verbieten, um die Presse in ihrem Sinne zu leiten und zu organisieren. Wer Gutenbergs Kunst erwies sich auf die Dauer mächtiger als alle staatliche und kirchliche Gewalt. Was in dem einen Land nicht gedruckt werden kann, erscheint in einem andern, was in dieser Form nicht gesagt werden darf, wählt dafür Hülle und Maske: der Zensur so oder so ein Schnipp­ chen zu schlagen, galt zu allen Zeiten für erlaubte Notwehr und für ein lustiges Spiel. So haben sich Index und Zensur auf die Dauer macht­ los erwiesen: der Staat kam früher zu dieser Einsicht als die Kirche, die immer noch an jenem mittelalterlichen Verbietenwollen und Unter­ drücken festhält. Aber auch sie hat in Zeiten des Kampfes das Zwei­ schneidige dieser Methode kennen gelernt und daher in unserem Jahr­ hundert auch ihrerseits den einzig richtigen Weg beschritten und sich die Leistungen und die Freiheit der Presse zunutze gemacht. So bleibt schließlich auch gegen Mißbrauch und Gefahr nur eines übrig — der freie Kampf des Geistes und das fessellose Spiel der Geister. In Freiheit gilt es sich durchzusetzen und die Waffe zu brauchen, die uns Gutenberg geschmiedet hat, um der Wahrheit und dem Fortschritt zum Siege zu verhelfen. Auch er ist wie alles Große in der Welt nicht ge­ kommen, Frieden zu bringen, sondern Krieg. Und so greifen wir alle, die wir in weiten Kreisen wirken wollen, zu diesem unfehlbaren Mittel; das gedruckte Wort ist das vemehmlichste, es reicht unendlich viel weiter als die lauteste Stimme. Darum bedient sich heute seiner der Politiker und der Priester, der Mann der Wissenschaft und der Kunst, und auch Handel und Industrie wissen es zu Verkehr und Reklame längst schon trefflich zu benützen. Hegel hat von der öffentlichen Meinung gesagt, in ihr sei alles Falsche und Wahre; aber das Wahre in ihr zu finden sei die Sache des großen Mannes. Das gilt auch von der Buchdruckerkunst, denn die „Presse" ist ja nur das Organ der öffentlichen Meinung. Wenn aber Hegel fortfährt: „Wer, was seine Zeit will, ausspricht, ihr sagt und vollbringt, ist der große Mann der Zeit; er tut, was das Innere und Wesen der Zeit ist, und verwirllicht sie," so können wir das umbiegen und auf Gutenberg anwendend sagen: er war der große Mann, der diese Macht entfesselt

und ihr das Machtbewußtsein gegeben hat. Wenn wir ihn feiern, feiern wir also die Macht der öffentlichen Meinung, feiern wir den demokratischen Geist der neuen Zeit. Aber Feiernde haben immer auch Pflichten. In der öffentlichen Meinung liegt beides, Falsches und Wahres, aus dem Kasten des Setzers verbreitet sich Licht und Finsternis, zieht Böses hinaus ins Land wie Gutes. Darum gilt es, die Waffen zu schwingen zum Kampf gegen Falschheit und Lüge, gegen Bosheit und Dunkel. Mr wissen nicht, „wozu ihr Meister sie erschuf"; aber wir wissen, wozu wir sie anwenden sollen: im Dienste menschlicher Kultur, zur Verbreitung von Bildung und Gesittung und über allen Kampf hinweg zur Versöhnung der Gegen­ sätze, die uns heute trennen. Der Gegensatz, der ein Volk am schlimmsten zerklüftet, ist der zwischen Bildung und Nichtbildung; und gerade ihn soll von der Volksschule bis hinauf zur Universität die Macht des ge­ druckten Wortes uns überbrücken und beseitigen helfen. Große Männer sind freilich selten, die ihrer Zeit sagen können, was sie will, und es verwirklichen; aber so klein darf keiner sein, der Guten­ bergs Kunst in seine Dienste nimmt, daß er sich solcher Aufgaben und Pflichten, daß er sich seiner Verantwortlichkeit nicht bewußt wäre: wer sein Wort vervielfältigt und sich damit an Tausende wendet, sehe wohl zu, daß er etwas Rechtes sage, was Tausenden wirklich frommt und zum Heile dient. Scherz und Spiel und Spott in allen Ehren, aber etwas von dem, was Schiller von seiner Glocke sagt, gilt doch auch von den Lettern Gutenbergs: Nur ewigen und ernsten Dingen Sei ihr metallner Mund geweiht!

So allein haben wir ein Recht mitzufeiern, so allein die Sicherheit, daß keiner diesen metallenen Mund uns verschließe, so allein den voll­ gültigen Anspruch, daß keiner uns an diese Freiheit rühre. Denn als einen der Vorkämpfer und Befreier der Menschheit feiern wir Gutenberg!

Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia*). Hochansehnliche Versammlung! Wenn ich heute, wo nach einem langen bangen Jahre schmerz­ lichster Verluste unsere Blicke hoffnungsfroh der Gegenwart zugekehrt sind und wir nach gut monarchischer Sitte und nach gut deutscher Art in der Person unseres Kaisers und Herm zusammengefaßt schauen, was an staatlichem Bewußtsein, an nationalem Hochgefühl, an patrio­ tischer Treue und Hingebung unsere Herzen erfüllt und bewegt, — wenn ich Sie an diesem Feier- und Festtage des deutschen Volkes auf einen Augenblick hinwegführen möchte in eine um fast vier Jahrhunderte rück­ wärts liegende Vergangenheit, so geschieht es nicht, um Sie dort, in der gerne der Zeiten festzuhalten. Das Vergangene und Fremde soll nur die Brücke bilden, um von dieser Vergangenheit alsbald wieder den^Weg zurückzufinden in die lebendige Gegenwart, um von der Betrachtung eines luftigen Staatengebildes entlegener Phantasie alsbald wieder herabzusteigen auf den festen Boden des modemen Staatsgedankens und seiner machtvollen Realität und Verkörpemng in unserem deutschen Vaterland. Zwei Schriften über den Staat, beide fast gleichzeitig an das Licht getreten, beide aus demselben Geiste der Renaissance heraus erdacht und ersonnen von Männem, die auf der großen Wende der Zeiten zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stehen, haben zwei verschiedenen Richtungen, — Mirrungen in unserer Auffassung vom Wesen und den *) Rede zur Feier des Geburtstages S. M. des Kaisers Wilhelm II. in der Aula der Universität Straßburg am 27. Januar 1889. Erschienen bei Heitz u. Mündel Straßburg 1889.

Aufgaben des Staates für die Folgezeit ihre charakteristischen Namen gegeben: dort der Macchiavellismus und hier die utopistischen Schwärmereien unklarer und unpraktischer Ideologen. Was wir unter Macchiavellismus verstehen? Es ist ein von allen guten Geistern des sitt­ lichen Idealismus verlassener politischer Realismus, die völlige Los­ lösung der Politik von den Schranken der Moral, die rücksichtslos kecke Durchführung des politisch Mtzlichen, die Anwendung des Satzes, daß der Zweck jedes unsittliche Mttel rechtfertige, auf das Tun des Staats­ manns, des Fürsten. Utopistisch dagegen nennen wir Gedanken so luftig und fantastisch, daß von einer Realität überhaupt keine Rede mehr sein kann, ein Staatsgebäude von so luftschloßartigem Ansehen, daß jeder Politiker achselzuckend daran vorübergeht und sich wohl hütet, es damit emsthaft zu nehmen, eine Welt des Traumes, fast vergleich­ bar dem Märchen vom Schlaraffenlande. Von jenem ersten soll hier nicht die Rede sein und nicht gefragt werden, wieweit das, was wir heutzutage macchiavellistisch nennen, losgelöst von seinem historischen Hintergründe und von der politischen Praxis seiner Zeit und seiner italienischen Heimat, sich mit Recht auf die Schriften des großen Florentiners berufen darf, über die schon soviel geschrieben, gestritten, vermutet worden ist. Dagegen möchte ich Sie bitten, bei dem Urheber jenes anderen Namens einen Augenblick zu ver­ weilen, bei Thomas Morus und seiner Schrift über die Insel Utopia. Doch machen wir uns nicht selbst einer Art von Utopie schuldig, wenn wir tut Emst betrachten, was doch zunächst nur ein loses Spiel des Geistes und Witzes, luftig und leicht, fantastisch und frei entworfen und ersonnen scheint? Ist ein solcher Roman — denn anders können wir das Buch kaum nennen — nach Jahrhunderten noch irgendwelcher Beachtung wert? ist hier etwas von wissenschaftlicher Kritik oder gar von positiven Vorschlägen zu finden, die für Staat und Gesellschaft bleibenden Wert besäßen? Solchem Einwand gegenüber genügt es vielleicht schon, darauf hinzuweisen, daß der Verfasser der Schrift nicht etwa der nächste beste, sondern ein bedeutender Staatsmann seiner Zeit, einige Jahre hindurch sogar der Kanzler des englischen Reiches gewesen ist — ein Mann voll Witz und Humor, der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen einer, ein Humanist und Freund von Eras­ mus und Holbein, bewandert und belesen in Plato und Lucian, in

Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia.

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Cicero und Augustin; und zugleich einer der frömmsten und recht­ schaffensten Männer, der es unter der Regierung eines Heinrich VIII. fertig brachte, was neben ihm in England kaum einem noch gelungen ist, aus seinem Dienst die Seele ganz zurückzuziehen, der seiner Über­ zeugung treu blieb bis in den Tod, treu bis zum Schafott, das er be­ stiegen hat, weil er schwarz nicht für weiß zu erklären vermochte, weil er nicht glauben wollte, daß ein Fürst Gewalt habe auch über die Gewissen seiner Untertanen. Wenn uns aber Charakter und Eigenart, Stellung und Schicksal des Verfassers noch nicht Bürgschaft genug sein sollten für die ernsthafte Absicht des von ihm ersonnenen Staatsromans, so überzeugt uns davon doch jedenfalls das meist freilich kaum genannte, wenig gekannte erste Buch desselben, das von recht emsthaften Dingen, von recht realen Ver­ hältnissen handelt. Ob man recht daran tue, die Diebe zu hängen, das ist die ganz prosaisch-nüchteme Frage, die hier erörtert und — ver­ neint wird. Denn was wird damit erreicht? Nichts, und zwar des­ wegen nichts, weil andere daran schuld sind, daß soviel gestohlen wird — andere Menschen und andere Verhältnisse. Andere Verhältnisse — jene bedenklichen agrarischen Zustände Englands, in denen der scharfe Verstand eines Morus damals schon eine große soziale Gefahr erkannte: an der Stelle lleinbäuerlicher Bewirtschaftung die großen Latifundien müßiger und verschwenderischer Herren, auf denen aus Äckem Weideland gemacht, Schafe gehalten und — die Bauern ausge­ trieben wurden. Hier in dem Elend dieser besitz- und arbeitslosen Klassen liegt der tiefste Grund für die Häufigkeit der Verbrechen; und ab­ geholfen wird diesem Schaden nicht durch die Strenge der Bestrafung, sondem nur durch die Veränderung dieser Zustände selbst, oder noch tiefer einschneidend — geholfen kann nur werden durch eine gründliche Ausfüllung der Kluft zwischen Arm und Reich, durch das Radikalmittel der Aufhebung des Privateigentums. Dieser kommunistische Gedanke der Gütergemeinschaft bildet sozusagen das Leitmotiv des ganzen, auf ihm baut sich jenes Phantasiegebäude auf, welches Morus im zweiten Buche seiner Schrift so anschaulich beschrieben hat, — utopistisch genug und doch selbst darin nicht ohne realen Hintergrund wie heute so damals in der Zeit der Bauemaufstände mit ihren oft recht weitgehenden sozialistischen und kommunistischen Programmen.

Das Reale und Bestehende ist kritisiert und zu leicht befunden; und nun wird der Staatsmann zum Dichter, nun führt uns Morus mit sich nach jener glückseligen Insel, wo seine kommunistische Forderung verwirklicht und infolge davon das größtmögliche Glück des Volkes er­ reicht ist. Utopia — wo liegt sie denn, die Insel mit der besten aller Staatsverfassungen? Der Name sagt es uns, es ist die Insel Nirgendwo und Nirgendheim. Kunde aber gibt uns von ihr Raphael Hythlodäus, ein zweiter Odysseus, der ja auch einst ein Ounc, ein Niemand ge­ wesen war, ein fingierter Begleiter jenes Amerigo Vespucci, dem der eben damals neu entdeckte Kontinent grundlos genug seinen Namen ver­ dankte. Amerika! Auch hier liegt eine Fülle von Realität, die sich in das Luftschloß des englischen Kanzlers einfügt: in eine neue Welt war den Menschen jener Zeit der Blick geöffnet worden, noch lag das meiste davon im Dunkel, aber aus demselben traten doch allmählich auch Länder und Staaten hervor, auf die der Begriff von Wilden, von Barbaren nicht mehr anzuwenden war, und die in ihrer Kultur weit ablagen von den Sitten und Einrichtungen des Europäers. Gold suchten die Scharen der Abenteurer, die sich über die neuen Gebiete ergossen; aber warum sollte ein ideal angelegter Mensch, der noch nicht einmal ein unhistorischer Schwärmer zu sein brauchte wie Rousseau, von diesen unbekannten Bölkem nicht auch noch anderes hoffen dürfen als Gold? das Bild eines Staatswesens zum Beispiel, wie seine Phantasie es sich ausmalte, wie seine politische Weisheit es sich träumte? Freilich Ideale existieren nirgends; darum bleibt es das Land Utopia; aber ob nicht andere Völker dem Ideal näher stehen als wir, wer konnte das in jenen Tagen einer hochgradigen Erregung, wo wie mit einem Zauberschlage neue Welten vor den erstaunten Blicken sich aufgetan, vorauswissen? wer es be­ streiten? Wenn so in diesen Roman vom Lande Mrgendwo die realste Gegen­ wart aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, der Zug nach dem Westen machtvoll und deutlich hereinragt, die Stimmung einer neuen Zeit und Welt, die im Gegensatz zu dem Weltflüchtigen, Weltabgewendeten des Mittelalters festen Fuß faßt und Besitz nimmt von der Erde als unserer definitiven Heimat und von ihren Weltteilen in Ost und West, so zeigt sich in dem Buche des Thomas Morus daneben noch eine andere Tendenz, eine andere-Realität jener Tage, die fast noch stärker, fast

Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia.

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noch unmittelbarer als jene erste gerade die feinsten und vomehmsten Geister der Zeit beherrscht und bewegt: es ist das Zeitalter der Renais­ sance, des Humanismus. Noch vor Amerika ist das klassische Altertum, ist Griechenland, diese Welt der Schönheit und der Freiheit, diese Welt der Ideen und Ideale neu entdeckt worden. Und griechisch sind denn auch schon die Namen unseres Buches — Utopia das Land, Hythlodäus der, der uns davon erzählt, weil er als vielgewanderter, weitgereister wohl kundig ist in solchem dichterischen Phantasiespiel, wie es sein Vorbild Odysseus war, an den uns Morus ausdrücklich denken heißt. Aber nicht bloß die Namen sind und klingen griechisch, auch der Inhalt ist klassisch. Plato ist schon genannt worden; mit ihm war Morus verttaut, und sein Staat ist das Vorbild für die Utopie des englischen Politikers." Das Griechentum also ist es, was auch diesem an ihm sich bildenden Geiste des sechzehnten Jahrhunderts solche Gedanken eingab, und der Boden, auf den er sich stellt, ist somit kein anderer als der der Renaissance. Man klagt gerade auf literarischem Gebiete diese Zeit vielfach an, daß sie nur in sklavischer Nachahmung der Alten sich gefallen habe, daß ihr so wenig Eigenes und. Originelles gelungen sei. An der Utopie des Morus sollte niemand die Originalität vermissen, obgleich platonische Gedankengänge den Einschlag des Gewebes bilden. Morus ist Humanist, ist Gräzist. Mehr noch als seinem Staats­ gebäude selbst sieht man dies der Grundlage an, auf die er es gestellt hat, seiner Moral. An Epikur erinnert diese und an dessen Lehre von der Lust, der Freude, dem Vergnügen als dem höchsten Gute des Men­ schen, oder noch unmittelbarer vielleicht an Demokrit und an seine Scheidung und Auslese der einzelnen Lüste und Güter des Daseins, ohne daß sich ein diretter Zusammenhang mit diesem großen Moralisten des klassischen Mtertums wird nachweisen lassen. In der Moral wurzelt der Staat: durch diesen Gedanken unterscheidet sich Morus wohl am entschiedensten von seinem Zeitgenossen Macchiavelli, von dem ein großer englischer Geschichtschreiber mit Recht geurteilt hat: „sein ganzes System sei von dem einzigen Fehler durchdrungen, daß er in seinem polittschen Entwürfe den Mitteln ein tteferes Nachdenken gewidmet habe als den Zwecken." Bei Morus fehlen die Zwecke nicht. Die Aufgabe des Staates ist es, den Menschen glücklich zu machen, die Summe inbitri« duellen Wohlseins zu vermehren. Aber Glück, Lust, Wohlsein — es

gibt gar mancherlei Arten und Formen davon; bald sind es die einzelnen sinnlichen Vergnügungen voll Aufregung und Bewegung, bald ist es die stetig ruhige Lust körperlichen Wohlbehagens und körperlicher Ge­ sundheit, bald endlich sind es geistige Genüsse, wie sie Tugend und gutes Gewissen oder die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft den Menschen gewähren können. Da gilt es, die richtige Auswahl zu treffen, das Medere und Augenblickliche daran zu geben, um das Höhere und Dauernde zu gewinnen, und zu verzichten auf Einzelnes, um das Ganze nicht zu verlieren. Und in dem Dienst dieser auf vernünftiger Wahl beruhenden Glückseligkeit steht auch der Staat von Utopia: sie soll er fördern, mög­ lichst allen möglichst große, möglichst dauemde, möglichst reine Lust schaffen — wie modem das doch schon klingt? wie nahe das an Benthams Theorie heranstreift? Und in der Tat, revolutionär wie dieser, ist von demselben Wohlfahrtsprinzip aus auch Thomas Morus, und ebenso liebenswürdig inkonsequent, wenn er den Menschen preist, der sich irgendeinen Genuß versagt, um andere desselben teilhaftig werden zu lassen. Revolutionär — denn glücklich macht nicht Adel und Ehre, nicht Titel und Rang, nicht Hab und Gut, nicht Gold und Geld; deshalb ist das alles auch gestrichen von der Gütertafel Utopiens, deshalb ist vor allem verzichtet auf Privateigentum und an seine Stelle der kommuni­ stische Staat gesetzt. Alsbald zeigen sich aber auch die bekannten Konse­ quenzen dieses kommunistischen Jdealzustandes: die Aufhebung persön­ licher und individueller Freiheit, die Zwangsverteilung und Organisa­ tion der Arbeit im Dienste des Staates, der Normalarbeitstag von allerdings nur sechs Stunden und die Nötigung zu ganz robuster körper­ licher Arbeit für Männer und Frauen ohne Unterschied; nur Studenten sind davon ausgenommen. Wenn aber Morus schon in dieser Wert­ schätzung der ganz banausischen Arbeit des Landbaus nicht nur, sondern auch des Handwerks von Plato abweicht, so folgt er ihm noch viel weniger in einem andern: an der Ehe und Familie als der Grundlage des Staates hat er festgehalten, selbst auf die Gefahr hin, daß es inkonsequent sein sollte, den Privatbesitz mit Plato zu vemeinen und die Familie im Widerspruch mit ihm zu bejahen. Und dennoch steht er auch hierin Plato nicht so fern, als es auf den ersten Blick scheinen möchte: in Utopia hat die Frau doch eine wesentlich andere Stellung, als es sonst wohl

Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia.

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üblich war in jener Zeit und noch vielmehr im Mttelalter unmittelbar vor jener Zeit; sie nimmt teil an allen Arbeiten des Mannes, teil an seinen politischen Rechten wie an seinen Pflichten, bekleidet das Priester­ amt, das Lehramt so gut wie er und folgt ihm sogar hinaus ins Feld, weniger um mitzukämpfen, als um mutig an seine Seite zu treten im Falle der Not und ihm ad oculos zu demonstrieren, für wen er kämpft. Schwerlich war es aber bloß der Vorgang und Einfluß Platons, schwer­ lich bloß humanistische Ideen und Beispiele von Frauenemanzipation, was Thomas Morus den Frauen diese Stellung hat anweisen lassen, sondern hier wirkten vor allem Gedanken an das eigene Haus, an Selbst­ geübtes und Selbstgetanes mit. In seiner Familie, seiner „Hausschule", wie er sie nannte, hat Morus stets das höchste und reinste Glück gefunden, hier suchte er jene volle Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung der Frau zur Wahrheit zu machen, und fand sich dadurch auch wirklich hoch beglückt und reich belohnt. Freilich nicht von seiten seiner Gattin, die zu diesem Sokrates der Renaissance etwa dieselbe Stellung einnimmt, wie zu dem griechischen Sokrates die Frau mit dem typisch gewordenen Namen; wohl aber in seiner Tochter Margaretha, die er zur gelehrten Humanistin erzogen hat und die darum doch nicht aufhörte eine Frau zu sein voll Liebe und zärtlichster Fürsorge, die dadurch nichts einbüßte an feinstem Empfinden, an edelster Weiblichkeit. Alles das aber — so seltsam, so revolutionär es klang, es mochte seinen Zeitgenossen doch fast wie nebensächlich erscheinen im Vergleich zum Paradoxesten alles Paradoxen in diesem utopistischen Staatswesen, und das war für sie die religiöse Seite desselben. Zu welcher Religion es sich bekennt, das glückliche Volk von Utopia? Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die einen verehren Sonne, Mond und Sterne, die andern vergöttern Menschen, Heroen der Urzeit, und wieder andere beten zu einem das Weltall mit seiner Allmacht füllenden höchsten Wesen, das sie Vater nennen; und in letzter Zeit, erzählt Hythlodäus, sind viele von ihnen auch Christen geworden. So herrscht in diesem Lande Nirgendwo die vollständigste Religionsfreiheit, absolute Toleranz. Heiden, Christen, philosophische Monotheisten — sie alle wohnen friedlich bei­ sammen und vereinigen sich im Glauben an eine sittliche Weltordnung, an die Unsterblichkeit der Seele und an eine Vergeltung nach dem Tode.

Und wie ernst sie es mit dieser Religionsfteiheit nehmen, das zeigt der Vorgang mit einem jener neubekehrten Christen, welcher, wie das Neu­ bekehrten wohl zu begegnen Pflegt, fanatisch die Andersgläubigen ver­ dammte und verfluchte: ihn haben die Utopier verbannt, nicht weil er ihre Religion mißachtet, sondern weil er ihren politischen Frieden gestört hat. Angesichts dieser weitgehenden Duldung mochte es den Menschen jener Zeit kaum als eine Einschränkung derselben erscheinen, wenn Morus, hierin ein Vorläufer Rousseaus, wenigstens den Glauben an die Unsterb­ lichkeit, an eine Vorsehung und jenseitige Vergeltung für notwendig erklärte und ihn als Bedingung und Voraussetzung eines geachteten bürgerlichen Daseins ansah. Denn was wollte dieses geforderte Glau­ bensminimum damals — zwei Jahre vor dem Auftreten Luthers — be­ sagen angesichts jener von Morus gepriesenen Geistesfreiheit aller posi­ tiven GottesverehWNg gegenüber? besagen angesichts der im Munde eines strenggläubigen Katholiken so ketzerischen Gutheißung der Sitte, daß die Priester vom Volke gewählt werden? oder gar angesichts der Be­ merkung, daß in Utopia diejenigen, welche asketisch leben, zwar für heiliger, die andern aber, die essen und trinken, freien und sich freien lassen, für klüger gehalten werden? Der Mann aber, der das schrieb und der dabei so anmutig zu scherzen und zu spielen weiß, er hat sein Lebenlang ein härenes Bußgewand auf bloßem Leibe getragen, und nur seine getreue Margarethe hat um diese Selbstpeinigungen des Vaters gewußt. Noch habe ich nichts von der Lebensweise der Utopier, nichts von hrer Staatsverfassung im einzelnen gesagt. Wohl ist auch hier manches interessant genug: zu sehen, wie ein Mann, der im Staatsrat des des­ potischen Königs Heinrich VIII. gesessen, eine Republik, nein eine Monarchie konstruiert, in der der Fürst, obwohl aus der Wahl des Volkes hervorgegangen, kaum soviel zu sagen hat, als der englische König in den Zeiten des ausgeprägtesten Parlamentarismus; wie ein Mann, der lange Zeit einer der höchsten Richter Englands gewesen ist, einen Staat ausdenkt, in dem nicht nur Prozesse selten, sondern auch die Gesetze so einfach und klar gefaßt sind, daß für Rechtsstreitigkeiten kein Raum übrig bleibt und der Stand der Advokaten entbehrlich wird. Und es ist charakteristisch, wie gering Morus auch in diesem Lande voll Tugend

Thomas Morus und seine Schrift von der Insel Utopia.

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und guter Sitte, in einem auf absoluter Gleichheit aller Angehörigen sich aufbauenden Staate die öffentliche Meinung wertet, die er mit einem kurzen Federstrich zu gänzlichem Schweigen verurteilt. Doch alle solche Einzelheiten erscheinen nebensächlich, auch in den Augen des Morus selbst, gegenüber jenen beiden wichtigsten Punkten, der Aufhebung des Privatbesitzes und dem Gmndsatz religiöser Duldung. Um dieser Gedanken willen ist der Staatsroman, der Gesellschaftsroman Utopia geschrieben, um ihretwillen ist Morus unter die Dichter gegangen. Aber aus dem Dichter von 1515 ist doch in vielen Stücken im Lauf der Jahrhunderte ein Prophet geworden; der Staat der Neuzeit ist der Utopie des Thomas Morus erheblich ähnlicher, als es der Staat Hein­ richs VIII. gewesen war. Freilich nicht durchweg. Durch zweierlei unterscheidet sich unser moderner, unterscheidet sich vor allem der deutsche Staat aufs energischste von jener Schilderung Utopiens, und wir freuen uns dieses Unterschieds: noch immer ist einer der Grundpfeiler unseres Staats- und Gesellschaftslebens neben der Familie das Privateigentum, dessen Segen wir nicht missen oder vertauschen möchten mit jenem Glück, das uns Morus von der Aufhebung desselben verspricht. Und an der Spitze unseres Reiches steht nicht jener gewählte Schattenfürst Utopiens, sondern die starke Erbmonarchie bildet als ein Fels von Erz den Mittelpunkt unseres Staates, um den sich über alle Gegensätze und Parteiungen hinweg ein ganzes Volk scharen kann in Treue und Ver­ ehrung. Aber in einem, was ihm die Hauptsache war, hat Morus doch Recht behalten: die soziale Frage ist nicht zu lösen mit Negationen, sie löst nur ein positives Eintreten des Staates zugunsten der unteren Klassen, für ihren Schutz und ihr Wohl, für ihr Recht auf Arbeit und für die Möglichkeit ihrer Existenz auch in kranken und in alten Tagen. An eine solche Lösung dieser schweren, ernsten Frage hat unser deutscher Staat und seine starke Monarchie die Hand gelegt, hierin hat er allen Völkern voran die Führung übernommen. Auf diese Bahn hat Kaiser Wichelm I. mit jener berühmten Botschaft vom 17. November 1881 eingelenkt und damit den Weg gezeigt, auf dem die positive Lösung gefunden werden kann, gesucht werden muß. Und das andere, was Morus am Herzen lag, die religiöse Toleranz, die Freiheit des Glaubens, des Denkens, des Gewissens, auch sie ist längst schon ausgesprochen wor­ den vom preußischen Königsthron herab als Recht des Volkes, als Pflicht

des Fürsten, sie zu schützen und zu wahren und jeden selig werden zu lassen nach seiner Fasson. In diese große Erbschaft einer ruhmreichen Vergangenheit ist Kaiser Wilhelm II. eingetreten, eingetreten mit dem vollen Verständnis für diese großen Fragen, mit vollem Herzen für diese Lösung heischenden Aufgaben und Pflichten. Wahren will er die Rechte seiner Krone, fest und unerschütterlich soll er stehenbleiben, der Fels der preußischen Monarchie; fortführen will er als Helfer der Armen und Bedrängten das seit Jahren begonnene Werk sozialer Reformen und Gesetze, und so den schönen Gedanken werktätiger Humanität und Nächstenliebe zu Leben und Wahrheit werden lassen in Staat und Volk; und schützen will er die Gewissen von uns allen, wes Glaubens, wes Geistes Kind wir sind, schützen also auch die Freiheit des Gedankens, wofür wir, die wir im Dienste der Wissenschaft stehen, ihm vor allem zu ehrfurchtsvollstem Danke uns verpflichtet fühlen; denn das allein ist die Luft, in der der Baum des Wissens gedeihen kann. Mit so guten Gedanken und mit der Zuversicht des Pflichtgefühls hat sich unser Kaiser in den Dienst des Staats gestellt, wie er selbst, ein Wort seines großen Vorfahren auf dem Throne Preußens aufnehmend, es ausgesprochen hat: als erster Diener seines Staates. Die edelsten Werke des Friedens also sind es, die zu fördern er seinem Volke ver­ heißen hat. Zu Friedenswerken aber braucht es Friedenszeiten. Daß uns solche geschenkt und erhalten bleiben, das liegt ja nicht in der Hand des Deutschen Reiches allein. Und doch, der Bund, den Deutschland mit zwei großen Nachbarreichen geschlossen hat, und den zu befestigen unseres Kaisers erste Sorge gewesen ist, er ist ein so mächtiges Bollwerk des Friedens, und das Schwert, das immer neu geschliffen, mit fester Hand von ihm umfaßt wird, das deutsche Heer, dieser Stolz des ganzen deutschen Volkes, es ist eine so schneidige Waffe gegen jeden Versuch, auch nur einen Fuß breit von dem Boden uns zu entreißen, der uns ge­ hört, daß wir den erhabenen Friedensworten, die vor wenigen Tagen bei Eröffnung des preußischen Landtags gesprochen worden sind, mit zuver­ sichtlicher Freude lauschen dürfen. Aber daß all das Große, was unser Kaiser auszuführen sich vorge­ nommen hat, ihm auch wirklich gelinge, dazu bedarf er unser aller, dazu bedarf es jedes einzelnen von uns an seinem Ort. Und darum, daß

jeder von uns an dem Platze, auf den er gestellt ist oder in Zukunft ge­ stellt sein wird, seine Pflicht erfülle, das, Kommilitonen, sei das Ge­ löbnis, das auch wir heute alle tun wollen! So erziehen wir uns selbst von Generation zu Generation immer besser, immer vollkommener zu jener auf sittlichem Grunde ruhenden staatlichen Gesinnung, welche die beste Gabe ist, die wir heute und allezeit unserem Kaiser und Herm dar­ zubringen vermögen!

Luthers Liebe Kollegen und Schüler! Hochverehrte Anwesende! Den heutigen Freuden- und Ehrentag des deutschen Volkes an unserm Teile mitzufeiern, haben wir, die Angehörigen des protestan­ tischen Gymnasiums der Stadt Straßburg, guten Grund und volles Recht. Denn kaum hatte Luther im Jahre 1524 „an die Bürgermeister und Ratsherren der Städte in deutschen Landen" seinen Mahnruf er­ gehen lassen, „daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollten," so nahm sich die Geistlichkeit und der Rat auch unserer Stadt der Sache ernstlich an, und an die Spitze der Bewegung, die Land auf Land ab in deutschen Landen Volls- und Laienschulen ins Leben rief und den Grundstein legte zu Straßburgs hoher Schule, trat Jakob Sturm von Sturmeck, der besten einer in jener Zeit, wo es „eine Lust war zu leben". Und durch ihn wurde wenige Jahre nachher Johannes Sturm als erster Rektor unserer Anstalt berufen, und diese im Mai 1538 eröffnet, neben dem Mrnberger Gymnasium eine der Hauptstätten protestantischer Bildung in Süddeutschland, wo nach Luthers Forderung die alten Sprachen getrieben werden sollten, als „die Scheide, darinnen das Messer des Geistes stecket, als der Schrein, darinnen man dies Kleinod traget, als das Gefäß, darinnen man diesen Trank fasset, als die Kemnot, darinnen diese Speise lieget". Aus Luthers großem Werk ist somit auch unsere Anstalt herausgewachsen und ihre Glieder haben dämm wie ge­ sagt guten Grund, seinen 400jährigen Geburtstag mitzufeiem, mit teil­ zunehmen an der Begeisterung, die heute unser Volk mit kräftigem Flügelschlag durchweht, und mit allen anderen dankbar aufzusehen ') Festrede bei der Lutherfeier des protestantischen Gymnasiums zu Straß­ burg am 10. November 1883. Gedruckt bei I. H. Ed. Heitz, Straßburg 1883.

zu dem großen Reformator, der heute vor 400 Jahren in dem un­ scheinbaren Bauern- und Bürgerhause zu Eisleben geboren ward. So dankbar aber gerade auch wir dem Manne zu sein haben, so nahe es also läge, die Bedeutung der Reformation gerade auch für unfern engsten Kreis hervorzuheben, so meine ich dürfen wir das heute doch nicht ausschließlich tun: in wenigen Jahren wird sich hierzu Gelegenheit bieten, wenn wir unser Fest, den 350jährigen Geburtstag des protestan­ tischen Gymnasiums feiern. Heute gilt es vielmehr dem ganzen Mann, nicht nur dem, was er uns, sondem dem, was er seinem ganzen Volke, was er der ganzen Welt geworden und gewesen ist. Und da freilich will die kurze Spanne Zeit, die unserer Feier zugemessen ist, und will meine Kraft nicht ausreichen, das alles in einem Bild mit wenigen Strichen zusammenzudrängen. Der Mann ist dazu viel zu groß, seine Mrkungen sind dazu viel zu gewaltig, viel zu umfassend, 400 Jahre Weltgeschichte lassen sich nicht in den engen Rahmen einer Rede hinein­ spannen. Und doch ist es so: der kecke Augustinermönch, der am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablaß an der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug, steht damit an dem Anfang einer neuen welt­ geschichtlichen Epoche und hat, wie kaum ein anderer vor und nach ihm, das altbekannte Wort zur Wahrheit gemacht, daß alles Große in der Weltgeschichte immer nur von einzelnen ausgegangen ist. Freilich nicht in der Weise, daß er mit seiner einen Kraft all das neue aus dem nichts ins Leben gerufen hätte, sondern so, daß er alle die Strahlen des Lichts, die in Kirche, Volk und Staat, in Wissenschaft und Kunst vor chm und neben ihm das Dunkel der dahinsterbenden mittelalterlichen Welt erleuchteten, in einem Punkte sammelte, um sie kräftiger und heller aus­ strahlen und zu neuem gesunden Leben der Menschheit leuchten zu lassen. Schon vor ihm hatte es reformatorische Männer gegeben, die auf den Konzilien ihre «Stimme gegen die entartete Kirche erhoben oder in der Stille tiefinnerlicher Mystik sich des rechten Weges wohl bewußt ge­ blieben waren; schon vor ihm hatte der Humanismus Sturm gelaufen gegen scholastische Wissenschaft, die keine Wissenschaft, gegen mönchische Bildung, die keine Bildung mehr war und hatte auf allen Gebieten des Lebens, des Wissens, des künstlerischen «Schaffens dem Individuum das Recht der Selbständigkeit zurückzugeben gesucht; schon vor ihm war in der Buchdruckerkunst das mächtige Mittel gefunden, um dem freien 2*

Gedanken Eingang zu schaffen bei allem Volk und seine gewaltsame Unterdrückung hinfort unmöglich zu machen für alle Zeiten; und endlich war schon vor seinem öffentlichen Auftreten Amerika entdeckt und da­ mit der Menschheit eine neue Welt erschlossen worden, die den Horizont erweitern und den Kreis des Wissens ins Unendliche ausdehnen mußte. Aber gerade in einem Augenblick von solch weltgeschichtlicher Weite braucht es eines Mannes, der das Nächstliegende erfaßt, die Strahlen alle, die in ihrer Vereinzelung höchstens nur die Finsternis zur Dämmerung abschwächen, nicht sie ganz vertreiben können, in einen Brennpunkt vereinigt und nachdem er so das Zentrum der Bewegung gefunden, dort kühnen Mutes sich hinstellt und vor Gott und Welt, vor Kaiser und Reich bezeugt: „Hier steh ich, ich kann nicht anders, Gott helf mir. Amen!" Und dieser zentrale Punkt, um den sich in diesem Augenblick alles sammeln mußte, nicht um darin unter- und aufzugehen, sondern um neugestärkt und gekräftigt davon ausgehen zu können, das war die reli­ giöse Frage. Seit Jahrhunderten hatte das Papsttum die einzelnen geknechtet und die Gewissen gebunden in Menschensatzungen und Men­ schenleistungen; und es hatte die Völker und vor allem das deutsche Volk geknebelt und verstrickt in die Netze seiner weltlichen Herrschsucht und seiner irdischen Habgier. Was halfen da Konzilien, wenn sie sich schließlich doch wieder beugen mußten vor dem Stuhle Petri? was half die humanistische Wissenschaft, wenn sie nicht rütteln durfte an dem Dogma der Kirche? was half die Erfindung Gutenbergs, wenn sie sich scheuen mußte vor dem Bannstrahl, der ihre freiesten und kühnsten Er­ zeugnisse in Flammen auf- und untergehen ließ? ja, was half Amerika und Indien, wenn ihre Schätze zuletzt doch nur Rom und seinen sitten­ losen Priestern, der spanischen Inquisition, den Klöstern und Orden zu gute kommen sollten? Und daher mußte erst das lösende Wort gefunden und gesprochen, mußte erst das neue und doch uralte Evangelium der menschlichen Freiheit wieder der Welt verkündigt werden, der Ruf er­ schallen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan"; und den Völkern und vor allem dem deutschen Volke mußte gesagt werden, daß es hinfort frei sei von römischer Willkür und päpstlichen Machtsprüchen, frei von einer Fremdherrschaft des Geistes, die es doch auf ganz andere irdische Dinge und nicht auf den Geist ab-

gesehen habe. Und darum, wenn der Begriff der Freiheit so oft schon bald von politischer bald von religiöser bald von philosophischer Seite als ein gefährlicher oder doch als ein inhaltsleerer und negativer Gedanke hat gebrandmarkt werden wollen, hier vor der Gestalt des Ahnen Re­ formators, der sich auf die Freiheit seines Gewissens berief gegen eine Welt voll Teufel, gegen Papst und Konzil, gegen Kaiser und Reichstag, hier muß solche Kritik verstummen, hier muß anerkannt werden, daß dieser helle Ruf der Geistes- und Gewissensfreiheit fruchtbarer, nütz­ licher, inhaltsvoller gewesen ist, als alle kirchlichen Satzungen, als alle politischen Programme, als alle philosophischen Systeme. Und was Luther mit seiner freien, Ahnen Geistes- und Mannestat erreichte, das war zugleich eine Tat des vielgerühmten und vielge­ schmähten deutschen Idealismus. Er, der oft so derbe Realist mit dem kindlich naiven Gemüte war durchglüht von der Flamme des reinsten, lautersten Idealismus: während die Kirche den Glauben an den Glauben verloren und ihn dämm in werktätigem Bezeigen hatte sichtbar machen und dadurch hatte ersetzen wollen, half Luther dieser vertrauensvollen, selbstlosen Hingabe des Menschen, diesem Verzicht auf eigene Kraft und Würdigkeit wieder zu seinem Rechte und fühlte sich in diesem seinem recht­ fertigenden Glauben so selig gewiß, so felsenfest, so siegessicher, daß ihn nicht eigene Sünde und Schwäche mehr bedenklich machen, nicht Hölle und Teufel mehr schrecken, nicht eigenes Verdienst und selbsterworbene Gerechtigkeit mehr locken konnten. Während die Kirche dem matten Herzschlag ihres Glaubens durch Werk und Verdienst, durch Pracht und Pomp, durch äußere materiell-realistische Reizmittel aller Art aufhelfen wollte, warf Luther das alles bei Seite und zog sich in der Stärke seines echt deutschen Idealismus zurück auf sich und auf seinen Gott, den er nicht erst durch fremde Vermittlung zu suchen brauchte, sondem dessen er in der eigenen Bmst, im eigenen Glauben gewiß war. So war die Religion durch ihn dem Reich der Sinne entzogen und der Seite des Menschen zurückgegeben, der sie angehört, dem Gemüt. Aber dieser Glaube brauchte einen Anker, dieser Idealismus brauchte den Realismus der Tatsachen, wenn er nicht ins Weite schweifen, wenn er nicht, was Luther am meisten fürchtete, den Schwarmgeistem und ihrem unklaren SArm und Drang anheimfallen sollte. Diesen Schild und Schirm, diesen festen Ankergrund seines Glaubens fand er am Worte

der Schrift. An sie glaubte Luther, wo es darauf ankam, bis auf das einzelne Wort hinaus; aber — und das schützte ihn auf der andem Seite gegen toten und knechtischen Buchstabenglauben, der mit der Freiheit eines Christenmenschen nicht vereinbar wäre — aber er glaubte an sie, „nicht weil die Kirche es ihn hieß, sondem weil sein innerer Wahrheits­ sinn, den er als Zeugnis des heiligen Geistes empfand, ihn der Wahrheit und Göttlichkeit des Schriftinhalts versicherte." Und darum steht dieses energische Festhalten an der Schrift und ihrem Wort der protestantischen Freiheit nicht hemmend und feindselig gegenüber: so gewiß Luther selbst, pochend auf das Recht der eigenen Überzeugung, Kritik übte an ganzen Büchem des Neuen Testaments, so gewiß ist dem Protestantis­ mus das Recht der freien Forschung und Kritik auch über Luther hinaus gewahrt, und nicht die sind seine treuesten Schüler, die am Buchstaben kleben und diesem das Opfer des eigenen Denkens gebracht wissen wollen, sondem die, welche in ernstem Wahrheitsstreben nur da glauben, wo sich ihnen „der Beweis des Geistes und der Kraft" ankündigt. Für den Reformator aber und sein Werk war dieser Anker des Worts eine Schutz­ wehr gegen Überstürzung und Maßlosigkeit, eine Gewähr dafür, daß die Tugend des Maßhaltens, die göttliche Sophrosyne auch hier das Steuer­ ruder zu führen habe. Gerade hier erschließt sich nun auch die gewaltige Segensquelle, die in reicher Fülle von Luther aus nicht nur über das religiöse, sondem über das gesamte geistige Leben des deutschen Volkes sich ergossen hat. Wenn die Freiheit des Christenmenschen und das Recht der eigenen Überzeugung, wenn die Innerlichkeit und der Idealismus des deutschen Gemüts und der daraus stammende Glaube, und wenn endlich die Bemhigung beim Wort der Schrift, wo er all das fand, wenn diese drei Dinge das Wesen der lutherischen Reformation ausmachen, so schloß sie sich zu­ nächst in diesem ihrem letzten Stück aufs engste zusammen mit ihrem un­ mittelbaren Vorläufer, dem Humanismus. In seiner schon genannten Schrift an die Bürgermeister und Ratsherm sagt Luther: „Damm hat Gott auch Griechenland dem Türken gegeben, auf daß die Griechen ver­ jaget und zerstreuet, die griechische Sprache ausbrächten, und ein An­ fang würden, auch andere Sprachen mit zu lernen; so lieb nun, als uns das Evangelium ist, so hart lasset uns über den Sprachen halten." Die griechische Sprache, dieser Kem und Stem unserer Gymnasien, war

wie heute so damals eine Stütze, an der sich der deutsche Idealismus, an der sich alles, was in der besten Bedeutung des Worts freisinnig ist, wieder emporrankte und emporarbeitete; und hier trafen die sieten Geister der Humanisten, eines Reuchlin und Hutten, mit der freien Seele Luthers zusammen. Und aus jenem Mahnruf Luthers ging dann die deutsche Schule hervor — die Gelehrtenschule zunächst, die protestanti­ schen Gymnasien, die darum nie vergessen dürfen, daß die griechische Sprache es ist, die ihnen Luther als köstlichstes Patengeschenk in die Wiege gelegt hat. Aber'noch mehr. Gelehrtenschulen gab es schon vorher, Klosterschulen, in denen künftige Kleriker erzogen oder auch Söhne des Wels recht und schlecht, wie's eben kam, gebildet wurden; für sie handelte es sich nur darum, in die alten Formen neuen Geist zu gießen und sie auch den Söhnen der Bürger zur Erziehung fürs „zeit­ liche Regiment" und für die Aufgaben des „weltlichen" Lebens zugäng­ lich zu machen, dem erst Luther seine volle Ehre zurückgegeben hat. Aber Luther war, wie er selbst sagt, „eines Bauern Sohn; sein Vater, Großvater, Ahnherr sind rechte Bauem gewest", darum hatte er — und hier schließen sich Idealismus und Realismus bei ihm am vollkom­ mensten zusammen — ein so warmes Herz fürs Voll, aus dem er hervor­ gegangen war. Wenn er nach Schulen rief, so meinte er nicht in erster Linie Klosterschulen und Ritterakademien, sondern Bürger- und Bauem-, rechte Volksschulen für Hoch und Niedrig, für Arm und Reich, für Knaben und Mädchen. „Sollte nicht", so fragte er, „billig ein jeglicher Christenmensch bei seinem neunt und zehnten Jahre wissen das ganze Evangelium, da sein Namen und Leben innen stehet?" Nur so konnte ja das deutsche Voll auch in seinem Glauben frei und selbständig werden und aufhören, die Kirche für sich glauben zu lassen. So ist Luther der große Reformator auch der deutschen Schule geworden, und wohl ihr, daß ein so feiner und humanistisch gebildeter Mann wie Melanchthon als „Parastates" (Helfer) ihm zur Seite stand, der als ein rechter praeceptor Germaniae in seinem Geiste an diesem großen Werke mitarbeitete. Aber wenn es für viele genug sein mußte, daß sie den kleinen Kate­ chismus Luthers kennen lernten, so sollte doch auch die Quelle, woraus dieser geschöpft war, die Bibel dem ganzen Volk zugänglich, es sollte jedem, auch dem Ungelehrten die Möglichkeit der freien Forschung und das Recht der eigenen Prüfung gegeben werden, und dazu bedurfte

es der deutschen Bibel. Ich rede hier nicht von dem Segen und Troste, den ihre Sprüche Luther selbst und mancher ringenden und gequälten Menschenseele nach ihm gespendet haben bis auf den heutigen Tag, sondem von dem Segen, den dieses Meisterwerk deutscher Übersetzungs­ kunst unserer Sprache und damit unserem Volke gebracht hat. Wenn das deutsche Volk durch die Reformation zwar nicht neu gespalten wor­ den ist, denn gespalten war es längst schon nur zu sehr, aber doch einen neuen Anlaß zu Spaltung und Entzweiung bekommen hat, weil ein spanischer Kaiser ohne Verständnis für deutschen Idealismus ihm die Einheit nicht gab, die damals näher lag als je zuvor, so hat ihm dafür die lutherische Bibelübersetzung die Einheit der Sprache gegeben, die damals noch nicht vorhanden war. Und in ihr die Einheit des ganzen geistigen Lebens als ein unzerreißbares Band zwischen Nord und Süd, als ein Band, das erst die Geister binden und im achtzehnten Jahrhundert eine ideale, geistig geeinte Nation schaffen mußte, ehe es im neunzehnten gelingen konnte, die geistig eins gewordenen Stämme auch politisch zur äußeren Einigung zu führen. Und noch mehr als das: es gibt keinen gefährlicheren Riß, der durch ein Volk gehen kann, als der zwischen Gebildeten und Ungebildeten; wenn diese beiden Klassen und Stände sich nicht mehr verstehen, menn die Sprache der ersteren dem Volke immer unverständlicher wird, wenn dieses um so tiefer sinkt, je höher jene empor­ zusteigen scheinen, so ist es um die geistige Gesundheit einer Nation ge­ schehen und an die Tore ihres Hauses pocht der Engel des Todes. Daß das bei uns nicht so ist, daß wir nicht aufhören uns gegenseitig zu ver­ stehen, das verdanken wir vor allem diesem Buche der Bücher, das Luther, dieser rechte Volksmann, zu einem rechten Volksbuch gemacht hat. So lange wir Gebildeten unsere Gedanken in die einfachen Luther­ worte zu kleiden und sei es auch nur in der Form der Vorstellung in sie zu kleiden vermögen, so lange wird auch der Ungebildetste nicht aufhören, auf unsere Stimme zu hören; und so lange das Volk seinen Gefühlen und Gedanken in den erhabenen Lutherworten Ausdruck, wenn auch oft nur halbverstandenen Ausdruck zu geben vermag, so lange werden wir Fühlung mit ihm behalten, weil ihm mit der Form auch der gute Geist des lutherischen Gemüts, die Herrlichkeit seines kindlichen Idealismus nicht ganz verloren gehen kann. Wer aber so erfüllt war von der Schönheit seiner Muttersprache,

wem seine lieben deutschen Worte so „genugsam durch alle Sinne in das Herz drangen und klangen", wer ein so feines Gefühl hatte für die Erzeugnisse einer fremden Sprache und für die Poesie eines fremden Volkes, und wem, als Schriftsteller und Redner, die Herrschaft über das Wort mit so wunderbarer Gewalt zu Gebot stand, der mußte die tiefsten und besten und heiligsten Gedanken, die zartesten Empfindungen seines reichen Jnnem auch ausströmen lassen in die hellen Töne poeti­ scher Begeisterung. Es ist, als ob die sächsische Nachtigall dort oben auf den laubumkränzten Höhen der Wartburg den liederreichen Stimmen der Vergangenheit gelauscht hätte; an Walther von der Vogelweide ge­ mahnen uns die Töne, die dieser erste protestantische Liederdichter ange­ schlagen hat; so kräftig, kühn und stark, so triumphierend im Bewußtsein einer guten Sache, so groß und klein, so stolz und demütig zugleich klingt jenes herrlichste von allen seinen Liedern: „Ein' feste Burg ist unser Gott", und wo immer „ein tapferer Mensch sich mit dem Bewußtsein einer guten und großen Sache gegen Anfechtung wappnet", da kann er nachfühlen, was Luther damals gefühlt hat, weil es so tief und echt menschlich gefühlt war. Wohl ist auf diesen poetischen Aufschwung der Lutherzeit nicht sofort eine neue Blüteperiode der deutschen Dicht­ kunst gefolgt; wir wissen, wie Hader und Streit im Jnnem, wie schlei­ chende Arglist von außen der protestantischen Sache und der ersten flammenden Begeisterung des Volkes so rasch das Herzblatt ausgebrochen haben. Aber als 200 und mehr Jahre später die deutsche Poesie aus langem tiefem Schlafe zu neuem Leben erwachte, da waren es doch die wenngleich anders gearteten religiösen Töne, die zuerst wieder an­ geschlagen wurden: in Klopstocks Messias knüpft die deutsche Poesie und Literatur des achtzehnten Jahrhunderts an die protestantische Innerlichkeit und an den reformatorischen Idealismus des sechzehnten Jahrhunderts an, und es war doch kein anderer als der protestantische Geist, der nun auch alsbald zeigen konnte, was er in freier Entfaltung seiner Kraft auf weltlichem und rein menschlichem Boden leisten könne. Hatte noch Herder, der feinfühlige Sammler der Stimmen der Völker in Siebern, direkt an Luther und seine Vorliebe für den Psalter und sein Verständnis für den Geist der hebräischen Poesie erinnert, so dürfen wir ja auch bei den andem nur fragen: ob Lessings Nathan auf katho­ lischem Boden auch nur denkbar gewesen? ob nicht gerade deswegen

Goethe in seiner Iphigenie den Emipides soweit hinter sich gelassen hat, weil er an die Stelle einer katholisierenden die protestantische Moral der Innerlichkeit setzt? ob Schillers freiheitatmende Dichtungen, ob sein Marquis Posa, der Gedankenfreiheit von einem Philipp II. fordert, die Schöpfung eines katholischen Dichters hätten sein können? Ja selbst die Romantiker mußten erst katholisch werden, nachdem sie zuvor schon als Protestanten ihr Bestes gegeben hatten. Das, verehrte Anwesende, istnicht etwa konfessionelle Selbstgerechtig­ keit und engherziger Eigendünkel; denn wir wissen, daß das Beste und Herrlichste an allen diesen Männern die Gedanken einer reinen sieten Menschlichkeit, einer schönen, von Vorurteilen nicht beengten Humanität gewesen ist, und daß es von Luther ab noch einmal zweier Jahrhunderte bedurft hat, bis diese Höhe erklommen war. Und wir wissen weiter, daß diese Höhe nicht mühelos erstiegen wurde, daß das nicht etwa nur die leichtgewonnenen Früchte einer rasch verfliegenden Begeisterung waren. Me die Kunst aus dem mütterlichen Schoß der Kirche entlassen, wo sie wohlgeborgen soviel Schönes geschaffen hatte, nicht ohne Mißgriffe und Jrrgänge hinfort für sich allein dem Ziel der rein menschlichen Schönheit nachzustreben hatte, so hatte die Reformation im Bunde mit dem Humanismus dem Denken seine Freiheit zurückgegeben und ihm damit die Pflicht auferlegt, hinfort rast- und ruhelos seine eigenen Bahnen zu suchen und zu finden. Und alsbald hatten denn auch Idealis­ mus und Realismus sich ans Werk gemacht, ihre Bauhütten aufgeschlagen und an der Stelle mittelalterlicher Dome von Stein die kühnen himmel­ anstrebenden Systeme der Philosophie aufgeführt und, damit diese nicht zu luftig dastünden, dazu den soliden Unterbau des empirischen Wissens geschaffen. Kants kategorischer Imperativ der Pflicht — was ist er anders als in neuer Form die alte deutsche Innerlichkeit, der Idealismus der Sittlichkeit, wie ihn Luther zuvor schon in die religiöse Form des Glaubens gegossen hatte? und die Befreiung vom mißverstandenen Aristoteles der Scholastik, dem Luther so gerne „die trügerische Larve hätte abreißen" mögen, um in ihm die ganze mittelalterliche Mssenschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern, wer anders hat sie endgültig voll­ zogen, als die Naturwissenschaft der letzten hundert Jahre? Ich meine, eine solche Auffassung des Lutherischen Werkes schütze uns zugleich auch vor einer falschen Überschätzung des Mannes, die heute

jedem, der den Gedanken seines Volkes über ihn an seinem Teil Aus­ druck geben darf, nahe genug liegt. Wir wissen ja wohl, daß gerade bei den größten Männern die Fehler ihrer Tugenden die Schattenseiten ihres Wirkens sind; wir alle kennen die maßlose Heftigkeit des kampf­ bereiten, kampfesfreudigen Mannes, kennen die allzuderbe Sprache, die er als Sohn seiner Zeit und als Kind seines Volkes zuweilen geführt hat; kennen als die Kehrseite der protestantischen Freiheit den Mangel einer straffen protestantischen Einheit, als die Kehrseite des deutschen Idealis­ mus Luthers naive Verkennung der realen, der politischen Bewegungen und Mächte seiner Zeit und seine gutmütige Beurteilung des ungut­ mütigen spanischen Kaisers; kennen endlich auch die Kehrseite und Folge seines Festhaltens am Bibelbuchstaben und die Gefährlichkeit seines irrationalen Glaubensbegriffes, die Hartnäckigkeit einem Zwingli gegen­ über, der freilich einen anbetn Geist als Luther hatte, dem aber darum doch die Bruderhand nicht hätte versagt werden sollen. Und wir wollen und wir müssen uns heute bewußt bleiben, daß Luther feiern nicht heißt, gebundenen Geistes auf und zu Luther zurückkehren. Freiheit verträgt sich nicht mit Stillstand, am allerwenigsten auf dem Gebiete des Geistes; der Idealismus zeigt sich vor allem auch darin, daß er glaubt an das Fortschreiten der Menschheit in allem Guten und Hohen und Edeln; das Versenken in den Geist der Schrift soll wie bei Luther, so auch bei uns immer aufs neue frei machen vom Buchstaben, der da tötet. Darum tut es not, zum Schlüsse noch zu fragen, in welchem Sinn und Geist die Generationen, welche jedesmal den hundertjährigen Luthertag erlebt, denselben gefeiert haben, und ob Luther an seinen lieben Deutschen eine Freude gehabt hätte, wenn er nach hundert und aber hundert Jahren unter sie hätte treten können; nur so können wir entscheiden, ob auch wir heute mit gutem Gewissen den Tag begehen können. Traurig genug sah es in Deutschland aus im Jahre 1583: die letzte Hoffnung, durch Kaiser und Reich die getrennten Kirchen zur Ein­ heit zurückzuführen, war dahin gesunken, seitdem an die Stelle des zweiten Maximilian der zweite Rudolf getreten war.. Zank und Hader in allen Hörsälen, in allen Schulen, auf allen Kanzeln, Unduldsamkeit und Glaubensverfolgung an Stelle protestantischer Gewissensfreiheit, die Enge einer Konkordienformel an Stelle der Schrift und ihrer göttlichen

Weitherzigkeit, und endlich statt Versöhnung der völlige Bruch mit der reformierten Schwesterkirche. Und das alles, obgleich der Feind vor den Toren stand, jene furchtbare Gesellschaft, welche sich mit dem Namen Jesu schmückte und doch statt seiner Liebe den Haß im Herzen trug und wie einst Hannibal den Römern, so dem Protestantismus den Untergang zugeschworen hatte. Aber was wir im Luthertum von 1583 vermissen, den frischen Pulsschlag des Lebens im Jnnem, die zähe Widerstands­ kraft nach außen, das zeigte sich um so mehr in den Ländern und Kirchen, die von Genf aus reformiert worden waren, und die doch auch von Luthers Geist einen Hauch verspürt hatten: in Holland rangen die Prote­ stanten kühnen Mutes und mit wachsendem Erfolg gegen die Allmacht des spanischen Philipp, und in England herrschte die protestantische Elisabeth, und schon waren die meisten jener Schiffe gezimmert, die wenige Jahre später die stolze Armada des finstern Königs vollends vernichten sollten; ja selbst in Frankreich konnte man hoffen, daß zur Sühne für jene schreckliche Bluthochzeit in Paris ein hugenottischer Heinrich den Thron besteigen werde. Aber 100 Jahre später, da herrschte doch ein katholischer König über Frankreich, und seinen protestantischen Untertanen drohte eben die Auf­ hebung des Edikts von Nantes; und zu seinenFüßen lag noch blutend und zerrissen, todwund und ohnmächtig das arme Deutschland: ein dreißig­ jähriger Religionskrieg war darüber hingebraust und hatte alles Glück vernichtet, alle Macht geknickt, alles geistige Leben ersterben lassen. Aber das war doch nicht gelungen, weswegen er heraufbeschworen worden war: wohl hatten die Jesuiten ins Werk gesetzt, was der päpstliche Legat Aleander schon 1521 gedroht hatte, sie hatten „dafür gesorgt, daß die Deutschen sich untereinander mordeten, bis sie im eigenen Blute unter­ gingen"; doch der Protestantismus selbst war nicht untergegangen, der lutherische Schwedenkönig hatte ihn gerettet. Und in den Stürmen dieses Krieges war auch in Deutschland ein Mann herangewachsen, der als reformierter Fürst eines lutherischen Volkes in seinem Teile schon die Union der Schwesterkirchen anbahnte, die Ehre des deutschen Namens jenem französischen Ludwig gegenüber rettete, die von ihm verfolgten und vertriebenen Protestanten schützte und aufnahm, und als der große Kurfürst von Brandenburg noch Größeres für die Zukunft ahnen ließ. Und wieder 100 Jahre später, anno 1783, saß auf demselben Throne

der große Friedrich, der das protestantische Preußen zu einer europäischen Großmacht erhoben und damit dem Protestantismus das politische Über­ gewicht in Deutschland verschafft hatte; und durch und mit und neben ihm war Deutschland aus langer, tiefer Geistesnacht zu neuem Leben erwacht: wenige Jahre zuvor waren Lessings Nathan, Goethes Göz und Egmont, Schillers Räuber und Kants Kritik der reinen Vernunft ent­ standen, und Duldung, Toleranz und Aufklärung war die Losung der Zeit; selbst der Katholizismus verspürte das kräftige Wehen dieses scharfen schneidigen Geistes, der Jesuitenorden war durch eine päpstliche Bulle aufgehoben, und der katholische Joseph II. wetteiferte mit dem protestantischen Preußenkönig in politischen Reformen; und die Befteiuug, die die Bauem zu Luthers Zeiten nicht hatten durchsetzen können, die brachte ihnen nun das Jahrhundert der Aufklärung. Und wieder sind hundert Jahre dahingegangen: aus dem preußi­ schen Königtum ist ein deutsches Kaisertum geworden, und das prote­ stantische Geschlecht der Zollem trägt die neue Kaiserkrone, erfüllt ist hier, was Luther von seinem Karl V. vergeblich gehofft, was Sickingen und Hutten vergeblich erstrebt hatten. Und auch an geistigen Früchten sind wir nicht arm und leer: wohl haben wir keinen Lessing, keinen Goethe und Schiller mehr, wohl hat die Philosophie die Führung ver­ loren; aber dafür sehen wir mit Staunen den gewaltigen Fortschritt bei empirischen Wissenschaften empor zu sonnenfemen Höhen, und überall gedeihen und blühen Universitäten und Schulen aller Art, so daß Luther mit Freuden anerkennen müßte, wie sein Brief an die Bürger­ meister und Ratsherm so herrliche Früchte getragen. Aber ohne ins einzelne zu gehen, in einem, meine ich, sind wir seit 100 Jahren doch nicht vorwärts, eher zurückgegangen: Duldung und Toleranz, diese Worte gehören fast nur noch der Geschichte, selten mehr der Wirllichkeit an: zwischen Kirche und Staat, zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Juden und Christen ist Streit und Hader, ist Kampf und Krieg, uit) der Jesuitenorden, dieser Todfeind von Luthers Werk, ist längst wirder an seiner unheimlichen Arbeit. Selbst der heutige Tag, wo wir eiten unserer größten Männer, den echtesten Sohn seines deutschen Vckkes feiern, selbst dieser Tag bietet uns nicht das Bild eines in der Verehrung seiner großen Männer einigen Volles. Sollte dämm der Geoanke, der Wunsch zu kühn sein, daß aber über 100 Jahren das ganze

deutsche Volk den 10. November in ungeteilter Eintracht festlich begehe, nicht als ob sich alsdann die getrennten Teile der Nation zu einer Kirche vereinigt hätten, sondern in dem Sinn, daß man vor allem das echt und rein Menschliche, die volkstümlich deutschen Züge an dem schönen Luther­ bilde herauskehrte, und daß, wie heute in erfreulichster Weise Reformierte und Lutheraner, so künftig Katholiken und Protestanten sich darin ver­ einigten, anzuerkennen, was sie als Menschen und was sie als Söhne eines Volkes ihm verdanken? Ich weiß es nicht, und ob es kommt, wage ich nicht zu prophezeien, wage kaum zu hoffen, was ich wünsche. Euch aber, ihr meine jugendlichen Freunde, die ihr die Träger der Zukunft seid, möchte ich zu guter Letzt noch das ans Herz legen, daß ihr als Bestes, freilich nicht nur der heutigen Feier, sondern eurer ganzen neunjährigen Schulzeit die Überzeugung mit hinaustragt ins Leben, daß auch im Streit der Geister der frische fröhliche Kampf zwar notwendig und nützlich, aber doch nicht der letzte Zweck, sondern daß das der Friede, die Einheit im Geiste herzlicher Verträglichkeit und lauterster Menschenliebe sei. Den freien Geist des Protestantismus, die Be­ geisterung für alle Ideale des Guten, Schönen und Wahren, den festen Ankergrund einer auf fleißigem Lernen und Forschen gegründeten religiösen und sittlichen Überzeugung — das ist es, was ihr heute vor dem Bilde Luthers lernen und was ihr all die Jahre durch im prote­ stantischen Gymnasium euch aneignen sollt: so lange dieses daran festhält, so lange hat es guten Grund und volles Recht, den Luthertag zu feiern!

Philipp Melanchlhon, der humanistische Genosse Luthers ^). Hochansehnliche Versammlung! Morgen feiert der protestantische Teil des deutschen Volkes den vierhundertjährigen Geburtstag Melanchthons — mit demselben guten Recht, wie wir vor vierzehn Jahren Luthers Geburtstag festlich begangen haben, und doch mit ganz anderen Gefühlen. Das war damals, ähn­ lich wie die Schillerfeier des Jahres 1859, ein großer Tag unseres Volkes, der alte Luthergeist schien wieder lebendig geworden zu sein, einen Hauch davon spürten wir alle; denn wer so machtvoll aus der tiefsten Seele eines Volkes herausspricht und wirkt und dasselbe so in allen Tiefen aufwühlt, dem gegenüber gibt es auch nach hunderten von Jahren nur Liebe oder Haß, der bleibt eine Macht und bleibt im Leben seines Volkes lebendigste Gegenwart. Me anders morgen bei Melanchthon! Fast künstlich muß man in weiten Kreisen eine über oberfläch­ lichstes Kennen hinausgehende Erinnerung an ihn erst wieder wachrufen und seine Bedeutung erst wieder sich und anderen klar und verständlich machen. Gerade das, was uns Luther so menschlich und so ganz nahe bringt, das Volkstümliche und allen Zugängliche oder wie Conrad Fer­ dinand Meyer damals gesungen hat: Gemein wie Lieb und Zorn und Pflicht, Wie unsrer Kinder Angesicht, Wie Hof und Heim, wie Salz und Brot, Wie die Geburt und wie der Tod —

diese Seite fehlt Melanchthon. Ein Gelehrter, ein deutscher Professor, ein Mann der Schule, das alles packt nicht; im Gegensatz zu dem Lauten *) Vortrag gehalten am Vorabend des 400j. Geburtstags von Melanchthon in der Nikolaikirche zu Straßburg. Erschienen in C. F. Schmidts Universitätsbuchhandlung. Straßburg 1897.

und Revolutionären in der dämonischen Kraftnatur Luthers bei ihm ein Stilles und mimosenhaft Schüchternes, ein Aristokratisches und Konservatives, ein Zartes und Feines—wie sollte das auf Massen wirken und Massen mit sich fortreißen! Und so möchte ich in der Tat meinen, daß wir Melanchthons Persönlichkeit uns nach 400 Jahren nicht nahe bringen können, wenn wir es nicht versuchen, vielmehr erst die Stelle aufzufinden, die ihm in jenem gewaltigen Geisterkampfe des sechzehnten Jahrhunderts zugewiesen war. Der Punkt, wo Melanchthon in diesen Kampf eingreift, ist ein so eigenartiger, daß er uns blitzartig wie mit einem Schlag sein besonderes Charisma beleuchtet, ist ein so weithin sichtbarer und weitumher alles beherrschender, daß von ihm aus Me­ lanchthons Anteil an der Reformation und an der durch sie begründeten Umgestaltung unseres deutschen Geisteslebens klar, daß Recht und Pflicht ihn zu feiern uns allen offenkundig wird. Und dieser Punkt ist da, wo Humanismus und Reformation zu jener ganz einzigartigen Verbindung sich zusammenschließen. Das sieht nun freilich so aus, als ob die beiden von Haus aus ge­ trennt gewesen wären, während in Wirklichkeit der Ausgangspunkt viel­ mehr gemeinsam und die Trennung ein Sekundäres ist. Die Neuzeit beginnt nicht erst mit dem 31. Oktober 1517, dem Tag, an dem Luther die 95 Thesen an der Schloßkirche zu Mttenberg anschlug; auch nicht am 12. Oktober 1492, dem Tag, an dem Kolumbus zum erstenmal seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Unsere Geschichtsbetrach­ tung ist darin modern geworden, daß sie das Milieu, aus dem große Individuen und große Taten, entscheidende Tage und entscheidende Entdeckungen herauswachsen, in den Vordergrund rückt. Und so kam auch die Zeit, die man die neue nennt, langsam und allmählich herauf, und an großen Tagen ward sie nur wie an Marksteinen den Zeitgenossen selbst erst spürbar, und durch große Individuen kam sie ihnen siegreich zum Bewußtsein. Also nicht die Stunde ihres Kommens, wohl aber den Inhalt dieser neuen Zeit können wir bestimmen; wir fassen ihn zu­ sammen im Namen der Renaissance, des Wiederauflebens des klassischen Altertums, oder des Humanismus, der Anerkennung des Menschlichen als eines Berechtigten und Wertvollen, als eines Herauszuarbeitenden und Festzuhaltenden. In Italien beginnt jene Wiederbelebung der griechisch-römischen

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Welt, dort war ja dieses Altertum kein fremdes, noch heute predigt in Rom jeder Stein von dieser vergangenen und untergegangenen Herrlich­ keit; aber man muß auch noch die Kreuzzüge und ihre Folgen für Wirtschaft und Recht, für Staat und Politik, für Kirche und Papsttum, für Sitte und Sittlichkeit, für Kunst und Literatur hinzunehmen, um zu begreifen, wie man dort zuerst aus der mittelalterlichen Welt hinauswachsen konnte und hinauswachsen mußte. Und so bedeutet Renaissance doch zuerst den Bruch mit mittelalterlicher Welt- und Lebensanschauung, die wir viel­ leicht mit einem Wort hier charakterisieren dürfen als Gebundenheit. Allein wie 300 Jahre später die Romantik nach dem Mittelalter, so griff auch die Renaissance nicht sofort nach einem Neuen, sondem rückwärts, als einem ihr Wahlverwandten nach jenem ganz Alten der antiken Welt. Und so beginnt denn ein eifriges Suchen und Forschen nach verborgenen Schätzen: in den Klosterbibliotheken findet man die verlorenen Hand­ schriften, über die Alpen herüber erstrecken sich die Nachforschungen, und manchem Besucher des Konstanzer Konzils werden die Bücherschätze des benachbarten St. Gallens wichtiger als die Verhandlungen über die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Und aus dem Erdboden steigen die schimmernden Marmorbilder, die lange drunten gelegen waren, nun aber von den Toten auferstehen und eine Welt voll Schön­ heit den staunenden Augen enthüllen. Und dieser Beschäftigung mit den Alten kommt Gutenbergs neuerfundene Kunst zugute: die alten Schriftsteller werden in immer neuen Ausgaben gedruckt, zugänglich gemacht und so die Bekanntschaft mit ihnen für die weitesten Kreise von Volk zu Volk vermittelt. Im Vordergrund des Interesses und des Studiums stand dabei die Form, das klassische Latein trat an die Stelle einer barbarisch gewordenen scholastischen Schulsprache, und es einem Cicero an Beredsamkeit, einem Vergil in Versifikation gleichzutun, war das Streben, darein setzten diese Menschen ihren Stolz. Formfreude, ein ästhetisches war somit das erste. Aber mit der Form zugleich kehrt doch auch etwas vom Inhalt, vom alten heidnischen Geist dieser klassischen Schriftsteller in die Welt zurück, und das eben ist die Humanitas, das rein Menschliche, die Freude daran und das Ver­ ständnis dafür. Man entdeckte die Welt wieder, der sich das Mittelalter weltflüchtig entfremdet hatte, entdeckte das Leben wieder, dem das Mittelalter abgestorben war, die Erde wieder, die das Mittelalter für ein Sieglet, Menschen und Probleme.

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Jammertal und für eine bloße Durchgangsstation erklärt hatte. Darum ist es doch kein Zufall, daß ein Italiener im Zeitalter des Humanismus Amerika entdeckt hat. Und nun bemerkte man auch, wie schön die Natur und wie reich das Leben sei. Bei der Malerei jener Tage ist es vielleicht am deutlichsten zu sehen, wie sie sich den Fesseln mittelalterlicher Unnatur entringt und wie das menschlich Schöne, das sich im ersten Augenblick selbst wieder in den Dienst der Kirche stellt, frei wird und sich erst gleich­ berechtigt und naiv zwischen, neben und vor das Kirchliche drängt, um schließlich ganz auf eigener Spur und Siegesbahn einherzuschreiten und selbst religiöse Stoffe nur noch als menschliche zu behandeln. Und wie in der Kunst, so im Leben — überall die vollste Anerken­ nung menschlicher, vor allem genialer Individualität. Im Mittelalter war alles gebunden und zunftmäßig gegliedert. Hinter dem Visier des Ritters verschwanden die individuellen Züge, hinter der Kirche der einzelne Christenmensch, hinter der Zunft der selbständig arbeitende Handwerker. Deshalb ist die mittelalterliche Geschichte so unanschaulich, weil so selten einmal aus der umhüllenden Standesgewandung ein Individuelles und Persönliches herausschaut. Das wird nun anders. Wie an die Stelle der Naturalwirtschaft die Geldwirtschaft tritt, so hört auch das Leben des einzelnen auf, an die Scholle gebunden zu sein, wird reicher, wird beweglicher und abwechslungsvoller. Im Staat schafft sich der einzelne wenn er nur Geisteskraft hat, Geltung als Tyrann oder Staatskünstler, als eleganter Redner und Depeschenschreiber, als Verschwörer und Katilinarier; in der Kunst als Virtuose, als Dichter aus eigener Macht; in der Gesellschaft als Lebemann und Lebenskünstler, auch hier ein Vir­ tuose schöner Geselligkeit und heiteren Lebensgenusses; selbst der Hand­ werker hört auf Zunftgenosse zu sein und macht sich als Künstler einen Namen. Denn überall wird der Ruhm das treibende Motiv, das höchste Ziel, von Fürsten und Machthabern, von Poeten und Rednern als das Wertvollste erstrebt; Ruhmsucht und oft recht kleinliche Eitelkeit sind Züge, die fast in keiner Humanistenpersönlichkeit fehlen. Darin zeigt sich die Anerkennung der Individualität und ihres Rechtes, sie selber zu sein und sich auszuleben, die bis zur Verherrlichung großer Verbrecher geht. Wer die Macht hat, hat Recht: dieser Grundsatz der Herrenmoral ist damals nicht nur geistreich ausgesprochen, sondern praktisch geübt und gelebt worden. Und daher endlich auch die ganz veränderte Stellung der Frau:

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an die Stelle der mittelalterlichen Auffassung, die sie in der Kirche zum Schweigen verurteilt und sie im Minnedienst in eine unnatürliche Höhe hinaufrückt, die volle Gleichberechtigung mit dem Mann, die Anerkennung auch ihrer Individualität. So wogt und wallt, so quirlt und schäumt hier das Verschieden­ artigste, Gutes und Böses, Erfreuliches und Unerfreuliches, Schönes und Häßliches durcheinander, oft unklar und unfertig, aber immer andersartig und neu, immer interessant und immer in vollem Gegensatz zum Mittelalter und zur Kirchlichkeit des Mittelalters. Es war in der Tat ein neues Zeitalter gekommen, eine neue Weltanschauung und Ge­ sittung, ein anderer Himmel schien sich auszuspannen über einer erneuten Erde; es war eine Lust zu leben. In der großen Kette dieser humanistischen Bewegung ist die Refor­ mation nur ein Ring gewesen, aber der Schlußring; inmitten jener neuen Entdeckungen, die nach außen eine neue Welt, nach innen einen neuen Menschen aufgefunden haben, nur eine Seite, aber die tiefste und die gewaltigste. Und so fühlte sich auch Luther den Humanisten verwandt, und darum wurde der humanistisch gebildete Melanchthon sein Mit­ arbeiter und Genosse. Schon ganz äußerlich bedurfte die Reformation des Humanismus. Wie jede Reform der christlichen Kirche wollte auch diese größte unter allen auf das Urchristentum zurückgehen, und dieses sucht sie entsprechend der allgemeinen Tendenz der Zeit ganz philologisch in den Quellen selbst, im Alten und Neuen Testament; wie sich die Humanisten nicht mehr begnügen mit dem scholastischen Aristoteles in schlechter lateinischer Übersetzung, so soll auch das Christentum hinfort über die Vulgata hinweg aus dem Urtext selber schöpfen und dazu führt der einzige Weg durch das Studium der Sprachen als der Scheide, darinnen das Messer des Geistes steckt. Und so übte auch Melanchthon am Neuen Testament nur, was er an Aristoteles gelernt hatte; wenn er Luther die Bibel verdeutschen half, blieb er sozusagen bei seinem eigensten Beruf. Und einen Weg mit Luther ging der Humanismus auch im Kampf gegen eine verweltlichte Kirche, gegen eine vielfach ent­ sittlichte Geistlichkeit, gegen eine leer und spitzfindig gewordene Wissen­ schaft — von Laurentius Valla an, der in kühner Kritik die historischen Gmndlagen der weltlichen Herrschaft des Papstes erschütterte, bis herab auf Erasmus, den Voltaire des sechzehnten Jahrhunderts, und die 3*

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Reuchlinisten und ihre übermütige Farce der Dunkelmännerbriefe. Schulter an Schulter stellten sich die besten Humanisten neben Luther, wo er in nationalem Zorn den welschen Papst und die ultramontane Kirche bekämpfte: dieser national-politische Zug hat den sächsischen Bauernsohn mit dem fränkischen Ritter, hat Luther mit Ulrich von Hutten zusammengeführt. Los von Rom! das wollten beide, und setzten daran die Kraft ihres deutschen Gemüts und die vulkanische Gewalt ihres ge­ rechten nationalen Zornes. Mer die Verwandtschaft zwischen Humanismus und Reformation ist eine noch tiefere, innerlichere. Wenn von Anfang an nicht das Stu­ dium der alten Sprachen und die Wiederbelebung des klassischen Altertums Ausgangspunkt und Kern des Humanismus war, sondern viel­ mehr der Gedanke und der Glaube an das Recht des Individuums und seiner Loslösung von unerträglichem Zwang und als wMürlich empfun­ denem Bann, die Wiederentdeckung wie des Menschen überhaupt, so auch des eigenen Herzens und seiner Ansprüche, so geht ja auch darin Luther mit den Humanisten Hand in Hand. Auch auf religiöser Seite war eine solche Befreiung notwendig: der Zugang zu Gott soll nicht mehr äußerlich vermittelt werden durch die Kirche und die Angehörig­ keit zu ihr, durch Priester und äußeres Werk, sondern im Menschen selbst ist es der Glaube, der sich wie die zittemde Hand des Bettlers aus­ streckt, um unmittelbar von Gott selbst die Gnadenspende zu empfangen. Und noch ein zweites. Der Humanismus hängt zusammen mit den naturwissenschaftlich-geographischen Entdeckungen am Himmel und auf der Erde, bedeutet eine Wiedergewinnung der Natur, der sinnlichen Außenwelt, ein sich Befreunden mit der Erde, eine Anerkennung des Natürlichen als eines Berechtigten. Und gerade darin liegt das größte in Luthers Werk, daß er sich als religiöser Mensch auch nach dieser Seite hin dem humanistischen Zuge angeschlossen hat. Gegenüber dem mittel­ alterlichen Dualismus, der die Menschen in zwei Stände, die Sittlichkeit in zwei Stufen, die Welt in zwei Reiche auseinanderreißt und im Mönch­ tum wenn auch nicht den einzigen, so doch den geeignetsten und voll­ kommensten Ausdruck findet, ist Luther der Stifter eines weltförmigen Christentums geworden. Das weltflüchtig asketische Ideal mittelalter­ licher Frömmigkeit und Sittlichkeit hat er in Trümmer geschlagen und an seine Stelle die Anerkennung natürlicher, menschlicher Ordnungen

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und Zwecke gesetzt, dem Kaiser zurückgegeben, was des Kaisers, dem Menschen wiedergegeben, was des Menschen ist und ihm so vor allem die Erde wieder als den Schauplatz seiner sittlichen Aufgaben zugewiesen. Und darum sind klassisches Altertum und protestantisches Christentum keine einander notwendig ausschließenden Gegensätze. Aber an Gegensätzen fehlte es allerdings doch nicht. Man wird zunächst daran denken, daß die geistige Umgestaltung, wie sie der Humanis­ mus anstrebte, der feine Duft ästhetisch-wissenschaftlicher und höherer geselliger Bildung, die nur allmählich von oben nach unten in weitere Kreise dringen konnte, durch eine so gewaltsame Revolution der Geister, wie die Reformation es war, notwendig verwischt und gestört wurde. Der fein organisierte aristokratische Gelehrte Erasmus, der ganz Geist war, paßte schlecht zu dem volkstümlich derben und lauten Reformator voll Temperament und Willen. Nur dieser hatte ein Herz für das Volk und wußte, was ihm not tat und was er ihm zutrauen und von ihm er­ warten konnte; und daher konnte er mutig glauben, daß eine Loslösung des Volkes von der alten Kirche ohne Schaden möglich sei. Und über­ dies war auf humanistischer Seite etwas wie Neid, daß nun plötzlich die Bildungsfragen in den Hintergrund treten und den religiösen Interessen den ersten Platz überlassen sollten, eine Verstimmung ging durch die Reihen der Philologen, daß sie nach kurzer Vorherrschaft den Theologen wiederum weichen mußten. Aber die Gegensätze lagen noch tiefer; sie lagen gerade da, wo auf den ersten Blick eitel Übereinstimmung zu herrschen schien. Sogleich beim Zurückgehen auf die Quellen: den Humanisten war das Alte und Neue Testament in seinem Urtext wichtig, weil es eine Quelle war; Luther ging auf diese quellenmäßige Gestalt zurück, weil er das Wort Gottes lauter und unverfälscht haben wollte. Und noch mehr freilich bei der Rechtfertigung durch den Glauben: der Glaube führt in das Ich zurück; aber was findet er darin? Wohl ist es auch hier die Selbstmacht und Selbstgewißheit des auf sich gestellten Individuums, die Freiheit eines Christenmenschen; und es Hingt durch­ aus humanistisch-modern, wenn Luther sagt: „Ich bin ein Mensch, das ist ein höherer Titel denn ein Fürst sein". Aber wenn er hinzusetzt: „daß ich ein Mensch bin, hat Gott gemacht", so sehen wir, daß es die Macht nicht des natürlichen, sondem des christlichen Menschen ist, von der Luther redet; jene Selbstmacht ist eine dem Menschen von Gott ver-

liehene, die Selbstgewißheit ist die Gewißheit des Heils in Christo; wir sind Menschen von Gottes Gnaden. Darum ist der Inhalt dieses lutheri­ schen Selbstbewußtseins nicht der humanistische, sondern der religiöse. So liegt die Differenz doch wirklich im Zentrum, die Ideale der beiden Bewegungen sind verschieden. Und hier zugleich auch der Grund, warum die zweite Bewegung so viel mächtiger und volkstümlicher war als die erste. Jahrhunderte lang hatte unser deutsches Volk sein Lebens­ ideal nur in kirchlicher Form gekannt; diese kirchliche Form hat Luther zerschlagen. Aber das Volk hörte darum so wenig als er selbst auf religiös zu sein, und griff deshalb lieber nach einem religiösen als nach dem ihm im Grunde doch unverständlichen weil aristokratischen Bildungs­ ideal der Humanisten. Und endlich noch eines. Der Humanismus ist optimistisch, ihm ist der Mensch als solcher gut, das Natürliche als solches berechtigt, auch das Sinnliche nichts Böses. Auch darin war Luther scheinbar auf seine Seite getreten, den Dualismus und die Möncherei haben sie beide mit denselben Waffen bekämpft. Aber wenn wir an Luthers tiefinnerliches Sündenbewußtsein, an seine Lehre von der Notwendigkeit der Gnade und dem in Gott gebundenen und darum durchaus unfreien Willen denken, so bemerken wir einen entschieden pessimistischen Zug in ihm: die Verzweiflung, aus eigener Kraft selig werden, durch eigene Vernunft fertig werden zu können mit den Rätseln des Daseins, das ist geradezu die Grundlage seines religiösen Ringens, der Ausgangspunkt seines reformatorischen Auftretens, und sie wider­ spricht der humanistischen Stimmung durchaus, die von der Sünde nichts weiß und sie nicht bereut und rationalistisch im eigenen Denken die Quelle der Wahrheit und den Ausgangspunkt für eine neue Philo­ sophie sucht und findet. Und so ist es doch keine bloß persönliche Antipathie gewesen, die Luther den so warmblütig sich ihm zum Bundesgenossen anbietenden Hutten kühl hat behandeln, das Waffenbündnis mit ihm hat ablehnen heißen; und ebenso ist es nicht bloß der dogmatische Eigensinn, der ja Luther nicht gefehlt hat, wenn er in dem humanistisch gebildeten Zwingli nicht seinen, sondern einen ihm fremden anderen Geist zu erkennen glaubte. Und umgekehrt dürfen wir auch diejenigen Humanisten nicht schelten, welche im Bewußtsein solcher Gegensätze von der neuen Be­ wegung zurücktraten und der alten Kirche treu blieben. Daß über der

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Lehre von der menschlichen Freiheit zwischen Luther und Erasmus der Streit ausbrach, ist für das Verhältnis bezeichnend: es trat damit der Gegensatz des göttlichen und des menschlichen, des religiösen und des sittlichen Faktors zutage. Aber mußte es beim Gegensätzlichen bleiben? konnte man nicht das Trennende hinter jenen Momenten der Einheit zurücktreten lassen? war es nicht möglich, humanistische Bildung und Reformation, den religiösen und den sittlichen Faktor in der Einheit einer Person zu ver­ binden? Gewiß war das möglich, wenn sich nur ein Mann fand, der weit genug dachte und milde genug fühlte, um diese Gegensätze erst in sich selber auszugleichen, die Harmonie darzuleben und vorzuleben und damit die Vermittlung auch nach außen hin zu tragen und zu einer all­ gemeinen zu machen. Und dieser Mann mit dem Gegensätze über­ brückenden und ausgleichenden Sinn, mit dem weiten Blick und dem weiten Herzen war Philipp Melanchthon. Der Tag, an dem der Tü­ binger Magister nach Wittenberg berufen wurde und diesem Rufe Folge zu leisten sich entschloß, war ein Tag von unendlicher Tragweite für das Schicksal unserer deutschen Nation und unserer deutschen Bildung. Daß Melanchthon aus dem religiösen Gebiet selber sein Leben lang bemüht war, Gegensätze auszugleichen und dafür die vermittelnde Form und Formel zu finden, wir wissen es und kennen die Sisyphusarbeit wohl, die er sich damit auferlegt hat; und wissen auch, wie schnöde es ihm gelohnt wurde und wie nach seinen eigenen Worten „die Wut der Theologen" sein Leben zu einer wahren Tragödie, ihn zu „einem an den Felsen geschmiedeten Prometheus" gemacht hat. Auch wollen wir gerne zugeben, daß er in seinem Vermittlungseifer gelegentlich zu weit gegangen ist und namentlich in einer schweren Stunde des Protestantis­ mus, als es sich um das Interim handelte, sich nachgiebiger und schwächer gezeigt hat, als recht war. Ja selbst vor dem Schein den Frieden zu Oer» hindem fürchtete er sich nicht, wo er damit Frieden in weiterem Kreis zu schaffen hoffen durfte. Aber seine Stärke liegt doch nicht auf dieser theologischen Seite, liegt auch nicht in seiner kirchenpolitischen Tätigkeit; seine Mission war vielmehr eben jene Verknüpfung von Reformation und Humanismus und noch tiefer die Verbindung des religiösen mit dem sittlichen Faktor. Mit wahrhaft divinatorischem Blick hat der Einundzwanzigjährige

in seiner Wittenberger Antrittsrede vom 29. August 1518 sich das erste als Programm gesetzt. Ganz humanistisch stellt hier der neue Professor -es Griechischen der scholastischen Art des Studiums, die ihm eine barbarische ist, den humanistischen Unterrichtsbetrieb entgegen und ver­ spricht den Studenten, sie die Wissenschaft aus den echten Quellen, aus Aristoteles, Quintilian und Plinius schöpfen zu lassen; denn die alten Mathematiker, Dichter und Redner sind es, ohne deren Kenntnis niemand für gebildet zu achten ist. Bor allem betont er das Griechische, durch das man allein bis zur Sache selbst vordringen könne. Und dann mit einem plötzlichen Griff, offenbar berührt vom Genius loci, vom Milieu, in dem er spricht, vom Geiste Luthers, der unter den Zuhörern war, — plötzlich stellt er seine philologische Wissenschaft unter den reli­ giösen Gesichtspunkt: „wenn wir unseren Geist auf die Quellen lenken, werden wir anfangen Christum zu verstehen, sein Gebot wird uns zur Leuchte werden, und wir werden mit jenem beglückenden Nektar der göttlichen Weisheit erfüllt". Und alsbald erkennt auch Luther, dem der schmächtige und allzu jugendliche Kollege im ersten Augenblick kein rechtes Vertrauen einge­ flößt hatte, was er an seinem Magister Philippus habe, die Verbindung der beiden fürs Leben ist geknüpft, der Wille hatte seinen Intellekt, der Marschall Vorwärts hatte seinen Generalstabschef gefunden. Sicher ist diese Freundschaft für Melanchthon keine bequeme Sache gewesen, er hat sich bedrückt gefühlt von der übergewaltigen Persönlichkeit des Freundes, auch wohl, in seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit ihm gegen­ über, diesem Gefühl ärgerlichen und schwächlichen Ausdruck gegeben. Aber solche Ausbrüche vorübergehender Stimmung und Verstimmung tun dem Weltgeschichtlichen dieser Verbindung keinen Eintrag; beide wußten, was sie füreinander waren und beide ließen einander letztlich doch in ihrer Eigenart gelten und bestehen. Freilich nicht ohne aufein­ ander zu wirken und sich gegenseitig zu beeinflussen. Am stärksten zwingt natürlich Luther den schwächeren Melanchthon in seine Bahn. Nament­ lich im Anfang ist das deutlich: Melanchthon schmäht über Aristoteles fast so schlimm wie Luther und nennt ihn einen Klopffechter, er leugnet mit Luther die menschliche Freiheit und achtet Vernunft und Philosophie gering. Aber man denke — er war 21 Jahre alt! Wer verlangt von einem Einundzwandzigjährigen Konsequenz, fertige Überzeugung und

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abgeschlossenes Urteil? Nicht daß er eine Zeitlang sich dem über­ mächtigen Einfluß Luthers gefangen gab, ist das Verwunderliche, sondern daß er nach kurzer Zeit solchen Schwankens und trotz dieses Einflusses so frühe schon sich selbst wiederfand und sich hinfort neben Luther be­ hauptete. Und darum lasse ich die Schwäche Melanchthons nicht gern schelten: er war, als er nach Wittenberg kam, das jugendliche Reis, das sich bog unter dem Sturme, der von jenem gewaltigen Menschen aus­ ging; aber er richtete sich wieder auf, Aristoteles wurde ihm wieder der große Meister und neben die Theologie tritt die Philologie; und eben­ so weiß er neben der Religion auch der Ethik, neben dem Evangelium auch dem Gesetz ihr Recht zu wahren. Das hat ihn zum ersten großen Sittenlehrer des Protestantismus gemacht, wie er durch das andere zum Praeceptor Germaniae geworden ist. Die Reformation hat im ersten Augenblick nicht nur aufbauend, sondern auch zerstörend gewirkt: mit den Klöstem und Domkapiteln wurden vielfach auch Dom- und Klosterschulen beseitigt, wie beim Aus­ bruch eines Krieges verödeten die Universitäten, fehlte es an Lehrern und Schülern. Mer nicht das ist mit den Gegnern der Reformation schadenfroh und vorwurfsvoll zu monieren, sondem vielmehr bewundemd anzuerkennen, wie energisch Luther, sobald sich der Schaden einstellte, ja fast noch ehe dieses zu Erwartende eintrat, mit seiner starken Stimme von der weltlichen Obrigkeit die Wiederaufrichtung des Schulwesens forderte. In der Erziehung der Jugend fand er den Ersatz für die Kirchenzucht, die er in echt germanischer Vorliebe für individuelle Frei­ heit verwarf; hier hat das Interesse Luthers an der Aufrichtung guter Schulen, wie es sich in seinem Sendschreiben an die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands ausspricht, seinen tiefsten Grund. Aber das war nur ein Programm und blieb Papier, wenn keine Taten folgten. Diese aber kamen durch Melanchthon, den großen Organisator eines höheren Unterrichtswesens in Deutschland. Schon 1525 ist er um die Neueinrichtung der kleinen lateinischen Schule in Eisleben bemüht; 1526 entwirft er für die große „obere Schule" zu Nürnberg, zu deren Rektor man ihn hatte gewinnen wollen, den Plan; und seit 1527 an der sächsischen Kirchen- und Schulvisitation beteiligt, stellt er zum erstenmal in seinem Visitationsbüchlein für ein ganzes Land die Grundzüge für die Gestaltung der Schulen fest; und wo hinfort in protestantischen

Ländern Trivialschulen oder Gymnasien gegründet oder umgestaltet werden, da fragt man ihn um Rat, da bittet man ihn um Anweisung, da läßt man sich von ihm Direktoren und Lehrer empfehlen oder seine Schüler als solche zuschicken. Auch unser altehrwürdiges protestantisches Gymnasium hier weiß von solchen Beziehungen zu Melanchthon zu er­ zählen. Und wie auf die Mittelschulen, so erstreckt sich sein Einfluß auch auf die Universitäten: in Wittenberg selbst war die Evangelisierung und Umgestaltung 1536 wesentlich durch ihn — man sieht das an der konser­ vativen Art und Weise der Reform — zu Ende geführt; und über Witten­ berg hinaus beteiligte er sich an der Neugründung von Marburg, Königs­ berg und Jena. In Tübingen und Heidelberg, in Frankfurt a. O., in Leipzig und Rostock — überall fragten ihn Kollegen nicht nur, sondern auch die Fürsten und Landesherren um seinen Rat, bei Besetzung von Professuren hörte man auch hier auf seine Empfehlung oder griff nach seinen Schülern. Und neben dem persönlichen Einfluß waren es seine Lehrbücher und seine Klassikerausgaben; bis ins achtzehnte Jahrhundert herab ist Melanchthons lateinische Grammatik an den Schulen gebraucht worden, und seine schulmäßige Systematisierung der philosophischen und theologischen Wissenschaft bestimmte den Unterrichtsbetrieb an den Universitäten. So hat Melanchthon in der Schule und durch die Schule die Ver­ bindung von Luthertum und humanistischer Bildung mit vollem Be­ wußtsein zustande gebracht; und dadurch wurde sie eine so haltbare, weil sie in der Jugend den Grund legte und von unten aufbaute. Daß dabei der feinen aristokratischen Geistesbildung, wie sie z. B. Rudolf Agrikola in seiner Persönlichkeit so schön zur Darstellung brachte, etwas von ihrem Blütenduft abgestreift wurde, das hängt mit dem Wesen der Schule zusammen: Schulstaub ist immer etwas wie Mehltau für die feinsten und tiefsten Gedanken. Aber in ihnen wußte sich Melanchthon doch stets eins mit den großen Humanisten, mit Agrikola und Erasmus, mit seinem Großonkel Reuchlin oder dem Straßburger Wimpfeling; und erst Johannes Sturm, der große Rektor des protestantischen Gym­ nasiums zu Straßburg, ist es gewesen, der in seinem Schuleifer den Humanismus verhängnisvoll veräußerlicht und formalisiert hat. Aber wenn dann mit der Zeit die humanistischen Schulen Deutschlands immer mehr zu Mühlen wurden, die nur noch klapperten ohne zu mahlen, so

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brach 200 Jahre nach Melanchthons Tod aus dem von ihm erstmals urbar gemachten Boden neues Leben und neuer Geist hervor. Die Winckelmann und Lessing, die Schiller und Humboldt sind aus der Melanchthonschule hervorgegangen und haben dem 200 Jahre lang formalistisch be­ triebenen Humanismus wieder Leben eingehaucht und dabei doch nur angeknüpft an den Gedanken Melanchthons, daß man das Beste und das Tiefste deutschnationalen Lebens verbinden könne und verbinden müsse mit der unsterblichen Jugend griechischer Schönheit und griechischer Freiheit. Und nicht anders ist es mit dem andern, der Vermittlung des religiösen mit dem sittlichen Element. Luther ist nicht nur der religiöse, sondern auch der große sittliche Reformator seines Volkes; wer das leugnet, hat Luther nie verstanden. Aber je mehr er den Gedanken von der Rechtfertigung allein durch den Glauben ausbaute, desto mehr drängte sich das Religiöse vor das Sittliche, das Empfangen vor das Handeln, das Evangelium vor das Gesetz. Und je idealer sein Gedanke war, daß aus dem Glauben heraus die Werke als seine Früchte ganz von selbst, nicht als gebotene, sondern als freigetane, natürlich gewordene kommen und wachsen müssen, desto größer die Gefahr, daß in Wirklichkeit diese Früchte ausbleiben, daß über dem Religiösen das Sittliche ver­ nachlässigt werde und ein Geist der Gesetz- und Sittenlosigkeit einreiße. Es war freilich nur ein Mßverständnis, wenn fanatische Lutheraner lehrten, daß gute Werke zur Seligkeit schädlich seien, oder den Dekalog aufs Rathaus verbannten und Moses an den Galgen wünschten; aber es geschah, und mutig ist Melanchthon dieser Gefahr entgegengetreten — oder noch vorher: daß er mit seinem sittlichen Ethos von Anfang an neben dem religiösen Pathos Luthers stand, das hat den Protestantis­ mus vor dieser Gefahr gerettet. In ihm, dem an der griechischen Philosophie herangebildeten und herangewachsenen Manne, bei dem das religiöse Interesse doch erst ein später hinzukommendes war, hatte das Sündenbewußtsein nie so tiefe Wurzeln geschlagen — darum hat ihm Luther einmal zugerufen: sei ein Sünder und sündige kräftig! —, und andererseits war ihm der Freiheitsbegriff so menschlich-natürlich, daß er die Meinung von der völligen Vernichtung des Willens als eine zu harte und unnatürliche verwerfen mußte. Und ebenso erschien ihm die Prä­ destinationslehre gefährlich und unerträglich, und die Geringschätzung

der guten Werke, der rein menschlichen Tugend und des Gesetzes hielt er für sittlich bedenklich; darum gründete er auf den Dekalog eine Sitten­ lehre und stellte sie der Dogmatik als gleichberechtigt und gleich wertvoll zur Seite. Daß ihm hier philosophisch betrachtet die Vermittlung weit weniger gelungen, daß er über ein Hin und Her und ein bloßes Neben­ einander vielfach nicht hinausgekommen ist, ist ja richtig: Melanchthon war kein Philosoph. Aber hier kommt es nicht auf das Me, sondern auf das Daß an —: daß er diese Aufgabe erkannt und sie betn Prote­ stantismus als eine zu lösende von Anfang an zum Bewußtsein gebracht hat, darin besteht die Großtat dieses ersten protestantischen Sittenlehrers; gerade seine Schüler sind es gewesen, die in der protestantischen Kirche dieses Bewußtsein lebendig erhalten haben, daß neben der rechten Lehre das sittliche Leben, neben dem fromm Fühlen das gut Handeln auch etwas sei. Deshalb, wer den Philippismus und den melanchthonischen Synergismus schmäht, den haben wir im Verdacht, daß er das Recht des Sittlichen verkenne und verkürze. Und wenn wir vorhin auf die Fortsetzung seines Werkes bis herab auf Schiller und Goethe und bis herab auf die Schule unserer Tage haben hinweisen können, so sei hier wenig­ stens Schleiermacher genannt, in dessen universal-harmonischem Geiste sich ja auch das Religiöse und das Sittliche, Dogmatik und Ethik so wunderbar zusammenschmiegen. Und an Schleiermacher oder vielleicht in seiner temperamentlosen, allzu geistig intellektualistischen Art noch mehr an MIHelm v. Humboldt erinnert Melanchthon auch sonst. Wie in diesen beiden Bildungsvir­ tuosen zu Anfang unseres Jahrhunderts der Individualismus unserer zweiten klassischen Literaturperiode in einer Feinheit und Geschliffen­ heit herausgearbeitet sich darstellt, wie vielleicht niemals mehr in einem Menschen, so stand Melanchthon im sechzehnten Jahrhundert auf der Bildungshöhe seiner Zeit. Er war kein großer Mann wie Luther, aber er war der gebildetste, er war eben darum auch der universalste Geist jener Zeit, — weil in ihm die beiden mächtigen Ströme des sechzehnten Jahrhunderts, Humanismus und religiöse Reform, zur Einheit sich zu­ sammenfanden oder doch zur Einheit zusammenstrebten. In seiner Person hat er, nicht ohne viel tragische Anfechtung, den Beweis ge­ liefert, daß Religion und humane Bildung, Frömmigkeit und freies wissenschaftliches Forschen, Herz und Kopf zusammenstimmen können.

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Nur in ganz wenigen Menschen — noch einmal nenne ich neben Me­ lanchthon Schleiermacher — ist dieser Ausgleich so vollkommen gelungen; aber sie sind deswegen auch besonders ideale und vorbildliche Gestalten, die wir verehren, zu denen wir gerne emporsehen — gerne und sehn­ suchtsvoll, denn Ideale sind sie auch in dem Sinn, daß sie uns die schwersten Aufgaben für unser eigenes Leben stellen. Und noch ein zweites ist vorbildlich —: Bildung macht frei, macht duldsam und tolerant. Am. Lutherfest vor vierzehn Jahren sind wir uns vor allem des Gegensatzes, des Kampfes, des Sieges bewußt ge­ worden, das war unser gutes Recht; und darum war für jenen Tag der altprotestantische Schlachtgesang: Ein' feste Burg ist unser Gott! das rechte Weihelied. Bei Melanchthon erinnern wir uns, daß der Zweck alles Kämpfens und Streitens der Friede ist. Über die Gegensätze, die Lutheraner und Reformierte trennten und deren Versöhnung im Sinn und Geist Melanchthons, wenn auch nicht immer auf denselben Wegen wie er, unsere Straßburger Theologen damals noch vergeblich anstrebten, sind wir in unserem Jahrhundert glücklich hinausgekommen: die Union ist eine Tatsache, vollzogen, mehr noch als durch Buchstaben und Gesetz, im Bewußtsein des deutschen Volkes. Wie es dagegen mit dem unser Volk heute noch so jammervoll zerklüftenden Gegensatz zwi­ schen Protestanten und Katholiken werden soll, wir wissen es nicht. Aber von Melanchthon, der auch diese Kluft immer aufs neue zu über­ brücken suchte und an diese Möglichkeit glaubte, können wir auch dafür lernen, — lernen, daß mitten im Kampfe eines feststehen muß: daß die so Getrennten hin und her Christen und, was noch ein ursprünglicherer Rechtstitel ist, daß sie hin und her Menschen sind. Und darum auf dem Boden der Humanitas, des rein menschlich sittlichen Arbeitens, Strebens und Wirkens können und sollen wir uns immer wieder alle zusammen­ finden: wenn der Melanchthontag dieser Einsicht und Absicht uns auch nur eines Sandkorns Breite weit entgegenführt, soll er uns ge­ segnet sein.

Johann Sturm'). Johann Sturm ist am 1. Oktober 1507 zu Schleiden im Eifelgebirge geboren, er war also ein Landsmann und Zeitgenosse von Johann Sleidanus, dem großen deutschen Geschichtschreiber der Reformation. Sein Vater war Rentmeister des in der Nähe ansässigen Grafen von Manderscheid, seine Mutter, eine geborene Hülsen, nennt er selbst eine auserlesene Frau. Im gemeinschaftlichen Unterricht mit den gräflichen Söhnen zeichnete er sich durch Fleiß, gutes Gedächtnis und aufgewecktes Wesen frühe schon aus, und das bewährte sich auch auf der Schule der Hieronymianer zu Lüttich, die er mit den jungen Grafen zusammen von 1521 bis 1524 besuchte. Diese von humanistischem Geist erfüllte Anstalt wurde für ihn von großer Bedeutung, nicht nur weil er auf ihr für sein reiches philologisches Wissen den festen Grund legen konnte, sondern vor allem dämm, weil sie ihm für seine spätere organisatorische Tätigkeit Muster und Vorbild geworden ist: was er hier im deutschen Nordwesten kennen gelernt hat, das hat er später in Straßburg zu ver­ wirklichen und weiter zu entwickeln gesucht. Zur Herrschaft war der Humanismus an dem Lütticher Gymnasium durch Rudolf Agrikola gekommen, der überhaupt für diesen nordwestdeutschen Humanismus der wissenschaftliche und pädagogische Führer gewesen ist. Von ihm war vor allem Alexander Hegius in Deventer inspiriert, und seinem Ein­ fluß unterstand ebenso auch die 1496 gegründete Lütticher Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben. Das Gymnasium war achtklassig, die Schüler innerhalb der Klassen in Dekurien geteilt; der Unterricht baute sich stufenmäßig auf, halbjährliche Prüfungen und eine strenge Versetzungsordnung sorgten für die Gleichmäßigkeit der Kenntnisse aller zu einer Klasse gehörigen Schüler; das von den Humanisten mit Recht bekämpfte Doktrinale des Alexander de Villa-Dei war aus dem l) Abgedruckt aus W. Reins Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik. 2. Auf­ lage, Bd. 9, 1908.

Unterricht verbannt, die lateinische Grammatik wurde — verhältnis­ mäßig — rasch absolviert, um möglichst bald mit der Lektüre beginnen zu können, die ausschließlich klassische Autoren zum Gegenstand hatte; auch Griechisch wurde in den vier oberen Klassen über das damals üb­ liche Maß hinaus getrieben. Es war somit eine hochentwickelte humani­ stische Lehranstalt, die es wohl verdiente, in großem Maßstab in Straß­ burg von Sturm oder in verkleinertem Umfang in Zwickau von Plateanus nachgebildet zu werden. 1524 nach Absolvierung der Schule bezog Sturm die Universität zu Löwen und lernte im dortigen Collegium Buslidianum, das zugleich ein Collegium trilingue war, den freien und feinen Geist des Erasmus kennen, obgleich dieser selbst damals Löwen bereits verlassen hatte. Am meisten Einfluß auf Sturm hatte Conrad Goclenius, der Lehrer des Lateinischen: daher schreibt sich ohne Zweifel auch seine Vorliebe für diese Sprache. Schon 1527 trat er nach der Sitte der Zeit selbst als Lehrer auf, ohne deshalb sein Studium aufzugeben. Doch bald zwangen ihn äußere Verhältnisse, mit Rüdiger Reschius, dem Professor des Griechischen, eine Druckerei zu gründen, die vor allem für die Heraus­ gabe philologischer Werke bestimmt war. Im Interesse dieses Geschäfts kam er 1529 nach Paris. Aber die sich hier darbietende Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen, war zu verlockend, als daß er ihr hätte wider­ stehen können. Er besuchte die Vorlesungen an dem eben gegründeten College de France, und nach kurzem hielt er selbst solche über Cicero und Demosthenes; auch über Dialektik hat er gelesen und dabei dem jungen Petrus Ramus die erste Anregung zu seiner späteren Reform der Logik gegeben. Trotz des guten Erfolges, den er als Dozent hatte, mußte er nach seiner Verheiratung mit der humanistisch gebildeten Johanna Ponderia zur Führung des Haushalts ein Alumnat für junge Studenten einrichten, das ebenfalls großen Zulauf hatte. Schon 1528 hatte er in Straßburg den Reformator Martin Nutzer kennen gelernt. Durch einen seiner Schüler erhielt er nun in Paris nähere Kenntnis von der reformatorischen Bewegung in Deutschland und in der Schweiz. Rasch entschlossen trat er auf ihre Seite. Dabei interessierten ihn aber nicht bloß die religiös-theologischen, sondern auch die kirchenpolitischen Fragen: mit Nutzer und Melanchthon verhandelte er über nichts geringeres als über den durch den Erzbischof von Paris

Jean du Bellay unterstützten Plan, den König Franz I. von Frankreich für den Protestantismus oder doch für die Protestanten zu gewinnen. Mein die bald nachher über diese hereinbrechenden Verfolgungen zeigten, wie aussichtslos und utopisch solche Pläne waren. Das mußte auch der sanguinische Sturm endlich einsehen, und so verließ er 1536 Paris und folgte einer Einladung Nutzers nach Straßburg. Dort sollte er als Professor an der protestantisch-theologischen Fakultät, dem Colle­ gium praedicatorum, Vorlesungen über Rhetorik und Dialekük halten, und damit begann er denn auch im März 1537. Zwei Berufungen nach Basel und nach Wittenberg und die rasche Erhöhung seiner Besoldung von 40 erst auf 100, dann auf 140 Gulden zeigen, welchen Wert man in Straßburg auf diese seine akademische Tätigkeit legte; und dem ent­ sprach auch der Vorlesungsbesuch und der Ruf, den er sich bei den Studen­ ten erwarb. Und doch lag der Schwerpunkt seiner Tätigkeit und seiner Bedeu­ tung nicht hier. Bald genug erkannte man zu Straßburg in Sturm den rechten Mann, um ein anderes Größeres, die dringend notwendige Organisation des gesamten höheren Schulwesens in die Hand zu nehmen und im Verein mit Magistrat und Geistlichkeit durchzuführen. In Straß­ burg hatte der humanistische Geist vor allem durch Jakob Wimpfeling seinen Einzug gehalten; doch war er mit seinem Vorschlag, ein Gym­ nasium zu gründen als Zwischenglied zwischen Lateinschule und Uni­ versität, 1501 noch zu früh gekommen. Erst Luthers Mahnruf an die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte Deutschlands vom Jahr 1524 bewog den Magistrat, die Schule als weltliche Angelegenheit an­ zusehen und sie, unter Mitwirkung der Geistlichkeit, für die Zwecke und Bedürfnisse der Bürgerschaft passend einzurichten. Neben sechs Knabenund vier Mädchenlehrhäusern unten, die unseren heutigen Volksschulen entsprechen, und neben den lectiones publicae als Grundlage einer philosophischen und theologischen Fakultät zuoberst, gab es bei der An­ kunft Sturms in Straßburg drei lateinische Schulen, die aber weder unter sich noch mit dem Oberbau des akademischen Studiums in einem planmäßigen Zusammenhang standen. Einen solchen galt es also her­ zustellen, und dazu wurde vom Magistrat Sturm ausersehen. Nachdem er die bestehenden Schulen zusammen mit zwei geistlichen Visitatoren eingehend inspiziert hatte, erstattete er 1538 seinen „Ratschlag an die

Schulherrn", der mit den Worten anhebt: ludos litterarum uno loco comprehendi utilius est quam varie distrahi. Und nun entwickelte er unter Berufung auf die Lütticher Schule seinen Plan, jene drei Schulen in eine einzige sechsklassige Gymnasialanstalt zusammenzufassen, an die sich dann als Sekunda der akademische Unterricht in den philo­ sophischen Fächern, als Prima der theologische Kursus anzugliedem habe. Auf diesen Vorschlag ging unter der Führung des selbst auch humanistisch gebildeten Stettmeisters Jakob Sturm der Rat ein, im Predigerkloster sollte ein solches Gymnasium eingerichtet und Johann Sturm sollte zum Rektor desselben emannt werden. Noch 1538 wurde die Schule eröffnet. Zur öffentlichen Rechtfertigung des Unternehmens schrieb Sturm das Programm de literarum ludis recte aperiendis. Aber aus der zuerst vorgeschlagenen sechsklassigen wurde hier eine achtklassige An­ stalt (mit den Alphabetarii waren es sogar 9 Klassen), daran sollte sich für die lectiones publicae ein öjähriger Kursus anschließen, so daß die ganze Studienzeit 1 + 8 + 5 = 14 Jahre betragen hätte. Der Rat blieb aber bei den zuerst vorgeschlagenen 6 Klassen, erlaubte jedoch, daß die zwei untersten Cöten je zweijährig sein durften; und aus dem einen Schuljahr der Alphabetarii wurden ihrer zwei, so daß faktisch doch an zwei Vorschulklassen ein achtklassiges Gymnasium und an dieses ein fünf­ jähriges philosophisch-theologisches Universitätsstudium sich angliederte. Die Einheit des ganzen Unterrichtsganges aber trat dadurch in die Er­ scheinung, daß Johann Sturm an Schule und Universität zugleich tätig war und als Rektor das ganze organisierte und leitete. Die Anstalt zeigte sofort lebhaftes Gedeihen. Gleich im ersten Jahr waren die Gymnasialklassen von 336 Schülern besucht, später stieg die Zahl auf mehr als 600; auch von auswärts kamen viele, darunter auch, was damals als ein Zeichen besonderer Blüte angesehen wurde, Söhne von Fürsten und hohen Adeligen. So konnte es nicht fehlen, daß ange­ sichts des Ruhms und der Leistungen der Straßburger Schulen der Kaiser Maximilian II. im Jahre 1567 die lectiones publicae als akademische anerkannte und ihrem Lehrkörper das Recht gab, in der philosophischen Fakultät Baccalaurei und Magistri zu ernennen, also Straßburg zu einer privilegierten Akademie erhob: am 1. Mai, der auch heute wieder als Stiftungstag der neuen Straßburger Hochschule gefeiert wird, wurde die Akademie durch einen feierlichen Mus eiöffnet, zum Rektor^aber Sieglet, Menschen und Probleme.

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auf Lebenszeit auch jetzt wieder Johann Sturm ernannt, ohne daß dadurch seine Stellung dem ganzen gegenüber eine Änderung erlitt. Der Lehrkörper bestand nun aus den öffentlichen Professoren der Aka­ demie und den Klassenpräzeptoren des Gymnasiums, und ihr gemein­ sames Haupt war Sturm. Die Einrichtung der Schule war natürlich nicht zu allen Zeiten während Sturms Rektorat dieselbe. Ein von Engel mitgeteilter Lehr­ plan von 1539 mag wohl für den Anfang zurecht gemacht und reduziert gewesen sein. Auf der Höhe ihrer Leistungen aber stand die Schule jedenfalls zur Zeit von Sturms epistolae classicae aus dem Jahre 1565, in denen er den Klassenlehrern ihre speziellen Aufgaben und da­ mit jeder Klasse und jedem Fach das Ziel bestimmte. Daher hält man sich besser an sie. Damach handelte es sich in der Dezima um Lesen- und Schreibenlemen, zunächst des Deutschen, dann aber doch vor allem auch hier schon des Lateinischen; durch Deklinations- und Konjugations­ übungen wurde selbst für den grammatischen Unterricht bereits der Grund gelegt; an die Stelle der anfangs benützten Briefe Ciceros traten als Lesebuch die Neanisci Sturms, die vor allem dem Erwerb einer aus­ gedehnten und systematisch angeordneten copia verborum dienen sollten und für die Jungen inhaltlich besser paßten als die Colloquia des Erasmus. Mit diesem lateinischen Elementarunterricht wird in Nona fortgefahren. In Oktava beginnt neben der Grammatik auch schon das Lateinischsprechen, für das durch das intensiv betriebene Aus­ wendiglernen von Vokabeln bereits ein gewisser Wortschatz gewonnen war; auch werden deutsche Sätze schriftlich ins Lateinische übersetzt; von Cicero werden einige Briefe und etliche Colloquia aus den Neanisci gelesen. In Septima werden die Hauptregeln der lateinischen Syntax gelernt und ganz energisch aus dem Deutschen ins Lateinische übersetzt; auch mit der poetischen Lektüre wird hier begonnen und dazu die mittel­ alterliche Spruchsammlung der Ethica Catonis benützt. In Sexta kommt die Syntax zum Abschluß, die Prosodie wird mit'Hilfe einer Chrestomathie nach rhetorischen Gesichtspunkten eingeübt, auch die Andria des Terenz durchgenommen; von Prosaikem werden neben Ciceros Briefen auch solche von Hieronymus gelesen; endlich setzt hier der griechische Unterricht ein, nach einer unter Sturms Leitung verfaßten Educatio puerilis linguae graecae. In Quinta wird die griechische

Formenlehre beendigt und an äsopischen Fabeln eingeübt; im Lateinischen bleiben Sprech- und Stilübungen, Vermehrung des Wortschatzes, Lektüre von Ciceros Briefen und Lälius, im Anschluß an ein weiteres Stück von Terenz sowie an die Eklogen des Vergil wird die Verslehre, die die Hauptaufgabe der Klasse bildet, durchgenommen. Mit Quarta beginnt das obere Gymnasium und damit der eigentlich rhetorische Unterricht, der von da an im Vordergrund steht; Reden Ciceros werden gelesen und nach rhetorischen Gesichtspunkten analysiert, auch Abschnitte aus Demosthenes ins Lateinische übertragen; ebenso werden ganze lateinische Reden oder ganze Gesänge der Aeneis deklamiert. Im Griechischen wird die Grammatik beendigt, Sudan, Jsokrates und Demosthenes und von Dichtem das goldene Gedicht der Pythagoreer gelesen. In Sekunda und Prima stehen Reden von Cicero obenan, er ist unicum litteratorum omnium exemplum; nur Sallust wird neben ihm noch genannt. An die Lektüre schließt sich zur Erzielung einer ornata elocutio ein theoretischer Unterricht in der Rhetorik und in der mit ihr zusammenhängenden Dialektik an, wofür Sturm einen Kom­ mentar zu Ciceros partitiones oratoriae in dialogischer Form geschrieben hat. Im Griechischen liest man Demosthenes, andere Prosaiker nur ausnahmsweise; dagegen fehlten als Dichter Homer und Euripides nicht. Der Religionsunterricht tritt in der Sturmschen Anstalt in keiner Weise hervor und überschreitet nirgends das Durchschnittsmaß jener Zeit; rasch genug muß vielmehr auch er dem sprachlichen Unterricht dienen, wenn schon in Septima der Katechismus ins Lateinische über­ setzt und im oberen Gymnasium das Neue Testament griechisch ge­ lesen wird. Endlich kommt als Drittes die Sachkenntnis, die cognitio rerum hinzu: — wie stand es damit in dem Lehprlan Sturms? Sie glaubte z. B. Melanchthon ganz ausschließlich aus den Alten schöpfen zu können, und so diente nach seiner Auffassung die klassische Lektüre wesentlich auch ihr. Nicht so bei Sturm, der vielmehr die griechischen und lateini­ schen Schriftsteller ausschließlich nach rhetorischen Gesichtspunkten Be« handelte und daher für die cognitio rerum in besonderen Unterrichts­ stunden hätte sorgen müssen. Im Programm von 1538 nennt er auch wirklich solche Fächer für Prima: tradenda etiam Arithmetica sunt et 4*

excutiendus Mela (Geographie) et proponendus Proclus (Astronomie) et cognoscenda sunt Astrologiae elementa. Allein in der Praxis ist bis 1566 von alledem nichts getrieben worden, in dem 9—10jährigen Kursus haben die Schüler des Straßburger Gymnasiums nicht einmal rechnen gelernt! Erst bei Errichtung der Akademie wurden für die zwei obersten Klassen jene Fächer in den Unterricht aufgenommen, vielleicht, wie H. Veil (Zum Gedächtnis I. Sturms 1888) vermutet, damit die Schüler, nachdem sie an Ostern die Prima absolviert haben, sofort im Mai die Baccalaureatsprüfung bestehen konnten, die sich auch auf die Ele­ mente der Mathematik bezog, — also lediglich um der „Berechtigungen" willen. Um nun aber den eben skizzierten Unterrichtsbetrieb zu verstehen, müssen wir auf die pädagogischen Grundsätze Sturms eingehen. Den Zweck des so zu organisierenden Unterrichts hatte er in seinem Programm von 1538 so formuliert: propositum a nobis est sapientem atque elo­ quentem pietatem finem esse studiorum. Das war die Aufgabe des gelehrten Unterrichts nach der Anschauung des deutschen Humanismus überhaupt: die pietas ist die protestantische Religiosität, die sapientia die Sachkenntnis, die eloquentia die Herrschaft über das lateinische Wort. Daß auf den religiösen Unterricht in der Schule Sturms kein allzu großes Gewicht gelegt worden ist, habe ich eben gesagt; überhaupt vermag ich auch bei ihm persönlich ein tieferes Gefühl für die religiöse Seite der Erziehung nicht zu entdecken. Um so energischer hielt er auf Disziplin und gute Sitten: der orator war ihm ein bonus vir; und der Theologe brauchte die Herrschaft über das Wort: so fielen die drei schließlich doch zusammen. Weiter forderte er ein einmütiges Zusammengehen von Schule und Haus; und auch das humanistische Mittel der Weckung des Ehrgeizes hat er nicht verschmäht, aber auch nicht übertrieben; die feierliche Art der Versetzungen ist an sich nicht verwerflich und paßte für reichsstädtische Gepflogenheiten ohnedies. Wie sehr der Sachunterricht vernachlässigt wurde, ist ebenfalls schon erwähnt. Mit dem unentwickelten Stand des Rechenunterrichts in jener Zeit überhaupt läßt sich das nicht entschuldigen. S. Günther hat in seinem Werk über den mathematischen Unterricht im Mittelalter (int 3. Bd. der Monum. Germ. Paedagogica) seit 1500 und vollends seit 1525 einen entschiedenen Fortschritt in den Rechenbüchern und eine starke

Vermehrung der Produktion in diesem Zweig der Schulbücherliteratur konstatiert; in Württemberg, in Gandersheim, in Augsburg wurde Arith­ metik gelehrt, in Ilfeld Geschichte und Geographie. Somit war es viel­ mehr eine spezifische Eigentümlichkeit und Einseitigkeit der Sturmschen Anstalt, daß hier die sapientia zu kurz kam, weil alles dem Moloch des Lateinischen geopfert wurde. Denn in der Tat, die eloquentia war das A und das O dieser Schule, und natürlich war es ausschließlich die lateinische Beredsamkeit, die an ihr gelehrt wurde. Sturm dieses letztere zum Vorwurf zumachen, ist un­ berechtigt; das entsprach den Anschauungen nicht nur, sondern auch den Bedürfnissen seiner Zeit; und ebenso sind alle Versuche, bei ihm Be­ geisterung für die deutsche Sprache finden und nachweisen zu wollen, ver­ geblich. So früh als möglich wird mit Lateinischsprechen begonnen und den Schülern das Deutschreden untereinander, sogar auch außer der Schule, verboten. Wenn aber Sturm glaubte und darauf hinarbeitete, daß die deutschen Knaben vollkommene Lateiner werden können und sollen, die mit Cicero zu wetteifern imstande wären, so liegt darin doch ein Hinaus­ gehen über die gemäßigten Anschauungen von Rudolf Agrikola, Erasmus und Melanchthon. Dieser gab unbefangen zu, daß wir die perfecta eloquentia eines Cicero nie erreichen können, cum sonus linguae latinae hoc tempore non sit nativus. Sturm dagegen meinte, daß wir „im Schreiben, Kommentieren, Deklamieren und Reden unsern Meistern nicht bloß folgen, sondem es sogar den besten Zeiten Athens und Roms gleichtun können"; und in jenem Mangel an „Naivität" sieht er geradezu ein publicum et commune malum, das man industriä corrigere müsse. Damit hat er das Ziel überspannt und auch für seine Zeit Unmögliches erstrebt. Und wenn er diese Unmöglichkeit dann doch zuweilen wieder einsieht und anerkennt, so offenbart sich hier nur die Tragik eines Lebens, das seine ganze Arbeit an eine unerreichbare Aufgabe gesetzt und in lichten Augenblicken sich diese Unmöglichkeit selbst zum Bewußtsein ge­ bracht hat. Fürs zweite aber handelte es sich bei Sturm nicht um Lateinsprechen überhaupt, sondem um lateinische eloquentia im Sinne der antiken Rhetorik. Rhetorischen Gesichtspunkten wird der ganze Unterricht unter­ worfen, die Sturmsche Schule ist eine Rhetorenschule im Sinne Quintilians. Daher ist im Gegensatz zu Erasmus, der die einseitigen Cicero-

nianer verhöhnt, in der Praxis wenigstens Cicero der fast einzige Autor des Sturmschen Gymnasiums, schon in Dezima soll mit ihm begonnen werden und in Prima ist man immer noch nicht mit ihm fertig. Da­ gegen werden die Historiker so gut wie ganz ausgeschlossen, nicht einmal Livius findet Gnade, trotz seiner vielen Reden. Und ebenso lernt man von den Griechen nur Rhetorik; selbst Homer wird lediglich um seiner rhetorischen Vorzüge willen gelesen und gelobt. Das wichtigste Mittel zur Erreichung dieses Zieles aber war die imitatio: die Schüler sollen reden und schreiben lernen, wie Cicero geredet und geschrieben hat, des­ halb müssen sie ihn von früh an nachahmen. Darauf hin und nicht wie Sohm (Die Schule I. Sturms und die Kirche Straßburgs 1912) meint, auf den Erwerb einer copiarerum und einer Art pansophischer Bildung sind ihre Diarien einzurichten, und demselben Zweck dienen die schriftlichen Arbeiten und die Dellamationen in den oberen Klassen. Diese Forderung und Theorie der imitatio nannte Raumer bekanntlich eine „Art Theorie der Dohlenstreiche", weil es sich dabei nur darum gehandelt habe, Phrasen Ciceros durch geringe Variation unkenntlich zu machen und sie dann als eigenes Produkt schriftlich oder mündlich anzubringen. Dieser Vorwurf hat bei Latinisten wie Eckstein großen Unwillen erregt und wurde heftig be­ stritten. Nun ist es ja richtig, Sturm kennt auch eine bessere und freiere Form der imitatio, quae libertatis suac utitur iure et eloquentiae Om­ nibus nititur privilegiis. Aber in der Schule konnte es sich um diese wahre Art der Nachahmung nicht handeln, Knaben fehlte dazu die nötige Freiheit des Geistes; selbst auf der Akademie war es nach dem Zeugnis des Professors der Dialektik, der dort die Dellamationen zu leiten hatte, noch nicht anders. Und so redet Sturm selbst von -xXsirteiv und furari (stehlen), und der eben erwähnte Professor der Dialektik erinnert ausdrücklich an jenen Raben Aesops, der sich mit fremden Federn schmückte. Also wirklich an Schule und Akademie die Praxis und Theorie der Dohlenstreiche! Seit 1565 finden wir endlich die weitverbreitete Sitte der Auf­ führung lateinischer Dramen auch am Straßburger Gymnasium. Aber auch sie wird in den Dienst der eloquentia gestellt, damit die Schüler dabei lateinisch reden und überhaupt reden lernen: der Komödiant soll hier den Redner lehren. Wenn Sturm selbst erwähnt, daß manche diese Sitte mißbilligen wegen des sittlich bedenklichen Inhalts der meist

plautinischen oder terenzischen Stücke und weil „die Knaben darüber die anderen Studien vernachlässigen", so sieht man, daß auch ihm wie manchen andern Humanisten die Form über den Inhalt ging und der Zweck der rhetorischen Ausbildung alle sittlichen und pädagogischen Be­ denken zum Schweigen brachte. Und so bin ich schließlich allerdings mit Laas der Meinung, daß Sturm durch die Überspannung und Einseitigkeit seines rhetorischen Formalismus zu den hervorragenden Vertretern des älteren deutschen Humanismus, zu Agrikola, Erasmus, Melanchthon und auch zu dem ihm wohlbekannten Ludwig Vives in einem gewissen Gegensatz steht. Er hat die schiefe Ebene betreten, die von der Höhe dieser Männer zn dem virtuosen Epigonentum eines Nikodemus Frischlin herabführt. Dabei verkenne ich nicht, daß sich in der Schule und für die Schule jene freiere und inhaltsvollere Auffassung der Ziele und Aufgaben des Hu­ manismus notwendig beiengem mußte. Allein das entlastet Sturm nur teilweise; denn auch hierbei ist er über das Maß des Unvermeidlichen weit hinausgegangen; er war nur Techniker, daher trieb er Rhetorik und übersah in der Freude am virtuosen Können die Hauptsache, den Inhalt und den Geist, übersah das wahre Ziel des Humanismus, die humanitas, die Ausbildung zum ganzen vollen und schönen Menschentum. Und da der Einfluß Sturms auf den Schulbetrieb des deutschen Gym­ nasiums überhaupt vielfach maßgebend geworden ist, so ist wesentlich durch ihn der Humanismus in der Schule über seine ursprüngliche Absicht und Anschauung hinaus formalistisch verengt und veräußerlicht worden. Nun hat man sich auf seiten derer, die das zugeben, angewöhnt, Sturm wenigstens um seiner Folgerichtigkeit willen zu loben und zu sagen: wenn sein Ziel das richtige gewesen wäre, so hätte es keine bessere Methode als die seinige geben können, um es zu erreichen. Doch ist das nur rein äußerlich betrachtet wahr, wenn man nämlich die auf das eine Ziel hin sich spannende Konzentration rein formalistisch ins Auge faßt. Allein sind denn die Schüler Sturms Ciceros und De­ mosthenes' geworden? Er gibt ja in trüben oder vielmehr in lichten Stunden selbst zu, daß das nicht gelungen sei. Und auch hinsichtlich des eingeschlagenen Weges wird man fragen können, ob sich durch eine geistvollere und interessantere Art des Unterrichts nicht auch für seine Zwecke mehr hätte erreichen lassen. Das Konzentrieren allein tut es

eben nicht; „variatio delectat“ ist eine psychologisch und pädagogisch richtige Regel, und sie hat Sturm gänzlich außer acht gelassen; dieser Lateinbetrieb mußte den Schülern auf die Dauer geradezu unerträglich werden. Und daher ist auch nach seinem Tod über das protestantische Gymnasium zu Straßburg so schnell die Götterdämmerung herein­ gebrochen: die Mühle klapperte weiter, aber es kam kein Mehl heraus, weil man versäumt hatte, zur rechten Zeit Substantielles und Inhalt­ liches aufzuschütten. Seine Zeit freilich urteilte anders, der Ruhm des Straßburger Gymnasiums verbreitete sich immer mehr und verknüpfte sich mit Sturms Namen. Er galt als der bedeutendste humanistische Pädagoge seiner Zeit, und so berief man seine Schüler als Lehrer und Rektoren nach aus­ wärts, damit sie in seinem Geiste unterrichten und die Schulen einrichten sollten; und ebenso zog man ihn selber bei Neugründungen oder Um­ gestaltungen von Schulen zu Rat. Dadurch wurde er für die Entwicklung des ganzen humanistischen Schulwesens in Deutschland von größter Bedeutung, vor allem durch den Einfluß, den er persönlich oder durch seinen Schüler Toxites auf die Württembergische Schulordnung von 1559 ausübte; daß aber die Sturmschen Übertreibungen und Unter­ lassungen in dieser Schulordnung vermieden wurden, war das Ver­ dienst des Stuttgarter Pädagogarchen Wacker und einer in Maul­ bronn tagenden Kommission, zu der Brenz, Hornmolt und Vannius gehört haben. Da die Württembergische aber dann weiterhin auf die Braunschweigische Schulordnung von 1569 und ganz besonders auch auf die Kursächsische von 1580 einwirkte, so trug in Nord und Süd das protestantisch humanistische Schulwesen Züge des Sturmschen Geistes. Ja, trotz Pachtlers Widerspruch (Monum. Germ. Paedagogica Bd. 5, S. VI), möchte ich auch an eine Beeinflussung der jesuitischen Schulen durch Sturm glauben, wie umgekehrt er selber über die jesuitische Stu­ dienordnung sich sehr günstig geäußert und erklärt hat, daß sie „a nostris

praeceptis institutisque usque adeo proxime abest, ut a nostris fontibus derivata esse videatur“. Im Formalen trafen allerdings Sturm und die Jesuiten vielfach zusammen; aber man mußte doch allzuwenig Gewicht auf Inhalt und Geist legen, wie dies Sturm ja allerdings selber getan hat, wenn man die grundsätzliche Verschiedenheit daneben so völlig übersehen konnte.

Allein auch wenn man sich ganz auf den Boden der Zeit und der Sturmschen Anschauungen stellt, so bleibt doch Raum zu allerlei Bedenken. Aus den epistolae classicae von 1565 geht hervor, daß Sturm in den 27 Jahren seit Bestehen der Schule manches versäumt hatte, was wir von einem guten Schulrektor heute entschieden erwarten. Wenn er sagt: per omnes classes progredi c o g i t o , ut non solum scriptor sed etiam actor esse videar, so sieht das aus wie eine Neuerung. Von seiner Methode zur Erwerbung einer copia verborum gesteht er, daß sie zwar a me iudicata ante annos viginti septem, sed non intellecta est, und so will er jetzt erst Sorge tragen, intelligi illam et tradi et exerceri et in scholis, si meum Consilium sequantur homines, retineri. Die Prä­ zeptoren waren mit der Verteilung der Klassen und Stunden offenbar nicht immer einverstanden, und umgekehrt klagt Sturm, daß seine Me­ thode bis dahin nur wenige geeignete Lehrer gefunden habe, während er natürlich als echter Methodiker davon überzeugt ist, „daß eine bessere überhaupt nicht gefunden werden könne'". Auch kam es der Schule gewiß nicht zu gut, daß er selbst als Rektor am Gymnasium keinen Unter­ richt erteilte, und zwar prinzipiell mit der Begründung, ut plus habeat auctoritatis illud officium. Darnach klingt es doch im ganzen wie eine bedenkliche Selbstkritik, wenn er 1565 die Hoffnung ausspricht: multo plura assequemur quam superioribus annis. Andererseits bestand allem nach gerade darin das Geheimnis des Gedeihens seiner Anstalt, daß er die für einen Herrscher und Rektor so notwendige Gabe der Unterscheidung der Geister in hohem Maße besaß und für die einzelnen Posten und Plätze die richtigen und passenden Leute herausfand. Es geht dies auch aus der feinen Individualisierung hervor, die wir in dem Ton seiner epistolae classicae an die einzelnen Lehrer überall wahr­ nehmen und die eine verschiedenartig nuancierte Wertung ihrer Gaben und Leistungen deutlich spüren läßt. Wie weit er freilich die rechten Leute fand, das lag ja nicht allein an ihm, und so klagt er noch einmal nach seiner Absetzung, als er den Schwaben Nicodemus Frischlin zur Anstellung am Straßburger Gymnasium empfahl: einen solchen Mitarbeiter habe er sich immer gewünscht, aber leider nie finden können. In Wirklichkeit überragte er, soweit wir sehen, alle seine Lehrer um mehr als Haupteslänge. Melleicht liegt aber gerade in dieser Mittel­ mäßigkeit aller anbeut die Größe seines Erfolges mitbegründet: dadurch

konnte er der Straßburger Schule so ganz den Stempel seines Geistes aufdrücken und war diese so ganz sein Gymnasium. Sturm war aber von seinen Lehrern auch deswegen so abhängig und mußte sich trotz aller ihrer Schwächen auf sie verlassen können, weil er ein auch sonst vielfach in Anspruch genommener Mann war und sich als ein Vielgeschäftiger sogar mehr Arbeit machte, als ihm als Rektor von Berufswegen ohnedies schon oblag. Er unterrichtete nicht in seiner Schule, wohl aber die ganze Zeit über als Universitätsprofessor an der Wademie. Wie sich diese beiden Tätigkeiten heute noch gelegentlich ver­ einigen lassen, so noch viel leichter damals, wo der Unterrichtsbetrieb der philosophischen Fakultät von dem der oberen Klassen eines Gym­ nasiums höchstens quantitativ verschieden war. Sein Hauptfach war auch hier die Rhetorik, über die er auch ein aus seinen Vorlesungen hervorgegangenes Lehrbuch geschrieben hat. Unserem Geschmack sagt dieses Buch de universa ratione elocutionis rhetoricae freilich wenig zu; die Methode ist die scholastische mit ihrer ganzen Breite und ermüdenden Weitläufigkeit, die an die Geduld der Hörer fast übermenschliche Anfordemngen stellt. Auch in seinen viel kürzer gehaltenen partitionum dialecticarum libri quatuor, die für die Schule bestimmt waren, geht vieles über die Fassungskraft-eines Primaners und noch mehr über dessen Jnteressenkreis hinaus. Im ganzen urteilt Bursian in seiner Geschichte der klassischen Philologie in Deutschland über diese wissen­ schaftlich philologischen Leistungen Sturms gewiß mit Recht, daß sie „hinter den pädagogischen entschieden in den Hintergrund getreten seien; doch seien seine Verdienste um die Erkenntnis und Würdigung der red­ nerischen Kunst der Alten nicht gering anzuschlagen"; und ebenso nennt ihn Bruno Keil in seinem Aufsatz Pro Hermogene (Nachr. d. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen 1907) „den letzten großen Technographen der Rhetorik im Sinne der Antike". So lag also wie in der Schule so auch hier nicht nur der Nachdruck sondem auch der Wert seiner Arbeit auf dem Rhetorischen. Sturm war aber neben dem Rektor nicht nur Universitätsprofessor, er war auch Diplomat; wenigstens wollte er es sein. Im Gegensatz zu den elsässischen Humanisten wie Mmpfeling hatte Sturm etwas Kos­ mopolitisches an sich, auch die humanistische Eitelkeit fehlte bei ihm nicht; und so legte er Wert darauf, in aller Welt mit Fürsten und Staats-

männern Beziehungen anzuknüpfen und in den kirchlichen und politischen Gegensätzen der Zeit den Zwischenträger und Vermittler zu spielen. Namentlich hielt er Straßburg für den geeigneten Ort, von dem aus sich zwischen Frankreich und den deutschen Protestanten Freundschaft und Bündnis stiften ließe; daher sorgte er durch seine weitverzweigten Verbindungen hin und her zunächst einmal für Information. Dabei hat er offenbar, aus alter Vorliebe für Frankreich, manches über seine Instruktionen hinaus oder ganz auf eigene Faust getan und gezettelt; und wenn er sich eine Zeitlang sogar dazu hergab, dem Kaiser durch Granvella politische Nachrichten zugehen zu lassen, so erscheint er in dieser seiner Tätigkeit als politischer Agent doch in einem recht zwei­ deutigen .Licht. Wenn diese Mitteilungen freilich so belanglos waren, wie die, die er dem König Christian III. von Dänemark zukommen ließ, so hatte er keinen Grund sich allzuviel darauf einzubilden. Ob er übrigens dafür oder für seine pädagogischen Verdienste im Jahre 1555 vom Kaiser nobilitiert wurde, vermag ich nicht anzugeben. Je geschäftiger er aber auf politischem Gebiete war, desto mehr mußte darüber sein eigentlicher Beruf Not leiden. Wiederholt war er Wochen und Monate lang abwesend und mußte sich vertreten lassen, und so wer­ den aus den Reihen der Lehrer heraus Klagen laut wie die, daß er nun alterum quoque iam mensem weg sei, neque adhuc quando lectioncs auspicaturus sit, certi sumus, quod sane nobis molestum est; und von Toxites meint Charles Schmidt (La vie et les travaux de Jean Sturm 1855), daß er sich deswegen als Lehrer der Quinta nicht habe halten können, weil der Rektor wieder einmal auf Reisen war und ihn daher nicht beaufsichtigen und für ihn eintreten konnte. Daß man aber für solche Bedenken doch nur Andeutungen auffinden kann, beweist, wie stark das Gefüge des von Sturm errichteten Baus und wie tüchtig ein­ geschult die Lehrer doch wieder gewesen sein müssen, die er ausgewählt und auf ihren Platz gestellt hat. Es waren übrigens nicht bloß politische, sondern vor allem auch kirchlich-religiöse Fragen, die ihn bewegten und von Hause wegführten. An einer Reihe von Religionsgesprächen und Verhandlungen der vier­ ziger Jahre, die Katholiken und Protestanten, Lucheraner und Refor­ mierte einigen sollten, hat auch er teilgenommen. Er stand dabei auf einem zwischen den Wittenbergern und den Schweizern vermittelnden

Standpunkt, wie ihn auch Nutzer und Jakob Sturm einnahmen. In Straß­ burg selbst aber, wo namentlich durch Jakob Sturm ein Geist der Duld­ samkeit und universalen Bildung geherrscht hatte, bekam nach dem Weg­ gang des ersteren und dem Tod des zweiten seit 1553 die lutherische Orthodoxie immer mehr die Oberhand. DemFührer dieser unduldsamen Epigonen Marbach trat Sturm zuerst als Verteidiger des reformierten Theologieprofessors Zanchi, dann überhaupt als Vorkämpfer religiöser Duldsamkeit und Weitherzigkeit gegenüber. Allein wie nun der Streit vor die Öffentlichkeit kam, führte er ihn nicht bloß mit wachsender Leiden­ schaft und Grobheit, sondern auch mit einem betn theologischen kaum nachstehenden Selbstgefühl und Unfehlbarkeitsbewußtsein. Es war zu­ gleich ein Kampf um die Schule und ihre Oberleitung, nach der im Inter­ esse der Reinheit der Lehre die Theologen griffen, während Sturm an der alten Anschauung von dem Zusammenwirken von „Obrigkeit, Pre­ digern und Schule in ihrer Bürgerpädagogik auf Gott" festhielt. Lieber als seineSchule denTheologen unterzuordnen oder die Herrschaft mit ihnen zu teilen, bot der herrschgewohnte Mann seine Entlassung an, die aber damals nicht angenommen wurde. Noch einmal gelang es den vom Rat bestellten Schiedsrichtern 1575 eine Aussöhnung zwischen den beiden Streitern zustande zu bringen. Aber der Friede war nicht von langer Dauer. Seit 1577 stritt man sich auch in Straßburg um die Konkordienformel, für die an Stelle des erkrankten Marbach der zelotische Pappus auf Kanzel und Katheder mächtig agitierte. Als er in einer Disputation das in der Konkordienformel vielfach geübte Verdam­ men von Glaubenssätzen als wohl verträglich mit der christlichen Liebe verteidigen wollte, untersagte ihm Sturm als Rektor die Fortsetzung und griff nun auch seinerseits in diesen Kampf ein. In seinen Antipappi zeigte er sich aber womöglich noch leidenschaftlicher als vorher gegen Mar­ bach, und so nahm der Streit solche Dimensionen an, daß Sturm schließ­ lich nicht mehr ohne ein Geleite von Studenten sein Haus verlassen konnte. Endlich gebot der Rat Schweigen; doch als sich Auswärtige ein­ mischten, glaubte sich Sturm ihnen gegenüber nicht daran gebunden und brach von neuem los. Darin sah der von Pappus beeinflußte Rat einen Friedensbruch und bedrohte Sturm sogar mit Gefängnis; und als dieser die gewünschte Entlassung nicht freiwillig nahm, wurde er am 7. Dezember 1581 trotz seines Protestes und seiner Berufung auf seine Emennung zum rector perpetuus abgesetzt.

Voll Bitterkeit zog er sich auf sein Tuskulum, ein kleines Gütchen zu Northeim in der Nähe von Straßburg zurück, ein einsamer alter Mann, dem dazu noch drohende Erblindung und schwere Geldsorgen zu schaffen machten. Doch ließ ihn sein Gottvertrauen und sein sanguinisches Temperament nicht ganz versinken, auch die Lust zur Arbeit hat ihn bis zuletzt nicht verlassen. Und daß er nicht aufhörte für sein Gymnasium zu sorgen, zeigt das Empfehlungsschreiben für Nicodemus Frischlin an den Bürgermeister Lorchel vom 23. Januar 1585. Dieser Brief ist zugleich ein schöner Beweis von Versöhnlichkeit und Edelmut; denn Frischlin hatte in der Fehde mit Pappus für diesen gegen Sturm Partei genommen und sich dabei auch über die Grammatik des Sturmschen Gymnasiums sehr despektierlich geäußert. Für Sturm aber kam unter solchen Umständen der Tod — am 3. März 1589 — nur noch als Erlöser und Befreier. Beerdigt wurde er in Straßburg, und die Akademie veranstaltete wenigstens eine solenne Totenfeier zu Ehren ihres ersten Rektors. Sein Name aber blieb über Trotzendorf, Neander und Wolf hinaus als der des größten humanistischen Schulrektors und pädagogischen Or­ ganisators und Technikers im sechzehnten Jahrhundert bis auf unsere Zeit; und hier wurde er dann noch einmal Gegenstand eines lebhaften Streites. Nicht sowohl aus historischem Interesse, sondern es galt viel­ mehr der Entscheidung über eine ganz aktuelle Frage: ob in dem deutschen Gymnasium, wie es zu Ansang des neunzehnten Jahrhunderts durch den Neuhumanismus umgestaltet worden ist, der Sturmsche Geist noch umgehe, und ob er das Recht habe sich noch immer geltend zu machen. Man kann Sturm historisch in seinem vollen Werte würdigen und dieses letztere dennoch bestreiten; und man kann selbst die formale Aufgabe sprachlicher Schulung mittelst des Lateinischen als des „grammatischen Knechtes" auch für unsere Zeit noch als ein richtiges, nur nicht als das einzige und hauptsächlichste Ziel humanistischer Bildung anerkennen und deshalb doch wünschen, daß die Sturmsche Art des Betriebes und die Sturmsche Auffassung ihrer Aufgabe, namentlich hinsichtlich der imitatio, von unseren Gymnasien definitiv ausgeschlossen bleiben und für immer ferngehalten werden möge. Aber um wen nach mehr als 350 Jahren noch so gestritten wird, als wäre er ein Lebendiger und noch immer eine Macht, der ist jedenfalls kein unbedeutender Mensch, und

wer so kräftig zu organisieren und zu herrschen versteht, der ist eine Potenz, ein Mann der Kraft und des Willens gewesen. Andrerseits wird man Fr. Albert Lange in seinem Urteil über Sturm dennoch recht geben müssen, daß „seine Talente größer waren als seine moralische Kraft": er war zu leidenschaftlich, um immer maßvoll und gerecht, zu vielgeschäftig und zu eitel, um immer charaktervoll und zuverlässig zu bleiben.

Kant *). Zum 12. Februar 1904. Wenn wir am 9. Mai 1905 den Todestag Schillers feiern, da wird es noch einmal sein wie das Anheben der Klage um den verherrlichten Sohn der Thetis in seiner „Nänie": Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.

Sein Tod war ein jähes Abbrechen mitten heraus aus höchstem Dichten und Schaffen, darum stimmen wir immer aufs neue die Toten­ klage um ihn an, gemildert freilich und verklärt durch die Ferne der Zeiten. Ganz anders da, wo das lange Leben eines Großen im Reiche des Geistes sich ausgelebt oder vollends dann, wenn ein solches Leben sich überlebt, das Greisenalter den Geist zermürbt und zu weiterem Schaffen unfähig gemacht hat. Hier ist lautes Feiern nicht am Platze; man hat Zeit und man tut wohl daran, den nahen Geburtstag zu er­ warten als den Tag, an dem ein solcher Mensch zum Heil und zum Licht der Welt geboren und geschenkt worden ist. Und so ist auch am heutigen Tag, an dem vor 100 Jahren Kant gestorben ist, nach meinem Gefühl nur ein stilles Gedenken am Platz, wozu das geschriebene Wort bessere Dienste leistet als feierlicher Festakt und lautes Reden. Daß Kant ein großer Philosoph gewesen ist und durch den kate­ gorischen Imperativ seiner Zeit und vor allem auch seinem preußischen Volke Eisen ins Blut gegeben und es stark gemacht hat, in einem großen Augenblick seine Pflicht zu tun, das weiß jedermann von ihm. Mer worin jene seine Größe bestand und warum er noch heute und heute wieder im Mittelpunkt unserer philosophischen Arbeit steht, das ist doch nur den wenigsten klar. Und es ist auch nicht leicht, es allgemein bet» *) Erschienen in den Münchner Neuesten Nachrichten am 12. Februar 1904, Vorabendblatt und Morgenblatt.

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Kant.

stündlich und allen zugänglich zu machen.

Denn schon äußerlich sind

gerade seine epochemachenden Werke in einer so esoterischen und so mühsam für seine neuen Gedanken um den richtigen Ausdruck ringenden Sprache geschrieben, daß sie den Neuling oft fast zur Verzweiflung bringt. Und auch sachlich klingt manches wunderlich und paradox genug, so wenn es heißt, daß wir es sind, die der Natur ihre Gesetze vorschreiben und dadurch eine Natur überhaupt erst möglich machen. Und doch liegt gerade hier die Kopernikustat Kants. Kopernikus hat die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt hinausgerückt und damit die Weltbetrachtung sozusagen auf den Kopf gestellt: nicht mehr dreht sich das Weltall um unseren kleinen Wandelstern, sondern die Erde und mit ihr wir Menschen kreisen um die Sonne, deren Aufgehen und Unter­ gehen also nur Schein, nicht Wirklichkeit ist. Fast noch radikaler ist die Revolution, die Kant mit unserem Verhältnis zur Welt vornahm. Bis zu ihm hin stand der Mensch in einer ihm fremden Außenwelt, die sich irgendwie in seinem Geiste abspiegelte; er war der Empfangende, die Außenwelt die Gebende, er der Natur gegenüber rezeptiv und passiv, ihre Gesetze wurden ihm von ihr diktiert und vorgeschrieben. Da kam Kant und erklärte: die räumliche Welt ist nicht außer, sondern in uns, ist eine Welt der Erscheinung, der Vorstellung, des Bewußtseins; Raum und Zeit sind nicht jene Undinge, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt, fertige leere Gefäße, in die die materielle Welt ein- und ausgegossen ist, sondern sie sind die Art und Weise, wie wir unsere Empfindungen ordnen und zu Anschauungen gestalten, darum stammen sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus uns. Aber gerade daher kommt es nun auch, daß wir uns alles räumlich und zeitlich vorstellen müssen, und daß die Wissenschaft von diesen reinen Formen der Anschauung den Charakter des Allgemeingültigen und Notwendigen an sich hat. So beantwortet Kant die Frage: wie ist Mathematik als Wissenschaft möglich? Allein mit jener ersten Verknüpfung durch Raum und Zeit begnügt sich der auf Verknüpfung (Synthesis) gestellte menschliche Geist nicht. Die Anschauungen verknüpft der Verstand noch einmal in der Einheit des Be­ wußtseins durch gewisse Begriffe, die Kategorien und durch die Grund­ sätze des reinen Verstandes, unter denen das Gesetz der Kausalität das wichtigste ist. Diese Gesetze sind nicht der Erfahrung entnommen, son­ dern machen erst ihrerseits Erfahrung und Erfahrungswissenschaft mög-

lief), sie allein verknüpfen das Mannigfaltige der Erscheinung zur Ein­ heit einer Natur. Also nicht aus ihr als einer uns fremden Welt liest der Geist diese Gesetze empirisch ab, sondern er schreibt sie der Welt der Er­ scheinungen, schreibt sie der Natur autonom, von sich aus vor und ver­ knüpft so erst das Mannigfaltige nach seinen Regeln zu einer Naturein­ heit. Naturgesetze sind Geistesgesetze. Damit löst Kant die zweite Frage: wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Und fassen wir diese beiden Teile der Kritik der reinen Vernunft, wie wir das dürfen, in einen zusammen, so hat er darin durch diese seine Theorie der Erfahrung Antwort gegeben auf die Frage nach der Möglichkeit und Gültigkeit der mathematischen Naturwissenschaft, wie sie ihm in Newton zuerst imponierend entgegengetreten war. Aber alles das gilt nur, weil die Welt, um die es sich handelt, meine Welt, die Welt des Bewußtseins, eine Welt der Erscheinungen ist. In diesem Sinn ist Kant Idealist. Von den Dingen unabhängig von uns, den „Dingen an sich" wissen wir nichts. Sie sind ein unbekanntes x, ein bloßer Grenzbegriff, bei dem alle Erkenntnis aufhört. Die mensch­ liche Vernunft aber will auch von ihnen etwas wissen, sie sucht zu der Welt des Bedingten, in die wir mit unserem Erkennen hineingebannt sind, ein Unbedingtes, jenseits der Grenze Gelegenes, und wendet darauf unberechtigterweise die Kategorien an. So gewinnt sie freilich eine neue Wissenschaft, die Metaphysik. Um sie hatte sich Kant jahrzehntelang bemüht und immer neue Versuche gemacht, sie zu retten. Jetzt weiß er, Metaphysik in dem üblichen Sinne des Wortes ist nicht zu retten, sie ist überhaupt keine Mssenschaft. Das zeigt er im einzelnen an den Trugschlüssen der rationalen Psychologie, die über eine substantielle und immaterielle Seele etwas aussagen will, von der wir doch nichts wissen können, an den Antinomien der rationalen Kosmologie, die auf unlös­ bare Widersprüche führt, und an den falschen Schlüssen der rationalen Theologie, die das Dasein Gottes beweisen will, das sich doch niemals beweisen läßt. So ist Kant, wie ihn Moses Mendelssohn genannt hat, der Allzermalmer der Metaphysik geworden, wenn man unter dieser einen Bau versteht, der in den Himmel reicht, und sich nicht mit einem bescheidenen Wohnhaus auf der Ebene der Erfahrung begnügt. Daher gilt er allen denen, die ihn nicht verstehen oder durch kirchliche Voraussetzungen an Siegler, Mensche» und Probleme.

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jene alte Metaphysik gebunden sind, noch immer für einen Zerstörer des Glaubens. Keiner ist deshalb übler mit ihm umgesprungen als der ultramontane O. Willmann in seiner geradezu tragischen „Geschichte des Idealismus", in der alles Große klein und viel ganz Kleines groß gesehen und gemacht wird. Und doch wollte Kant ganz im Gegen­ teil auf diesen Gebieten das Scheinwissen aufheben, um dem Glauben Platz zu machen. Denn was die theoretische Vernunft nicht beweisen und erkennen kann, das soll die praktische Vemunft glauben. Kants Ethik ist formalistisch und rigoros. Den Willen als sittlichen bestimmt nicht sein Inhalt, nicht Trieb oder Neigung, das wäre em­ pirisches Glückseligkeitsinteresse, wäre übler Eudämonismus und Sub­ jektivismus; sondem den sittlichen Willen bestimmt wiederum nur die reine Form des Denkens, die Angemessenheit an ein allgemein formales Gesetz. Daher lautet sein kategorischer Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Seine Beispiele freilich zeigen, daß eine solche rein formale Regel unfruchtbar bleibt und der Ausschluß jeglichen Eudämonismus ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber der Apell an den Pflichtbegriff war in einer durch die Ethik der Aufklärung und ihren Utilitarismus arg verweichlichten Zeit doch ein Gewaltiges und Großes, wofür das deutsche Volk Kant nicht dankbar genug sein kann. Wie sehr er selbst für sein Leben von diesem Pflichtgedanken erfüllt war, ist bekennt; es zeigt sich auch in jenem ihm sonst fremden Pathos, mit dem er ihn neben die Erhabenheit des Sternenhimmels stellt und ausruft: „Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, das Einschmeichelung bei sich führt, in Dir fassest, sondern Unterwerfung verengst... und bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüt Eingang findet." Schließlich aber mußte er doch zugeben, daß die Triebfeder des Willens stets ein Gefühl sei; daher suchte er auch für den ältlichen Willen nach einem solchen, und fand es in dem Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, das, mit dem ästhetischen Gefühl der Erhabenheit nahe verwandt, Unlust und Lust in eigenartiger Weise in sich vereinigt. Auf dem Sittengesetz aber beruht für unsere Erkenntnis die Frei­ heit, nach dem stolzen Wort: „Du kannst, denn du sollst!" Der sittliche Wille, der sich selbst das Gesetz gibt, ist als solcher ein autonomer, ein freier Wille. Aber wie ist Freiheit möglich ? Die Welt der Erscheinungen,

zu der auch der Mensch und jede seiner Handlungen mit gehört, ist hinein­ gebannt in die Kette der Kausalität, also sind unsere Handlungen deter­ miniert, ist unser empirischer Charakter berechenbar. Mein der Mensch ist Bürger zweier Welten, sagt Kant wie Platon. Er gehört nicht nur der Welt der Erscheinungen an, sondern auch der Welt der Dinge an sich, der intelligibeln Welt, und für diese gilt das Gesetz der Kausalität nicht, hier ist also der Mensch frei. Daß er so ist wie er ist, das ist seine freie Tat. Darin liegt nun freilich ein unvorstellbar mystisches oder gar mythologisches Element in Kants Philosophie; deshalb folgten ihm auf diesem Wege auch mit besonderer Vorliebe Schelling und Schopen­ hauer. Auf dieser Moral erbaut sich aber nun auch die Religion. Nicht wird Moral abhängig gemacht von Religion, das wäre üble Heteronomie, sondern umgekehrt ist Religion abhängig von Moral. Nicht Bestimmungs­ grund, aber Objekt des sittlichen Handelns ist das höchste Gut. Dieses ist nach Kant—darin zeigt sich sein ethischer Individualismus — die Ver­ einigung von höchster Tugend und Glückseligkeit des einzelnen: so kommt das Glücksgefühl und Glücksverlangen nachträglich, aber schwerlich im Einklang mit dem Vorangehenden doch noch zu seinem Recht. Da wir aber in dieser sinnlichen Welt niemals vollkommen gut werden, so be­ darf es eines unendlichen Fortschreitens und Fortlebens, der Unsterblich­ keit der Seele; und zur Ausgleichung zwischen sittlichem Verhalten und glückseligem Ergehen bedarf es eines Gottes, der Herr ist über den Naturlauf und diesen dem sittlichen Verhalten der Menschen konform gestaltet, also selbst ein moralisches Wesen sein muß. Das alles läßt sich .freilich nicht beweisen, sondern nur glauben, es sind Postulate und als solche Sache eines reinen moralischen Bernunftglaubens. Das führt zu der tiefsten Schrift Kants, „der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Es war zugleich für ihn ein Schick­ salsbuch. Um ihretwillen erging von dem König Friedrich Wilhelm II. auf Grund des berüchtigten Wöllnerschen Religionsediktes von 1788 jene brutale Kabinettsorder vom 1. Oktober 1794, worin Kant des Miß­ brauchs seiner Philosophie zur Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums be­ schuldigt, zur Verantwortung aufgefordert und ihm bei Vermeidung der höchsten Ungnade und sonstiger unangenehmer Folgen verboten wurde, 5*

sich künftighin nichts dergleichen mehr zu Schulden kommen zu lassen. Kant fügte sich nach dem Grundsatz, den er damals auf einen Zettel geschrieben hat: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig, aber Schweigen in einem Fall wie der gegenwärtige ist Untertanenpflicht; und wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen." Nach dem Tode des Königs hat er in der Vorrede zum „Streit der Fakul­ täten" von 1798 dieses Erlebnis erzählt und den königlichen Erlaß famt seinem Rechtfertigungsschreiben darauf öffentlich mitgeteilt. Für ihn persönlich kam jedoch diese Rehabilitation vor der Öffentlichkeit zu spät, es war das letzte Aufflackern seines Geistes, der durch jene Mißhandlung doch aufs tiefste erschüttert worden war. Und wie bitter unrecht war ihm damit durch den Unverstand des frömmelnden Königs und seines zelotischen Ministers geschehen! Denn was wollte Kant mit seiner Religionsphilosophie? Nichts anderes, als das christliche, speziell das protestantische Bewußtsein philosophisch recht­ fertigen, was allerdings nur durch eine spekulative und symbolische Um­ deutung der dogmatischen Begriffe möglich war. Das Hauptproblem war ihm hier das Böse, das er durch eine neue, mit dem Bisherigen freilich nicht in Einklang stehende Fassung des Freiheitsbegriffs auf einen Willensakt des intelligibeln Menschen zurückführte. Die Frage aber ist nun die: Wie kann der böse Mensch wieder zu einem guten werden? Die Antwort darauf lautet: Duch Wiedergeburt und Glauben, d.h. durch eine Revolution der Denkungsart und durch den Glauben an den Sohn Gottes in uns, an die Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit. So ist der Inhalt der Religion freilich nur Moral, die Form aber ist Religion. Und zugleich überwindet Kant hier den Individualismus, über den er auch in seiner Ethik gelegentlich hinausstrebte, wenn er verlangte, die Menschheit „niemals bloß als Mittel zu brauchen". Wirklich darüber hinausgekommen ist er aber doch erst in seiner Religionslehre. Indem er nämlich erkannte, daß das Böse wesentlich auf dem Boden der Gesell­ schaft wachse, forderte er zu seiner Überwindung die Errichtung eines ethischen gemeinen Wesens, einer unsichtbaren Kirche, des Reiches Gottes auf Erden. Die positiven Religionen aber sind nur danach zu werten, wie fern oder wie nahe sie dem reinen moralischen Vernunftglauben stehen. Denn was außer dem guten Lebenswandel der Mensch

noch tun zu können meint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes. Wie sich Kant hier mit den tiefsten und feinsten Gedanken Lessings berührt, liegt auf der Hand. Wie dieser überwand auch er die Aufklärung, nicht indem er sie verwarf, sondern indem er ihr Bestes festhielt und sie dadurch spekulativ und historisch vertiefte. Auch im Glauben und in der Religion muß Ver­ nunft sein: das ist die Forderung der Aufklärung; sie in den protestan­ tischen Glaubensbegriffen aufzuzeigen, war die Endabsicht seiner Re­ ligionslehre. Kants ganze Philosophie ist dualistisch. Sinnlichkeit und Verstand, Neigung und Pflicht, theoretische und praktische Vemunft, Wissen und Glauben waren überall voneinander geschieden und in ihrer Gegen­ sätzlichkeit einander meist recht schroff gegenübergestellt. Gab es aber nicht doch vielleicht eine Vermittlung zwischen den beiden getrennten Gebieten, zwischen Sinnlichkeit und Verstand namentlich und zwischen theoretischer und praktischer Vernunft? Darauf gibt seine Ästhetik Ant­ wort, die im Gefühl das gesuchte Vermittelnde findet, sofern dieses weder mit dem sinnlich Angenehmen noch mit dem sittlich Vollkommenen etwas zu tun hat, sondern ein interesseloses Wohlgefallen ist. Dadurch nimmt Kants Ästhetik freilich ebenso wie seine Ethik einen formalistischen Charakter an; denn nur so glaubte er auch hier zu einer Wissenschaft des Schönen kommen zu können, die mit ihren Geschmacksurteilen jedermann Einstimmung ansinnen könne; den ausschließlichen Formalismus aber hat er dann doch wieder überwunden durch den Begriff der anhängen­ den Schönheit, der auf eine Gehaltsästhetik hinweist. Wie ihm aber auch das Schöne selbst zu einem Mittleren wird, das zeigt am deutlichsten die Definition des Kantianers Schiller, der das Schöne als „Freiheit in der Erscheinung" faßt und es damit den beiden Welten, der intelligibeln und der Erscheinungswelt, gleichmäßig zuweist. Und ebenso ist das Genie und das Kunstschöne, das es schafft, frei und naturhaft zugleich: „Die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht." Der Gedanke endlich, daß das Ideal des Schönen der Mensch und das Schöne ein Symbol des Sittlichen sei, führt hinüber zum Erhabenen, das stets ein unermeßlich Großes ist: für unsere Sinnlichkeit zu groß, schlägt es uns darum nieder; aber da wir es als denkende Wesen dennoch zu fassen vermögen, fühlen

wir uns durch dieses Können gehoben, und so geht es auch hier von der Sinnlichkeit zur Vemunft, und zugleich, wie beim verwandten Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz, von der Unlust zur Lust. Noch mehr als in der Lehre vom Schönen kommt in der teleologi­ schen Urteilskraft ein Begriff zur Geltung, den man unter den Kate­ gorien hatte vermissen können, der Begriff des Zwecks. So wie ihn Kant faßt, überwindet er die äußerliche Auffassung des Zweckmäßigen in der Aufklärungsphilosophie. Nicht darum handelt es sich, daß in der Natur alles um des Menschen und seines Nutzens willen geschaffen sei, sondem um das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen. Mechanisch be­ trachtet, ist das Ganze aus den Teilen zusammengesetzt; es gibt aber auch Dinge, wo das Ganze und seine Idee die Teile zu bestimmen scheint. Das ist der Fall bei den organischen Wesen, darum sind sie zu beurteilen, als ob hier zwecktätige Kräfte gewaltet hätten. Ob hinter der Natur wirklich ein solcher zwecksetzender Verstand steht, darüber wissen wir nichts; es ist lediglich ein Prinzip unserer Beurteilung der organischen Natur; wir bringen in sie keinen Sinn und Verstand, wenn wir sie nicht so beurteilen und betrachten. Und nicht nur von einzelnen Wesen, sondem auch von der Natur im ganzen gilt dasselbe. Ist ihr Dasein dem Zufall oder einer Absicht zuzuschreiben? Das wissen wir nicht. Aber Sinn und Verstand bringen wir in sie und ihr Dasein nur, wenn wir sie als ein Reich der Zwecke ansehen, so als ob Gott sie mit allen ihren Einzelerscheinungen zweckmäßig für die moralische Freiheit eingerichtet hätte und die sittlich vollkommene Menschheit der Endzweck ihrer Schöpfung wäre. Die Naturbetrachtung endigt auch hier im Glauben, in der Ethikotheologie. Noch eines ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Kant nennt es zwar ein gewagtes Abenteuer der Vemunft, aber er will es „dem Archäologen der Natur" doch nicht verbieten, zu vermuten, daß eine wirkliche Verwandtschaft der organischen Formen bestehe „in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter, durch die stufen­ artige Annäherung einer Tiergattung zur anderen von derjenigen an, in welcher das Prinzip, der Zweck am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten, und endlich zu den niedrigsten uns merklichen Stufen der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren Kräften nach mechani-

schen Gesetzen die ganze Technik der Natur, die uns in organischen Wesen so unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint." Es ist dies freilich nur eine Hypothese, die den Erklärungsgrund weiter zurückschiebt; das letzte ist das Leben selbst, und dieses bleibt doch unerklärt, die Erfahmng zeigt kein Beispiel einer generatio aequivoca. So ist hier Kant ein Vorläufer des Darwinismus, wie er in der Frage nach der Entstehung des Kosmos durch seine „allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" vom Jahre 1755, freilich nicht ganz mit Recht, als der Urheber jener Hypothese gilt, die als Kant-Laplacesche heute noch unserer Weltauffassung zu­ grunde liegt. Wie kühn der später so vorsichtige Erkenntnistheoretiker in dieser genialen Jugendschrift war, das zeigt nicht nur das stolze Wort: Gebet mir eine Materie, ich will eine Welt daraus bauen, sondern auch der geistreich durchgeführte Gedanke, daß von dem Abstand der Planeten von der Sonne die spezifische Beschaffenheit ihrer Materie und davon die körperliche und die geistige Beschaffenheit ihrer etwaigen Bewohner abhänge. Das ganze System aber, wenn wir es so nennen dürfen, mündet schließlich aus in den geschichtsphilosophischen Gedanken vom — ewigen Frieden. Niemals verwirklicht und darum oft genug verlacht und ver­ höhnt, ist er doch die große Leiüdee der weltgeschichtlichen Betrachtung. Nicht als ob Kant an seine nahe Verwirklichung geglaubt hätte: er schrieb den philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden im Jahre 1795, und er nennt sie selber eine überschwängliche und unerreichbare Idee. Aber darum hört sie doch nicht auf, ein Ideal, eine sittliche Aufgabe zu sein, die uns gebietet und verpflichtet, so zu handeln, als ob das Reich Gottes auf Erden und damit der ewige Friede ver­ wirklicht werden könnte und verwirklicht werden sollte. So fällt schließ­ lich sein sittlich-religiöses mit dem rechtlich-politischen Ideal zusammen, und seine Ethik und Religion münden ein und aus in die Philosophie der Geschichte. Diese Philosophie Kants, über die wir hier in Kürze einen Über­ blick zu geben versucht haben, war der große Knotenpunkt in dem ganzen Entwicklungsgang der neueren Philosophie. Auf sie laufen alle Fäden zu, wie sich Kant selbst aus dem deutschen Rattonalismus durch allerlei Umkippungen nach der Seite des Lockeschen Empirismus und des Hume-

scheu Skeptizismus hin zu seinem kritizistischen und aprioristischen Stand­ punkt entwickelt hat. Und von ihr laufen alle Fäden aus, die das Gewebe der neuesten Philosophie ausmachen. Fichte hielt sich für den konse­ quenten Fortbildner des Kantschen Idealismus, Schelling suchte ihn mit Spinoza zu vereinigen, Hegels Panlogismus wurzelte in der Kategorien­ lehre Kants, Herbart nannte sich einen Kantianer von 1828 und Schopen­ hauer proklamierte sich selber als den wahren Thronerben der Kantischen Philosophie. Und 1862, als die Zeit der großen Systeme vorüber war und die Philosophie ihren Tiefstand erreicht hatte, wies Ed. Zeller durch den Ruf: Zurück zu Kant! auf ihn als den einzigen hin, der durch seine kritische Erkenntnistheorie die Philosophie aus der materialistischen Ver­ sumpfung, in die sie damals geraten war, herausretten könne. Aber wie man nun zu Kant zurückkehrte, da erkannte man aufs neue und mehr noch als zu seinen Lebzeiten die Schwierigkeit, ihn zu verstehen und auszulegen. Zu Kant zurück! Gewiß; aber zu welchem Kant? Und so gilt heute mehr als je das Epigramm, das Schiller schon im Jahre 1796 auf „Kant und seine Ausleger" gedichtet hatte: Me doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu tun.

Das Verständnis Kants ist schwer; das zeigt das weite Auseinander­ gehen derer, die ihn kommentieren und interpretieren. Unter seiner Flagge segeln die Vertreter gar verschiedener Richtungen; nicht alle, die sich Kantianer nennen, sind es auch. Aber auch unser Bekenntnis zu Kant hat seine Grenzen; und er selbst, der große Kritizist, wäre heute der erste, der zwischen Bleibendem und Vergänglichem in seinem System zu scheiden suchte. Schon das ist vom Übel, daß heute die Grenzen verwischt werden, die seinen Geist und seine Art trennen von anderen, und daß versucht tvird, alles Große und Herrliche und Bedeutende unter seiner Fahne zu vereinigen. Es gibt zwei Arten, zu philosophieren und die Welt anzuschauen, die Kants und die Goethes; sie sind Prinzipien und diametral verschieden. Daher darf man diesen nicht zum Jünger Kants machen wollen und nicht die­ jenigen schelten, die lieber mit Goethe zusammenschauen, als mit dem großen Scheidekünstler trennen und „isolieren" wollen. Und dann — Kant war ein Sohn des rationalistischen und individualistischen acht-

zehnten Jahrhunderts. Unsere Zeit ist für das Denken realistischer, für das Wollen sozialistischer und sieht schon darin den Schutz gegen einen unethischen Eudämonismus. Daher werden wir uns im zwanzigsten Jahrhundert nicht ohne weiteres in den Bannkreis des Kantschen Idealismus und Individualismus schlagen lassen. Auch den Kantischen Schulen, von denen jede ihren eigenen Kant hat und verehrt, spürt man diesen Einfluß der modernen Zeit an; daher gibt es keinen „unver­ fälschten" Kant, zu dem man uns einfach zurückkommandieren und auf den man uns ohne weiteres verpflichten könnte. Und dennoch — zurück zu Kant! Das ist noch heute die richtige Losung für alles Philosophieren und für jeden Lehrer und Lehrling der Philosophie. Wie kein anderer zwingt er zum Mit- und Nachdenken, stählt und schärft er den Geist zum kühnen kritischen Selbstdenken und macht ihn zugleich vorsichtig und demütig, indem er unerbittlich auf die Grenzen unseres Erkennens hinweist. Wie kein anderer predigt er den Emst sittlicher Verpflichtung und mahnt, über dem, was wir als Pflicht erkannt und erfaßt haben, das individuelle Wollen und das individuelle Glück rücksichtslos zum Opfer zu bringen. Und wie kein anderer macht er den Geist frei, indem er in Natur und Geisteswelt die Gesetzgebung der menschlichen Bemunft aufzeigt und sie in Wissenschaft und Moral auf ihre eigene Kraft verweist und unabhängig stellt von allem, was ihr fremd und transzendent ist. Aber in diesem ihrem freien Tun ist keine Willkür und keine Gesetzlosigkeit, Kant steht nirgends jenseits von Gut und Böse, nirgends jenseits von Wahr und Falsch; dämm schützt er uns vor den bösen Geistern eines schrankenlosen Subjektivismus und eines gesetzlosen, romantischen Individualismus. In diesem Sinn wird und kann die Philosophie nie aufhören, auf ihn zurückzugehen und sich mit ihm auseinanderzusetzen. Aber eindringlicher als je predigt uns die fülle Selbstprüfung am heutigen Tage, auch nicht dogmatisttsch auf Kant zu schwören und sklavisch an ihm festzuhalten und mit ihm aufzuhören. Denn jede Zeit hat ihre eigenen Probleme und ihre eigene Art, sie zu lösen. Dies stets zu tun im Geiste strengster Wahrhaftigkeit und kühnster Gedankenfreiheit, das ist das richtige Gelöbnis der Treue, mit dem wir uns heute und allezeit zu Kant bekennen.

Schiller'). Hochansehnliche Festversammlung! Ein Trauerfest, so könnte es scheinen, feiern wir heute, die Er­ innerung an Schillers Tod. Und wenn wir bedenken, daß er mitten in der Arbeit, der Arbeit an seinem „Demetrius" vom unerbittlichen Geschick abgerufen wurde, so könnten wir gewillt sein, wirklich die Toten­ klage um ihn zu erheben, wie er sie selber in seiner ,Mnie" um Achill erhoben hat: Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle. Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.

Und doch flattern, Schiller zu ehren, heute in vielen deutschen Städten lustig die Fahnen im Winde und flammen auf unseren Bergen heute abend, ihn zu ehren, Freudenfeuer mächtig empor. Denn nicht, daß er vor hundert Jahren gestorben ist, sondern daran denken wir, daß er der unsrige war und wie alles, was Ewigkeitswert hat, auch über seinen Tod hinaus unter uns fortlebt und weiterwirkt, daß er der Un­ sterblichen einer ist, von denen das Wort gilt: Es kann die Spur von seinen Erdetagen Mcht in Äonen untergehn.

Daß er der unsrige ist, das wollen wir heute — allen denen zum Trotz, die ihn in den letzten zwei Jahrzehnten in törichter Verkennung und eitler Selbstüberhebung verleugnet und totgesagt haben, — fest­ halten und bezeugen. So wird auch die heutige Schillerfeier wie die im Jahre 1859 ein Bekenntnis zu ihm und seiner Geistesart sein, wenn auch damals die Begeisterung unter dem Notzwang der Begebenheiten einmütiger und naiver, reiner und wirkungsvoller gewesen sein mag. *) Rede bei der Schillerfeier der Kaiser-Wilhelms-Uuiversität Straßburg am 9. Mai 1905. Straßburg. Heitz u. Mündel. 1905.

Und wie damals die deutschen Universitäten mit in den vordersten Reihen der Feiernden gestanden haben, als es galt, sich durch Herauf­ beschwören dieses Toten den Alb einer bleiem schweren Reaktion von der Seele zu schütteln und endlich die Sehnsucht langer, banger Jahre nach einem einigen, großen, freien deutschen Vaterland zur Tat werden zu lassen, so wollen sie auch heute nicht fehlen unter denen, die Schiller feiern. Und wir haben, selbst wenn wir uns im engen Rahmen unserer nächsten Universitätsverfassung und Universitätsaufgaben halten wollten, ja auch allen Grund dazu. Zu sämtlichen vier Fakultäten hat Schiller Beziehungen gehabt, alle können ihn in gewissem Sinn zu den Ihrigen zählen. Pfarrer wollte er werden, Theologie wollte er studieren, und die allerersten Stufen dieser geistlichen Laufbahn hatte er schon betreten, — nach der Sitte seiner schwäbischen Heimat durch die erstandenen Landexamina sich bereits ein Anrecht erworben auf den theologischen Studiengang durch Seminar und Stift; und die erste Enttäuschung seines an Enttäuschungen und an Entsagung so reichen Lebens ist ja gerade das gewesen, daß die gewalttätige Hand seines Landesherrn diese Pläne schonungslos zerstörte und den Vater zwang, den Knaben seiner eben gegründeten Karlsschule zu übergeben, auf der Theologie zu studieren nicht möglich war. Ein Schmerz, und vielleicht doch ein großes Glück für ihn, daß er dadurch bewahrt blieb vor der klösterlichen Weltabgeschiedenheit und hineingeführt wurde in das größer flutende Leben und in die feineren Umgangsformen dieser herzoglichen Hofund Fürstenschule. Aber die theologischen Neigungen hat er dennoch festgehalten: die Sprache der Bibel in der kraft- und machtvollen Über­ setzung Luthers wirkte kraft- und machtvoll auch auf ihn und greift gleich in „den Räubern" auch uns wie Donnerwort und Posaunenton machtvoll ins Herz. Und was er werden wollte, ist er doch geworden: ein gewaltiger Prediger, ein großer Prophet und Hohepriester im Dienste alles Höchsten und Heiligen; und so hat er eindringlicher als sonst einer gezeigt, daß Priester- und Prophetentum nicht gebunden sind an Amt und Auftrag von Menschen her, sondern daß auch der Laie, seines Gottes voll, ein Priesteramt zu verwalten und eine Propheten­ stimme zu erheben hat. Und hinter der Theologie kam die Jurisprudenz, zu der er sich frei-

lief) gegen seines Herzens Drang entschließen mußte und die er darum, sobald es die Einrichtung der Schule gestattete, mit der ihm kongenia­ leren Medizin vertauschte. Aber ein Mann des Rechtes und der Ge­ rechtigkeit ist er doch geworden, ein großer Anwalt des Völkerrechts und ein Richter ohne Furcht und Tadel, der auch die Höchststehenden vor sein Forum zitierte und, wenn sie Sünder waren am Glück ihres Volkes, sie in öffentlicher Gerichtsverhandlung von der Bühne herab als seinem Tribunal ohn' Ansehen der Person verurteilte. Von sich als Mediziner hat er in der Selbstrezension der „Räuber" nicht allzu günstig geurteilt: „Der Verfasser soll ein Arzt bei einem Württembergischen Grenadierbataillon sein, und wenn das ist, so macht es dem Scharfsinn seines Landesherm Ehre: so gewiß ich sein Werk verstehe, so muß er starke Dosen in cmeticis ebenso lieben als in aestheticis, und ich möchte ihm lieber zehn Pferde als meine Frau zur Kur übergeben." Seine Examensarbeiten würden heute, als viel zu philo­ sophisch und viel zu wenig exakt, vor keiner medizinischen Prüfungs­ kommission bestehen, und unter seinen 240 Grenadieren hat der Re­ gimentsmedikus wider Willen mit seinen höllischen Latwergen freilich kaum schlimmer gehaust, als es damals überhaupt üblich war. Aber darum ist er doch ein Arzt allerersten Ranges gewesen und hat sich selbst als solchen gefühlt, das Motto seiner „Räuber" sagt es uns: quae

medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat. Danach hat er mit Schneiden und mit Brennen die Schäden am Körper seines Volkes machtvoll und kraftvoll kuriert, die Diagnose, wie tief die Fäulnis von oben nach unten schon durchgefressen, in „Kabale und Liebe" fein und richtig gestellt, und im „Don Carlos" mit seiner Forderung: „Geben Sie Gedankenfreiheit" und im „Wilhelm Tett" mit der Mahnung: „seid einig, einig, einig!" die Heilmittel für dasselbe sicher erkannt und tadellos verschrieben. Aber vor den anderen drei gehört er doch in erster Linie der philo­ sophischen Fakultät an, ihr war er ja als Professor für Geschichte in Jena auch amtlich zugeteilt; und neben historischen waren es philosophisch­ ästhetische Themata, die er in seinen Vorlesungen behandelte. Freilich hat er selber nicht allzuviel von diesem ihm anfangs recht unbequemen „Abenteuer auf dem Katheder" gehalten; und unsere Historiker urteilen heute zwar gerechter und verständnisvoller als Niebuhr oder Janssen

über Schiller als Historiker; aber sie brauchen doch allerlei Wenn und Aber, um ihm wenigstens im Vorhof deutscher Geschichtschreibung eine ehrenvolle Stelle anweisen zu können. Bereitwilliger sind wir Ver­ treter der Philosophie, ihn als Zünftigen anzuerkennen. Unter den Jüngern Kants ist er der bedeutsamsten einer; wenn die Ara des Neu­ kantianismus wieder einmal wird abgelaufen sein, wird man in ihm noch weit mehr als jetzt den sehen, der im Ästhetischen sowohl als im Ethischen Kant aufs glücklichste ergänzt und korrigiert und den Weg von dem Menschen Kants zu dem Menschen Goethes hinüber gezeigt und gebahnt hat. Und endlich haben die Germanisten an ihm und seinen Werken ein wichtiges Objekt ihrer Forschung, das sie mehr noch als Lessing oder Goethe nötigt, die fruchtbare Verbindung ihrer Wissen­ schaft mit der Philosophie zu pflegen und festzuhalten. Und doch, so nahe er uns allen steht und so stolz insbesondere wir von der philosophischen Fakultät darauf sind, ihn zu den unsrigen zu zählen, was will das alles heute? Heute feiern auch wir Universitäten nicht den Historiker oder den Philosophen, sondern mit allem Volk zu­ sammen feiern wir in Schiller den Dichter und den Menschen. Mcht weil er Beziehungen hat zu unseren Fakultäten und Professor gewesen ist, sondern weil wir Professoren und Studenten Menschen und Deutsche sind wie alle andem auch, deshalb hat sich die Universität nicht aus­ schließen wollen und nicht ausschließen dürfen von der allgemeine Fest­ feier, deren lauter Jubel unser ganzes deutsches Volk durchtönt. Und auch etwas wie eine Schuld an ihn haben wir abzutragen: wir, die wir in den Tagen des Übergangs von einem schwärmenden Träumen und Dichten zu dem uns Deutschen so notwendigen Realismus der politischen Tat und der wirtschaftlichen Arbeit ganz besonders berufen waren, als unseres nationalen Daseins andere Hälfte die Flamme feiner und tiefer Innerlichkeit um so energischer zu nähren und zu erhalten, wir haben uns teilweise selber mitreißen lassen von diesem realistischen Zuge der Zeit und haben so des Deutschen Eigenstes und Bestes der Gefahr der Verkümmerung ausgesetzt; und auch unsere akademische Jugend hat über viel Äußerlichkeit viel Innerlichkeit preisgegeben und hat es darum eine Zeitlang für vornehm gehalten, mit Schillerverachtung und Schiller­ haß verständnislos zu kokettieren, und sich anderen modemeren Göttern zugewendet. Auch das schütteln wir uns heute von der Seele und legen.

wenn wir das Gedächtnis des großen Idealisten erneuern, auch unserer­ seits so etwas ab wie ein Bekenntnis und ein Gelöbnis für die Zukunft. Als Dichter feiern wir Schiller, als den größten deutschen Drama­ tiker, der die Pflicht dieser seiner Kunst verstanden und im „Wallenstein" vor allem geübt hat wie kein anderer sonst, die Pflicht zu motivieren — auch auf die Gefahr hin, daß er dadurch mit der Freiheitslehre seines philosophischen Lehrers Kant in unauflöslichen Widerspruch verwickelt werden sollte; und als den Meister dichterischer Sprache feiern wir ihn, der in den Chören seiner „Braut von Messina", in seinen Balladen und Jdeendichtungen ein wahres Prachtgewebe um seine Gestalten und Gedanken geworfen und den Glanz unserer deutschen Sprache auf eine nie zuvor und nie nachher wieder erreichte Höhe gehoben hat. Dramatiker, die sich jener Pflicht des Motivierens bewußt sind, Meister der Sprache und glänzende Stilisten gibt es auch andere; und doch dürfen wir gerade in diesem letzteren das Eigentümliche und Einzig­ artige der Schillerschen Kunst, das wir ja alle spüren und empfinden, zuerst suchen und es uns daran verständlich machen. Daß Schiller kein malerischer Dichter gewesen, weil seine Kunst zu wenig sinnlich, kein plastischer Dichter, weil er dazu auch in seiner Poesie zu begrifflich ideell gewesen sei, ist schon oft gesagt worden und ist freilich immer nur halb wahr; auch an malerischen und plastischen Anschauungselementen fehlt es in den Schillerschen Dichtungen nicht. Um so mehr hat man ihn dafür, sich stützend auf eine mißverstandene Äußerung über die Art seiner poetischen Konzeption, in nähere Beziehung bringen wollen zur Musik. Und doch könnte man mit demselben Rechte sagen, daß Schiller auch kein musikalischer Dichter gewesen sei, weil er zu bestimmt gedacht, zu viel philosophiert habe; daher findet sich selbst in seinen lyrischen Dich­ tungen so wenig Sangbares. Nein, nicht die Musik, sondern eine andere Kunst ist es, mit der sich Schillers Poesie verschwistert zeigt, — die Rhetorik. Davor haben wir Deutsche freilich eine gewisse instinktive Scheu, wir denken alsbald an hohle Deklamation und affektierte Pose, an leeres Wortgeklingel und nichtiges Phrasenspiel. Uns fehlt die Wert­ schätzung für die Kunst der Rede, wie sie die Griechen besessen und geübt haben, einen Demosthenes haben wir nie gehabt. Große Redner wohl auch, ich nenne nur die beiden: Luther und Bismarck, die mit der Wucht ihres Wortes, mit den Felsblöcken ihrer Beredsamkeit ihr Volk so gewaltig

aufgewühlt und gezwungen haben zur Liebe oder zum Haß. Aber dem sächsischen Bauernsohn ebenso wie dem preußischen Junker fehlte das künstlerische Daimonion, der Sinn für Form und Stil, und jedenfalls waren sie beide viel zu sehr erfüllt von dem Sachlichen ihrer Aufgabe, um auf künstlerische Einkleidung und Gestaltung Wert zu legen und Zeit darauf zu verwenden. Schiller dagegen, der als Dichter Redner und als Redner Dichter war, ist eben dadurch unser größter, der einzig ganz große Redekünstler geworden, den Deutschland je gehabt hat. Daß er aber für seine Reden die dramatische Form gewählt hat, das lag natürlich in seiner Natur, in der geheimnisvollen Struktur seiner Seele, die ihn auf das Drama als auf seine eigenste Domäne, als auf die wahre Heimat seines Geistes hinwies. Es lag daneben aber auch an der Zeit. Wer im 18. Jahrhundert als Journalist auf sein Volk wirken wollte, der mußte Dramatiker werden: das zeigte Lessing; wer int 18. Jahrhundert als Redner wirken wollte, der mußte Dramatiker wer­ den: das zeigt Schiller. Die Lehrfreiheit auf dem Katheder war bei seinem Auftreten kaum erst in Anfängen vorhanden, eine parlamen­ tarische Tribüne gab es im Staat des aufgeklärten Despotismus nicht, und vor dem Reichsgericht zu Wetzlar hatte die forensische Beredsamkeit keine Stelle. Und sie alle haben dann auch nachher nicht den ihnen von Schiller vorgezeichneten Weg zur kunstvollen Rede genommen: auf dem Katheder galt die Redekunst lange Zeit für etwas Überflüssiges, fast gar Verwerfliches; und in unseren Parlamenten und Gerichtssälen ist sie, wie mir scheint, eher im Mckgang als in einer fortschreitenden Ent­ wicklung zu fünftiger Höhe und Blüte begriffen. So ist Schiller unser größter, um nicht zu sagen: unser einziger Redner geblieben, dem es wirklich um die Kunst und um die Schönheit der Rede zu tun war. Und weil ihm keiner darin gefolgt ist, so hat ihn sein Volk darin auch nie ganz verstanden, sondern hat ihn gelegentlich sogar für einen Deklamator und Schönredner gehalten. Das wäre er aber doch nur dann gewesen, wenn er in seiner Rede über der Form den Inhalt vernachlässigt, wenn er der Schönheit die Wahrheit und die Kraft geopfert hätte. Vielleicht ist Schiller nicht überall dieser Gefahr entronnen: wir können das bei dem Reichen und Wahrhaftigen ohne weiteres zugeben, ohne daß wir damit sein Bild im ganzen irgendwie schädigen; Schiller ist groß genug, um die Wahrheit ertragen zu können. Aber gerade, daß wir es in ben

Worten der Thekla nach der Todesnachricht von Max so stark empfinden, daß hier der Schönheit die wahre Empfindung hat weichen müssen, zeigt, daß das nur eine Ausnahme, eine ganz verschwindende Ausnahme ist. Vielmehr ist eben das das Große an diesem Dichter, der zugleich ein Redner war, daß hinter dem schönen Wort der Mensch, ein ganzer Mann, ein tiefer Gedanke, ein volles Herz steht. Darum klingt es nirgends hohl, braust, was er sagt, wie Orgelton und Glockenklang hinaus in alle Welt und ganz besonders hinein in das Herz seines Volkes und reißt uns mit im strömenden Fluß seiner Rede und mit der Wucht und Stärke seines machtvollen Inhalts. Und wenn wir Modernen im Vortrag unserer Gedanken das Pathos und die Kunst der Rede fast ängstlich meiden und in den Sitten unseres geselligen Lebens den „Gebrauch schöner Formen" oft so stillos vermissen lassen, — wenn es dann an unser Ohr schlägt, das Schillersche Pathos und das Prachtgewebe seiner Sprache allen seinen Glanz und alle seine Leuchtkraft vor uns ausbreitet, so stehen wir doch unter dem Zauberbann seiner Worte, so fühlen wir doch das Große darin und beugen uns vor ihrer Kraft. Und nun erst der Inhalt dessen, was er uns zu sagen hat und so schön zu sagen weiß —? „Der Menschheit große Gegenstände:" das ist es, was ihn so hoch hinaushebt über die Dichter unserer Tage, daß er — sagen wir es nur offen heraus —, daß er die Schaubühne als eine moralische, als eine ernsthafte und wichtige Anstalt und Angelegenheit betrachtet hat. Er wollte nicht nur reden, um zu reden, sondern wirklich etwas sagen, weil er Großes und Wertvolles zu sagen hatte und der Gott in seiner Brust es ihm zu sagen befahl. Einen Gedankendichter hat man ihn deshalb genannt, der Redner ist als Dichter auch Philosoph gewesen. Als Jüngling hat er sich eine eigene pantheistisch-enthusiastische Theosophie zurecht gemacht; dann ist er, von Körner aus den -„Umfang seiner Kräfte" hingewiesen, in die entsagungsvollen Gedankengänge der Kantischen Philosophie eingeweiht und für sie gewonnen worden, und schließlich hat er durch den Blick auf sein eigenes dichterisches Sein und durch die Anschauung von Goethes Art die rigoristische oder, wie er selber sagt: die „mönchische" Denkweise Kants überwunden und durch den Ethisches und Ästhetisches vereinigenden Begriff der schönen Seele auch unserer deutschen Philosophie Neues und Bedeutsames zu sagen gewußt. Und auch das nicht bloß lehrhaft in anmutiger oder gehobener

Prosarede, sondern in wundervollen Versen, die alle Schwere im Staube zurücklassen und auf den Wellen unendlichen rhetorischen Wohlklangs aufwärts fließend und schwebend uns hinanführen und emporleiten in das Reich der Freiheit und des Ideals. Denn der Dichter der Freiheit und ein großer Idealist ist Schiller gewesen. Darum hat das Freiheitsproblem den Denker auch philo­ sophisch beschäftigt, die große Frage nach dem Verhältnis des Freien und des Notwendigen in Menschenschicksal und menschlichem Handeln hat ihn ethisch, das Verhältnis von Freiheit und Natur hat ihn auch ästhe­ tisch vielfach bewegt, und anschaulicher und glücklicher hat keiner, auch kein Philosoph, das Freiheitsproblem gelöst als er in seinem „Wallen­ stein". Aber der Freiheitsgedanke war für ihn nicht etwa nur ein Problem unter vielen, es war für ihn die Frage der Fragen, der große Gegenstand selbst, der ihn schon in seinem ersten Löwenwurf, den „Räubern", voll zomiger Empörung ausholen ließ zu gewaltigem An­ sturm wider die Tyrannei des Gesetzes, der ihn im „Don Carlos" mit Männerstolz vor Königsthrone treten und von dem spanischen Macht­ haber Gedankenfreiheit sordem und der ihn noch in seinem letzten großen Schauspiel getrosten Mutes in den Himmel greifen und von dort die ewigen Rechte herunterholen ließ, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst. Daß er so auf Freiheit gestellt war, das lag natürlich wiederum zu­ nächst in der unveränderlichen Struktur seiner stolzen, tapferen Seele, Freiheitsgefühl und Freiheitsdrang war der geheimnisvolle Kern seines Wesens, das angeborene Daimonion seiner Persönlichkeit, war sein Ethos und sein Pathos zugleich. Aber es lag auch an den Bedingungen, die ihn von außen her bestimmten, die seine Seele wie eine feine, starke Feder von Stahl zusammendrückten, bis sie aufschnellte gegen den uner­ träglichen Druck und mit kühnem Glauben und kühnem Wagemut den Widerstand einer ganzen Welt sieghaft überwand. Und da war es, als hätte es seine Lebensführung eigens darauf abgesehen, zu erproben, wie groß die Schnellkraft seines Wesens und ob dieser Menschenwille wirklich stärker sei, als die Gewalt des Schicksals. Sein Lebensgang war ein Leidensgang. Die Gewalttat seines Fürsten riß ihn aus seiner Bahn und unterstellte ihn einer Erziehung, die zwar — das ist ihr großes Ver­ dienst — frei denken lehrte, aber — das ist ihre große Schuld — nicht Ziegler, Menschen und Probleme.

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frei zu reden und zu handeln erlaubte und daher manchen schwächeren Naturen Rückgrat und Willen gebrochen hat. Und als er sich durch die Flucht aus Stuttgart frei gemacht hatte von diesem Zwang, da klirrte ihm alsbald eine neue Sklavenkette hemmend an Arm und Fuß, Armut und Hunger und äußere Not ließen ihn jahrzehntelang nicht los und zwangen ihn als Pegasus im Joch ums tägliche Brot literarische Kärrnerarbeit zu tun. Und endlich gedenken wir heute am Jahrestag seines frühen Todes ganz besonders auch des langen Siechtums, das von der Mannheimer Zeit an seinen Körper langsam zermürbte und zerstörte und ihn immer mehr zu einem Schwerleidenden machte, bis dann vor der Zeit die eben zu neuem, glücklichem Schaffen ausholende Hand im Tode erlahmte. Und doch, wo spüren wir — den einzigen „Fiesko" vielleicht ausgenommen — den Werken Schillers diese äußeren Nöte, diesen harten Kampf ums materielle und ums leibliche Dasein irgendwie an? „Bequem gesellig, anschließend, wohlgefällig, zur Wechselrede heiter sich neigend," so schildert ihn uns sein großer Freund im gewöhn­ lichen Leben, und bezeugt ihm, wie bei seiner Arbeit „seine Wange rot und röter geglüht von jener Jugend, die uns nie entfliegt", und — alles zusammenfassend, wie jenes ganz Gemeine, das uns alle bändigt, hinter ihm lag in wesenlosem Scheine und alles äußere Leiden an ihn und sein Ethos nicht heranzureichen vermochte. Von seinen Werken aber gilt sein eigenes Wort: Nicht der Masse qualvoll abgerungen. Schlank und leicht wie aus dem Nichts gesprungen. Steht das Bild vor dem entzückten Blick;

und von Mensch und Werk zugleich das Wort: Ausgestoßen hat er jeden Zeugen Menschlicher Bedürftigkeit.

Aus all' dem hat nun aber Schiller gelernt und für sich ganz rea­ listisch die Überzeugung gewonnen, daß der Mensch nicht ohne weiteres frei sei, sondern daß die Bedingungen von außen ihn auf Schritt und Tritt hemmen, binden und bestimmen, so daß auch von unserer Schuld die größere Hälfte stets den unglückseligen Gestirnen zuzuwälzen sei. Aber er w o l l t e frei sein. Und hier bot sich ihm nun die Lehre Kants an: Freiheit nicht als ein Seiendes, ein uns Gegebenes, sondern als ein

Seinsollendes und Aufgegebenes, als Aufgabe und Pflicht. Kant frei» lich hat aus dieser Freiheit als Aufgabe rasch genug wieder eine Tat­ sache, ein unbegreifliches Faktum, ein Seiendes und ein Sein gemacht. Schiller bleibt der ursprünglichen Fassung treu: „gottlob, daß wir immer im Reich der Erscheinungen bleiben dürfen", schreibt er in ausdrücklichem Gegensatz zu Kant. Ihm ist die Freiheit stets etwas gewesen, was der Mensch erreichen soll durch eigene Kraft, wenn er sie vielleicht auch als unendliche Aufgabe nie ganz erreicht. Damit sind wir bei der tiefsten Wurzel von Schillers Wesen ange­ kommen. Seine Freiheit ist Innerlichkeit, sie stammt nicht von außen her, das Innere nur gibt von ihr Kunde; und darum ist Freiheit nur da, solange und soweit der Wille frei zu sein und frei zu werden da ist, sie ist nichts anderes, als dieser Wille selbst, ein von Äußerlichkeiten unab­ hängiger, äußeren Bedingungen nicht rettungslos und hoffnungslos unterliegender Wille. Freiheitsgefühl ist Kraftgefühl, ist Stärke und Größe, der freie Mensch ist der große Mensch, und nur der große Mensch ist wirklich frei. Und der freie Mensch ist der sittliche Mensch, und nur der sittliche Mensch ist wirklich frei. So ist ihm Freiheit zugleich Sittlichkeit, sein kategorischer Imperativ heißt: wolle frei sein und mache dich frei! Darum ist Schiller als Dichter der Freiheit zugleich der sittliche Dichter, der große Moraltrompeter, wie ihn Nietzsche höhnisch-frech genannt hat und wie wir ihn in allem Ernste nennen können, der Dichter, der mit schmetterndem Trompetenschall und als sieghafte Fanfare der Welt verkündigt und in seinen Werken gezeigt hat, daß die Moral und ihre Probleme, allem Hohn und allem Vomehmtun, aller Schwächlichkeit und aller Bequemlichkeit zum Trotz, kein leerer Wahn seien, sondern in alle Ewigkeit zu der Menschheit großen Gegenständen gehören, und daß darum auch für den Künstler sittliche Gegenstände die höchsten sind und er mit seinem Schaffen nicht über und nicht jenseits steht von Gut und Böse. In diesem Sinn ist Freiheit das Ideal Schillers gewesen, und darum ist er als Dichter der Freiheit Idealist, und ist sein Idealismus ein frei­ heitlicher und ein sittlicher zugleich. Wie für Kant so sind auch für ihn Ideale nicht flüchtige Träume und fromme Wünsche, sondern ernsthafte Aufgaben, an die der Mensch deshalb glaubt, weil er es für seine Pflicht 6*

hält sie zu verwirklichen. So ist sein Idealismus zuerst Glaube, — wiederum nicht an etwas, was draußen ist, „da sucht es der Tor", sondern der Glaube an etwas, was wir selbst ewig hervorbringen können, weil wir es in uns hervorbringen sollen. Darum ist Schillers Glaube — wir dürfen das nicht verhehlen — nicht der spezifisch christliche gewesen: für Sündenbewußtsein und Erlösungsbedürfnis war in diesem auf sich und seine eigene Kraft gestellten Menschen kein Raum. Optimistisch glaubte er mit Rousseau an die Güte der menschlichen Natur, optimistisch mit Kant an das eigene Können, weil er an das innere Sollen glaubte, und optimistisch als die ringende und siegende Kämpferseele, die er war, an das Göttliche in der eigenen Brust, das ihm das Heilige und das Sittliche selbst war. Nehmt die Gottheit auf in euren Willen, Und sie steigt von ihrem Weltenthron —

das war sein Glaube und seine Religion. Und dieser starke Mannes­ glaube war Mlle und war Tat, ein großes Wollen und ein mutiges Tun, das allein imstande ist, den Widerstand der stumpfen Welt zu besiegen. Daher denn auch der Widerstand gegen diesen Schillerschen Idealismus bei allen denen, die schwachen Glaubens, schwacher Kraft und schwachen Mutes sind. Und daher das grobe Mißverständnis aller derer, die Schil­ lers Idealismus für ein tatenloses Schwärmen und unpraktisches Träu­ men, für ein weltftemd romantisches Luxurieren in schönen Gefühlen und in schönen Worten halten. Schillers Leben war Selbstbefreiung, Selbstbildung, eine große Bildungsodyssee, und so zunächst rein individualistisch, wie es bei dem Sohn des individualistischen 18. Jahrhunderts und—möchte ich sagen — bei jedem Menschen am Anfang seiner Fahrt natürlich ist. Aber sein großes, glühendes Herz umfaßte rasch genug auch andere als nur sich selber, umfaßte — auch das ist dem Jüngling und dem Menschen des 18. Jahrhunderts gemeinsam eigen — alsbald die Menschen alle: Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!

Und im „Don Carlos" fordert er Gedankenfreiheit nicht bloß für die flandrischen Provinzen, sondern, in kühnem Sprung vom Einen zu allen, für die ganze Welt. Wir lächeln über diesen Enthusiasmus und

dürfen doch nicht vergessen, daß der große Gedanke der Humanität auf solchem Boden gewachsen ist und bei Herder und Lessing, bei Goethe und Schiller doch eine ganz anders tiefe und volle Bedeutung hat, als die abgegriffene und abgeschliffene Humanitätsmünze unserer Zeit. Während aber für andere Menschen jener Tage, für einen Fichte selbst und einen Wilhelm v. Humboldt erst die Katastrophe von Jena kommen mußte, damit sie in der Not des Vaterlandes den mit dem Individualis­ mus so gern sich paarenden Kosmopolitismus überwinden und ihr aus allen Wunden blutendes Vaterland lieben lernten, hat Schiller, der jene bösen Tage nicht mehr erlebte, aus eigener Kraft, unter der Nachwirkung seiner historischen Studien und unter dem Eindruck der vom Westen her drohenden Gefahr, erkannt, daß es gelte, ans Vaterland, ans teure, sich anzuschließen, weil nur in ihm die starken Wurzeln unserer Kraft zu finden seien, und hat als ein wahrer Prophet sein deutsches Volk gemahnt, einig zu sein und einig zu handeln und fest zusammenzuhalten in Not und in Gefahr. Die Freiheit aber, in der er für sich selber ein Höchstes sah, erschien ihm eben darum als ein so großes Gut auch für die Völker der Erde. Wie er selbst ein Freier geworden war, so hielt er es für seine Pflicht, diese Freiheit auch andern zu verkünden und für andere zu erringen. Daran denken wir gewöhnlich allein und zuerst, wenn wir Schiller den Dichter der Freiheit nennen, an jenes revolutionäre „in tyrannos“ in den „Räubern", an den republikanischen Tyrannenmörder Verrina im „Fiesko", an Marquis Posas „Geben Sie Gedankenfreiheit" im „Don Carlos", und an die Rechtfertigung der Notwehr Teils und seines ganzen schweizerischen Volkes gegen Tyrannenmacht und Vergewaltigung von oben. Und doch hat bei ihm von Anfang an auch die politische Freiheit ihr Maß und ihre Grenze gefunden am Sittlichen, am sittlichen Gesetz und an der sittlichen Ordnung der Welt. Näher als der harmonischen Natur Goethes lag dem vulkanischen Sturm und Drang Schillers der Schritt zum Übermenschentum; und in der Tat flieht sein Karl Moor deshalb aus der Welt der Kultur hinaus in die Ungebundenheit des Räuberlebens in den böhmischen Wäldem, weil das Gesetz noch keinen großen Mann gebildet hat und nur die Freiheit Kolosse ausbrütet. Aber schon in dieser Tragödie vom Übermenschen muß der Knabe Karl er-

kennen, daß Freiheit ohne Gesetz und ohne Ordnung die Welt aus den Fugen hebt, statt sie einzurenken, und muß sich zum Schluß dem Gesetz unterwerfen und für die verletzte Majestät der sittlichen Weltordnung sich selber freiwillig zum Opfer bringen. Das wahre Geheimnis politischer Freiheit aber hat doch erst sein historisch geschulter Blick in dem Stück Weltgeschichte entdeckt, das so gewaltig und groß im französischen Nachbarland vor seinen Augen sich abspielte. An den Schreckenstagen in Paris erkannte Schiller, der zuerst wie soviele der Besten seiner Zeit der großen Revolution zuge­ jubelt hatte, daß auch die politische Freiheit ihre Kraft und ihr Ziel nur habe in der sittlichen Freiheit. Zur Sittlichkeit aber müssen die Völker erst erzogen werden und schon vorher erzogen sein, sonst findet der große Moment stets nur ein kleines Geschlecht. Diese Erziehung aber geht, das zeigt ihm der Gang der Mensch­ heitsgeschichte, durch das Morgentor des Schönen, die politische Freiheit setzt die ästhetische Kultur voraus. Vor 110 Jahren hat Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen diese Gedanken ausgesprochen, — in einer von Waffen starrenden Zeit und Welt eine Utopie, so mußte es damals gewiß den meisten erscheinen. Und kaum 15 Jahre später, als Preußen nach jenem tiefen Fall so kraftvoll an seiner Wiedererhebung arbeitete, da erkannten wiederum die Besten und erkannte namentlich Preußens erster und größter Unterrichtsminister, Wilhelm v. Humboldt, einer der drei großen und wertvollen Freunde Schillers, daß die Befreiung und Wiederaufrichtung seines preußischen und des ganzen deutschen Volkes durch den Kursus der Schönheit hin­ durchgehen müsse, wie ihn die Neuhumanisten jener Tage in einem ästhetisch emeuerten Klassizismus zu finden glaubten. Deswegen haben diese Griechenbegeisterten ihrem Volke die humanistische Bildung zu­ führen wollen, weil sie in den Griechen das Volk der Schönheit und der Freiheit sahen und auch das deutsche Volk durch eine an diesem Vorbild sich orientierende Erhöhung und Verfeinerung seiner Kultur politisch frei und einig machen zu können glaubten. Schiller aber, der von alledem das klarste Bewußtsein hatte und als ein wahrer Prophet seinen Deutschen den Weg wies, den ihre Ge­ schichte tatsächlich genommen hat, den Weg von der ästhetischen Ver­ edlung unserer Kultur und von der geistigen Einigung durch unsere

großen Dichter und Denker zu der politischen Zusammenfassung seiner nationalen Kraft und zu der Schaffung von Kaiser und Reich durch unfern größten deutschen Realisten, — Schiller hat uns am Beispiel seiner Werke gezeigt, was das für eine Kultur und Kunst sein muß, die solche Wunder schafft. Nicht die form- und stillose Kunst des Naturalisten, der uns in des Lebens flache Alltäglichkeit, in den Kleinkram und in die Misere des Daseins zurückstößt, sondern die hohe, sttlvolle Kunst, die einen Sonntag des Lebens schafft und das Herz frei und groß macht, weil sie uns das große gigantische Schicksal sehen läßt, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt, und uns wirklich heranführt an der Menschheit große Gegenstände. Und auch nicht die schwächliche Kunst des Ästheten, der — Part pour Part! — in schönseligen Gefühlen und in armseligem Egoismus über sich und seine uninteressante Person nicht hinauskommt und in erkünstelt symbolistischen Tändeleien doch nur der Menschheit Schnitzel kräuselt. Sondem immer ist es bei Schiller der Verstand und der Gedanke, der sich mit der Einbildungskraft paart und die Probleme auch wirklich durchdringt und löst, die er sich gestellt hat; und es ist der Wille zur Tat, der seiner Kunst stets die moralische Kraft und das Wirkenwollen auf die Menschen einflößt und sie zu einer so männlichen und stolzen Kunst macht. Weil Schiller als Dichter Redner und als Redner so ganz erfüllt ist von sittlichem Ethos und sitt­ lichem Pathos, deshalb ist seine Poesie so kraftvoll und so groß; und des­ halb hat er auch nie aufgehört, die Schaubühne als moralische Anstalt zu betrachten und den Künstlern damach ihre Aufgabe zuzuweisen: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! mit euch wird sie sich heben.

Aber neben die Würde hat er stets auch die Anmut gestellt, die Freiheit in der Erscheinung: Denn Schönres find' ich nicht, wie lang ich wähle. Ms in der schönen Form — die schöne Seele.

In diesem Sinn ästhetische Kultur zu verbreiten und ästhetisch zu erziehen, das sah er als seine Aufgabe an, als seine künstlerische, sitt­ liche und politische Aufgabe zugleich. Im Begriff der Freiheit schloß sich ihm das alles zusammen: nur die schöne Seele ist sittlich frei, und nur

das ästhetisch erzogene Volk ist politisch frei und zur politischen Freiheit reif. Darum feiern wir Schiller wirklich nur dann richtig und recht, wenn wir ihn als den Dichter der Freiheit feiern. Man hat freilich in diesen Tagen auch schon gefragt, ob wir, wir Deutsche des 20. Jahr­ hunderts das Recht haben, Schiller zu feiern. Das zu fragen, über­ lassen wir den Pessimisten. Wir feiern ihn und freuen uns, daß diese Feier eine so allgemeine und allumfassende geworden ist. Denn das beweist, daß Schiller wirklich noch lebendig ist und fortlebt im Herzen seines Volkes, weil er dieses Herz, das Innerste und Beste der deutschen Volksseele in sich verkörpert und es in seinen Dichtungen zu machtvoll schönem Ausdruck gebracht hat. Aber wir feiem Schiller nicht, weil er diese Feier brauchte, sondern deshalb, weil w i r ihn nötig haben für unser nationales Leben. Nötig haben als Künstler, weil es unserer heutigen Kunst so vielfach an schönen Formen gebricht und soviel Häßliches und Stilloses sich in ihr vordrängt; nötig haben als den Propheten voll Vaterlandsliebe, der sein Volk mahnte, ein einzig Volk von Brüdern zu sein, — in einer Zeit, wo der doppelte Riß einer tiefen sozialen und konfessionellen Spaltung unser Volk in zwei oder gar drei Nationen auseinander zu sprengen droht; nötig haben als den Dichter der Freiheit, wo soviel Unfreies noch unter uns ist, soviel würdelose Unterwürfigkeit nach oben und soviel feiges sich Beugen vor den Schlagworten der Masse nach unten, so daß darüber Verständnis und Ehrfurcht schwindet vor dem, was wirllich groß ist und Respekt verdient. Und wir haben ihn endlich nötig als den großen Idealisten in einer Zeit, wo der Pulsschlag unseres nationalen Lebens matt und matter zu werden droht und seine Magnetnadel vielfach un­ sicher hin und her schwankt: wir brauchen Ideale, große Aufgaben, bestimmte Ziele, wir brauchen den Glauben an das Ideal und den Mut, es durchzuführen auch gegen den Mderstand einer ganzen stumpfen Welt. Und mit diesem Glauben und mit diesem Mut uns zu erfüllen, dazu helfe uns der heutige Tag und helfe uns Schiller und sein Geist! Wir brauchen aber noch eines, die ewige Jugend Schillers für die Jugend unseres Volkes, also auch für euch, Kommilitonen, und für die ganze akademische Jugend, daß ihr euch — wieder, denn ihr habt ihn eine Zeitlang verlassen und euch von ihm abgewendet, daß ihr euch wieder erfüllen lasset vom Geiste Schillers: daß ihr jugendlich unbe-

fangen euch erhebt über alle jene Gegensätze, die uns trennen, und euch brüderlich zusammenschließt als die Söhne eines einzigen Volkes; daß ihr hoch und kühn das Banner der Freiheit flattern lasset über euerem äußeren und inneren Leben und dabei doch nie die Grenzen derselben, die Schönheit und die Sittlichkeit außer Acht lasset; und daß ihr euch wieder bekennet zu dem Idealismus, der nicht ein leeres Wort ist, sondern ein starker Wille und ein großer Entschluß, der Entschluß, euch hohe Ziele zu setzen und an ihrer Verwirklichung mitzuarbeiten im Dienste des Ganzen. So ist der heutige Schillertag doch mehr als eitles Schaugepränge und festliches Spiel, es ist ein nationaler Sonn- und Ehrentag, ein Tag voll hohen Ernstes und sittlicher Weihe, und die Schillerfeier ein Be­ kenntnis und ein Gelöbnis, eine Verpflichtung aller Feiernden, mitzu­ wirken an dem, was Schiller nach dem Worte seines großen Freundes vor andern erstrebt hat: Damit das Gute wirke, wachse, fromme, Damit der Tag dem Edlen endlich komme!

Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen1). Den Dichter der Freiheit nennt man Schiller mit Vorliebe. Und wenn wir an die Räuber oder an Kabale und Liebe, an die Gestalt des Marquis Posa oder an die Rütliszene im Wilhelm Tel! denken, so ist klar, in welchem Sinne dies gemeint ist. Daß freilich von Schiller auch das ganz undemokratische Wort stammt: Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen, könnte jenes Lob bei manchen erheblich einschränken. Und überhaupt, wie sollte der Mann, der den politischen Staat nur als Notstaat zu würdigen wußte und ihn dem Staat des schönen Scheins gegenüber fast gar als ein notwendiges Übel ansah, so viel Wert auf staatliche und politische Freiheit gelegt haben? Jedenfalls stand ihm eine andere Art von Freiheit viel höher, die sittliche, in seinem sittlichen Idealismus war auch die Idee der Freiheit mit eingeschlossen. Darin war er ein Schüler Kants. Aber wir wissen, wie bei Kant der Freiheitsgedanke gar ver­ schiedene und nicht durchweg miteinander im Einklang stehende Formen angenommen hat. Erst war ihm die Freiheit eine sittliche Forderung, ein Seinsollendes, geradezu das Sittliche selbst: mache dich frei von allem Äußerlichen und Pathologischen, von allen Gedanken an eigenes Glück und von aller Rücksicht auf eigene Neigung, sei dir selbst Gesetz, sei autonom! Dann aber wurde aus dem Seinsollen ein Sein, aus dem Sollen ein Können: du kannst, denn du sollst! hieß es nun. Deshalb flüchtete Kant den sittlichen Menschen aus dem gebundenen empirischen' Dasein in eine höhere, übersinnliche Ordnung der Dinge und machte ihn zum Bürger zweier Welten: in der Welt der Erscheinungen herrscht das 2) Mit Erlaubnis des Schwäbischen Schillervereins abgedruckt aus dem (ersten) Marbacher Schillerbuch. Stuttgart. I. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger 1905.

Kausalitätsgesetz, als ihr Bürger ist der Mensch selbst auch Erscheinung und unfrei; in der anderen höheren, intelligiblen Welt gilt das Sitten­ gesetz, hier ist der Mensch frei und sein intelligibler Charakter der be­ harrliche und tragende Grund seines empirischen Handelns und seines empirischen Seins. Damit aber bahnte sich fast mit Notwendigkeit der Übergang zu einer dritten Auffassung an: die Freiheit löste sich los von der Sittlichkeit, mit der sie bis dahin identisch gewesen war, sie wurde nun zur Wahlfreiheit, für die das Böse ebenso möglich war wie das Gute, oder vielleicht noch möglicher, da wir ja tatsächlich alle mit dem Unglück und der Schuld des radikalen Bösen behaftet sind. Wie sich Schiller in seinen philosophischen Schriften zu diesen ver­ schiedenen Formen und Phasen der Kantischen Freiheitslehre verhalten hat, soll hier nicht untersucht werden. Bekannt ist, daß er dem Philo­ sophen in die dritte jedenfalls nicht folgen konnte. Der Gedanke des radikalen Bösen war ihm, ebenso wie Goethe und vielleicht mit unter dessen Einfluß, durchaus unsympathisch. Im ganzen wird man sagen können, daß ihm an der ganzen Freiheitsidee die sittliche Autonomie doch immer das Wichtigste war und daß sie ihm, eben als Idee, stets nur ein „Wort des Glaubens" geblieben ist. Aber nicht das interessiert uns hier, wie Schiller als Philosoph mit diesem schwierigsten aller Probleme fertig oder auch nicht fertig geworden ist, sondern für uns ist die Frage die, wie er sich als Dichter, speziell als dramatischer Dichter zu dem Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit gestellt und ob er auch als solcher für die erstere Partei ergriffen hat. Denn daß er diesem Problem nicht auswich, sondern gerade auch in seinen Dramen jenen Gegensatz beider Prinzipien zum Austrag bringen wollte, hat er selber ausgesprochen, wenn er ihn zunächst auch anders, weniger theoretisch, mehr konkret und praktisch formuliert hat. Und um der Menschheit große Gegenstände, Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen,

heißt es im Prolog zum Wallenstein. Derselbe Prolog aber zeigt, daß es der große Prozeß zwischen Freiheit und Notwendigkeit ist, der dahinter steht und hier zum Austrag gebracht werden soll; und ich wüßte in der Tat kein Werk, weder ein poetisches noch ein philosophisches, in dem uns derselbe anschaulicher vorgeführt, in dem das Problem tiefet erfaßt und die Lösung besser gelungen wäre, als im Wallenstein.

Und nun, wie steht es hier? Wallenstein selber glaubt an Astrologie, an seine Sterne, die nicht lügen, und an das Schicksal, das im Sternenlauf sich ankündigt. Aber er glaubt nur und läßt nur gelten) was er davon brauchen kann und haben will. Deshalb hat diesem astrologischen Aber­ glauben gegenüber Jllo ganz recht mit seiner rationalistischen Erklärung: In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.

Das klingt im Munde Jllos freiheitlich genug und ist im Sinne Schillers doch nicht so gemeint, wenigstens nicht in dem Maße freiheitlich gemeint, wie es zunächst scheint. Den zehn Akten des Wallenstein geht das „Lager" voran, dessen Zweck Schiller selbst int Prolog so unübertrefflich klar ausgesprochen hat. Erst wird die allgemeine Aufgabe der Kunst dahin bestimmt: Denn jedes Äußerste führt sie, die alles Begrenzt und bindet, zur Natur zurück, Sie sieht den Menschen in des Lebens Drang Und wälzt die größte Hälfte seiner Schuld Den unglückseligen Gestirnen zu;

dann heißt es mit spezieller Beziehung auf den Helden des Stücks: Sein Lager nur erlläret sein Verbrechen.

Wallensteins Verbrechen wird aus der Macht erklärt, die ihm die Herr­ schaft über dieses Lagers kühne Scharen in die Hand gibt; erklären aber heißt: auf seine Gründe, auf seinen Kausalzusammenhang zurückführen. Wallensteins Abfall vom Kaiser ist also kein unmotivierter und indeter­ minierter, sondem durch sein Lager, das heißt durch seine Macht über sein Heer und durch die Macht, die ihm dieses sein Heer dem Kaiser gegen­ über gibt, wohl motiviert, und dämm wälzt Schiller die größere Hälfte seiner Schuld den Sternen, das will sagen: dem Schicksal, und das will noch einmal genauer und konkreter zugleich heißen: „dem Notzwang der Begebenheiten" zu. Damit ist die Bedeutung des „Milieus" von dem Dichter der Freiheit so energisch anerkannt, wie es nur einer der Neueren und Neuesten wollen kann, und wie es doch keiner von diesen Neuesten in solcher Schärfe und wundervollen Klarheit geleistet und durchgeführt hat. Aber nur die größere Hälfte seiner Schuld ist den Gestimen zu­ gewälzt: — vielleicht bleibt damit der Freiheit doch noch ihr Recht und

Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen.

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ein Rest gewahrt, nur daß es ihr geht wie den Rothäuten mit ihren Jagdgründen in Amerika: sie werden von Tag zu Tag kleiner, bis —, ja bis sie eines letzten Tages vollends ganz verschwunden sind. Denn wo liegt nun die andere, wenn auch kleinere Hälfte seiner Schuld? Wallen­ stein hat mit dem Gaukelbilde der königlichen Hoffnung und mit dem Mittel dazu, dem Abfall vom Kaiser, nur gespielt, beschlossene Sache war es nie: Blieb in der Brust mir nicht der Mlle frei, Und sah ich nicht den guten Weg zur Seite, Der mir die Rückkehr offen stets bewahrte?

Mer nun liegt's hinter ihm, und eine Mauer aus seinen eigenen Werken baut sich auf, die ihm die Umkehr türmend hemmt. Nun kann er nicht mehr, wie er wollte, nicht mehr zurück, wie ihm's beliebt. So sieht er es zunächst selber an. Er kann nicht mehr, wie er will, das heißt, er hat aufgehört frei zu sein; aber er war wenigstens einmal frei und hat gekonnt, wie's ihm beliebt. Da kommt die Gräfin Terzky und zeigt ihm, daß er doch noch anders kann, daß doch noch eine Wahl ist und ein milderer Ausweg sich finden läßt: er darf nur sein vergangenes Leben wegwerfen und sich entschließen, ein neues anzufangen; in Men wird man ihm gerne verzeihen und ihn unbehelligt ziehen lassen. So ist Wallenstein auch jetzt noch frei, der gute Weg zur Seite steht ihm noch immer offen. Und nun schildert sie mit diabolischer Kunst, was dann sein wird: Aus seinen Schlössern wird es nun lebendig, Dort wird er jagen, baun, Gestüte halten. Sich eine Hofstatt gründen, goldne Schlüssel Austeilen, gastfrei große Tafel geben, Und kurz, ein großer König sein — im kleinen! Und weil er llug sich zu bescheiden weiß, Nichts wirklich mehr zu gelten, zu bedeuten, Läßt man ihn scheinen, was er mag; er wird Ein großer Prinz bis an sein Ende scheinen.

Da bricht Wallenstein los. Dieser Weg eines gleißenden Schein­ daseins ist für ihn nicht gehbar; darum: Hilfreiche Mächte, einen solchen zeigt mir, Den ich vermag zu gehn. — Ich kann mich nicht Wie so ein Wortheld, so ein Tugendschwätzer An meinem Willen wärmen und Gedanken.

Da haben wir die andere Hälfte seiner Schuld! Es ist sein „Ethos"l), seine Art, sein Wesen, seine Natur, sein Charakter. So führt die Kunst, die alles bindet, auch dieses Äußerste zur Natur zurück. Zur Natur, nicht auf irgendeinen unbegreiflichen und übernatürlichen „intelligiblen Charakter". Aus dem Milieu heraus erklärt und begreift sich die eine, größere Hälfte seiner Tat, aus seiner Natur, seinem empirischen Cha­ rakter heraus die andere, kleinere. An diese seine Natur ist Wallen­ stein gebunden, er kann nicht anders sein, als er ist; darum kann er nun auch nicht anders handeln, Nicht zu dem Glück, das ihm den Rücken kehrt, Großtuend sagen: Geh! ich brauch' dich nicht!

Das kann er nicht, das wäre wider Stemenlauf und Schicksal, nicht obgleich, sondern gerade weil in seiner Brust seines Schicksals Sterne sind. Daß Wallenstein trotz alledem anders hätte handeln können, daß er darum doch für seine Tat verantwortlich bleibt und sie frei auf sich nimmt, das sagt Schiller nirgends. Und das konnte er auch nicht sagen. Denn damit hätte er alles, was er so mühsam und so künstlich aufgebaut, selber wieder niedergerissen und abgebrochen. Schiller ist Dramatiker; der Dramatiker hat zu motivieren, nicht Schuld abzumessen und sitt­ liche Noten auszuteilen, wenn er auch im Prolog von Schuld und von Verbrechen redet; und nirgends ist Schiller in der Kunst des Motivierens glücklicher, nirgends auch sorgfältiger gewesen als im Wallenstein. Zum Motivieren aber taugt nur der Determinismus. Die freie Handlung ist die unmotivierte, die zufällige Handlung; freie Handlungen sind daher dramatisch unbrauchbar, widersprechen dem Wesen, dem Zweck und der Aufgabe aller dramatischen Kunst, die vielmehr nach Schillers weisem Wort zu binden und zur Natur zurückzuführen hat. So sind, könnte man sagen, die Dramatiker die Kronzeugen für den Determinismus gegen den irrationalen Gedanken einer „transzendentalen, das ist: ab­ soluten Freiheit". Und davon macht auch unser größter Dramatiker ') Von dem griechischen Philosophen Heralleitos stammt das Wort: #j9o;