Meinung und Wissen in der Philosophie Platons: Untersuchungen zum "Charmides", "Menon" und "Staat" [Reprint 2010 ed.] 9783110834826, 9783110047875


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German Pages 244 Year 1974

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Table of contents :
Vorbemerkung
Einleitung:
Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen
Zweites Kapitel: Wissen des Wissens und Vorbegriff von Wissen im ‚Charmides‘
Drittes Kapitel: Die Anamnesis als Übergang von Meinung zu Wissen (Men. 80a–86c)
Viertes Kapitel: Doxa und Episteme in den mittleren Büchern des ,Staates‘
A. Doxa und Chorismos
B. Die Idee des Guten und die Mathematik
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Stellenregister
Namenregister
Sachregister
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Meinung und Wissen in der Philosophie Platons: Untersuchungen zum "Charmides", "Menon" und "Staat" [Reprint 2010 ed.]
 9783110834826, 9783110047875

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Theodor Ebert Meinung und Wissen in der Philosophie Platons

Theodor Ebert

Meinung und Wissen in der Philosophie Platons Untersuchungen zum ,Charmidesc, ,Menon* und ,Staat*

w DE

G 1974 Walter de Gruyter · Berlin · New York

ISBN 3 1100 4787 Library of Congress Catalog Card Number 72-81551 © 1974 by Walter de Gruyter 8c Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung · J. Gutrentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photoraechaniscten) Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg

Meinen Eltern

Vorbemerkung Die vorliegende Untersuchung ist die umgearbeitete, teils verkürzte, teils erweiterte Fassung einer Abhandlung, die unter dem Titel „Das Verhältnis von Doxa und Episteme in der Philosophie Platons" im Wintersemester 1966/67 von der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde. Ernst Tugendhat und insbesondere Hans-Georg Gadamer danke ich für mannigfache Anregungen und Kritik an der ursprünglichen Fassung dieser Arbeit. Für ihre gründliche und hilfreiche Kritik einer englischen Fassung von Kapitel IV, Abschnitt A, bin ich John Ackrill und Michael Woods, Oxford, verpflichtet. Manfred Riedel, Erlangen, habe ich für eine kritische Durchsicht der Neufassung zu danken. Schließlich sei der Deutschen Forschungsgemeinschaft an dieser Stelle für die Gewährung eines Stipendiums gedankt, das mir im akademischen Jahr 1967/68 eine Fortsetzung meiner Studien zur antiken Philosophie an der Universität Oxford ermöglicht hat. Daß die Verantwortung für alle verbliebenen Mängel dieser Arbeit allein beim Autor liegt, wird sich von selber verstehen. Erlangen, im Oktober 1973 Theodor Ebert

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

................

^

Einleitung: a ) Problemhorizont u n d Fragestellung d e r Untersuchung . . . . . . b) Hermeneutische Vorüberlegungen zu einer Interpretation der platonischen Dialoge ................. Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen a) b) c) d)

Meinen und Meinung Erkennen und Kennen Wissen Meinen und Wissen

..........

37 4° 45 47

Zweites Kapitel: Wissen des Wissens und Vorbegriff von Wissen im ,Charmides' ..... a) Sich-Kennen, Sich-Wissen und Wissen des Wissens ....... b) Die Möglichkeit reflexiven Wissens ........... c) Wissen des Wissens und Wissen, was einer weiß ....... d) Kenntnis von Allem und Wissen des Guten .........

a) b) c) d) e)

3

37

.............. .............. ................. ..............

Drittes Kapitel: Die Anamnesis als Übergang von Meinung zu Wissen (Men. 8oa - 86c) .

2

55 62 69 72 75

.

.

„Lernen ist Wiedererinnerung" ............ Die Geometriestunde im ,Menon' ........... Aporie und Aporieverständnis Menons .......... Die Rede des Sokrates .............. Menons Mißverständnis der Anamnesis ..........

Viertes Kapitel: Doxa und Episteme in den mittleren Büchern des ,Staates' ...... A. Doxa und Chorismos .............. a) Glaukons Einwand und die Frage nach dem wahren Philosophen . . . b) Die Diskussion der Unterscheidung von Doxa und Episteme (Pol. 477 - 479) in der Platonliteratur .............. c) Glaukon als Sprecher der Doxa ............ d) Die ontologischen Konsequenzen der Unterscheidung von Wissen und Meinung als Vermögen .............. e) Epigone oder Kritiker des Eleatismus? ..........

83 84 88 90 96

105 109 no 114 117 125 131

. Die Idee des Guten und die Mathematik a) Erziehung der Herrscher und Erkenntnis des Guten b) Das Gute und die Idee des Guten c) Das Gute und die Güter d) Die Logik von ,gut' e) Der Begriff des Guten und die Aufdeckung von ideativen Begriffen . . . f) Die Diskussion der drei Gleichnisse in der Platonliteratur g) Die Funktion der drei Gleichnisse in der Argumentation des sechsten und siebten Buches h) Das Sonnengleichnis i) Das Liniengleichnis k) Das Höhlengleichnis

132 i32 133 14° 143 146

161 173 193

Schlußbemerkung

209

Literaturverzeichnis

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Stellenregister

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Namenregister

230

Sachregister

233

Einleitung a) Problemhorizont und Fragestellung der Untersuchung Platon ist der einzige Philosoph der vorchristlichen griechischen Antike, von dem alle Schriften erhalten sind, die er selbst veröffentlicht oder doch zur Veröffentlichung bestimmt hat; kein antiker Autor erwähnt bekanntlich einen Dialog Platons, den nicht auch wir noch besitzen. Mit der Einzigartigkeit dieser Überlieferungslage kontrastiert die Kargheit dessen, was wir über Platons Philosophie wissen. Man braucht sich nur unsere in den Grundzügen doch gesicherte Kenntnis der Philosophie des Aristoteles vor Augen zu halten, um zu sehen, in welchem Ausmaß gerade die zentralen Lehrstücke der platonischen Philosophie ein Feld von Vermutungen und Spekulationen sind; die Breite der Kontroversen über den Sinn der Ideenlehre, über deren mögliche Entwicklung und Modifikation, über die Anamnesislehre oder über Bedeutung und systematische Stellung der Idee des Guten ist nur ein Symptom für diese Forschungslage. Nun hat diese Unkenntnis über das, was als das eigentliche Zentrum der Philosophie Platons gilt, über die Ideenlehre, ihren Grund zunächst in den platonischen Texten selbst. Wollte man die Seiten des Corpus Platonicum, auf denen explizit von den Ideen gehandelt wird, aneinanderstellen, so käme man über den Umfang eines Dialoges kaum hinaus. Der Raum, den die Diskussion der Ideenlehre nach den Berichten der Schüler Platons, des Aristoteles vor allem, innerhalb der Akademie eingenommen zu haben scheint, findet jedenfalls äußerlich im schriftstellerischen Werk Platons keine Entsprechung. Überdies scheinen viele der Stellen, an denen auf die Ideenlehre Bezug genommen wird, eher Andeutungen für bereits Initiierte zu geben als eine durchgeführte Explikation dieser Theorie. Einzig der ,Parmenides' erörtert in seinem ersten Teil systematische Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme der Ideen zu ergeben scheinen. Aber gerade die Argumentationen dieses Dialoges machen die Frage nach dem Sinn der Ideenlehre nur noch vertrackter. Der Leser erhält keine Antwort auf die Einwände, die Parmenides im Gespräch mit dem jugendlichen So-

2

Einleitung

krates gegen die Annahme der Ideen erhebt, obwohl derselbe Parmenides ausdrücklich feststellt, daß eine Leugnung der Ideen „die Möglichkeit des Sich-Unterredens" ( 135 c 1-2) aufheben würde. Dennoch scheint diese Kritik des ,Parmenides' für die am Urbild-AbbildModell orientierte Darstellung der Ideenlehre des ,Phaidon' und der ,Politeia' vernichtend: als eine Ähnlichkeitsbeziehung, so stellt der ,Parmenides' fest, läßt sich die Methexis nicht denken (vgl. Parm. 133 a). Wie aber ist dann das Verhältnis der Ideen zu den raum-zeitlichen Dingen zu bestimmen? Was sind überhaupt Ideen? Was ist mit der Idee des Guten als einem Prinzip ( ) von Ideen gemeint? Auf alle diese Fragen geben die platonischen Dialoge, wie es scheint, keine zureichenden oder auch nur widerspruchsfreien Antworten. Daher haben in diesem Jahrhundert Forscher wie Robin, Stenzel, Wilpert und Ross versucht, über den Weg einer Auswertung der Sekundärüberlieferung einiges Licht in dieses Problemfeld zu bringen1. Die Reihe dieser Versuche ist in den letzten Jahrzehnten durch das Unternehmen von Krämer und Gaiser, „Platons ungeschriebene Lehre" systematisch wiederherzustellen, fortgeführt worden2. Aber die philologische Erudition und der kombinatorische Scharfsinn dieser Arbeiten können doch den methodischen Mangel, der Rekonstruktionsversuchen dieses Typs anhaftet, nicht wettmachen. Der Versuch, eine philosophische Theorie aus Referaten fremder Autoren zu erschließen, der auch bei einem wohlwollenden Berichterstatter schon mit der Möglichkeit von Mißverständnissen rechnen muß, ist erst recht mißlich, wenn die Mitteilungen über die zu erschließende Lehre, wie es bei Aristoteles, dem Hauptzeugen für die .ungeschriebene Lehre' Platons, der Fall ist, im Kon1 L. Robin, La Theorie platonicienne des Idees et des Nombres d'apres Aristote. Paris 1908 (Robin beschränkt sich in seiner Untersuchung, wie der Titel andeutet, auf die aristotelischen Testimonien). J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles. Leipzig Berlin 1924, 21933. P· Wilpert, Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre. Regensburg 1949. D. Ross, Plato's Theory of Ideas. Oxford 1951. Für die Diskussion des Problems der indirekten Platonüberlieferung im vorigen Jahrhundert vgl. H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato and the Academy. Baltimore 1944, 2New York 1962 vol. I, Foreword. - Zitierte Literatur ist im folgenden, wenn sie häufiger genannt wird, nur mit Kurztiteln angegeben. Die genauen bibliographischen Angaben liefert das Literaturverzeichnis. Wird außer der ersten Auflage eines Buches noch eine spätere genannt, so wird aus der letzteren zitiert. 2 H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959. K. Gaiser, Platons, ungeschriebene Lehre. Stuttgart 1963. Den Argumenten Krämers hat sich auch K. Oehler angeschlossen (Der entmythologisierte Platon, Zeitschrift für philosophische Forschung 19 (1965) 393 - 420. Neue Fragmente zum esoterischen Platon, Hermes 93 (1965) 397-408).

Das Problem der indirekten Überlieferung

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text einer ablehnenden Kritik stehen. Dieser Umstand nimmt auch dem Vorschlag Burnets3, zwischen Referat und Interpretation des Aristoteles zu unterscheiden, viel von seinem methodischen Wert. Wie sehr eine von systematischen Interessen vorgeformte Fragestellung auch schon den vorgeblichen Bericht zu verzeichnen im Stande ist, hat gerade die Analyse der aristotelischen Vorsokratiker-Referate sichtbar gemacht4. Und keine der wird von Aristoteles so wenig wohlwollend behandelt wie die Ideenlehre. Hinzu kommt, daß die von Aristoteles unabhängige Überlieferung zu bruchstückhaft ist, um als Korrektiv seiner Berichte und Kritiken fungieren zu können. Wie wenig aber die aristotelischen Referate im einzelnen zuverlässig sind, haben die minutiösen und scharfsinnigen Untersuchungen des amerikanischen Platonforschers H. Cherniss gezeigt5. Selbst wenn man Cherniss' Ausführungen nicht in allen Punkten folgen will, so wird man die aristotelischen Berichte, wenn überhaupt, doch nur weit kritischer und vorsichtiger als Quellen für Lehrmeinungen Platons nutzen können; die Ablehnung, auf die Cherniss' Metakritik in der europäischen Platonforschung teilweise gestoßen ist, scheint mitunter in keinem Verhältnis zur Triftigkeit der gegen ihn vorgebrachten Argumente zu stehen 6. 3 J. Burnet, Greek Philosophy. London 1914, 13i968, 254. 4 H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Presocratic Philosophy. Baltimore 1935. Vgl. a. K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. Bonn 1916, 2Frankfurt 1959 insbes. 21 f., 98 ff. 5 H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato. Ders., The Riddle of the Early Academy. New York 1945. 6 Vgl. etwa D. Ross, Plato's Theory of Ideas 142 ff. („The Unwritten Doctrines"). Ross erkennt Cherniss' kritische Leistung an, möchte aber ihren Konsequenzen ausweichen (s. 143). Die Belege aus Aristoteles, auf die Ross sich stützt, sind von Cherniss diskutiert worden, ohne daß sich Ross jedoch mit dessen Argumenten auseinandersetzt. Die bisher ausführlichste Auseinandersetzung mit Cherniss' Thesen gibt Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles 380 ff. („Das Problem des esoterischen Platon"). Krämers Kritik an Cherniss leidet aber unter der Schwäche, die für seine Beweisversuche allgemein charakteristisch ist: er behandelt, was allenfalls als Indiz für seine These gelten könnte, als unwiderleglichen Beweis. So ist Krämer der Ansicht - um nur ein besonders krasses Beispiel zu nennen -, daß durch Platons Bericht im VII. Brief über seinen Umgang mit Dionysios von Syrakus, einen Bericht also über eine in mehrfacher Hinsicht exzeptionelle Situation, eine „Lehrtätigkeit (sc. Platons) nicht nur erwiesen, sondern auch in Einzelzügen erhellt" ist (a. a. O. 403, vgl. 406, 444, 453). Cherniss' Kritik an den Berichten über den Begriff des als Prinzip glaubt Krämer mit einem Hinweis auf den platonischen ,Parmenides' widerlegen zu können, der zeige, „daß das Eins bei Platon durchaus die Funktion eines Prinzips der Ideenwelt besaß" (a. a. O. 425). Selbst wer glaubt, diese These aus dem zweiten Teil des Dialogs herauslesen zu können, wird doch zugeben müssen, daß dort vom Eins in der Funktion eines Prinzips nicht explizit die Rede ist. Man wird eine solche These bestenfalls als Hypothese einer möglichen Interpretation ansehen können, als Basis einer Widerlegung ist sie untauglich. - Den Hauptargumenten von Cherniss

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Einleitung

Angesichts dieses Diskussionsstandes findet sich ein Versuch, der über Platons zentrale philosophische Theorie Auskunft sucht, zunächst und vor allem wieder auf die Dialoge verwiesen. Was die nachfolgenden Untersuchungen von den vorerwähnten Arbeiten methodisch unterscheidet, ist in der Tat dies, daß sie ihre Fragen ausschließlich an die Texte Platons selber richten. Sie teilen jedoch mit den genannten Abhandlungen die Motivation durch die Frage nach der platonischen Ideenlehre. Aber es ist nicht ihre Absicht, diese Frage, die gleichwohl ihren Problemhorizont bildet, explizit zu stellen, also zu untersuchen, was eigentlich die platonischen Ideen sind. Ihr Ziel ist begrenzter. Positiv wollen sie eine Aufklärung des Verhältnisses von Meinung und Wissen, von Doxa und Episteme leisten, von jenen Begriffen also, die in den mittleren Büchern der ,Politeia' den Rahmen für die Exposition der Ideenlehre abgeben. Hinsichtlich der Ideenlehre selbst ist die Absicht der folgenden Untersuchungen eher negativ: durch die Analyse des Verhältnisses von Doxa und Episteme sollen bestimmte, für das Verständnis der platonischen Ideen weithin maßgebende Interpretationsmuster widerlegt und gezeigt werden, daß diese Muster durch die platonische Form der Darstellung einerseits und die Macht einer an der aristotelischen Philosophie orientierten Tradition andererseits induziert sind. Daß dieser einer Analyse des Verhältnisses von Doxa und Episteme im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn der platonischen Ideenlehre eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann, sei hier vorläufig durch zwei Gründe erläutert. Der erste ist ein philosophiegeschichtlicher: es fällt auf, daß die aristotelische Kritik an Platon, in der die spätere Platonkritik ihre Quelle und ihr Vorbild hat, eben dies Verhältnis von Meinung und Wissen nirgends als den Rahmen der platonischen Ideenhypothese nennt. Hätten wir nur die aristotelische Kritik an Platon und nicht auch Platons eigene Schriften, so würden wir nicht wissen, daß die Ideen - wie uns jetzt etwa die mittleren Bücher der ,Politeia' oder der ,Timaios' (vgl. 51 d-e) bezeugen - bei Platon im Zusammenhang der Unterscheidung von Meinung und Wissen eingeführt werden. Von der Beziestellt sich Krämer nicht. Er gibt keine Auskunft auf die Frage, warum die verschiedenen Platonschüler (Aristoteles, Xenokrates, Herakleides) der Vorlesung „Über das Gute" soviel Bedeutung beimaßen, daß sie sie zu einer Nachschrift umarbeiteten, die in ihren Schriftenverzeichnissen genannt ist, wenn es doch eine ständige Lehrtätigkeit Platons in der Akademie gab (vgl. Cherniss, Riddle 12). - Ebensowenig äußert sich Krämer zu dem Problem der Glaubwürdigkeit der aristotelischen Berichte angesichts der offenbaren systematischen Mißdeutung von Lehren Platons, die an den Dialogen (etwa am ,Timaios') belegt werden können (vgl. Cherniss, Riddle 20 ff.).

Das Verhältnis von Meinung und Wissen

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hung der platonischen Ideen auf das Wissen als Gegensatz der Meinung sind bei Aristoteles nur die „Argumente aus den Wissenschaften" (vgl. etwa Met. A 9, 990 b 11-13) übriggeblieben; die Aufsplitterung in einen Plural ( ) macht unkenntlich, daß hier ein Gegensatzverhältnis, das von Meinung und Wissen, zu Grunde lag. Daß sich Meinung und Wissen dabei nicht als bloß äußerliche Gegensätze gegenüberstehen, zeigt das Höhlengleichnis: Wissen als das Sich-Heraufgearbeitethaben aus der Höhle des Meinens ist allererst die Einsicht in die Bedingungen und die Bedingtheit bloßer Meinung. Es ist Zur-Einsilcht-Gekommen-Sein in, nicht bloßes Losgekommen-Sein von Meinung. Eine Reflexion auf das Verhältnis von Meinung und Wissen, die auf den Weg von der Meinung zum Wissen reflektiert, suchen wir bei Aristoteles - auch außerhalb seiner Kritik an Platon - vergeblich. Das meint freilich nicht, daß es bei Aristoteles keine genaue Unterscheidung von Doxa und apodeiktischem Wissen gibt (vgl. z. B. Met. Z 16, 1039 b 32 ff.; Anal, post. A 33, 88 b 30 ff.). Aber was Aristoteles hier ,Meinung' nennt, hat nicht jenen Charakter bloßer Meinung, den die Gefangenschaft des Höhlengleichnisses darstellt und zu dem in den mittleren Büchern der ,Politeia* das Wissen im Gegensatz steht. Daher ist auch, wo bei Aristoteles von einer Stufung von Wissensweisen die Rede ist (z. B. Met. A i, 980 a 2i - 982 a 3), eine Stufung gemeint, die erst der philosophischen -Reflexion als solche erscheint; diese Stufen des Wissens von der Aisthesis bis zur Sophia sind nicht, wie bei Platon, durch den Prozeß eines Zur-EinsichtKommens, einer Paideia, verbunden - was sehr schön etwa daran deutlich wird, daß Aristoteles die niedrigsten Stufen von Wissen am Verhalten von Tieren illustrieren kann (vgl. Met. A i, 980 a 27 - b 27). Diese Differenz zwischen Platon und Aristoteles hat ihren Grund möglicherweise in einer unterschiedlichen Bestimmung der Philosophie: während für den Sokratiker Platon Philosophie die Theorie der Überführung von Doxa in Episteme, des natürlichen Weltverständnisses in ein für sich selbst durchsichtig gewordenes ist, scheint bei Aristoteles Philosophie als Theorie je verschiedener Weisen von Wissen und ihrer Prinzipien verstanden. Aber für unsere Untersuchung kann die Frage nach dem Grund dieser Differenz offenbleiben. Ihre Tatsache allein reicht hin, um eine Analyse des Verhältnisses von Wissen und Meinung in den platonischen Dialogen für einen Interpretationsversuch vorrangig zu machen, der es immerhin für möglich hält, daß durch die aristotelische Kritik philosophische Einsichten Platons verdeckt worden sind7. 7 Zur Frage der philosophischen Differenz zwischen Aristoteles und Platon vgl. den

6

Einleitung

Der zweite Grund für die Auszeichnung der Frage nach dem Verhältnis von Meinung und Wissen bei Platon liegt in der sachlichen Zugänglichkeit dessen, wonach sie inhaltlich fragt. Die Frage nach den Kriterien der Unterscheidbarkeit von Meinung und Wissen hat ihren philosophischen Sinn unabhängig von Theoremen, die innerhalb einer bestimmten philosophischen Theorie an dieses Verhältnis geknüpft sein mögen. Mit ihr ist ein sachliches Problem genannt, das nicht — wie etwa die Rede, alles Wissen sei ,wiedererinnertes* — in mythologischer Verrätselung einem direkten Begreifen entzogen, sondern das rein in seinem phänomenalen Sinn verstehbar ist. In dieser sachlichen Zugänglichkeit liegt aber die Chance, zu einer produktiven Auseinandersetzung mit den Aussagen der platonischen Dialoge über Doxa und Episteme zu kommen, und dies in einem doppelten Sinn: einerseits so, daß das dort Gesagte - durch Vermittlung von Einsichten oder durch Provokation von Fragen - für das sachliche Verständnis fruchtbar werden kann, zum ändern aber auch in der Weise, daß sich mit den an der Sache gewonnenen Erkenntnissen solches, was in den Dialogen zunächst nicht verständlich scheint, in seinem sachlichen Sinn aufschließen läßt. Dieser zweite Grund für den Vorrang der Frage nach dem Verhältnis von Meinung und Wissen enthält aber über den ersten hinaus schon eine Anweisung für das methodische Vorgehen der hier versuchten Interpretation: sie versteht sich als eine systematische' in dem Sinn, daß sie das in bestimmten philosophischen Theoremen Gemeinte aus einem Sachverständnis zu entfalten sucht. Umgekehrt gesagt: sie verbietet sich den bloß doxographischer Verzeichnung dessen, was Platon vorgeblich zu bestimmten Fragen und Phänomenen ,gemeintl hat. Jede Interpretation, die nur nach dem fragt, was ein Philosoph ,gemeint' und ,gesagt', nicht aber nach dem, was er gesehen und erkannt hat, verzichtet damit nicht nur auf die Möglichkeit, selber eine sachliche Erkenntnis zu Gesicht zu bekommen, sondern kann vor allem nie sicher sein, ob nicht das, was ihr als nur noch historisch verstehbare Meinung ihres Autors erscheint, in Wahrheit ein Reflex der Ohnmacht des eigenen Begreifens ist. Dieser Verdacht trifft aber nicht nur jene Auffassung, die eine bestimmte philosophische Theorie insgesamt nur noch als Gegenstand historisch-doxographischen Interesses betrachtet; er trifft auch jene entwicklungsgeschichtlichen Konstruktionen, die das, was dem heutigen Leser widersprüchlich und unverständlich vorkommt, durch eine Verteilung auf verschiedene Entlehrreichen Aufsatz von E. Frank, The Fundamental Opposition of Plato and Aristotle, AJPh 61 (1940) 34 - 23,166 - 185, insbes. 166 ff. (Jetzt a. in: E. Frank, Knowledge, Will, and Belief - Wissen, Wollen, Glauben. Zürich 1955, 86 ff.).

Die Problematik der Entwicklungshypothese

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wicklungsstufen eines Philosophen erklären wollen. Hinter den für heutige Leser, wie es scheint, inhaltlich nicht nachvollziehbaren Theoremen eines Philosophen, die ihren Platz dann gewöhnlich in seiner Frühphase finden, könnte sich eine noch nicht verstandene Einsicht verbergen, in deren Licht sein gesamtes Werk ein anderes Aussehen gewinnt8. In der Platonliteratur ist die kritisierte doxographische Betrachtungsweise auf dem Gebiet, das den Gegenstand der folgenden Untersuchungen bildet, in einer Weise eingeschliffen, die nicht als Ergebnis einer Auslegungstradition allein verständlich scheint. Hier treten offenbar allgemeinere Vormeinungen ins Spiel. Die sachliche Unverständlichkeit der Ideenlehre, wie sie im ,Phaidon' und in der ,Politeia' dargestellt scheint, jene Zerspaltung der Welt in einen Kosmos unvergänglicher, urbildhafter Gestalten, von denen allein Wissen möglich sein soll, und in ein Reich sinnlicher abbildhafter Erscheinungen, die den Gegenstand des Meinens bilden, führte, vor allem als man in der Sprachstatistik ein Mittel zur chronologischen Ordnung der Dialoge besaß, zu einer entwicklungsgeschichtlichen Konstruktion, die in der Platonforschung vielfach Anerkennung gefunden hat: zur Unterscheidung zwischen einer frühen und einer späten Form der platonischen Philosophie, wobei der späte Platon die Ideenlehre und mit ihr zusammenhängende Theoreme wo nicht aufgegeben, so doch entscheidend modifiziert haben soll9. Für 8

Das gilt selbstverständlich dort nicht, wo eine Entwicklung durch explizite Äußerungen eines philosophischen Autors oder durch unsere biographische Kenntnis über ihn belegt und abgesichert ist, wie etwa im Falle Kants. Aber für die klassische Philosophie der Griechen fehlen uns solche Äußerungen, und unsere sonstige Kenntnis ist bei weitem zu bruchstückhaft, um die Zuversicht zu rechtfertigen, mit der man Interpretationsprobleme der antiken Philosophie durch entwicklungsgeschichtliche Konstruktionen lösen zu können glaubt. Daß insbesondere gegenüber den platonischen Dialogen die entwicklungsgeschichtliche Fragestellung unangemessen ist, hat H.-G. Gadamer richtig betont (Amicus Plato magis arnica veritas, in: Platos dialektische Ethik. 2Hamburg 1968, 253). - Zu dem methodischen Problem ist sehr instruktiv auch der Streit über das Vorliegen und das Verhältnis zweier Konzeptionen von Metaphysik bei Aristoteles. Auch hier ist die Forschung von den Athetesen Natorps über Werner Jägers entwicklungsgeschichtliche Erklärung zu einem integrativen Verständnis der aristotelischen Metaphysik gekommen (J. Owens). 9 In England hat L. Campbell die Tradition einer „Revision" der Ideenlehre in den Spätdialogen eröffnet (vgl. The Sophistes and Politicus of Plato, ed. by L. Campbell. Oxford 1867, Introduction LXXI). Ihm schlössen sich im englischen Sprachbereich H. Jackson, W. F. R. Hardie, F. M. Cornford, D. Ross und zuletzt G. Ryle an, um nur die namhaftesten Forscher zu nennen. In Deutschland war es vor allem J. Stenzel, der die These einer Revision der Ideenlehre in den Spätdialogen vertrat; für Stenzel fällt diese Korrektur der Ideenlehre mit der Ausweitung der Ideenhypothese zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie zusammen (vgl. Studien 29. Kleine Schriften 42 f.) Vgl. a. E. Kapp, The Theory of Ideas in Plato's Earlier Dialogues, in: Ausge-

8

Einleitung

diese Unterscheidung berief man sich auf zwei Stellen in den platonischen Spätdialogen, auf die Diskussion bestimmter Schwierigkeiten im Verständnis der Ideen, wie sie der ,Parmenides' (130-135) exponiert, und auf die Kritik an den „Ideenfreunden" im ,Sophistes' (248 a-249b). Die systematische Unterscheidung eines frühen von einem späten Platon hat jedoch eine entscheidende Schwäche: das Schweigen des Aristoteles spricht gegen sie. An keiner Stelle im Corpus Aristotelicum findet sich ein Hinweis darauf, daß Platon die Ideenlehre revidiert hat; Aristoteles weiß lediglich von einer Erweiterung der Ideenlehre zur Zahlenlehre (vgl. Met. M 4, 1078 b 90. und M 6, 1080 b 11-14; s· R°ss z· St.). Und er hätte kaum die Gelegenheit ausgelassen, eine Zurücknahme früherer Positionen der Ideenlehre durch Platon selbst für seine Kritik dieser Theorie auszubeuten. Dies war für John Burnet der Grund, die Differenz von frühem und spätem Platon als systematisch unterschiedener Positionen aufzugeben10. Da aber auch Burnet daran festhalten wollte, daß der ^armenides* eine Kritik der Ideenlehre des ,Phaidon* und der ,Politeia' enthielt11, kam er zu der Folgerung, die Dialoge Platons bis zum ,Staat' einschließlich wollten nur die getreue Abschilderung der Philosophie des historischen Sokrates sein12. Dieser Auffassung schloß sich zwar auch A. E. Taylor an13, aber sie wurde von der übrigen Platonforschung zurückgewiesen; Burnets Vorschlag hatte selbst wieder die Charakterisierung des Sokrates bei Aristoteles gegen sich (vgl. Met. M 4, 1078 b 30 f.). Aber die Ablehnung der These Burnets verdrängte zugleich die Problemstellung, auf die sie eine Antwort hatte sein wollen. So verfestigte sich das entwicklungsgeschichtHche Bild eines Wandels vom frühen zum späten Platon, auch wenn man - auf Grund von ,Parmenides' 135 c - nicht mehr ein gänzliches Aufgeben, sondern nur eine Modifikation der Ideenlehre beim späten Platon annahm14. Dies entwicklungsgeschichtlich orientierte Verständnis der platonischen Philosophie beherrscht nun gerade auch weitgehend die Untersuchungen zur wählte Schriften 55 f. Zuletzt haben W. Kamiah (Platons Selbstkritik im Sophistes, 1963) und G. Prauss (Platon und der logische Eleatismus, 1966) diese Auffassung vertreten. 1° J. Burnet, Greek Philosophy 2^5. Vgl. dazu a. N. Gulley, Plato's Theory of Knowledge 174. 11 Burnet a. a. O. 192, 206. 12 Burnet beginnt seine Darstellung der platonischen Philosophie daher auch erst mit dem ,Theaitetos'. Vgl. Greek Philosophy 191 ff. 13 Vgl. A. E. Taylor, Plato. The Man and His Work, 1926, 11966, 177. Ders., Varia Socratica, 1911, 69 f., 88 f. n So etwa W. G. Runciman, Plato's later Epistemology 128 f.

Die Problematik der Entwicklungshypothese

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- wie es mit einem historisch unangemessenen Titel heißt - platonischen Erkenntnistheorie*15. Das hat verständliche Gründe: denn die dualistisch verstandene Metaphysik der ,Politeia' oder die Anamnesislehre scheinen Platon völlig außerhalb einer Diskussion erkenntnistheoretischer Probleme, wie sie in der neueren Philosophie geführt wurde, zu rücken. Im ,Theätet' und im ,Sophistes' dagegen konnte man eine vertrautere Sprache hören: eine subtile Kritik des Sensualismus und Untersuchungen zur Grundlegung der Logik und BegriflEsanalyse. So ist es nicht verwunderlich, daß die überwiegende Mehrzahl der monographischen Abhandlungen zur platonischen Erkenntnistheorie dem ,Theätet' oder dem ,Theätet' zusammen mit dem ,Sophistes* gelten16. Ein Versuch, die Aussagen Platons als Teile einer einheitlichen Theorie verständlich zu machen, ohne nun umgekehrt die Spätdialoge der „Meta15

Die Unangemessenheit dieses Titels liegt darin, daß mit ihm das genetische Interesse der neueren Philosophie am Erkenntnisproblem, die Frage also nach den Quellen unseres Wissens (seien sie psychologisch oder transzendental verstanden) an die Stelle der Frage nach dem Wesen des Wissens gesetzt wird. Erst unter dem Einfluß der analytischen und sprachanalytischen Philosophie hat sich die Diskussion des platonischen Begriffs der Episteme wieder an der Was-Frage orientiert: vgl. Runciman, Plato's later Epistemology n u. ö.; Cross and Woozley, Plato's Republic 170 ff. 16 Dies gilt für die älteren Arbeiten von W. Brinckmann (Die Erkenntnistheorie in Platons Theaitet. Bergedorf 1896) und E. Stoelzel (Die Behandlung des Erkenntnisproblems im platonischen Theaitet. Berlin 1908) ebenso wie für die Untersuchungen von F. M. Cornford, der seinem Kommentar des ,Theaitetos' und .Sophistes' den Titel .Plato's Theory of Knowledge' gibt, oder von W. G. Runciman, dessen Buch ,Plato's later Epistemology' ebenfalls ausschließlich den ,Theaitetos' und ,Sophistes4 behandelt. N. Gulley (Plato's Theory of Knowledge. London 1962) gibt dagegen „a systematic account of the development of Plato's theory of knowledge" (a. a. O. VII), der auch die Frühdialoge und die ,Politeia' miteinbezieht. Aber Gulley kann mit Recht hinzufügen: „So far as I am aware, no previous book in English has tried to do this" (ibid.). In der deutschen Platonliteratur gibt die immer noch sehr lesenswerte Abhandlung von D. Peipers (Die Erkenntnistheorie Platos. Leipzig 1874) eine Gesamtdarstellung der platonischen Theorie von Erkenntnis und Wissen, aber der Raum, den Peipers dabei dem ,Theaitetos' einräumt - das Buch ist in seinem Hauptteil ein Kommentar zu diesem Dialog - bestätigt den systematischen Vorrang, den der ,Theaitetos' auch für Peipers besitzt. - Die Auszeichnung der Spätdialoge in den Untersuchungen zur „Erkenntnistheorie" Platons ist, worauf K. Oehler aufmerksam gemacht hat (vgl. Der entmythologisierte Platon a. a. O. 396), historisch mit durch den Umstand bedingt, daß der ,Theaitetos' und der ,Sophistes', die bei Schleiermacher und Hermann als propädeutische Vorübungen zu den Dialogen ethischen und politischen Inhalts verstanden worden waren, durch die Sprachstatistik allererst als Spätdialoge erkannt wurden, - eine Entdeckung, die aber gerade in eine Zeit fiel, in der sich die Philosophie nach dem Zerfall der idealistischen Systementwürfe verstärkt den Fragen der Erkenntnistheorie und Logik zuwandte. Gegen die Metaphysik aristotelisch-platonischer Provenienz schien man plötzlich in Platon selber einen Bundesgenossen zu finden.

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Einleitung

physik" der frühen und mittleren Dialoge zu subsumieren, müßte daher vor allem die erkenntnistheoretischen Ausführungen in den frühen und mittleren Dialogen neu interpretieren und zeigen, daß jene dualistische Metaphysik, die man in der ,Politeia', oder der Psychologismus, den man in der Anamnesislehre zu finden glaubt, in Wahrheit nie Bestandstücke der Philosophie Platons gewesen sind, daß wir es hier vielmehr mit Umund Fehldeutungen der platonischen Texte durch die Tradition des Platonismus und Neuplatonismus zu tun haben, die letztlich auf die interpretatio peripatetica zurückgehen. Ein solcher Versuch wird nur dann einige Aussicht auf Erfolg haben, wenn er sich nicht abstrakt der historisch-philologischen Forschung und ihren Methoden gegenüberstellt — wie es die sich philosophisch verstehende Platoninterpretation oft getan hat -, sondern sich diese Methoden auf dem Boden einer vorgängigen hermeneutischen Reflexion zunutze macht. Die hermeneutische Reflexion zielt dabei in zwei Richtungen: Zum einen auf das durch die literarische Form des platonischen Dialoges gestellte Interpretationsproblem. Darüber soll der zweite Teil dieser Einleitung Auskunft geben. Zum anderen aber gilt sie einer Aufklärung der Herkunft jener inhaltlichen Interpretationsmuster, mit deren Hilfe die für unsere Fragestellung interessierenden Texte ausgelegt werden, und der Verflechtung dieser Muster mit der Geschichte der neueren Philosophie. Daß ein solcher Verflechtungszusammenhang besteht, wird schon daran deutlich, daß eine Platonforschung im spezifischen Sinn sich erst dann etablieren konnte, als die neuplatonische Tradition nicht mehr als allein legitimierte Verwalterin der platonischen Philosophie galt: die moderne Platonforschung ist ihrem Selbstverständnis nach auf den Trümmern des neuplatonischen Platonbildes gebaut - und es möchte sein, daß sie ebenso auch mit diesen Trümmern gebaut ist. Es war aber erst der englische Empirismus, der dem Einfluß des neuplatonischen Platonismus ein Ende gemacht hatte, genauer: Lockes Kritik an den eingeborenen Ideen im ersten Buch seines ,Essay'!7. Diese Kritik galt unmittelbar wohl Lockes Cambridger Freunden, den Platonikern der Schule von Cambridge18, aber die systematische Stellung der idea innata gab dieser Kritik eine viel weiterreichende Wirkung. 17 Vgl. J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding (ed. J. W. Yolton), London 1965, Bk. I, chap. II S. 9 ff. 18 Vgl. dazu G. v. HertÜng, John Locke und die Schule von Cambridge. Freiburg i. Br. 1892. E. Cassirer, der in seinem Werk über ,Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit' hinter der von Locke kritisierten Position der eingeborenen Ideen „keine geschichtliche Realität" gesehen hatte (Erkenntnisproblem, Bd. II, Berlin 1906, 21911, 230), hat sein Urteil später korrigiert und

Platon in der neueren Philosophie: Locke

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Innerhalb des neuplatonischen Platonismus haben die ideae innatae, die historisch auf die Uminterpretation der stoischen vermittelst der platonischen Anamnesislehre zurückgehen, eine ganz bestimmte systematische Funktion. Sie wollen der theologischen Umdeutung der platonischen Ideen zu Gedanken des göttlichen Geistes ein Fundament in der Analyse des menschlichen Wissens selber geben. Wenn sich in der menschlichen Seele Begriffe und Wahrheiten aufweisen lassen, die weder den Sinnen entstammen noch auch bloß ausgedacht sein können, und wenn überdies diese Begriffe (ideae) und die aus ihnen gebildeten Wahrheiten für alle Menschen dieselben sind, dann, so scheint es, können sie ihren Ursprung nur einem Archetyp im Geiste Gottes verdanken. Cudworth bezeugt die systematische Valenz dieses Argumentes, wenn er sagt, daß der eigentliche Kampf gegen die „Atheisten" auf dem Feld einer Untersuchung der Erkenntnis geführt werden muß19. Von daher wird aber nun umgekehrt auch verständlich, welche Konsequenzen eine Kritik an den ideae innatae für den Platonismus haben mußte: erweist sich die Annahme eingeborener Ideen als unnötig zur Aufklärung des Wesens menschlicher Erkenntnis und zudem in sich als widersprüchlich, so fällt damit die rationale Stütze für die theologische Deutung der Ideen als Gedanken Gottes, für jenes Theologumenon also, das die Ideenlehre in der neuplatonischen Tradition gegen die aristotelische Kritik immunisiert hatte20. Ihrer theologischen Kostümierung als Gedanken Gottes beraubt, wurden die Ideen wieder zu jenen dinglich starren Urbildern, gegen die sich die Einwände des Aristoteles gerichtet hatten. Zwar war Locke nicht der erste, der an der Vorstellung eingeborener Ideen mit empiristischen Mitteln Kritik übte Vor ihm hatte Gassendi die Rede von einer idea innata in den cartesischen Meditationen angegriffen und mit seinen sensualistischen Argumenten den bissigen Spott seines Gegners herausgefordert21. Es hat einen systematischen Grund, daß erst die Kritik Lockes hier durchschlagend ist: Locke ist dem sensualistischen Empirismus anerkannt, daß die von Locke im ^Essay' bekämpfte Position die des Cambridger Neuplatonismus ist (vgl. E. Cassirer, Die platonische Renaissance und die Schule von Cambridge. Studien der Bibl. Warburg 21. Leipzig Berlin 1932, 41 f. Anm.). 19 Vgl. R. Cudworth, The True Intellectual System of the Universe. London 1678, 730. 20 Vgl. dazu A. N. M. Rich, The Platonic Ideas as the Thoughts of God, Mnemosyne IV 7 (1954) 123 - 133. Rich weist nach, daß die Interpretation der platonischen Ideen als Gedanken Gottes ihren Ursprung in einem Versuch der Harmonisierung von Platon und Aristoteles hat (a. a. O. 132 f.). 21 Vgl. Descartes, Meditat. Ill, cap. 13, Werke (ed. Adam/Tannery) t. VII, 37, s. a. 531 u. 538. Für Descartes sind die ideae innatae kein konstitutiver Bestandteil seiner philosophischen Doktrin: a. a. O. 515.

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Einleitung

seiner Vorgänger - Gassendi und Hobbes - dadurch überlegen, daß er neben die äußere Erfahrung (sensation) als Quelle unserer Vorstellungen die innere der reflection stellt. Damit aber ist der Lockesche Empirismus gegen eine Kritik auf dem Boden der Psychologie gefeit, der die sensualistischen Theorien von Gassendi und Hobbes noch offenstanden22. Lockes Kritik mußte daher für den Cambridger Platonismus, der jedenfalls in seinen Hauptvertretern Cudworth und Henry More mit der voraufgehenden neuplatonischen Tradition das logische nicht vom psychologischen Apriori unterschied , schlechterdings tödlich sein. In der Tat markiert der ,Essay* das Ende des Platonismus als einer Tradition der europäischen Metaphysik. Der Platonismus Shaftesburys, durch den die Cambridger Schule weiterwirkte, ist nicht an der Metaphysik der platonischen Tradition orientiert, sondern an dem ästhetischen Lebensgefühl des Renaissanceplatonismus24. War die Kritik Lockes an den angeborenen Ideen ein unbezweifelbarer Fortschritt, so führte doch historisch die Abstoßung der empiristischen Erkenntnistheorie von der Tradition des Platonismus zur Fixierung eines Verständnisses der platonischen Idee, das mit der neuplatonischen Tradition zugleich Platon philosophisch überwunden sah. Gerade der Umstand, daß die Lockesche Kritik der ideae innatae nur einen „theologischen" durch einen „naturalistischen Psychologismus" ablöste25, befestigte die Herrschaft psychologischer Kategorien in der Analyse der Erkenntnis und trug zu einem psychologisch-verdinglichten Verständnis der platonischen Ideen bei. Bezeugte schließlich nicht Platon selber mit seiner Lehre von der Wiedererinnerung der Ideen ebenso wie die aristotelische Kritik am Chorismos die Richtigkeit dieser Auslegung der Ideenlehre? Daß die platonischen Ideen unvergängliche Paradigmen für die vergänglichen Dinge sind, daß die Seele diese Gestalten vor ihrer Einkörperung geschaut hat und nur durch die Erinnerung an sie zu Wissen kommen kann, das ist ein Axiom der historischen Platonforschung von der Philosophiegeschichte Bruckers bis hin zu Cornford oder Cherniss26. Dennoch war mit der kritischen Zurückweisung der eingeborenen Ideen durch Locke zugleich auch die Möglichkeit gegeben, Platon selbst von den 22

Vgl. dazu E. Cassirer, Die platonische Renaissance 44. Vgl. Cassirer a. a. O. 41 f. Anm. Vgl. dazu Cassirer a. a. O. in ff. 2 5 So E. Husserl, Erste Philosophie I (Husserliana VII). Den Haag 1956, 86. 26 Vgl. J. Brucker, Historia Critica Philosophiae. Leipzig 1742, 697; F. M. Cornford, Plato's Theory of Knowledge 2; H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato 210 f. 2 3 24

Platon in der neueren Philosophie: Leibniz, Kant

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theologisch-psychologischen Verfälschungen der neuplatonischen Tradition zu unterscheiden. Es ist Leibniz, der diesen Schritt tut. Er greift in seiner Kritik der Lockeschen Erkenntnistheorie hinter die Tradition des Platonismus wieder auf Platon selbst zurück und will in der platonischen Anamnesislehre eine Theorie der apriorischen Begriffe in einem rein logischen Sinn finden27. Aber gerade weil die Argumente Lockes gegen die Metaphysik des (Neu)Platonismus auch für ihn durchschlagend sind, sieht er sich genötigt, die Ineinssetzung von Platon und Platonismus, die bis dahin fraglose Gültigkeit besaß, rückgängig zu machen28. Leibniz' Äußerungen zu Platon sind allerdings zu programmatisch und zu sporadisch, als daß sie hätten unmittelbar ein neues Platonverständnis begründen können. Die ,Nouveaux Essais* erschienen erst 1765, ein DreiviertelJahrhundert nach dem Erscheinen des Lockeschen ,Essay'; dessen Lehre war zu diesem Zeitpunkt - dank der Propagierung durch die französische Aufklärung längst allgemein verbreitet29. Leibniz' Philosophie trat zudem bald in den Schatten der kantischen Transzendentalphilosophie: die ,Kritik der reinen Vernunft* erschien nur sechzehn Jahre nach den ,Nouveaux Essais*. So setzte sich in dem Kampf der beiden Platonauslegungen - der in Lockes Kritik der innate ideas angelegten doxographischen und der durch Leibniz programmatisch formulierten philosophischen - die durch die Lockesche Philosophie initiierte und gestützte durch. Der Verbreitung gegenüber, die diese doxographisch orientierte Interpretation vor allem in den angelsächsischen Ländern besitzt, erscheint die an Leibniz' Intentionen anknüpfende Interpretationstradition etwa der Marburger Schule als ein esoterischer Zirkel. Wie wenig im übrigen die unausgeführten Bemerkungen von Leibniz selber noch gegen das herrschende, durch Locke und einen scholastischen Aristoteles gestützte Verständnis der platonischen Ideen- und Anamnesislehre immun waren, zeigt sich sehr schön am Beispiel Kants, bei dem sich in der Tat beide Traditionen in einer widerspruchsvollen Vereinigung finden. Anders als Leibniz konnte Kant den Platon nicht im griechischen Original lesen; er war in seiner Platonkenntnis abhängig von Übersetzungen30 27 G. W. Leibniz, Nouveaux Essais. (Die Philosophischen Schriften, ed. Gerhardt, Bd. V) 42 u. 74. Vgl. auch Discours de M^taphysique (Gerhardt Bd. IV) 451 f. 28 Siehe Nouveaux Essais a. a. O. 75 und die philosophiehistorische Notiz zur Differenz von Platon und Platonismus, Philos. Schriften (ed. Gerhardt), Bd. VII, 147 f. 29 Die französische Übersetzung von Locke's JLssay' durch Pierre Coste erscheint 1700, Voltaires ,Lettres sur les Anglais' werden 1734 veröffentlicht. 30 Vgl. dazu den ersten Abschnitt von K. Reichs Studie: Kant und die Ethik der Griechen. Tübingen 1935·

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und von den Philosophiegeschichten seiner Zeit, vor allem der Bruckerschen. Sein Verhältnis zu Platon blieb eigentümlich ambivalent: einerseits berief sich Kant für seinen Begriff der ,Idee' als eines regulativen Erkenntnisprinzips auf Platon31, andererseits wirft er Platon die „mystische Deduktion dieser Ideen" vor und kritisiert die „Übertreibung, dadurch er sie gleichsam hypostasierte" 32; er unterscheidet nicht, wie Leibniz gefordert hatte, Platon von seinen neuplatonischen Auslegern33, und so zerfällt ihm Platon schließlich in den „Akademiker" und den „Briefsteller" 34 und erscheint ihm als der Philosoph, der „zur Schwärmerei die Fackel angesteckt" 35 hat 36 . Erst Hegels Platoninterpretationen in den »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie'37 versuchten das einzulösen, was Leibniz programmatisch gefordert hatte. Hegel unterscheidet Platon aber nicht nur von der theologisierenden Uminterpretation des Neuplatonismus, sondern ebenso von den Verkürzungen der beginnenden historischen Platondeutung, der er den Mangel einer Unterscheidung von »Vorstellung' und Spekulation* vorwirft38. Hegel war sich der Schwierigkeit bewußt, die durch die platonische Form der Darstellung, die Dialogform und die häufige mythische Redeweise, gegeben sind39, aber beides gilt ihm als Mangel, er versteht diese Darstellungsformen nicht als Konsequenzen einer bestimmten Theorie über die Vermittlung von Philosophie40. So muß er, um Platon philosophisch verstehen zu können, eine Interpretationsmaxime aufstellen, die als heuristisches Prinzip fruchtbar, aber als exegetisches Prinzip bedenklich scheint: „Es ist unsere Sache, zu unterscheiden, was Spekulation, was Vorstellung ist. Kennt man nicht für sich, was Begriff, was spekulativ ist: so kann man eine ganze Menge Theoreme aus den Dialogen ziehen, und sie als platonische Philosopheme ausgeben, die durchaus nur der Vorstellung . . . angehören" 41. Hegels eigener ausführlicher Versuch, eine der 31 KdrV B 370 fi. 32 KdrV B 371. 33 Vgl. Kritik der Urteilskraft B 273; Von einem vornehmen Ton A 391 ff.; Fortschritte 3. Handschrift A 179. 34 Von einem vornehmen Ton A 407 f. 35 Ibid. A 393 Anm. 36 Zum Verhältnis von Kant und Platon vgl. H. Heimsoeth, Kant und Plato, Kantstudien 56 (1966) 349 - 372. 37 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Werke (Jubiläumsausgabe) Bd. XVIII, 169-297. 38 Hegel a. a. O. 187 vgl. 189. 39 Hegel a. a. O. 183 ff. 4° Hegel a. a. O. 186 u. 189. 4l Hegel a. a. O. 189 vgl. 190.

Platon in der neueren Philosophie: Husserl

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mythischen Vorstellungen Platons, die Wiedererinnerungslehre, spekulativ zu verstehen 42, hatte denn auch ständig mit dem „ungeschickten Ausdruck" der Erinnerung zu kämpfen43. Die Schwäche der Hegeischen Platondeutung liegt in diesem abstrakten und nicht auf dem Boden der platonischen Philosophie selbst vermittelten Gegensatz von Spekulation und Vorstellung44. Die historisch-philologische Platonforschung des vorigen Jahrhunderts etablierte sich daher auch eher im Gegenzug zu Hegels spekulativen Interpretationen, was jedoch bei aller Gegnerschaft geheime Abhängigkeiten nicht ausschloß45. Sie hielt sich, mit Hegel zu reden, an das, „was in der Weise der Vorstellung ausgedrückt ist" 46, und führte wieder zu einem doxographischen Verständnis der Ideenlehre und der Anamnesislehre zurück. Es hat historische wie systematische Gründe, daß die erneuten Versuche einer philosophischen Aneignung der platonischen Ideenlehre von philosophischen Bewegungen ausgingen, die wesentliche Impulse der Philosophie Kants verdanken: vom Neukantianismus vor allem und von der transzendentalen Phänomenologie Husserls47. Während die Neukantianer ausführliche Interpretationen zu Platon vorlegten, griff Husserl im Zusammenhang der bedeutungstheoretischen Problematik seiner eigenen Philosophie auf den platonischen Begriff des Eidos zurück. Dabei scheint zunächst Husserls Lehre von den idealen Gegenständlichkeiten, die wir durch eine Einstellungsänderung der erfahrenden Anschauung in ideierende ,Wesenserschauung' aus eben den Erfahrungstatsachen sollen heraussehen können48, der Sache und der Intention nach viel näher an Platon zu liegen als die wissenschaftstheoretisch restringierte Interpretation der Idee als Hypothesis bei den Neukantianern. Analog wie für Kant waren es auch für Husserl die Konsequenzen des Lockeschen Empirismus, nämlich diesmal seine psychologistischen, zur Aufhebung des Sinnes von 42 43 44 45

46 47

Hegel a. a. O. 202 - 213. Hegel a. a. O. 204. Dennoch finden sich bei Hegel vortreffliche Bemerkungen zur platonischen Philosophie, so etwa seine Charakteristik der platonischen Ideen a.a.O. 199-201. Das gilt insbesondere für E. Zellers Platondarstellung in seiner Geschichte der griechischen Philosophie.

Hegel a. a. O. 190.

A. N. Whiteheads Platoninterpretationen, die er allerdings nie zusammenfassend dargestellt hat, scheinen dagegen weniger durch Kant als durch Leibniz angeregt. Aber sein Versuch, die platonische Ideenlehre als verstehbare Antwort auf ein philosophisches Problem zu lesen, hat auf die Platonforschung bisher nicht eigentlich gewirkt. In Deutschland ist sein philosophischer Einfluß ohnehin gering geblieben. 4 » Vgl. E. Husserl, Ideen I (Husserliana III). Den Haag 1950, 12- 17.

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Mathematik und Logik führenden Implikationen, in deren Abwehr Husserl die ideale Einheit der Bedeutung auf das in einem Akt der Ideation erschaubare Eidos zu gründen suchte. Aber Husserls Theorie der Ideation erlaubte im Gegensatz zu Kant, der einzig der zahl- und gestalthaften Seite der Erfahrungswelt in den Gebieten der Arithmetik und Geometrie ein ideales Korrelat innerhalb einer Anschauung, nämlich der reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit, zu garantieren vermochte, eine universale Übersetzung individueller d.h. erfahrender Anschauung in eidetische, in Wesensanschauung49. Daß dennoch die Husserlsche Lehre der eidetischen Intuition niemals als Interpretationsmittel auf das zurückgewendet wurde, was ihre Begriffe als ihr Modell nennen, auf die platonische Ideenlehre also, hat wohl vor allem historische Gründe. Husserl selber war von der Mathematik, nicht von der Zunft der Philosophie im engeren Sinn herkommend an seine Untersuchungen gegangen. Und das weite sachliche Arbeitsfeld, das sich durch die Methode der Phänomenologie auftat, ließ die Aufgabe einer Interpretation philosophischer Klassiker, sofern diese nicht unmittelbar der Aufarbeitung eines für die Phänomenologie aktuellen Problems (etwa der Bewußtseinsanalyse) diente, als minder vordringlich erscheinen. Zu diesem mangelnden systematischen Interesse der Begründer der Phänomenologie an einer Prüfung ihrer platonisierenden Begriffsbildungen an Platon selber trat dann ein anderer Umstand: die Rezeption der Philosophie Nietzsches und der Kierkegaards, die beide nicht zur akademischen Philosophie des 19. Jahrhunderts gehören, verschob in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg das Interesse an Platon in eine Richtung, die vom Platon der Ideenlehre wegführte. Paradoxerweise war es vor allem der Einfluß des Platongegners Nietzsche, der Platon zu einer über die Schulphilosophie hinaus wirksamen geistigen Macht werden ließ. Unter dem Einfluß, aber gegen das Verdikt Nietzsches stilisierte der Georgekreis Platon zur Gründerfigur eines ,Neuen Reiches* avant la lettre50. Umgekehrt lenkte Kierkegaard den Blick auf die paradoxe Existenz des Sokrates51. Die bedeutendste deutsche Gesamtdarstellung Platons aus den Jahren zwischen den beiden & Husserl a. a. 0.14. 50 So etwa K. Singer, Platon der Gründer. München 1927; ders., Platon und die europäische Entscheidung. Hamburg 1931. K. Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Berlin 1933. Vgl. a. E. Salin, Platon und die griechische Utopie. München Leipzig 1921. - Zur Platondeutung des Georgekreises vgl. a. F. J. Brecht, Platon und der Georgekreis. Leipzig 1929. 51 Vgl. dazu J. Himmelstrup, Soeren Kierkegaards Sokratesauffassung. Neumünster 1927, und die Besprechung von R. Schottlaender, Philos. Anzeiger 4 (1930) 27 ff.

Pkton in der neueren Philosophie: Neukantianismus

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Kriegen, Paul Friedländers Platonmonographie, ist ohne das durch Nietzsche gewandelte Bild der Antike und das durch Kierkegaard gewandelte Bild des Sokrates nicht denkbar52. Die Wendung zur Fundamentalontologie, die Heidegger der Husserlschen Phänomenologie gab, rückte die Frage nach dem Status der Eide, von denen bei Husserl wie bei Platon die Rede war, vollends aus dem Horizont des philosophischen Bewußtseins53. Dort, wo sich schließlich die Fruchtbarkeit phänomenologischer Aufweisungen in der Auslegung platonischer Dialoge bewährte, in den Platonbüchern von Gadamer und Krüger, war doch das sachliche Interesse an Platon durch die Existenzialontologie Heideggers motiviert54. So blieb die neukantianische Platondeutung der einzige Interpretationsvorschlag, für den die Ideenlehre nicht mehr bloß ein doxographisches Dokument war, sondern der darin eine philosophische Einsicht zu erkennen suchte55. Dabei scheint das Interesse des Marburger Neukantianismus an Platon seinen Grund in den Motiven der Auseinandersetzung des Neukantianismus mit Kant selbst zu haben. Ähnlich wie kurz zuvor in England T. H. Green56, versuchten die Neukantianer, Kant von jenen Dualismen zu reinigen, die ihm noch als Erbstücke des Empirismus anzuhängen schienen: das war aber vor allem der Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung. Im Kampf gegen den Begriff eines unerkennbaren Dinges an sich konnte man in Platon einen Bundesgenossen sehen, denn die platonische Idee ist ,Ding an sich', sie Hegt der Welt der Erscheinungen zugrunde, ist aber zugleich das schlechthin Erkennbare57. 52

P. Friedländer, Platon. Berlin 1928. Eine zweite, auf drei Bände erweiterte Auflage des Werkes erschien 1954 ff., eine dritte Auflage der Bände i und 2 1964. 53 Heideggers eigene Kritik an Platon wurde erst sehr viel später, im Zusammenhang seiner Kritik der überlieferten Ontologie sichtbar. S. Platons Lehre von der Wahrheit. Bern 1948. 54 H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos. Leipzig 1931. G.Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens. Frankfurt 1939. 55 Die neukantianische Platondeutung hat vor allem durch P. Natorps umfängliches und repräsentatives Buch (Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 11903, 21922) gewirkt. Neben Natorps Abhandlung ist immer noch lesenswert die Untersuchung von H. Cohen, Platos Ideenlehre und die Mathematik. Marburg 1878. 56 Zu T. H. Green vgl. den Aufsatz von J. H. Randall Jr., T. H. Green: The Development of English Thought from J. S. Mill to F. H. Bradley, Journal of the History of Ideas 27 (1966) 217-244. 57 Eine ähnliche Funktion hat Platon auch noch für N. Hartmann, nachdem dieser sich aus dem Marburger Neukantianismus gelöst hatte. Vgl. N. Hartmann, Das Problem des Apriorismus in der Platonischen Philosophie a. a. O. 52.

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Nun ist der Versuch, die Ideen Platons als Gesetze, als Hypothesen innerhalb einer transzendental verstandenen Methodologie der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu deuten, in der Tat historisch nicht haltbar. Diese methodologische Interpretation der Neukantianer verdeckte aber gerade den Punkt, in dem ihre These den Deutungen der platonischen Ideen als hypostasierter Allgemeinbegriffe überlegen war: ihre eigentliche Stärke lag nämlich darin, daß sie - hinter Kants Platonverständnis zurückgehend - wieder an die Leibnizsche Deutung der Ideen als apriorischer Begriffe anknüpften. Es war das Platonbuch von Nicolai Hartmann, das diese transzendentale Interpretation der platonischen Idee aus den wissenschaftstheoretischen Verengungen von Cohen und vor allem Natorp herauszulösen suchte58. Erst durch diese Auffassung der Idee, so schien es Hartmann, ließ sich die Rede von der Methexis, der ,Teilhabe' der wahrnehmbaren Dinge an und ihrer Abhängigkeit von den Ideen, angemessen verstehen59: das Sein der Idee war gerade ein Sein „für" das Andere der Welt des Werdens, für das „in der Wirklichkeit Daseiende" 60. In der Kritik an der neukantianischen Platondeutung, wie sie nach dem Vorgang von Heinrich Gomperz durch Leisegang und zuletzt durch Mittelstrass vorgetragen wurde 61 , ging aber gerade dies produktive Moment der Platonaneignung des Neukantianismus verloren, wohl auch deshalb, weil man sich hier vornehmlich an Natorp, kaum an Hartmann orientierte. Während Leisegang exemplarisch an der Natorpschen Interpretation von ,Politeia* 5 IDC ff. die modernistischen Verzerrungen aufzuzeigen suchte, die durch das Hineintragen kantischer Termini in den Text Platons zustande kamen62, entwickelt die Arbeit von Mittelstrass ihre Kritik am neukantianischen Verständnis der Idee als Hypothesis auf einem breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Gemeinsam ist beiden Autoren die Restitution eines Platonbildes, in dem „die Idee wieder als das transzendente Seiende als Gestalt verstanden werden" soll63. Daß dabei die „platonische Gedankenwelt ... uns umso fremder und eigenartiger erscheint je 58

N. Hartmann, Platos Logik des Seins. Gießen 1909. Vgl. insbes. 243 ff. Das Problem des Apriorismus a. a. O. 48 f. 59 Vgl. Hartmann, Platos Logik des Seins 248. 60 Hartmann a. a. O. 244, 61 H. Gomperz, Platons Ideenlehre, Archiv f. Gesch. d. Philos. 18 (1905) 441-495; H. Leisegang, Die Platondeutung der Gegenwart. Karlsruhe 1929; J. Mittelstrass, Die Rettung der Phänomene. Berlin 1962. 62 Vgl. Leisegang a. a. O. 78 - 80. « Mittelstrass a. a. O. 6.

Platon in der neueren Philosophie: Neukantianismus

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tiefer die Forschung vorangetrieben wird" M, gilt nur als Siegel historischer Echtheit. Nicht zuletzt das Ausbleiben einer von sachlich-philosophischen, nicht nur philosophiehistorischen Motiven getragenen Kritik verhalf der neukantianischen Deutung der Ideenlehre zu ihrem nachhaltigen und unterschwelligen Einfluß. Mochte auch, wie oben schon bemerkt, nach dem Ersten Weltkrieg - jedenfalls in Deutschland - das philosophische Interesse am Platon der Ideenlehre verblaßt sein, gerade auch die sich als philosopkiegeschichtlich verstehenden Untersuchungen etwa Ernst Hoffmanns tragen das Signum der neukantianischen Interpretation65. In England wurde die methodologische Deutung Natorps schon bald durch J. A. Stewart aufgenommen, dessen Buch über die Ideenlehre im selben Jahr (1909) wie das Werk Hartmanns erschien66. Beides zusammengenommen, die Beschränkung der Kritik auf philosophiehistorische Momente und das dadurch begünstigte undurchschaute Fortbestehen von neukantianischen Interpretationsmotiven, verhinderte eine produktive Fortführung der Diskussion im Ausgang von eben jener Schwierigkeit, mit der auch ein Versuch notwendig behaftet bleibt, der die Ideen Platons jenseits wissenschaftstheoretischer Einschränkungen auf dem Boden der Transzendentalphilosophie Kants verstehen will. Denn gerade für den Versuch, den Ideen einen philosophisch verstehbaren Sinn dadurch zurückzugeben, daß man sie zu Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung macht, mußte die Rede von der warhnehmbaren Welt als dem bloßen Schattenreich der Doxa zur eigentlichen Crux werden. Solange die Welt des Werdens im Bann der Doxa bleibt, bleibt das alte Paradoxon des Platonismus, der Hiat von Idee und Wirklichkeit bestehen. Es ist kein Zufall, daß der ,Metakritische Anhang', den Natorp der zweiten Auflage seines Platonbuches beigab, das Problem des „alten Dualismus des Ewigen und Vergänglichen" 67 unter dem Titel der Doxa ausführlich diskutiert 68. Und letzten Endes schien hier doch Kant über Platon den Sieg davonzutragen 69. 64

Leisegang a. a. O. 186. Vgl. etwa E. Hoffmann, Platon. Hamburg 1961, 65, 79, 90. 66 J. A. Stewart, Plato's Doctrine of Ideas. ^909 2New York 1964. 67 Natorp a. a. O. 477. 68 Natorp a. a. O. 473 - 498. 69 Vgl. P. Natorp, Philosophische Systematik. Aus dem Nachlaß hrg. von H. Natorp. Hamburg 1958, 70. Für die Kritiker der neukantianischen Platondeutung war die Differenz von platonischer „Doxa" und kantischer „Erfahrung" ohnehin ein bequemes Argument gegen die Neukantianer. S. Leisegang a. a. O. 80. 65

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Nun könnte man versucht sein, gegen diese Schwierigkeit, mit der sich das neukantianische Platonverständnis abmüht, die eidetischen, die Wesenswissenschaften der Husserlschen Phänomenologie aufzubieten. Sie sind autonome, nicht auf Erfahrung angewiesene Wissenschaften, während umgekehrt die Tatsachenwissenschaften nicht nur von den formalen eidetischen Wissenschaften, sondern auch von je spezifisch zugeordneten materialen Wesenswissenschaften abhängig sind70; erst der unausdrückliche Hinblick auf Wesen, auf Eide vermag Erfahrung zu stiften. Da das Eidos im Sinne Husserls gerade in einem Akt der Wesenserschauung (Ideation) anschaubar sein soll, leidet es nicht an der Leerheit des kantischen Begriffs, dem sein Inhalt immer erst in einer Anschauung, einer reinen (mathematische Begriffe) oder empirischen gegeben sein muß. Und diese, von der Erfahrung unabhängigen Wesenswissenschaften Husserls sind nun in einem höheren Sinn Wissen als die Tatsachenwissenschaften, in denen es niemals eine unbedingte Allgemeinheit geben kann71. Aber dieser Versuch, den platonischen Gegensatz von Doxa und Episteme durch das Verhältnis von Tatsachenwissenschaft und Wesenswissenschaft resp. Tatsache und Eidos im Sinne Husserls zu erklären, trifft auf zwei Schwierigkeiten. Erstens begegnet das Problem, das er auflösen soll, auf einer höheren Ebene abermals: denn es sind gerade eidetische Wissenschaften im Sinne Husserls, allen voran das Modell solcher Wesenswissenschaft, die Geometrie, welche in der ,Politeia' gegenüber dem Wissen des Dialektikers zur Doxa herabgesetzt sind (Pol. VI, 510 b - 511 e; VII, 533 a-c). Und hier ist klarerweise eine über den idealen Charakter ihrer Gegenstände aufgeklärte Geometrie gemeint (vgl. Pol. VI, 510 e)72. Zum zweiten scheint es fraglich, ob im Begriff der Tatsachenwissenschaft das bloße Zu-Wissen-Meinen getroffen ist, das die platonische Doxa auszeichnet. Jene Bilder, mit denen die Doxa im Gegensatz zum Wissen charakterisiert wird, sollen ja den Status eines Bewußtseins sinnfällig machen, das über die Natur seiner Gegenstände ebenso wie seiner selbst im Unwissen ist: die Doxa „träumt", d. h. sie nimmt Ähnliches für dasjenige selbst, dem es nur ähnlich ist (Pol. V, 476 c). Und die metaphorische Veranstaltung der immerwährenden Fesselung an Hals und Schenkeln, die den Ge70 Vgl. E. Husserl, Ideen I 23. 71 Husserl a. a. O. 18 - 20. 72 Husserl (Erste Philosophie I 327 f.) mißversteht denn auch die platonische Kritik in der Weise, daß er sie gegen eine sich empiristisch verstehende Mathematik gerichtet sieht. Richtig dagegen F. M. Cornford, Mathematics and Dialectic in the Republic VI-VII, Mind 41 (1932) 38 und K. v. Fritz, Platon, Theaetet und die antike Mathematik a. a. O. 167.

Das Problem der Doxa

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fangenen des Höhlengleichnisses den Blick zurück unmöglich macht (Pol. VII, 5i4a-5i_5b), hat denselben Sinn: nicht daß die Gefangenen in einer Höhle sind, ist der eigentliche Punkt des Bildes, sondern daß sie nicht wissen, daß sie in einer Höhle sind; nicht daß sie Schatten sehen, sondern daß sie nicht wissen, daß das, was sie sehen, Schatten sind. Hier ist nicht ein bewußtes, sondern ein unbewußtes Meinen gemeint, d. h. ein Meinen, das von seinem Status als Meinen gar nicht weiß. Nicht diese Durchgängigkeit einer Täuschung, sondern die Beschränkung eines Geltungsanspruches liegt in der Husserlschen Unterscheidung der Tatsachenwissenschaften von den eidetischen Wissenschaften. Und entsprechend sucht sich Husserl dann auch den Sinn der platonischen Doxa zurechtzulegen: „Platon sieht, daß Erfahrung immerfort bloß ist; das 73 ist sie in der Tat - als immerfort unerfüllte Intention" . Dieser Doxa ist aber das Selbstmißverständnis, auf das die Gleichnisse Platons zielen, nicht mehr wesentlich. Daß auch die eidetische Wissenschaft der Geometrie gegenüber dem dialektischen Wissen Doxa in eben diesem Sinn eines Träumens über ihre eigenen Gegenstände ist (Pol. VII, 533 b c), macht die Unzulänglichkeit der Husserlschen Phänomenologie für eine Explikation des Verhältnisses von Doxa und Episteme bei Platon nur noch einmal mehr deutlich. Die Hartnäckigkeit, mit der die Versuche, das Verhältnis von Doxa und Episteme bei Platon mit Hilfe auch so entwickelter philosophischer Theorien wie der kantischen Transzendentalphilosophie oder der Phänomenologie Husserls aufzuklären, stets wieder an der Bestimmung des Sinns der Doxa scheitern, macht eine Bestimmung dieses Begriffes in der Tat vordringlich. In der Platonforschung hat der Begriff der Doxa dennoch bisher kaum die Beachtung gefunden, die ihm als einer Quelle systematischer Schwierigkeiten gebühren würde. Im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte haben sich, soweit ich sehe, in deutscher Sprache lediglich zwei Abhandlungen ausführlicher mit dem Problem der Doxa bei Platon befaßt, die Arbeiten von J. Sprute und E. Tielsch74. Beide Autoren erkennen richtig die Not73 Husserl, Erste Philosophie I, 323. 74 J. Sprute, Der Begriff der Doxa in der platonischen Philosophie. Göttingen 1962, und E. Tielsch, Die platonischen Versionen der griechischen Doxalehre. Meisenheim 1970. Die Arbeit von Tielsch ist mir erst zu einem Zeitpunkt bekannt geworden, als der größte Teil der vorliegenden Untersuchung, insbesondere das Charmideskapitel, schon abgeschlossen war. Soweit ich sehen kann, enthält ihre Abhandlung aber nichts, was zu wesentlichen Korrekturen in meiner Arbeit genötigt hätte. Zur Untersuchung von Sprute vgl. meine Rezension (Philos. Rundschau 14 (1966) 40 - 47) und die im Anschluß daran geführte Diskussion im Archiv für Gesch. d. Philosophie 51 (1969) und 52 (1970).

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wendigkeit, bei der Behandlung dieses schwierigen Problems mit einer Analyse der Bedeutungen von ,Doxa' zu beginnen; auf die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks war in der Literatur schon des öfteren hingewiesen worden 75 . Beide Abhandlungen verdeutlichen allerdings auch, daß durch bloße Bedeutungsunterscheidungen das mit dem Begriff der Doxa bei Platon verknüpfte philosophische Problem nicht erklärt werden kann, jene paradoxe These nämlich, daß die wahrnehmbare Welt lediglich Gegenstand der Meinung (Doxa), nie des Wissens sein könne. Gerade diese These, für die sich die neuplatonische ebenso wie die moderne Platonauslegung auf Pol. V, 475-480 beruft, bringt aber die Philosophie Platons in einen anscheinend unüberbrückbaren Gegensatz zur neueren Philosophie, die seit Locke und Kant ihrem Selbstverständnis nach eine Theorie des Erfahrungswissens ist. Auch die folgenden Untersuchungen werden mit einer Bedeutungsanalyse einsetzen. Deren Zweck ist zunächst eine Klärung unserer Interpretationssprache; mit Hilfe einer so geklärten Interpretations spräche kann dann bei den Interpretationen platonischer Texte der Sinn der dort auftretenden Begriffe geklärt werden. Da der Begriff der Doxa bei Platon, wenn er im Kontext der erwähnten These über die „Unerkennbarkeit" der wahrnehmbaren Welt gebraucht wird, in Opposition zum Begriff des Wissens steht, werden wir insbesondere die Bedeutungen von ,Meinung* als GegenbegriJQE von ,Wissen* und den Ausdruck ,Wissen' untersuchen müssen. Aus Gründen, die im Fortgang der Arbeit noch deutlich werden sollen, werden wir diese analytischen Voruntersuchungen auch auf die Ausdrücke ,Kennen' und ,Erkennen* ausdehnen. Zugleich haben diese bedeutungsanalytischen Voruntersuchungen jedoch den Zweck, erste Erkenntnisse über die in den angeführten Ausdrücken genannten Phänomene bereitzustellen. Insbesondere soll gezeigt werden, daß das Erkennen und Kennen wahrnehmbarer Gegenstände eine Modellfunktion für die unausdrückliche Interpretation höherstufiger kognitiver Akte und Dispositionen besitzt.

75 Vgl. N. Gulley, Plato's Theory of Knowledge 13 f.; C. A. Viano, II significato della „Doxa" nella filosofia di Platone, Rivista di filosofia 43 (1952) 167-185; N. Hartmann, Platos Logik des Seins 91.

Die Dialogform in der Platonliteratur

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b) Hermeneutische Vorüberlegungen zu einer Interpretation der platonischen Dialoge Es gehört wohl zu den eigenartigsten Paradoxien der Geistesgeschichte, daß Platon mit der literarischen Form des Dialoges, die er als spezifisches Vehikel der Vermittlung philosophischen Denkens geschaffen hat 76 , zugleich eine Tradition initiierte, die sich als machtvolles Hindernis dem Verstehen ihres platonischen Urbildes entgegenstellt. Was innerhalb des platon-'schen Werkes erst spät und als Ausnahme erscheint, nämlich der Dialog als jener didaktisch geschickte Kunstgriff, den Leser nicht direkt, sondern indirekt, durch Teilnehmenlassen am Schauspiel einer Unterweisung zu unterweisen, wird für die Tradition zur Regel. Auch wo der nachplatonische Dialog nicht die Form eines Gespräches zwischen einem Lehrenden und einem Lernenden hat, wo er — etwa bei Diderot — die Weitläufigkeit eines Gespräches gewinnt, in dem mehrere Gesprächspartner ihr Wissen und ihre Ansichten austauschen, - dem Leser gegenüber bleibt auch dieser Typ des philosophischen Dialoges ein Mittel belehrender Mitteilung. Die Frage, aus welchen Gründen Platon für seine Schriften die Dialogform gewählt hat, und welche Konsequenzen sich für die Interpretation der platonischen Dialoge aus ihrer literarischen Form ergeben, ist vor allem in der deutschen Platonforschung seit Schleiermacher immer wieder diskutiert worden. Schleiermacher sah in der Dialogform nichts der platonischen Philosophie Äußerliches, sondern die einzig adäquate Ausdrucksform ihrer Inhalte; der Verzicht auf die Form der Lehrschrift und die Aporetik der platonischen Dialoge sind nach ihm ein Mittel, den Leser „zur eigenen Ideenerzeugung aufzuregen"77. Schleiermachers Einsichten wurden aber im 19. Jahrhundert nicht aufgenommen und weitergeführt; sowohl Hegel78 als auch C. F. Hermann79 und Zeller80 sahen in der Form des platonischen Dialoges ein äußerliches und letztlich unangemessenes Mittel zur Darstellung philosophischer Gedankengänge. Erst J. Stenzel und P. Friedländer haben die Anregungen Schleiermachers wieder aufgegriffen; während Friedländer dabei insbesondere den dramatischen Aufbau und die Szenerie der Dialoge 76 Zur Frage der Autoren, die laut Diogenes Laertios III, 48 Dialoge geschrieben und Platon beeinflußt haben sollen und auf die sich C. F. Hermann (Über Platons schriftstellerische Motive 283 f.) gegen Schleiermacher berufen hatte, vgl. Zeller, Phil. d. Griech. 5II,i 571 f. Anm. 2. 77 F. Schleiermacher, Einleitung in Platons Werke. Berlin 1804, 3i8j5, 34. 78 A. a. O. 186 ff., vgl. dazu J. Stenzel, Kleine Schriften 312 f. 79 Über Platons schriftstellerische Motive 285 ff. »o Philos. d. Griech. 511,1 569 ff.

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für seine Interpretationen fruchtbar machte, forderte Stenzel die Beachtung der scheinbar kontingenten Brechungen des Gesprächsganges selber, der Mißverständnisse und Nachfragen, der Formulierung von Frage und Anwort81. An Friedländers und Stenzels Beobachtungen und Thesen haben dann die Arbeiten von Ph. Merlan82, E. M. Manasse83 und H. GundertM angeknüpft. In der französischen Platonforschung ist das Problem der Dialogform von R. Schaerer und V. Goldschmidt diskutiert worden85. Auffällig ist die Vernachlässigung dieser Frage in der angelsächsischen Forschung. Der deutlichste Ausdruck für dies mangelnde Verständnis der Form des platonischen Dialoges sind F. M. Cornfords Übersetzungen, die über lange Partien hinweg die Wechselrede der Dialogpartner in einen Traktat umformulieren. Erst E. Frank86 und vor allem Leo Strauss87 und J. Klein88 haben hier eine Erörterung dieses Problems in Gang gesetzt. Notwendig wäre es, die Hinweise der antiken Autoren auf das durch die literarische Form gestellte Problem der Auslegung platonischer Dialoge einmal zu sammeln und systematisch zu untersuchen. Daß schon in der Antike ein Bewußtsein der mit der Form des platonischen Dialoges zusammenhängenden Fragen vorhanden war, bezeugt eine Stelle wie Diogenes Laertios III, 65, die in den neueren Diskussionen kaum beachtet worden ist. Dabei findet sich unter den dort erwähnten drei exegetischen Regeln schon die Forderung, bei der Auslegung Platons das zu beachten, d. h. den Sinn einer Äußerung aus der genauen Lokalisierung des Gesagten im Kontext des Wechselgespräches zu bestimmen. Der platonische Dialog ist aus dem Zweifel an der Möglichkeit erwachsen, in direkt belehrender Weise philosophische Erkenntnisse vermitteln zu können, zumal dann, wenn dies in der Weise schriftlicher Mitteilung 81 Vgl. J. Stenzel, Kleine Schriften 3140. 82 Platos Form der philosophischen Mitteilung, Hermaion fasc. 10, Leopoli 1939. Eine erweiterte englische Fassung dieses Aufsatzes in: Journ. of the Hist, of Ideas VIII (1947) 406-430. 83 Platons Sophistes und Politikos, Berlin 1937. Vgl. insbes. den zweiten Abschnitt: Die Wahrheit und der Dialog (50 - 74). 84 Der platonische Dialog, Heidelberg 1968, 5 - 18. 85 R. Schaerer, La question platonicienne. Neudhätel 1938, 21969. V. Goldschmidt, Les Dialogues de Platon, Structure et methode dialectique. Paris 1947, 21963. 86 The Fundamental Opposition of Plato and Aristotle, AJPh 61 (1940) insbes. 45 f. 87 On Plato's Republic, in: L. Strauss, The City and Man. Chicago 1964, 50 -138 insbes. ^0-61. Vgl. a. S. Rosen, Plato's Symposium. New Haven London 1968, insbes. XI-XXXVIII. 88 Vgl. die .Introductory Remarks' seines Menonkommentars (A Commentary on Plato's Meno. Chapel Hill 1965), die eine Auseinandersetzung mit Schaerers Buch enthalten.

Platons Kritik der Schriftlichkeit

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geschehen soll. Platons Kritik der Schriftlichkeit (vgl. Phaedr. 2740-277 a; Ep. VII, 341 b—c, 342 e - 343 a, 344 c) erh lt aber ihre Paradoxie dadurch, da sie geschrieben steht in einem umfangreichen philosophischen Oeuvre. Platon sieht den eigentlichen Mangel der geschriebenen Rede in ihrer Unbefragbarkeit. Darauf zielt der Vergleich mit der Malerei im ,Phaidros' (275 d): Geschriebenes ist nicht zur Explikation f hig: „es bezeichnet immer nur ein und dasselbe" (275 d 9). In diesem Mangel des geschriebenen Wortes, da es „weder zu antworten noch selbst zu fragen wei " (Prot. 329 a), liegt der Grund f r die Gef hrdung des Geschriebenen durch Mi verst ndnisse. Dabei ist es gleichg ltig, ob das Gelesene dem Leser richtig oder falsch erscheint: im ersten Fall nimmt er den Schein des Begriffenhabens f r sich in Anspruch (vgl. Phaedr. 275 a 6 -b 2; Ep. VII, 341 e 5 f.), im zweiten lastet er das eigene Nichtverstehenk nnen dem Texte an (Phaedr. 275 e 4 f.). Geschriebenes kann sich aber dem Mi verstehen nicht entziehen, weil es zu allen Lesern in gleicher Weise spricht und zwischen Verst ndigen und Unverst ndigen nicht zu scheiden wei (vgl. Phaedr. 275 e 1-3). Dieser Mangelhaftigkeit der geschriebenen Rede stellt Sokrates den έμψυχος λόγος, das lebendige Gespr ch als die eigentlich angemessene Form der Vermittlung philosophischer Gedanken gegen ber (Phaedr. 276 a 8). Die Frage, die sich aus dieser Kritik schriftlicher Logoi ergibt, ist dann nat rlich die, ob Platons eigene Schriften nicht ebenso unter ihr Verdikt fallen. Sollen auch die platonischen Dialoge den Charakter des nicht ernst Gemeinten, den Charakter der παιδιά haben, den Sokrates, wie es scheint, allem Geschriebenen zuspricht (vgl. Phaedr. 276 d 2, d 8, e i, 277 e 6)? Man kommt, so scheint mir, jedoch erst dann sowohl zu einer Antwort auf diese Frage wie zu einem Verst ndnis des Motivs der platonischen Kritik, wenn man ber cksichtigt, da die Kritik der Schriftlichkeit, wie sie der ,Phaidros* bt, im Kontext einer Kritik der sophistischen Rhetorik steht; es ist die geschriebene Liebesrede des Lysias, die den Anla zur Er rterung des Nutzens der Schrift bildet. Phaidros hatte n mlich 257 c 4-7 berichtet, da ein Politiker vor kurzem den Lysias in einer Schm hrede als „Redenschreiber" verspottet hatte. An diese Bemerkung kann Sokrates ankn pfen, wenn er 274 b 6-7 die Untersuchung von Angemessenheit (ευπρέπεια) und Unangemessenheit (άπρέπεια) der Schrift in Angriff nimmt. Die Kritik der schriftlichen Logoi, die von 274 c an formuliert wird, kann sich also zur ckbeziehen auf eine gewisserma en vorphilosophische Kritik an der schriftlichen Abfassung von Reden. Und es scheint dabei nicht zuf llig, da Phaidros uns diese Kritik an dem Logographen Lysias aus dem Munde eines Politikers berichtet; den Politiker mu ja in der Tat

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der im Verfassen von Reden vorausgesetzte Glaube an die Berechenbarkeit von Situationen auf Grund ihrer Typisierbarkeit zum Spott reizen, wei er doch, wie sehr der Erfolg des Versuches, etwa eine Mehrheit f r einen bestimmten Vorschlag in einer Versammlung zu gewinnen, von der F higkeit abh ngt, auf Imponderabilien und Unvorhersehbares eingehen zu k nnen. Dieses Eingehenk nnen auf die Umst nde einer konkreten Situation ist aber eine Frage des argumentativen Taktes, der Anwendung von Argumenten, und genau das wird verkannt, wenn man die berredung einzig f r die Sache der ρητορική τέχνη als der Verf gung ber ein Arsenal von Argumenten und der F higkeit, diese zu einem Logos zu arrangieren, ansieht (vgl. a. Euthyd. 289 c-d). Es ist dieser der griechischen Rhetorik und Sophistik gemeinsame Glaube an den Wert und die Macht der Techne, der im Schreiben von Reden und erst recht nat rlich im Schreiben einer Liebesrede seinen Ausdruck findet. Darum kann dann Sokrates in einer Untersuchung, die einen angemessenen von einem unangemessenen Gebrauch der Schrift unterscheiden will (vgl. 274 b 6-7), die also den prinzipiellen Nutzen der Schrift gar nicht bestreitet, den Glauben an die Macht und den fraglosen Wert der Techne, wie er im Gebrauch der Schrift in der Rhetorik zum Ausdruck kommt, in die mythische Erfindung der Schrift selber zur ckprojizieren (274 c 5 - 275 b 2): ώ τεχνικώτατε Θεύθ, wird ihr Erfinder vom gypterk nig Thamus angeredet (274 e 7). Und die Kritik des Thamus gilt gerade der mangelnden Unterscheidung zwischen den Resultaten (oder Produkten) einer Techne und der N tzlichkeit oder Sch dlichkeit ihrer Anwendung (vgl. 274 e 7-9); der Vorwurf, mit dem die Rede des Thamus und mit ihr der „ gyptische Logos" des Sokrates endet, macht vollends sichtbar, da sich hinter der mythischen Maske des gyptischen Erfindergottes in Wirklichkeit der Sophist und Rhetor der griechischen Gegenwart verbergen (vgl. 275 a 6 — b 2). Da hinter dieser Kritik der Schrift im Gew nde einer mythischen Fabel noch ein anderer als der offenbare Sinn verborgen liegt, wurde ja schon durch die Art ihrer Einf hrung deutlich (vgl. 274 a 1-3): Sokrates will eine „Sage der Alten" erz hlen und f gt hinzu: „das Wahre aber wissen nur jene selbst«. Aus der Absicht einer Kritik der sophistischen Rhetorik l t sich nun auch die Bemerkung des Sokrates erkl ren, alle schriftstellerische T tigkeit sei nur eine παιδιά, nur ein Scherz oder Spiel. Man hat, so scheint mir, bislang bei der Interpretation der Stelle Phaedr. 276 b - 277 a nicht beachtet, da mit der Einf hrung und Motivierung des Begriffes der παιδιά das παιδιά-Motiv der sophistischen Rhetorik kritisiert und umgedeutet wird.

Kritik der Schrif t und sophistische Rhetorik

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Da ihre Rede nur eine παιδιά sei, ist ein bekannter Topos der Rhetoren89. Es liegt auf der Hand, welche Funktion f r den Rhetor die Berufung auf den παιδιά-Charakter seines Vortrags hat: sie verschafft ihm die M glichkeit, ohne sich mit dem je inhaltlich Gesagten identifizieren zu m ssen, eine beliebige These mit formal brillanten Argumenten zu verteidigen. Ein solches Alibi war gerade deshalb notwendig, weil die Reden h ufig epideiktischen Charakter hatten, d. h. vor einem beliebigen Publikum sollten gehalten werden k nnen; die Abblendung des inhaltlich Gesagten garantierte einerseits ein Interesse an den formalen Qualit ten des Vorgetragenen, andererseits dokumentierte sie die Neutralit t des Rhetors gegen ber bestimmten Gesetzen, Br uchen und Meinungen. Dieser positive Sinn des παιδιά-Motivs, insofern mit ihm ein berder-Sache-Stehen gemeint ist, wird nun durch Sokrates ins Negative gewendet: das Schreiben rhetorischer Reden wird deshalb zur blo en παιδιά, weil Sokrates gegen die Bezogenheit der Rede auf einen Adressaten ihre Bezogenheit auf eine Sache ausspielt (vgl. das περί ων Phaedr. 275 d i, 277 b 5-6 und die analoge Argumentation Gorg. 451 d, 453 b-c u. .). Hat die negative Wendung des παιδιά-Begriffes einen kritischen Sinn, so wird diesem Begriff eine g nzlich andere inhaltliche Bedeutung durch die ironische Umkehrung des Zweckes der Schriftstellern ins Private gegeben: er legitimiert nicht mehr den ffentlichen Vortrag, sondern das Aufschreiben f rs eigene Alter (276 d 2-5). Liest man Sokrates' Bemerkungen ber die Schrift vor dem Hintergrund der Funktion des παιδιά-Begriffes in der Rhetorik, dann wird deutlich, da diese Bemerkung nicht in der Allgemeinheit zu verstehen ist, in der sie ge u ert wird: ganz sicher kann man aber nicht Platons eigene Schriften durch sie erkl ren. Bezeichnenderweise setzt Sokrates seine Charakterisierung des Zweckes der Schriftstellerei durch ein zweimaliges ως εοικε (276 d i f., d 7) in eine distanzierende Parenthese. Der Gegensatz, der hinter dem des geschriebenen und gesprochenen Wortes hier immer mitgemeint ist und den der Vergleich der schnellen Pflanzenaufzucht im Adonisgarten mit der Feldbestellung illustriert, ist der Gegensatz zwischen dem ,Sdmellverfahren' der sophistischen Rhetorik, in dem Wissen nur ,angelernt' ist, und der Vermittlung wirklicher Einsicht durch die διαλεκτική τέχνη (276 e - 277 a; vgl. 276 a). Ist aber die διαλεκτική τέχνη nur in der gesprochenen Rede m glich oder gibt es geschriebene Logoi, die ebenfalls durch die „dialekti89

Vgl. Theaet. 167 e 5 und den Schlu der gorgianischen Helena; zu dem Motiv bei Gorgias s. H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik 17 f., 25. Audi die Liebesrede des Lysias selber hat ja den Charakter eines πα'ιγνιον.

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sehe Kunst" Wissen zu begründen vermögen? Sind die platonischen Dialoge diese Logoi? Wir haben bis hierher die Kritik des ,Phaidrosc an der Schrift als eine Kritik ihres Gebrauches durch die Rhetorik interpretieren können, aber wir haben dadurch nur ein mögliches Vorurteil über Platons eigene Schriften zerstreuen können und nicht schon einen positiven Hinweis für das Verständnis der Form des platonischen Dialoges selber erhalten. Dennoch dürfen wir aber aufgrund des Umstandes der Kritik an einem Gebrauch der Schrift, wie er für eine - durch Rhetorik und Sophistik repräsentierte - Überzeugung vom absoluten Wert der Techne charakteristisch ist, zumindest die Vermutung hegen, daß aus der Auseinandersetzung Platons mit der griechischen Sophistik und Rhetorik — und erst durch die platonische Kritik sind ja diese beiden Figuren der griechischen Bildungsgeschichte für uns zu einer Einheit geworden - auch bestimmte Züge in Platons eigenem Gebrauch der Schrift erklärt werden können. Fragen wir daher zunächst nach den Motiven dieser Auseinandersetzung überhaupt, auch wenn wir nur eine summarische Antwort auf diese Frage geben können. Was hat der griechischen Rhetorik und Sophistik in den Augen Platons eigentlich jene aufreizende Bedrohlichkeit für die Philosophie gegeben, die die platonischen Dialoge in ihrem ständigen Kampf mit den großen Rhetoren und Sophisten des fünften Jahrhunderts bezeugen? Es scheint zweifelhaft, ob wirklich die logische Scharlatanerie der sophistischen als solche die Bedrohung der Philosophie erklären kann, die Platon in dem historischen Phänomen der Sophistik und Rhetorik heraufziehen sah. Wir dürfen uns auch hier nicht von Aristoteles täuschen lassen, für den in der Tat die Sophistik zu einem Gegenstand der logischen Untersuchung geworden ist, der systematisch mit der Theorie der Paralogismen zusammenfällt. Daß man das Phänomen der griechischen Sophistik verkürzt, wenn man sie als eine Technik der Scheinbeweise versteht, bezeugt gerade Platon selber: in der Protagorasrede des ,Theaitetos' (vgl. Theaet. 166 a 2 - 168 c 2, insbes. 167 e - 168 a). Was Platon an Sophistik und Rhetorik beunruhigte, liegt, so scheint mir, noch jenseits der von ihnen beanspruchten Fähigkeit, die Überzeugung von der Wahrheit oder Unwahrheit beliebiger Thesen bewirken zu können. Sie verdanken nämlich ihren Status als einer Gegenmacht der Philosophie gerade der Abstammung von dieser selbst. An dem historischen Phänomen der griechischen Sophistik und Rhetorik wird etwas Allgemeines sichtbar und in diesem Allgemeinen liegt die eigentliche Bedrohung für die Philosophie: die Möglichkeit nämlich, daß die argumentativen Mittel, die in der

Sophistischer Logos und platonischer Dialog

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Philosophie der Auflösung bloßer Meinung und der Hinführung zum Wissen dienen, gerade für die Erzeugung beliebiger Meinungen in Dienst genommen werden können und dadurch schließlich zur Leugnung der Möglichkeit führen, überhaupt argumentierend Wissen begründen und Wahrheit finden zu können (vgl. dazu Pol. VII, 537 c - 539 d). Die griechische Sophistik und Rhetorik und ihr Ideal einer formalen rhetorischen und argumentativen Bildung sind erst durch die aussagenlogischen Erkenntnisse der eleatischen Philosophie ermöglicht worden. Die bewußte Kenntnis der Gesetze von Implikation und Disjunktion, die sich im Aufbau des parmenideischen Lehrgedichts zeigt, steht ebenso auch hinter der argumentativen Virtuosität der Reden des Gorgias 90. Jene logischen Mittel, mit deren Hilfe Parmenides die gängigen Meinungen über das Wesen der Welt, des Seienden erschüttert hatte, werden in der Sophistik nicht zur Überwindung von Meinung durch Einsicht, sondern zur Ersetzung von Meinung durch beliebige andere Meinung genutzt. Die ontologische These des Parmenides selbst wird zu einem Gegenstand, an dem Gorgias seine Disputierkunst in einer spielerischen Widerlegung vorführen kann91. Der platonische ,Sophistes' spiegelt gewissermaßen dramaturgisch - in der Einführung des eleatischen Fremdlings — die innere Zusammengehörigkeit von Sophistik und Eleatismus wieder. Aus dem Gegensatz der platonischen Philosophie zu Sophistik und Rhetorik, deren Motiv wir gerade zu bestimmen gesucht haben, läßt sich nun auch der philosophische Sinn bestimmter Züge der platonischen Schriften aufklären. Zunächst der Sinn der Form des platonischen Dialoges selber. Wie die ,Politeia' bekanntlich in der mimetischen im Unterschied zur erzählenden Darstellungsweise ein Mittel der Selbstverbergung des Autors sieht (vgl. Pol. III, 393 c—d), so dienen auch die Dialoge Platons, die ja in das Genus der mimetischen Dichtung gehören, zur Verbergung ihres Autors und sind eben dadurch ein Gegenbild der epideiktischen Zur-Schau-Stellung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten in Sophistik und Rhetorik. Platon hat diese Absicht der Verbergung des Autors in seinen Dialogen noch durch weitere Mittel fühlbar gemacht. Zum einen potenziert er diesen Effekt mimetischer Dichtung häufig noch dadurch, daß er zwischen Autor und Leser die Instanz eines oder mehrerer Erzähler einschaltet92. 90 Vgl. dazu K. Reinhardt, Parmenides 37 ft. und G. Calogero, Studi sulT eleatismo. Roma 1932, 157 ff. 91 Vgl. H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik 18 ff. 92 So ist Sokrates zugleich Erzähler und Figur des erzählten Dialoges im .Protagoras', .Charmides', .Euthydem', .Lysias' und in der ,Politeia'. ,Phaidon', ,Timaios' und ,Kritias' werden jeweils von den Personen gleichen Namens erzählt. Im .Symposion*

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Zum anderen wird diese Verbergung des Autors durch die Abwesenheit Platons aus dem Kreise seiner Dialogfiguren unterstrichen. Platon ist nicht nur niemals einer der Gesprächsteilnehmer in den Dialogen93, er wird auch mit Ausnahme der bekannten Stellen in der ,Apologie' (34 a, 38 b) und im ,Phaidon' (59 b), an denen die Schilderung der historischen Situationen von Prozeß und Sterben des Sokrates diese Erwähnung erklärt, in den Dialogen nirgends genannt, obwohl doch die meisten von ihnen zu Lebzeiten Platons und oft im Kreise seiner Freunde und Verwandten spielen. Die Brüder Platons führen mit Sokrates das große Gespräch der ,Politeia', ob Platon unter den übrigen Gästen im Hause des Kephalos ist oder nicht, wird dem Leser nicht mitgeteilt. Die Gegenposition, die Platon mit dieser radikalen Verbergung des Autors in seinen Dialogen gegenüber der epideiktischen Natur der sophistischen und rhetorischen Schriften bezieht, ist aber die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die Vermittlung sachlicher Erkenntnis wieder in ihr Recht eingesetzt wird, statt ein Mittel unter anderen in einer epideiktischen Selbstdarstellung zu sein. Der zweite charakteristische Zug der platonischen Dialoge, dessen Sinn aus der Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik und Rhetorik verständlich wird, ist ihr aporetischer Charakter. Dieser zeigt sich nicht nur im ergebnislosen Ende einer Diskussion, sondern ebenso auch darin, daß zur Erklärung sachlicher Schwierigkeiten schließlich eine mythische Erzählung bemüht wird - der ,Menon' ist dafür ein anschauliches Exempel. Nur eine Platoninterpretation, der es gänzlich an literarhistorischem Takt fehlt, konnte aus dem aporetischen Charakter platonischer Dialoge schließen, daß Platon sich über das dort je diskutierte Problem noch nicht im klaren war. In Wahrheit ist die Aporetik der platonischen Dialoge ebenso eine Erwiderung auf jenen Anspruch des Alles-Beweisen-Könnens, der die Logoi der Rhetoren und Sophisten charakterisiert, wie das sokratische Nichtwissen eine antithetische Stilisierung gegen den sophistischen Wissensanspruch ist. Und ebenso wie der Sinn des sokratischen Nichtwissens in der Forderung liegt, sich über den Sinn von .Wissen* allererst klar zu werden, ebenso ist es und im ,Parmenides' ist der berichtete Sokratesdialog durch zwei bzw. drei hintereinandergeschaltete Erzähler vermittelt: im ,Symposion' berichtet Apollodor die Erzählung Aristodems, im ,Parmenides' erzählt Kephalos, was er als Bericht des Pythodoros von Antiphon gehört hat. In der durch den ,Theaitetos' eröffneten Dialogtrias bedient sich Platon sogar der Fiktion eines fremden Oialogautors. 93 Das unterscheidet die Dialoge Platons auch von denen des Aristoteles, für die eine Einführung des Aristoteles als Dialogfigur doch sehr wahrscheinlich ist. Vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik. Göttingen 1962, 188.

Zwei Interpretationsregeln

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die Absicht der Dialogaporien, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn wissenschaftlicher Beweise zu vermitteln. Dank ihres aporetischen Charakters sind die platonischen Dialoge Schriften, die nicht „sprechen als verständen sie etwas" (Phaedr. 275 d 7-8). Der Dialog Platons ist ein Logos, „der zu reden und zu schweigen weiß, gegen wen es angebracht ist" (Phaedr. 276 a 6-7); er redet nur zu jenen Lesern, die ihn befragen und d. h.: die nach einer sachlichen Antwort auf jenes Problem suchen, das im Gespräch der Dialogfiguren verhandelt wird; einer unvermittelten Frage nach der Meinung des Verfassers ist durch die mhnetische Verbergung des Autors Platon ohnehin der Weg verlegt. Die platonischen Dialoge verdanken ihre Einzigartigkeit nicht der Form des Wechselgespräches als solcher, sondern dem Zweck, dem diese Form zusammen mit anderen Mitteln dient: dem Versuch ihres Autors, die Mängel der geschriebenen Rede dadurch aus dieser zu tilgen, daß das mimetische Gespräch der Dialogpersonen zum Medium eines Fragens und Antwortens zwischen Autor und Leser wird. Aus dieser Charakterisierung der platonischen Dialoge ergeben sich bestimmte Folgerungen für das Verfahren der Interpretation; wir formulieren sie in der - notwendigerweise schematischen - Form von zwei Regeln. Eine ausdrückliche Angabe der methodischen Grundsätze der Auslegung scheint nicht nur angesichts der literarischen und philosophischen Eigenart der platonischen Texte unerläßlich. Ebensosehr soll diese Angabe von allem Anfang an den Schein vermeiden helfen, bei den nachfolgenden Untersuchungen handle es sich um ein weiteres Exemplar aus der Gattung jener, von der Philologie zu Recht perhorreszierten philosophischen* Interpretationen, deren Autoren, unbekümmert um eine Ausweisung an Texten, die Philosophie Platons zur Menagerie der eigenen Gescheitheiten machen. Die erste Regel, von der wir uns bei der Interpretation leiten lassen, ist die, in den Fragen nicht ein bloßes Mittel des Autors zur Inszenierung von Antworten zu sehen. Gerade weil die platonischen Dialoge keine dramatisierten Traktate sind, haben jene Stellen ein besonderes Gewicht, an denen unausdrücklich oder ausdrücklich eine Differenz zwischen Fragendem und Antwortendem sichtbar wird: Im Zukurztreffen einer Antwort, in einem vom Antwortenden überhörten Zweifel des Fragers, im Abbrechen eines Frageganges ebenso wie in der Wiederholung einer Frage, in der Voreiligkeit des Antwortenden, der auf mehr antwortet als gefragt war, in seinem Überhören von Alternativen, auf die in der Formulierung der Frage hingewiesen war, haben wir einige der Symptome und Anzeichen für eine Differenz zwischen dem, der fragt, und dem, der antwortet. Wir müssen die

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Einleitung

Fragen ebenso auf weiterreichende Intentionen des Fragenden hin abhören wie die Antworten auf unausdrückliche Voraussetzungen des Antwortenden. Damit ist zugleich gesagt, daß man ein Frage-Antwort-Paar nie für sich, sondern immer nur im Zusammenhang eines Argumentationsganges zureichend verstehen kann. So einleuchtend diese Regel auf den ersten Blick scheint, so schwierig ist jedoch ihre konsequente Befolgung im Einzelfall, denn sie nötigt uns, auf Lese- und Auslegungsgewohnheiten zu verzichten, die durch eine lange Tradition der Platonexegese eingeübt und kanonisiert sind. Gleichwohl ist diese Regel schlicht unerläßlich für eine Interpretation, die vermeiden will, aus den Fragen des platonischen Sokrates schon Lehrsätze Platons herauszulesen94. Aus dem Gleichmut, mit dem der platonische Sokrates von einer Frage und der Antwort seines Gesprächspartners darauf zur nächsten Frage weitergeht, kann man keineswegs schließen, daß er die gegebene Antwort für zureichend oder auch nur für richtig hält. Das läßt sich sehr schön an einer Stelle des ,Protagoras' illustrieren (Prot. 329 dfE.): dort bringt Sokrates durch Fragen seinen Mitunterredner dahin, die völlige Unterschiedenheit der Teile der Tugend zuzugeben. Dann inszeniert Sokrates einen Dialog im Dialog, in welchem er einen fingierten Dritten an Sokrates und Protagoras als gemeinsame Adressaten seine Fragen stellen läßt; schließlich heißt es dann: „Wenn er nun hierauf uns fragend spräche: Wie habt ihr doch vor kurzem gesagt? Habe ich euch etwa nicht recht vernommen? Mich dünkt, ihr sagtet, die Teile der Tugend verhielten sich so gegeneinander, daß keiner von ihnen wäre wie der andere? Dann würde ich ihm sagen: 94 Man kann in diesem Zusammenhang auf eine aufschlußreiche Stelle der aristotelischen Poetik hinweisen; Aristoteles behandelt dort im sechsten Kapitel unter den Grundbegriffen seiner Tragödienanalyse auch die Dianoia, die in Rede und Gegenrede sich darstellende Überlegung, die zur Motivierung von Handlungen führt ( und sind die beiden 1450 a 1-3). Bei der Erörterung dieses Begriffes macht Aristoteles eine Bemerkung zum Unterschied der alten von den neueren Tragikern: die Alten, so heißt es, lassen ihre Personen reden, die Neueren (das sind die an Euripides anschließenden Tragödiendichter des vierten Jahrhunderts) dagegen (1450 b 4- 8). Mit der .politischen' Darstellung im Gegensatz zur Rhetorischen' ist dabei eine Darstellungsweise gemeint, die den Personen ihre dramatische Individualität, ihr Ethos beläßt (vgl. dazu Else, Aristotle's Poetics 265 f.), sie nicht zu bloßen Mundstücken eines Autors macht (vgl. auch den Vorwurf des Fehlens dramatischer Charaktere bei den Neueren 1450 a 25 ff.). Platon gehört mit seinen Dialogen auf die Seite der .Alten'. Wenn auch im platonischen Dialog nicht in demselben Sinne von Handlung die Rede sein kann wie in der Tragödie, so haben doch Tragödie und platonischer Dialog die Schilderung der ,dramatis personae' und die Begründung ihres Verhaltens aus ihrem Charakter gemeinsam. Euripides galt bekanntlich auch Platon als der schlechteste unter den Tragödiendichtern (vgl. Pol. VIII, 568 a).

Zwei Interpretationsregeln

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Sonst hast du wohl recht geh rt, da du aber glaubst, ich h tte dieses auch gesagt, das hast du verh rt. Denn Protagoras hier hat dies geantwortet, ich habe nur gefragt." (Prot. 330 6 3 - 3 3 1 a i ) 9 5 Sokrates gibt bei der Befragung des Protagoras nirgends zu erkennen, da sein Gespr chspartner eine These annimmt, die keineswegs die Zustimmung des Sokrates findet. Und darin liegt nicht eine Bosheit des Sokrates, sondern die methodische Disziplin dessen, der wei , da die Entwicklung absurder Konsequenzen, die man aus einem Gespr chspartner herausfragt, ein besseres Mittel zur Korrektur eines Irrtums ist als eine direkte Kritik. Wir sollten durch diese Protagorassteile davor gewarnt sein, in den voreiligen Fehler des fingierten ,Dritten* zu verfallen. Unsere zweite Interpretationsregel h ngt mit der ersten unmittelbar zusammen. Sie besagt, da die Interpretation sich an dem sachlichen Problem orientiert, von dem im Gespr ch der Dialogpartner die Rede ist. Die N tigung des Lesers zum Weiterfragen, die in den Aporien der platonischen Dialoge liegt, ist ein Zwang zur Frage nach der Sache. Aber nicht nur die sachliche Hinterfragung der Ergebnislosigkeit oder der mythologischen Konsequenzen eines Dialoges ist damit gefordert, sondern auch positiv Achtsamkeit auf die Stellen, an denen ein Ph nomenbereich analytisch artikuliert wird. Diese Forderung einer Orientierung der Interpretation an sachlichen Analysen beweist ihre Fruchtbarkeit nun paradoxerweise gerade dort, wo von einem Sachproblem unmittelbar nicht geredet scheint, in den Gleichnissen und Beispielen Platons n mlich. Auch hier k nnen wir uns wieder auf einen Hinweis Platons selber st tzen. Im ,Politikos' findet sich - im Anschlu an den dort erz hlten Mythos vom Umschlagen der onen - eine Reflexion ber das Verstehen von Beispielen. F r dies Verstehen gibt der eleatische Fremdling wiederum ein Beispiel, und zwar eines aus der Didaktik der Elementarschule (Polit. 277 d - 278 d). Dort lernen die Kinder, denen gerade das Schreiben und Lesen beigebracht worden ist (όταν άρτι γραμμάτων έμπειροι γίγνονται 277 e 3 f-)> das schwierige Lesen von ganzen Worten in der Weise, da der Lehrer von den .bekannten' d. h. den bereits geschrie95 Allgemein ist das hier nur implizit ausgesprochene Prinzip an einer Stelle des ,Gro en Alkibiades' formuliert, an der es ausdr cklich hei t, da der Antwortende, nicht aber der Frager die Thesen aufstellt (Ale. mai. 113 a). Zweifel an der Echtheit des .Alkibiades' nehmen dieser Stelle eben wegen ihrer bereinstimmung mit dem zitierten Passus aus dem ,Protagoras' nicht ihre Bedeutung f r eine Hermeneutik der platonischen Dialoge. Auch eine gute F lschung kann Erkenntnisse ber das vermitteln, was sie imitiert. Zur Echtheitsfrage vgl. P. Friedl nder, Der Gro e Alkibiades. Bonn 1921.

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Einleitung

benen oder gelesenen und damit durchbuchstabierten Worten aus zur Artikulation der ,unbekannten' führt, indem er die Schüler die identischen Buchstaben in beiden Wörtern suchen läßt. Alles Verstehen durch Beispiele ist von der Art, ein Identisches in Unterschiedenen zu sehen ( 278 c). Aber offenbar liegt die hermeneutische Problematik des Beispielverstehens noch jenseits dieser Formalstruktur, darin nämlich, daß die beiden Unterschiedenen, das Beispiel und das, wofür das Beispiel Beispiel ist, im Verhältnis von Bekanntem zu Unbekanntem stehen. Ein Beispiel muß bekannter sein als das, was es erläutern soll. Und das Lesenlernen als »Beispiel des Beispiels* will offenbar verdeutlichen, in welchem Sinn es einen Verstehensfortschritt vom Bekannten aufs Unbekannte gibt. Die Sache, die durch ein Beispiel erläutert werden soll, ist ja nie etwas gänzlich Unbekanntes - sowenig wie die „unbekannten" Worte, die auch aus der gesprochenen Sprache immer schon bekannt sind. Unbekanntheit der durch ein Beispiel erläuterten Sache meint, daß innerhalb dieser Sache noch keine Unterschiede sichtbar sind, daß sie noch nicht artikulierbar ist. Was umgekehrt das Beispiel „bekannter" macht als die durch es illustrierte Sache, ist nicht so sehr seine größere Anschaulichkeit, sondern seine leichtere Artikulierbarkeit; nur in Hinsicht auf diese haben Anschaulichkeit und Faßlichkeit eines Beispiels ihren Sinn. Wir werden also überall dort, wo Platon Analogien, Parabeln und Gleichnisse gebraucht, jene Phänomene, die als Beispiele fungieren, phänomenologisch in ihre Strukturen ausartikulieren; erst dadurch wird es möglich, auf eine reflektierte Weise jene Sinnmomente herauszuheben, die in Beispiel und in der durch das Beispiel erläuterten Sache identisch sind. Wir werden weiterhin dort, wo mehrere Analogien eine und dieselbe Sache erläutern sollen, diese untereinander vergleichen, um auf diese Weise eine Konvergenz in ihrer Funktion als Beispiele herauszufinden. Das letztere Verfahren wird sich überall dort als nützlich erweisen, wo an einem einzigen Beispiel vielleicht nicht klar auszumachen ist, was von der als Analogie herangezogenen Sache auf die erläuterte Sache übertragen werden soll und was nicht. Die vorstehenden Regeln wollen dem Leser, indem sie ihm Auskunft über bestimmte Prinzipien des Verfahrens der Auslegung geben, zugleich einen Maßstab der Kritik an den mit ihrer Hilfe versuchten Interpretationen vermitteln. Diese werden sicherlich zu korrigieren und zu ergänzen sein; dennoch scheint mir, daß jede Platoninterpretation, welche die Widersprüche vermeiden will, die ein großer Teil der traditionellen Deutungen Platon anzulasten gezwungen ist, die formulierten Grundsätze wird anwenden müssen.

Gang der Untersuchung

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Es liegt in der Konsequenz der oben aufgestellten Regeln, daß bei den folgenden Textinterpretationen, soweit eben möglich, auf das Verfahren eines belegenden Zusammenbringens vereinzelter Stellen zugunsten einer durchgängigen und detaillierten Auslegung zusammenhängender Argumentationsgänge verzichtet worden ist. Nach den Voruntersuchungen zur Bedeutungsanalyse soll zunächst eine Interpretation von ,Charmides' 164 c ff. als Erkenntnis Platans nachweisen, daß eine Orientierung am Modell des Kennens eine Analyse bestimmter Strukturen von Wissen, insbesondere der Reflexivität von Wissen, unmöglich macht. Ausgehend von dieser am ,Charmides' gewonnenen Erkenntnis soll dann die Anamnesislehre anhand von , * 8oa-86c als eine Theorie über den Weg von bloßer Meinung zum Wissen interpretiert werden. Das vierte und letzte Kapitel gilt dem Verhältnis von Doxa und Episteme in den mittleren Büchern der ,Politeia'. Hier soll einmal eine Analyse von Pol. V, 47^-4803 zeigen, daß die Darstellung von Doxa und Episteme als verschiedener, auf getrennte Gegenstandsbereiche (wahrnehmbare Welt und Ideenkosmos) bezogener Vermögen nur den Sinn hat, Konsequenzen eines unausdrücklichen Vorbegriffs von Wissen aufzudecken, nicht aber eine Lehre Platons enthält. Den Abschluß unserer Untersuchungen bildet eine Interpretation der drei Gleichnisse, die am Ende des sechsten und am Anfang des siebten Buches der ,Politeia' stehen und die der locus classicus für die am Urbild-AbbildModell orientierte Metaphysik des Platonismus sind.

Erstes Kapitel Bedeutungsanalytisdie Voruntersuchungen a) Meinen und Meinung In der ,Kritik der reinen Vernunft*, im zweiten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre, unternimmt Kant eine Scheidung der drei Begriffe »Meinen*, ,Glauben' und ,Wissen'l. Er geht dabei von dem Oberbegriff ,Fürwahrhalten* aus und definiert »Meinen* als „ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten" 2. Dann fährt er fort: „Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es G l a u b e n . Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das W i s s e n." 3 Wichtig ist nun allerdings, daß in der ,Kritik der reinen Vernunft* das Fürwahrhalten vor dieser Dreiteilung in Meinen, Glauben und Wissen noch in Überzeugung und Überredung unterschieden wird. ,Überzeugung* heißt ein Fürwahrhalten dann, „wenn es für jedermann gültig ist, sofern er nur Vernunft hat" 4. ,Überredung* dagegen ist „ein bloßer Schein, weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten wird" 5. Die erörterte Dreiteilung gilt für „das Fürwahrhalten ... in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt)" 6. Damit hat Kant vom Begriff des Meinem den bloßen Schein also ausgeschlossen. Diese Unterscheidungen Kants lassen sich am Sprachgebrauch erhärten. Sagt jemand: „ich meine, daß ...", so impliziert diese Äußerung das Bewußtsein, für das Gesagte jedenfalls keine zureichenden Gründe zu haben; es kann sich möglicherweise als unrichtig herausstellen. Mit einem „ich meine, daß ..." führen wir Ansichten ein, solches also, das alternative 1 KdrV A 820 ff. B 848 ff. - Vgl. a. Logik (ed. Jäsche) A 99 ff. 2 KdrV A 822 B 850. 3 ibid. 4 KdrV A 820 B 848. s ibid. 6 KdrV A 822 B 850.

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

Standpunkte neben sich gelten läßt. Dagegen ist in „ich glaube, daß ..." bzw. „ich glaube es" (,Glauben* als ,Überzeugtsein* verstanden, nicht als Synonym von .Meinen') immer impliziert, daß das, was der Sprecher glaubt, seiner Auffassung nach gar nicht anders sein kann, aber daß es doch auch nicht mit Gründen beweisbar ist. Erst derjenige, der sagt: „ich weiß, daß ...", hat auch das Bewußtsein, über zureichende Gründe zu verfügen. Wenngleich diese Unterscheidungen Kants auf den ersten Blick treffend und durch den Sprachgebrauch gestützt scheinen, so zeigt eine genauere Analyse doch sehr bald, daß das Meinen, das Kant hier vor Augen hat (das der-Ansicht-Sein), keineswegs den ganzen Umkreis der Verwendungen dieses Ausdrucks deckt7. In einem gänzlich ändern Sinn fungiert ,Meinen' in Sätzen wie: „Ich meine Sie, nicht Ihren Nachbarn." oder: „Das Wort ,Spleen* meint im Englischen, im Französischen und im Deutschen jeweils etwas anderes." Wir können ,Meinen* in dieser Bedeutung das ,intentionale Meinen' nennen8. Die BedeutungsdirTerenz von ,der-Ansicht-Sein* und jintentionalem Meinen* spiegelt sich in einer Differenz der Grammatiken: das Was (der Inhalt) des Meinens als der-Ansicht-Seins läßt sich immer durch einen unmittelbar folgenden Daß-Satz, nie durch ein substantivisches Akkusativobjekt wiedergeben, während umgekehrt der Inhalt des intentionalen Meinens immer durch ein Akkusativobjekt, nie durch einen unmittelbar folgenden Daß-Satz wiedergegeben wird. 7 Kant kann jedoch im Zusammenhang der Erörterungen, innerhalb deren er die Unterscheidung von .Wissen', .Glauben* und .Meinen' vornimmt, mit Grund auf eine ins Einzelne gehende Unterscheidung der Sprachgebräuche von .Meinen' verzichten, wenn auch ein Hinweis auf andere Bedeutungen sinnvoll gewesen wäre. Im zweiten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre handelt Kant über den Kanon der reinen Vernunft, der, da es einen Kanon des spekulativen Vernunftgebrauchs nicht geben kann, nur den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft betrifft (KdrV A 796 f. B 824 f.). Innerhalb dieser ersten Exposition seiner kritischen Moralphilosophie muß Kant den Begriff des .Glaubens' klären, um die zum moralischen Handeln erforderliche spezifische Gewißheit der Postulate, den moralischen Glauben (A 828 B 856) vom pragmatischen und doktrinalen Glauben (A 824 f. B 852 f.) zu unterscheiden. Die Orientierung an den Begriffen von .Glauben' und .Wissen', die beide Modi des bewußten (= auf Überzeugung beruhenden vgl. A 820 B 848) Fürwahrhaltens bezeichnen, macht es erklärlich, daß auch der Begriff des .Meinens' nur in dem Sinn erörtert wird, in dem er einen Modus des bewußten Fürwahrhaltens meint. 8 Dieser Sinn von .Meinen' müßte hinsichtlich der Differenz des .Meinens' von Ausdrücken und von Personen - der Genitiv jeweils als subjektiver Genitiv verstanden - noch genauer analysiert werden. Für unseren Zweck dürfte die oben gemachte Unterscheidung ausreichen. Es ist jedoch vielleicht der Erwähnung wert, daß einzig .Meinen' im Sinne des Meinens von Personen (gen. subi.) den Charakter eines Aktes hat, alle anderen Bedeutungen dagegen nicht. - Wichtig ist auch, daß die griechischen Entsprechungen von .Meinen' im intentionalen Sinn nicht dem Wortfeld von angehören.

Meinen und Meinung

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In einer dritten Bedeutung9 gebrauchen wir ,Meinen' dort, wo wir sagen: „Das meint er nur." oder „Das meinen Sie bloß, wissen können Sie das gar nicht." Der Unterschied zum intentionalen Sinn von ,Meinen' liegt auf der Hand, denn das Gemeinte ist auch hier wieder - wie beim derAnsicht-Sein - als Deklarativsatz, nicht aber als substantivisches Akkusativobjekt angebbar. Innerhalb dieser grammatischen Parallelität von ,derAnsicht-Sein' (des »bewußten Meinens') und von »Meinen' in dem neuen Sinn, das wir als ,unbewußtes Meinen* charakterisieren können, läßt sich aber auch dieser Bedeutungsunterschied an einer Differenz des Sprachgebrauchs ausweisen. Beim ,unbewußten Meinen' fällt die positiv gebrauchte erste Person des Präsens aus 10. Der Grund für dies grammatische Faktum liegt in der unterschiedlichen Funktion dieser beiden Bedeutungen von »Meinen': im ,der-Ansicht-Sein' ist ein ausdrücklicher Verzicht auf eine Wissensbehauptung impliziert; beim »unbewußten' oder ,bloßen Meinen' dagegen bestreitet der Sprecher des Satzes dem Subjekt von ,Meinen' einen von diesem erhobenen Anspruch auf Wissen; das würde aber bei der absoluten (d.h. die Zeit als Differenzkriterium einschließenden) Identität von Sprecher und Subjekt zu einem Widerspruch führen. Ein vierter Sinn von ,Meinen* verhält sich derivativ zu »Meinen' als ,derAnsicht-Sein': hier ist nicht ein ausdrücklicher Verzicht auf, sondern nur ein Absehen von möglicher Wissensbehauptung gemeint. »Meinen' in dieser Bedeutung dient dazu, den Sinn von eigenen oder fremden Äußerungen wiederzugeben oder zu umschreiben. („Diese Textstelle meint etwas ganz anderes als wir zunächst annahmen.") Dieser Sprachgebrauch von ,Meinen' ist in wissenschaftlicher Rede häufig11. Eine ,Meinung' ist immer der Inhalt eines Meinens, etwas »Gemeintes'. Umgekehrt heißt aber der Inhalt eines Meinens nicht immer ,Meinung'. Beim intentionalen Meinen bezeichnen wir das, was ein Ausdruck meint, als seine ,Bedeutung' oder seinen ,Sinn'; im Fall des intentionalen Meinens von Personen (gen. subi.) fehlt uns für das Gemeinte eine allgemeine Bezeichnung. 9 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier angemerkt, daß die Ausdrücke »Sinn* und jBedeutung' im folgenden nicht unterschieden und beide so gebraucht werden, wie Frege ,Sinn' gebraucht (Vgl. G. Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung (ed. G. Patzig). Göttingen 1966, 41). 1° Flier liegt also der Fall vor, von dem Wittgenstein sagt: „Gäbe es ein Verbum mit der Bedeutung ,fälschlich glauben', so hätte das keine sinnvolle erste Person im Indikativ des Präsens." (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften. Frankfurt 1960, 500) 11 »Meinen' in dieser Bedeutung kann z. B. nicht, wie bewußtes oder unbewußtes .Meinen', durch »Glauben* ersetzt werden.

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

Dagegen kann der Inhalt eines Meinens in den drei anderen Bedeutungen von jMeinen* immer als ,Memung' bezeichnet werden. Überall dort, wo wir es also mit einem ,Meinen-daß' zu tun haben, können wir auch von einer »Meinung* sprechen. Meinungen sind daher immer als Urteile formulierbar. Da aber die Wahrheit von „Ich meine, daß p" im Unterschied zu „ich weiß, daß p" nicht die Wahrheit von p impliziert, gibt es sowohl wahre wie falsche Meinungen. Wir können auf Grund dieser Analysen schon hier auf eine Bedeutungsdifferenz des griechischen Ausdrucks , ' hinweisen. Auch dieses Wort dient sowohl zur Bezeichnung der bloßen Meinung (z. B. Pol. V, 476 c 8-9) wie der bewußten Meinung, der Ansicht. In dieser zweiten Bedeutung wird , ' im ,Sophistes' als ,Ergebnis einer Überlegung' definiert (Soph. 264 b i). Die mangelnde Beachtung dieser unterschiedlichen Bedeutungen von , ' hat gelegentlich dazu geführt, daß man einen Wechsel in der Bewertung desselben Phänomens sah, wo Platon nur einen Ausdruck in verschiedener Bedeutung benutzte12. b) Erkennen und Kennen Ebenso wie »Meinen* kann ,Erkennen* sowohl mit einem substantivischen Objekt als auch mit einem Daß-Satz verbunden werden. Doch liegt der damit verbundene Bedeutungsunterschied hier weniger offen zu Tage als bei ,Meinen'. Die Grammatiken von ,Erkennen-daß' und ,Etwas-Erkennen' sind, von dem genannten Unterschied abgesehen, parallel. So kann im Gegensatz zum intentionalen Meinen - beim ,Etwas-Erkennen* eine Verneinung auch auf das Verbum bezogen sein: man kann mit Sinn von jemandem, der einen Gegenstand zu erkennen behauptet, sagen, daß er diesen Gegenstand nicht erkenne, sondern nur zu erkennen meine (z. B. bei einem Halluzinierenden). Sachlich ist die Differenz der beiden Bedeutungen von ,Erkennen' leicht anzugeben: das gegenständliche Erkennen (Erkennen mit einem substantivischen Objekt) ist stets auf die sinnliche Präsenz des Erkannten angewiesen - es sei denn, das grammatische Objekt bezeichne in Wahrheit einen Sachverhalt, etwas, das sich also in einen Daß-Satz ausartikulieren läßt. (Eine Wahrheit, einen Fehler, eine Täuschung erkennen.) ,Erkennen-daß* hingegen ist nicht an die sinnliche Präsenz des Erkannten gebunden. (Vgl.: „Ich erkenne, daß jemand auf mich zukommt." und „Ich erkenne, daß ich getäuscht worden bin.") 12 Vgl. z. B. Stenzel, Studien 32 ff.

Erkennen und Kennen

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Seiner Grammatik nach ist ,Erkennen' von »Meinen* auch dadurch unterschieden, daß nicht nur grammatische Objekte und Daß-Sätze, sondern auch Umstandssätze und indirekte Fragesätze von ihm abhängen können. Darin ist es den Sprachgebräuchen von ,Wissen' verwandt, das allerdings nicht mit derselben Durchgängigkeit wie »Erkennen' substantivische Objekte mit sich führen kann. Die Grammatik von »Erkennen* ist weitgehend der der Verben des Wahrnehmens analog. Auch diese können substantivische Objekte, DaßSätze und - allerdings nur in bestimmten Fällen - Umstandssätze und indirekte Fragesätze nach sich haben. Am weitesten scheint dabei die Kongruenz der Sprachgebräuche von ,Sehen' und ,Erkennen' zu gehen13. Diese formale Parallelität zwischen den Sprachgebräuchen der verba percipiendi und der Grammatik von ,Erkennen' wird nun dadurch auch inhaltlich gestützt, daß im Fall des mit einem Objekt konstruierten ,Erkennens', sofern das Objekt nicht für einen Sachverhalt steht, also durch einen Daß-Satz sinngleich ersetzt werden kann, stets eines der verba percipiendi oder auch deren Oberbegriff »Wahrnehmen* an die Stelle von ,Erkennen' treten kann14. Daß diese Inklusion des Objektbereiches von ,Erkennen' in den der verba percipiendi nicht selbstverständlich ist, zeigen etwa die grammatischen Objekte, die »verstehen' mit sich führt. (Jemand versteht Französisch, das Klavierspiel, die Motive eines Menschen, sein Handwerk. Nirgends ist hier ,verstehen* durch .wahrnehmen' zu ersetzen.) Versuchen wir nun, dieses semantische Material unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu interpretieren, so ist zunächst wichtig, daß innerhalb des semantischen Feldes von ,Erkennen' das gegenständliche Erkennen eine eigentümliche Dominanz besitzt, eine Art Modellfunktion. Das Erkennendaß ist am Leitbild des gegenständlichen Erkennens orientiert, was dadurch 13

»Hören* im Sinne des akustischen Vernehmens kann z. B. nicht einen Daß-Satz regieren, dessen Verbum zum Hauptsatz im Verhältnis der Vorzeitigkeit steht - dann heißt »Hören1 soviel wie ,Gesagtbekommenhaben'. Bei »Erkennen1 wie bei »Sehen' ist diese Konstruktion jedoch möglich. 14 »Erkennen* in dem erörterten Sinn ist also immer mit bestimmten Wahrnehmungsakten verknüpft, aber es ist deshalb nicht Oberbegriff zu den verba percipiendi oder zu »Wahrnehmen*. Wäre es nämlich Genus dieser Ausdrücke, so müßte nicht nur »Erkennen* im erörterten Sinn immer durch ein entsprechendes verbum percipiendi, sondern auch umgekehrt jedes verbum percipiendi durch »Erkennen* ersetzbar sein. Das ist jedoch nicht durchgängig möglich: „Ich höre ein Glockenzeichen" impliziert nicht „Ich erkenne ein Glockenzeichen". »Erkennen* setzt im Unterschied zu »Wahrnehmen* die Intention auf ,Erkennen* voraus (die allerdings habituell geworden sein kann). Es ist ähnlich wie »Beobachten* eine Weise theoretischen Verhaltens, in der das Wahrnehmen in Dienst genommen ist für Zwecke, die jenseits des unmittelbaren Wahrnehmens liegen können.

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

erleichtert wird, da Sachverhalte auf einen spezifischen oder generellen substantivischen oder pronominalen Ausdruck gebracht werden k nnen; unter diesem Titel scheinen sie dann den gegenst ndlichen Objekten analog zu fungieren. Diese Dominanz des gegenst ndlichen Erkennens hat seinen Grund, so scheint mir, in der Parallelit t der Sprachgebr uche von ,Erkennen' und der Verben des Wahrnehmens, insbesondere aber in der Substituierbarkeit von ,Erkennen', wo es mit einem gegenst ndlichen Objekt konstruiert ist, durch »Wahrnehmen' oder eines der verba percipiendi; hier wirken die parallelen Sprachgebr uche gewisserma en wie ein Resonanzboden. Es ist das Modell gegenst ndlichen Sehens, das wir - Wittgensteinisch gesagt - als Bild im Kopf haben, wo wir von ,Erkennen' reden. W hrend ,Erkennen' - ebenso wie ,Wahrnehmen' - einen aktuellen Vollzug meint, bezeichnet ,Kennen' - wie auch , Wissen' und (jedenfalls in bestimmten Bedeutungen) »Verstehen4 - eine Disposition15. Anders als jWissen' und ,Verstehen' und die bisher er rterten Ausdr cke regiert ,Kennen' jedoch ausschlie lich Akksativobjekte, nie einen Nebensatz. Das grammatische Kriterium, mit dem wir bei den oben durchgegangenen Ausdr kken Bedeutungsunterschiede aufgedeckt haben, l t sich also bei ,Kennen' nicht anwenden. Dennoch haben wir es auch hier mit verschiedenen Bedeutungen zu tun. Man kennt einen Menschen nicht im selben Sinn wie eine Sprache oder wie seinen Namen. F r die Zwecke unserer Untersuchung k nnen wir auf eine ins Einzelne gehende Verzeichnung der unterschiedenen Sinne dieses Wortes verzichten und uns mit einer relativ rohen, am Sprach15

Es war vor allem G. Ryle, der darauf hingewiesen hat, da ,to know' dispositionalen Sinn hat (vgl. The Concept of Mind. 3Harmondsworth 1966, 112, 128 f.). Die von Ryle korrigierte Vorstellung, da ,to know' ein Ereigniswort sei (einen Akt bezeichne), scheint auf John Locke zur ckzugehen, der zu Beginn des vierten Buchs seines ,Essay' (IV, 1,2) zun chst ,knowledge' durch den Begriff der ,perception' bestimmt - woran schon Leibniz Ansto nahm (vgl, Nouveaux Essais, Philos. Schriften (ed. Gerhardt) Bd. V, 338 f.) - und dann die Unterscheidung von .actual knowledge' (= Denken eines Gewu ten) und .habitual knowledge' einf hrt( vgl. Essay IV, 1,8). Dieser durch Locke etablierte Sprachgebrauch von einem .aktuellen Wissen' hat seinen Ursprung m glicherweise im Mi verst ndnis einer Aristotelesstelle. In Anal. Prior. B 21, 67 b 3-11 erw hnt Aristoteles als einen Sinn von έπίστασθαι u. a. auch das έπίστασθαι ως τφ ένεργεΐν (b 5 vgl. την χατά το ένεργεΐν έπιστήμην b 9)· Da an dieser Stelle jedoch nicht ein „actual knowledge" (wie Tredennick in der Loeb-Edition bersetzt) im Sinne Lockes gemeint ist, macht der Gegenbegriff klar. Aristoteles will hier n mlich von dem blo latenten Wissen, das z. B. jemand hat, der zwar die Pr missen einer bestimmten Folgerung kennt, aber diese noch nicht als Pr missen zusammengedacht hat und also auch noch nicht die Folgerung kennt, eben solch ein wirkliches Wissen unterscheiden (vgl. B 21, 67 b 8-n). An anderer Stelle widerlegt Aristoteles ausdr cklich die Vorstellung, .Wissen' (έπίστασθαι) k nne ein .Denken' (διανοεΐσθαι) sein (vgl. Top. B 10, 114 b 32-36).

Erkennen und Kennen

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gebrauch leicht ablesbaren Unterscheidung zweier Hauptbedeutungen begnügen: offenbar gebrauchen wir ,Kennen' in verschiedenem Sinn, wo wir es hinsichtlich eines ,besser* und schlechter' mit dem ,Kennenc eines artgleichen Gegenstandes vergleichen können, und dort, wo die Möglichkeit dieses Vergleichs nicht besteht. Eine Person kenne ich besser oder schlechter als eine andere, ebenso eine Stadt, eine Sprache, ein Wissensgebiet. All dies muß ich, wie wir sagen, „kennenlernen". Von einem ,Kennenl tout court reden wir dagegen bei einem Witz, einer Melodie, einem Wort oder Namen, einem Bild, einem Gesichtsausdruck usf. (Ein Buch kann man in dem einen oder ändern Sinn ,kennen': je nachdem, ob man es durchstudiert oder gelesen hat.) Nur der zweite Sinn von ,Kennen' aber soll uns hier interessieren, denn ,Kennen' in diesem Sinn meint das Sich-Vergegenwärtigen-Können und Wiedererkennen-Können von Wahrgenommenem und bildet auf der Seite der Dispositionsausdrücke das Pendant zu den Akten des gegenständlichen Sehens und Wahrnehmens - analog zu der Funktion, die ,Wissen-daß' für die Akte des Sehens-daß und Wahrnehmens-daß hat. Nun verleiht aber jener Modellcharakter des gegenständlichen Sehens, der schon für die Dominanz des gegenständlichen Erkennens über das Erkennen-daß veranwortlich ist, auch dem Kennen einen unbewußten paradigmatischen Charakter für die Vorstellungen, durch die ,Wissen' ausgelegt wird. Wissen ist unausdrücklich nach einem Modell von oder in Analogie zu Kennen gedacht, nämlich als ein Sich-Vergegenwärtigen-Können. Nun liegen im Begriff des ,Kennens' bestimmte formale Implikationen, die durch dessen Modellcharakter illegitimerweise auf dem semantischen Gebiet von .Wissen' Einlaß finden und gerade im philosophischen Gebrauch dieses letzteren Begriffes virulent werden. Diese Implikationen lassen sich am besten in der Weise verdeutlichen, daß man die Differenz von ,Kennen' und ,Wissen' bestimmt, wobei ,Wissen* hier als ,Wissen-daß' verstanden sein soll. ,Kennen' indiziert im Gegensatz zu ,Wissen' keine Unterscheidungs- und Synthetisierungsleistung, die das Bekannte qua Bekanntes in sich differenziert. Diese fundamentale Differenz hat nun eine höchst wichtige Konsequenz für den Sinn der Verneinungen von ,Wissen* und ,Kennen'. Daß das, was ich weiß, immer wahr ist, impliziert nicht, daß das, was ich zu ivissen glaube, wahr ist; dieses kann auch falsch sein. Die Urteilsstruktur ist die formale Bedingung von Wahrheit wie von Falschheit. Rissen' hat daher nicht nur den Gegenbegriff des — ausdrücklichen oder nicht ausdrücklichen — Nicht-Informiertseins über einen (wahren) Sachverhalt, sondern ebenso auch den des Irrtums, des Für-wahr-Haltens eines falschen

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

Sachverhaltes. Umgekehrt hat das, was ich kenne, als Bekanntes gerade nicht den Charakter von Wahrheit (oder Falschheit), obwohl ich natürlich auch solches kennen kann, was an ihm selber den Charakter von Wahrheit oder Falschheit hat: jemandes Urteil oder Meinung. Aber Kennen oder NichtKennen von etwas wird durch den möglichen Wahrheitswert des Bekannten nicht tangiert. Dieser Umstand, daß etwas, das ich kenne, als Bekanntes gerade nicht schon, wie etwa Gewußtes, die formale Bedingung für Wahrheit und Falschheit erfüllt, ist nun der Grund dafür, daß die Möglichkeit, von vermeintlichem Kennen zu reden, eigentümlich eingeschränkt ist. Von ,vermeintlichem Kennen* scheinen wir zunächst unter der Bedingung reden zu können, daß das Bekannte unter einem spezifischen Titel, allgemeiner: als in einer bestimmten Relation stehend bekannt ist. In Fällen also, wo ich um das obige Beispiel aufzugreifen - jemandes Meinung nicht kenne, sondern nur zu kennen glaube, weil ich über sie belogen worden bin, oder wo ich jemandes Bruder irrtümlicherweise zu kennen meine, weil man mir jemanden fälschlich als solchen vorgestellt hat. In dieser Weise durch Relativität ist aber Bekanntes nicht nur in den genannten Fällen einer expliziten Relativität bestimmt, sondern immer dann, wenn es unter irgendwelchen Titeln bekannt ist: „Herrn Meier kennen", heißt jemanden unter dem Namen ,Meier' kennen; ,Name', /Titel', ,Kennzeichnung' sind aber Ausdrücke, mit denen zweistellige Relationen dargestellt werden. Name ist immer Name von etwas. In all diesen Fällen einer semantischen Interpretiertheit des Bekannten ist Irrtum möglich; aber das vermeintliche Kennen dieses Typs unterscheidet sich vom vermeintlichen Wissen in einer fundamentalen Hinsicht. Während ich nämlich beim vermeintlichen Wissen in der Tat nichts weiß, bleibt beim vermeintlichen Kennen des gerade erörterten Typs das Kennen des gekannten Objekts rein als solchen von dem Irrtum ganz unberührt: die erzählte Meinung, die vorgestellte Person kenne ich wirklich (ich kann sie z. B. wiedererkennen oder beschreiben), ich weiß nur nicht, wen oder was ich da kenne. Der Irrtum liegt hier gar nicht im Kennen als solchen, sondern im vermeintlichen Wissen über das Bekannte. ,Kennen' als das Sich-Vergegenwärtigen-Können und WiedererkennenKönnen von etwas, das man wahrgenommen oder zur Kenntnis genommen hat, ist in einer Weise immun gegen Vermeintlichkeit, gegen Irrtum, die es von ,Wissen' scharf unterscheidet. Was ich zu kennen meine, kenne ich in der Regel auch. Anders als , Wissen', das einen doppelten Gegenbegriff hat, den des Irrtums und den des bewußten Nichtwissens, hat ,Kennen' darum nur den einfachen Gegensatz der Unkenntnis, des Noch-nicht-damit-

Wissen

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bekannt-geworden-Seins: was man kennt, kann man sich vergegenwärtigen, was man nicht kennt, nicht. Wissen nach dem Modell des Kennens und damit Gewußtes analog zu Bekanntem verstehen, heißt die Urteilsstruktur überspringen, die Gewußtes als solches charakterisiert. Die unmittelbare Folge davon ist, daß nun auch Wissen und Nichtwissen in einer einfachen Dichotomic (wie Kennen und Unkenntnis) auseinandertreten. Nichtwissen wird als die Absenz eines Wissensinhaltes, Wissen als dessen Präsenz im Gedächtnis vorgestellt eine Unterscheidung, in der die Möglichkeit vermeintlichen Wissens, die Möglichkeit von Irrtum eigentümlich abgeblendet ist. c) Wissen Die Grammatik von , Wissen* scheint zunächst ganz analog der von ,Meinen' und ,Erkennen* konstruiert: ,Wissen* kann sowohl mit einem Objekt wie mit einem Daß-Satz verbunden werden und wie ,Erkennen' können auch ihm indirekte Fragesätze und Umstandssätze folgen. Aber gegenüber den genannten beiden Verben ist bei ihm der Gebrauch von Akkusativobjekten eigentümlich eingeschränkt — hierin unterscheidet es sich auch vom englischen ,to know', das den Bedeutungsumfang von ,Kennen* mit deckt. Man kann einen Weg, ein Mittel, einen Namen, eine Parole ,wissen', aber nicht eine Stadt oder ein Haus, ein Buch oder einen Menschen - was alles man »erkennen* oder ,meinen* kann. (Ich übergehe den altertümlichen und manierierten Gebrauch von ,wissen' mit reflexivem Dativ, der diesen Einschränkungen nicht unterliegt.) Es ist zunächst nicht erkennbar, welchen Regeln der Sprachgebrauch von .wissen' folgt, wenn er ,einen Weg wissen' als mögliche, ,eine Stadt wissen' als unmögliche Konstruktion gelten läßt. Aber diese Regel läßt sich dennoch sehr schnell ans Licht bringen. Alle jene Objekte, die wir gerade von einer akkusativischen Verbindung mit ,wissen' ausgeschlossen haben, können nämlich sehr wohl von ,wissen' abhängig sein, sofern sie durch einen Relativsatz spezifiziert sind. ,Ich weiß jemanden, der uns helfen könnte'. ,Ich weiß ein Haus, in dem wir uns treffen könnten*. Das gibt uns nun auch den Schlüssel für jene Regel, nach der die Ausdrücke, die ohne solche Spezifizierung an ,Wissen' angeschlossen werden können, ausgewählt sind: es sind nämlich entweder überhaupt Relationsbegrifie (z. B. ,Name') oder sie fungieren in der Verbindung mit /Wissen' als RelationsbegrifTe (z.B. ,Weg'). Was hier gewußt wird, ist also

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nicht ein Gegenstand tout court, sondern eine Beziehung, deren anderes Glied sich aus dem jeweiligen Kontext der Situation ergibt. Diese Beziehung ist aber immer auch als Nebensatz formulierbar: ,einen Weg wissen' heißt z. B. ,wissen, wie man nach ... kommt'. Ähnlich können auch die durch einen Relativsatz spezifizierten Objekte in einen Daß-Satz überführt werden. ,Ein Haus wissen, in dem man sich treffen kann' heißt oder impliziert doch ,wissen, daß man sich in dem und dem Haus treffen kann'. Wo ,Wissen' ein Objekt hat, vertritt dies also einen Sachverhalt, etwas, das in sich unterschieden ist und als Satz formuliert werden kann. Es ist ein durch die Grammatik von ,Wissen' erzeugter Schein, daß ,Wissen', wo es mit einem Objekt konstruiert ist, in derselben Weise auf einen Gegenstand bezogen ist, wie ,Kennen* oder ,Erkennen' und die verba percipiendi. Jene Modellfunktion, die ,Kennen' für ,Wissen' hat, besitzt so im Sprachgebrauch von ,Wissen' selber einen Grund. Auch für den Fall präpositional angeschlossener Substantiva, also bei ,wissen von' und ,wissen um', läßt sich dieser propositionale Charakter von Gewußtem aufweisen, obgleich hier die substantivischen Ausdrücke keine Relationsbegriffe sein müssen: der propositionale Sinn wird durch die beiden Präpositionen hergestellt. ,Jemand weiß von/um A' meint, daß ihm das pure Daß von A bekannt ist, was nicht identisch ist mit dem Bekanntsein von A16. Auch dort also, wo wir von einem ,Wissen um* oder ,Wissen von' reden (und der letztere Sprachgebrauch ist in philosophischer Rede häufig), vertritt der substantivische Ausdruck nicht einen Gegenstand, sondern die Artikuliertheit eines SachVerhaltes. Weil diese Sachverhalte sich stets auch als Daß-Sätze ausdrücken lassen, können wir die bislang behandelten Sprachgebräuche von ,Wissen* unter dem Titel von ,Wissen-daß* zusammenfassen. Es gibt aber neben den erörterten einen Sprachgebrauch von ,Wissen', der nicht auf ein ,Wissen-daß' rückführbar ist, nämlich ,Wissen' mit angeschlossenem Infinitiv: ,wissen-zu'. So sagen wir, daß jemand ,zu leben weiß' oder daß er ,sich gut aus einer Affäre zu ziehen weiß'. Wissen-zu unterscheidet sich von Wissen-daß wie von Kennen dadurch, daß es gar nicht vom Typ einer Disposition ist, die zu einem theoretischen Verhalten führt; es ist nicht von einem Tun, der Anwendung einer Fertigkeit abtrennbar17. In 16 „B wußte von dem/um den Schatz" heißt soviel wie „B war die Existenz des Schatzes bekannt", nicht aber „B war der Schatz bekannt". - Im Unterschied zu ,Wissen von' charakterisiert dabei ,Wissen um' dies Wissen als exklusiv. 17 ,Wissen-zu' entspricht Kyle's ,knowing-how' (vgl. The Concept of Mind 28 - 32 u. ö.). Man kann an den von Ryle angegebenen Beispielen leicht nachprüfen, daß ,knowing-

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dieser Bedeutung ist , wissen' immer durch , verstehen* ersetzbar, während die analoge Substitution bei ,wissen-daß* mit einer Sinnveränderung einhergeht, wenn sie überhaupt möglich ist 18 . (Vgl. ,Ich weiß, daß er heute nicht kommt* und ,Ich verstehe, daß er heute nicht kommt'.) d) Meinen und Wissen In welcher Bedeutung werden nun ,Meinen* und ,Wissen' gebraucht, wenn sie in Opposition zueinander stehen, wenn sie also durch das sprachliche Schema eines ,nicht ..., sondern ...' verknüpft oder verknüpfbar sind19? Hier können wir den zuletzt erörterten Sinn von »Wissen' offenbar a limine ausscheiden. Zwar gibt es eine dem ,Wissen-zu' formal analoge Konstruktion mit ,Meinen', aber diese beiden Sprachgebräuche stehen nicht in einem Verhältnis der Entgegensetzung: ,er weiß zu schwimmen', kontrastiert nicht einem ,er meint zu schwimmen'. ,Meinen-zu' ist eine Kurzform für ,Meinen-daß', die dort eintreten kann, wo das Subjekt von ,Meinen' und abhängigem Verbum identisch ist. Ebensowenig wie ,Wissen' im Sinne von ,Verstehen' zu ,Meinen' kann umgekehrt das intentionale ,Meinen' in ein Oppositionsverhältnis zu »Wissen* kommen; das ergibt sich schon aus der oben bei Erörterung dieser Bedeutung von ,Meinen' bemerkten Eigentümlichkeit, daß intentionales Deinen' nur direkte Akkusativobjekte, nie Daß-Sätze regiert. how' ein ,knowing-how-to ...' meint. Die Übersetzung durch ,Wissen wie' ist irreführend, denn im Deutschen entfällt bei direkter Übersetzung der englischen Infinitivkonstruktion die Präposition. Umgekehrt ist .wissen' in der Verbindung mit einem durch ,wie' eingeleiteten Nebensatz grammatisch nicht mehr von Fällen des .knowing that' unterscheidbar. „I know how the burglar got into my flat" ist im Englischen wie im Deutschen ein Fall von ,Wissen-daß'. Die von den Übersetzern des Ryle'schen Buches gewählte Wiedergabe von ,knowing-how' durch ,können' ist mißlich, da ,können' neben Fähigkeiten auch die bloße Möglichkeit, etwas zu tun, charakterisieren kann. (Vgl. G. Ryle, Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969, 26 Anm. d. Übers.) 18 Nur bei .wissen-zu' gibt es also eine - partielle - Kongruenz der Grammatiken von .Wissen' und .Verstehen' (vgl. Wittgenstein, Philos. Untersuchungen § 150. Schriften a. a. O. 356). l' Auf den kategorialen Unterschied von .know' und .believe' hat wiederum G. Ryle hingewiesen. „.Know* is a capacity verb ... .Believe', on the other hand, is a tendency verb" (The Concept of Mind 128). Gerade wegen dieser kategorialen Differenz ist jedoch wichtig, daß die durch ,to know' bezeichnete Fähigkeit jedenfalls im Fall des .knowing that' (und nur in diesem Sinn tritt ,to know' in Opposition zu ,to believe') immer auch die Tendenz eines Meinens impliziert. Anders wäre die Rede vom ,Zu-wissen-meinen' nicht erklärbar.

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

Wo Rissen' und ,Meinen* einander opponiert sind, haben wir es also immer mit einem ,Wissen-daß* und ,Meinen-daß* zu tun. Nur insofern diese beiden Ausdrücke Urteile zum Inhalt haben, treten sie in das Verhältnis einer Entgegensetzung. Es ist die Analogie der Sprachgebräuche, die den Boden der inhaltlichen Entgegensetzung bildet. Aber auch innerhalb dieser grammatisch parallelen Verwendungsweisen sind auf beiden Seiten noch Differenzierungen notwendig. So ist zunächst evident, daß ,Meinen-daß' im Sinne eines ,Sagen-Wollens-daß* jenseits des Unterschiedes von .Wissen' und ,Nicht-Wissen' Hegt, in den sich die Differenz von ,Wissen' und ,Meinen' einzeichnen läßt. In seinen beiden anderen Bedeutungen aber ist ,Meinen-daß* der Entgegensetzung zu ,Wissen* fähig: wir können sowohl sagen: „ich meine, daß er das und das gesagt hat, aber ich weiß es nicht genau" wie auch: „das, was er da sagt, weiß er keineswegs, sondern meint es bloß (zu wissen)". Doch sind gewußtes* und ,unbewußtes* Meinen nicht in derselben Weise einem ,Wissen* entgegengesetzt. Vielmehr hat das ,unbewußte* Meinen hier einen eigentümlichen Vorrang, der grammatisch daran abzulesen ist, daß das ,unbewußte Meinen* immer ein Nicht-Wissen meint, also durchgängig zu ,Wissen* in Opposition steht, während das ,bewußte* Meinen häufig etwa zur Einführung von Vorschlägen gebraucht wird, in einem Zusammenhang also, in dem von einer Konkurrenz zu ,Wissen' gar nicht gesprochen werden kann („Ich meine, wir sollten das und das tun."). Das unbewußte Meinen ist deshalb der eigentliche Gegensatz des Wissens (im Sinne von ,Wissen-daß'), weil es vermeintliches oder eingebildetes Wissen ist. Dieser Charakter der Vermeintlichkeit unterscheidet es noch in einem weiteren wichtigen Punkt vom bewußten Meinen: wer sagt „ich meine, daß p" (und damit eine Feststellung und keinen Vorschlag macht), weiß, daß er das, was er da meint, nicht weiß; von wem es dagegen heißt „das meint er bloß", der weiß gerade nicht, daß er nicht weiß. Dieses Nichtwissen eines Nichtwissens, das das unbewußte Meinen, den Irrtum auszeichnet, ist aber in spezifischer Weise auch von dem gänzlichen Nichtwissen, dem ,Nichts-davon-Wissen* unterschieden (diesen Ausdruck in dem Sinn genommen, in dem wir etwa von jemandem, dem ein Vorfall verheimlicht wird, sagen, daß er ,nichts davon weiß'). Im Unterschiede zum Nichts-davon-Wissen ist das bloße Meinen nämlich gegen die Möglichkeit des Lernens und Belehr t Werdens abgedichtet; daß es vermeintliches Wissen ist, impliziert gerade, daß ihm das wirkliche Wissen seinerseits als nur vermeintliches vorkommt. An dieser Gestuftheit der Bedeutungen, in denen ,Meinen-daß' einem

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,Wissen-daß' gegenüberstehen kann, zeigt sich spiegelbildlich die durchgängige reflexive Struktur, die ,Wissen-daß' überhaupt bestimmt. Nur weil in ,Wissen-daß' immer liegt, daß ein Sachverhalt gewußt wird und zugleich dies Gewußtsein als solches gewußt wird, gibt es ein .Meinen' als .NichtWiasen-daß' in einem zweifachen Sinne: als .bewußtes' Meinen (.Vermuten', ,Glauben' etc.) und als .unbewußtes' Meinen (.bloßes' Meinen, Irrtum). Wir haben bislang von ,Wissen-daß' in einem undifferenzierten Sinn als Gegenbegriff zu .Meinen-daß' gesprochen. In diesem undifferenzierten Gebrauch ist aber eine fundamentale Bedeutungsdifferenz von ,Wissen-daß' unterschlagen. Wir können, um die gemeinte Unterscheidung sowie die von ihr abhängigen Implikationen aufzuzeigen, von einer Diskussion ausgehen, die in der sprachanalytischen Philosophie über den Sinn bzw. den semantischen Typus des Ausdrucks .Wissen' geführt worden ist. J. L. Austin hat bekanntlich die These aufgestellt, daß ,1 know' ähnlich wie ,1 promise' nicht zur Klasse deskriptiver, sondern zu der performativer Ausdrücke gehöre: „To suppose that ,1 know' is a descriptive phrase, is only one example of the descriptive fallacy, so common in philosophy." :o Dabei hat Austin Wendungen vor Augen wie: „Ich weiß, daß er wütend ist", einen Sprachgebrauch von .Wissen' also, dessen Gegensatz .Glauben* (believe) ist. Nun läßt sich allerdings schnell zeigen, daß die Austinsche Behauptung in ihrer Allgemeinheit nicht haltbar ist. Es liegt auf der Hand, daß in Fällen, in denen ich etwa jemandem, von dem mir bekannt ist, daß er weiß, daß p, sage: ,Ich weiß, daß p' (etwa um ihm anzuzeigen, daß ich es nun auch und er es nicht mehr allein weiß), der Ausdruck .ich weiß* nicht den Charakter der Versicherung, sondern den der Unterrichtung hat. Er dient dazu, meine Informiertheit hinsichtlich eines Sachverhaltes zu beschreiben bzw. über diese zu informieren. Das wurde Austin auch bald kritisch von Chisholm etwa oder Harrison entgegengehalten 21. 20

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J. L. Austin, Other Minds, in: Philosophical Papers, Oxford 1961, 71. - Es ist zwar richtig, worauf J. O. Urmson hingewiesen hat (Parenthetical Verbs, in: Caton (ed.), Philosophy and Ordinary Language. Urbana 1963, 233), „that Austin is careful not to say that know is a performatory verb", aber die Differenzen, die Austin etwa zwischen ,1 promise' und ,1 know' aufdeckt, werden von ihm nicht ausdrücklich als Differenzen zwischen verschiedenen Typen nicht-deskriptiver Sätze in Anspruch genommen. Vgl. etwa Austin a. a. O. 70 Anm. i. Vgl. R. M. Chisholm, Theory of Knowledge. Englewood Cliffs 1966, 15 ff. bes. 17. J. Harrison, Knowing and Promising, in: Knowledge and Belief (ed. Griffiths). Oxford 1967, 120 - 126 bes. 125.

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Nun scheint der eigentliche Mangel in dieser Auseinandersetzung und vor allem auch in der Kritik der Austinschen These darin zu liegen, daß nicht bemerkt wird, wie in den jeweils aufgebotenen Beispielen zwei ganz verschiedene Sprachgebräuche von ,Wissen-daß' durcheinanderlaufen. Sage ich nämlich zu jemandem, der mich über etwas mir schon Bekanntes unterrichten will, ,Ich weiß es (schon)', oder frage ich in umgekehrter Situation .Wissen Sie (schon), daß . ..', so hat ,Wissen* hier einen ändern Sinn als in: ,Ich weiß (wirklich), daß er wütend ist* oder ,Wissen Sie (wirklich), daß . . Im ersten Fall - die Beispiele der Kritiker Austins sind von diesem Typ - heißt ,ich weiß' soviel wie ,mir ist bekannt', im zweiten Fall an diesen Sprachgebräuchen hatte sich Austin orientiert — ist diese Ersetzung, wenn überhaupt, nicht ohne Sinnveränderung möglich. Die Differenz läßt sich noch bestimmter angeben, wenn wir — einer Regel des Aristoteles folgend (vgl. Top. A 15,106 a 10-23; 106 b 13-28) - die jeweiligen Gegenbegriffe aufsuchen: das ,ich weiß (schon), daß* hat seinen Widerpart in einem ,ich weiß (noch) nicht', ,mir ist nicht bekannt' bzw. ,er weiß nichts davon, daß'; dem ,ich weiß (wirklich), daß' steht ein ,ich meine (glaube, vermute), daß' bzw. ein ,er meint bloß, daß' gegenüber. Es mag der Einfachheit halber erlaubt sein, diese beiden Bedeutungen von ,Wissen-daß' als ,Schon-Wissen' und »Wirklich-Wissen' terminologisch zu unterscheiden. (Daß die Adverbien die Differenz der Bedeutung nur ausdrücken, nicht aber bewirken, ist an entsprechenden Beispielen leicht nachzuprüfen.) ,Wissen-daß' in der Bedeutung des ,Schon-Wissens' ist nun niemals performativ, auch nicht in dem erweiterten Sinn von ,performativ', den Chisholm für ,Wissen* insgesamt glaubt annehmen zu können und in dem etwa ,ich wünsche' (,I want') gebraucht wird 22 . Dagegen ist ,WirklichWissen* ein performativer Ausdruck in dem erweiterten Sinne: es ist nicht nur Versicherung, sondern will auch Information darüber sein, daß ich im Besitz von Gründen für das als gewußt Behauptete bin. ,Schon-Wissen' hat seinen Gegensatz im ,Noch-Nicht-Wissen'. Die reflexive Struktur von ,Wissen-daß' bedingt aber auch in diesem Typ von ,Nichtwissen' eine analoge Gedoppeltheit wie im ,Meinen-daß'. Das ,NochNicht-Wissen* kann unbewußtes Nichtwissen sein, das ,Nichts-davon-Wissen' im oben23 dargelegten Sinn, und zum ändern bewußtes Nichtwissen, nämlich das ,Noch-Nicht-in-Erfahrung-gebracht-Haben'. Weder das ,Nichtsdavon-Wissen' noch das ,Nicht-in-Erfahrung-gebracht-Haben' ist aber 22

Chisholm a. a. O. 17. 3 S. oben 48.

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.Nichtwissen* im Sinn eines Irrtums. Wird ,Wissen-daß' in der Bedeutung des ,Schon-Wissens' gebraucht, so wird in der Tat nicht auf Wahrheit oder Falschheit, sondern nur auf Bekanntheit oder Unbekanntheit eines Sachverhaltes gesehen. ,Schon-Wissen' kann darum nicht als Gegenbegriff zu Bloßem* oder ,bewußtem' Meinen fungieren. ,Wissen' ist einzig in der Bedeutung des ,Wirklich-Wissens' dem ,Meinen-daß* opponiert. Über diesen Unterschied der beiden herausgestellten Bedeutungen von ,Wissen-daß' darf man sich nun nicht dadurch täuschen lassen, daß ,SchonWissen', ,Bekanntsein-daß' immer in ein ,Wirklich-Wissen* transformiert werden kann 24 . Das geschieht gewöhnlich in der Weise einer Gegenfrage auf einen Satz der Form „Ich weiß, daß...". Diese Frage zwingt zu der Antwort „Ich weiß (wirklich), daß ..." oder zum Zugeständnis, daß man es nicht (wirklich) weiß, wodurch aber auch die Möglichkeit, von ,Wissen' im zuerst gebrauchten Sinn zu reden, abgeschnitten wird. Die Möglichkeit dieses Übergangs vom ,Schon-Wissen' zum ,Wirklich-Wissen' ist darin begründet, daß der gewußte Sachverhalt, jedenfalls sofern er als Daß-Satz formuliert ist, die Struktur des Urteils hat und d. h. daß nach seiner Wahrheit oder Falschheit gefragt werden kann. Im ,Wirklich-Wissen' und im Fragen danach wird die Urteilsstruktur des ,Wissens-daß' gewissermaßen virulent, die im ,SchonWissen* übersprungen d. h. nicht thematisch war. Während ,Wissen Sie schon, daß .. .?' nach der Informiertheit oder Nichtinformiertheit einer Person fragt, zielt die Frage ,Wissen Sie wirklich, daß .. .?' auf Wahrheit oder Unwahrheit einer Behauptung. (Hier gilt es übrigens, auf die Unterschiede von ,Wissen-daß' und ,Wissen' mit angeschlossenem Fragesatz zu achten. ,Wissen Sie wirklich, daß ...?' fragt nach der Wahrheit des Daß-Satzes, ,Wissen Sie wirklich, wer ...?' nach der Wahrheit der Behauptung, informiert zu sein über ...! Das , wirklich* fungiert hier also in verschiedenem Sinn; es spezifiziert in Fragen des zweiten Typs das Wissen nicht zu einem Wirklich-Wissen, sondern kann auch zu ,Schon-Wissen* treten.) Wir können den Unterschied der beiden Bedeutungen von ,Wissen-daß' auch so bestimmen, daß in der einen (,Schon-Wissen') von Wahrheit oder Falschheit des als gewußt behaupteten Sachverhaltes abstrahiert und nur auf seine Bekanntheit oder Unbekanntheit gesehen ist, während in der anderen Bedeutung (,Wirklich-Wissen') dies Verhältnis genau umgekehrt ist: nicht Bekanntheit oder Unbekanntheit, sondern Wahrheit oder Falschheit sind hier thematisch. 24

Die umgekehrte Implikation hält jedoch nicht. Statt „Ich weiß, daß er das nie tun würde" kann ich nicht sagen „Mir ist bekannt, daß er das nie tun würde".

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Indem so in ,Schon-Wissen' auf die bloße Bekanntheit oder Unbekanntheit des SachVerhaltes gesehen ist, wird dieser analog einem Gegenstand, einem Objekt von .Kennen' behandelt. Denn auch die Grammatik von .Kennen' ist durch den Gegensatz des ,Schon' und ,Noch-Nicht' charakterisiert, in dem für die Möglichkeit von Irrtum kein Raum ist. Hatten wir oben schon gesehen, daß die Grammatik von .Wissen', sofern sie nämlich die Konstruktion von ,Wissen* mit einem Objekt erlaubt, den Schein auch inhaltlicher Parallelität von .Wissen' und ,Kennen' erzeugt und so der Modellfunktion von .Kennen* für ,Wissen' Vorschub leistet, so haben wir mit der Unterscheidung des ,Schon-Wissens* vom ,Wirklich-Wissen* eine weitere semantische Parallele zwischen ,Wissen' und ,Kennen' sichtbar gemacht, die gerade wegen der formalen grammatischen Ununterschiedenheit von .SchonWissen' und .Wirklich-Wissen' die semantische Herrschaft dieses Modells nachdrücklich befestigt. Umgekehrt gewinnen wir zugleich ein Kriterium, den unexpliziten Einfluß dieses Modells aufzudecken: an der Unmöglichkeit nämlich, von ihm aus das Phänomen des Nichtwissens im Sinne des Irrtums, der verständlich zu machen. Daß im ,Schon-Wissen* das Gewußte einzig als Bekanntes thematisch ist, schließt mit dem Hinblick auf Wahrheit oder Falschheit auch den auf Begründetheit und Unbegründetheit aus: die Frage nach den Gründen für ein als gewußt Behauptetes setzt immer schon einen Sinn von ,Wissen' voraus, in dem das Gewußte explizit als wahr bestimmt ist. Bei dem, was unter dem Begriff der Bekanntheit steht, gibt es dagegen keine Frage nach den Gründen seiner Wahrheit, sondern nur die nach den Quellen seiner Bekanntheit (,Woher wissen Sie das?*). Bekanntes als solches steht aber deswegen außerhalb der Möglichkeit von Begründung, weil es sich seinem eigenen Anspruch nach auf einen von bestimmtem anderem Bekannten prinzipiell unabhängigen Akt des Zur-Kenntnis-Nehmens gründet. Das schließt freilich nicht aus, daß Bekanntes vom Typ des Sachverhalts aus anderen Sachverhalten erschlossen sein kann und faktisch oft erschlossen ist. Nie ist es aber so an andere Sachverhalte geknüpft, daß sein Bekanntsein einzig auf Grund dieser vorstellbar ist. In dieser prinzipiellen Gleichursprünglichkeit alles Bekannten liegt nun, daß Bekanntes sich mit anderem Bekannten zu einer Summe, einem Nebeneinander von Kenntnissen zusammenschließt, nicht aber zu der nach Grund und Folge gegliederten Ordnung eines Wissensganzen, einer Wissenschaft ( ). Ebenso wie die Möglichkeit des Irrtums läßt sich die von Begründung und Beweis - und sie unterscheiden Wirklich-Wissen von bloßer Meinung - auf dem Boden eines Begriffs von Wissen, der an Bekanntsein und Kennen orientiert ist, nicht verständlich

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machen. Aber auch dieser Mangel ist dann umgekehrt ein Indikator des doxischen Vorbegriffes von Wissen25. Resümieren wir unsere Analysen, zunächst hinsichtlich der zuletzt behandelten Frage nach den Bedeutungen von ,Meinen' und ,Wissen', sofern sie in einem Gegensatzverhältnis stehen. ,Wissen', wo es einem ,Meinen' kontraponiert ist, hat stets den Sinn von ,Wirklich-Wissen*; ,Meinen' dagegen tritt in einem doppelten Sinn zu ,Wissen' in Opposition, was wiederum seinen Grund in der reflexiven Struktur von ,Wissen-daß' hat, dem stets ein ,bewußtes' und ein ,unbewußtes' Nichtwissen korrespondiert; entsprechend scheiden sich als Gegensätze des ,Wirklich-Wissens' das ,bewußte* Meinen (Glauben, Annehmen, Vermuten) und das .unbewußte' Meinen (bloße Meinung, Irrtum). Was ,Wirklich-Wissen' wie seine Gegenbegriffe charakterisiert und von ,Schon-Wissen* und dessen entsprechenden Korrelaten unterscheidet, ist das explizite Bezogensein auf Gründe. Wissen in diesem Sinn impliziert den Besitz zureichender d. h. solcher Gründe, die ein Anderssein des als gewußt behaupteten Sachverhaltes ausschließen. Umgekehrt ist das dem ,WirklichWissen' entsprechende »Nichtwissen', das ,bewußte' wie das ,unbewußte4 25

Zum Teil sind die oben gemachten Unterscheidungen, insbesondere die von .Wissen' und .Kennen' in der englischen Platonforschung zur Aufklärung bestimmter systematischer Schwierigkeiten der platonischen Dialoge herangezogen worden. Für die Unterscheidung von .Wissen' und .Kennen' (beides heißt im Englischen ,to know') konnte man sich auf B. Russell berufen, der die .knowledge by acquaintance' von der .knowledge by description' unterschieden hatte; allerdings wurde diese Distinktion Russells insofern modifiziert, als man unter der .knowledge by acquaintance' nicht, wie Russell, das unmittelbare wahrnehmende Gegenwärtighaben („a direct cognitive relation") von Sinnesdaten verstand, sondern das Kennen von Gegenständen (B. Rüssel, Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description, in: Mysticism and Logic. London 1963, 154; vgl. Cross/Woozley, Plato's Republic 177). Die Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, ob Platon überhaupt schon diese Unterscheidung gemacht hatte (vgl. R. C. Cross, Logos and Forms in Plato, Mind 63 (1954) 433-450; R. S. Bluck, Logos and Forms in Plato: A Reply to Professor Cross, Mind 65 (1956) 522 -529; D. W. Hamlyn, Forms and Knowledge in Plato's Theaetetus: A Reply to Mr. Bluck, Mind 66 (1957) 547; R. S. Bluck, .Knowledge by acquaintance* in Plato's Theaetetus, Mind 72 (1963) 259 -263). Sie führte zu der Auffassung, daß das Fehlen der Unterscheidung zweier Typen von .knowledge', für das ein mangelndes sprachkritisches Bewußtsein Platons verantwortlich gemacht wurde, die Irrtümer der platonischen Erkenntnistheorie und Ontotogie mitverursacht haben sollte. (Vgl. zuletzt Cross/Woozley, Plato's Republic 170-177, wo auch auf die Modellfunktion der sinnlichen Wahrnehmung für die Vorherrschaft der .knowledge by acquaintance' über die .prepositional knowledge' hingewiesen wird.) In Deutschland hat G. Patzig seine Platonkritik mit ganz ähnlichen Argumenten vorgetragen (Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, Antike und Abendland 16 (1970) 113-126 s. insbes. 115).

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Erstes Kapitel: Bedeutungsanalytische Voruntersuchungen

Meinen, durch den Mangel an Gründen vom Wissen unterschieden, gewußtes* Meinen weiß, daß es für den Sachverhalt, den es für wahr hält, keine zureichenden Gründe hat, sondern allenfalls solche, die diesen Sachverhalt wahrscheinlich machen. Ein Fürwahr halten als ,bloße Meinung' bezeichnen, heißt, die völlige Grundlosigkeit dieses Fürwahrhaltens behaupten. Wichtiger jedoch als die Sachverhalte, die an der Grammatik von ,Meinen' und ,Wissen' unmittelbar abzunehmen sind, ist der Umstand, daß für die unreflektierte Auslegung von ,Wissen* das Phänomen des Kennens eine - unbewußte - Leitfunktion einnimmt. Für diese Modellfunktion von .Kennen' für ,Wissen' konnten wir bestimmte Parallelen in der Grammatik beider Ausdrücke verantwortlich machen. Aber die Verschränktheit paralleler Sprachgebräuche würde, für sich allein genommen, die Herrschaft des einen Ausdrucks über den ändern ebenso plausibel machen wie das umgekehrte Verhältnis. Der sachliche Grund für die semantische Hegemonie von ,Kennen* über ,Wissen' liegt vielmehr in der paradigmatischen Stellung des sinnlichen Wahrnehmens, das sich als Perzeption von Gegenständen begreift. Die paradigmatische Stellung des sinnlichen Wahrnehmens ist nun ein Befund, der uns die beobachtete semantische Hegemonie von ,Kennen' über ,Wissen' erklärt, der aber nicht durch sie erklärt wird; mit der Aufdeckung der Modellfunktion, die das Erkennen und Kennen wahrnehmbarer Gegenstände für höherstufige kognitive Akte und Dispositionen hat, haben wir ein Phänomen namhaft gemacht, das unabhängig ist von bestimmten Sprachgebräuchen und grammatischen Regelsystemen. Das zu betonen, ist für das Verständnis des methodischen Vorgehens im folgenden notwendig. Denn die folgenden Interpretationen sollen zunächst die Hypothese stützen, daß Platon diese Modellfunktion der sinnlichen Wahrnehmung als Quelle undurchschauter, begrifflicher Fehlinterpretationen von Wissen ( , ) erkannt hat. Die Kongruenz zwischen den Bedeutungen der untersuchten deutschen Ausdrücke und ihrer griechischen Entsprechungen soll jeweils von Fall zu Fall bei der Interpretation untersucht werden. Wir prüfen diese Hypothese zunächst an der zweiten Hälfte des ,Charmides'; dort wird der Begriff des »Wissens des Wissens* .im Zusammenhang der Versuche, eine Definition der Besonnenheit zu geben, erörtert und in Aporien geführt. Als Grund dieser Aporien wird sich die Orientierung am Modell des Kennens herausstellen.

Zweites Kapitel Wissen des Wissens und Vorbegrifi von Wissen im ,Charmides' Innerhalb der Versudie des ,Charmides'1, eine Begriffsbestimmung der Besonnenheit (σωφροσύνη) zu finden, sdieint die Problematik des SichSelbst-Kennens und die an diese Formel anschlie ende Frage nach der M glichkeit eines Wissens des Wissens ( i 6 4 d - i 7 5 c ) eher willk rlich eingebracht: Kritias wirft, so scheint es zumindest bei einer ersten Lekt re, den Gedanken des γιγνώσκειν αυτόν εαυτόν in die Diskussion, weil er sich von Sokrates' Kritik an der ersten von ihm formulierten Definition in die Enge gedr ngt sieht. Kritias' Festsetzung, Besonnenheit sei das Tun des Guten (πραξις των αγαθών 163 e ίο), wurde von Sokrates mit dem Argument kritisiert (vgl. 164 a-c), da es nach dieser Bestimmung auch den Fall eines besonnenen Handelns geben kann, bei dem der Handelnde gar nicht wei , da er besonnen handelt. So wei ein Arzt keineswegs notwendigerweise, ob seine Behandlung anschl gt oder nicht, dennoch mu ihm immer dann, wenn ein Heilerfolg eintritt, zugebilligt werden, da er besonnen gehandelt hat, denn er hat durch sein Handeln ein Gut, die Heilung des Patienten bewirkt (vgl. i 6 4 b 7 ~ 0 3 ) . Da aber dieser Erfolg m glicherweise — und fak1

F r eine Interpretation des .Charmides' ist immer noch instruktiv die Abhandlung von C. Schirlitz, Der Begriff des Wissens vom Wissen in Platons Charmides und seine Bedeutung f r das Ergebnis des Dialoges, Neue Jahrb cher f r Philologie und P dagogik N. F. 153 (1897) 451 -476, 513 -537. Der Kommentar von T. G. Tuckey (Plato's Charmides. Cambridge 1951) gibt eine ausf hrliche Analyse der Argumentation vor allem von 165 c an. Die Abhandlung von B. Witte (Die Wissenschaft vom Guten und B sen. Interpretationen zu Platons .Charmides'. Berlin 1970) macht den kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergrund der Frage nach der Sophrosyne sehr gut sichtbar und gibt treffende Beobachtungen zu Aufbau, Szenerie und Figuren des Dialoges. Die Vielfalt der Verweise auf Parallelen im Werk Platons und bei anderen Schriftstellern verhindert jedoch stellenweise - und gerade bei der Diskussion des Wissens des Wissens - eine genaue Exposition und Analyse des argumentativen Fortgangs im Dialog selber. Diese letzte Forderung erf llt dagegen vorbildlich die Untersuchung von R. Dieterle (Platons Laches und Charmides. Diss. Freiburg 1966). Auch wenn im einzelnen manche Thesen Dieterles einer Korrektur bed rfen, so ist seine Arbeit durch die Methode der Interpretation - die genaue Lokalisierung der Argumente im Kontext der dialektischen Unterredung - f r eine Auslegung platonischer Dialoge beispielgebend.

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Zweites Kapitel: Charmides

tisch in sehr vielen Fällen - nicht vorhersehbar ist, der Arzt also nicht weiß, daß er einen Nutzen für den Patienten (und natürlich auch für sich) bewirkt und d. h. nach der Definition des Kritias, daß er besonnen handelt, so ergibt sich als Konsequenz die Möglichkeit, daß jemand besonnen ist, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dies Argument des Sokrates hat einen bestimmten strategischen Sinn. Wenn Sokrates seine Kritik an der Begriffsbestimmung des Kritias auf diese Implikation einer unbewußten Besonnenheit abstellt, so offenbar deshalb, weil eine derartige Folgerung mit dem traditionellen Verständnis dieser Arete ganz unvereinbar ist. Daß jemand besonnen ist und zugleich nicht weiß, daß er besonnen ist (griechisch: ' wörtlich übersetzt: er kennt sich nicht, daß er besonnen ist), scheint Kritias so unannehmbar, daß er lieber von den bisher zugegebenen Prämissen etwas zurücknehmen als diese Konsequenz akzeptieren will (164 c 4 - d 3). Die Bestimmung des Sich-Selber-Kennens, die für die Griechen wesentlich zur Sophrosyne gehört (vgl. Heraklit fr. 116 Diels/Kranz), ist also in Wahrheit durch einen geschickten argumentativen Zug des Sokrates in die Diskussion gekommen2. Kritias scheint das sehr wohl bemerkt zu haben; die lange Digression (164 d 3 - 165 b 4), in der er seine neue Begriffsbestimmung mit dem des delphischen Apollotempels in Zusammenhang bringt, soll offenbar überdecken, daß diese an sich naheliegende Definition der Besonnenheit gar nicht auf sein Konto geht3. Platon berichtet im ,Protagoras' (vgl. 343 a-b), daß das auf die sieben Weisen zurückgeht, die den Spruch im delphischen Heiligtum des Apollo anbringen ließen. Die doxographische Überlieferung schreibt das Wort dem Chilon (vgl. Diels/Kranz I, 63, Z. 25) ebenso zu wie dem 2 3

Vgl. Wilamowitz, Platon Bd. II, 64 und van Busen a. a. O. 205. Vgl. Dieterle a. a. O. 198. - Zur Lehre des historischen Kritias vgl. die bei Diels/ Kranz Bd. II, 371 - 399 gesammelten Testimonien und Fragmente. Zu seiner Rolle in der athenischen Politik und seinem Verhältnis zu Sokrates und Platon s. Witte a. a. O. 46 ff. Im Gegensatz zu Witte scheint mir jedoch, daß sich aus der Höflichkeit, mit der Kritias von Sokrates behandelt wird, nicht auf einen Versuch Platons schließen läßt, „die öffentliche Meinung Athens über den Mann zu korrigieren, von dem Xenophon behauptet, er ,sei der betrügerischste, gewalttätigste und mörderischste von allen Oligarchen gewesen'" (Witte 49). Dies Verhalten des Sokrates hat seinen Grund eher in der gesellschaftlichen Distanz des Metöken Sokrates zu dem Angehörigen einer alteingesessenen Adelsfamilie. Die Einführung des Sokrates durch Chairephon (153 c), der als Anhänger der demokratischen Partei unter der Herrschaft der Dreißig, zu deren Führern Kritias und Charmides gehörten, Athen verlassen mußte (vgl. Apol. 20 e - 2i a), hat umgekehrt einen apologetischen Sinn: sie soll der Beziehung des Sokrates zu den Feinden der athenischen Demokratie die politische Anstößigkeit nehmen.

Besonnenheit und Selbstkenntnis

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Thaies (Diels/Kranz I, 64, 6; 71,19; 73, i) 4 . Aufschlu reich ist nun jedoch, da es sowohl bei Thaies wie auch in der pythagor ischen Tradition (vgl. Diels/Kranz I, 464, 18) als Antwort auf die Frage erscheint, was schwierig oder was das Schwerste sei5. Das zeigt n mlich, da diese Forderung als Paradoxon gemeint ist: sich selbst zu kennen ist deshalb das Schwerste, weil es dem unreflektierten Bewu tsein das Selbstverst ndlichste und Leichteste scheint. Kennt man sich nicht selbst immer schon besser als alles, was man sonst noch kennen mag? Hat diese Forderung in Bezug auf die eigene Person berhaupt einen Sinn 6? Gegen ber dieser Vormeinung will die Forderung des γνώθι σαυτόν offenbar an die Anstrengung erinnern, deren es bedarf, um zu sich selbst in dasjenige Verh ltnis zu kommen, das man zu denen hat, die man kennt, um sich selbst mit den Augen der ndern sehen zu k nnen. Das macht nun auch die Beziehung von Besonnenheit und Sich-Selbst-Kennen verst ndlich. Die F higkeit, sich selbst mit den Augen der ndern sehen zu k nnen, ist in der Tat ein Gegengift gegen die ,Blindheit' der Begierde — und als „M igung der Begierden" wird die Besonnenheit in der ,Politeia* (IV, 430 e) bestimmt. Aber auch die ersten beiden Definitionsversuche des jungen Charmides, die trotz ihrer dialektischen Unzul nglichkeit viel sachn her sind als die erste von Kritias formulierte Definition, haben ein Verhalten vor Augen, das durch solch eine F higkeit zur Selbstobjektivierung charakterisiert ist. Die Formel der „Bed chtigkeit" (ήσυχιότης i^b^) will ein Betragen in der ffentlichkeit (vgl. εν ταΐς όδοΐς 159 b 3) beschreiben, d.h. dort, wo man von anderen gesehen wird. An die Stelle der u erlichkeit eines Betragens setzt Charmides dann mit seinem zweiten Vorschlag den Habitus der αΙδώς, der ,Zur ckhaltung', wie die am wenigsten mi verst ndliche bersetzung lauten d rfte (16064); αιδώς zeigt sich in einem Verhalten, in dem das eigene Tun durch die habituell gewordene Reflexion auf seinen Eindruck Anderen gegen ber kontrolliert wird. Wenn Sokrates nach den folgenden, von Kritias stammenden (vgl. 161 b 4 - c 2) oder auch von ihm angeblich nur vorgebrachten (vgl. 163 c 10) Definitionen mit seiner Argumentation 164 a i - c 6 auf den Gedanken des Sich-Selbst-Kennens hinlenkt, so ist in dieser Formel jenes Selbstverh ltnis, das die Definitionsversuche des Charmides zu artikulieren suchten, auf seinen Begriff gebracht7. 4

Vgl. Tuckey 9 f., 23 f. Vgl. a. Aristoteles, Magna Moralia B 15, 1213 a 13-15. 6 Vgl. die Antwort Euthydems bei Xenophon, Mem. IV, 2, 24. 7 Die Diskontinuit t, mit der Kritias hier einen g nzlichen Neueinsatz machen will 5

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Zweites Kapitel: Charmides

Es ist wichtig festzuhalten, da das γιγνώσκειν αυτόν εαυτόν nicht ,SichSelbst-Erkennen' meint, sondern ,Sich-Selbst-Kennen'8. Γιγνώσκειν hat im Pr sens neben »erkennen* auch die Bedeutung ,kennen', wie etwa Theaet. 193 a - 194 a zeigt9. Da es an unserer Stelle den Sinn von ,kennen* hat, erhellt einmal daraus, da die infinitivische Form des γιγνώσκειν αυτόν εαυτόν nur den Inhalt des Imperativ Aorist γνώθι σαυτόν wiedergeben will, zum anderen daraus, da es als Gegensatz zum Sich-nicht-Kennen (άγνοεΐν εαυτόν vgl. 164 c 6, d 2-3 mit d 4) gemeint ist. H tte γιγνώσκειν hier dagegen den Sinn von ,erkennen', was einen Akt bezeichnet, so w re die Begriffsbestimmung der σωφροσύνη als γιγνώσκειν αυτόν εαυτόν mit dem logischen Fehler einer μετάβασις εις άλλο γένος behaftet: ein Akt w re definiens f r etwas, was gar nicht von der Art eines Aktes ist, sondern, wie Aristoteles sp ter sagen wird, eine έξις (vgl. Cat. 8, 8 b 25-29). Gerade der Zusammenhang, der zwischen den ersten beiden Definitionsversuchen des Charmides und der Bestimmung des Sich-Selbst-Kennens besteht, macht den Abstand sichtbar, der die Sophrosyne als F higkeit, sich selbst der Andere sein zu k nnen, von dem modernen Begriff der Selbsterkenntnis trennt. Nicht ein Erforschthaben des eigenen Herzens, eine Kenntnis der geheimen Motive des eigenen Handelns ist mit der griechischen Forderung des Sich-Selbst-Kennens gemeint, sondern die F higkeit, dieses Handeln selbst (auf Motive und Triebfedern ist dabei gar nicht reflektiert) aus der Warte anderer sehen zu k nnen. Nicht mit dem Blick eines allwissenden Gottes, sondern mit den Augen der ndern soll ich auf mich sehen k nnen. Nicht die Gr nde, sondern die Grenzen seines Handelns zu kennen, ist es, was den Besonnenen auszeichnet. Im Ganzen der Diskussion des »Charmides* scheint die Definition der Besonnenheit durch das γιγνώσκειν αυτόν εαυτόν nur eine transitorische Funktion zu haben; auf derselben Seite des Stephanustextes, auf der sie von Kritias als neue Bestimmung festgesetzt wird (165 b 4), wird sie auch schon, ohne da sie n her diskutiert worden w re, in den Begriff der επιστήμη έαυτοϋ (165 c 7) berf hrt, der seinerseits wenig sp ter (166 c 3) in den der επιστήμη εαυτής bzw. επιστήμης umgewandelt wird (166 c-e). Der (vgl. 165 a 8 -b 4), berdeckt die Kontinuit t, welche die neue Bestimmung der Besonnenheit mit den ersten Definitionsversuchen des Charmides verbindet. 8 So bersetzt Schleiermacher richtig 164 d 4 und i6j b 4. In der Sekund rliteratur ist gew hnlich ungenau von Sidb-Selbst-Erkennen und Selbsterkenntnis die Rede (vgl. Schirlitz a.a.O. 457, 461; Dieterle a.a.O. 203, 207; Witte a.a.O. 96ff.) 9 Das Lexikon von Liddell/Scott s. v. γιγνώσκω ist in diesem Punkt ungenau: die Bedeutung ,to know' wird auf „past tenses" eingeschr nkt.

Das .Wissen des Wissens' in der Platonliteratur

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Formel der επιστήμη επιστήμης, des Wissens des Wissens, gilt die gesamte folgende Untersuchung des Dialoges (166-175). Es ist daher nicht verwunderlich, da sich die Diskussion der Sekund rliteratur vornehmlich um diesen Begriff drehte. Dabei stand die Frage im Vordergrund, ob die Aporien des Dialoges ein Indiz f r eine Ablehnung der M glichkeit des Wissens des Wissens durch Platon sind oder nicht. Nach Bonitz will Platon zeigen, „da ein solches Wissen des Wissens sich nicht als m glich erweisen lasse" 10. Demgegen ber kann man C. Schirlitz zufolge „nicht annehmen, da Platon mit dem gesagten eine endg ltige Verwerfung der επιστήμη επιστήμης beabsichtigte oder erreicht zu haben glaubte ... die frage ist also auch f r Platon offengeblieben"11. Pohlenz hielt dagegen an der Bonitz'schen These fest und versuchte eine Erkl rung daf r zu geben, da Platon hier eine von ihm - wie Pohlenz meint - verworfene These in solcher Ausf hrlichkeit diskutiert. Im ,Charmides' bek mpfe Platon die rationalistische Mi deutung der sokratischen Philosophie durch einen unbekannten Sokratiker, der zu einem ,Wissen des Wissens' umgedeutet habe, was in Wahrheit ein ,Wissen des Guten' war 12 . Dieser Erkl rung, die sich auch bei v. Arnim findet13, schlo sich K. Praechter in seiner Bearbeitung der berweg'schen Philosophiegeschichte an H. Sie wurde aber schon bald von Wilamowitz15 zur ckgewiesen und ist danach in der Literatur nicht mehr vertreten worden. F r P. Natorp wollen die Aporien des Wissens des Wissens nur „die v llige Unvergleichlichkeit des Selbstbewu tseins" verdeutlichen. „Aber sicherlich nicht wird darum der Begriff selbst etwa preisgegeben." 16 W hrend Tuckey - wie schon Schirlitz - die Frage nach der M glichkeit einer επιστήμη επιστήμης von Platon offengelassen sieht17, hat K. Oehler neuerdings wieder an Bonitz angekn pft und die Behauptung vertreten: „Was hier pl tzlich in den Blick kommt und dann ebenso pl tzlich wieder als absurd verworfen wird, ist genau das, was das moderne Weltverst ndnis konstituiert, die sich selbst und die Welt autonom begr ndende Subjektivi10 H. Bonitz, Bemerkungen zu dem Abschnitt des Dialoges Charmides p. 165 -172, Platonische Studien. Berlin 1886, 245. 11 Schirlitz a. a. O. 475. 12 Pohlenz, Aus Platos Werdezeit 40 - 57 bes. ^3 f. 1J v. Arnim, Platos Jugenddialoge in. 14 berweg, Geschichte der Philosophie Bd. I, 121926, 231. 15 Wilamowitz, Platon Bd. II, 65 f. 16 Natorp, Platos Ideenlehre 25. hnlich Gadamer, Vorgestalten der Reflexion, in: Festschrift f r W. Gramer. Frankfurt 1966,133. 17 Tuckey a. a. O.

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Zweites Kapitel: Charmides

tat." 18 Dagegen hat Dieterle in seiner sch nen Arbeit ber den ,Laches' und .Charmides'19 auf die Winke des Dialoges selbst hingewiesen, die es unwahrscheinlich machen, da Platon den Gedanken eines Wissens des Wissens ablehne oder - wie Stenzel meinte20 - gar nicht auf der H he des Problems sei. Zuletzt hat Adamietz wieder zu beweisen gesucht, da die M glichkeit eines Wissens des Wissens im ,Charmides' widerlegt werden soll21. Adamietz beruft sich daf r auf ,Politeia' IV, 438 c-e, eine Stelle, an der Sokrates bemerkt, da es nicht zum Wesen der επιστήμη geh rt, von der Art dessen zu sein, wovon sie Wissen ist (vgl. 438 e 1-3)22. Aber es ist ein Fehlschlu , wenn man daraus folgern will oder, wie Adamietz es tut, diese Feststellung unmittelbar mit der Behauptung gleichsetzt, da es zum Wesen der επιστήμη geh rt, nicht von der Art dessen zu sein, wovon sie ein Wissen ist. Sokrates will an der von Adamietz angezogenen Stelle ein bestimmtes Implikationsverh ltnis verneinen bzw. sogar nur: nicht behaupten (ου τι λέγω, ως 438 e i), nicht aber behauptet er eine Implikation mit negativer Konsequenz. Und der Schlu von „Nicht: Wenn A, dann B" auf „Wenn A, dann nicht B" ist bekanntlich ein Paralogismus. Die Fixierung der Diskussion auf die Fragestellung eines Entweder/ Oder verhinderte aber weitgehend eine Analyse des Sinnes der Formel vom Wissen des Wissens. Die Interpretation blieb in dieser Frage einem Problemhorizont verhaftet, der historisch unangemessen ist: man glaubte vor allem in der deutschen Literatur - in der επιστήμη επιστήμης eine Umschreibung f r das Wesen des Selbstbewu tseins vor sich zu haben23. Da damit die Diskussion des ,Charmides' unter die Kategorien einer Problemstellung des Deutschen Idealismus gebracht wurde, hat B. Witte bemerkt, der es allerdings bei diesem allgemeinen Hinweis bel t 24 . In der Tat ist es Fichte gewesen, der in seiner - posthum (1845) erschienenen - ,Darstellung der Wissenschaftslehre' aus dem Jahre 1801 mit dem Begriff des Wissens !8 K. Oehler, Die Lehre vom noetisdhen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles 109. Vgl. dazu E. Tugendhat in: Gnomon 38 (1966) 752 - 760. !9 Dieterle a. a. O. 243 - 245. 20 Stenzel, Studien 10. 21 J. Adamietz, Zur Erkl rung des Hauptteils von Platons Charmides (164 a -175 d), Hermes 97 (1969) 37 - 57. 22 Adamietz a. a. O. 46. 23 Bonitz a. a. O. 236; Schirlitz a. a. O. 468; Natorp a. a. O. 2^; Gadamer, Vorgestalten 133; Oehler, Lehre 109; hnlich van Busen a. a. O. 25 ff. - In der englischen Literatur wurde das „Wissen des Wissens" dagegen eher in erkenntnistheoretischem und wissenschaftstheoretischem Sinn interpretiert vgl. Taylor, Plato 54, Tuckey a. a. O. 472* Witte a. a. O. 117 Anm.

Das ,Wissen des Wissens' in der Platonliteratur

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vom Wissen die Struktur des Selbstbewu tseins auszulegen suchte25. Damit hatte Fichte, der selbst m glicherweise den ,Charmides' nicht gekannt hat, die Verbindung zwischen der platonischen επιστήμη επιστήμης und dem Problem des Selbstbewu tseins in der sp teren Literatur pr formiert. War diese Verbindung historisch unreflektiert, so hat eine bei Fichte implizite Pr misse viel nachhaltiger, weil unausdr cklich die Interpretation beherrscht und das Verst ndnis des platonischen Textes behindert, weil mit ihr ein Ph nomen unter sachlich nicht angemessene Begriffe gebracht wird: ich meine die bei Fichte nicht thematisierte Annahme, da ,Wissen' einen Akt bezeichne. Diese unexplizite Voraussetzung erst erlaubt es, von .Wissen' als ^erstellen' und ,Anschauung'26 zu reden, d. h. das Verh ltnis einer kategorialen Differenz, in dem ,Wissen' zu ,Vorstellen' und ,Anschauen' steht, in das eines spezifischen Unterschiedes zu verkehren. Diese Vorstellung, da , Wissen* eine T tigkeit bezeichne27, f hrte dann in der Charmidesinterpretation zu dem Scheinproblem der M glichkeit eines Aktes, der sich selbst zum Gegenstand hat28. Die Passage des ,Charmides', die im folgenden untersucht werden soll, gliedert sich in zwei gleichlange Abschnitte; die Schilderung der Aporie des Kritias (16903-^2) trennt sie voneinander. Formal unterscheiden sie sich dem Argumentationstyp nach: geht es im ersten Abschnitt (164 d - 169 c) unmittelbar um Beweis oder Widerlegung einer Annahme, so wird im zweiten hypothetisch argumentiert (169 d - 175 a): es werden Implikationsverh ltnisse untersucht. Innerhalb der beiden Abschnitte lassen sich wiederum je zwei G nge unterscheiden. Der erste Teil des ersten Abschnittes reicht von 164 d - 167 b 3. In ihm wird die These des Kritias, ,Besonnenheit ist Sich-Selbst-Kennen', expliziert als ^Besonnenheit ist Wissen des Wissens und Nichtwissens' und weiterhin ^Besonnenheit ist Wissen dessen, was einer wei und was er nicht 25 J. G. Fichte, Werke (ed. F. Medicus) Leipzig 1912, Bd. II, 7 f. 26 Fichte a. a. O. 6 und 9. - Die μετάβασις είς δλλο γένος, die im Begriff eines ,Wissensaktes' liegt, ist in der Fichteliteratur, soweit mir bekannt, nicht durchschaut und ausger umt worden. Vgl. etwa D. Henrich, Fichtes urspr ngliche Einsicht. Frankfurt 1967, u f f . und W. G. Jacobs' Einleitung zur Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hamburg 1970, VII. Zur Sache s. Aristoteles, Top. B 10, ii4b 32 ff. 27 Vgl. Schirlitz a. a. O. 524. Taylor, Plato 54 f.; Tuckey a. a. O. 44, 115 u. . 28 So fragt Tuckey (a. a. O. 115), „whether knowledge, or any other activity, can be its own object" und R. R. Wellmann (The question posed at Charmides 165 a -166 c, Phronesis 9 (1964) 113) ist der Meinung: „The real question in the Charmides is the possibility of an immediate act of knowing being its own object as an actualized immediate act of knowing."

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Zweites Kapitel: Charmides

wei * (167 a 1-7). Anschlie end an diese Explikation wird die Untersuchungsaufgabe festgelegt: M glichkeit und Nutzen dessen, was einer wei und was er nicht wei , sollen gepr ft werden (167 b 1-4). Der zweite Teil des ersten Abschnittes (167 b 6 - 169 c 2) untersucht die M glichkeit eines Wissens des Wissens und endet mit der Aporie des Kritias, der diese M glichkeit sowenig wie Sokrates zu beweisen im Stande ist. Im ersten Gang des zweiten Abschnittes ( i 6 9 d 2 - i 7 i c ) wird gefragt, ob aus der Voraussetzung eines Wissens des Wissens schon ein Wissen dessen, was einer wei und was er nicht wei , folgt oder nicht. Und es liegt hier, wie sich zu ergeben scheint, kein Folgeverh ltnis vor. Der letzte Teil des zweiten Abschnittes (171 d - 175 a 8) untersucht schlie lich, ob ein Wissen dessen, was einer wei und was er nicht wei , einen Nutzen impliziert. Auch das f hrt in Aporien29.

a) Sich-Kennen, Sieb-Wissen und Wissen des Wissens (164 d - 167 b) Das Spannungsfeld der Argumentation dieser Charmidesstelle wird durch die Begriffe ,Κεηηεη* (γιγνώσκειν) und ,Wissen* (επιστήμη, είδέναι) abgesteckt. Nach Festsetzung der neuen Bestimmung der Besonnenheit als SichSelbst-Kennen (165 b 4) und dem Zwischenspiel 165 b 5 - c 3 betrifft gleich der erste argumentative Schritt das Verh ltnis von ,Kennen' und »Wissen4: 165 c 4-6 fragt Sokrates seinen Gespr chspartner, ob, wenn die Besonnenheit ein Kennen sei, sie nicht auch Wissen sei und Wissen von etwas, oder ob das nicht der Fall sei (ή ου;). An der Antwort des Kritias f llt nun sofort eines auf: sie verst t gegen eine Regel dialektischen Argumentierens; im dialektischen Argument soll bejahend oder verneinend geantwortet werden (vgl. Aristoteles, Top. Θ 2,158 a 15 ff.). Kritias antizipiert aber in seiner Antwort schon den n chsten Frageschritt, wenn er nicht nur die Selbstkenntnis eine Episteme nennt, sondern auch schon ihren Gegenstand angibt: εαυτοί) γε (sc. Wissen) seiner selbst (165 c 7). Diese Voreiligkeit indiziert ein bestimmtes Verst ndnis 29 van Bilsen, der (a. a. O. 193 - 196 und 20 f.) den Aufbau des .Charmides' sehr bersichtlich aufschl sselt, weist die Diskussion des Nutzens der Sophrosyne dem vorhergehenden Abschnitt zu, den er darum auch bis 171 d 2 ausdehnen mu , da vorher gar nicht von der ώφελία gehandelt worden ist. Der Passus 171^3-17538 figuriert dann als Schlu betrachtung. Das ist jedoch wenig plausibel und von ndern Erkl rern nicht bernommen worden.

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der Frage, die Sokrates gestellt hatte. So verh lt sich n mlich jemand, der das, wonach gefragt wird, f r trivial h lt. Zwischen Kennen und Wissen scheint ihm sowenig eine sachliche Differenz zu liegen, da er den einen Ausdruck durch den ndern ersetzen kann. Gegen die Unterstellung in der Antwort des Kritias, da Wissen (επιστήμη) ebenso auf einen Gegenstand geht wie objektbezogenes Kennen, richten sich die beiden folgenden G nge der Argumentation. Sie sind Exempel der λόγοι έπάκτικοί des Sokrates. An Beispielen wird eine allgemeine Struktur des definiens επιστήμη expliziert, die dann f r den Fall der als επιστήμη εαυτού bestimmten Besonnenheit inhaltlich zu f llen ist. Zuerst (165 c 8 - 166 a 2) wird in Analogie zu Medizin und Baukunst nach der Leistung dieses Wissens seiner selbst gefragt (σωφροσύνη, επιστήμη ούσα έαυτοϋ 165 d 8 -e i). Doch Kritias erhebt gegen diese Analogie Einspruch: keineswegs bei allen Weisen von Wissen (έπιστήμαι) l t sich ein ,Werk* wie im Fall der Medizin und Architektur namhaft machen; die Beispiele der mathematischen Proportionenlehre (λογιστική) und Geometrie zeigen, da das Bewirken von etwas (Gesundheit, Bauwerk) nicht konstitutiv zum Begriff der Episteme geh rt. Die Schlu folgerung, die nicht ausdr cklich gezogen wird, liegt auf der Hand: der Mangel eines spezifischen Werkes reicht nicht hin, die επιστήμη έαυτοϋ f r ein h lzernes Eisen zu erkl ren. Sokrates gibt seinem Mitunterredner den Fehler zu und l t sein Argument fallen (166 a 3). Aber das stellt uns, die Leser des Dialoges, vor die Frage, warum Platon die Argumentation auf diesen Holzweg schickt. Soll Sokrates hier gegen ber dem schnell beleidigten und arroganten Junker Kritias (vgl. 166 b c ) als der bessere Verlierer dargestellt werden? Das ist immerhin m glich. Aber es scheint, da dieser kurze Gang noch einen ndern, in der verhandelten Sache selbst gr ndenden Sinn hat. Zwar ist es richtig, da das Argument des Sokrates formal gesehen den Fehler vorschneller Verallgemeinerung begeht, aber damit ist das sachliche Recht der Frage nach der Leistung der σωφροσύνη nicht widerlegt. Das w re erst dann der Fall, wenn bewiesen w rde, da die Besonnenheit ein theoretisches Wissen analog der Mathematik w re. Aber ganz offenbar ist sie das nicht. Da die Besonnenheit wie alle Aretai etwas bewirkt, ist eine gar nicht wegzuleugnende Evidenz: Kritias selbst hatte noch vor kurzem die Definition des ,Tuns des Guten' (πραξις των αγαθών 163 e ίο) gegeben. Zwar ist das, was die Besonnenheit bewirkt, nicht ein F rsichseiendes wie das Haus bei der Baukunst oder das Kleid bei der Weberei - Beispiele, an die Kritias sich h lt (165 e 7); sittliches Wissen verh lt sich zu dem durch es Bewirkten eher

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so wie die Medizin zur Gesundheit - Sokrates' erstes Beispiel (165 c 10 d 2); es bewirkt Ver nderungen in den Beziehungen des Menschen zu sich und zu seinen Mitmenschen, aber es stellt diese Beziehungen nicht her. Von hier aus wird nun deutlicher, was eigentlich der Punkt ist, auf den das sokratische Argument zielt: von der Bestimmung der επιστήμη έαυτοϋ aus, d. h. von einem Wissen aus, das nur die Partikularit t des eigenen Selbst zum Inhalt haben soll, ist in der Tat nicht begreiflich zu machen, wie die so bestimmte Besonnenheit ihre spezifischen Wirkungen zu haben vermag; wie jedes Wissen, so hat auch Wissen, das und insofern es auf ein έργον bezogen ist, nicht blo Einzelnes zu seinem Inhalt, sondern Allgemeines: das Wissen des Arztes ist nicht die Kenntnis aller bisher von ihm behandelten F lle. Die das Argument zusammenfassende Frage 165 d 8 - e 2 will noch einmal die Unvertr glichkeit von Besonnenheit und Wissen seiner selbst verdeutlichen: σωφροσύνη, ε π ι σ τ ή μ η ο ύ σ α έ α υ τ ο ϋ , τί καλόν ήμϊν έργον απεργάζεται και άξιον του ονόματος; (die Besonnenheit als Wissen seiner selbst, was f r ein sch nes und ihres Namens w rdiges Werk bewirkt sie uns denn? Sperrungen v. Verf.). Dadurch, da Sokrates diese Frage einem fingierten Dritten in den Mund legt, kann er sich von der in ihr gemachten Unterstellung, der doch seine Kritik gilt, distanzieren. Kritias aber reagiert hier genau in der Weise, die er nur wenig sp ter Sokrates glaubt vorwerfen zu k nnen (vgl. 166 c 5-6): er opfert die Diskussion ber den sachlichen Gegenstand ,Besonnenheit' einer eristischen Rechthaberei. Weil es Sokrates um die Kritik an dem Begriff des Wissens seiner selbst zu tun ist, nicht aber darum, Kritias zur Anerkennung einer ,Wirkung* der Besonnenheit zu bewegen, kann er auf eine Diskussion des von Kritias gemachten Einwandes verzichten. Er geht in dem anschlie enden Abschnitt (τ66 a 3 -c 3) den Begriff eines Wissens seiner selbst vielmehr von einer ndern Seite her an. Das formale Schema ist wieder das der sokratischen Induktion: an einigen Beispielen dekliniert Sokrates eine Struktur von Wissen durch - hier die der Unterschiedenheit des Wissens von seinem Inhalt ( i 6 6 a 3 - b 3 ) - und fordert Kritias auf (b 5-6), diese allgemeine Struktur f r den Fall der σωφροσύνη spezifisch zu bestimmen. Und abermals attakkiert Kritias die Unterstellung der Analogie; hier allerdings kann er nicht mehr wie vorhin (165 c 6-7) Gegenbeispiele aufbieten, sondern mu f r die Sophrosyne eine Sonderstellung behaupten: w hrend alle anderen Wissensweisen (έπιστήμαι) Wissen von anderem, nicht aber von sich sind, ist einzig die Besonnenheit - so Kritias - Wissen von den ndern Wissensweisen und von sich selbst (166 c 1-3)· Aus dieser Bestimmung des Kritias werden alle folgenden aporetischen Ab-

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surdit ten entwickelt; das n tigt zu einer genauen Analyse dieser Antwort, um in ihr schon die Ans tze jener Vormeinungen ausfindig zu machen, als deren Indikatoren wir die Aporien der platonischen Dialoge lesen wollen. Was zun chst an der Antwort des Kritias auff llt, ist, da hier an Stelle des bisherigen επιστήμη έαυτοϋ die Bestimmung der επιστήμη εαυτής tritt: die Differenz der reflexiven Genitive l t sich in der direkten bersetzung nicht nachbilden - das ,Wissen des Wissenden' (gen. obi.) ist durch das ,Wissen des Wissens' ersetzt worden. Von den Kommentatoren ist dieser Sprung von der επιστήμη έαυτοϋ zur επιστήμη εαυτής gesehen und seine Unausdr cklichkeit kritisch reflektiert worden30. Warum bleibt der Dialog nicht bei der ersten Bestimmung der επιστήμη έαυτοϋ, die doch eine plausible Antwort auf die Frage des Sokrates erlauben w rde: der Wissende - auf ihn verweist das έαυτοϋ zur ck ist in der Tat vom Wissen selber sehr wohl unterscheidbar. Nun l t sich hier zun chst geltend machen, da das die Frage nach der Unterschiedenheit von Wissen und Inhalt des Wissens nur verschiebt; denn da das Wissen - in welcher Weise auch immer - zum Wissenden geh rt, w rde diese Auskunft: der Wissende ist Gegenstand des Wissens (der Sophrosyne) doch alsbald wieder auf eine (zumindest partielle) Identifikation von Wissen und Gegenstand des Wissens hinauslaufen. Dies Argument, das etwa Schirlitz31 zur Erkl rung des berganges von der επιστήμη έαυτοϋ zur επιστήμη εαυτής heranzieht, reicht jedenfalls aus, um klarzumachen, da der Dialogautor Platon hier nicht etwa eine m gliche richtige Antwort unterdr ckt hat. Aber wir stehen der Frage nach dem Motiv des bergangs sofort wieder gegen ber, wenn wir beachten, da es Kritias ist, der diesen Schritt vollzieht. Was zwingt ihn dazu, diesen Schritt zu tun und das hei t doch, seine erste Definition (επιστήμη έαυτοϋ) fallen zu lassen und durch die neue Bestimmung zu ersetzen? Es ist wenig wahrscheinlich, da Kritias dies ohne Grund tut, denn f r die zuh renden Dialogpersonen (ebenso wie f r die zeitgen ssische Leserschaft Platons) war es vermutlich ebenso klar wie f r Kritias selbst, da hier ein Positionswechsel vollzogen wird, den die wortreiche Neubestimmung zugleich als solchen kaschieren soll. Der gereizte Ausbruch des Kritias (166 c 3-6) mag seinen Grund mit darin haben, da J0

Pohlenz, a.a.O. 46: „eine Verschiebung der Definition durch Kritias"; Tudcey a. a. O. 33: „a curious transition - prompted, it is to be observed, by Socrates although executed by Critias"; vgl. Stenzel, Studien n. 31 Schirlitz a. a. O. 461.

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er sich zu diesem Wechsel seiner Stellung gen tigt sieht. Aber was n tigt ihn dazu? Der Schl ssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in den der Antwort des Kritias vorauf gehenden epagogischen Beispielen des Sokrates: die Wissensinhalte, die dort die Unterschiedenheit des Gewu ten vom Wissen illustrieren sollen, sind jeweils Paare von Gegens tzen: die Proportionenlehre hat das Gerade und Ungerade (im Sinn der Arithmetik) zum Inhalt (166 a 5-10), die Statik das Schwere und Leichte (166 b 1-3). Das ist gegen ber dem vorausgehenden Fragegang neu, obwohl es der Sache nach dort ebenso m glich ist; die Medizin wird im Fortgang des Dialoges ausdr cklich als die Wissenschaft vom Gesunden und Kranken bestimmt (171 a b). Da sich in diesen Beispielen eine f r die griechische Philosophie h chst wichtige Entdeckung spiegelt, wissen wir aus Aristoteles: die Erkenntnis n mlich, da Gegens tze von einer und derselben Wissenschaft umfa t werden (vgl. Met. M 4, 1078 b 25-27 und die Beispiele der Topik A 14, 105 b 5 f., 23 f., 33-37). Diese epagogischen Paradeigmata verraten daher etwas ber die argumentative Strategie, die Sokrates mit ihnen verfolgt: Gleichg ltig n mlich, ob Kritias die Frage nach dem Inhalt des Wissens der Sophrosyne (i65b5~6) positiv oder negativ beantwortet, ob er hier eine Unterschiedenheit oder eine Identit t von Wissen und Wissensinhalt behauptet, immer sieht er sich der Nachfrage des Sokrates ausgesetzt, wo sich in Analogie zu den Inhalten anderer έπιστήμαι eine solche έναντιότης im Inhalt der επιστήμη έαυτοΰ aufzeigen lasse. Die Frage nach dem vom Wissen unterschiedenen Inhalt der Besonnenheit, die als ,Wissen seiner selbst* bestimmt war, k nnte Kritias zun chst ganz einleuchtend dadurch beantworten, da er das jeweilige Subjekt des Wissens ebenso als Objekt dieses Wissens ang be. Wenn er aber genau das nicht tut, sondern die Schwenkung von der επιστήμη έαυτοΰ zur επιστήμη εαυτής vollzieht, so, wie es scheint, deshalb, weil er die Schwierigkeit, in die Sokrates ihn dann bringen kann, erkannt hat. Kritias ist durch die Schule der sophistischen Disputierkunst gegangen und kann Z ge des Gegners voraussehen. Es leuchtet ein, da der Inhalt der επιστήμη έαυτοΰ, eben das ,Selbst' des Wissenden, nicht in ein solches εναντία-Paar zu bersetzen ist. Die neue Bestimmung der Sophrosyne als ,Wissen der ndern έπιστημαι und ihrer selbst* (166 c 2-3) scheint dagegen, indem sie Unterschiedenes zusammenbindet, nach dem Vorbild der sokratischen Beispiele gebildet zu sein. Denn innerhalb der Antithese 166 c 1—3, in der diese neue Bestimmung gegeben wird, kommt die Hinzunahme der ,andern έπιστήμαι' (c 2)

Selbstkenntnis und Wissen des Wissens (164 d — 167 b)

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unerwartet und verdirbt die antithetische Symmetrie32. Verst ndlich wird sie aber sofort aus dem Bem hen, einer kritischen Nachfrage des Sokrates zuvorzukommen. Das wird nun auch dadurch best tigt, da die erste Frage, die Sokrates nach der neuen Begriffsbestimmung (und dem daran anschlieenden Zwischenspiel) stellt, explizit auf diese Struktur der έναντιότης zielt: Sokrates l t sich von Kritias best tigen, da ein Wissen des Wissens zugleich Wissen des Unwissens, der άνεπιστημοσΰνη sein mu (166 e 7-9), und kritisiert damit indirekt den Versuch des Kritias, eine solche Gegensatzstruktur durch das Zusammenbinden von Sophrosyne und der ndern έπιστήμαι zu einem Wissensinhalt herzustellen. Mit der Neubestimmung der Sophrosyne als επιστήμη επιστήμης, als Wissen des Wissens wird das h lzerne Eisen der επιστήμη έαυτοϋ endg ltig aus der Diskussion eliminiert. Die Formel vom,Wissen seiner selbst' wird weder in dem Res mee des ersten Abschnittes (167 a) noch bei der Zusammenfassung am Ende des Dialoges (175 b-c) noch einmal genannt. Die Diskussion ber die επιστήμη έαυτοϋ hat die Funktion, f r den Leser das doxische Wissensverst ndnis des Kritias sichtbar zu machen. Es hat seinen Sinn, da Platon gerade hier, in dem kurzen Intermezzo 166 c 3 - d 7, an den Sinn der sokratischen Elenchoi erinnern l t: iKr Ziel ist, wie Sokrates gegen die Beschwerde des Kritias betont, die Bewu tmachung vermeintlichen Wissens, nicht Widerlegung um der Widerlegung willen. Denn das ZuWissen-Meinen, das hier elenktisch getroffen werden soll, ist fundamentaler Natur: ein Zu-Wissen-Meinen ber das, was Wissen ist. Aber diese Orientierung des Kritias am Modell eines gegenstandsbezogenen Erkennens und Kennens, wie sie im bergang vom γιγνώσκειν εαυτόν zur επιστήμη έαυτοϋ manifest wurde, ist in der neuen Bestimmung, die er von der Sophrosyne gibt, durchaus nicht berwunden. Vielmehr zeigt sein neuer Definitionsversuch 166 c 1—3 abermals den Einflu jenes Vorbegriffs von Wissen, der schon bei der επιστήμη έαυτοϋ sichtbar war. Die επιστήμη επιστήμης, wie Kritias sie bestimmt, ist in Wahrheit eine επιστήμη επιστημών und nur insofern auch επιστήμη επιστήμης, als sie selber unter den έπιστήμαι sein soll, deren Summe ihren Wissensinhalt bildet. An die Stelle des einen Gegenstandes des ,Selbst' ist eine Summe von Gegenst nden getreten 33. 32

Das hat Dietetic (a. a. O. 219 Anm.) gegen Tuckey (a. a. O. 39) richtig herausgehoben. 33 Es scheint mir daher auch nicht notwendig, an der Stelle 170 c 6 einen abermaligen bergang (analog dem von der επιστήμη εαυτού zur επιστήμη εαυτής) von der επιστήμη επιστήμης zur επιστήμη επιστημών anzunehmen, wie Tuckey (a. a. O. 59)

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Zweites Kapitel: Charmides

Das letzte St ck (166 e 4 - b 5) des ersten Abschnittes versucht nun indirekt eine Korrektur der neuen Begriffsbestimmung des Kritias. Jene scheinbare Erg nzung, die Sokrates der von Kritias 166 e 5-6 noch einmal wiederholten Definition der Sophrosyne beigeben will, ist in Wahrheit deren Kritik: da die Besonnenheit als Wissen des Wissens auch Wissen des Unwissens sein mu (166 e 7-8), ersetzt n mlich die Summe von Epistemai, die Kritias zum Inhalt der επιστήμη επιστήμης gemacht hatte, durch die Allgemeinheit eines Begriffs Verh ltnisses. Ein ,Wissen des Wissens und Unwissens' ist n mlich ein Wissen, das wei , was Wissen ist, und am Begriff des Wissens auch ein Kriterium der Unterscheidung des Unwissens vom Wissen hat. Erst in der Bestimmung des ,Wissens des Wissens und Unwissens' erh lt der Inhalt dieser Episteme auch die Bestimmtheit eines Gegensatzverh ltnisses, das in der Definition des Kritias (166 c 1-3) nur formal imitiert war. Die folgende argumentative Frage des Sokrates (167 a 1-7) will nun auf dem Hintergrund der gerade vorgenommenen kritischen Zusatzbestimmung eine Interpretation der These des Kritias geben. Die abschlie ende Frage: „Ist es dieses, was du meinst?" (167 a 7) macht diesen Charakter einer Interpretation deutlich, impliziert damit aber zugleich, da die Begriffsbestimmung des Kritias nicht einzig in dem zur Frage stehenden Sinn verstanden werden kann, sondern da sie mehrerer Auslegungen f hig ist. In der Literatur zum ,Charmides* ist des fteren darauf hingewiesen worden, da die sokratische Bestimmung des σώφρων an dieser Stelle mit der Selbstcharakterisierung des Sokrates in der ,Apologie' bereinstimmt (vgl. Apol. 21 c-d)34. Gerade diese bereinstimmung sollte aber gegen ber der Selbstverst ndlichkeit skeptisch machen, mit der Kritias (167 a 8) diese Auslegung f r seine Formel von der επιστήμη εαυτής και των άλλων επιστημών vereinnahmt. Denn da der Sophist Kritias die ανθρωπινή σοφ'ια des Sokrates der ,Apologie* gemeint hat, ist nicht eben wahrscheinlich. Vergleichen wir die Charakterisierung des σώφρων, die Sokrates hier gibt, mit der voraufgegangenen Definition der Besonnenheit durch Kritias (i66c 1-3), auf die Sokrates sich dabei bezieht, so f llt sofort auf, da Sokrates den ganz formalen Bezug, den die επιστήμη επιστημών des Kritias auf die zu ihrem Inhalt erkl rten Epistemai hat, in die F higkeit der Pr fung von Wissensanspr chen bersetzt (vgl. οίος τε εσται 167 a 1-2, δυνατός εσται 33). Seine Interpretation der neuen Definition des Kritias bringt Sokrates das tut; επιστήμη επιστημών bringt nur auf eine knappe Formel, was die Definition des Kritias 166 c der Sache nach enth lt. Vgl. a. 174 d. 3* Pohlenz, a. a. O. 53 f.; Tuckey a. a. O. 40; Dieterle a. a. O. 226.

Die M glichkeit reflexiven Wissens (167 b 6 — 169 c 9)

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auf die Formel: „zu wissen, was einer wei und was er nicht wei " (167 a 6-7). Und das n chste Frage-Antwort-Paar legt als Aufgabe der folgenden Er rterungen fest, M glichkeit und Nutzen des Wissens, was einer wei und was er nicht wei , zu untersuchen (16739-13 4). Aber in Wirklichkeit ist mit dieser plausiblen und auch von Kritias sofort angenommenen Interpretation der επιστήμη επιστημών nur der Grund f r weitere Aporien gelegt. Denn auf dem Boden jenes Verst ndnisses von Wissen, das Kritias hat, wird sich eine Pr fung solcher Anspr che von Wissen als unm glich herausstellen. b) Die M glichkeit reflexiven Wissens (167 b 6-169 c9) Im Kontext der unmittelbaren Auseinandersetzung der Dialogpartner hat der Abschnitt 167 b 6 -169 c 9 die Funktion, den Gedanken einer επιστήμη επιστήμης als paradox (άτοπον 167c 4, 168 a 10) aufzuweisen. Inder Tat wird Kritias durch die Analogien, die Sokrates gegen die Vorstellung eines Wissens des Wissens aufbietet, zum indirekten Eingest ndnis der Aporie gebracht. Er jedenfalls ist nicht in der Lage, die Bedingungen zu erf llen, die Sokrates 169 a 1-7 f r die L sung des Problems benannt hat. Doch eben die Plausibilit t, welche die sokratischen Beispiele f r Kritias als Instanzen gegen die M glichkeit einer επιστήμη επιστήμης besitzen, ist f r den Leser ein Hinweis auf den Vorbegrifi von Wissen, den Kritias unausdr cklich zu Grunde gelegt hat: Ihre Plausibilit t als Gegenbeispiele verdanken sie einer Auffassung von Wissen, die an den als Beispielen angef hrten Wahrnehmungsleistungen orientiert ist35. Zu Beginn seiner Argumentation wiederholt Sokrates die Bestimmung der επιστήμη επιστήμης, wie Kritias sie gegeben hatte: das όπερ συ νυνδή έλεγες (ι 67 b 11) unterstreicht diesen Charakter eines Zitats - nicht die sokratische Bestimmung der επιστήμη επιστήμης και άνεπιστημοσύνης liegt dem folgenden Gang zu Grunde, sondern die summierende Reihung der επιστήμη επιστημών des Kritias; besonders auff llig ist das umst ndlich Angeh ngte des και δη και άνεπιστημοσύνης („und freilich auch des Unwissens" 167 c 1-2) - eine Formel, die in dem Zitat 169 b 5-7 wiederholt wird. Die Argumentation im engeren Sinn zerf llt in zwei Teile, deren Eins tze durch das Ίδέ δη 167 c 4 und das parallele Φέρε δη 168 b 2 markiert sind. 35

W. G. Runciman, Plato's later Epistemology 10, sieht in diesem Abschnitt des ,Charmides' einen Beleg daf r, da Platon ,Wissen' nach Analogie des .Kennens', der .knowledge by acquaintance' vorstellt. Damit ist der Sinn, wenn auch nicht der Stellenwert des Argumentes erkannt.

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Rein stilistisch f llt innerhalb des ersten Teiles die H ufung des δοκεϊ (bzw. δόξει) σοι in die Augen. F nfmal verwendet Sokrates diese Floskel in dem kurzen St ck 167 c-e. Diese demonstrative Anrede des Mitunterredners soll, so scheint es, deutlich machen, da die aufgezeigten Schwierigkeiten prim r Kritias angehen, da sie sich innerhalb seiner unausdr cklichen Voraussetzungen ergeben. Die Beispiele, die Sokrates anf hrt (167 c 8 -168 a ^), stammen aus dem Bereich objektbezogenen intentionalen Verhaltens. Und hier ist in der Tat die Vorstellung absurd, da ein Sehen sich sieht, ein H ren sich h rt, eine Begierde sich begehrt, eine Furcht sich vor sich f rchtet. Einzig das letzte Beispiel des Sokrates, die Doxa, f llt aus dieser Reihe heraus: Meinung kann sehr wohl auf sich und andere Meinung meinend bezogen sein - indem sie sich f r richtig und andere Meinungen f r falsch h lt. Aber die Wucht der Analogie scheint hier f r Kritias schon so gro , da er die Differenz zu den vorher aufgef hrten Ph nomenen nicht bemerkt. Der Gedanke des sich sehenden Sehens, der sich begehrenden Begierde usw. ist aber deshalb absurd, weil das, worauf diese Verhaltensweisen gehen, ihr Inten turn, vom Typ der Gegenst ndlichkeit ist (etwas Farbiges, etwas T nendes, etwas Sch nes, etwas Furchterregendes); sie selber aber sind nicht gegenst ndlich, sondern relational strukturiert. Nun ist Wissen von diesen Ph nomenen aber dadurch unterschieden, da seine Inhalte, wie wir gesehen haben, nie vom Typ der Gegenst ndlichkeit, sondern von dem der Relationalit t und allgemein der Propositionalit t sind, also von demselben logischen Typus wie Wissen selbst. Die Beispiele des Sokrates sind also Instanzen nur gegen einen Begriff von Wissen, in dem die Relationalit t der Inhalte von Wissen als Gegenst ndlichkeit mi verstanden ist. Das gilt aber f r den am Modell des Kennens und gegenst ndlichen Erkennens orientierten Wissensbegriff des nat rlichen Bewu tseins, dessen Vertreter hier Kritias ist - wir erinnern uns an seine Ersetzung des γιγνώσκειν εαυτόν durch die επιστήμη έαυτοϋ. Der zweite, mit Φέρε δη (i68ba) einsetzende Teil dieses Abschnittes entfaltet nun explizit die logische Struktur, die den Beispielen des ersten Teiles implizit zu Grunde lag, die formale Struktur n mlich einer Relation, deren Glieder selbst gegenst ndlich und nicht relational strukturiert sind. Zun chst wird der relationale Charakter dieses Wissens festgestellt: es ist Wissen von etwas (τινός i68 b 2—3)36. Dann gibt Sokrates eine Reihe epa36

Ich m chte mich nicht dem Vorschlag von P. Shorey (Class. Philol. n (1907) 340) und van Bilsen (a. a. O. 191 f.) anschlie en, hier anstelle des αυτή ή επιστήμη (i68 b 2) der Ausgabe von Burnet αυτή ή επιστήμη zu lesen. Sokrates fragt, ob das

Die M glichkeit reflexiven Wissens (167 b 6 — 169 c 9)

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gogischer Beispiele (168 b 5 - c 10), die auf der zun chst stillschweigend vorausgesetzten und 168 d 1-3 dann ausdr cklich formulierten Pr misse beruhen, da das, „was sein Verm gen (δΰναμις) in Beziehung auf sich selbst hat, auch dasjenige an sich haben mu , worauf das Verm gen sich bezieht (προς ην ή δύναμις αύτοϋ ην)" 37. Das f hrt bei den Relationen, die hier als Exempel erscheinen, unmittelbar zu Widerspr chen: es sind allesamt konverse Paare asymmetrischer Relationen (gr er - kleiner, doppelt - halb etc.). Soll ein Gr eres gr er sein als es selbst, so mu es zugleich auch kleiner sein als es selbst (168 b 10 - c 2). Ebensowenig scheint diese Struktur der Reflexivit t bei Wahrnehmungsph nomenen einl sbar, an denen Sokrates i 6 8 d 3 ~ e i noch einmal ausdr cklich die von ihm genannte Implikation der Reflexivit t demonstriert: ein t nendes H ren und ein farbiges Sehen sind ein Unding Dennoch hat es einen sachlichen Sinn, wenn Sokrates beim Res mee dieses Argumentes (168 63- 169 a i) zwischen den beiden Beispielstypen, zwischen den mathematischen Beispielen der asymmetrischen Relationen einerseits, und Gesicht und Geh r (denen er noch die sich selbst bewegende Bewegung und die sich selbst verbrennende W rme anf gt) andererseits unterscheidet. Von den ersteren hei t es, da hier eine Reflexivit t „g nzlich unm glich" (e 6) sei, bei den letzteren dagegen r umt Sokrates sehr kryptisch die M glichkeit ein, da sie in diesen F llen „einigen" (169 a i) nicht g nzlich unwahrscheinlich vorkommen k nnte. Der Sinn dieser Differenzierung wird deutlicher, wenn wir zu der Feststellung des Sokrates zur ckgehen, da eine reflexive δύναμις von der Wesensart (ουσία) dessen sein mu , worauf sie sich bezieht. Das f hrt bei den Ph nomenen, an denen Sokrates diesen Satz illustriert, klarerweise zu Absurdit ten. Aber die eigentliche Pointe dieser Bestimmung ist die, da an ihr die Bedingung der M glichkeit reflexiver δυνάμεις abzulesen ist. Wenn n mlich Reflexivit t einer Dynamis bedeutet, da sie von der Art dessen sein mu , worauf sie geht — da ein sich sehendes Sehen die Farbigkeit sichtbarer Dinge haben m te -, so hei t das in Wahrheit umgekehrt, da nur solch eine Dynamis reflexiv sein kann, deren Intenta oder Inhalte selber von zur Diskussion stehende Wissen (die Sophrosyne) den Charakter des Bezugs auf etwas hat; so zu fragen ist sinnvoll angesichts der unmittelbar vorauf gehenden Feststellung 168 a 6-9, in der dieser Episteme ein μάθημα abgesprochen und nur der Bezug auf έπιστήμαι belassen wurde. H tte Sokrates aber fragen wollen, was die vorgeschlagene Emendation unterstellt, so w rde πάσα επιστήμη n herliegen als αύτη ή επιστήμη. Das Abstraktionsniveau dieses letzteren Ausdrucks ist dem ,Charmides' fremd. 37 Vgl. den Gebrauch von δύναμις in hnlichem Sinn Parm. 133 e.

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jener Struktur sind, die Dynameis generell charakterisiert. Diese Struktur aber ist die des (vgl. 168 d 2), ist die der Relationalität. Nun sind zwar die mathematischen Beispiele der asymmetrischen Relationen allesamt von der Art, nicht relational, sondern gegenständlich Bestimmtes zueinander in Relation zu setzen. Dagegen sind die Wahrnehmungsvermögen des Gesichtes und Gehörs nicht ausschließlich auf Gegenstände bzw. qualitative Bestimmtheiten von Gegenständen beschränkt, sie können vielmehr auch auf Relationen solcher qualitativen Bestimmtheiten gehen: wir hören nicht nur einzelne Töne, sondern auch Melodien. Indem die Beispiele des Sehens und Hörens relationale Intenta nicht mehr ausschließen, erfüllen sie in der Tat eine Bedingung für Reflexivität - darum kann Sokrates sie zusammennehmen mit der sich selbst bewegenden Bewegung - dem Begriff der Seele38 - und der sich verbrennenden Hitze: Feuer verzehrt, indem es anderes verzehrt, sich selbst. Umgekehrt machen die Beispiele dieser beiden Wahrnehmungen durch ihre spezifische Bezogenheit auf Farbiges und Tönendes und damit auch auf Färb- und Tonverhältnisse deutlich, daß nur eine Dynamis, die in allgemeiner Weise auf Relationen bezogen ist, als Fall einer reflexiven Dynamis in Frage kommt. Es ist das Phänomen des Wissens, das in dieser Weise allgemein auf Relationen bezogen ist, weil es Sachverhalte zum Inhalt hat.

c) Wissen des Wissens und Wissen, was einer weiß (169 d — 171 c) Formal gesehen unterscheiden sich, wie oben bereits bemerkt, die beiden letzten Abschnitte der Argumentation von den eben analysierten dadurch, daß sie hypothetisch argumentieren: sie setzen die Möglichkeit eines Wissens des Wissens einmal voraus und untersuchen, ob dies hinreicht, die festgesetzten Beweisziele abzuleiten. Für unsere Analyse ist nun aber der Grund wichtig, der zu dem Verfahren hypothetischer Diskussion zwingt; Sokrates sieht sich zu diesem Vorgehen genötigt (i69d2~5), weil Kritias das aporetische Fazit des bisherigen Dialogganges nicht offen eingestehen will (vgl. iÖ9di). Die mangelnde Bereitschaft des Kritias, das Fehlschlagen der vorauf gegangenen Untersuchung zuzugeben, bringt ihn aber um den möglichen Gewinn der Aporie, die ihre Funktion doch gerade in der Auflösung jener unbewußten Meinungen hat, die zu ihr geführt haben (vgl. 16607 —d 6). Dies wiederum heißt, daß die Vor38 Vgl. Phaedr. 245 c, Legg. 894 c ff.

Reflexivit t und Pr fbarkeit von Wissen (169 d— 171 c)

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meinung, die der jetzt erreichten Aporie zu Grunde liegt, auch im folgenden weiter undurchschaut mitgeschleppt wird. Wie wenig in der Tat die am Kennen orientierte Vorstellung von Wissen, die wir als Quelle der aporetischen Absurdit ten haben ausmachen k nnen, f r Kritias in ihrer G ltigkeit ersch ttert worden ist, zeigt seine Reaktion auf die von Sokrates 169 d 3-7 formulierte Untersuchungsaufgabe: die M glichkeit, zu wissen, was einer wei und was er nicht wei , aus der vorausgesetzten επιστήμη επιστήμης herzuleiten. Kritias glaubt n mlich, die geforderte Ableitung unmittelbar folgern zu k nnen (i69d9) und begr ndet das so: „Wenn jemand das Wissen (επιστήμη) hat, welches sich selbst kennt (γιγνώσκει), so mu er ja auch so sein, wie das ist, was er hat; so wie einer geschwind ist, wenn er Geschwindigkeit hat, und sch n, wenn Sch nheit, und wenn Kenntnis (γνώσις), kennend, so auch, wenn jemand die Kenntnis ihrer selbst (γνώσις αυτής) hat, dann mu er auch sich selbst kennen" (16961-5). An dieser Begr ndung ist zun chst dies auff llig, da sie - was Sokrates auch sogleich kritisch einwendet (e 6-8) - gar nicht das beweist, was zu beweisen ist: Kritias' Argument f hrt nur bis zur Selbstkenntnis, nicht bis zum Wissen, was einer wei und was er nicht wei . Aufschlu reich ist nun die Ahnungslosigkeit, mit der Kritias sich gegen die Kritik des Sokrates verteidigt: ihm gelten sich selbst Kennen und Wissen, was einer wei und was er nicht wei , f r identisch (170 a i) 39 . Die Identifikation von Wissen (είδέναι) und Kennen (γιγνώσκειν), die Kritias mit dieser Antwort direkt ausspricht, hat aber ihre Spuren schon in der vorauf gegangenen Begr ndung hinterlassen; signifikant ist hier vor allem, wie Kritias die επιστήμη επιστήμης des Sokrates (169 d 4) ber die επιστήμη ή αύτη αυτήν γιγνώσκει (e i) zur γνώσις αυτής (e 4) umwandelt. Und da γνώσις und γιγνώσκειν, mit denen επιστήμη und είδέναι hier ineinsgesetzt werden, ein gegenst ndliches Kennen meinen, beweist die Konstruktion mit akkusativischen Objekten. Auch der offenbare Fehlschlu , der der Begr ndung des Kritias zu Grunde Hegt, der Schlu n mlich vom Besitz einer Kenntnis ihrer selbst (όταν δε δη γνώσιν αυτής τις εχη) zur Kenntnis seiner selbst (γιγνώσκων που αυτός εαυτόν τότε ε'σται) (169 e 4-5) scheint auf einer Substitution gegenst ndlich vorgestellter Objekte zu beruhen. 3

9 Th. G. Rosenmeyer (Plato and Mass Words, Transactions of the American Philological Association 88 (1957) 88 -102) macht diesen Sprachgebrauch des Kritias f lschlich zur Terminologie des Dialoges, wenn er sagt: „There are two terms for knowledge, γιγνώσκειν and έπίστασθαι with their derivatives, used interchangebly by both Socrates and Critias." (a. a. O. 88)

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Zweites Kapitel: Charmides

Sokrates repliziert auf die Ineinssetzung von Selbstkenntnis und Wissen, was man wei und was man nicht wei , mit einem ironischen ,M glicherweise' ("Ισως); seinen Zweifel an dieser Identifikation macht er durch ein Understatement deutlich: er versteht n mlich, wie er sagt, nicht einmal, wie es dasselbe ist, zu wissen, was man wei , und zu wissen, was man nicht wei (170 a 2-4). Auf Kritias' Frage, wie das gemeint sei (a 5), entwickelt nun Sokrates, da von einem Wissen des Wissens aus nur erkannt werden kann, da ich etwas wei , nicht aber, was ich wei (i7ob6-io,d 1-3); ebensowenig kann, wie der anschlie ende Gang entwickelt (i7od5-i7i c 9), ein Wissen des Wissens erkennen, wovon jemand anders etwas wei , sondern nur, da er etwas wei (171 a 3-4). Diese beiden Beweisg nge des Sokrates h ngen aber an einer Pr misse, die er sich zu Beginn von Kritias zugeben l t: eine Pr misse, die noch einmal Kritias' Vorverst ndnis von Wissen illustriert. Sokrates fragt n mlich seinen Mitunterredner, ob ein Wissen des Wissens „mehr imstande sein wird zu unterscheiden, als da hiervon das eine Wissen ist, das andere kein Wissen" (170 a 6-8) und Kritias verneint das: nur dazu und nicht zu mehr bef higt seiner Meinung nach die επιστήμη επιστήμης. Diese Unterscheidungsleistung und die Beschr nktheit auf sie sind aber gerade ein Charakteristikum des Kennens: wer etwas kennt - dies Etwas mag ein einzelner Gegenstand (eine einzelne Qualit t) oder eine Gruppe von Gegenst nden sein, kann unterscheiden, da von vorliegenden Diesen (τούτων) das eine das Bekannte, das andere nicht das Bekannte ist. Der kontradiktorische Gegensatz von A und Non-A liegt der kategorialen Struktur des Kennens zu Grunde. Die Kenntnis von A bef higt ber die Unterscheidung von A und Non-A hinaus nicht zu weiteren Differenzierungen innerhalb von A oder Non-A. Wird Wissen, wie Kritias es hier tut, nach dem Modell von Kennen verstanden, dann sind in der Tat die von Sokrates entwickelten Konsequenzen ganz nat rlich. Eine als γνώσις αυτής (16964) vorgestellte επιστήμη επιστήμης kann, was Sokrates auseinanderlegt, nur wissen, da ein Wissen vorliegt, nicht aber wissen, was in diesem vorliegenden Wissen gewu t wird (170 b 6 - d 3). Hat man aber das Wissen des Wissens dergestalt von den Inhalten des von ihm gewu ten Wissens losgemacht, so ergibt sich als unmittelbare Konsequenz die Unm glichkeit der Pr fung fremden Wissens (170 d 5-10). Eine Unterscheidung des vorget uschten oder eingebildeten Wissens vom wirklichen Wissen ist f r die επιστήμη επιστήμης dann nicht mehr m glich (1706 1-3). Zu solcher Pr fung scheint nun berhaupt nur noch der f hig, der zus tzlich zur Besonnenheit (προς τη σωφροσύνη 17102)

Kenntnis von Allem und Wissen des Guten (171 d— 175 a)

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noch das Wissen dessen besitzt, den er pr fen soll (1710 i-io). Die Kehrseite dieser Vorstellung eines von allen Inhalten von Wissen entfernten Wissens des Wissens ist der Mediziner, der nur etwas vom Gesunden und Kranken, aber nichts mehr von der Medizin verstehen soll (17065 171 a i). Die Argumente des Sokrates deuten jedoch zugleich an, wo der Fehler, der f r die deduzierten Absurdit ten verantwortlich ist, gesucht werden mu . Die Konsequenz eines Wissens des Da ohne das Wissen des Was ergibt sich, wie Sokrates erinnert, „wenn die Besonnenheit einzig (μόνον) die επιστήμη επιστημών ist" (i7oc6; vgl. a. die zweimalige Wiederholung des μόνον 170 b 9-10; d 1-3). Diese Beschr nkung hatte sich aber, wie wir gesehen haben (vgl. oben 67), auf Grund der unausdr cklichen Orientierung am Modell des Kennens ergeben.

d) Kenntnis von Allem und Wissen des Guten (171 d — 175 a) Dieser letzte Abschnitt der Argumentation gilt dem zweiten Teil der 167 b 1-4 formulierten Untersuchungsaufgabe: der Frage nach dem Nutzen (ώφελία) eines Wissens, was einer wei und was er nicht wei . Wieder wird in der Weise hypothetisch argumentiert, da vorausgesetzt wird, was die beiden vorangegangenen Abschnitte nicht hatten beweisen k nnen: die M glichkeit eines Wissens des Wissens und die M glichkeit, zu wissen, was einer wei und was er nicht wei (172 c 7-9). Schon bei einer oberfl chlichen Betrachtung dieser Passage f llt die Ausf hrlichkeit der u erungen des Sokrates in der ersten H lfte auf (vgl. 171 d i - 172 a 5; 172 b 2 -c 2; 172 c 4 - d 5; 173 a 7 - d^). Zwar gibt Sokrates auch hier nicht die Rolle des Fragers auf, aber an die Stelle knapper Frageschritte in einem argumentativen Gang treten l ngere Expositionen, von denen nur die ersten beiden in eine Frage an Kritias m nden. Der Grund f r diese Ausf hrlichkeit l t sich aus dem abnehmen, was die Bemerkungen inhaltlich sagen. Sie dienen n mlich einer ganz bestimmten elenktischen Strategie: diese will eine letzte, paradoxe Konsequenz aus der von Kritias unbewu t vorausgesetzten Vorstellung von Wissen ziehen, eine Konsequenz, die gerade vermittels einer These erreicht werden soll, zu der Kritias durch die Argumentation des Sokrates gewisserma en provoziert wird. Die intendierte Konsequenz ist die, da der Sophrosyne auch noch

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Zweites Kapitel: Charmides

jenes Wissen abgesprochen wird, das ihr als einer Arete unabtrennbar zuzugehören scheint, das Wissen von Gut und Schlecht. Sokrates beschreibt (171 d-172 a) mit einem Pathos, das nach Ironie schmeckt, den Nutzen, den die Sophrosyne für das menschliche Leben hätte, wäre sie - was man zu Anfang der Diskussion angenommen, aber dann nicht bewiesen hatte - das Wissen, was einer weiß und was er nicht weiß. Weder würde man selbst sich täuschen können, noch könnte man von anderen über ihre Fähigkeiten und Kenntnisse getäuscht werden; vielmehr würde in allen Bereichen öffentlichen wie privaten Lebens, in Polis und Oikia nur der reine Sachverstand herrschen und ein allgemeines Wohlergehen garantieren. Kritias ist völlig überzeugt, daß dies in der Tat der Nutzen eines Wissens sei, das weiß, was einer weiß und was er nicht weiß. Aber da sich, wie Sokrates resigniert fortfährt, ein solches Wissen nicht gezeigt hat, scheint der einzige Nutzen der Sophrosyne darin zu liegen, daß sie ein Erwerben von eigenem und Prüfen von fremdem Wissen (vorausgesetzt, der Prüfende ist selbst im Besitz des Wissens, das den Gegenstand der Prüfung bildet) erleichtert; ihr bleibt nur eine gewissermaßen katalysatorische Funktion (17237-02). Auch das findet die Zustimmung des Kritias. Aber nun vollzieht Sokrates eine Schwenkung: mit dem zweifelnden „Vielleicht" (17204), in dem unmittelbar das /vielleicht auch nicht* liegt, sagt er sich zunächst von der zuletzt erreichten Position los (172 04-5) und geht dann einen Schritt weiter, indem er die Begründetheit und das Recht der zuvor (172 a) gemachten Homologie bestreitet - nicht ohne sich für den „Unsinn", den er da redet ( ' 172 c5), zu entschuldigen (172 c 5 — d 5). Das Manöver des Sokrates erreicht seinen Zweck: Kritias wird, ohne daß er dies eigentlich bemerkt, dazu gebracht, eine Position einzunehmen, die sich auf Grund der in der voraufgegangenen Diskussion gemachten Annahmen nicht vertreten läßt. Er sieht nur das Paradoxe des sokratischen Zweifels (172 63); daß das, was Sokrates da vorbringt, die Konsequenz eines Fehlers der Untersuchung (worauf 172 e 6 implizit hinweist) und die Selbstbeschuldigung des Sokrates bare Ironie sein könnte, eine Kritik an Folgerungen, die sich aus (möglicherweise unausdrücklichen) Prämissen der Untersuchung ergeben (und damit eine Kritik dieser Prämissen), kommt ihm nicht in den Sinn. Daß Sokrates mit dem, was ihm, wie er sagt, „vorschwebt" ( 17333-4), keine eigene These aufstellen will, macht er durch die Apostrophierung seiner Ausführungen als „Traum" hinlänglich klar, als etwas, über dessen Wahrheit oder Unwahrheit noch nicht entschieden ist: das

Kenntnis von Allem und Wissen des Guten (171d — ] 75 a)

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ist der Sinn des είτε δια κεράτων είτε δι' ελέφαντας (ι73 a 7~8) 4°· Die These dieses „Traumes" klingt in der Tat paradox: Zwar soll die Herrschaft der Sophrosyne, d. h. der Ausschlu der Hochstapler und Unf higen von Aufgaben, f r die sie nicht geeignet sind, und die alleinige Zulassung der Sachverst ndigen, dazu f hren, da das Menschengeschlecht „sachverst ndig" (έπιστημόνως i 7 3 d i ) handeln und leben w rde, aber da daraus Wohlergehen und Gl ck folgen soll, sei nicht einzusehen (173 a / -d5). Wenn Sokrates bei dieser Behauptung die erste Person Pluralis benutzt (οΰπω δυνάμε&α μαϋεΐν 173 d 5), so scheint das ein Hinweis darauf, da hier nur eine Folgerung aus dem gemeinsamen Gespr ch gezogen wird. Kritias wendet ein, da sich ein anderes Ziel f r das Wohlergehen schwerlich wird finden lassen, wenn das des Handelns „gem der Episteme" (έπιστημόνως) abgelehnt wird (i73d6-/). Sokrates bittet daraufhin mit ironischer Untertreibung, nur ber eine Kleinigkeit noch belehrt zu werden, n mlich ber den Inhalt der Episteme, die in so innigem Zusammenhang mit dem ευ πράττειν stehen soll: er ist dabei geschickt genug, seinem Unterredner Beispiele vorzuschlagen, deren Ablehnung durch Kritias voraussehbar ist; erst dadurch hat er im nachhinein die Unterstellung gerechtfertigt, die seine Frage (und noch nicht der erz hlte Traum) machte, die Unterstellung n mlich, da berhaupt ein bestimmtes Wissen f r das ευ πράττειν verantwortlich ist. Die banausischen, handwerklichen Technai des Schusters, Schmiedes, Webers oder Schreiners ( i 7 3 d 9 - e ^ ) k nnen in den Augen des Aristokraten Kritias keine m glichen Anw rter f r die gesuchte Episteme sein41. Aber hier hat Sokrates in Wahrheit ein Standesvorurteil dieses Angeh rigen der athenischen leisure class benutzt, um eine sachliche Wahrheit sichtbar zu machen, die einen ndern Grund hat als den von Kritias offenbar unterstellten. Seine Antworten treffen n mlich deshalb etwas Richtiges, weil das Wissen der Handwerker, f r sich genommen, in der Tat nicht die Eupraxia garantiert. In der von Sokrates bezweifelten Homologie war still40

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Die Anspielung geht auf Odyssee XIX, 560 - 569. Dort erz hlt Penelope dem von ihr noch nicht erkannten Odysseus einen Traum, der den Tod der Freier ank ndigt, den sie aber noch nicht so deuten kann. hnlich wie Men. 85 c 9 und Theaet. 201 d will die Metapher des Traums auch an dieser Stelle einen Logos charakterisieren, der erst noch in den Zusammenhang mit anderem Wissen gebracht werden mu , um einen verst ndlichen Sinn zu bekommen. Kritias' Verachtung der Handwerker war schon 163 b zum Ausdruck gekommen. Dort nannte er Schuhmacherei, Heringsverkauf und Prostitution als Beispiele f r T tigkeiten, die mit dem Hesiodeischen έργον ουδέν όνειδος schlechterdings nicht gemeint sein k nnten. Vgl. a. Witte a. a. O. 83.

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schweigend vorausgesetzt worden, da wir, die wir die wirklich Sachverst ndigen dank der Besonnenheit sollten erkennen k nnen, zum richtigen Gebrauch der von diesen erbrachten Leistungen und verfertigten Produkte bef higt sind (vgl. 171e1-2; 173 c 2). Die F higkeit richtigen Gebrauches zu haben, hei t aber, ein Wissen von Gut und Schlecht zu besitzen. Es ist diese zus tzliche Pr misse, die Sokrates explizit machen will, wenn er sich von der Behauptung des unmittelbaren Nutzens der Sophrosyne distanziert. Hat man erst einmal, wie Kritias es hier tut, ein bestimmtes Wissen als nicht f r die Eupraxia konstitutiv ausgeklammert, so ergibt sich die Konsequenz, die die Antwort des Kritias dann schlie lich (i/4b 10) ziehen wird, ganz zwangsl ufig. Nachdem Sokrates 173 e 6-10 aus den vorausgegangenen Antworten des Kritias die Bilanz gezogen hat, da die Gleichsetzung des erkenntnism igen und gl cklichen Lebens (die Kritias' Kritik am Traum des Sokrates noch unterstellt hatte) von Kritias aufgegeben ist und es also eine spezifische Episteme (vgl. περί τίνων έπιστημόνως 17369) sein mu , die den Gl cklichen gl cklich macht, schl gt er ihm abermals, wie schon 173 C9 ff., eine Antwort vor: „Vielleicht meinst du den, dessen ich eben (n mlich 173 c 3-4) erw hnte, der das Zuk nftige alles wei , den Wahrsager?" (173610174 a i). Kritias gibt zur Antwort, da er zwar auch den Wahrsager, aber ihn nicht ausschlie lich meine (174 a 3). Weder Sokrates noch der Sophist Kritias (noch auch das Publikum, f r das Platon seinen Dialog schrieb) d rften jenes Vorauswissen alles Zuk nftigen, auf das die Wahrsagekunst Anspruch erhebt, f r ein dem Menschen m gliches Wissen halten. Vielmehr dient das einmal hypothetisch angenommene Wissen des Sehers dazu, einen bestimmten Typ von Wissen zu illustrieren. Der Charakter einer hypothetischen Konstruktion wird vollends deutlich, wenn Sokrates auf die Antwort des Kritias eine Art ber-Seher fingiert, der zu allem Zuk nftigen auch alles Vergangene und Gegenw rtige wissen soll (174 a 4—6); θ ώ μ ε ν γαρ τίνα είναι αυτόν (a 6 Sperrung v. Vf.) hei t es dort ausdr cklich. Der Kontext der Argumentation zeigt, welcher Typ von Wissen durch dieses Beispiel exemplifiziert werden soll. Es ist ersichtlich im Hinblick auf Kritias gew hlt. Schon die erste Erw hnung der μαντική im Traum des Sokrates gibt sich als eine Konzession an Kritias (vgl. ει δε βούλοιό γε 173 c 3) Und die Frage, ob Kritias denn in der Mantik das gesuchte gl ckbringende Wissen sehe, entspringt einer Vermutung des Sokrates: ίσως λέγεις 1736 ίο; sie wird nicht unvermittelt gestellt wie die drei voraufgehenden Fragen. Noch wichtiger aber ist, da jene fingierte Allwissenheit, die Vergangenes

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und Gegenw rtiges und Zuk nftiges berschaut, f r Kritias ein Ideal von Wissen darstellt: „Und ich denke doch, du wirst nicht behaupten, da irgend jemand erkenntnism iger lebe als dieser?" erkundigt sich Sokrates (17436-8) in einer Frage, die das Ich und Du der Unterredner nicht zu dem Wir einer Homologie zusammentreten l t. „Freilich nicht", erwidert Kritias (17439). Aber die tiefsinnige Ironie dieses Beispiels tritt eigentlich erst zu Tage, wenn wir auf den unausdr cklichen Gegensatz achten, in dem das Wissen des Mantis (und die fingierte Allwissenheit) zu dem vorher erw hnten Wissen der Handwerker steht. Dies letztere Wissen ist n mlich nicht, wie es den Anschein haben k nnte, als Teil in jener mantischen Allwissenheit enthalten, sondern von spezifisch anderer Art: es ist ein Wissen aus Gr nden. So kann auch der Technites im Bereich seiner Techne das Eintreten bestimmter Ereignisse voraussagen, aber nicht, weil ihm ihr Eintreten in der Zukunft schon so bekannt w re wie das Eingetretensein vergangener Ereignisse, sondern weil er Gr nde hat, die beweisen, da es so oder so kommen mu . Im Wissen des Sehers und in der fingierten Allwissenheit ist dagegen ein Wissen gemeint, aus dem Gr nde und Begr ndung g nzlich getilgt sind, eben weil die unmittelbare Bekanntheit mit dem je Gewu ten den Begriff des Grundes sinnlos macht. Die Allwissenheit, in der Kritias die Vollendung des Wissens sieht, ist nicht ein Inbegriff alles m glichen Wissens, sondern das Ideal einer universalen Kenntnis: wer sie hat, dem ist „nichts unbekannt" (μηδέν άγνοοΐ 174 a 6) 42. Das Beispiel des mantischen Wissens und der Allwissenheit erf llt so auf eine doppelte Weise seine illustrative Funktion. Es dient n mlich gerade dadurch, da es f r Kritias ein Ideal von Wissen illustriert, zur Illustration seiner Vormeinung ber das, was Wissen ist: nur wo Wissen schon nach dem Modell des Kennens d. h. als Bekanntsein mit etwas vorgestellt ist, kann die universale Kenntnis einer mantischen Allwissenheit als die Vollendung von Wissen erscheinen. Da, wie Kritias sofort zugesteht, nicht alle Epistemai in gleicher Weise das Gl ck jenes allwissenden Sehers bewirken (174310-12), fragt Sokrates wiederum, welches Wissen denn daf r vor allem (μάλιστα b i) verantwortlich ist: „Was doch aus allem Gegenw rtigen, Vergangenen und Zu42

Tuckey scheint mir die Pointe und den Sinn des μηδέν άγνοοΐ zu verkennen, wenn er (a. a. O. 77) bemerkt, „that Socrates, in 174 a, does not describe the man in question as knowing merely all events, present, past and future, but as being fully omniscient (και μηδέν άγνοοΐ). Thus he knows all events, and understands all crafts and sciences as well". Alles kennen ist eben nicht alles wissen.

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k nftigen wei er durch diese (sc. Episteme)?" (174b 1-2). Wieder geht Sokrates fragend eine Reihe von Beispielen durch, wobei bemerkenswert ist, da er durch die Form seiner Fragen („Etwa was zum Brettspiel geh rt?" „Oder zum Rechnen?" - „Oder zur Gesundheit?" 174 b 2-7) vermeidet, dem Mantis die den genannten Wissensgebieten entsprechenden Epistemai zuzusprechen. Erst auf eine direkte Frage (i74b 9) gibt Kritias die Antwort, das gesuchte Wissen habe das Gute und Schlechte zum Inhalt (174 b i o). Das l st die ironische Beschwerde des Sokrates aus, Kritias habe ihn im Kreise gef hrt, indem er ihn dar ber im unklaren lie , da nicht das sachverst ndige Leben (το έπιστημόνως ζην), sondern einzig das Wissen von Gut und Schlecht das gl ckliche Leben bewirke ( i 7 4 b n - C 3 ) . Die Ironie ist offenkundig: Sokrates unterstellt als Absicht, was in Wahrheit dem Kritias durchaus gegen seinen Willen wiederf hrt; die Argumentation hat sich von 173 d 3 bis i74b 10 im Kreise gedreht, denn aus der Antwort des Kritias l t sich, was Sokrates sofort auch tut, als negative Konklusion jene These ableiten, die der Traum des Sokrates aufstellte (vgl. 173 d 3-4), die Kritias aber dort bestritten und dadurch die nachfolgende Diskussion ausgel st hatte43. Sokrates geht, als er in seiner ironischen Replik die Antwort des Kritias zitiert, nur in einem, allerdings entscheidenden Punkt ber sie hinaus: in der Hinzuf gung des „einzig" (μιας C2). Er begr ndet diesen Zusatz im n chsten Argumentationsschritt, der dem Kritias ein Gedankenexperiment vorschl gt: denkt man sich dies Wissen (von Gut und Schlecht) einmal aus allen anderen Epistemai weg, so wird zwar die Medizin nach wie vor die Heilung Kranker herbeif hren, die Schuhmacherei wird Schuhe herstellen usw., aber ein Nutzen dieser Leistungen und Erzeugnisse wird dann offenbar nicht mehr gegeben sein ( i 7 4 C 3 ~ d i ) . Ihr Nutzen h ngt vom richtigen Gebrauch und dieser von eben dem Wissen von Gut und Schlecht ab. Kritias stimmt dem zu ( i 7 4 d 2 ) . Erst damit ist die επιστήμη άγαθοΰ τε και κάκου wirklich als notwendige Bedingung der Eudaimonia gesetzt. Sie eigens als diese Bedingung herauszustellen, ist aber f r Sokrates deshalb n tig, weil Kritias dem Wissen von Gut und Schlecht diese Rolle einer notwendigen Bedingung zun chst durchaus nicht zuerkannt hatte: f r ihn war dies Wissen vom Wissen des Mediziners etwa nur graduell, nicht prinzipiell •W Es scheint mir nicht richtig, das πάλαι με περιέλκεις κύκλφ von 174 b 11 auf 163 e ίο zur ckzubeziehen, wie es die meisten Erkl rer tun (vgl. Schirlitz a. a. O. 531; Tuckey a.a.O. 77; Dieterle a.a.O. 288; Witte a.a.O. 135). Dort ist von der πραξις αγαθών, nicht von einer επιστήμη άγαϋοΰ die Rede.

Kenntnis von Allem und Wissen des Guten (171d— 175 a)

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in der zur Diskussion stehenden Funktion (des εύδαίμονα ποιεϊν) unterschieden; das zeigt seine Antwort i/4b 8. Nachdem Kritias also die These ausgesprochen hat, auf die alle argumentativen Veranstaltungen des Sokrates seit 171 d i hinzielten, und nachdem diese These durch das beschriebene Gedankenexperiment von der Implikation gereinigt ist, die ihr f r Kritias zun chst noch anhing, l t sich die aporetische Konklusion schnell ziehen: die Sophrosyne ist, auch wenn man die M glichkeit einer επιστήμη επιστήμης sowie eines Wissens, was einer wei und was er nicht wei , unterstellt (172 c; 175 bc), ohne Nutzen. Ist n mlich das Wissen von Gut und Schlecht notwendige Bedingung f r Nutzen und ist das Wissen des Wissens nicht das Wissen von Gut und Schlecht, so kann die Sophrosyne als Wissen des Wissens jedenfalls an ihr selber sowenig von Nutzen sein wie irgendeine der zuvor (174 c 5 - d i) erw hnten Technai. Gegen diese Folgerung wendet Kritias ein, da die Sophrosyne als επιστήμη επιστημών allen anderen Epistemai und damit auch dem Wissen von Gut und Schlecht vorgeordnet ist (έπιστατεΐ 174dp, vgl. άρχουσα 1746 i). Damit m sse ihr aber auch ein Nutzen zukommen. Der Aristokrat Kritias scheint hier in Analogie zu seiner Vorstellung von politisch-gesellschaftlicher Ordnung zu schlie en: was der Rangordnung nach h her steht, kann dem Werte nach nicht niedriger stehen als das, wor ber es gesetzt ist. An Sokrates' Widerlegung dieser Einrede f llt zun chst auf, da er gegen die Metaphern politischer Herrschaft (έπιστατεΐ 174dp und άρχουσα 174 e i), wie sie Kritias benutzt hatte, Begriffe der handwerklichen Produktion setzt (ποιεϊν 174 e 3, 4; δημιουργός 174 e 9, 175 a 7; έργον 174 e 5, 175 a 4). Sachlich verweist Sokrates darauf, da die Sophrosyne, obwohl sie (so ist stillschweigend mitzuverstehen) als Wissen des Wissens allen Technai in einem spezifischen Sinn bergeordnet ist, doch keineswegs die jeweilige Leistung (έργον) dieser Technai erbringt (174 63-175 a i ) . Dadurch da Sokrates analog auch den Nutzen als έργον und das Wissen von Gut und Schlecht als korrespondierende Techne behandelt, kann er Kritias schnell dazu bringen, die Nutzlosigkeit der Besonnenheit zuzugeben (17533 — 8). Aber auch hier erinnert Sokrates an die zur ckliegende (πάλαι 174 e 5) Voraussetzung, die den Ausschlu der Sophrosyne von einem Wissen des Guten bedingt: die Beschr nkung n mlich der Besonnenheit darauf, Wissen einzig (μόνον 17466) von Wissen und Unwissen zu sein (17465-7). Die Einschr nkung dieses μόνον ist die Konsequenz und Kehrseite des ου πλέον, das in der Antwort (und der mit ihr gemachten Pr misse) des Kritias 170 a 9 liegt - die Stelle, auf die das πάλαι 174 e 5 zur ckweist. Erst von die-

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Zweites Kapitel: Charmides

ser Antwort des Kritias an wird das μόνον zu einem stereotypen Begleitton in der Bestimmung der Sophrosyne (vgl. 170 b 7, c6, c 10, d$, 171 05); charakteristischerweise fehlt es vorher bei den entsprechenden Stellen (vgl. 166 e 5 - S, i 6 7 b n - C 2 , 166 0 2 - 3 : das μόνη an dieser letzteren Stelle spezifiziert den Nominativ επιστήμη, es schr nkt nicht den abh ngigen Genitiv ein). Was inhaltlich mit dieser Einschr nkung gemeint ist, zeigt die Frage des Sokrates 170 a 6-8, die durch die Antwort des Kritias in eine Pr misse der Untersuchung verwandelt wird: das Wissen des Wissens ist lediglich zu der Unterscheidung in der Lage, δτι τούτων τόδε μεν επιστήμη, τόδε δ'ούκ επιστήμη (17037-8), zu einer Unterscheidungsleistung also, die sich nicht auf Allgemeines, sondern auf je Vorkommendes, Einzelnes (τούτων!) richtet, die, wie wir gesehen hatten (s. o. 74), gerade f r Kennen charakteristisch war: das μόνον in der Bestimmung der επιστήμη επιστήμης indiziert eine Einschr nkung, die durch die Orientierung am Modell des Kennens bedingt ist. Das doxische Vorverst ndnis von Wissen produziert somit auch diese letzte und paradoxeste Aporie des Dialoges. Der Zweck unserer Interpretation war der Nachweis, da Platon die Modellfunktion der sinnlichen Wahrnehmung als Quelle undurchschauter begrifflicher Fehlinterpretationen von Wissen erkannt hat. Wir haben zeigen k nnen, da die Aporien der zweiten H lfte des ,Charmides' ihren Grund in einem Vorbegriif von Wissen haben, der durch eine Orientierung am Ph nomen der Kenntnis von Objekten bestimmt ist. Es scheint ausgeschlossen, da die Konstruktion der Aporien ohne Kenntnis ihres Prinzips erfolgt: zu deutlich ist die arrangierende Regie des Autors Platon im Ablauf des Dialoges sp rbar. Man kann vielmehr umgekehrt in der Darstellung des Vorbegriffs von Wissen innerhalb der vier untersuchten Abschnitte eine bestimmte Exposition erkennen. Wird im ersten Abschnitt (164 d -167 b) durch den unmittelbaren bergang von der Bestimmung des γιγνώσκειν εαυτόν zur επιστήμη έαυτοΰ allgemein die Orientierung von Wissen am Kennen aufgezeigt, so machen die Beispiele des zweiten Abschnittes (i67b-i69c) deutlich, da dieses unbewu te Verst ndnis von Wissen seinen Grund in der paradigmatischen Stellung der sinnlichen Welterfahrung hat. In den beiden folgenden G ngen werden Konsequenzen dieses Wissensbegriffs exponiert: 169 d — 171 c will zeigen, da es f r ein so verstandenes Wissen ein Unterscheiden im Allgemeinen, von Begriffen qua Begriffen nicht geben kann und innerhalb des letzten Abschnitts ( i 7 i d - i 7 5 a ) schlie lich wird das diesem Wissensverst ndnis entsprechende Ideal von Wissen als das einer universalen Kenntnis, einer man tischen Allwissenheit sichtbar gemacht.

Drittes Kapitel Die Anamnesis als Übergang von Meinung zu Wissen (Men. 80a—86c) Wir haben bislang zu zeigen gesucht, daß Platon die Unzulänglichkeit jener Vorstellung von Wissen erkannt hat, in der Wissen unausdrücklich nach einem aus der wahrnehmenden Welterfahrung geschöpften Modell des Kennens verstanden ist. Dies würde in der Tat der Zusammenspannung von wahrnehmbarer Welt und Doxa in der ,Politeia* eine sachliche Verstehbarkeit geben, die der Zuordnung der Welt der Wahrnehmung auf die Doxa als dem ihr korrespondierenden Erkenntnisvermögen, wie sie unter Berufung auf Pol. V, 477 und das Höhlengleichnis Platon unterstellt wird, gerade abgeht; denn daß die Sinnenweit eine Welt des Sinnenscheins sein soll, wie jenes Gleichnis zu implizieren scheint, stößt sich an dem schlicht unleugbaren Umstand, daß Sinnestäuschungen, wie sie etwa im zehnten Buch der ,Politeia' (602 c) beschrieben werden, innerhalb der Wahrnehmung immer nur ein marginales Phänomen sind und keineswegs die Durchgängigkeit und Festigkeit jener Täuschung besitzen, die das Bewußtsein der Gefangenen in der Höhle bestimmt. Wenn aber die Zuordnung zu wahrnehmbarer resp. intelligibler Welt Doxa und Episteme nicht definieren kann, wenn vielmehr deren Differenz erst aus der Differenz eines vermeintlichen und eines wirklichen Wissens über die Natur des Wissens verständlich wird, dann müßte dies für die Bestimmung des Übergangs von der Doxa zur Episteme Folgen haben. An der Darstellung des Zum-Wissen-Kommens als des Übergangs von der Doxa zur Episteme muß sich die vorgeschlagene Interpretation prüfen lassen. Dieser Übergang könnte dann nämlich nicht im bloßen Überwechseln von Bekanntem zu bislang Unbekanntem, von der wahrnehmbaren Welt zum Reich der Ideen liegen. Er müßte vielmehr an ein Zur-Einsicht-Kommen in die Falschheit einer bloßen Meinung gekoppelt sein, genauer: diese Einsicht zur Voraussetzung haben.

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Drittes Kapitel: Menon

a) „Lernen ist Wiedererinnerung" Bekanntlich schildern der ,Μεηοη', der ,Phaidon' und der ,Phaidros' das Erlangen des Wissens unter dem Bilde der Wiedererinnerung (vgl. Men. 81 c, Phaed. 76 c-e, Phaedr. 249 c) 1 . Nun scheint diese mythische Verbildlichung allerdings eher die traditionelle Auffassung eines stufenontologisch definierten Verh ltnisses von Doxa und Episteme zu unterst tzen. Die Ideen, die die Seele im „ berhimmlischen Ort" des ,Phaidros' (247 c ff.) erblickt, passen jedenfalls sehr gut zu einer Zwei-Welten-Theorie. Vor allem aber scheint der Zugang zu dieser berwelt der Eide ber den Weg der Wiedererinnerung nicht die gesuchte Struktur eines Durchgangs durch die Einsicht in einen Irrtum auf zuweisen; allenfalls k nnte, so scheint es, eine solche Einsicht die Folge der Wiedererinnerung der Ideen sein, kaum aber ihre Voraussetzung. Ein direktes und w rtliches Verst ndnis der Texte, die von der Anamnesis handeln, ist nun allerdings mit bestimmten Schwierigkeiten und Widerspr chen behaftet, die zwar in der historisch-philologischen Platonforschung nicht unbemerkt geblieben, aber dennoch nicht eigentlich aufgekl rt worden sind. Ich nenne nur die beiden Hauptschwierigkeiten: die erste ist die, da im ,Μεηοη', der doch zuerst und am ausf hrlichsten von der Wiedererinnerung redet, von einer Wiedererinnerung der Ideen gar nicht die Rede ist. Sokrates scheint sich dort zur Begr ndung seines Satzes, da Lernen Wiedererinnerung sei, nur auf die orphisch-pythagor ischen Vorstellungen von Reinkarnation und Seelenwanderung zu berufen2. 1 Zur platonischen Anamnesislehre vgl. das umf ngliche Werk von C. E. Huber, Anamnesis bei Plato. M nchen 1964. Insgesamt bringt die - neuscholastisch beeinflu te Untersuchung Hubers keine neuen Ergebnisse, aber sie interpretiert die einschl gigen Stellen kontinuierlich und verzeichnet relativ vollst ndig die Literatur zu einzelnen Interpretationsfragen. 2 Klara Buchmann (Die Stellung des Menon in der platonischen Philosophie 64 ff.) bestreitet unter Hinweis auf Menon 81 c 6 - 7, da die Anamnesis des ,Μεηοη' eine Wiedererinnerung transzendenter Ideen ist. Die Kritik an dieser Interpretation, die H. Cherniss (AJPh 58 (1937) 498) vorbringt und der P. Friedl nder (Platon II, 343) beistimmt, scheint mir nicht durchschlagend. Cherniss' Argumentation eskamotiert diese Frage mit einem „admittedly": „Yet obviously it is while disembodied that the soul got its knowledge so that what it ,saw' could be only nonsensible; and, since in the Meno ,to know' is admittedly to know the είδος, the είδη that the soul has known must be nonsensible." (Cherniss a. a. O.) Auf dem Boden jener exegetischen Pr missen, die Buchmann mit ihrem Kritiker teilt, scheint mir ihre Interpretation nicht widerlegbar. Huber, der wie Cherniss und Friedl nder die Anamnesis des ,Μεηοη' als Wiedererirurerung der Ηεεη νεΓΒΐεΙιΐ, r umt ein, da „ηίεΓ von den Ideen nicht ausdr cklich die Rede" ist (Anamnesis bei Plato 316; vgl. a. Gulley,

Psychologische und apriorische Deutung der Anamnesis

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Die zweite Schwierigkeit liegt in den Relativierungen, die Sokrates dem Wiedererinnerungsmythos im ,Menon' wie im ,Phaidros* anhängt (vgl. Men. 86 b 6 — c 2; Phaedr. 257 a). Der Vers, den sich etwa Norman Gulley auf diese Relativierungen zu machen sucht, ist nicht sehr überzeugend: Platon - dem offenbar bei dieser Mythologie nicht ganz geheuer ist — teilt uns auf diese Weise seine Zweifel mit3. Gerade diese Schwierigkeit, den Text eindeutig auf das zwar nur doxographische, aber unproblematische /wörtliche' Verständnis festzulegen, veranlaßte daher immer wieder philosophisch interessierte Leser Platons, in dem rätselhaften Satz des Sokrates, daß alles Lernen in Wahrheit ein Wiedererinnern sei, einen ändern als den wörtlichen Sinn zu suchen. Was man hier in der Verhüllung eines Mythos vor sich zu haben schien, war der Gedanke eines apriorischen Wissens. Jene Schau der Ideen vor der Geburt schien, auf ihren rationalen Kern reduziert, nichts anderes zu besagen, als daß es in der Seele Begriffe geben müsse, die nicht aus der Erfahrung stammen können, die vielmehr vor aller Erfahrung schon gegeben sein müssen, die durch diese nur geweckt, aber nie erzeugt werden können. Der erste, der die Anamnesis als eine Theorie des rein logischen Apriori interpretiert, ist Leibniz. Er beruft sich gegen die Kritik Lockes an den eingeborenen Ideen ausdrücklich auf den , ' und will Platon vor der Lockeschen Kritik an den innatae ideae des Cambridger Neuplatonismus retten. Leibniz unterscheidet im ersten Buch der ,Nouveaux Essais' zwischen Platon und den Platonikern: nur den letzteren will er das mythische Beiwerk der Präexistenz und Seelenwanderung aufladen, Platons Lehre dagegen sieht er in der geometrischen Unterweisung des Knaben dargestellt4. Kant sah in der Anamnesislehre zwar nur den „schwärmerischen Gedanken ..., alle diese (nämlich die geometrischen - Th. E.) Kenntnisse nicht für neue Erwerbungen in unserm Erdeleben, sondern für bloße Wiederaufweckung weit früherer Ideen zu halten" 5, aber die Neukantianer knüpften wieder an den Interpretationsvorschlag von Leibniz an 6 , und diese Auslegung der Wiedererinnerung im Sinne des Apriorismus behielt ihre GülPlato's Theory of Knowledge 19). Die ältere Literatur zu diesem Problem verzeichnet Buchmann a. a. O. 60 ff. 3 N. Gulley, Plato's Theory of Knowledge 22. 4 G. W. Leibniz, Die Philosophischen Schriften (ed. Gerhardt) Bd. V, 74 f. 5 I. Kant, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolfs Zeiten in Deutschland gemacht hat? Dritte Handschrift A 179. Vgl. a. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton A 391 f. 6 Vgl. P. Natorp, Platos Ideenlehre 31 f., 142 -144; ähnlich A. Stewart, Plato's Doctrine of Ideas 26 und R. E. Allen, Anamnesis in Plato's Meno and Phaedo, Rev. of Metaphysics 13 (1959/60) 170.

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Drittes Kapitel: Menon

tigkeit auch dort, wo die systematischen Pr missen des Neukantianismus verlassen wurden: etwa bei Nicolai Hartmann 7 . Es scheint aber nicht zuf llig, da auch die Versuche einer philosophischen Deutung der Anamnesislehre als einer Theorie des Apriori in Schwierigkeiten kommen und schlie lich doch immer wieder an der Metapher des Wiedererinnerns abprallen. Leibniz kritisiert die „erreur de la preexistence" 8 und Natorp bemerkt zum ,Phaidon',„da das a priori hier wie im Menon und Phaedrus eine psychologische und schlie lich metaphysische Wendung nimmt" 9. In der Tat - soll der Sinn der Anamnesis eine Theorie des Apriori sein, dann ist die Metapher der Wiedererinnerung mit ihren temporalen Implikationen eine umst ndliche, wo nicht irref hrende Maskerade. Sieht sich die orthodoxe Lesart der platonischen Anamnesis einem nur doxographisch verst ndlichen Lehrst ck gegen ber, wobei dieses doxographische Verst ndnis durch die ironischen Zur cknahmen des mythisch Erz hlten in den Dialogen selbst ebenso auch wieder in Frage gestellt ist, so kann umgekehrt der aprioristische Interpretationsvorschlag den Gedanken eines apriorischen Wissens nicht wirklich mit der Metapher der Wiedererinnerung zur Deckung bringen. Eine Interpretation, welche die M ngel beider Auslegungstraditionen vermeiden will, wird deshalb gut daran tun, das in Rede stehende Ph nomen des Wiedererinnerns selber ph nomenologisch auf seine Struktur hin zu untersuchen. Erst wenn wir so - unseren in der Einleitung niedergelegten Grunds tzen folgend - die als Metapher beigezogene Ph nomenstruktur in ihre ph nomenalen Momente auseinandergelegt haben, werden wir sehen k nnen, was der eigentliche Punkt des Vergleiches und damit der Sinn der platonischen Anamnesis ist. — Das griechische άναμιμνήσκεσΦαι hat, wie eine Philebosstelle zeigt, eine doppelte Bedeutung (vgl. Phil. 34 b 6 - c 2): einmal meint es das Sich-Vergegenw rtigen von Behaltenem, das Sich-Erinnern (34 b 6-8), zum anderen aber hat es den Sinn des Sich-WzWererinnerns an etwas, das dem Behalten der μνήμη entfallen ist (34b io-c 2). Wiedererinnerung ist dadurch charakterisiert, da sie gegen den Widerstand eines Vergessenhabens gerichtet ist (vgl. Phil. 34bio: άπολέσασα μνήμην und Phil. 3363: λήθη μνήμης έξοδος). Die Anamnesis der Anamnesislehre geh rt nun offenbar 7

Vgl. N. Hartmann, Das Problem des Apriorismus in der platonischen Philosophie, in: N. Hartmann, Kleinere Schriften Bd. II, 48 - 85. 8 G. W. Leibniz, Discours de Metaphysique. Philos. Schriften (ed. Gerhardt) Bd. IV, 451 f. 9 P. Natorp, Platos Ideenlehre 145; vgl. Allen a. a. O. 171, Ovink a. a. O. 89.

Die phänomenologische Struktur von Wiedererinnerung

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dem zweiten Typ zu: sie ist Wiedererinnerung von Vergessenem, nicht Vergegenwärtigung von Behaltenem. Der ,Phaidros' ebenso wie der ,Phaidon' unterstreichen den Bezug auf ein Vergessenhaben (vgl. Phaedr. 248 a 7; Phaed. 75 d- 76 a). Das assoziative Erinnertwerden an Bekanntes, von dem die Diskussion der Anamnesis im ,Phaidon' ausgeht, ist auch dort nur eine Art der Anamnesis ( 73 e i) und dient als Folie für das Erinnern von Vergessenem (73 e 1-3). Bis auf seltene Ausnahmen ist die Anamnesis in der Platonforschung auch immer als W/Wererinnerung verstanden worden10. Wiedererinnerung hat nun aber eine spezifische Struktur, die ihrerseits wiederum durch die Struktur dessen bestimmt ist, wogegen sich Wiedererinnerung richtet, nämlich Vergessenheit. Vergessen hat seine eigentümliche Auszeichnung darin, daß es nicht schlicht ein Vergessen von etwas ist, sondern immer auch noch das Vergessen selber mitvergißt. Nicht dann, wenn mir .einfällt', wenn ich mich .erinnere', daß ich etwas vergessen habe, bin ich wirklich im Zustande der Vergessenheit, sondern dann, wenn ich mir meines Vergessens überhaupt noch nicht bewußt geworden bin. Und jedesmal, wenn einem bewußt wird, daß man etwas vergessen hat, ist diesem Bewußt werden das Nicht-Bemerken des Vergessenhabens vorauf gegangen. Vergessenheit ist wie der blinde Fleck unseres Gesichtsfeldes, an dem man ja auch bekanntlich nicht nur nichts sieht, sondern von dem man auch nicht einmal bemerkt, daß man dort nichts sieht. Diese phänomenologisch aufweisbare Struktur von Vergessen, daß in einem Vergessen von etwas die Vergessenheit selber unbemerkt bleibt, hat auch in der Grammatik von ,Vergessen' einen Indikator: bei ,vergessen' gibt es nicht eigentlich ein Präsens; die (morphologischen) Präsensformen haben futurischen oder bei den verneinten Formen häufig — durativen Sinn n. Die aufgezeigte formale Struktur von Vergessenheit bestimmt nun die Erinnerung von Vergessenem, Wiedererinnerung also, in der Weise, daß Wiedererinnerung eine Abfolge von zwei Erkenntnisakten ist: zunächst der Erkenntnis, daß man etwas Bestimmtes nicht mehr weiß, weil man es vergessen hat, dann der erneuten Erinnerung des Vergessenen selber. Anders 1° Zu diesen Ausnahmen zählt N. Gulley, der die Anamnesis der Ideen im JPhaidon' für ein unmittelbares assoziatives Erinnern hält, vgl. Plato's Theory of Recollection, Class. Quart. 48 (1954) 194-213 bes. 198; s.a. Plato's Theory of Knowledge 31. Dazu Bluck a. a. O. 49. 11 Eine genauere Untersuchung der Sprachgebräuche von .Vergessen', die den Rahmen unserer Untersuchung überschreiten würde, hätte vor allem den Unterschied zu beachten, der zwischen dem Vergessen von Gedächtnisinhalten und dem von Handlungen besteht: zwischen .etwas vergessen' und .etwas zu tun vergessen'.

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Drittes Kapitel: Menon

gesagt: damit mir Vergessenes wieder zu Bewußtsein kommen kann, muß mir immer zunächst bewußt werden, daß ich es vergessen habe. Nun ist unschwer zu sehen, daß diese Stufenfolge in jedem Wiedererinnern ihr Pendant im Übergang vom bloßen Meinen zum Wissen hat: Vergessenheit wie bloße Meinung sind beide formal als ein Nichtwissen des Nichtwissens charakterisierbar. Und der Übergang zum Wissen (zum Wiedererinnerthaben) ist in beiden Fällen daran geknüpft, daß man seines Nichtwissens inne wird. Eben diese strukturelle Analogie von Wiedererinnerung und Zur-Einsicht-Kommen (Lernen) hat Platon vor Augen, wenn er das Wissen als nur in einem Prozeß der Wiedererinnerung erreichbar darstellt. Die Kritik der Neukantianer am Psychologismus der platonischen Anamnesis übersieht gerade die hier gemeinte Analogie. Umgekehrt erweist eine so verstandene Anamnesis die Richtigkeit unserer oben geäußerten Vermutung, daß der Übergang von Doxa zu Episteme nicht als Überwechseln von einem Gegenstandsbereich in einen anderen zu denken ist, sondern an den Durchgang durch die Einsicht in einen Irrtum gebunden ist. b) Die Geometriestunde im ,Menone Daß es Platon in der Tat auf die herausgestellte Struktur von Anamnesis ankommt, wenn er Lernen und Wiedererinnern parallelisiert, zeigt nun höchst eindrucksvoll jene Demonstration, in der Sokrates ganz außerhalb alles mythischen Beiwerks seine These vom Lernen als Wiedererinnern illustriert: die berühmte ,Geometriestunde' des JMenon' (Men. 82 b 985 b 7) 12 : Sokrates erläutert dem Knaben zunächst die geometrische Aufgabe der Quadratverdoppelung ( 8 2 b 9 - d / ) und bringt dann durch seine Fragen aus ihm heraus, daß sich die gestellte Aufgabe „offenbar" ( 8z e 2) durch das einfache Mittel der Seitenverdoppelung lösen läßt (82 d 7 -e 3 )· An dieser Stelle unterbricht Sokrates den Gang der geometrischen Untersuchung, um Menon ausdrücklich auf das bloße Meinen, das (vgl. 82 e 5, 10) seines jungen Gesprächspartners hinzuweisen (82 e 4-11). Auf die Metapher der Anamnesis bezogen, ist der Knabe hier im Zustand jener gedoppelten Vergessenheit, von der alle Wiedererinnerung ihren Ausgang nimmt. Sokrates übersetzt daher nur seine Bemerkung über das 12 Zur „Geometriestunde" des ,Menon' vgl. neben dem Menon-Kommentar von Bluck den Aufsatz von M. S. Brown, Plato Disapproves of the Slave-Boy's Answer, Rev. of Met. 2i (1967) 57-93.

Die Geometriestunde im ,Μαιοη'

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οΐεσθαι ε'ιδέναι des Sklaven in die Begriffe der Anamnesis, wenn er die Unterbrechung des geometrischen Argumentes mit der Aufforderung an Menon schlie t: „Gib nun auf ihn acht, wie er sich schrittweise (εφεξής) wiedererinnert, so wie man sich wiedererinnern mu (ως δει άναμιμνήσκεσθαι)." (82 e 12-13) Mk dem εφεξής ist auf jene Stufenfolge im Proze des SichWiedererinnerns hingewiesen, die vom Vergessenhaben ber die Erkenntnis, da man etwas vergessen hat, zur Erinnerung des Vergessenen f hrt )3 . Abermals bringt Sokrates dann im zweiten Teil der geometrischen Epideixis (82 e 14 - 84 a 2) nur durch Fragen den Sklaven zur Einsicht in den Fehler seiner ersten Antwort und ber einen zweiten irrigen Vorschlag zum Eingest ndnis seines Nichtwissens: „Aber beim Zeus, Sokrates, ich wei es nicht" (84 a 1-2) bekennt der Knabe schlie lich. Er hat die Aporie, die Einsicht in sein Nichtwissen erreicht. Um es wieder auf das Bild der Wiedererinnerung umzulegen: er erinnert sich, da er vergessen hat. Sokrates unterbricht daher an diesem Punkt zum zweitenmal sein Gespr ch mit dem jungen Sklaven und wendet sich wieder an Menon: „Erkennst du deinerseits, Menon, an welcher Stelle im Wiedererinnern er bereits steht?" (Εννοείς αΰ, ώ Μένων, ου εστίν ήδη βαδίζων οδε του άναμιμνήσκεσθαι; 84 a 3-4) Η· Diese Frage wird nicht auch in den Begriffen beantwortet, in denen sie gestellt wurde, aber es Hegt auf der Hand, wie eine solche Antwort lauten m te: er hat im Proze der Wiedererinnerung den Punkt der Einsicht in sein Vergessenhaben erreicht. Statt dessen gibt Sokrates eine Antwort in den Begriffen von Wissen und Nichtwissen: der Sklave wei zwar jetzt sowenig wie vorhin, wie die gestellte geometrische Aufgabe zu l sen ist (8434—6), aber er hat innerhalb seines Nichtwissens den Fortschritt vom vermeintlichen Wissen (ωετο ... τότε είδέναι a 6) zum bewu ten Nichtwissen gemacht (νυν δε ... ουκ οιδεν, ούδ5 οΐεται ε'ιδέναι a 7 -b i). Gerade da dies die Antwort auf jene Frage sein kann, zeigt aber mit aller Deutlichkeit, was der Sinn der Anamnesis ist: nicht ein psychologisch verstandenes Erwecken fr her besessenen Wissens, sondern die Analogie in 13

So gewinnt das εφεξής in der Tat einen vom Ph nomen her verst ndlichen Sinn, w hrend es sonst unverst ndlich blieb, vgl. etwa Bluck a. a. O. 16 und 297. J. Klein (A Commentary on Plato's Meno 173) verweist auf Aristoteles, de mem. 4^1 b 16 ff. Dort ist jedoch an eine ganz andere Abfolge - die des assoziativen oder deduktiven Wiederdaraufkommens - gedacht. Die oben analysierte Struktur der Anamnesis ist von Aristoteles nicht gemeint. Schleiermachers bersetzung ist irref hrend: „Sieh nun zu, wie er sich weiter so erinnern wird, wie man sich erinnern mu ." l* Bluck 2. St. hat die Konstruktion des Relativsatzes richtig erkannt. Schleiermachers bersetzung verfehlt den grammatischen wie sachlichen Sinn: „Siehst du wohl, Menon, wie weit er schon fortgeht im Erinnern?"

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der Stufenfolge von Vergessenheit - Erkenntnis des Vergessenhabens Erinnern des Vergessenen einerseits und von bloßer Meinung ( ) - Einsicht in das eigene Nichtwissen - Wissen andererseits. Im dritten und letzten Teil des geometrischen Beweisgangs (84 d 3 85 b 7) führt Sokrates den Knaben durch das Ziehen entsprechender Hilfslinien und weiteres Fragen zu der Lösung des Problems: er erkennt, daß die Diagonale des gegebenen Quadrates die Seite des gesuchten ist. Nun ist sicher richtig, daß der entscheidende Schritt hierbei das Eintragen der Diagonalen in den vier zu einem Quadrat aneinandergelegten Quadraten ursprünglicher Größe ist und daß ohne dies Zutun des Sokrates der Knabe die Lösung sicher nicht gefunden hätte15. Aber dieser Einwand übersieht die entscheidende Pointe, den diese ^Entdeckung' des Sklaven innerhalb der geometrischen Epideixis als ganzer hat: nur deshalb kann er nämlich in der Diagonale des gegebenen Quadrates die Seite des gesuchten erkennen, weil ihm zuvor der Star der Doxa, des vermeintlichen Wissens, gestochen worden ist, welches ihn das Quadrat von doppelter Seitenlänge für das Quadrat mit doppeltem Flächeninhalt halten ließ.

c) Aporie und Aporieverständnis Menons Trotz ihrer sachlichen Plausibilität stellt uns aber die vorgeschlagene Interpretation der platonischen Wiedererinnerung vor ein Problem: wenn die Geometriestunde das Wiedererinnern als Analogie des Prozesses, der von einem vermeintlichen Wissen zu wirklichem Wissen führt, darstellen will, dann ist doch durch die Metapher der Anamnesis jede beliebige Korrektur auch kontingenter Irrtümer gedeckt. Will Platon mit ihr nur dies sagen, daß man, um einen Irrtum zu korrigieren, immer zuerst den Irrtum als Irrtum erkennen muß? In der geometrischen Epideixis, in der Befragung des Knaben wird in der Tat nicht mehr als ein einzelner Irrtum über einen speziellen geometrischen Sachverhalt korrigiert. Aber die Geometriestunde selbst hat innerhalb des Menon eine genau bestimmte Funktion. Sie ist ein ,Spiel im Spiel', wie die Pantomime im .Hamlet', und wie diese zielt sie auf den, vor dem sie gespielt wird. Erst wenn wir sie nicht mehr, wie wir bisher aus methodischen Gründen getan haben, isoliert für sich, sondern im Kontext des Dialoges lesen, wird ihr eigentlicher Sinn erkennbar. 15

So etwa D. Peipers, Die Erkenntnistheorie Platos 224 f. Vgl. Bluck a. a. O. 12.

Aporie und Aporieverst ndnis Menons

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Der Anamnesismythos (und mit ihm die ,Geometriestunde') ist innerhalb des Dialoges die Antwort auf den sophistischen Einwand (80 d 5-8), mit dem Menon den Vorschlag des Sokrates konterkariert, aus der gemeinsamen Aporie ber das Wesen der Arete gemeinsam einen Ausweg zu suchen (80 d 1-4). hnlich wird bekanntlich auch im ,Euthydem' die M glichkeit des μανθάνειν bestritten (vgl. Euth. 276 d-277 c). Aber die spekulative Antwort, die Sokrates mit der These der Anamnesis auf diesen Einwand gibt, macht es wahrscheinlich, da Menons eristisches Argument kein blo es Sophisma ist. Da Menon hier allerdings eristisch argumentieren will, wird schon durch die formale Struktur dessen, was er sagt, deutlich; sein Einwand hat die Form des gorgianischen πρόβλημα: das Argument ist so konstruiert, da die berwindung einer Schwierigkeit nur zu einer weiteren f hrt: das ει και (8o d 7) Menons, das diese argumentative Struktur grammatisch spiegelt, findet sich ebenso bei Sextus im Referat des Argumentes der gorgianischen Schrift , ber das Nichtseiende' (Diels/Kranz 82 B 3 = Sext. adv. math. VII, 65). Darum ist auch die Form der Frage dem Einwand Menons insofern u erlich, als er nicht eigentlich von dem Gefragten Auskunft ber etwas verlangt, was ihm selber ein sachliches Problem w re; seine Fragen wollen vielmehr nur Sokrates in Schwierigkeiten und wom glich in eben die Situation bringen, in die er selber sich von Sokrates gebracht sieht. Sie sind gewisserma en eine Gegenoffensive Menons. Da Menon glaubt, sich mit seinem eristischen Argument gegen Sokrates zur Wehr setzen zu m ssen, zeigt aber jedenfalls eines mit aller Deutlichkeit: er sieht in seiner Aporie eine Niederlage, nicht einen Fortschritt auf dem Weg zur Einsicht. Und das ist nun schon in dem vorauf gegangenen Eingest ndnis seiner Aporie abzulesen (7967 —80 b 7). Anders als etwa der Kritias des ,Charmides', der schlicht schweigt, als er sich von Sokrates' Argumenten seines Nichtwissens berf hrt sieht (vgl. Charm. 169 cd), ist Menon fair genug zuzugeben, da er auf die erneute Frage des Sokrates nach dem Wesen der Arete (79 e^-6) keine Antwort mehr hat (80 b 1-2). Aber dies Eingest ndnis kommt erst nach einer l ngeren Ausf hrung, in der er beschreibt, was ihm durch Sokrates widerfahren ist. Gerade die witzigironischen Bilder, deren er sich dabei bedient, verraten, da er den eigentlichen Sinn seines άπορεϊν nicht begreift. Die Metaphern des ,Behexens' und ,Bet rens' und .Bezirzens' (γοητεύειν, φαρμάττειν, κατεπφδειν 8ο a 2-3; vgl. γόης 8o b 6) ebenso wie der spottende und oft zitierte Vergleich des Sokrates mit dem Zitterrochen, dessen Ber hrung lahmt (80 a 5 - b i), meinen ein Negatives: den Verlust der F higkeit, den eigenen Verstand und die

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eigenen Glieder zu gebrauchen. Die geistreichen Bilder, in denen Menon hier über sich und Sokrates redet, zeigen, daß er noch in dem, was er als eine Niederlage ansieht, auf Grund seiner rhetorischen Bildung - er ist Schüler und Freund des Gorgias - seinem Gegner sich eigentlich überlegen fühlt; das gesuchte Bild des Zitterrochens ist als Concetto a la Gorgias gemeint, seine stilistisch elegante Formulierung verrät deutlich die Handschrift des Meisters: / (8 a 5-6), zwei parallel gebaute, reimende Kola, durch die Assonanzen der T-Laute verknüpft, bilden das Ende des Vergleichssatzes. Menons Verständnis von Aporie verkehrt deren Sinn ins genaue Gegenteil. Für ihn ist Behexung, was in Wahrheit Lossprechung aus dem Bann des vermeintlichen Wissens ist, er sieht sich vom Zitterrochen Sokrates gelähmt, wo in Wahrheit die Lähmung des Irrtums von ihm genommen ist. Wenn er bemerkt: „Freilich habe ich schon tausendmal über die Arete viele Reden gehalten vor vielen Zuhörern und, wie mir schien, sehr gut." (80 b 23), so liegt darin nicht eine Selbstkritik und die Einsicht, daß diese Reden möglicherweise auf bloßer Meinung beruhten. Diese Bemerkung soll im Gegenteil nur das Unnatürliche seines Zustandes, seiner aporetischen Behexung sichtbar machen, an der einzig die Tricks des Sokrates die Schuld tragenI6. Dieses Mißverständnis von Aporie zu korrigieren, ist eine der Absichten, die Sokrates mit der Inszenierung der Aporie des Sklaven in der Geometriestunde verfolgt. Das zeigen nun seine - an Menon gerichteten - kommentierenden Fragen zur Aporie in der Geometriestunde (84 a 3-c 9). Nachdem Sokrates an dieser Stelle den Schritt von der Befangenheit im Irrtum zum bewußten Nichtwissen als den Fortschritt der Aporie charakterisiert hat ( 8 4 a 4 ~ b i ) , läßt er sich von Menon zunächst noch einmal bestätigen, daß es nun — in der Aporie — besser um seinen jungen Schüler steht (84 b 3-5). Dann aber legt er diese Erkenntnis um auf das Aporieverständnis Menons, indem er das Bild des Zitterrochens genau entgegen dem Sinn liest, den es vorher bei Menon hatte: Menon muß zugeben, daß der Sklave, indem er zur Aporie und zur Lähmung wie durch einen Zitterrochen gebracht worden ist, keineswegs Schaden genommen hat (84 b 6-8). Die nächste Frage des Sokrates macht in ihrer ironischen Überbelichtung vollends deutlich, daß hier in Wahrheit ständig Menons Aporie gemeint ist: Sokrates zitiert Menons Bemerkung von 80 b 2-3, wenn er von dem Skla1* C. Huber (Anamnesis bei Plato 309) scheint mir gerade das Mißverständnis von Aporie, das sich im Aporiegeständnis wie in Menons eristischem Argument manifestiert, zu übersehen.

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ven, der gerade zum ersten Mal mit einem geometrischen Problem bekannt geworden ist, sagt, daß dieser „ohne Schwierigkeiten vor vielen oftmals gut zu reden glaubte über die Verdopplung des Quadrates durch Verdopplung der Seite" ( 8 4 b n - c i ) . Menon soll erkennen, daß das, was ihm beim Geständnis seiner Aporie noch als früher besessenes, durch die aporetische Behexung nur momentan außer Kurs gesetztes Wissen erschienen war, in Wahrheit nur vermeintliches Wissen ist. Auf dem Mangel eben des vermeintlichen Wissens im Vergleich zur Aporie insistiert dann die folgende Frage des Sokrates: wer im Irrtum befangen ist, bemüht sich nicht, zu suchen, verlangt nicht einmal nach Wissen (84 c 4-6). Sokrates schließt seine Fragen, die, indem sie vordergründig die Aporie des Sklaven kommentieren, immer Menons Aporie im Auge haben, mit einer abermaligen Anspielung auf das Bild des Zitterrochens: „Nutzen hat ihm also die Lähmung gebracht?" (84 c 8) - eine Frage, die dem Sinne nach also nur die von 84 b 6-7 wiederholt, und eben durch diese Wiederholung deutlich macht, was an dem Vergleich Menons die Kritik des Sokrates herausfordert. „So scheint mir." (84 c 9), antwortet Menon. Wenn Menons Aporiegeständnis zugleich sein Mißverständnis von Aporie offenbart - und die Korrekturen, die Sokrates daran vorzunehmen sucht, haben das noch einmal bestätigt —, dann muß sich mit Sinn nach dem Grund dieses Mißverständnisses fragen lassen. Wie mir scheint, erhalten wir im Text selbst darauf bald eine Antwort. In der Tat hatten ja schon die ersten Bemerkungen des Sokrates unmittelbar nach dem Aporiegeständnis Menons jene Korrektur anzubringen gesucht (8ob8 — d 4 ) , die dann ausführlicher durch seine Fragen an Menon über die Aporie in der Geometriestunde zu Stande gebracht werden soll. In seiner ersten Antwort (80 b 8 - d 4) auf die Vorwürfe des Menonschen Aporiegeständnisses dreht Sokrates zunächst - ebenfalls einen ironischen Ton anschlagend - den Spieß der Vorwürfe Menons um: Menon ist der Täuscher, der nur deshalb in Bildern über Sokrates redet, damit dieser sich in einen Vergleichs-Wettstreit einläßt, und bei dem könnte der „schöne" Menon nur profitieren (8ob8-C5). Aber darauf will Sokrates durchaus nicht eingehen ( Soc^-ö). Er übt im Gegenteil vielmehr Kritik am Bild des Zitterrochens: nur unter der Bedingung will er es für sich gelten lassen, daß der aporetisch lähmende Zitterrochen auch selbst durch die Aporie gelähmt ist (80 c6-d i). Er kritisiert hier also den agonalen Sinn dieses Vergleichs. Nachdem er sich so mit seinem Unterredner gemeinsam auf die Stufe der Aporie gestellt hat, weist er Menon, an dessen Rede von seinem früheren Wissen anknüpfend, auf den in der Aporie er-

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reichten Fortschritt hin: „Du hast fr her vielleicht gewu t (was die Tugend ist), ehe du mich ber hrtest, jetzt indes gleichst du einem Nichtwissenden." (80 d 1-3)17 Das ist schon der Gegensatz von πρότερον und νυν, der die Fragen des Sokrates zur Aporie des Knaben durchziehen wird. Die Rede vom „fr heren Wissen" (Ισως πρότερον μεν ηδησθαι 8ο d 2) ist deutlich ironisch gemeint: das zugestandene Unwissen Menons erweist das, was er f r ein fr heres Wissen h lt, als vermeintliches Wissen, als οΐεσθαι είδέναι. Aber f r diese Ironie ist Menons Ohr taub. Warum? Die Antwort darauf gibt uns nun sein eristischer Einwand (80 d 5-8), jenes B ndel von Fragen, mit dem er den sokratischen Vorschlag konterkariert, gemeinsam aus der gemeinsamen Aporie einen Ausweg zu suchen (80 d 3-4). Die drei Fragen in Menons Einwand sind so gegliedert, da die erste (d 5-6) allgemein die M glichkeit bestreitet, etwas zu suchen, von dem man ganz und gar nicht wei , was es ist (τοϋτο δ μη οισθα το παράπαν ότι εστίν) — wie es doch die Frage des Sokrates nach dem Was der Arete zu tun scheint. Die zweite Frage (d 6-7) ist als Erl uterung und Begr ndung (γαρ) der ersten gemeint. Sie will zeigen, warum in diesem Fall keine Methode des Suchens, kein τρόπος ζητήσεως denkbar ist: weil n mlich die M glichkeit der Suche davon abh ngt, da der Suchende eine Vorstellung (vgl. προθέμενος d 7) von dem hat, was er sucht18. Wenn der Suchende aber von dem, was er sucht, nicht einmal wei , was es ist, kann diese Bedingung nicht erf llt sein. Mit seiner letzten Frage (d 7-8) macht Menon einen ganz subtilen Einwand: auch wenn man einmal von den Schwierigkeiten absieht, die im Gedanken einer Suche von etwas liegen, von dem der Suchende gar nicht wei , was es ist, auch wenn der Suchende also durch einen gl cklichen Zufall auf das Gesuchte sto en sollte, so h tte er es darum doch noch immer nicht gefunden. Denn Finden ist mehr als das blo e Auf-das-Gesuchte-Sto en (έντυγχάνειν), Finden impliziert die Identifikation dessen, worauf man suchend gesto en ist, mit dem, was man gesucht hat. Eine solche Identifikation ist aber unm glich, wenn ich keine Vorstellung von dem habe, was ich suche. Man sieht leicht, da dieses Argument seine Plausibilit t aus der Orientierung an der Suche wahrnehmbarer Gegenst nde bezieht, sei es, da ein bestimmter Gegenstand gefunden oder wiedergefunden werden soll oder da man einen oder mehrere Gegenst nde mit bestimmten Eigenschaften sucht. Immer mu ich den gesuchten Gegenstand oder die gesuchte Eigen17

Bluck richtig zur Stelle: δμοιος ει ουκ είδότι is ... an άντεικασία. 18 Vgl. Bluck z. St. Da προτ'ιθεσθαι den Sinn des deutschen Sich-Vorstellens hat, zeigen Rep. II, 375 d 4; X, 603 c 4.

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schaft schon kennen. Hier etwas suchen zu wollen, was man gar nicht kennt, ist offenbar absurd. Dagegen ist umgekehrt dieser Einwand absurd, wenn das Gesuchte nicht ein Gegenstand sinnlichen Kennens, sondern Inhalt eines Wissens ist: wer die Lösung eines Rätsels oder einer mathematischen Aufgabe sucht, hat keineswegs schon eine Vorstellung, wie das Lösungswort des Rätsels oder die gesuchte Zahl heißt. Menons eristisches Argument ist an einer Vorstellung von Wissen orientiert, die , Wissen' in Analogie zu »Kennen1 versteht. Er steht ebenso unter dem Bann des doxischen Wissensbegriffs wie Kritias im ,Charmides'. Es ist diese Orientierung der Vorstellung von Wissen am Phänomen des Kennens, die nun auch die Blockierung seines Verständnisses von Aporie erklärt. Denkt man nämlich Wissen nach dem Modell von Kennen, dann wird die Möglichkeit des Irrtums eigentümlich abgeblendet (vgl. oben 45). Dem Kennen steht die Unkenntnis gegenüber, nicht aber auch die Täuschung. Und analog verkürzt sich bei einem nach dem Modell der Kenntnis verstandenen Wissen das Nichtwissen zum bloßen Nicht-Bekanntsein mit einem Sachverhalt. Dadurch wird aber jene für den Sinn von Aporie konstitutive Differenz von unbewußtem und bewußtem Nichtwissen, Irrtum und Aporie verdeckt. Und in der Verdeckung dieser Differenz, in der Unfähigkeit, sein aporetisches Nichtwissen als Fortschritt gegenüber seinem früheren vermeintlichen Wissen zu erkennen, hatte ja Menons Mißverständnis von Aporie seinen unmittelbaren Grund. Das wird nun durch den Fortgang bestätigt. Sokrates' erste Erwiderung auf den Einwand Menons ist nämlich bezeichnenderweise nicht eine Zurückweisung dieses Argumentes als eines sophistischen Analogieschlusses, sondern die Explikation dessen, was Menon implizit gesagt bzw. vorausgesetzt hat: Sokrates zeigt, daß die Bestreitung der Möglichkeit, das zu suchen, was man nicht weiß, an die einfache Dichotomic von Wissen und Nichtwissen geknüpft ist19; entweder weiß man etwas Bestimmtes, dann braucht man es nicht zu suchen, oder man weiß es nicht, dann weiß man auch nicht, was man suchen soll (80 e 1-5). In dieser Dichotomie ist also »Nichtwissen* so bestimmt, daß die Differenz von bewußtem Nichtwissen und vermeintlichem Wissen gar nicht zur Erscheinung kommt. Nichtwissen ist die einfache Absenz eines Wissensinhaltes, Wissen umgekehrt dessen Präsenz. Der Zweck, den Platon mit dieser Explikation von Menons Einwand durch Sokrates verfolgt, scheint eben der, den Leser auf den Vorbegriff von Wissen hinzuweisen, der in dem eristischen Argument Menons impliziert ist. 19 Vgl. F. M. Cornford (Principium Sapientiae 52) zu diesem Argument Menons: „The

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d) Die Rede des Sokrates (Men. 81 a 5 - e 2) Menon selber ist weit davon entfernt, den Grund der Schwierigkeit, die sein Einwand auf wirf t, in einem unangemessenen Begriff von Wissen zu erkennen: der naive Stolz, der aus seiner Frage 81 a 1-2 spricht, zeigt das zur Gen ge20. Er ist in einem fundamentalen Irrtum befangen: er meint zu wissen, was Wissen ist, ohne es doch zu wissen, und diese Meinung ist deshalb so unumst lich, weil sie ganz unausdr cklich bleibt. Sokrates w hlt, um sie zu korrigieren, einen Umweg, dessen Subtilit t im philosophischen Fragezusammenhang wie im dramatischen Kontext f r den modernen Leser nicht sofort erkennbar ist. Er schl pft n mlich in die Maske des Gorgias, der schon w hrend des bisherigen Gespr ches gleichsam im R cken Menons immer pr sent war (vgl. 70 b 3, 71 c 5 - d 8 (!), 73 c 7, 76 b i, 76 c 4, 79 e 6). Auf seinen dem Gorgias abgelernten eristischen Einwand erh lt Menon eine τραγική άπόκρισις, eine theatralische Antwort la Gorgias, hnlich wie schon 76 d 3-5 (vgl. 766 3): auch dort brigens imitiert Sokrates die Manier des Pindarzitierens. Die folgende kurze Rede des Sokrates (81 a 5 -d 5), an deren Ende der Satz vom Lernen als Wiedererinnern aufgestellt wird, ist die Parodie eines gorgianischen epideiktischen Logos. Es gen gt, sie laut zu lesen, um die F lle der hier angewandten gorgianischen Stilmittel zu h ren. Die Manier des gro en Rhetors ist vor allem sp rbar in der Aufl sung der S tze in kleine Kola, die durch Homoioteleuta, Assonanzen und Anfangsreime markiert sind - die typische, von Eduard Norden so genannte ,Zerhacktheit' des gorgianischen Stiles21. Ich gebe nur einige Beispiele: άκήκοα γαρ ανδρών / τε και γυναικών σοφών (81 a ^ ) - zwei gleichgebaute, reimende Kola unmittelbar am Anfang. Oder die Reimf lle in: είσι των Ιερέων / τε και των ιερειών (a ίο) oder in: άλλοι πολλοί / των ποιητών / όσοι θείοι (b 1-2); die Assonanzen in: και τότε μεν τελευταν / δ δη άποθνήσκειν καλοΰσι (b4~.?)· Der kunstvolle Wechsel von δ, τ, β in: δεΐν δια ταΰτα / ως όσιώτατα / διαβιώναι τον βίον (b 6-7); oder der elegante Gleichklang in der Antithese des και τα ένθάδε / και τα εν "Αιδου (c 6). Das Pindarzitat wirkt als eine Art stilistischer Resonanzboden f r diese dilemma assumed that the only choice is between complete ignorance." 20 Blucks Vorschlag, hier (81 a ι) οΰκουν statt des ούκοΰν der schriften zu lesen, was aus grammatischen und stilistischen scheint, wird auch dem dramatischen Stellenwert dieser Frage 21 Vgl. E. Norden, Antike Kunstprosa 64.

knowledge and blank Ausgaben und HandGr nden erforderlich besser gerecht.

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nach den Gesetzen der Poesie gebaute Prosa, in der die Regeln der Grammatik hinter denen von Rhythmus und Wohlklang zur cktreten22: darum die Hyperbata (etwa a n - b i ) , darum die volleren, reimenden Genitive an Stelle des Nominativs (a 10, b i). Neben den stilistischen Mitteln sind es Aufbau und Ton, die verraten, da hier nicht Sokrates in propria persona, sondern in der Attit de des epideiktischen Rhetors spricht. Er beginnt mit einer Berufung auf Autorit ten, wobei das Weihevolle seiner Attribute (σοφών a 5, θεία a 6, θείοι b 2) die Unbestimmtheit dessen verdeckt, wovon sie Attribute sind: einzig Pindar wird namentlich genannt, was ihn umgibt, sind rhetorische Komparsen ". Der Feierlichkeit, die das Vokabular evoziert, entspricht auch das stilisierte Herabblicken auf eine andere Sprachebene (b 4-5; d 2-3) eine Stilgeb rde, die in der letzten Zeile des Pindarzitats ihre Entsprechung hat (c 3-4)24· Erst nachdem durch die Anf hrung der λέγοντες f r das α λέγουσιν der Nimbus einer h heren Wahrheit erzeugt ist, wird dieses selber vorgebracht. Da diese Anordnung das Gewollte einer rhetorischen Disposition hat, macht Platon nun sehr sch n durch die ungeduldige Unterbrechung Menons deutlich, der zuerst das Argument und dann die λέγοντες kennenzulernen w nscht (81 37-9). berdies ist die eigentliche These dieser Rede nur eine Folgerung aus der Lehre von Seelenwanderung und Reinkarnation, f r die Sokrates sich nicht mehr auf die Autorit t „zahlloser g ttlicher Dichter" berufen kann25. Aber das wird gerade geschickt verdeckt durch die 22 Vgl. Norden a. a. O. 73 ff. 23 Das schlie t selbstverst ndlich nicht aus, da Sokrates sich auch noch auf andere Autorit ten f r die vorgetragene Lehre von der Seelenwanderung berufen k nnte auf Empedokles vor allem (vgl. fr. 8,9, n, 15,115,117 Diels/Kranz). M glicherweise liegt der Witz dieser Mitteilung eines esoterischen Wissens gerade darin, da die Lehre von der Unm glichkeit eines absoluten Anfangs und Endes, der Geburt und des Todes dem Menon aus Empedokles bestens bekannt ist. Da man bei ihm als Sch ler des Gorgias eine Bekanntheit mit den Theorien des sizilisdien Arztes und Naturforschers voraussetzen darf, erhellt aus Men. 76 c. Die bereinstimmung in Vokabular und Argumentation zwischen Men. 81 b 3 - 6 und Empedokles fr. 8-12 (Diels/Kranz) ist bemerkenswert. 24 Auch diese Distanzierungen vom Sprachgebrauch haben auff llige Parallelen bei Empedokles (vgl. fr. 8,3; 9,5 DK). Das δ δη άποθνήσκειν χαλοΰσι (8ib4) klingt wie eine Reminiszenz an das το δη βίοτον καλεοΰσι bei Empedokles (fr. 15,2 DK). 25 Der Versuch, schon im Pythagor ismus die .Wiedererinnerungslehre' nachzuweisen, den A. Cameron (The Pythagorean Background of the Theory of Recollection. Wisconsin 1938) unternommen hat, ist von H. Cherniss mit, wie mir scheint, berzeugenden Argumenten zur ckgewiesen worden (AJPh 61 (1940) 359 - 365). Vgl. dazu a. Bluck a. a. O. 71.

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emphatische Anrufung Pindars und das lange Zitat, das, wie schon Bluck bemerkt hat, eigentlich eine Digression darstellt26. Die Umständlichkeit der Argumentation, das kunstvolle Pathos dieser Rede und die Unvermitteltheit, mit der sie über den Gesprächspartner hereinbricht, passen in der Tat weder zu dem notorischen Spott des Sokrates auf die Stilisiertheit griechischer Reden (vgl. Menex. 234 c-235 c) noch zu seinem Drängen auf die knappe Argumentation des Wechselgesprächs (vgl. Gorg. 449 b-c; Prot. 334 c- 335 a). Alle diese Züge werden aber sofort verständlich und ganz konsequent, wenn wir sehen, daß es sich hier um die Parodie eines gorgianischen Logos handelt. Ebenso wie in seinen beiden Reden im ,Phaidros' und in der Gefallenenrede im ,Menexenos* imitiert Sokrates hier ein Stilvorbild, er spielt die Rolle des epideiktischen Redners. Daß im ,Menon', anders als in den genannten Dialogen, darauf nicht ausdrücklich hingewiesen wird, hat seinen guten Grund in der dramatischen Situation: Menon, der sich als Gorgiasschüler seinem athenischen Gesprächspartner überlegen fühlt (vgl. 71 e 5), soll gerade dadurch überrumpelt werden, daß sich Sokrates plötzlich als perfekter gorgianischer Redner erweist27. Wenn der literarische Charakter der Stelle 81 a 5 - d 5 (die folgenden Sätze gehören nicht mehr zur Rede des Sokrates selbst, sondern kommentieren sie bereits) bislang von den Interpreten verkannt worden ist, so, wie mir scheint, deshalb, weil man hier Sokrates gewissermaßen ex cathedra ein Dogma der platonischen Metaphysik verkünden hörte: eben die Anamnesislehre, und da schien dieser Ton ganz passend. Umgekehrt kann nun die Einsicht, daß wir es hier mit der Parodie (nicht der Karikatur!) eines gorgianischen Logos zu tun haben, ein Schlüssel für das Verständnis des Satzes „Lernen ist Wiedererinnern" werden. Der Gegensatz, in dem diese krude Subsumption zu der subtilen Analogie vonZur-Einsicht-Kommen und Wiedererinnern steht, die sich als Sinn der Geometriestunde entziffern ließ, läßt sich jetzt auflösen. Dieser Satz ist als gorgianisches Concetto gemeint, als Imitation und zugleich als tiefsinnige Überbietung jener Vergleiche, deren Pointe die Gesuchtheit des tertium comparationis ist. Daß Gorgias solche Concetti als Stilimittel benutzte, wissen wir aus der spätantiken Schrift ,Über das Erhabene', deren Verfasser zwei solcher gorgianischen Vergleiche - allerdings als Beispiele einer abgeschmackten Gespreizt26 Vgl. Bluckzu8ib5ff. 27 Menon selbst hatte bisher zweimal solche kleinen epideiktischen Logoi im Stile des Gorgias gehalten: 7161-7235 (eine Stelle, die von Diels unter die Gorgiasfragmente aufgenommen worden ist) und 79 e 7 - 80 b 7.

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heit - zitiert: Gorgias habe von Xerxes als dem ,Zeus der Perser* und von Geiern als ,lebendigen Gräbern* gesprochen (vgl. Longinus, de sublim. 111,2). Daß der Satz des Sokrates als ein metaphorisches Vexierbild gemeint ist, bestätigt nun der Fortgang des Dialoges: Menons erste Reaktion ist bezeichnenderweise nicht ein Zweifel an diesem, seinem wörtlichen Sinne nach doch sehr paradoxen Satz; er hat vielmehr bemerkt, daß Sokrates ihm hier ein Rätsel aufgegeben hat. Seine erste Frage ist darum die nach dem Sinn: „Wie meinst du das, daß wir nicht lernen, sondern daß, was wir Lernen nennen, Wiedererinnerung ist?" (81 63-4). Damit Menon auf diese Frage eine Antwort - nicht erhält, aber finden kann, inszeniert dann Sokrates den Dialog mit dem Sklaven Menons. Darin liegt die Anerkennung der Legitimität von Menons Frage nach dem Sinn, nicht nach der Wahrheit von Sokrates' These. In der Geometriestunde, die Menons wegen ( 8a a 8) veranstaltet wird, soll nun Menons Mißverständnis von Aporie dadurch korrigiert werden, daß sein Mißverständnis von Wissen berichtigt wird. Die Geometriestunde zeigt ja nicht nur exemplarisch Genesis und Korrektur eines Irrtums, sie tut dies vielmehr so, daß zugleich - für Menon wie für den Leser - ein Allgemeineres sichtbar werden kann: mit Hilfe der Sinnfälligkeit der geometrischen Zeichnung wird nämlich jene Struktur von Wissen und Nichtwissen vor Augen geführt, die Menon in seiner Orientierung am Kennen wahrnehmbarer Gegenstände übersehen hat — die Struktur des Urteils, des Logos. Die geometrische Aufgabe besteht darin, ein Quadrat bzw. dessen Grundseite zu finden, das zu einem gegebenen Quadrat in einem bestimmten Verhältnis, griechisch: Logos steht. Der Irrtum des Sklaven beruht auf der Annahme eines falschen Verhältnisses: er glaubt, daß 2 2 : 4* = i : 2. Die Einsicht in seinen Irrtum bedeutet, daß die gesuchte Größe, mathematisch gesagt, für ihn zu einer Unbekannten, einem X innerhalb dieser Proportion wird. Und zur Lösung wird er dadurch geführt, daß er die Diagonale des ursprünglichen Quadrates als das gesuchte X erkennt. Die Pointe bei der Auffindung der Lösung scheint mir nun darin zu liegen, daß die Diagonale nichts in dem Sinne Unbekanntes ist, daß sie in der geometrischen Figur noch nicht eingezeichnet und als Linie dem Sklaven noch gar nicht bekannt wäre. Vielmehr hat Sokrates schon ganz zu Anfang bei der Exposition des Problems zu Zwecken der Definition der Figur die Diagonalen in sein Quadrat eingetragen (vgl. 8202-3), nicht die Mittelpa-

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rallelen, wie der Bluck'sche Kommentar meint28. Der Sklave wird im Auffinden der Lösung nur da2u gebracht, diese Linie als die Grundseite des Quadrates von doppelter Größe zu erkennen. Dieser Umstand zeigt nun sehr eindringlich, daß in der Struktur des Logos nicht nur der Grund für die Möglichkeit von Irrtum, Aporie und Wissen liegt, sondern auch für die Möglichkeit, in bestimmten Fällen diese Stufen ohne die Erwerbung neuer Kenntnisse zu durchlaufen: was den Charakter von Logos, von Urteil oder Verhältnis hat, in dem ist Unterschiedenes so in Beziehung gebracht, daß es in dieser Beziehung gerade unterschieden bleibt. Ein Logos kann darum immer in seine Elemente aufgelöst und anders und neu zusammengesetzt werden. Eben deshalb auch hat Sokrates Recht, wenn er nichts zu lehren, sondern nur zu fragen behauptet: er leistet nur eine mäeutische Hilfestellung bei solch einem Prozeß der Auflösung und Neuzusammensetzung von Ixjgoi29.

28 Sokrates gibt in den drei Frageschritten 82 b 9 - c 3 durch fortgehende Spezifikation eine Definition des Quadrates, er geht vom Begriff des Vierecks aus (b 9 -10) und kommt über den Begriff des Rhombus (Viereck mit vier gleichen Seiten) (b 10 - c 2) zu dem des Quadrates (Rhombus mit Diagonalen gleicher Länge) (02-3). Versteht man unter den Linien, von denen 82 c 2 - 3 die Rede ist, die Mittelparallelen, dann ist nicht nur der geometrische Sinn dieser Frage unverständlich (denn in jeder Figur mit den bislang angegebenen Bestimmungen sind die Mittelparallelen gleich lang), es fehlt darüber hinaus eine notwendige Bestimmung des Quadrates, die Rechtwinkligkeit. Nimmt man aber, um das zu vermeiden, an, heiße hier schon, wie in der späteren mathematischen Terminologie, ,Quadrat', so ist bereits die Bemerkung b 10 - c 2 überflüssig. Da aber sowohl ,Quadrat' wie .Viereck' heißen kann (vgl. Liddell/Scott s. v. ), scheint es plausibler, daß Sokrates im Gespräch mit dem mathematisch ungeschulten Sklaven von der allgemeineren Bedeutung ausgeht und die Bestimmungen des Quadrates explizit und schrittweise angibt. Überdies wäre, wenn 82 c 2 - 3 die Mittelparallelen gemeint sind, dem Sklaven gerade die für die Lösung der Aufgabe entscheidende Eigenschaft der Diagonalen eines Quadrates, nämlich ihre Gleichheit, unbekannt (vgl. 85 a, wo die Gleichheit nicht eigens erwähnt, aber für die Lösung vorausgesetzt ist). 29 Der einzige, der, soweit ich sehe, auf diesen Sinn der Geometriestunde, wenn auch eher beiläufig, aufmerksam geworden ist, ist Leibniz. Er bemerkt im ersten Buch der jNouveaux Essais', daß die Wahrheiten der Mathematik unserem Geist in einem virtuellen Sinn eingeboren sind, „en sorte qu'on les y peut trouver en conside*rant attentivement et rangeant ce qu'on a dejä dans l'esprit ... comme Platon l'a montrd dans un dialogue, oü il introduit Socrate menant un enfant a des virites abstruses par les seules interrogations sans lui rien apprendre". (Philos. Schriften (ed. Gerhardt) Bd. V, 73. - Hervorhebung von mir. Th. E.)

Menons Mißverständnis der Anamnesis

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e) Menons Mißverständnis der Anamnesis Kommen wir noch einmal zum Text unserer Stelle zurück und fragen, ob Menon den Sinn der Geometriestunde, die ihm Aufklärung über den sokratischen Satz, Lernen ist Wiedererinnern, verschaffen sollte, realisiert oder nicht, und wenn nicht, warum nicht. Die Antwort auf diese Fragen gibt uns die Befragung Menons durch Sokrates im Anschluß an und über die Auffindung der Lösung durch den Sklaven (85b8-86b4). In diesem letzten Abschnitt unserer Stelle wird, auf den ersten Eindruck jedenfalls, deduziert, daß der Knabe seine geometrischen Kenntnisse in einem früheren Leben erworben haben muß. Entscheidend ist dabei jedoch, daß Sokrates hier - mit Ausnahme einer einzigen, noch zu untersuchenden Stelle lediglich fragt: Menon ist es, der die Prämissen zugibt, aus denen dann die mythische Erklärung der Wissenserwerbung des Sklaven abgeleitet wird. Die beiden ersten Bemerkungen des Sokrates haben resümierenden Sinn: zunächst (85 b 8-9) läßt sich Sokrates von Menon bestätigen, daß der Knabe hier nur seine eigene Meinung ( ) gesagt, nichts Fremdes reproduziert hat; Sokrates hat also, wie er versprochen hatte (vgl. 82 b 7; 84 b 10 - d 2), seinen Schüler nichts gelehrt. Da der Sklave aber, wie Sokrates fortfährt, noch kurz zuvor die Lösung der Aufgabe nicht kannte (85 c 2), ist die Frage nach dem Woher seiner Doxa die logische Konsequenz dieses Resümees. Die erste Frage, die Sokrates nach diesen einleitenden Fragen an Menon richtet, ist eine Alternativfrage: „Es waren aber diese Ansichten in ihm? Oder nicht?" (85 c 4). Daß dieses „Oder nicht?", das einer unbesehenen Annahme der ersten Hälfte der Frage durch den Hinweis auf eine Gegenmöglichkeit entgegenwirkt, mit Absicht gesetzt ist, zeigt die sinngemäße Wiederholung dieser Frage etwas weiter unten (8^67), die ebenfalls diese Fragefloskel nach sich hat. Das ist um so auffälliger, als von den übrigen Fragen dieses Argumentationsganges keine durch solch ein „Oder nicht?" ausgezeichnet ist. Menon aber überhört den Wink, der in diesem Zusatz liegt (85 c 5). Es ist seine, nicht des Sokrates Meinung, daß in dem Sklaven die Meinung über die richtige Methode der Quadratverdopplung bereits vor der Auffindung in irgendeiner Weise vorhanden war. Die folgende Frage des Sokrates zieht aus der Antwort Menons eine Folgerung ( 85 c 6), die offenbar absurd ist: „In dem Nicht wissenden also sind über das, was er nicht weiß, richtige Meinungen über die Dinge, von denen er nicht weiß?" (85 c 6-7). Die Wiederholung ( elöfj, ),

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Drittes Kapitel: Menon

an der moderne Erkl rer Ansto genommen haben30, will eben das Absurde dieser Folgerung f hlbar machen. Menon antwortet mit einem „so scheint es" (φαίνεται 85 c 8) - eine Bejahungsformel, der im Griechischen wie im Deutschen die Reserve dessen anhaften kann, der durch einen Schlu zu einer Zustimmung gebracht wird, die er der direkt gestellten Frage m glicherweise verweigert h tte. Genauso hatte der Sklave geantwortet, als ihm Sokrates den Fehler seiner zweiten irrigen Antwort nachwies (83 d 7 vgl. auch 78 e 6, 95 c 9, 97 c ii, 9939). Mit der folgenden Bemerkung (85 c 9 — d i) unterbricht Sokrates den Gang seiner Fragen, was grammatisch durch das Auftreten von zwei Aussages tzen deutlich wird. Da — im Gegensatz zu den voraufgegangenen Fragen - Sokrates jetzt die Zustimmung seines Gespr chspartners zu etwas einholt, hinter dem auch er selbst steht, macht berdies das „du wei t doch, da " (οΐσ&' δτι c ii) sichtbar: zu sagen „du wei t, da A" impliziert, da der Sprechende „A" f r wahr h lt. Soviel zu dem, was man die ,dialogische Valenz' dieser Bemerkung nennen k nnte. Inhaltlich sagt Sokrates mit ihr, da es prinzipiell keines anderen Verfahrens als des von ihm soeben praktizierten st ndigen Weiterfragens (άνερωταν cio) bedarf, um das, was bislang noch als „Meinung" (δόξα) des Sklaven bezeichnet worden ist, zu einem Wissen (επιστήμη) werden zu lassen: darum kann Sokrates jetzt auch vom Wissen (επιστήμη) des Sklaven reden (etwa 85 d 9), ohne da darin ein Widerspruch zum Vorhergehenden l ge; behauptet ist nur die prinzipielle berf hrbarkeit der geometrischen Einsicht, die jetzt f r den Knaben noch das Pl tzliche und Unverbundene eines Traumgesichts hat (vgl. 85 c 9), in den Zusammenhang eines theoretischen Wissens. Die folgenden drei Fragen des Sokrates (85 d 3-10) werden von Menon alle ohne Einschr nkung bejaht, wobei das πάνυ γε, mit dem er auf die zweite Frage antwortet (d6—8), gegen ber dem ναί (ja) seiner ersten und dritten Antwort eine st rkere Betonung ausdr ckt. Fragen wir nun unsererseits, ob Menon diese Fragen zu Recht bejaht, so ist das f r die erste und die dritte Frage sicher zuzugeben. Wer nur durch Fragen - einmal vorausgesetzt, es sind keine Suggestivfragen — zu einem Wissen kommt, hat dies Wissen aus sich selber, er ist „von selbst darauf gekommen", wie wir sagen (vgl. 84 d 3-5). Ebenso scheint auch die Disjunktion der dritten Frage (85 d 9-1 o) vollst ndig. Dagegen enth lt Menons pointierte Zustimmung zur zweiten Frage einen offenbaren Fehler. Zwar ist ein SichrWiedererin30 Sdileiermadier und Schanz. Vgl. die Apparatnotiz in der Ausgabe von Burnet. Der Vorschlag von Schanz ist von Croiset bernommen worden.

Menons Mißverständnis der Anamnesis

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nern immer ein Wiedererlangen eines Wissens aus sich selbst, aber die Umkehrung gilt keineswegs - und eben das behauptet Menon durch seine Bejahung. Immer dann, wenn wir durch Überlegung einen Irrtum korrigieren oder zu einer Erkenntnis kommen, haben wir das neu erlangte Wissen aus uns selber, aber keineswegs haben wir uns dabei an früher Gewußtes wiedererinnert. Wenn Menon aber jedes Erlangen von Wissen aus sich selbst für ein Wiedererinnern hält, ,so deshalb, weil durch die Geometriestunde sein am Phänomen des Kennens orientierter Begriff von Wissen nicht korrigiert worden ist. Weil Menon nicht zur Einsicht in die Logosstruktur von Wissen kommt, ist die Konsequenz der mythischen Interpretation des Lernprozesses, den der Sklave durchläuft, ganz unausweichlich: bei dem, was ich kennen kann, gibt es einen Fortschritt vom Nicht-Kennen zum Kennen, der nicht eine von »außen* kommende Information voraussetzt, einzig im Fall der Wiedererinnerung von Vergessenem. Die folgenden Schritte brauchen nun nur noch die Konsequenzen aus den von Menon zugegebenen Prämissen zu ziehen ( 8 5 d i 2 - 8 6 b 4 ) . E s scheint, daß Menon die Aporie dieser mythischen Interpretation nicht wirklich als Aporie seiner eigenen Position anerkennt, obwohl Sokrates bei der Verallgemeinerung der mythischen Konsequenz ihn direkt anspricht (vgl. 86b 3): sein wiederholtes Kompliment an Sokrates ( 8 6 b 5 , c 3 ) zeigt ihn in der Pose dessen, der sich aus der sachlichen Schwierigkeit durch die Anerkennung der überlegenen Argumentationsstrategie des Dialogpartners herausreflektiert; er billigt Sokrates das Prädikat des , d. h. das Ideal der rhetorischen Paideia zu. Gerade dies Kompliment läßt aber noch einmal sein agonales Verständnis des Dialoges erkennen. Und die eigensinnige Rückkehr Menons zur Eröffnungsfrage des Gespräches mit Sokrates (vgl. 8 6 c 7 ~ d 2) macht vollends deutlich, daß er nicht zu jener gemeinsamen Untersuchung bereit ist, die Sokrates immer im Auge hatte (vgl. 86 c 5-6 und 80 d 3-4). So bleibt die Einigkeit ( vgl. 86 C4), die zwischen Sokrates und Menon über die Möglichkeit, das zu suchen, was man nicht weiß, hergestellt ist, für den Fortgang des Dialoges ohne Konsequenzen. An den Schluß der Erörterungen über seinen Satz, Lernen sei Wiedererinnern, stellt Sokrates die Einschränkung ( 8 6 b 6 - C 2 ) , nur dafür wolle er eintreten, „daß wir, wenn wir glauben, das suchen zu müssen, was wir nicht wissen, besser, tapferer und weniger träge sind als wenn wir glauben, was wir nicht wissen, sei weder möglich zu finden noch notwendig zu suchen"; „das übrige" ( b 6) will er keineswegs ebenso behaupten:

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Drittes Kapitel: Menon

,das übrige* d. h. doch wohl jene Prämissen, von denen aus Menon zur Anerkennung der Notwendigkeit dieser Suche gebracht werden mußte. Diese Bemerkung des Sokrates ist in der Tat der deutlichste direkte Hinweis des Textes selber, daß ein mythisches Verständnis der Anamnesis deren Sinn gerade verfehlt. Warum Menon nicht über dies mythische Verständnis des sokratischen Satzes hinauskommt, hat die vorstehende Interpretation zu erklären versucht31.

3l Die vorstehende Interpretation der Anamnesis im ,Menon' hat Konsequenzen für die Auslegung der entsprechenden Passagen im ,Phaidros' und ,Phaidon'. Eine ausführliche Interpretation der Wiedererinnerung im ,Phaidon' hoffe ich demnächst in einem Aufsatz vorlegen zu können. Da im ,Phaidon' die These der Wissensgewinnung durch Wiedererinnerung zur Grundlage eines Unsterblichkeitsbeweises gemacht wird, ist eine Interpretation dieses Dialoges in der Tat vordringlich. Hier seien nur einige Beobachtungen angeführt, die auch für den .Phaidon' gegen ein Verständnis der Anamnesis im Sinn einer psychologischen Metaphysik sprechen. Ebenso wie im , * finden sich auch im ,Phaidon' Bemerkungen des Sokrates, die es jedenfalls verbieten, ohne weiteres die in diesem Dialog aufgestellten Thesen als Theoreme einer platonischen Metaphysik zu lesen: so etwa Phaed. ii4d-e. Auf diese Revokationen in beiden Dialogen hat schon J. Stenzel mit Nachdruck hingewiesen (vgl. Kleine Schriften 35-37). Wichtiger noch als diese skeptischen Bemerkungen des Sokrates ist der Umstand, daß im ,Phaidon' die Anamnesis als Argument für die Unsterblichkeit nicht von Sokrates, sondern von Kebes in die Diskussion eingebracht wird (vgl. Phaed. 72 e). Kebes bezieht sich für dies Argument auf Sokrates, der die These, daß Lernen Wiedererinnern sei, oft vorzutragen pflegte, und setzt zweifelnd hinzu: „wenn sie richtig ist" (72 64). Gerade derjenige also, der diesen Satz des Sokrates als Argument für die Unsterblichkeit der Seele einführt, zweifelt, ob dieser Satz so zu verstehen ist, wie er doch für den Beweis, der sich auf ihn stützt, verstanden werden müßte. Auf die Frage des Simmias nach den Beweisen für den Satz selber verweist Kebes auf die Befragung von der Geometrie Unkundigen anhand geometrischer Figuren (73 a - b). Das ist ein deutlicher Rückverweis auf den ,Menon'. Vom ,Menon' her wird man also den ,Phaidon' in der Frage der Anamnesis interpretieren müssen, nicht umgekehrt.

Viertes Kapitel Doxa und Episteme in den mittleren Büchern des ,Staates' Spridit aber gegen die vorgeschlagene Deutung des Verhältnisses von Doxa und Episteme nicht doch die platonische ,Politeia', insbesondere die Erörterungen der Erkenntnisvermögen in den Büchern V-VII? Werden nicht am Ende des fünften Buches (Pol. V, 477-478) Doxa und Episteme als Vermögen einander gegenübergestellt, als Vermögen, denen verschiedene Gegenstandsbereiche entsprechen: der Episteme die Ideen, der Doxa die Erscheinungswelt? Wird diese Unterscheidung nicht durch das Linienund Höhlengleichnis bestätigt (509 d- 517 c; vgl. auch 534 a)? Für unsere Interpretation sind diese Stellen in der Tat nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil hier das Verhältnis von Meinung und Wissen explizit thematisiert wird, sondern weil sich an ihnen als virtuellen Gegeninstanzen zu unserer Interpretation eben deren Richtigkeit bewähren muß. Auf die genannten Stellen, vor allem auf die Unterscheidung von Doxa und Episteme am Ende des fünften Buches haben sich die Vertreter des traditionellen Platonverständnisses immer berufen, um die Zwei-Welten-Lehre, die Abtrennung eines Jdeenreichs' von der sinnlich erscheinenden Welt als zentrales Lehrstück der platonischen Philosophie zu beweisen. Selbst ein Forscher wie Cherniss, der den aristotelischen Berichten und Kritiken höchst skeptisch gegenübersteht, sieht die aristotelische Kritik am Chorismos unter anderem auf Grund der Unterscheidung von Doxa und Episteme als Vermögen und der sich daraus ergebenden Trennung respektiver Gegenstandsbereiche als gerechtfertigt an1. Bei einem so weitläufigen und durchkomponierten Werk wie der platonischen ,Politeia* scheint es wenig sinnvoll, einzelne Passagen zu interprei Vgl. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato 211. - Daß wir schon einem durch Aristoteles inaugurierten Interpretationsmuster folgen, wenn wir Platon von dieser Unterscheidung zwischen „übersinnlichem" Ideenreich und erscheinender Sinnenwelt her lesen, hat W. Wieland betont. (Die aristotelische Physik. Göttingen 1962, 47 £·)

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

tieren, ohne ihren Stellenwert im Kontext des Dialoges insgesamt untersucht zu haben. Die Textstellen, die wir im folgenden analysieren werden, stehen in den Büchern V-VII. Diese, die mittleren Bücher der platonischen ,Politeia', stellen innerhalb des Dialoges eine kompositorisch abgehobene Einheit dar: sie sind als Digression charakterisiert, zu der Sokrates am Beginn des fünften Buches durch eine Intervention des Polemarchos und Adeimantos gezwungen wird. Der Charakter einer Unterbrechung des Gedanken- und Gesprächsganges wird noch dadurch betont, daß diese Digression unmittelbar im Anschluß an eine unbeantwortete Frage Glaukons (449 a 6) - nach den von Sokrates 449 a 2-5 erwähnten vier Arten schlechter Staats- und Charakterverfassungen - einsetzt2, eine Frage, die dann ausdrücklich zu Beginn des achten Buches (544 b 5-10) wieder aufgenommen wird. Daß Glaukon dort den zu Beginn des fünften Buches erreichten Diskussionsstand resümiert (vgl. 543 c 7 - 544 a 8 mit 449 a 1-5) und die Intervention des Polemarchos und Adeimantos als Grund für die unterbliebene Beantwortung seiner Frage erwähnt (544 a 8-b 3), verstärkt noch die Abgrenzung dieses Mittelstücks innerhalb des Ganzen der ,Politeia'. Die Nachdrücklichkeit, mit der der Leser darauf hingewiesen und daran erinnert wird, daß die Digression der mittleren Bücher einer Unterbrechung durch die Zuhörer des Sokrates zu verdanken ist, muß in der Tat auffallen. Was wird hier unterbrochen und was ist das Motiv für diese Unterbrechung? Die Intervention des Polemarchos und Adeimantos trifft in eine Gelenkstelle des Dialoges: in den Übergang nämlich von der Erörterung der Gerechtigkeit zu der der Ungerechtigkeit; in einer Untersuchung, die den Vergleich des gerechten mit dem ungerechten Leben zur Absicht hat (vgl. 352 d, 3676, 368 c-369 a, 484 b, 588 b, 612 b ff.)3, ist das evidenterweise eine 2 Shorey (Plato's Republic, Introduction vol. I, S. XVII) sieht hier eine Parallele zu Phaed. 84 b-c, wo Kebes und Simmias den Sokrates durch einen Einwand zu einer erneuten Diskussion der Unsterblichkeit der Seele bringen. Aber die Unterschiede zwischen den beiden Szenen überwiegen doch die Analogie, daß der Dialog durch die Initiative von Zuhörern unerwartet in eine neue Richtung gelenkt wird. In der Anfangsszene des fünften Buches der ,Politeia' wird ein laufender Argumentationszusammenhang unterbrochen, eine Frage wird abgeschnitten; im ,Phaidon' dagegen bringt Simmias nach einer längeren Pause des Gespräches (vgl. Phaed. 84 c 1-2) und erst auf eine ausdrückliche Aufforderung des Sokrates einen Einwand vor. Strukturell ganz ähnlich ist dagegen die Unterbrechung des Gespräches durch Adeimantos Pol. VI, 487 a-b. Auch dort wird eine entscheidende, durch die lange Argumentation ab 484 b vorbereitete Frage - die Frage nämlich, ob die Philosophen regieren sollen - durch die Intervention des Adeimantos abgeschnitten. 3 Zu der häufig verhandelten Frage nach dem eigentlichen Thema der platonischen ,Politeia': Bestimmung des gerechten Menschen oder des idealen Staates vgl. die

Das Motiv der Digression von Pol. V—VII

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höchst bedeutsame Stelle. Eine Unterbrechung an diesem Punkt greift in einen durch d e Fragestellung und den bisherigen Verlauf des Gespräches festgelegten Argumentationsgang ein. Wären die Zuhörer des Gespräches zwischen Glaukon und Sokrates ebenso wie der letztere am sachlichen Fortschritt der Argumentation interessiert, so würden sie ihn nicht zwingen, über ein Detail in der Verfassung des doch nur um seines Beispielswertes willen (vgl. Pol. II, 368 d-369 a) dargestellten gerechten Staates genauer Auskunft zu geben: über die Gemeinschaft der Frauen und Kinder, die Sokrates im Gespräch mit Adeimantos nur kurz und unter den Dingen erwähnt hatte (vgl. 423 67- 424 a 2), die man gegenüber dem der richtigen Erziehung (423 e) übergehen könne. Obwohl Adeimantos das damals zugegeben hatte (vgl. 424 a 3), kommt er nun, von Polemarchos gedrängt (449 b), auf die Frage der Frauen- und Kindergemeinschaft noch einmal zurück, nicht etwa, weil er jetzt eine Korrektur an dem Gesagten anbringen möchte (449 c 6-7), sondern um zu erfahren, (449 c 8). Das Motiv seines Vorstoßes ist also nicht das einer nachträglichen Korrektur oder Präzisierung der Argumentation, sondern der Wunsch nach ausführlicherer Schilderung einer ihn interessierenden Einzelheit der sokratischen Kallipolis. Noch ehe Sokrates antworten kann, haben sich auch Glaukon (450 a 3-4) und Thrasymachos (450 a 5-6) im Sinne des Adeimantos ausgesprochen: Sokrates wird überstimmt, ohne daß man ihn zu Wort kommen läßt - ein Motiv, das bereits unmittelbar zu Beginn der ,Politeia' (327 c) auftritt: die mangelnde Bereitschaft, auf Argumente zu hören (327 c), verbunden mit dem Vertrauen auf die Macht zahlenmäßiger Überlegenheit4, ist das Gegenbild zu der von Sokrates entworfenen rationalen Begründung politischen Handelns. Es ist die von Anfang an mitgesetzte Präsenz der Adikia in diesem Gespräch über die Gerechtigkeit. gründliche Untersuchung von R. G. Hoerber, The Theme of Plato's Republic. St. Louis 1944. Hoerber weist sehr minutiös nach, daß die .Politeia' nicht die Theorie eines Idealstaates liefern will — dazu wird allzuviel übergangen, was im Entwurf der Verfassung eines idealen Staates nicht fehlen dürfte, z. B. wichtige Teile der Gesetzgebung (a. a. O. 17 -18). Vor allem aber sprechen die mehrmaligen deutlichen Erklärungen des Sokrates über den Zweck der Unterredung gegen diese Interpretation (Hoerber a.a.O. 5 ff.). Eine der Hauptquellen für die staatstheoretische Fehlinterpretation der jPoliteia' sieht Hoerber in der aristotelischen ,Politik' (a.a.O. 104109). ·* St. Rosen (The Role of Eros in Plato's Republic, Rev. of Met. 18 (1964/65) 457 f.) hat dies Motiv der Ausübung von Zwang zu Anfang des Staatsgespräches bemerkt. Rosen interpretiert jedoch in anderem Sinn: er sieht eine Analogie zu dem Zwang, der notwendig ist, um die Philosophen zu Herrschern zu machen.

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Viertes Kapitel: PoÜteia V—VII

Liegt in dem hier von den Zuhörern des Sokrates geübten Verfahren eine indirekte Charakterisierung der Gesprächsteilnehmer als Vertreter eines n'cht an der Rationalität von Argumenten orientierten Verhaltens, so ergibt sich eine weitere und gewichtige Charakterisierung durch das Motiv ihres Vorstoßes: daß der eigentliche Grund für die Intervention der Zuhörer die Neugier ist, macht - nach der Gegenwehr des Sokrates (450 a 7 b 2) - die dreiste Ironie der Frage des Thrasymachos (450 b 3-4), der hier übrigens zum letzten Mal zu Wort kommt, ebenso sichtbar wie die treuherzigen Bitten Glaukons (450 b 6 - 451 b 8). In dieser Aufdeckung des Motivs der Neugier bzw. in der Charakterisierung der Zuhörer und des Gesprächspartners Glaukon als Neugierige liegt der dramatische Sinn dieser Eingangsszene des fünften Buches; wenn die Absicht unserer Stelle die Charakterisierung der Gesprächspartner des Sokrates als Neugierige ist, so gilt das insbesondere für Glaukon, der, ganz unbekümmert darum, daß eine doch von ihm selbst gestellte Frage nicht beantwortet wird, den Antrag des Adeimantos unterstützt. Auch die Charakterisierung durch die Aufdeckung eines Motivs, wie sie am Anfang des fünften Buches vorgenommen wird, hat übrigens eine auffallende Parallele zu Beginn des ersten Buches: dort ist das Motiv, durch das die späteren Gesprächsteilnehmer charakterisiert werden, das der Schaulust, also einer der Neugier sehr verwandten Neigung. Weil nach der Prozession zu Ehren der Bendis auch noch eine nächtliche Fackelstaffette zu Pferde und ein anschließendes Fest zu sehen sind, sollen Sokrates und Glaukon, die schon auf dem Heimweg nach Athen sind, noch mit Polemarchos und seinen Freunden im Piräus bleiben; während Sokrates auf die Mitteilung über die nächtliche Reiterstaffette hin nur höfliches Interesse zeigt (328 a 3-5), ist auch hier Glaukon auf die Nachricht hin, daß ein nächtliches Fest stattfindet, sofort bereit zu bleiben (328 b 2). Welche Bewandtnis es mit dieser Charakterisierung der Zuhörer und Gesprächspartner des Sokrates, des Glaukon insbesondere, als Schaulustigen und Neugierigen hat, wird erst wirklich durchsichtig von jener Stelle aus, die als erste ausführlich interpretiert werden soll, von dem Passus über die Philosophenherrschaft und die Begriffsbestimmung des Philosophen aus (Pol. V, 471-480). Dort wird der Philosoph unterschieden von den Neugierigen ( ) und Schaulustigen ( vgl. 475 d - 476 b) als den Vertretern der Doxa. Die Personen, mit denen Sokrates seine Untersuchungen über den Vorrang des gerechten vor dem ungerechten Leben, über das Wesen der Gerechtigkeit und des Staates, über den Unterschied

Glaukons Frage nach der M glichkeit des idealen Staates

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philosophischer Einsicht vom blo en Meinen anstellt, stehen selbst, das will Platon klarmachen, im Banne der Doxa.

A. Doxa und Chorismos Innerhalb der mittleren B cher der ,Politeia' ist der Abschnitt ber die Philosophenherrschaft und die Begriffsbestimmung des Philosophen ebenfalls wieder durch, einen Bruch im Gang des Gespr chs eingef hrt: hier ist es Glaukon selbst, der pl tzlich seine Rolle als Antwortender verl t und Sokrates auffordert, nun endlich die Frage nach der M glichkeit des beschriebenen Idealstaates zu er rtern (47104-65). Die Erwiderung des Sokrates auf Glaukons Aufforderung betont das Abrupte und berfallartige (εξαίφνης .. . ώσπερ καταδρομήν 472 a i) dieses Vorschlags. Unter Anspielung auf das Bild der drei nacheinander zu bestehenden Wogen (vgl. 457 b-c) bemerkt Sokrates, da Glaukon mit dieser Frage die gewaltigste der drei Wellen auf ihn herabw lze: der Widerstand der gesellschaftlichen Vorurteile, den das Bild der Wogen symbolisiert, wird bei diesem παράδοξος λόγος (472 a 6} noch st rker sein als bei den beiden voraufgehenden Wogen (vgl. 457b-c): der Gleichstellung von M nnern und Frauen sowie der Frauen- und Kindergemeinschaft. Glaukon sieht in dieser Bemerkung des Sokrates lediglich eine Ausflucht und macht sich zum Sprecher der brigen Zuh rer, die dem Sokrates nicht erlauben werden, sich einer Diskussion der M glichkeit des idealen Staates zu entziehen (472 a 8-b 2). Auch die verlangte Untersuchung steht damit also unter dem Motiv des nicht durch Argumente, sondern durch Berufung auf zahlenm ige berlegenheit erzwungenen Verhaltens, unter eben dem Motiv also, das zu Beginn des ersten und zu Beginn der mittleren Politeiab cher auftritt. Bevor Sokrates in die geforderte Er rterung eintritt, erinnert er an den methodischen Stellenwert des erreichten Diskussionsstandes und der Frage nach der M glichkeit des idealen Staates. Er verweist darauf, da die gegenw rtige Untersuchung dem Wesen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gilt (472 b 3-5), und l t sich in den folgenden Schritten best tigen, da innerhalb dieser Untersuchung die Suche nach der Natur der Gerechtigkeit und die Darstellung des vollkommen gerechten Menschen um ihres Modellcharakters willen (παραδείγματος Ινεκα 472 c 4) unternommen wurde (472 b 7 — d2). Es hei t aber gerade die Funktion eines Modells verkennen, wenn man nach der M glichkeit seiner Verwirklichung fragt (472 d 4 ~ e 6 ) . Soll aber dennoch die Frage einer Verwirklichung der von

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

Sokrates dargestellten Politeia diskutiert werden, so mu schon der Nachweis der M glichkeit eines Staates, der dem als Modell aufgestellten m glichst nahe kommt, als L sung der gestellten Aufgabe gelten (vgl. 473 a i -b2). Zweierlei scheint an dieser methodischen Vorbemerkung des Sokrates bedeutsam. Erstens das explizite Bewu tsein, da die Realit t moralischer Begriffe - hier des Begriffs der Gerechtigkeit - gar nicht vom Nachweis ihrer faktischen Realisierbarkeit abh ngig ist. Sowenig wie die Begriffe der Geometrie sind die Begriffe der Moral auf den Nachweis ihrer ad quaten Darstellbarkeit in der empirischen Wirklichkeit angewiesen. Zweitens wird durch die Bemerkung des Sokrates aber umgekehrt das Verlangen Glaukons, die Realisierbarkeit des beschriebenen Staates demonstriert zu bekommen (vgl. 471 e), als Mi verst ndnis des methodischen Sinnes der gemeinsamen Untersuchung aufgezeigt. Erst nachdem Glaukons Forderung durch die Erl uterungen des Sokrates in eine methodisch sinnvolle Frage bersetzt ist (vgl. 472 b-473 a), kann auf sie eine Antwort gesucht und gefunden werden. Diese Antwort ist bekanntlich die der Philosophenherrschaft, die des Zusammenfalls von politischer Macht und Philosophie (vgl. 473 c-e). Um diesen paradoxen Vorschlag gegen die allgemeine Meinung zu verteidigen, soll, so schl gt Sokrates vor, zun chst eine Begriffsbestimmung des Philosophen gegeben werden (474 b 4-6). Sokrates geht bei dieser Begriffsbestimmung von der Wortbildung (φιλόσοφος -φιλεΐν vgl. 474 c 9) aus. F r den, der etwas liebt, ist es, wie Sokrates ausf hrt (vgl. 474 c 9-11), charakteristisch, da er den Gegenstand seiner Liebhaberei oder Liebe (die Unbestimmtheit des griechischen Ausdrucks ist im Deutschen nicht nachzubilden) ganz und nicht nur teilweise liebt. Das wird durch Beispiele erl utert: einen Weinliebhaber nennt man nicht jemanden, der nur eine bestimmte Weinsorte mag, sondern nur den, der alle guten Weine sch tzt (vgl. 475 a 5-7). Und .ehrgeizig' (φιλότιμος) hei t jemand, der bei allen sich bietenden Gelegenheiten Ehre und Ansehen erwerben will (vgl. 475 a 9 - b 2). Ebenso mu auch der φιλόσοφος ein Liebhaber des Wissens berhaupt sein (vgl. 475 b 8 - c 8).

a) Glaukons Einwand und die Frage nach dem wahren Philosophen (47 5 d- 476 d) Gegen die von Sokrates gegebene Begriffsbestimmung des Philosophen (vgl. 475 b 8 — c 8) erhebt Glaukon einen Einwand: die sokratische Defini-

Philosophie und Doxa

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tion des Philosophen als eines Liebhabers jeglichen Wissens scheint ihm zu weit, auch die Schaulustigen und die Neugierigen (die φιλοθεάμονες und die φιλήκοοι) w rden nach dieser Bestimmung unter die Philosophen zu setzen sein (475 d i -e i). Sokrates aber will diese den Philosophen nur hnlich nennen (475 e 2) und bestimmt, auf die Frage Glaukons, wer denn dann die eigentlichen Philosophen seien (47563), diese als die „nach der Wahrheit Schaulustigen" (της αληθείας φιλοθεάμονες 475 e 4). Glaukon bittet, das genauer zu erl utern (475 65). Diese Erl uterung gibt Sokrates in dem folgenden dialektischen Gang (475 66-476d 7), der als ein einheitlicher Gedankenzug vom Kontext auch kompositorisch abgegrenzt ist: hatte unmittelbar vorher Glaukon die Rolle des Fragers usurpiert (475 d i - e 5), so ist von 475 e 6 an Sokrates wieder derjenige, der die Fragen stellt. Und das Ende dieses Ganges ist nicht nur durch den kurzen, antithetischen Satz 476 d 5-6 markiert, sondern auch durch den Neueinsatz der folgenden Frage (476d8-e2): mit ihr wird der δοξάζων, der vorher nur Gegenstand der dialektischen Unterredung war, gewisserma en zu dramatischem Leben erweckt: von hier an ist er ein fiktiver Dialogpartner. Der Passus 475 e 6 — 476 d 7 z hlt zehn Frage-Antwort-Schritte, die wiederum nach der einleitenden, auf den Dialogpartner bezogenen Frage 475 e 6-7 in drei Gruppen zu je drei Schritten zerfallen: 475 e 9 - 476 a 8, 476 a 9 -c i, 476 c 2 - d 7. In der ersten Frage-Antwort-Trias l t Sokrates den Glaukon zugeben, da jedes der Eide des Sch nen und H lichen, Gerechten und Ungerechten, Guten und Schlechten eines (εν) ist (a 2-6), da jedes dieser Eide aber durch die Gemeinschaft mit Handlungen (πράξεις), mit Personen (σώματα) und untereinander vieles zu sein scheine (a 6-8)5. Beachtung verdient an dieser formelhaft knappen Argumentation 5

Die mir bekannten bersetzungen und Kommentare verstehen σώματα in 476 a 6 durchweg als „k rperliche Dinge" bzw. als „K rper". Der griechische Ausdruck σώμα hat aber neben der Bedeutung ,K rper' auch die Bedeutung .Person', ein Sprachgebrauch, der auch bei Platon belegt ist (vgl. Legg. X, 90833). Da σώμα an dieser Politeiastelle mit ,Person' und nicht mit ,K rper' wiedergegeben werden mu , erhellt aus dem sachlichen Sinn des Gesagten. Sokrates spricht n mlich von der „Gemeinschaft" der durch .sch n', ,gerecht' und ,gut' bezeichneten είδη mit Handlungen und mit σώματα. Eine Minimalbedingung f r die „Gemeinschaft" eines Eidos z. B. mit einer Handlung ist jedenfalls, da man den entsprechenden Begriff von Handlungen pr dizieren kann (.gerecht* z. B.). W hrend man nun die von Sokrates angef hrten Ausdr cke ,sch n', ,gerecht' und ,gut' sehr wohl von Handlungen pr dizieren kann, wird eine solche Pr dikation im Falle der σώματα, wenn darunter K rper verstanden werden, sinnlos. Von einem k rperlichen Ding kann man nicht sagen, es sei gerecht. Dagegen lassen sich die angef hrten Pr dikate ohne Schwierigkeit auf Personen anwenden: Handlungen oder Personen sind das, worauf man sich

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

die Begr ndung f r die Einheit der einzelnen Eide: Sokrates geht aus vom Begriff des Gegensatzes: da Sch n und H lich einen Gegensatz bilden, m ssen sie zwei sein (475 e 9); sind sie aber zwei, so ist jedes von ihnen eines (476 a 2). Das scheint auf den ersten Blick ein Umweg, ist aber als Argument ganz subtil: ein Gegensatz wird durch zwei und nur zwei Glie> der konstituiert; ein Begriff kann nur einen (polar-kontr ren) Gegenbegrift haben. Der Umweg ber das logische Verh ltnis des Gegensatzes soll den Schein der Vielheit gegen ber der Einheit des Eidos zerstreuen. Auf der n chsten Stufe der Argumentation (476 a 9 - c i) trennt Sokrates dann im Ausgang von der zuvor getroffenen Unterscheidung der Einheit des Eidos und der Vielheit seiner Erscheinungen die φιλοθεάμονες und φιλότεχνοι und πρακτικοί von den Philosophen (39 — b 2): die ersteren lieben die Vielheit des erscheinenden Sch nen, die Natur des Sch nen sind sie unf hig zu schauen (b4-8), die Philosophen dagegen sind durch die F higkeit zur Schau des Sch nen selbst charakterisiert (b ιο-ιι). Bedeutsam f r den Fortgang unserer Stelle ist hieran, da der φιλοθεάμων und der φιλόσοφος nicht durch zwei verschiedene Verm gen, das der Doxa und das der Episteme, sondern durch Besitz und Mangel eines Verm gens unterschieden werden: der φιλοθεάμων ist unf hig (αδύνατος b 7), das Sch ne selbst zu sehen. Da in der Tat die Unterscheidung von δόξα und γνώμη, so wie sie hier von Sokrates vorgetragen wird, nicht mit der sp teren Unterscheidung als verschiedener Verm gen (vgl. 477 d-e) vereinbar ist, zeigt nun auch die letzte Frage-Antwort-Trias unserer Stelle (47602-^7). Sokrates benutzt hier einen Vergleich, um den Unterschied zwischen der διάνοια des Wissenden und der des Meinenden zu explizieren: er erl utert diesen Unterschied durch die Differenz von Wachsein und Tr umen (c 2 - d 4) und gibt in seinen beiden Fragen an Glaukon obendrein an, worauf dieser Vergleich zielt. Tr umen, so expliziert Sokrates (c 5—7), hei t, etwas hnliches nicht als ein hnliches, sondern f r das nehmen, dem es hnlich ist. Der Tr umende nimmt die phantasierte Traumwelt f r die Wirklichkeit; zum Tr umen geh rt gerade der Mangel des Bewu tseins, da das Getr umte nur Getr um tes ist. Das Bild des Tr umens bildet treffend das falsche Bewu tsein der Doxa ab und ist in seinem metaphorischen Sinn mit der Vergessenheit bei der Pr dikation moralisch wertender Begriffe bezieht. Die Selbstverst ndlichkeit, mit der die bersetzer an dieser Stelle σώμα durch ,K rper' wiedergeben, ist ein gutes Beispiel daf r, wie der Einflu des platonistischen Platonverst ndnisses und die entsprechende Orientierung an der ,Zwei-Welten-Lehre' sogar das schlichte wOrtverst ndnis der platonischen Texte deformieren kann.

Philosophie und Doxa

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identisch, die als Metapher der Doxa im Bild der Anamnesis fungierte. Die Doxa als Titel der διάνοια des Meinenden ist nicht - wie ein Verm gen (vgl. 477 d) — durch den Bezug auf eine bestimmte Gegenst ndlichkeit definiert, sondern durch das falsche Bewu tsein ber ihre Gegenst nde. Das wird noch deutlicher auf der anderen Seite des Vergleiches: der Analogie von philosophischer Einsicht und Wachsein (c 9 - d 4): erst der Erwachte vermag ja die Unterscheidung von wirklicher Welt und Traumwelt zu vollziehen, d. h. er erst durchschaut den Traum als Traum. Wenn wir das aus der Sprache der Metapher zur ck bersetzen in den Klartext der Beschreibung des philosophischen Wissens, so hei t das: Erst im philosophischen Wissen ist das falsche Bewu tsein der Doxa ber die μετέχοντα korrigiert. Was also hier Meinung und Wissen unterscheidet, ist gerade nicht ein Bezug auf disjunkte Gegenstandsbereiche, sondern die Differenz von falschem und angemessenem Bewu tsein ber einen zumindest partiell identischen Gegenstandsbereich. Die Auslegung des Verh ltnisses von Meinung und Wissen durch die Metapher von Tr umen und Wachen hat damit aber eben den Sinn, den auch das H hlengleichnis hat: auch dort ist die Kenntnis der Oberwelt eine Bedingung f r eine Differenz im Bewu tsein der H hlenbewohner selber: anders als die Gefesselten kann der aus der Oberwelt in die H hle Zur ckgekehrte die Schatten als Schatten erkennen. Beide Gleichnisse stehen im Widerspruch zu der Bestimmung des Verh ltnisses von Meinung und Wissen als verschiedener Verm gen, wie sie im folgenden vorgenommen wird (477 d-e). Diese Unterscheidung steht innerhalb der platonischen Dialoge einzig da. Wo Platon die Differenz von Doxa und Episteme er rtert oder durch Beispiele illustriert (Men. 97 a - 98 a, Pol. X, 601 e - 602 b, Theaet. 201 b-c), unterscheiden sich Meinung und Wissen nicht durch verschiedene Gegenstandsbereiche, sondern durch den unterschiedlichen Grad der Triftigkeit ihrer Gr nde6. Wir werden uns daher zweierlei zu fragen haben: 6

Auch die Timaiosstellen, an denen δόξα und επιστήμη unterschieden werden (Tim. 3763-03, 5id3-e6), machen die Unterschiedenen nicht zu unterschiedlichen Verm gen. In 3 7 6 3 - 0 3 ist es vielmehr der eine und selbe λόγος, der sowohl περί τε θάτερον 8v als auch περί το ταύτόν gebraucht wird. Die δόξαι ... αληθείς (37 b 8) - schon der Plural h lt hier den Gedanken an ein Verm gen fern - und die επιστήμη sind hier Folgen der Zuwendung zum αίσθητόν resp. λογιστικόν, nicht als Verm gen eine Voraussetzung solcher Zuwendung. Und i n 5 i d 3 - e 6 wird nur festgestellt, da die αναίσθητα είδη vorausgesetzt werden m ssen, wenn anders Nous und wahre Meinung verschiedene Genera bilden sollen. - Da die Pol. 476 entwickelte Unterscheidung von Doxa und Episteme als verschiedener Verm gen mit anderen Stellen des platonischen Corpus nicht bereinstimmt, hat etwa O. Apelt bemerkt (vgl. Platonische Aufs tze 54 f.). Apelt verweist auf Men. 97 a f. und Pol. VI,

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i. Gibt der Kontext der Stelle 477 d-e selbst möglicherweise einen Hinweis darauf, daß die Unterscheidung von Doxa und Episteme als unterschiedlicher Vermögen kein Theorem der platonischen Philosophie ist? 2. Welchen Sinn hat, falls die erste Frage zu bejahen ist, dann aber die Darstellung des fraglichen Unterschieds als eine Differenz verschiedener Vermögen? Bevor wir mit diesen beiden Fragen an die Interpretation des Textes gehen, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Diskussion dieser Stelle der ,Politeia' in der Literatur folgen. b) Die Diskussion der Unterscheidung von Doxa und Episteme (Pol. 477 - 479) in der Platonliteratur Für die überwiegende Mehrheit der Interpreten ist die Unterscheidung von Doxa und Episteme als verschiedener Vermögen, von denen die Doxa auf die Erscheinungswelt, die Episteme auf die , die Ideen geht, eines der Hauptbeweisstücke für den „Platonismus" Platons7. Hatte man hier nicht den .Chorismos' von Erscheinungswelt und Ideenreich, dem die Kritik des Aristoteles gilt, in aller Deutlichkeit vor Augen? Daß man eine solche Verteilung des Wissens auf den Bereich der Ideen, der Meinung auf die empirische Wirklichkeit sachlich nicht rechtfertigen konnte, mußte auch von jenen Interpreten zugegeben werden, die Platon ansonsten gegen Aristoteles zu verteidigen suchen: etwa von Natorp oder Cherniss8. Nun hat sich an dieser Unterscheidung aber nicht nur die Kritik an Platon entzündet, sondern sie wurde auch Anlaß für die Frage, ob solch eine 506 c. Aber das gilt ihm als ein Widerspruch, in den Platon sich verwickelt und den Apelt als einen „Widerstreit von künstlicher Theorie und unbefangener Praxis" (a. a. O. 55) erklärt. Cross und Woozley bemerken den Gegensatz der Bestimmung von Doxa und Episteme als Vermögen zu anderen Stellen der platonischen Dialoge, eskamotieren diesen Gegensatz aber für die Zwecke ihrer Untersuchung (Plato's Republic 168). 7 Vgl. etwa G. Vlastos, Degrees of Reality a. a. O. 8 -19; W. Kamlah, Platos Selbstkritik 5. 8 Vgl. P. Natorp, Platos Ideenlehre 187; H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato and the Academy 211 ff. - Ähnlich auch die Urteile der neueren Kommentatoren: S. Jowett/Campbell zu Pol. V, 477 a 1-3 und 477 e 5-6; O. Apelt in seiner kommentierten Übersetzung zu 477153. Die Bemerkung des Kommentars von Jowett/ Campbell zu 477 a formuliert die Kritik an dem, was hier als platonisches Theorem gelesen wurde, am präzisesten: „Doxa is the faculty of opinion and is also nearly allied to sensible perception or sense. But what has opinion to do with perception? To us opinion is fallible and probable; sense is generally infallible. Opinion for us is for the most part concerned with the same matter as knowledge; sense with external objects only." S. a. Ross, Plato's Theory of Ideas 38 f.

Pol. V, 477—479 in der Platonliteratur

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Beschränkung des Wissens auf ein Ideenreich wirklich mit Platons sonstigen Lehren vereinbar ist. Hat sie nicht fatale Konsequenzen für seine Moralphilosophie, Konsequenzen, die Platon kaum hätte übersehen können? So bestreitet etwa G. Brown9, der sich mit seinem Interpretationsvorschlag bisher am weitesten von der traditionellen Auslegung abgesetzt hat, daß Platon die Welt des Einzelnen und Konkreten, die empirische Wirklichkeit, zu einem Bereich erklärt habe, in dem es kein Wissen, sondern nur schwankende Meinungen geben soll: Weiß nicht derjenige, von dem jemand in unzurechnungsfähigem Zustand eine deponierte Waffe zurückverlangt - so fragt Brown unter Anspielung auf Sokrates' Beispiel Pol. I, 331 c -, daß er unrecht handelt, wenn er auf dies Verlangen eingeht10? Weiß Sokrates, so könnte man diese Frage auch stellen, daß es besser ist, den Schierlingsbecher zu trinken als nach Böotien zu fliehen, oder meint er es nur? Obwohl Brown mit diesem Argument einen berechtigten Zweifel an der traditionellen Deutung der Schlußpartie des fünften Buches artikuliert hatte, konnte seine positive These, daß sich unter der .Zwei-Welten-Lehre' nur die Differenz von .Meinung' und .Wissen', und das heißt für Brown von „loose thinking" und „strict thinking", verberge11, von seinen Kritikern schnell widerlegt werden12. In der Tat muß ein Versuch wie der Browns scheitern, solange nicht jene Voraussetzung aufgegeben ist, die er mit seinen Kritikern unbefragt teilt, die Voraussetzung, daß die Dialoge Platons Traktate in der Form von Wechselgesprächen sind. Eine mehr beiläufige Bemerkung Browns enthält nun jedoch einen für das Verständnis der Stelle 477-479 wichtigen Hinweis. Brown macht nämlich auf den eleatischen Charakter der Unterscheidung von ov und und 13 von Doxa und Episteme aufmerksam . Diese Beobachtung Browns wird durch einen Aufsatz des ungarischen Philosophie- und Mathematikhistorikers Szabo bestätigt, der offenbar ganz unabhängig von Brown zu einer ähnlichen Charakterisierung unserer Stelle gekommen ist14. Szabo bemerkt zunächst, daß die vorgetragene „Theorie über das Wissen, Nichtwissen und die Meinung . . . so auffallend mechanisch - man möchte beinahe sagen: plump - (ist), daß der moderne Leser zunächst kaum etwas damit anzufan9 G. Brown, The alleged Metaphysics in the Republic, Pr. Ar. Soc. Suppl. vol. XIX (1945) 165 -192. 10 Brown a. a. O. 167. 11 Brown a. a. O. 166. 12 Siehe die Beiträge von G. C. Field und S. S. Orr im selben Band der Proceedings. 13 Brown a. a. O. 172. 14 A. Szabo, Eleatica, Acta Antiqua 3 (1955) 67 - 102, insbes. 98 - 102.

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gen weiß" 15. Szabo hält diese Theorie daher auch nur für historisch erklärbar und meint, „daß Sokrates hier eine Theorie entwickelt, die im wesentlichen nicht aus der Platonischen sondern aus der eleatischen Philosophie 'zu verstehen ist" 16. Bei Parmenides hat die Doxa in der Tat diesen Charakter des ,sein und nicht sein'; auch die antithetische BegrifHichkeit trägt deutlich eleatische Züge17. Szabo bemerkt allerdings nicht, wie wenig die Theorie, die er hier von Sokrates entwickelt sieht, mit Platons sonstigen Äußerungen über das Verhältnis von Meinung und Wissen übereinstimmt; ebensowenig achtet er darauf, daß Sokrates von 476 e 7 an nicht mehr seine eigene Theorie expliziert, sondern Glaukon als Stellvertreter der Doxa befragt (vgl. 476 e 7-8). So ist es ganz folgerichtig, wenn für Szabo die platonische Philosophie „nur eine konsequente Fortbildung der eleatischen Lehre" zu sein scheint18. Wir werden umgekehrt fragen, ob Platon hier nicht implizit eine Kritik des Eleatismus liefert. Eine Auslegung, die in der Stelle 476 e &. nicht einfach einen Beleg für einen überschwänglichen Idealismus Platons findet (wobei die Absurditäten dieser philosophischen Position dann leicht aufzudecken sind), noch wie die von Brown - in einer Art von exegetischem Handstreich die Schwierigkeiten wegzuinterpretieren, sondern sie auf Grund einer genauen Interpretation aufzuklären sucht, findet sich in A. N. Murphy's Interpretationen zur .Politeia'I9. Murphy ist, soweit ich sehe, als erster darauf aufmerksam geworden, daß der Passus 475—480 in zwei Abschnitte zerfällt20 und daß der zweite, 476 e beginnende Abschnitt durch die Rollenzuweisung an Glaukon vom ersten unterschieden ist: „The argument of that section takes the form of a sub-dialogue between Socrates and the , whose 21 part Glauco takes." Obwohl Murphy dann ausführlich die Schwierigkeiten aufzeigt, die sich von der Sache wie vom sonstigen Sprachgebrauch Platons her für ein Verständnis von Doxa und Episteme als verschiedener, auf getrennte Gegenstandsbereiche bezogener Vermögen ergeben22, ist die von 15 Szabo a. a. O. 99. 16 Szabo a. a. O. 100. 17 Vgl. Szabo a. a. . . Auch Friedländer macht auf den „parmenideischen" Charakter dieser Stelle aufmerksam, fügt aber hinzu: „Diese ontologische Analyse ist vorläufig, sie wird nachher durch eine vollständigere überhöht werden (VI 504 E ff.)." (Platon III, 97 vgl. 106). 18 Szabo a. a. O. 102. 19 A. N. Murphy, The Interpretation of Plato's Republic. Oxford 1951, 21960, 97 -129: and . (= Murphy III) 20 Murphy III, 104. 21 Murphy III, 105. 22 Vgl. Murphy III, 116 ff., 122 ff.

Glaukon als Sprecher der Doxa

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ihm vorgeschlagene L sung dieser Schwierigkeiten nicht wirklich plausibel und berdies ohne St tze im Text: Murphy will die beiden, der Doxa und der Episteme zugeordneten Gegenstandsbereiche κατά συμβεβηκός auch dem jeweils anderen Verm gen zuweisen23. An Murphys Beobachtungen ber den Aufbau dieser Textstelle und insbesondere ber die bernahme der Rolle des φιλοθεάμων durch Glaukon hat neuerdings J. Gosling angekn pft 24 und darauf insistiert, da die Argumentation ab 476 e auf den Pr missen beruht, die der φιλοθεάμων zugeben w rde25. Aber Gosling verl t seine Interpretationsmaxime, wenn es um den Begriff der Doxa selber geht; in ihrer Aussperrung vom Seienden (ov) sieht er „a symptom of Plato's unsureness over the notion of δόξα" 26. Der Gedanke, da gerade die Verteilung von Doxa und Episteme als Verm gen auf getrennte Gegenstandsbereiche eine Konsequenz bestimmter Pr missen des φιλοθεάμων sein k nnte, wird von Gosling so wenig wie von Murphy in Erw gung gezogen.

c) Glaukon als Sprecher der Doxa (476 d 8 — 480 a 14) Mit der Doppelfrage des Sokrates 476 d 8 - e 2 wird ein neuer Abschnitt der Untersuchung er ffnet: der δοξάζων ist von hier an nicht mehr ein bloer Gegenstand der Unterredung, ber den gesprochen wird, sondern dadurch, da Sokrates ihm eine Reaktion auf die gerade vorgenommenen Unterscheidungen unterstellt, wird er zu einem fiktiven Teilnehmer der Untersuchung, mit dem gesprochen wird. Zugleich aber dient dieser Einwand des Sokrates der Charakterisierung der Doxa. Der δοξάζων bestreitet (άμφισβητίί d 9) die getroffenen Unterscheidungen und d. h. doch, da er nicht nur 23 Murphy III, 124. 24 J. Gosling, Δόξα and Δύναμις in Plato's Republic, Phronesis 13 (1968) 119-130. Vgl. auch Goslings fr here Diskussion der Stelle: Republik, Book V: τα πολλά καλά, Phronesis 5 (1960) 116- 128. - Cross und Woozley, die in ihrem Kommentar zur platonischen ,Politeia' ebenfalls auf die Zweiteilung der Argumentation abheben, scheinen mir dagegen hinter die Beobachtungen von Murphy und Gosling zur ckzugehen, wenn sie schreiben: „The argument falls into two parts, (ι) 475 e - 47*> d which is addressed to Glaucon, as a disciple of Plato who already shares Plato's general philosophical view, and (2) 476 d - 480 which is addressed to a wider audience, and in particular to the lover of sights and sounds, the counterfeit philosopher." (Cross/Woozley, Plato's Republic 139). Die Pointe des dramatischen Arrangements dieser Stelle ist gerade, da Glaukon die Rolle des Doxazon bernehmen kann. 25 Gosling, Δόξα and Δύναμις ΐ2ΐ. 26 Gosling a. a. O. 126 vgl. 127.

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in einem blo en Meinen befangen ist - das hatte schon die Explikation der Traummetapher deutlich gemacht —, sondern da sich sein Zu-WissenMeinen auf den Unterschied von Wissen und Meinen selber erstreckt. Es ist diese Differenz, um die es in der folgenden Unterredung geht. Aber die dramatischen Hinweise und Arrangements, die Sokrates mit der Bemerkung 476 e 4-8 trifft, zeigen, da die folgenden Darlegungen nicht als positive Lehren der platonischen Philosophie gemeint sind: nicht Sokrates und Glaukon wollen dem Vertreter der Doxa zureden — diese M glichkeit wird erw hnt, aber verworfen (vgl. 476 e 4 f.) -, sondern der δοξάζων soll mit dem, was er zu wissen meint, selber zu Wort kommen (vgl. 476 e 5 f.). Dabei soll diese Vernehmung des Meinenden keine direkte Kritik an seinen u erungen enthalten: so ist doch wohl das έπικρυπτόμενοι ότι ούχ υγιαίνει (476 e 1-2) zu verstehen. Der direkteste und deutlichste Hinweis darauf, da im folgenden der δοξάζων befragt und nicht ein Lehrst ck Platons exponiert werden soll, liegt ohne Zweifel in der Rollenzuweisung an Glaukon, die 476 e 7-8 vollzogen wird. Aber Sokrates k nnte seinen Gespr chspartner nicht einfach in den Part des δοξάζων einweisen, wenn Glaukon nicht schon selber im Banne der Meinung st nde. Wir haben in den einleitenden Bemerkungen dieses Kapitels gezeigt, wie die Inszenierung des Anfangs des ersten wie des f nften Politeiabuches zur Charakterisierung der Gespr chspartner des Sokrates - und damit auch Glaukons - als φιλοθεάμονες und φιλήκοοι dient. In der Rollenzuweisung an Glaukon steckt nur eine letzte indirekte Charakterisierung. Um einen Einstieg in die Analyse der folgenden Argumentationen zu finden, k nnen wir von einer Beobachtung ber ihren Aufbau ausgehen. Auf eine ausdr ckliche Frage des Sokrates hin fa t Glaukon 4 7 8 a i o - b 2 die Pr missen f r den wohl paradoxesten Satz der Ableitung zusammen, f r den Satz n mlich, da , was Gegenstand des Wissens27 (γνωστόν) ist, nicht auch Gegenstand der Meinung (δοξαστόν) sein kann. Diese These h ngt, wie Glaukon richtig erinnert, an der Bestimmung von Doxa und Episteme als verschiedener Verm gen, wie sie 477 d 7 - e 3 vorgenommen worden ist. Welches Gewicht dieser Bestimmung von Doxa und Episteme als Verm gen zukommt, wird nun wiederum dadurch deutlich gemacht, da Sokrates den Begriff des Verm gens innerhalb der Argumentation eigens einf hrt. Erst nachdem er diese BegrLffsexplikation 477 b n - d 5 vor27 Genauer: was Gegenstand der Kenntnis ist; vgl. dazu die folgenden Bemerkungen (unten 119) ber den Sinn von γιγνώσκειν.

Glaukon als Sprecher der Doxa

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genommen hat, stellt er ausdr cklich die Frage, ob Wissen und Meinung Verm gen sind (vgl. 477 d 7-8; e i). Die ausdr ckliche Unterbrechung des Argumentationsganges (vgl. 477 b 10-12) mit der Absicht, eine explizite Bestimmung des Begriffes der Dynamis zu geben, ist aber deswegen auff llig, weil von Doxa und Episteme schon vorher und zwar in den Fragen des Sokrates (vgl. 477 b 5; b 7-8) als Verm gen die Rede war. Geht denn dann nicht, so mu man doch fragen, die verh ngnisvolle Bestimmung von Meinung und Wissen als Verm gen auf Sokrates zur ck bzw. ist nicht Glaukons Vorverst ndnis durch diese Fragen in unerlaubter Weise manipuliert worden? Oder l t sich zeigen, da die Rede von Doxa und Episteme als Verm gen nur eine implizite Voraussetzung Glaukons deutlich macht? Sokrates beginnt die Argumentation mit der Frage, ob der γιγνώσκων etwas oder nichts γιγνώσκει (476 e 7). Wie ist hier γιγνώσκειν zu verstehen, als .erkennen* oder als »kennen* 28? Obwohl die mir bekannten deutschen bersetzungen an dieser Stelle γιγνώσκειν mit ,erkennen' wiedergeben29, scheint mir damit der Sinn nicht getroffen. Das Wort taucht - im Zusammenhang der Unterscheidung von Philosophen und φιλοθεάμονες - zum erstenmal in der abschlie enden Frage des voraufgehenden Ganges 476 d 5 auf: in der Gegen berstellung von γιγνώσκων und δοξάζων. Versteht man an dieser letzteren Stelle γιγνώσκειν als ,erkennen', so st nde ein Akt im Gegensatz zu einer Disposition. Dagegen w rde ,kennen* eine Disposition bezeichnen und der Gegensatz .kennenVjmeinen' ist der zweier Dispositionsausdr cke. Da wir es an dieser Stelle mit einem Gegensatz von Dispositionen zu tun haben, wird aber durch die unmittelbar vorangegangene Explikation des Bildes von Traum und Wachsein belegt: Diese Explikation dient dazu, den Gegensatz von φιλόσοφος und φιλοθεάμων auf den von Besitz und Mangel einer F higkeit zur ckzuf hren (vgl. μήτε . . . δυνάμενος 476 c 3—4, δυνάμενος 476 d i). Eine F higkeit oder ein Verm gen besitzen oder nicht besitzen, ist aber eine Disposition, nicht ein Akt. Da γιγνώσκειν hier als jkennen' zu verstehen ist, wird weiterhin durch den Fortgang best tigt: sowohl 477 b 10 wie 478 a 6 gebraucht Sokrates den Aorist γνώναι an Stelle von γιγνώσκειν. Und auch das Substantiv γνώσις (477 a 9, 478 c 4, c 8 u. .) bezeichnet nicht nur den Akt des Erkennens, sondern auch den Zustand der Kenntnis. 28 29

Vgl. dazu oben 58. So Sdileiermacher, Apelt, Rufener.

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Sokrates erste Frage an Glaukon in seiner Rolle als Sprecher der Doxa fragt demnach also, ob der Kennende etwas kennt oder nichts kennt; anders gesagt, ob f r Kennen Gegenstandsbezogenheit konstitutiv ist oder nicht. Glaukon bejaht diese Frage (476 69). Im n chsten Frageschritt (e 10) wird die gegebene Antwort wiederum dihairetisch in eine Alternative auseinandergelegt: Sokrates will wissen, ob dieses τι ein Seiendes ( v) oder ein NichtSeiendes (μη δν) ist. „Ein Seiendes", antwortet Glaukon, und er f gt hinzu: „Denn wie sollte man etwas Nicht-Seiendes kennen?" (47731). Bemerkenswert an diesen beiden Antworten Glaukons ist zun chst ihre dramatische Instrumentierung. Die umst ndliche Formulierung der ersten (άποκρινοΰμαι . . . ότι 47669) zeigt noch ein Rollenbewu tsein Glaukons: er unterscheidet noch zwischen sich und seiner Rolle und bringt das durch den Gebrauch des Futurs zum Ausdruck. Eben dies Bewu tsein und die Distanz zu der ihm bertragenen Rolle ist aber schon in seiner zweiten Erwiderung verschwunden. Der argumentative berschu , der in der rhetorischen Frage liegt, mit der er seine Antwort begr ndet (γαρ 477 a i), macht sinnf llig, da er sich mit seiner Rolle bereits identifiziert hat: hier ist er δοξάζων und nicht mehr nur Sprecher an Stelle des δοξάζων. Wenn wir die Begr ndung, die Glaukon in der Form der rhetorischen Frage an seine Antwort anh ngt, so formulieren, da sie zusammen mit der Antwort einen Schlu bildet, so w rde Glaukons u erung 477 a i lauten: Da, wenn etwas ein Nicht-Seiendes ist, es ein αγνωστον ist, so ist, wenn etwas ein γνωστόν ist, dies ein Seiendes. Dieser Schlu ist formal korrekt - er schlie t nach dem modus tollendo tollens — und die vorausgesetzte Pr misse ist inhaltlich richtig; wir k nnen in der Tat von etwas, das nicht (mehr oder noch nicht) ist, nicht sagen, da wir es kennen. Von einem verstorbenen Bekannten z.B. sagt man nicht, da man ihn kennt, sondern da man ihn kannte. Im Begriff des Kennens ist die Existenz des Gekannten in analoger Weise impliziert wie im Begriff des Wissens die Wahrheit des Gewu ten30. 30

Vgl. Cross/Woozley, Plato's Republic 173 f. Die Untersuchungen von Cross/Woozley zum Ende von ,Politeia' V, die sich an einer Analyse des Sprachgebrauches von ,to know' und ,to believe' orientieren (a. a. O. 170 -177), sind gerade deshalb u erst lehrreich, weil sie richtig den Unterschied von .Kennen' (knowledge by acquaintance) und ,Wissen' (knowing that) herausarbeiten und auch die ,Fehler' der Argumentation als durch das Modell der Sinneswahrnehmung („model of sense-awareness" a. a. O. 175) bedingt erkennen. Aber nach ihrer Interpretation sollen diese Fehler dem Autor Platon angelastet werden; das konservative Modell der Interpretation platonischer Dialoge verhindert die Einsicht, da Platon hier in Wirklichkeit eine von Glaukon vertretene Position kritisiert. hnlich wie Cross und Woozley interpretiert auch G. Patzig, der mit Bezug auf unsere Stelle von Platon sagt: „Er

Glaukon als Sprecher der Doxa

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Aus dem Satz: „Wenn etwas ein Nicht-Seiendes ist, ist es ein αγνωστον" folgt aber keineswegs der Satz: „Wenn etwas Seiendes ist, ist es ein γνωστόν". Zu eben diesem Satz aber gibt Glaukon im n chsten Frageschritt seine Zustimmung (vgl. 477 a 2-5). Dabei enth lt die vorsichtige Formulierung der Frage mit dem eingeschalteten καν εί πλεοναχΐ) σκοποΐμεν (a 2) einen Wink des Sokrates, hier nicht unbesehen zuzustimmen. F r Glaukon aber gibt es keinen Zweifel: seine Antwort steigert das ίκανώς, mit dem Sokrates seine Frage eingeleitet hatte (vgl. 477 a 2), zum Ικανώτατα (a 5). Resigniert schlie t Sokrates diesen Gang mit einem εΐεν (47736). Wir m ssen, wenn wir Glaukon hier nicht schlicht einen logischen Fl chtigkeitsfehler unterstellen wollen, nach der Zusatzpr misse fragen, die ihm die akzeptierte Schlu folgerung plausibel erscheinen l t. Welche zus tzliche Pr misse w rde also die von Glaukon akzeptierte Schlu weise zu einem g ltigen Schlu machen? Offenbar die Voraussetzung, da es sich bei ov und γνωστόν bzw. μη δν und αγνωστον um koextensive Begriffe handelt. Warum kann Glaukon das aber als so selbstverst ndlich voraussetzen? Fragen wir umgekehrt: Wo gibt es eine solche Koextensivit t von Begriffen, die sich als Modell f r die unausdr ckliche Voraussetzung Glaukons anbietet? Offenbar im Bereich der Wahrnehmungsverm gen und ihrer gegenst ndlichen Korrelate: Alles, was sichtbar ist, ist farbig, und alles, was farbig ist, ist sichtbar; alles, was h rbar ist, ist Schall, und Schall ist immer h rbar. Glaukon denkt also, so k nnen wir den von ihm begangenen logischen Fehler interpretieren, γνώσις und άγνωσία in Analogie zu den Verm gen des sinnlichen Wahrnehmens. Damit haben wir nun aber auch eine Antwort auf unsere zu Anfang gestellte Frage nach der Herkunft des Begriffs ,Verm gen* innerhalb dieser Ableitungen erhalten. Wenn Sokrates einige Schritte weiter unten den Begriff δύναμις zum ersten Mal gebraucht (477 b 5), so expliziert er damit doch nur eine unausdr ckliche Voraussetzung Glaukons. Die folgenden Frageschritte ( 4 7 7 a 6 - b n ) laufen nun sehr deutlich auf eine Folgerung zu, die dann aber doch nicht gezogen wird, weil Sokrates 477 b ii diesen Beweisgang abrupt unterbricht. Die Folgerung, auf die hier hingezielt wird, ist die, da die Doxa jenes Verm gen ist, als dessen Gegenstandsbereich sich das, was ist und nicht ist, bestimmen l t. Die ersten beiden Schritte in diesem Gang sind hypothetisch: zun chst wird f r die Seite der gegenst ndlichen Korrelate demonstriert, da , wenn versteht die Erkenntnis des Allgemeinen nach dem Modell der Wahrnehmung von Gegenst nden." (Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, a. a. O. 115).

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es einen Gegenstandsbereich gibt, der das befa t, was ist und zugleich nicht ist, dieser zwischen Sein und g nzlichem Nichtsein liegt, also weder dem einen noch dem anderen der bislang erw hnten Bezirke des δν und des μη δν zugeh rt (477 a 6-8); dann wird umgekehrt f r die Seite der Verm gen gezeigt, da , wenn die (von Glaukon 477 a 5 zugegebene) Zuteilung der γνώσις an das ov, der άγνωσία an das μη ov zutrifft, f r den Gegenstandsbereich, der zwischen v und μη δν hypothetisch angenommen wurde, auch ein drittes Verm gen anzunehmen ist. Nachdem mit den ersten beiden Schritten die argumentative Strategie vorgegeben ist, beginnt mit den anschlie enden Fragen die Ausf llung dieses Schemas: zun chst (477 b 3-4) wird der Begriff der δόξα eingef hrt, dann festgestellt, da die Doxa ein anderes Verm gen als das Wissen - hier wird zum ersten Mal επιστήμη an Stelle von γνώσις gebraucht — sein mu (b 5-6), und daraus gefolgert, da ihr auch ein von dem des Wissens unterschiedener Gegenstandsbereich zukommen mu (b 7-8). In der n chsten Frage bricht Sokrates dann diesen Ableitungsgang ab (477 b ιο-ιι). Aber es ist unschwer zu erkennen, wie er weitergelaufen w re: es m te jetzt n mlich analog zur Verschiedenheit der Doxa von der Episteme auch ihre Unterschiedenheit von der Unkenntnis (άγνωσία) (und entsprechend die Verschiedenheit der jeweiligen Gegenstandsbereiche) aus den vorausgesetzten Pr missen entwickelt werden, um die oben genannte Folgerung ziehen zu k nnen. Da die f r diese Folgerungen noch notwendigen Voraussetzungen ganz analog zu den bereits abgeleiteten zu gewinnen sind, ist ein Widerspruch von seilen Glaukons kaum zu gew rtigen. Da Sokrates dennoch diesen bequemen Weg nicht geht, verst rkt das Gewicht des Exkurses zum Begriff des Verm gens, den er hier zun chst zu kl ren f r n tig h lt (vgl. 477 b ii -d 5). Da der Begriff des Verm gens f r die Begriffe von Wissen und Nichtwissen bei Glaukon unreflektiert vorausgesetzt ist, hatte uns die Analyse seines logischen Fehlers in 477 a 2-4 gezeigt. Aber eben das ist f r Sokrates der Grund, diesen Begriff vor der weiteren Abwicklung des Argumentationsganges ausdr cklich zu analysieren. Die Explikation des Begriffs δύναμις (477 c i - d 5) vollzieht sich in zwei Schritten von ungleicher L nge (c 1-4; c 6 - d 5). In beiden entwickelt Sokrates relativ ausf hrlich und nicht in der sonst ge bten Weise der schrittweisen Befragung des Mitunterredners eine These und holt erst am Ende die Zustimmung Glaukons ein. Im ersten Schritt wird ,Verm gen' bestimmt als das, auf Grund dessen alles, was etwas kann, eben dieses kann; als Beispiele nennt Sokrates Gesicht und Geh r. Die Frage an Glaukon will sich hier nur seines Verst ndnisses versichern (vgl. 477 c 3—4), die Begriffs-

Sokrates' Analyse der Dynamis

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bestimmung ist offenbar sachlich so plausibel, da an dieser Stelle ein inhaltlicher Widerspruch Glaukons nicht zu erwarten ist. Anders im zweiten, ausf hrlicheren Schritt, der dem Problem des Unterscheidungsprinzips verschiedener Verm gen gilt. Dem auf Homologie angelegten φήσομεν (c i) am Anfang des ersten Schrittes entspricht hier die Aufforderung: „So h re denn, was mir hinsichtlich ihrer (sc. der Verm gen) scheint" (c6), eine Formulierung also, die nicht die Voraussetzung einer Homologie macht, sondern diese in das Gegen ber eines Ich und Du aufl st — ein Zug, der ebenso auch in den beiden knappen, an Glaukon gerichteten Schlu fragen (47/d^) wiederkehrt. Gerade weil Sokrates hier nicht von vornherein annimmt, da Glaukon der gleichen Meinung ist wie er, werden wir zu pr fen haben, ob Glaukon, der dem von Sokrates entwickelten Unterscheidungskriterium ja seine Zustimmung gibt, auch wirklich den Sinn dieser Unterscheidung und d. h. die m glicherweise daraus zu ziehenden Konsequenzen begriffen hat. Was ist nun der eigentliche Punkt in der sokratischen Erl uterung des Unterscheidungsprinzips verschiedener Verm gen? Ein Verm gen ist, darauf insistiert Sokrates, von einem anderen Verm gen nicht durch Farbe oder Gestalt oder hnliches (τι, των τοιούτων 477 c 7) zu unterscheiden und d. h. doch allgemein: Verm gen sind voneinander nicht durch etwas unterschieden, das an ihnen selbst auffindbar ist. Ein Verm gen ist von einem ndern, wie Sokrates positiv feststellt, nur (μόνον d i) durch seinen korrelierenden Gegenstandsbereich (εφ' φ d i) und durch seine Leistung (δ απεργάζεται d i ) unterscheidbar. Uns braucht hier die Frage, wie sich Gegenstandsbereich und spezifische Leistung eines Verm gens zueinander verhalten, und die weitere Frage, warum der Bezug auf einen Gegenstandsbereich (Farbiges, Schall) f r sich allein nicht als Unterscheidungskriterium hinreichend ist, nicht zu interessieren. F r unsere Fragestellung ist festzuhalten, i. da einzig Gegenstandsbereich und Leistung berhaupt als Gesichtspunkte bei der Differenzierung von Verm gen erlaubt sein sollen (vgl. 477 d i) und 2. da zum Nachweis der Verschiedenheit zweier Verm gen sowohl die Verschiedenheit der respektiven Gegenstandsbereiche (des εφ' φ) wie auch der Leistung (des δ απεργάζεται) aufzuzeigen sind (vgl. 477 d 4—5). Die Formulierung des Sokrates (και und nicht ή) in 477 d i schlie t aus, da eine Differenz von Gegenstandsbereich oder Leistung f r sich schon hinreichend ist, um Verschiedenheit von Verm gen zu garantieren. Glaukon hat sich mit seiner Antwort 477 d 6 die vorausgegangenen Erl uterungen und Festsetzungen des Sokrates zu eigen gemacht. Mit der anschlie enden Frage des Sokrates (477 d 7-8) wird in der Untersuchung ein

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Neuansatz gemacht: was vorher unbefragt vorausgesetzt worden war, n mlich da die επιστήμη eine δύναμις, da Wissen ein Verm gen sei, wird jetzt ausdr cklich zum Gegenstand einer Frage gemacht. Dieser neue Einsatz der Untersuchung wird durch den Gestus des δεΰρο δη πάλιν, α> άριστε (477 d 7) unterstrichen. Da die Frage, ob Wissen ein Verm gen ist - und ebenso die analoge Frage bez glich der Doxa -, f r Sokrates eine offene Frage ist, zeigt sich an ihrer Formulierung: in beiden F llen h lt Sokrates durch die Form seiner Frage eine Alternative offen (vgl. ή εις τί γένος τιθεΐς; d 8 und ή εις άλλο είδος οΐσομεν; e i). Glaukon entscheidet sich in beiden F llen f r die Klassifizierung als Verm gen (vgl. 477 d 9; 62-3). Verr terisch und untersuchenswert sind aber in beiden Antworten Glaukons die Zus tze, mit denen er seine Einordnung von Episteme und Doxa in das Genus ,Verm gen' unterst tzt. So begr ndet er seine erste Antwort damit, da die Episteme das st rkste von allen Verm gen sei; damit hat er aber gegen das gerade von Sokrates aufgestellte (und von ihm akzeptierte) Prinzip der Unterscheidung verschiedener Dynameis versto en: k nnte man wirklich ein Verm gen von einem anderen als st rker unterscheiden, so w re die These hinf llig, da einzig (vgl. 477 d i) Gegenstandsbereich und Leistung Verm gen zu unterscheiden erlauben. Den gleichen Versto begeht Glaukon dann abermals in seiner Bemerkung 477 e 6-7, wo er Wissen und Meinung als unfehlbares und fehlerhaftes Verm gen unterschieden sehen m chte - eine Unterscheidungshinsicht, deren Unsinnigkeit im Fall von Verm gen (man denke an beliebige Wahrnehmungs- oder intellektuelle Verm gen) auf der Hand liegt. Wenn Glaukon die Klassifizierung der Doxa als Verm gen damit begr ndet, da wir durch sie „zu meinen verm gen" (477 e 2), so steht das im Widerspruch zu den Bestimmungen der Doxa und des δοξάζων, wie sie 476 b-d gegeben worden waren: dort wurde die Doxa n mlich gerade durch den Mangel jenes K nnens charakterisiert, das f r die Episteme konstitutiv war (vgl. 476 b 7, 47603—4). Die Doxa zu einem Verm gen zu machen, hei t, ein Verm gen f r ein spezifisches Nicht-k nnen von etwas ansetzen. In Wahrheit verhalten sich Wissen und Meinung nicht wie zwei verschiedene Verm gen, sondern wie zwei Zust nde (έξεις) eines und desselben Verm gens, nicht wie Gesicht und Geh r, sondern wie Hellh rigkeit und Schwerh rigkeit. Wenn Sokrates das Ergebnis der Befragung Glaukons mit der Bemerkung 477 e 8 — 478 a i zusammenfa t, so ist daran auff llig, da sich die festgestellte Homologie nicht auf den Punkt bezieht, der doch gerade zur Diskussion stand, die Klassifizierung n mlich von Meinung und Wissen als

Glaukons Fehler: Meinung und Wissen als Verm gen

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Verm gen. Was den Inhalt dieser Homologie bildet, ist nur eine Minimalposition: die Verschiedenheit von Doxa und Episteme berhaupt. Da die Bestimmung von Doxa und Episteme als Verm gen nicht mit in die Homologie aufgenommen wird, signalisiert dem Leser, da diese Bestimmung eine Meinung Glaukons, nicht aber eine des Sokrates ist. Es sind die Konsequenzen dieser Meinung ber den Unterschied von Wissen und Meinung, die in den folgenden Abschnitten entwickelt werden.

) Die ontologischen Konsequenzen der Unterscheidung von Wissen und Meinung als Verm gen Der Ausschlu der Bestimmung von Doxa und Episteme als verschiedener Verm gen von der ausdr cklich gemachten Homologie in 477 e 8 - 478 a i f llt aber auch deshalb in die Augen, weil die n chste Frage des Sokrates (478 a 3-4), die ihrer Form nach nur eine Auskunft, nicht aber eine Zustimmung zu einer eigenen These von Glaukon einholt, gerade der Klassifizierung von Doxa und Episteme als Verm gen gilt; Sokrates zieht mit ihr die Konsequenz (vgl. αρά 478 a 3) aus dieser Klassifizierung, indem er die zuvor (vgl. 477 d i) angegebenen beiden Unterscheidungskriterien f r verschiedene Verm gen nun auch hier in Anschlag bringt: die getroffene (von Glaukon behauptete) Unterscheidung von Meinung und Wissen als Verm gen impliziert, da sie sich durch ihren Gegenstandsbereich (vgl. εφ' έτέρφ 478 a 3) und ihre Leistung (vgl. έτερον τι δυναμένη 478 a 3) unterscheiden. Das wird dann f r die Episteme sofort durch die folgende Frage inhaltlich gef llt: das, worauf sich die Episteme bezieht (ihr εφ' φ), ist das ov, ihre Leistung ihrem Gegenstandsbereich gegen ber ist: το 8ν γνώναι ως έχει (478 a 6), ein Kennen also. F r die Doxa aber ist dieses Schema nicht so schnell zu f llen. Sokrates' Frage gilt hier zun chst nur der .Leistung* der Doxa, dem δοξάζειν (478 a 8); diese Frage holt dabei nur explizit in den Argumentationszusammenhang ein, was vorher (vgl. 477 e 2) schon von Glaukon gesagt worden war. Die Doxa ist, so Glaukon, das Verm gen des Meinens. Der n chste Frageschritt bezieht sich naturgem auf den Gegenstandsbereich, der der Leistung ,Meinen' des Verm gens ,Doxa' entspricht. Aber die Formulierung dieser Frage (478 a io-ii) durch Sokrates ist nun wiederum h chst auff llig. Sokrates macht n mlich nicht, wie in den beiden voraufgegangenen Fragen, mit seiner Frage einen Vorschlag, der dann von Glaukon akzeptiert wird, er fragt hier vielmehr gewisserma en gegen den Strich der Argumentation, indem

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er eine M glichkeit zur Diskussion stellt, die nach dem bisher Zugegebenen von vornherein ausscheidet (und Glaukon kann diese M glichkeit dann auch leicht durch eine Aufz hlung der Pr missen der bisherigen Argumentation, der ώμολογημένα, zur ckweisen [vgl. 478 a 12 -b 2]). Sokrates fragt in einer Folge von drei Fragen, ob die Doxa das zum Gegenstandsbereich habe, was die Episteme kennt (γιγνώσκει), und ob Gegenstand der Episteme (γνωστόν) und Gegenstand des Meinens (δοξαστόν) identisch sind, oder ob das unm glich ist (4783 ιο-ιι). Man wird unterstellen k nnen, da Sokrates sich dar ber im klaren ist, da das nach den Pr missen der bisherigen Argumentation, wie sie dann von Glaukon hergez hlt werden, nicht m glich ist. Aber die Funktion dieser Frage scheint es gerade zu sein, die Richtigkeit dieser Pr missen noch einmal pr fen zu lassen. Glaukon begn gt sich mit der Aufz hlung der ώμολογημένα und lehnt die von Sokrates in Erw gung gezogene M glichkeit einer Identit t von δοξαστόν und γνωστόν ab (478312 — b 2). Glaukon beachtet also nicht, da bei der Unterscheidung von Wissen und Meinung, wie sie von Sokrates 476 b—d entwickelt und von Glaukon dort auch angenommen worden war, zumindest eine berschneidung der respektiven Gegenstandsbereiche impliziert ist (vgl. δυνάμενος καθοραν και αυτό και.τα εκείνου μετέχοντα d 1-2). Mit dieser Aussage ber das Verh ltnis von Meinung und Wissen bzw. das Verh ltnis ihrer respektiven Gegenstandsbereiche in 476 b—d ist die Zuweisung separater Gegenstandsbereiche an Doxa, Episteme und Agnoia, wie sie im folgenden durchgef hrt wird, jedenfalls nicht vereinbar. Sokrates' Frage in 478 a ιο-ιι soll offenbar vor der anschlie enden ontologisierenden Gegen berstellung von Doxa und Episteme ein letztes Mal an die Gegenm glichkeit erinnern, Doxa und Episteme nicht als verschiedene Verm gen, sondern als unterschiedliche Zust nde desselben Verm gens zu denken. Sie verhalten sich zueinander wie jenes K nnen und Nichtk nnen, das erst auf dem Boden eines Verm gens m glich ist und das wir als ,F higkeit' und ,Unf higkeit' unterscheiden. Wenn im folgenden die Zuordnung von Episteme, Agnoia und Doxa zu 8v, μη und πολλά vollzogen wird, so soll der Leser diese Darlegungen immer auf dem Hintergrund der von Glaukon abgelehnten M glichkeit einer Identit t ihrer Gegenstandsbereiche h ren. Die folgenden Ableitungen, die auf dem Boden der von Glaukon angenommenen und 478 a 12 — b i noch einmal aufgez hlten Pr missen erfolgen, sind von einer fast schulmeisterlichen Pedanterie. Zun chst wird festgestellt (was schon aus Glaukons Antwort 478 a 12 folgt), da der Gegenstand des Meinens (das δοξαστόν) nicht das Seiende (ov) sein kann (478

Die ontologischen Konsequenzen von Glaukons Fehler

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b3~4). Die entsprechende Feststellung f r das Verh ltnis von μη ον und δοξαστόν wird erst 478 c 6 nach mehreren Hilfs berlegungen erreicht; die beiden ausschlaggebenden sind dabei: i. Der Meinende meint immer ein εν τι (478 b ίο). 2. Das μη ον kann nicht als ein εν τι bezeichnet werden (478 b 12 - c i). Da das μη δν der Unkenntnis (αγνοία), das 8v der Kenntnis (γνώσις) zugeordnet ist (478 c 3-4) und der Meinende, wie aus 478 b 3-4 und 478 b ίο zusammen mit 478 b 12-c i folgt, weder ein δν noch ein μη δν meinen kann (vgl. 478 c 6), so folgt, da die Doxa weder Unkenntnis noch Kenntnis sein kann (478 b 8)31. Nachdem in diesem ersten Abschnitt (478 b 3 - c 8) das Verh ltnis der Meinung zu Unkenntnis und Kenntnis nur negativ bestimmt worden ist sie ist mit keinem dieser beiden identisch -, wird im n chsten Abschnitt (478 c 10 - d 4) eine positive Bestimmung dieses Verh ltnisses gegeben. Da die Doxa nicht jenseits von Kenntnis und Unkenntnis liegt, d. h. nicht die Kenntnis ber- noch die Unkenntnis unterschreitet (4780 10—n), sondern da sie „dunkler" als die Kenntnis und „heller" als die Unkenntnis scheint (478 c 13-14), liegt die Doxa innerhalb und d. h. zwischen Kenntnis und Unkenntnis. Bei der Formulierung dieser letzten Frage des Sokrates signalisiert uns das σοι φαίνεται (c 13), da hier Glaukons Meinung erfragt, nicht eine Lehre des Sokrates/Platon vorgetragen wird. Da vielmehr umgekehrt f r Sokrates die δόξα, wenn sie δόξα ψευδής ist, unter der blo en Unkenntnis steht, zeigt gerade die bekannte Stelle der ,Apologie' (21 d), an der er das eingebildete Wissen der Staatsm nner mit seinem eigenen bewu ten Nichtwissen vergleicht. Galten die bisherigen Argumentationsschritte der Bestimmung der Doxa, so haben die folgenden die Bestimmung ihres korrelativen Gegenstandsbereiches zum Inhalt (478 d 5 -479 d6). Sokrates bezieht sich dabei zur ck auf ein Argument im Vorhergehenden (vgl. εν τοις πρόσθεν 478 d^). Gemeint ist die Stelle 477 a p - b i. Dort war gesagt worden, da , wenn32 die Kenntnis dem Seienden, die Unkenntnis dem Nichtseienden zugeordnet sei, dann dem zwischen Seiendem und Nichtseiendem Liegenden auch etwas zwischen Agnoia und Episteme entsprechen mu , vorausgesetzt, es gibt etwas derartiges (ein Zwischending zwischen Kenntnis und Unkenntnis). Diese damals aufgestellte Bedingung scheint nun erf llt (vgl. 478 d i r) durch die Lokalisierung der Doxa zwischen Gnosis und Agnoia (478 d 3), 31 Die Frage, die hier doch naheliegt, ob n mlich die Agnoia ebenfalls den Status eines Verm gens hat, wird auffallenderweise nicht gestellt. 32 Ich lese mit Chambry, anders als Burnet, ε! επί in 477 a 9.

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und es bleibt, „wie es scheint" (ως εοικε 478 e i), nur noch die Natur dessen zu bestimmen, was zwischen ov und μη ον liegt (478 e 1-5). Die anschlie ende Frage des Sokrates (478 ej - 479 a 8) erinnert uns daran, da wir immer noch in einem Dialog mit dem φιλοθεάμον stehen; dieser wird noch einmal ausdr cklich als Gegner der Annahme von Ideen charakterisiert (47932-4). Dann richtet Sokrates an den so apostrophierten δοξάζων eine Frage, die epagogisch an mehreren Beispielen (καλόν, δίκαιον, οσιον) durchdekliniert und von Glaukon beantwortet wird: die Gegenst nde, denen die Bestimmung ,schb'n' oder ,gerecht' zugesprochen wird, stellen diese Begriffe nie rein dar, sondern sind in anderer Hinsicht oder unter anderen Umst nden auch mit dem gegenteiligen Begriff belegbar; sie „erscheinen", wie gesagt wird, auch in der jeweils gegenteiligen Bestimmung. Die n chste Frage (479 b 3-4) illustriert dieselbe Struktur an Begriffen von Gr enverh ltnissen; auch die „vielen Doppelten", auch das also, wovon alles der Ausdruck »doppelt* gebraucht wird, „erscheint" (b 4) als Halbes, als der (konverse) Gegensatz des Doppelten. Mit der dritten Frage schlie lich (479 b 6-7) l t Sokrates von Glaukon best tigen, da auch bei ,gro Y,klein' und ,leicht'/,schwer' der jeweilige Gegenbegriff auf das Anwendung finden kann, wovon diese Begriffe ausgesagt werden. An dieser letzten Frage f llt auf, da Sokrates hier nicht mehr von einem „Erscheinen" spricht, sondern die Verantwortung f r diese Redeweisen durch das „wir w rden sagen" (φήσωμεν) gewisserma en mit bernimmt. Dieser Unterschied in der dialogischen Akzentuierung der drei Fragen indiziert aber offenbar auch eine sachliche Differenz in den Begriffen, von denen in ihnen die Rede ist: die Begriffe der Moral (47935-8) und der Mathematik (479 b 3-4) werden hier von Begriffen abgesetzt, von denen es keinen Grenzbegriff gibt, als deren immer nur angen herte Realisierung man das verstehen kann, von dem man sagt, es sei ,gerecht' oder ,doppelt so gro wie ...'. Mit der Frage 479 b 9-10 zieht Sokrates das epagogische Res mee der drei letzten Frageschritte und verallgemeinert: das, von dem ein bestimmter Begriff (,gerecht', ,doppelt so gro wie ...', ,leicht') ausgesagt wird, kann ebenso auch durch den jeweiligen GegenbegrifE charakterisiert werden. Glaukon h lt eine ausdr ckliche Bejahung dieser Frage gar nicht f r n tig und will statt dessen den Sachverhalt, auf den sich die vorhergehenden Fragen bezogen, durch ein Beispiel erl utern: der Gebrauch der genannten Begriffe ist ebenso doppeldeutig wie bestimmte Wortspiele auf Gastm hlern oder in Kinderr tseln — auch dort kann man eine eindeutige

Die ontologischen Konsequenzen von Glaukons Fehler

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(bejahende oder verneinende) Antwort nicht geben (479 b 11-05). auf hin fragt Sokrates ihn nun abermals, und diesmal direkt in der zweiten Person Singular (έχεις, θήσεις c6), wohin er die πολλά besser zu stellen wisse als zwischen Sein (ουσία) und Nichtsein (μη είναι) (479c6-di). Und diesmal gibt Glaukon dann ausdr cklich eine zustimmende Antwort (vgl. 479 d 2). Der Umstand, da Sokrates auf die ausdr ckliche Bejahung von selten Glaukons so ausdr cklich - durch Wiederholung der Frage - insistiert, macht deutlich, wie sehr Sokrates daran gelegen ist, die Feststellungen dieses Argumentationsganges als von Glaukon vollzogen festzuhalten. Mit dem - wohl als Frage zu lesenden - Satz 479 d 3-5 und der Zustimmung Glaukons ist der Gedankengang, der 478 e i begonnen hatte, an sein Ende gekommen. Aber dieser Abschlu zeigt bei n herem Zusehen doch einige bemerkenswerte Auff lligkeiten. Zun chst f llt auf, da Sokrates nicht von den πολλά sagt, da sie zwischen „dem Nichtseienden und dem wahrhaft Seienden" liegen, wie man es doch nach den voraufgegangenen Argumenten erwartet, sondern dies nur von den πολλά νόμιμα der Menge (der πολλοί) ber „das Sch ne und die anderen Gegenst nde" sagt (vgl. 479 d 3-4) 33. Das ist eine Verschiebung weg vom Ontologismus der vorhergehenden Schritte und zur ck zu der ganz zu Anfang des Exkurses ber Doxa und Episteme getroffenen Bestimmung der Meinung (vgl. 476 c 2-8). Dort war, wie wir uns erinnern, die Doxa nicht durch einen Gegenstandsbereich, sondern durch ihr falsches Auffassen von Gegenst nden definiert worden: sie nimmt, wie mit dem Bild von Traum und Wachsein erl utert wurde, hnliches f r die Sache selbst. Auff llig ist weiterhin das zweimalige ως εοικε(ν) (47861, 479 d 3), das den vorgef hrten Argumentationsgang gewisserma en in eine skeptische Parenthese r ckt. Vor allem aber ist auff llig, da die Verallgemeinerung in 479 b 9-10 nicht jenen Grad von Allgemeinheit hat, den sie zu haben vorgibt: was hier demonstriert wird, gilt f r die sinnlich wahrnehmbaren Dinge nur insofern sie unter Titel gebracht sind, die einen Gegenbegriff kennen. Dagegen gilt dies Argument nicht f r Pr dikate wie ,Baum' oder ,Haus' oder ,Mensch', f r Pr dikate aus der Kategorie der Substanz, um einen aristotelischen Begriff zu gebrauchen. Nun gibt uns diese sachlich richtige Beobachtung aber noch keinen Hinweis darauf, ob der Autor Platon hier einen Fehler begeht oder nur inszeniert, d. h. von Glaukon begehen l t. Da Platon allerdings diese Diffe33

Νόμιμα bedeutet soviel wie die geltenden Meinungen und Wertungen. Vgl. Liddell/ Scott s. v. νόμιμος.

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renz von Begriffen, die einen Gegenbegriff haben, und solchen, die keinen haben, sehr wohl kennt, zeigt eine Stelle im siebten Buch der ,Politeia* (523310-61). Dort wird zwischen Wahrnehmungsph nomenen (τα . . . εν ταϊς αίσθήσεσΊ 5 2 3 a i o - b i ) unterschieden, die deshalb die Reflexion auf den Plan rufen, weil hier die Wahrnehmung nicht eindeutig ist: das Harte ist auch weich, das Lange auch kurz, und Wahrnehmungen, bei denen das nicht der Fall ist, wie etwa die Wahrnehmung eines Fingers (vgl. 523 c ii - d 6). Zwar ist an dieser Stelle nur von wahrnehmbaren Qualit ten die Rede, w hrend die Stelle im f nften Buch, die wir gerade untersuchen, Pr dikate wie ,gerecht' und ,sch n' diskutiert, aber die im siebten Buch gemachte Ausgrenzung der Substanzen aus der Gruppe von Gegenst nden, die einen Gegenbegriff haben, reicht hin, um die Induktion unserer Stelle als ungerechtfertigt zu charakterisieren, genauer: als von Platon als ungerechtfertigt durchschaut. Platon, so folgern wir also, ist sich der Falschheit der von Glaukon angenommenen Schlu folgerung bewu t. Er inszeniert hier also einen Fehler Glaukons. Glaukon bersieht diesen Fehler, weil sich f r ihn hier die M glichkeit auftut, einen eigenen Gegenstandsbereich f r die Doxa abzuteilen, was dann mit der Frage und Antwort 479 d 7-10 auch explizit vollzogen wird. Das letzte St ck des Buches (479 e - 480 a) stellt noch einmal die Philosophen den φιλόδοξοι gegen ber. Die Wendungen dieses St ckes weisen dabei ganz deutlich auf die von Sokrates 476 b—c vollzogene Scheidung von Philosophen und φιλοθεάμονες zur ck, die sich noch nicht auf die Unterscheidung von Doxa und Episteme als differenter Verm gen berief (vgl. 47961-3 mit 476 c 2-4; 48031-4 mit 476 b 4-8). Und wenn Sokrates von den φιλόδοξοι sagt, da sie δοξάζειν . .. απαντά, γιγνώσκειν δε ώ ν δ ο ξ ά ζ ο υ σ ι ν ουδέν (479 e4~5)> dann hat er mit dieser Charakterisierung abermals die Trennung separater Gegenstandsbereiche von Doxa und Episteme unterlaufen. Auch die res mierenden Bemerkungen zu Anfang des folgenden Buches vermeiden es, den Unterschied von Philosophen und Nicht-Philosophen durch eine Differenz verschiedener Gegenstandsbereiche zu definieren; sie interpretieren ihn ebenfalls durch das Modell von Besitz und Mangel eines K nnens, einer F higkeit (vgl. Pol. VI, 484 b 3-7; 484 c 6 - d 3; 485 a ίο - b 3). Die Auslegung des Unterschiedes von Meinung und Wissen als verschiedener Verm gen, denen disjunkte Gegenstandsbereiche entsprechen, ist, so hat unsere Interpretation gezeigt, selber eine Unterscheidung der Doxa auf dem Boden ihres Begriffes von Wissen.

Epigone oder Kritiker des Eleatismus?

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e) Epigone oder Kritiker des Eleatismus ? Wir haben schon bei der Besprechung der Sekundärliteratur zu unserer Stelle erwähnt, daß die Anklänge dieser Passagen am Ende des fünften Buches an eleatische Lehren nicht unbemerkt geblieben sind34. A. Szabo will hier sogar eine direkte Abhängigkeit Platons von Parmenides erkennen. Die, wie mir scheint, richtigen Beobachtungen Szabos am Text lassen sich aber auf dem Boden unserer Interpretation dieser Stelle in einer Weise verstehen, die Platon nicht zu einem Epigonen, sondern zu einem ersten Kritiker der eleadschen Position macht. Die Vermutung, daß in einer Untersuchung über das Verhältnis von Doxa und Episteme, wie sie das Ende des fünften Buches der ,Politeia* unternimmt, auf Parmenides implizit Bezug genommen wird, hat auch ohne die philologischen Nachweise, wie Szabo sie geführt hat, eine gewisse Plausibilität. Parmenides hatte als erster der griechischen Philosophen eine Theorie der Doxa versucht: der zweite Teil seines Lehrgedichtes war, wie die Untersuchungen von Reinhardt gezeigt haben, eine Darstellung der Doxa35. Diese Darstellung der Doxa bei Parmenides will aber nicht lediglich eine Beschreibung der Meinung(en) oder eine Kritik daran liefern, sondern aufzeigen, wie es zur allesdurchherrschenden Macht der Doxa kommt: Parmenides hat als erster eine Theorie der „Meinungen der Sterblichen" zu geben versucht36. Dabei erscheint ihm als das Charakteristikum der die Setzung unvermittelter Gegensätze und das Vergessen der Einheit, die diese Gegensätze dadurch bilden, daß ein Glied des Gegensatzes für sich gar nicht denkbar ist. So setzen die Menschen in ihrer Meinung über die sinnliche Welt Licht und Dunkel als solche unvermittelten Gegensätze (vgl. Parm. frg. 9 Diels/Kranz) und übersehen, daß, wer von Helligkeit redet, dabei immer schon einen Bezug auf Dunkelheit mitgesetzt hat und umgekehrt. In der Vorstellung der Dunkelheit ist gerade die Abwesenheit, die Privation der Helligkeit gedacht. Worin liegt dann aber die Kritik Platons an dieser parmenideischen Theorie der Doxa? Wenn unsere vorstehende Interpretation des platonischen Textes richtig ist, dann doch offenbar darin, daß Platon jenen Gegensatz von Doxa und Aletheia des Parmenides selber noch als einen Gegensatz aufdeckt, der von eben der Unvermitteltheit ist, welche die von Parmenides kritisierte Doxa in die Deutung der Welt hineinträgt. Ebensowenig wie 34

S. oben 115 f. K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie. Bonn 1916, zprankfurt 1959. 3 6 Vgl. Reinhardt a. a. O. 9, 25 f.

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jene f r sich gesetzten polaren Gegens tze, mit denen sich die βροτοί des Parmenides die erscheinende Welt verst ndlich machen, sind auch die πίστις αληθής und die δόξα βροτών des Parmenides selbst f r sich denkbar: auch ihr Sinn ist durch den Bezug auf ihr jeweiliges Gegenteil bestimmt. Was aber soll der Grund dieser Mi deutung des Verh ltnisses von Doxa und Episteme durch Parmenides sein? Wodurch ist die Starrheit der Entgegensetzung von Wissen und Meinung bei Parmenides bedingt? Der Grund f r die unzul ngliche Bestimmung dieses Gegensatzes, so scheint Platon sagen zu wollen, ist darin zu suchen, da die Ablehnung der Wahrnehmung als Vehikel der Erkenntnis nicht ausreicht, wenn nicht zugleich der Begrifi von Wissen, wie er immer schon durch die wahrnehmende Welterfahrung induziert ist, mitaufgehoben wird.

B. Die Idee des Guten und die Mathematik a) Erziehung der Herrscher und Erkenntnis des Guten (502 c — 506 b) Nachdem die langwierige Diskussion der M glichkeit des vollkommenen Staates, die noch zwei Drittel des sechsten Buches in Anspruch genommen hat, mit den Feststellungen 502 a-b schlie lich zu Ende gekommen ist, formuliert Sokrates ^ o z c p - d i die Aufgabe, deren Untersuchung das Ende des sechsten und das gesamte siebente Buch in Anspruch nehmen wird: das Programm einer philosophischen Erziehung zu entwerfen. Dieser Untersuchung gibt Sokrates durch zwei Bemerkungen den Charakter einer Korrektur von vorher Ausgef hrtem oder doch einer Korrektur von dessen Begr ndung. ^02 e 1-2 hei t es, da man das ber die Herrscher (άρχοντες) Gesagte noch einmal wie von vorne durchgehen m sse; und die Stelle 504 a-b konkretisiert das, indem sie auf eine im vierten Buch von Sokrates gemachte Kritik Bezug nimmt. Dort (Pol. IV, 435 c-d) hatte Sokrates bei der Diskussion der drei Seelenteile als Grundlage einer Bestimmung der Tugenden des Einzelnen in Analogie zu den drei Arten von Naturen (τριττά γένη φύσεων 435 b 5) in der Polis gesagt, da das in der Argumentation ge bte Verfahren alles andere als streng beweisend (ακριβώς 435 d i) sei. Diese Kritik ist an der Stelle des vierten Buches offenbar durch die Leichtfertigkeit provoziert, mit der Glaukon Analogieschl ssen von der Polis auf die Psyche den Charakter strenger Notwendigkeit zubilligt (vgl. 435 b 9 - c 3). Unsere Stelle im sechsten Buch macht nun klar, was Sokrates damals positiv meinte, als er sagte, es bed rfe eines „l ngeren Weges" (μακροτέρα

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οδός vgl. 435 d 3 mit 504 b 2), um die aufgestellten Thesen zu begr nden. Offenbar ist n mlich die Gerechtigkeit keineswegs hinreichend erkl rt, wenn man sie als Idiopragie ausgibt, denn da jeder Teil der Polis und jeder Teil der Seele nur „das Seinige tut", scheint eher eine Folge der Gerechtigkeit als ihr Grund. Diese Erkl rung kann gerade nicht erkl ren, warum die gerecht Handelnden so handeln sollen. Diese Ankn pfung und umst ndliche Erinnerung an einen weit zur ckliegenden Punkt des Gespr chs macht gerade durch den Gegensatz zu den ungeduldigen Erkundigungen des Adeimantos, der immer wieder wissen will, was denn das μέγιστον μάθημα und was denn das Agathon sei (vgl. 504 a 2-3, 64-6, 506 b 2-4), den Punkt deutlich, auf den es Sokrates hier ankommt: Ihm geht es n mlich darum, die Funktion der Erkenntnis des Guten innerhalb der Erziehung der άρχοντες zu betonen und damit gleichzeitig die korrigierende Leistung der Erkenntnis ihrer Funktion innerhalb seines Gespr ches mit Adeimantos und Glaukon selber. Da gerade auch das letztere notwendig ist, zeigt die ungl ubige R ckfrage des Adeimantos, ob es denn wirklich noch Gr eres als die Gerechtigkeit und die anderen im vierten Buch diskutierten Tugenden gebe (504 d 4-5). Sokrates wird von dieser Strategie auch im folgenden nicht abgehen: er wird Funktionen des Guten und der Idee des Guten und Funktionen von deren Erkenntnis beschreiben; auf die Frage, was das Gute, was die Idee des Guten ist, wird er nirgends eine direkte Antwort geben (vgl. 506 d 8 - e i). Und auch die indirekte, analogische Antwort, die das Sonnengleichnis auf die Definitionsfrage geben wird, beschreibt eine Analogie von Funktionen.

b) Das Gute und die Idee des Guten (505 a-506 b) Warum dies Ausweichen in eine Beschreibung von Funktionen an Stelle einer Antwort auf die Frage, was denn das Gute sei, das Vergn gen oder das Wissen (506 b), einer Frage, an deren Beantwortung die menschliche Vernunft doch ein mehr als nur spekulatives Interesse nimmt? Sicherlich ist ein Grund f r dies Verhalten des Sokrates der, da er ber diese Frage nicht auf dem Boden eines Wissens reden zu k nnen glaubt (vgl. 506 c). Aber da dies nicht der einzige Grund ist, wird ebenso ausdr cklich gesagt: der gegenw rtig unternommene Anlauf (ή παρούσα ορμή vgl. 506 e 2) scheint ihm zu kurz, um auch nur bis zur Darstellung seiner Meinung ber das Gute (το δοκούν έμοί vgl. 506 e 2) zu kommen. Was ist diese παρούσα ορμή? Worin besteht ihr von Sokrates implizit kritisierter Mangel? Auf

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beide Fragen werden wir eine Antwort in einer Interpretation der Stelle 5O5a~507b suchen; mit diesem Passus beginnt die Diskussion des αγαθόν innerhalb der ,Politeia'. Sokrates antwortet 505 a 2-4 endlich auf Adeimantos wiederholte Frage (vgl. 50464-6, a 2-3), was denn das μέγιστον μάθημα sei: aber er f hrt es nicht als etwas Neues ein, sondern als etwas, das Adeimantos l ngst bekannt ist, an das dieser sich jetzt nur nicht erinnert oder nicht erinnern will (vgl. 504 67-505 a i). Da die Idee des Guten das μέγιστον μάθημα sei, hat er schon oft geh rt (505 a 2-3) - aus dem n chsten Satz kann man schlie en, da er es von Sokrates selber geh rt hat (vgl. 505 34-5). Und auch die folgenden Schritte des Argumentationsganges machen immer wieder deutlich, da das, wovon hier zun chst die Rede ist, nichts dem Adeimantos Unbekanntes ist (vgl. οϊσθα 505 a 7, b 5 φανερόν d 3,5). Gerade weil Sokrates an dieser Stelle mehrmals an ein Wissen des Adeimantos appelliert - dreimal hintereinander gebraucht er οισθα (505 a 4, a 7, b 5) -, f llt auf, da er bei der Einf hrung seiner These ber die Idee des Guten selber nur von einem Geh rthaben, nicht von einem Wissen spricht (άκήκοας 505 33). Was hat nun Adeimantos, Sokrates zufolge, schon h ufig geh rt? Zweierlei: Erstens, da die Idee des Guten das μέγιστον μάθημα ist, und zweitens, da die Idee des Guten das ist, wodurch alles Gerechte (δίκαια Plural!) und auch sonst alles, indem es die Idee des Guten „zu Hilfe nimmt" (προσχρησάμενα 505 a 3), brauchbar und n tzlich wird. Die erste inhaltliche Angabe, die wir hier ber die Idee des Guten erhalten, ist also wiederum die Beschreibung einer Funktion: sie bewirkt Brauchbarkeit und N tzlichkeit. Was meint Sokrates, wenn er vom προσχρασθαι der Idee des Guten redet? Wir sto en auf den Ausdruck προσχρασθαι noch einmal im siebten Buch, in einem Zusammenhang, der zur Verdeutlichung des Sinnes dieses Ausdrucks beitragen kann. Dort wird n mlich bei der Suche nach einem μάθημα, das geeignet ist, die Seele vom Werdenden zum Sein zu ziehen (vgl. 521 d), von Glaukon die Frage gestellt, ob denn, nachdem die Musik und die Gymnastik und die handwerklichen Technai von Sokrates als Kandidaten f r solch ein μάθημα abgelehnt worden sind (vgl. 521 d~522b), berhaupt noch ein μάθημα au erhalb der abgelehnten brig sei (522 b 6-7). „Wenn uns au erhalb dieser nichts brig geblieben ist, nehmen wir doch etwas von dem, was sich ber sie alle erstreckt" schl gt Sokrates vor (522 b 8-9) und f hrt auf Glaukons Frage hin fort: „Zum Beispiel jenes Gemeinsame, was die Technai und Dianoiai und Epistemai zu Hilfe nehmen (προσχρώνται), was auch jeder als erstes zu lernen gezwungen ist" (522 c

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1-3). Glaukon versteht immer noch nicht, was hier gemeint sein soll, und Sokrates belehrt ihn schlie lich ironisch, da er die Trivialit t (το φαΰλον) der Unterscheidung von eins, zwei und drei, die Mathematik also, meint; an ihr ist, wie Glaukon dann sofort einsieht, „jede Techne und Episteme gezwungen teilzuhaben" (vgl. 522 c_j-9). Mit dieser letzten Bemerkung wird nun deutlich, da der Ausdruck προσχρασθαι eine ironische Untertreibung f r das Verh ltnis einer notwendigen Bedingung ist. Ohne die Mathematik, ohne Kenntnis der Zahlen k nnte es so etwas wie Wissenschaften und Technai gar nicht geben. Dieser Gebrauch im siebten Buch macht es nun wahrscheinlich, da προσχρδσθαι auch an der Stelle 505 a 3 das Verh ltnis einer notwendigen Bedingung meint. Die Idee des Guten ist, so w re also zu verstehen, eine notwendige Bedingung daf r, da etwas n tzlich und brauchbar sein kann. Das wird nun durch 505 a 6 - b i best tigt, wo es hei t, da ohne die Idee des Guten nichts f r uns von Nutzen sei (ουδέν ήμΐν όφελος a/). Da die Idee des Guten eine notwendige Bedingung f r Brauchbarkeit und N tzlichkeit ist, erlaubt aber nicht die Folgerung, da ,gut' soviel wie Brauchbar' oder ,n tzlich* hei t. Sokrates spricht hier wie auch an den anderen Stellen des sechsten und siebten Buches immer nur von einer Idee des Guten oder vom Guten selbst, niemals von einer Idee des N tzlichen oder vom N tzlichen selbst. Es ist in der Tat einleuchtend, das N tzliche und das Brauchbare dadurch zu charakterisieren, da sie zu etwas gut sind. Der Begriff des Guten ist im Begriff des N tzlichen und Brauchbaren vorausgesetzt. Wir k nnen uns an das Argument des Sokrates im ,Charmides' erinnern, da es ohne ein Wissen von gut und schlecht nichts mehr geben w rde, da f r uns von Nutzen sein k nnte (vgl. Charm. i74b-d). Wir k nnen jetzt aber schon ein historisch bedingtes Vorurteil ber den Sinn der Idee des Guten ausr umen: mit dem Begriff des Guten ist offenbar nicht die Konnotation des moralisch Gebotenen verkn pft*7. Dieses Verst ndnis von αγαθόν ist der ganzen klassischen Philosophie der Griechen fremd, und erst die Macht der hebr ischen und christlichen Tradition hat in unserem philosophischen Sprachgebrauch dem Begriff des Guten diese moralische Bedeutung gegeben, in der das „Gute" das Gegenteil des „B sen", n mlich der Widersetzlichkeit gegen ein g ttlich sanktioniertes Sittengesetz, ist. H tte der Begriff des Guten die Konnotation des moralisch Gebotenen, 37 So etwa P. Shorey, Plato's Republic II, S. XXVII: „The chief and essential meaning of the idea of good in the Republic is „precisely" that conception of an ultimate sanction for ethics and politics which the minor dialogues sought in vain."

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dann w re Sokrates' Argument 505 d 5-9 unverst ndlich: denn dort wird gerade gesagt, da beim Gerechten und Sch nen - und das sind die griechischen Begriffe, die, wie unser Begriff des Guten, das moralisch Gebotene meinen - die meisten Menschen mit dem Schein zufrieden sind, nicht dagegen beim Guten. Die Aufgabe, die Sokrates 506 a f r die Erziehung der Herrscher formuliert, ist es ja gerade, allererst ein Wissen zu bewirken, da das moralisch Gebotene (δίκαια τε και καλά 506 a 4) auch gut ist und das w re trivial, wenn im Begriff des Guten der Begriff des moralisch Gebotenen vorausgesetzt w re. — Nachdem Sokrates also zun chst nur dem Adeimantos in Erinnerung gerufen hat, er, Sokrates, behaupte, da die Idee des Guten das μέγιστον μάθημα ist, da diese Idee erst Brauchbarkeit und Nutzen erm glicht, und da wir von ihr kein hinreichendes Wissen haben (505 a 2 - b 3), exponiert er im folgenden zwei Meinungen ber das Gute (το αγαθόν 505 b 6), wobei er auch hier wieder an eine Bekanntheit seines Gespr chspartners mit diesen Meinungen ankn pfen kann (vgl. 505 b 5). Die Meinung (vgl. δοκεΐ είναι b 6) der Menge ist, da das Vergn gen (ηδονή) das Gute, die der „Gewitzteren" (κομψότεροι) ί8 , da es die Einsicht (φρόνησις) sei. Beide Meinungen lassen sich aber schnell widerlegen - auch hier erinnert Sokrates den Adeimantos nur an gewisserma en standardisierte elenktische Stratageme (vgl. και [sc. οίσθα] ότι γε 505 b 8): die These, das Gute sei die Einsicht, l t sich als zirkelhaft erweisen - sie hat offenbar den relationalen Charakter von Einsicht nicht ber cksichtigt (505 b 8 - c 5 vgl. Euth. 281 d 2826, 288 d-289 d); die Erkl rung, das Gute sei das Vergn gen, ist gezwungen zuzugeben, da es auch schlechte Vergn gungen gibt — sie l t sich also eines Widerspruchs berf hren (^o^c - d i vgl. dazu etwa Gorg. 494 c-505 a). Und um die Paradoxie der Aporien ber das Gute vollzumachen, verweist Sokrates darauf, da sich gerade ber den Gegenstand die gr ten Zwistigkeiten einstellen, bei dem sich niemand mit bloem Meinen begn gen will; hier sucht vielmehr jedermann die Sache selber, nicht den Schein (505 d 2 - 10). Alle diese Bemerkungen sind aber nur Prolegomena zu der Forderung, da die philosophischen Herrscher des Staates ein Wissen ber das Gute besitzen m ssen, wenn anders sie Garanten der Gerechtigkeit sein sollen (505 d u — 506 b i). Die Ausf hrlichkeit, mit der Sokrates diesen Gedanken darlegt, indiziert, da hier ein Fundament f r die weitere Untersuchung gelegt werden soll; und es ist nicht schwer zu erraten, wohin Sokrates die 38 F r den griechischen Ausdruck gibt es im Deutschen kein wirkliches quivalent. Shorey weist auf den hnlichen Gebrauch von sophisticated' im Englischen hin.

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Unterredung lenken will - logischerweise würde sich hier eine Untersuchung über die Frage anschließen, wie eine Erziehung der Herrscher beschaffen sein soll, durch die ein Wissen über das Wesen des Guten zustande kommt - eine Untersuchung, die dann ja im siebten Buch (521 c ff.) in Angriff genommen wird. Daß die Unterredung an dieser Stelle einen anderen Verlauf nimmt, liegt an einem Verhalten des Adeimantos. Die Eilfertigkeit, mit der er 506 b 2 durch ein „ " die voraufgehende Frage bejaht, dient nur dazu, von einer weiteren Untersuchung eben dieser Frage und ihrer Implikationen wegzukommen. Ihn interessiert etwas anderes; er will nämlich, nachdem Sokrates gerade an die Aporien der beiden angeführten Thesen über das Gute erinnert hat, wissen, was Sokrates denn nun selber zu der Frage nach dem Guten sagt, ob er das Gute für das Wissen oder das Vergnügen oder für ein Drittes hält (506 b 2-4). Sokrates pariert diese direkte Frage zunächst mit einem höchst ironischen Lob: schon längst sei ja deutlich, daß Adeimantos sich nicht mit anderer Leute Meinung über diese Frage begnügen wolle (506 b 5—7) — sagt Sokrates zu jemandem, der gerade nach der Meinung des Sokrates gefragt hatte. Adeimantos hört diese Ironie nicht oder will sie nicht hören: er beteuert, daß es ihm auch nicht recht scheine, wenn jemand, der (wie Sokrates) sich soviel mit der Frage des Guten beschäftigt hat, nur anderer Leute Thesen ( ), nicht aber eine eigene dazu anzuführen habe (506 b 8 — c i). Das allerdings provoziert eine scharfe Gegenreaktion des Sokrates - das zweimal wiederholte ; (506 c 2, 6) am Anfang seiner Gegenfragen spiegelt in der sprachlichen Gestik des Dialoges die Schärfe seiner Erwiderung: „Was? Scheint es dir etwa recht zu sein, daß jemand über Dinge, von denen er kein Wissen hat, redet, als ob er davon ein Wissen hätte?" (506 c 2-3) fragt Sokrates, indem er Adeimantos' Worte benützt. Dieser gibt sich verbindlich: nicht als ob er ein Wissen hätte, solle Sokrates sich äußern, sondern nur seine Meinung darüber vortragen (506 c 4-5). Aber Sokrates ist unerbittlich: „Was? Hast du nicht bemerkt, wie widerwärtig Meinungen ohne Wissen sind? Die besten von ihnen sind blind — oder scheinen dir jene Menschen, die ohne Einsicht etwas Wahres meinen, von Blinden unterschieden zu sein, die ihren Weg richtig gehen?" (50606—9). Adeimantos verneint diese letzte, an ihn gerichtete Frage (c 10), und Sokrates fragt weiter, ob er Widerwärtiges betrachten wolle, Blindes und Krummes, wo er doch bei anderen Helles und Herrliches hören könne (5060 n -b i). Die Antwort auf diese .Frage bleibt dem Adeimantos erspart, weil sich nun sein Bruder vermittelnd in das Gespräch einschaltet. Glaukon löst die Schärfe

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des vorangegangenen Wortwechsels dadurch auf, da er den Sokrates auffordert, jetzt nicht innezuhalten als ob er schon am Ziel sei (d 2-3) - ein Vergleich aus dem Sport, auf den dann Sokrates 506 e 2 mit einer analogen Anspielung antworten wird. „Uns gen gt es", f hrt Glaukon fort, „wenn du, so wie du die Gerechtigkeit und die Besonnenheit und die anderen Tugenden erkl rt hast, so auch das Gute erkl rst" (506 d 3-5). Mit diesem Vorschlag zur G te, durch den Glaukon den Sokrates doch noch zu einer Antwort auf die Frage seines Bruders bringen will, bekundet er jedoch zugleich, da auch ihm die methodische Funktion der Untersuchung des Agathon gleichg ltig oder doch nicht klar geworden ist. Denn durch diese Untersuchung sollte ja gerade die Mangelhaftigkeit der Untersuchung ber die Tugenden im vierten Buche korrigiert werden. Sokrates erkl rt, da es auch ihm gen gt, so zu verfahren, wie Glaukon vorschl gt (506 d 6). Die Frage, was das Gute selbst ist, will er f r diesmal beiseitelassen, denn um auch nur seine Meinung dar ber darzulegen, w rde es, wie er mit Anspielung auf Glaukons Vergleich von 506 d 2-3 sagt, eines anderen Starts bed rfen, aber an einem Vergleich will er das Agathon erl utern (506 d 7 - e 5) - so wie ja auch die Tugenden aus der Analogie von Polis und Psyche erkl rt worden waren. Dabei redet Sokrates von dem Vergleichsgegenstand, mit dem er das Gute selbst erl utern will, zun chst wiederum in einem Vergleich: er charakterisiert ihn als „Spr ling" (εκγονος 506 e 3, 507 a 3) und „Zins" (τόκος 507 a 2, a 3, a 5) des Guten. Damit ist offenbar gemeint, da der Gegenstand des Vergleiches nicht in einer blo en Relation der Analogie zum Guten steht, sondern da er auch selber gut ist - so wie das Kind zur selben Familie geh rt wie der Vater und die Zinsen ebenso Geld sind wie das Kapital39. Mit der bed chtigen Vorsicht, mit der Sokrates dann an die Darstellung eines Sinnbildes der Idee des Guten geht, kontrastiert die interessierte Ungeduld Glaukons: Αλλ', εφη, λέγε 506 e 6, άλλα μόνον λέγε 507 a 6. Die Warnung, nicht einer von Sokrates nicht beabsichtigten T uschung ber den λόγος του τόκου aufzusitzen (507 a 4-5), nimmt er offenbar auf die leichte Schulter (vgl. 50736). Bevor dann Sokrates an die sinnbildliche Darstellung der Idee des Guten geht, erinnert er seinen Gespr chspartner noch einmal an „das im vorhergehenden (vgl. etwa 476 a, 494 a) und ander39 Der Streit ber den Sinn dieser Metaphern (vgl. etwa A. S. Ferguson, Plato's Simile of Light 133) scheint mir also auf einer falschen Alternative zu beruhen; zwar steht die Sonne als Sinnbild der Idee des Guten nicht nur in einer analogischen Beziehung zu dieser Idee, aber daraus m te noch nicht folgen, „that the Form of the Good is somehow a material cause with the sun as its product" (Ferguson I.e.).

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weitig schon oft Gesagte" (507 a 8-9), n mlich die Unterscheidung des vielen Sch nen und des vielen Guten einerseits (πολλά καλά και πολλά αγαθά 507 b 2) un& des Sch nen selbst und des Guten selbst andererseits (αυτό δη καλόν και αυτό αγαθόν 5°7 b 5)> den „Einzeldingen" und den Ideen (ιδέαι 507 b ίο), dem, wovon wir einen Ausdruck gebrauchen, und dem, was dieser Ausdruck bedeutet. Gerade bei der Auszeichnung, die im folgenden der Idee des Guten zugesprochen werden wird, ist an dieser einleitenden Erinnerung der Ideenlehre die Parallelit t auff llig, in der die Idee des Guten zur Idee des Sch nen und zu anderen Ideen steht: das Gute selbst oder die Idee des Guten — die Synonymit t beider Ausdr cke wird durch diese Stelle noch einmal illustriert - stehen zu den πολλά αγαθά in demselben Verh ltnis wie die Idee des Sch nen oder das Sch ne selbst zu dem, was alles ,sch n' hei t. Welche Antwort gibt uns nun aber die vorstehende Analyse des Abschnittes 505 a - 507 b auf die Fragen, zu deren Beantwortung wir sie unternommen haben? Was also ist mit der παρούσα ορμή (506 e 2) gemeint und was kritisiert Sokrates an ihr? Versuchen wir zun chst auf die zweite Frage eine Antwort zu finden, um von da aus die erste zu beantworten, Fragen wir also nach dem, wogegen sich in diesem Abschnitt die Kritik des Sokrates richtet und untersuchen dann, ob darin etwas getroffen sein k nnte, was die Charakterisierung einer παρούσα ορμή verdient. Wogegen sich die Kritik des Sokrates in diesem Textpassus richtet, haben wir durch die genaue Herausarbeitung der gewisserma en dialogischen Gestik im Wortwechsel mit Adeimantos zeigen k nnen: sie richtet sich gegen das Festhalten des Adeimantos an der Frage nach dem Guten, auf die jene beiden von Sokrates referierten und kritisierten Thesen eine Antwort sein wollten. Nun kann man die sokratische Kritik an dieser Forderung des Adeimantos sicher zun chst damit erkl ren, da Adeimantos hier den Sokrates so ungeniert um seine Meinung zu diesem Problem fragt; aber das sollte uns nicht von der Frage abhalten, ob hier nicht die Kritik m glicherweise auch dieser Frage nach dem Guten als solcher gilt - so paradox sich eine solche Vermutung auf den ersten Anblick auch ausnimmt. Aber es m chte immerhin sein, da den beiden „Meinungen" ber das Gute, von denen die eine das Wissen, die andere das Vergn gen f r das Gute h lt, ein gemeinsamer Irrtum zugrunde liegt, der sie gemeinsam f r das Gute „blind" macht, und da eben dagegen die Kritik des Sokrates gerichtet ist. Und in der Tat scheint mir eben das der Fall zu sein. Wer n mlich fragt: „Was ist das Gute?" und dabei nach Antworten des Typs Ausschau h lt: „Das Gute ist das Vergn gen" oder „Das Gute ist das

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Wissen", fragt jedenfalls nicht nach einer Idee des Guten. Er will wissen, was das eigentlich Gute, nicht, was das Gute selbst ist. Er fragt nach einem, n mlich dem h chsten Gut, nicht aber nach der Einheit dessen, was wir mit ,gut' meinen40. Wer also die Frage „Was ist das Gute?", wie die Menge und wie die κομψότεροι, wie Adeimantos und wie Glaukon als Frage nach einem h chsten Gut versteht, der hat in der Tat einen falschen Anlauf oder Start (ορμή) genommen, wenn mit dieser Frage nach dem Guten selbst gefragt werden soll. Weil Sokrates wei , mit welchem Verst ndnis der Frage nach dem Guten Glaukon und Adeimantos in die analogische Beschreibung der Idee des Guten eintreten, hat seine Warnung vor einem Mi verst ndnis der Analogie (507 a 4—5) einen berechtigten und ganz pr zisen Sinn. Und eben deshalb erinnert Sokrates vor Beginn der eigentlichen Analogie noch einmal an die Funktion und den Sinn von Idee und damit von Idee des Guten (vgl. 507 a 7 - b 7).

c) Das Gute und die G ter Nun ist es aber keineswegs ein Zufall, da sich bei der Frage „Was ist das Gute?" das beschriebene Verst ndnis oder Mi verst ndnis einstellt, da also als Antwort die Angabe eines h chsten Gutes erwartet wird. Dieser Umstand ist n mlich in einem spezifischen Vorverst ndnis des Ausdrucks αγαθόν oder ,gut' (in dem oben charakterisierten, nicht-moralischen Sinn) begr ndet, das wiederum mit der Funktion dieses Ausdrucks selber zusammenh ngt. Anders als etwa bei der Frage „Was ist das Sch ne?", die sofort als Frage nach einer formalen Beschaffenheit alles Sch nen, als Fr age nach der Sch nheit oder dem Sch nen selbst verstanden wird, ist im Fall des Guten die entsprechende Frage deshalb mit einem anderen Verst ndnis besetzt, weil das, was wir alles ,gut' nennen, nicht dank einer formalen Beschaffenheit so zu hei en scheint, sondern dank einer inhaltlichen Bezogenheit auf Zwecke und schlie lich auf einen letzten Zweck. Es ist der Verweisungszusammenhang von Mitteln, in dem der Ausdruck ,gut' gebraucht wird und zwar prim r gebraucht wird zur Charakterisierung der Eignung von Mitteln und der Qualit t ihrer Funktionen. Wir nennen eine Medizin ,gut', wenn 4

° Proklos hat immerhin gesehen, da an unserer Stelle zwei Begriffe des Guten vorliegen, wenn er Sokrates erst ber das εν ήμϊν αγαθόν, darauf ber το είδος των •αγαθών πάντων handeln sieht (vgl. In Rempubl. ed. Kroll 269, 16 und 22 f.). Die weitere Ansetzung eines dritten Begriffes des Guten (vgl. 270, 6 ff.) hat dagegen keine St tze im Text, sondern beruht auf der neuplatonischen Ausdeutung des έπέκεινα.

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sie wirksam, ein Werkzeug, wenn es leicht und sicher zu handhaben ist, eine wissenschaftliche Abhandlung, wenn sie die Forschung einen Schritt weiter bringt. Immer scheint hier der Zweck das eigentlich Gute und das, dank dessen auch das Mittel ,gut' heißt. Und da die Zwecke selber wieder auf andere Zwecke verweisen können, scheint es also schließlich vom letzten Zweck abzuhängen, was als ,gut' zu gelten hat und was nicht. Es ist dieser Verweisungszusammenhang, in dem das, was wir ,gut' nennen, immer schon steht, der die Frage nach dem Guten als Frage nach dem höchsten Gut erscheinen läßt. Wenn wir es in platonischen Begriffen sagen wollen: die Struktur der Methexis, der Teilhabe an einer Idee, ist hier verdeckt und okkupiert durch die Struktur der Verweisung von Mitteln auf einen Zweck. Ein sprachliches Faktum kann das noch erhärten: eigentümlicherweise gibt es weder im Griechischen noch im Deutschen ein paronymisch gebildetes Abstraktum von ,gut', mit dem wir die formale Beschaffenheit von Gutem allgemein bezeichnen können - so wie ,Schönheit' dies für Schönes, ,Gerechtigkeit' für Gerechtes erlaubt41. Dagegen gibt es in beiden Sprachen den substantivischen Gebrauch des Wortes zur Bezeichnung von .Gütern'42. Ist das Verständnis des Guten als eines Gutes schon durch die Funktion des Ausdrucks ,gut' präformiert, so hat innerhalb der philosophischen Tradition selber die aristotelische Ethik dies Verständnis befestigt und kanonisch gemacht. Für Aristoteles ist die Frage nach dem Guten wie selbstverständlich die Frage nach einem höchsten Gut (vgl. etwa Eth. Nie. A i, 1 0 9 4 3 1 8 — b / und das Buch A insgesamt). Seine Definition des Guten als dessen, wonach alles strebt ( ' 1094 a 3), orientiert die Untersuchung des Agathon von vornherein am Begriff des Zweckes ( vgl. a 4). Ganz folgerichtig ergibt sich daraus die Frage nach einem höchsten Gut (a 18—22). Das Unverständnis des Aristoteles für die platonische Frage nach dem Guten selbst wird in der Bemerkung Eth. Nie. A 2,1095 a 26 - 28 und in der feindseligen Arroganz des folgenden Satzes deutlich, mit dem er es ablehnt, den Sinn der Frage nach dem Guten selbst auch nur zu erörtern (1095 a 28-30 vgl. A 4, 1096 b 20-26). Indem Aristoteles an das 41

Güte ist eine Eigenschaft von Personen, und zwar eine, die dem moralischen Sinn von ,gut' korrespondiert. Am ehesten erfüllt noch der Ausdruck ,Qualität', in einem absoluten Sinn (die Qualität) gebraucht, diese Funktion. ,Gutheit' ist ein philosophischer Kunstausdruck. 42 Im Griechischen gibt es den Unterschied des Deutschen zwischen ,das Gute' und ,das Gut' nicht: beides ist . Hier ist besonders deutlich, daß die Sprache der abstrahierenden Funktion der Substantivierung schon durch die vergegenständlichende zuvorgekommen ist.

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vergegenst ndlichte Verst ndnis des Guten als eines Gutes ankn pft, hat er nicht nur den Sinn eines zentralen Theorems der platonischen Philosophie f r lange Zeit verdunkelt, er hat dar berhinaus eine folgenreiche systematische Entscheidung getroffen: aus der platonischen Theorie des Guten, deren eine Funktion auch die Begr ndung theoretischer Wissenschaft war, \vird bei Aristoteles eine Theorie der G ter, die sich in der Folgezeit als praktische Philosophie im Unterschied zur theoretischen etablieren wird. Mit dieser Orientierung der Frage nach dem Guten an einer Theorie der G ter geht aber eine eigent mliche Bedeutungsverengung im Begriff des Guten einher: er wird n mlich durch den Begriff des Zwecks oder Zieles (τέλος) bestimmt. In der Tat ist zun chst ganz richtig beobachtet, da ein ,Gut* und da ,G ter' etwas sind, was erstrebt wird und somit Ziel von Handlungen ist. Aber diese Orientierung an den G tern verdr ngt den schlichten Tatbestand, da der prim re, adjektivische Gebrauch von ,gut* keineswegs Ziele charakterisiert, sondern solches, was bei der Verfolgung von Zielen von Vorteil ist und solches, was in besonderer Weise f r bestimmte Gebr uche geeignet ist. Die aristotelische Umwandlung der Theorie des Guten in eine Theorie der G ter scheint mit einer Verk rzung der Ph nomenbasis erkauft, die aufzukl ren die platonische Theorie des Guten bestimmt war. Zwar ignoriert auch Aristoteles nicht, da zwischen αγαθόν und ώφέλιμον ein Zusammenhang besteht, aber er will auch hier auf der Basis einer Theorie der G ter durchkommen: die ωφέλιμα - der substantivierende Plural ist aufschlu reich - sind jene G ter (αγαθά), die um anderer G ter, n mlich der αγαθά καθ5 αυτά willen erstrebt werden (vgl. Eth. Nie. A 4, 1096 b 13-14). Sie bewirken oder bewahren die αγαθά καθ' αυτά oder verhindern deren Gegenteil (io9 b II-I3) 43 . Das Verh ltnis von ,gut' und ,n tzlich' wird also bei Aristoteles als das Verh ltnis von G terklassen diskutiert. Wenn wir daran festhalten wollen, da die Ιδέα του αγαθού die Idee des Guten, nicht die Idee des Gutes ist, wenn wir hinter der aristotelischen Theorie der G ter wieder die platonische Theorie des Guten und ihre sachlichen Motive sichtbar machen wollen, dann ist es plausibel, sich an einer Untersuchung der Sprachgebr uche des Adjektivs ,gut* zu orientieren. Analysieren wir also zun chst die Logik dieses Ausdrucks.

43 Eine analoge, allerdings dreiteilige Unterscheidung von G tern, die Glaukon vornimmt, bildet ja den Ausgangspunkt des gro en Gespr ches mit den beiden Platonbr dern innerhalb der ,Politeia' (Pol. II, 357 a-d).

Die Logik von ,gut'

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d) Die Logik von ,gut' Wir können bei dieser Untersuchung von einer Erkenntnis der sprachr analytischen Philosophie ausgehen44. Offenbar gehört der Ausdruck ,gut' nicht in dieselbe Klasse von Eigenschaftsbezeichnungen, in die ,rot* oder ,zerbrechlich' oder freundlich' oder ,mutig* gehören: jeder dieser letzteren Ausdrücke bezeichnet eine Eigenschaft, die ein gemeinsames Merkmal all dessen ist, worauf dieser Ausdruck angewandt werden kann (wir sehen ab vom Fall äquivoker Ausdrücke, für die dasselbe mit der Einschränkung auf die jeweilige Bedeutung des Ausdrucks gilt). Alles, von dem wir zu Recht den Ausdruck ,rot' prädizieren, hat eine gemeinsame Eigenschaft, die Röte nämlich. Analog spricht man mit den Ausdrücken ,zerbrechlich' oder ,mutig' die (dispositionalen) Eigenschaften von Zerbrechlichkeit oder Mut zu. Anders bei dem Ausdruck ,gut' oder bei Ausdrücken wie ,wirklich', ,absolut', /wesentlich' oder - um weniger philosophisch befrachtete Wörter zu wählen - »normal*, ,rein', .regulär'. Es gibt keine gemeinsame Eigenschaft analog der Röte oder der Zerbrechlichkeit, nach der wir Ausschau halten können, wenn wir eine Reihe von Gegenständen haben, denen wir zu Recht etwa ,wirklich' zusprechen: der „wirkliche Kavalier", der „wirkliche Einfluß" und der „wirkliche Tiger" haben nichts gemeinsam, was durch das Wort ,wirklich' bezeichnet würde. Ebenso ist es mit einem „guten Schachspieler", einem „guten Vorschlag" oder einem „guten Angebot". Die gerade aufgezählten Ausdrücke (,gut', , wirklich* usw.) haben eine gänzlich andere Funktion als die der Zuschreibung von Eigenschaften. Sie lassen sich zunächst dadurch charakterisieren, daß sie etwas ausschließen wollen, ohne selbst etwas Positives auszusagen. Aber mit dieser ersten Charakterisierung können wir Ausdrücke wie ,gut', ,wirklich', ,normal' noch nicht hinreichend von Ausdrücken bloßer Komplementbegriffe - wie ,nicht-rot', ,nicht-zerbrechlich' usw. — unterscheiden. Auch diese Ausdrücke schließen nur Eigenschaften dessen aus, von dem sie ausgesagt werden, enthalten aber keine positive Bestimmung45. Im Gegensatz zu den Ausdrücken für Komplementbegriffe sind jedoch 44

Vgl. insbesondere R.Hall, Excluders, Analysis 20 (1959); jetzt in: Ch. E. Caton (ed.), Philosophy and Ordinary Language. Urbana 1963, 67-73. P· T. Geach, Good and Evil, Analysis 17 (1956); jetzt in: Ph. Foot (ed.), Theories of Ethics. London 1967, 64-73. *5 J. St. Mill, der zuerst systematisch auf die Funktion von Wörtern wie ,idle' oder ,sober' im Englischen aufmerksam gemacht hat, behandelt sie jedoch noch unter dem Titel der negativen Namen mit den Komplementbegriffen zusammen (Vgl. A System of Logic. London/Colchester 1970, 26).

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

die angeführten Wörter (»gut*, , wirklich' usw.) dadurch charakterisiert, daß sie logisch attributiv gebraucht werden: sie bedürfen eines Substantivs, auf das sie bezogen sind. Der Test dafür, daß ein Ausdruck a logisch attributiv gebraucht wird, ist der, daß man von „Dies ist ein a B" (wobei B ein substantivischer Ausdruck ist) nicht übergehen kann zu „Dies ist ein B und (dies ist) a". So kann ich von „Er ist ein wirklicher Kavalier" nicht übergehen zu „Er ist ein Kavalier und (er ist) wirklich". Ein entsprechender Übergang ist aber bei (den logisch prädikativ gebrauchten) Ausdrücken wie ,rot' oder ,zerbrechlich' oder ,nicht-rot' usw. möglich. Wir wollen die Ausdrücke, zu denen ,gut* und , wirklich* gehören, als ,Ausschlußbegriife' bezeichnen - in Anlehnung an den englischen Ausdruck ,excluders*46. ,Gut* ist also ein Ausschlußbegriff. Bevor wir einige allgemeinere Schlußfolgerungen für die Logik von ,gutc aus dieser Erkenntnis ziehen, soll zunächst der Anwendungsbereich dieses Ausdrucks kurz untersucht werden. Im Unterschied zu vielen Adjektiven kann ,gut* sowohl von Umständen wie von Gegenständen prädiziert werden. Wir können sowohl sagen: „Die Lage dieses Hauses ist sehr gut" oder „Es ist gut, daß Peter noch gekommen ist" als auch „Das war ein gutes Schachspiel" oder „Das ist ein gutes Instrument" . Mit ,Umstand' bezeichnen wir einen Sachverhalt (oder doch etwas, das sich als Sachverhalt darstellen läßt), insofern er Bedingungen beeinflußt, unter denen Vorgänge (z. B. Handlungen) stehen. Wir können ,gut', wo es von Umständen gebraucht wird, gewöhnlich durch ,vorteilhaft' ersetzen eine Ersetzung, die im Fall der Prädikation von Gegenständen nicht möglich ist 47 . Wird ,gut' mit Bezug auf Umstände gebraucht, dann hat es nicht die Funktion des Lobens, dagegen häufig die des Abschätzens. Oft wird es auch im Nachsatz eines impersonal konstruierten Konditionalsatzes gebraucht, um Ratschläge einzuführen („Es wäre gut, wenn .. .") 48 . 46

Die Bezeichnung ,excluders' hat zuerst R. Hall vorgeschlagen (s. Anm. 44). Im Deutschen ist mir keine eingeführte Wiedergabe des englischen Terminus bekannt. 47 ,Vorteilhaft' heißt im Griechischen . Daß ,gut' auch die Konnotation von jVorteilhaft' haben kann, erhellt aus Grat. 419 a. Die These des Thrasymachos im ersten Buch der .Politeia' (vgl. 338 c- 339 e), das Recht sei der Vorteil ( ) der Stärkeren bzw. der Machthaber, wird sofort an den Gesetzen illustriert, nicht etwa an gerechten Handlungen. Gesetze (im Sinne von Rechtsnormen) beeinflussen par excellence die Bedingungen von Handlungen. Daß einen relativen Sinn hat, macht die aristotelische Bestimmung des als (Rhet. B 13, 1390 a i) deutlich. 4 8 R. M. Hare hat die These aufgestellt, daß „the primary function of the word ,good' is to commend" (The Language of Morals. London 1952 31964, 127). Zu dieser Aussage über die Funktion von ,gut' hat ihn, wie es scheint, der zu enge Rahmen seiner

Die Logik von ,gut'

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Es ist wichtig festzuhalten, daß ,gut', wo es von Umständen prädiziert wird (wo es also gewöhnlich durch ,vorteilhaft' ersetzt werden kann), immer nur in einem relativen Sinn gebraucht wird. ,Gut' heißt in dieser Gebrauchsweise soviel wie ,gut für . . .', auch wenn das Wofür häufig nicht explizit angegeben wird: „Es ist gut, daß dieses Gesetz nicht beschlossen wurde" nämlich für die davon Betroffenen. Und hier kann ein bloßer Wechsel des Bezugspunktes aus dem, was (für A) gut ist, etwas Schlechtes (für B) machen. Man kann also ,gut' nie schlechthin von einem Umstand aussagen. Dagegen fungiert »gut*, wenn es auf Gegenstände bezogen wird, nicht in einem relativen Sinn: hier kann man sich nicht durch einen bloßen Wechsel des Bezugspunktes dazu legitimieren, das, was man vorher ,gut* genannt hat, jetzt jSchlecht' zu nennen. Dabei bezeichnet der Ausdruck ,Gegenstand' hier nicht nur Dinge und Personen, sondern Eigenschaften (wie Geruch oder Geschmack) und Leistungen („Dieses Fahrzeug fährt gut") ebenso wie Handlungen („eine gute Aufführung") oder Handlungsschemata („ein gutes Gedicht"). Ein guter Schachspieler kann zwar schlechter sein als ein anderer Schachspieler, aber er wird dadurch nicht zu einem schlechten Schachspieler. Überall, wo wir ,gut' in dieser Weise, also mit Bezug auf Gegenstände gebrauchen, beziehen wir uns auf Standards. Von einem Gegenstand zu sagen, er sei ,gut', heißt ihm einen bestimmten Standard an Brauchbarkeit, Fähigkeit, ästhetischer Qualität zusprechen. Damit haben wir nun allerdings nicht etwa ein gemeinsames Charakteristikum von ,gut' (wenn dieser Ausdruck mit Bezug auf Gegenstände gebraucht wird) gefunden. Wir haben lediglich die Funktion, die dieser Ausdruck als AusschlußbegrifE erfüllt, jetzt durch den Begriff des Standards genauer charakterisiert. Durch die Angabe eines Standards für einen Gegenstand sind für diesen Gegenstand nicht nur bestimmte Eigenschaften, sondern Grade dieser Eigenschaften gefordert. Wenn man einen Gegenstand als ,gut* charakterisiert, spricht man ihm damit Grade bestimmter Eigenschaften zu. Aus den Feststellungen über die Verwendung von ,gut' bei Umständen wie bei Gegenständen läßt sich nun eine erste allgemeine Schlußfolgerung über die Logik dieses Ausdrucks gewinnen: ,gut' kann niemals als analytisches Prädikat fungieren. Bei Umständen ist das dadurch ausgeschlossen, daß ,gut* dort immer in einem relativen Sinn, immer im Hinblick auf ein Wofür gebraucht wird. Im Fall der Prädikation von ,gut' mit Bezug auf Gegenstände besteht diese Möglichkeit deshalb nicht, weil kein Gegenstandstyp durch Grade von Eigenschaften definierbar ist. Das läßt sich an Beispiele geführt: Hare orientiert sich ausschließlich an dem gegenstandsbezogenen Gebrauch von ,gut', nie an ,gut', wo es zur Charakterisierung von Umständen dient.

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

der Grammatik von ,gut' bestätigen. ,Gut' kann nämlich niemals als Prädikat von Ausdrücken gebraucht werden, die einen generellen Sinn haben; es ist immer nur von einzelnen Gegenständen und in kontingenten Allaussagen anwendbar. Eine triviale Konsequenz der Unmöglichkeit, ,gut* als analytisches Prädikat zu gebrauchen, ist die, daß ,gut' nicht im definiens eines anderen Ausdrucks auftreten kann, daß es nicht zur Bezeichnung des Wesens von etwas dienen kann. e) Der Begriff des Guten und die Aufdeckung von tdeativen

Begriffen

Von den Beobachtungen aus, die wir gerade von dem Ausdruck ,gut' in Bezug auf Gegenstände gemacht haben, daß er nämlich die Erfüllung eines bestimmten Standards anzeigt, können wir uns nun eine wichtige Eigenschaft des Begriffes des Guten klarmachen. Wenn ein Gegenstand einem bestimmten Standard genügt, dann kommen ihm nicht nur bestimmte Eigenschaften zu, sondern bestimmte Grade dieser Eigenschaften. Ein Messer muß einen bestimmten Grad von Schärfe und von Handlichkeit aufweisen, damit wir es ein gutes Messer nennen, ein Argument muß einen bestimmten Grad von Klarheit, Knappheit und Evidenz besitzen, um ein gutes Argument zu heißen. Wir haben also bei dem Gebrauch des Ausdrucks ,gut' graduelle Eigenschaften von Gegenständen im Blick und erst vom Erreichen eines bestimmten Grades dieser Eigenschaften ab können wir den Ausdruck ,gut' jeweils gebrauchen. Nun gehört aber ,gut' selber zu den Eigenschaften, die Grade haben: wir können entsprechend den Graden der Eigenschaften, im Hinblick auf die wir einen Gegenstand als ,gut' charakterisieren, auch von Graden von ,gut' sprechen. Je klarer und einleuchtender ein Argument ist, desto besser ist es; je schneller jemand laufen kann, ein desto besserer Läufer ist er. Aus diesem Umstand (der Gradualität von ,gut' selbst) erklärt sich nun eine wichtige Eigenschaft des Begriffes des Guten. Um sie deutlich zu sehen, bedarf es einiger Vorbemerkungen über die Logik gradueller Begriffe. Grammatisch sind Ausdrücke für graduelle Eigenschaften (wie ,dunkel', ,klar', ,gut', ,hoch' usw.) von solchen für nicht-graduelle (wie , viereckig', ,quadrierbar' oder ,zweibeinig') dadurch unterschieden, daß nur bei ersteren sinnvoll ein Komparativ gebildet werden kann. Es ist offenbar sinnlos, von etwas Viereckigem zu sagen, daß es „viereckiger" ist als etwas anderes. Innerhalb der graduellen Eigenschaften gibt es nun einen wichtigen Unterschied: von den Fällen, in denen hier ein Superlativ in absolutem Sinne denkbar ist, lassen sich die unterscheiden, bei denen ein solcher absoluter

Das Gute und die M glichkeit ideativer Begriffe

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Superlativ nicht denkbar ist: es ist nichts so Hohes oder Gro es denkbar, da nicht anderes noch h her oder gr er gedacht werden k nnte, und gleiches gilt von .schnell* oder ,klein* oder .langsam* oder - um Beispiele nicht-quantitativer Eigenschaften zu w hlen - von .schlecht' oder .feige' oder .schwach* 49. Umgekehrt ist ein solcher Superlativ bei .gerade* oder ,eben* oder .klar* (im Sinne von .ungetr bt*) m glich: es ist etwas Gerades oder Ebenes oder Klares denkbar, ber das hinaus es kein Geraderes oder Ebeneres oder Klareres geben kann: etwas — wie wir sagen - vollkommen Gerades oder Ebenes oder Klares. Der Begriff eines vollkommen Gro en oder Schnellen ist dagegen offenbar unsinnig. Wir wollen sagen, da bei den letzteren Eigenschaften nur ein .relativer* Superlativ m glich ist. berall wo solch ein absoluter Superlativ m glich ist, ergibt sich nun eine spezifische Unterscheidung in eine eigentliche und eine uneigentliche Bedeutung des entsprechenden Ausdrucks. Im eigentlichen Sinn ,gerade* (oder .eben* oder .klar') hei t nur das vollkommen Gerade, die Ann herungen an diesen Fall des vollkommenen Geraden hei en nur im uneigentlichen Sinne so: an ihnen sind immer Ungeradheiten auf weisbar - das definiert sie eben als Ann herungen. Was das im uneigentlichen Sinn Gerade vom vollkommen Geraden unterscheidet, ist aber auch Grund der Unterschiede alles im uneigentlichen Sinn Geraden voneinander. Hier gibt es unendlich viele F lle, gegen ber der Bestimmtheit des einen Falles vollkommener Geradheit. Es liegt auf der Hand, da eine solche Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung im Fall der Ausdr cke, die nur einen relativen Superlativ haben, sinnlos ist. Wir merken noch an, da die Eigenschaften, f r die ein absoluter Superlativ m glich ist, nie einen Gegenbegriff haben k nnen, f r den ebenfalls ein absoluter Superlativ existiert; absolute Superlative indizieren eine Asymmetrie zwischen gegens tzlichen Begriffen50. 49 Da es f r die Bewegung als physikalisches Ph nomen eine obere Grenze - die Lichtgeschwindigkeit - gibt, hei t nicht, da nicht schnellere Bewegung denkbar ist; Phasenpunkte lassen sich mit beliebig hoher Geschwindigkeit bewegen. Sowenig wie eine schnellste ist aber auch eine langsamste Bewegung denkbar, obwohl sich hier eine Grenze, die des Stillstandes n mlich, nicht berschreiten l t. Aber Ruhe ist nur die Grenze der Verlangsamung, nicht ein Grad der Langsamkeit. 50 Platon hat, wie es scheint, bei seiner Theorie des Guten von ganz analogen Unterscheidungen Gebrauch gemacht. Nach dem im Physikkommentar des Simplikios berlieferten Bericht des Hermodor (GAG IX, 248, 2-18) hat Platon innerhalb der οντά zun chst unterschieden zwischen den καθ' αυτά (wie .Mensch' oder ,Pferd') und den προς ετέρα, die sich wiederum in προς εναντία (ζ. Β. gut - schlecht, offenbar also Ausschlu begriffe) und προς τι unterscheiden. Diese wiederum zerfallen in ώρισμένα und αόριστα. Die αόριστα haben, da sie komparativisch gebraucht werden k nnen (ως μέγα προς μικρόν λεγόμενα 248, 5). alle Grade (πάντα εχειν το μάλλον και

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

F r den Begriff ,gut' ist nun offenbar die Frage, ob er eine Eigenschaft mit absolutem oder relativem Superlativ bezeichnet, gar nicht sinnvoll zu stellen: die Frage kann immer nur mit Bezug auf einen bestimmten, als ,gut' qualifizierbaren Gegenstand gestellt werden, und die Antwort h ngt dann davon ab, ob die Eigenschaften des Gegenstandes, von denen die Eigenschaft ,gut' abh ngig ist, einen absoluten Superlativ kennen oder nicht. So k nnen wir uns zwar keinen absolut besten L ufer vorstellen, weil jeder Grad von Schnelligkeit durch einen gr eren berbietbar ist, und ebensowenig ein bestes Haus, weil hier ebenfalls Eigenschaften konstitutiv sind, die keinen absoluten Superlativ haben und weil hier berdies m glicherweise die Steigerung der einen f r das Gutsein konstitutiven Eigenschaft auf Kosten einer anderen, ebenso konstitutiven Eigenschaft geht. Dagegen ist z. B. jene Spiegelfl che die beste, in der es keinerlei Unebenheiten und Verzerrungen mehr gibt, die vollkommen eben ist. Der Umstand nun, da bei bestimmten Eigenschaftstypen ein nicht mehr berschreitbarer Grad der Vollkommenheit m glich ist, hat nun eine Folge f r den Begriff des Standards (und damit f r den des Guten) selber. Dort, wo wir n mlich eine Eigenschaft im Status der Vollkommenheit denken k nnen, k nnen wir den Standard, der sich durch einen Grad eben dieser Eigenschaft definiert, selber auf diesen Vollkommenheitsgrad beziehen, was bei Eigenschaften, zu denen es nur einen relativen Superlativ gibt, evidenterweise nicht m glich ist. Das wiederum wird nun dort relevant, wo Standards nicht nur erf llt, sondern so erf llt werden, da das Normalma ihrer faktischen Erf llung (wir sagen kurz: der faktische Standard) berτό ήττον 248, 5 - 6), und zwar so, da ber jeden Grad hinaus noch eine Steigerung m glich ist (vgl. είς άπειρον φερόμενα 248, 6-7; είς άπειρον οίσϋήσεται 248, 8). Als Beispiele werden Komparative angef hrt: breiter, schmaler, schwerer, leichter και πάντα τα οΰτως λεγόμενα (248, 7 -8). Umgekehrt gibt es f r ,gleich' (ίσον), .ruhend' (μένον) und ,gestimmt' (von Instrumenten) (ήρμοσμένον) - Beispiele der ώρισμένα - keine Grade (vgl. 248, 9 - 10). Man sieht an den von Platon gew hlten Beispielen sofort, da er Grundbegriffe der Wissenschaften im Auge hat: der Mathematik (ίσον), der Bewegungslehre (μένον) und der Akustik (ήρμοσμένον). Auch auf die durch diese Begriffe indizierte grammatische Asymmetrie hat Platon hingewiesen: die Gegenbegriffe ,ungleich', ,bewegt' und ,unrein gestimmt' haben, wie wir gesagt haben, keinen absoluten Superlativ (vgl. 248,10-11). Durch unsere obige Analyse wird verst ndlich, welche Funktion diese Unterscheidungen in der platonischen Theorie des Guten haben. Vor allem wird aber die doxographische Verzerrung sichtbar, die durch das Herantragen des aristotelischen ύλη-Begriffes mit diesen Unterscheidungen vorgenommen wird. Und Simplikios zitiert sie nat rlich nur um der Gleichsetzung von μέγα και μικρόν mit dem aristotelischen Materiebegriff willen (vgl. 248, 19 - 20) - gl cklicherweise jedoch so ausf hrlich, da man den ganz anderen systematischen Sinn der platonischen Unterscheidungen noch erkennen kann.

Das Gute und die Möglichkeit ideativer Begriffe

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schritten wird. Diese Überschreitung eines faktischen Standards drücken wir, wo sie als gefordert oder beabsichtigt vorgestellt wird, durch die Wendung ,möglichst gut' (= ,so gut wie möglich') aus. („A soll [will] b möglichst gut ausführen" etc.). Im Ausdruck ,möglichst gut' impliziert die Orientierung an Möglichkeit und das heißt umgekehrt das Absehen von einer Orientierung an Wirklichkeit („so gut wie a") die logische Möglichkeit der Überschreitung faktischer Standards. Diese Überschreitung faktischer Standards ist nun dort, wo es einen Grad der Vollkommenheit für jene Eigenschaft gibt, auf die sich der jeweilige Standard bezieht, immer eine Annäherung an diesen Grad der Vollkommenheit. Die Handlung, die sich hier unter die Forderung eines ,möglichst gut' stellt, ist nicht auf eine bloße Überschreitung faktischer Standards aus, sondern auf die Annäherung an oder das Erreichen von einer Grenze, die keine Überschreitung mehr gestattet. Wir wollen diesen Status der Vollkommenheit, insofern er die Funktion hat, Handlungen unabhängig von faktischen Standards zu orientieren, eine Norm nennen. Normen sind dadurch ausgezeichnet, daß ihnen gegenüber die Frage nach der faktischen Möglichkeit ihrer Verwirklichung ganz irrelevant ist. Sie dienen der Orientierung von Handlungen, aber man subsumiert nicht ausgeführte Handlungen oder deren Ergebnisse als Fälle unter sie. Die Begriffe, die als Normen fungieren können, sind Grenzbegriffe, nicht Allgemein- oder Klassenbegriffe. Grenzbegriffe haben nicht die Funktion der Klassenbegriffe, die eine Zusammenfassung und Einordnung von Individuen mit demselben Merkmal erlauben. GrenzbegrifEe erlauben nur eine Anordnung von Individuen als Näherungen an einen Grenzfall. Klassenbegrifie gewinnt man durch Abstraktion: durch Auszeichnung eines Merkmals und Absehen von allen anderen Beschaffenheiten eines Individuums. Zu Grenzbegriffen dagegen gelangen wir auf dem Wege der Ideation durch Vorstellung einer Eigenschaft im Status der Vollkommenheit51. Darum kann man diese Begriffe auch als ideative Begriffe bezeichnen52. Die Frage, die sich hinsichtlich solcher durch Ideation gewonnener Begriffe sofort stellt, ist aber die nach der Möglichkeit, solche ideativen oder Grenzbegriffe überhaupt zu denken. Wieso können wir sinnvoll und für jedermann verstehbar von etwas vollkommen Geradem oder Ebenen oder Klarem etc. reden, ohne dabei die Möglichkeit voraussetzen zu müssen, reale Fälle dieser Vollkommenheitsgrade auch auf weisen zu können? Diese Frage 51 Ich übernehme den Ausdruck Jdeation' von P. Lorenzen. Vgl. Lorenzen/Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim 1973, 165. 52 Vgl. Kamlah/Lorenzen, Logische Propädeutik. Mannheim 1967, 230.

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

ist deshalb so unabweisbar, weil alle exakten Wissenschaften nur auf dem Boden von solchen ideativen Begriffen möglich sind. Auf eben diese Frage erlaubt uns nun die Analyse des Begriffs des Guten eine Antwort. Wir vollziehen nämlich eine Ideation immer dann, wenn wir uns ein möglichst Gutes, zu dem kein Besseres mehr denkbar ist, als Norm eines Handelns vorstellen. Wo wir eine Fläche, über die Lasten bewegt werden sollen, für diesen Zweck möglichst gut zu machen suchen, geben wir unserer Tätigkeit den Begriff einer vollkommen ebenen Fläche vor, einer Fläche, in der überhaupt keine Unebenheiten mehr sind. Wo wir Rädern die für ihren Zweck beste Form zu geben suchen, denken wir den Begriff des Kreisrunden. Wo wir chemische Substanzen in mathematisch genau bestimmten Verhältnissen mischen wollen, suchen wir sie vorher im Zustand völliger Unvermischtheit herzustellen, suchen wir sie in einen für diesen Zweck möglichst guten Zustand zu bringen und orientieren uns dabei an dem ideativen Begriff der chemischen Reinheit53. Es ist der konstruktive Charakter menschlichen Handelns, unsere Fähigkeit, bei der Herstellung von Mitteln für Zwecke faktische Standards ständig in Richtung auf einen möglichst guten Standard zu überschreiten, der der Grund für die Möglichkeit ist, ideative Begriffe zu denken. Überall wo wir nämlich ein Mittel als für einen bestimmten Zweck vollkommen gut denken können, haben wir auch den Vollkommenheitsstatus einer inhaltlich bestimmten Eigenschaft dieses Mittels gedacht. Es ist gerade die inhaltliche Unbestimmtheit des Ausschlußbegriffs ,gut', die dem Begriff des Guten diese Funktion der Aufdeckung ideativer Begriffe gibt. Wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit dieses Begriffs ist eine Erkenntnis des Guten immer nur eine Erkenntnis der Funktion des Guten, nicht eine Erkenntnis eines gemeinsamen Merkmals all dessen, was ,gut' heißt. Zugleich aber ist die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs des Guten der Grund dafür, daß sich, wo vom ,Guten selbst', wo von ,dem Guten* die Rede ist, die vergegenständlichende Vorstellung eines höchsten Gutes einstellt und die wirkliche Erkenntnis des Begriffs des Guten, die Erkenntnis seiner Funktion, 53 Im Anschluß an mathematikgeschichtliche und wissenschaftstheoretisdie Untersuchungen von H. Dingler hat P. Lorenzen auf den Zusammenhang zwischen technisch-praktischen Normen und ideativen Begriffsbildungen hingewiesen (Vgl. P. Lorenzen, Das menschliche Fundament der Mathematik, in: Grundfragen der Wissenschaften und ihre Wurzeln in der Mathematik (ed. P. Weingartner). Salzburg/München 1967, 27-36). Lorenzen beruft sich in diesem Zusammenhang auch auf die platonische Idee des Guten als ein Prinzip solcher Begriffsbildungen. Es liegt wohl an dem Fehlen der Unterscheidung von relativen und absoluten Superlativen, daß Lorenzen dabei die platonische Idee des Guten mit einer Idee des Allgemein-Besseren identifiziert.

Pol. 504—517 in der Platonliteratur

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durch ein falsch gestelltes Problem verhindert wird. Es hat einen Grund in der Sache selbst, wenn Sokrates nur über die Punktionen der Idee des Guten reden will. Wir können von unserer Analyse des Begriffes ,gut' wieder zum Text der ,Politeia' zurückkehren. Vor unserer weiteren Interpretation aber zunächst ein kurzer Überblick über die Diskussion von Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis in der Literatur.

f) Die Diskussion der drei Gleichnisse in der Platonliteratur Es gibt kaum eine Stelle in den platonischen Dialogen, die ähnlich ausführlich und ähnlich kontrovers diskutiert worden ist wie der Text der jPoliteia' von 504 bis 517. Insbesondere in der englischen Platonforschung sind die drei Gleichnisse54 seit Ende des letzten Jahrhunderts ein Wetzstein für den Scharfsinn der Interpreten gewesen. Die Forderung, mit der vor neunzig Jahren H. Jackson seinen programmatischen Aufsatz über diese Stelle beschlossen hatte 55 , ist in der Folgezeit mehr als erfüllt worden. Das anschließende Literaturreferat will keinen vollständigen Überblick über die zu dieser Stelle gemachten Interpretationsvorschläge geben; es versucht, Streitpunkte und Argumente dieser Diskussion herauszuarbeiten und dadurch die eigene Interpretation vorzubereiten. Wenn wir uns dabei vornehmlich an der englischen Forschung orientieren, so hat das seinen Grund nicht nur in der Ausführlichkeit und Kontinuität der dortigen Diskussion; der eigentliche Grund liegt vielmehr in einer methodischen Überlegenheit der englischen Literatur zu unserer Stelle: anders als etwa die Untersuchungen deutscher Autoren56 gehen die englischen Arbeiten von dem Grundsatz 54

benutze den Ausdruck .Gleichnis' der terminologischen Bequemlichkeit halber und weil es in der deutschen Literatur üblich ist, vom Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis zu sprechen. Genau genommen ist das Liniengleichnis kein Gleichnis, sondern eine Illustration von Verhältnissen mit Hilfe eines Diagramms. 55 „The passage in the Republic upon which I have been commenting deserves, I think, more attention than it has received from recent commentators" (H. Jackson, On Plato's Republic VI, 509 d sqq., Journal of Philology X (1882) 150). 56 P. Natorp geht nur auf das Sonnen- und Liniengleichnis ein, das Höhlengleichnis wird in seiner Interpretation der ,Politeia' kaum einmal genannt (vgl. Platos Ideenlehre 188 - 201). Bei P. Friedländer werden Höhlen- und Sonnengleichnis nur kurz erwähnt (Platon III, 106). Die Interpretationen von E. Hoffmann beschränken sich auf das Höhlen- und Liniengleichnis (Platon, Zürich 1950, Kap. 6 und 7; vgl. Der pädagogische Gedanke in Platons Höhlengleichnis, Archiv f. Gesch. d. Philos. 40 (1931) 47-57). M. Heidegger macht das Höhlengleichnis zur Basis seiner ganzen Platonauslegung (Platons Lehre von der Wahrheit). C. J. Classen behandelt Sonnen-

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aus, daß die drei Gleichnisse nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang interpretiert werden können. Die Diskussion der drei Gleichnisse in der Literatur arbeitete hauptsächlich zwei Probleme heraus57. Das erste betrifft die Interpretation der unteren Hälfte der Linie, das zweite die Frage des Verhältnisses von Liniengleichnis und Höhlengleichnis. Wir untersuchen zunächst die Vorschläge zum ersten der beiden Probleme. Die traditionelle Interpretation der viergeteilten Linie erklärt sie als eine schematische Darstellung der „Stufen des Seins" und der diesen entsprechenden „Vorstellungs-" bzw. „Erkenntnisweisen" 58. Gegen diese Interpretation wandte sich als erster H. Jackson in seinem schon erwähnten Artikel; Jackson wies daraufhin, daß das Liniengleichnis eine Erweiterung und Ergänzung des Sonnengleichnisses sei59. Im Sonnengleichnis aber waren die Verhältnisse der sichtbaren Welt nur ein Analogen für die Verhältnisse im Reich des Denkbaren. Darum, so argumentierte Jackson, hat auch der untere Teil der Linie einen „purely illustrative character" 60 für das Verhältnis der beiden oberen Abschnitte. Das Motiv für diesen Interpretationsvorschlag Jacksons war das bei dem traditionellen Verständnis auftretende Dilemma und Höhlengleichnis (Sprachliche Deutung 50-67), läßt aber die Linie als „künstliches Gebilde" außer Betracht (a. a. O. 52). I. Klär hat neuerdings sogar argumentiert, „das Höhlengleichnis sei nicht primär für die Zwecke der Politeia entworfen" (Die Schatten im Höhlengleichnis und die Sophisten im Homerischen Hades, Arch. f. Gesch. d. Philos. 51 (1969) 225 vgl. 246-249). Welche inhaltlich abwegigen Konsequenzen die Isolierung einzelner Teile dieser Gleichnistrias haben kann, zeigt sich etwa bei R. Maurer, für den das Höhlengleichnis „die Entstehung von Unterschieden in Bezug auf Bildung und Unbildung" beschreibt (Platons ,Staat' und die Demokratie 27). Die Untersuchungen innerhalb der deutschen Platonforschung, die alle drei Gleichnisse und deren wechselseitige Beziehungen behandeln, sind selten und meist nicht auf dem Diskussionsstand der englischen Literatur. Vgl. etwa W. Beierwaltes, Lux intelligibilis. Diss. München 1957, 37-97.; O. Utermöhlen, Die Bedeutung der Ideenlehre für die platonische Politeia. Heidelberg 1967, 42 ff.; G. Patzig, Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, a. a. O. 113 - 126. 57 Auf einen dritten, in der Literatur verhandelten Problemkomplex, die Frage nämlich nach Sinn und Verhältnisbestimmung der beiden oberen Linienabschnitte, soll erst im Zusammenhang unserer eigenen Interpretation eingegangen werden. Abgesehen von dem speziellen Problem, ob durch das Liniengleichnis die Zwischenstellung der (vgl. Arist. Met. A 6, 987 b 14 -17) bestätigt wird, hat es hier auch weniger eine kontroverse Diskussion als vielmehr eine Anzahl miteinander konkurrierender Erklärungsvorschläge gegeben. Gemeinsam ist ihnen allen, daß sie nicht sachlich erklären können, was mit der Aufhebung der mathematischen Hypotheseis in der Dialektik eigentlich gemeint ist. 58 S. Überweg/Frachter 272. 59 Jadson a. a. O. 132,135. 60 Jackson a. a. O. 135.

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hinsichtlich des untersten Abschnittes der Linie, der εικασία61. Wir k nnen es etwa so formulieren: entweder man versteht den Text w rtlich und die „Bilder" so, wie sie von Sokrates beschrieben werden: dann l t sich nicht verst ndlich machen, wieso das Sehen von Schatten und Spiegelbildern eine eigene Vorstellungsweise gegen ber dem Sehen von Originalen sein soll; oder man versucht — meist unter Berufung auf das H hlengleichnis -, die εικασία so zu interpretieren, da man sie plausibel von der πίστις unterscheiden kann (etwa als Vermutung von Gewi heit), dann aber ist man gezwungen, sich ber den Wortlaut des Textes hinwegzusetzen62. Gegen Jacksons Argumente verteidigte J. Adam in seinem Kommentar zur .Republik* die traditionelle Auffassung der Linie63. Adam berief sich f r seine Ablehnung einer „illustrativen" Interpretation der unteren Linienh lfte auf die Ersetzung des Ausdrucks δρατόν durch δοξαστόν innerhalb des Liniengleichnisses (51039). Durch die Ann herung der Linie an die Stelle Pol. V, 476 b - 480 a, wo der Ausdruck δοξαστόν unter anderem durch die „popular canons or opinions on the subject of what is beautiful, ugly, right, wrong etc." 64 bestimmt worden war (vgl. 479 d), legitimierte sich Adam zu einer Interpretation der εικασία, in der diese auf g ngige Meinungen in einem allgemeinen Sinn bezogen ist65. Die These Jacksons wurde erst von A. S. Ferguson wieder aufgegriffen, der in mehreren Artikeln eine sehr gediegene, ebenso scharfsinnige wie textnahe Interpretation der drei Gleichnisse unternahm ω. Wie Jackson insistierte er auf der engen Beziehung des Liniendiagramms zum Sonnengleichnis, um den symbolischen Charakter der Verh ltnisse im unteren Linienabschnitt zu begr nden67. Adams Einwand gegen diese Interpreta61 Vgl. Jackson a. a. O. 134. 62 Es war deshalb ganz konsequent, da in der Folgezeit die Verteidiger der traditionellen Interpretation insbesondere den Sinn der Eikasia zu kl ren suchten; so etwa H. J. Paton, Plato's Theory of Eikasia, Proc. of the Ar. Society XXII (1921/22) 69 -104 und D. W. Hamlyn, Eikasia in Plato's Republic, Philos. Quart. 8 (1958) 14-23. 63 Siehe J. Adam, The Republic of Plato vol. II, 157. 6+ Adam loc. cit. 65 hnlich hatte so vor Adam schon Nettleship die Eikasia zu erkl ren gesucht. Vgl. Lectures on the Republic of Plato 242 f. 66 A. J. Ferguson, Plato's Simile of Light, Class. Quart. 15 (1921) 131 -152 und Class. Quart. 16 (1922) 15-28 (= Ferguson I); Plato's Simile of Light Again, Qass. Quart. 28 (1934) 190-210 (= Ferguson II); The Platonic Choice of Lives, Philos. Quart, ι (1950/51) 5-34 (= Ferguson III). Leider scheinen die Aufs tze Fergusons in der deutschen Platonforschung so gut wie unbekannt zu sein. Selbst in Friedl nders gro em Platonwerk sind sie nicht erw hnt. 67 Ferguson I, 142 f.

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tion, den Hinweis auf den Gebrauch des Gegensatzes δοξαστόν/γνωστόν (510 a) versucht Ferguson mit dem Argument zu entkr ften, da im f nften Buch, in dem Teil des voraufgegangenen Gespr ches also, aus dem dies Begriffspaar stammt, auch zuerst das Gegensatzpaar σαφήνεια/ασάφεια f r eben den Gegensatz von δοξαστόν/γνωστόν verwendet worden ist. „Must we not infer", so fragt Ferguson dann, „that Plato, being about to use the ratio images-originals to illustrate a proportional difference of truth in the upper line, first recalls the established distinction between το δοξαστόν and το γνωστόν, made in terms of clearness, so that the illustrative ratio might be ,placed'?" 68 Gegen Fergusons Neuinterpretation der Gleichnisse in seinem ersten Aufsatz wandte sich N. R. Murphy69. Zwar konzedierte Murphy, „that Plato's treatment of the facts of vision is partly for illustration" 70, und gab Ferguson darin Recht, da man „on a literal interpretation of the whole passage without the introduction of material drawn from all over the dialogues" 71 insistieren m sse, aber f r die traditionelle Auffassung eines universellen ontologischen Schemas in der Linie und gegen die ausschlie lich illustrative Interpretation der sichtbaren Welt in Sonnen- und Liniengleichnis schien ihm die Berufung auf die ,zwei Eide* des Denkbaren und Sichtbaren zu Beginn des Liniengleichnisses zu sprechen (509 d i) 72 . Da aus Murphys Beobachtungen nicht seine Folgerungen gezogen werden mu ten, zeigte Ferguson in seinem zweiten Aufsatz, der eine erneute, minuti se Interpretation aller drei Gleichnisse enth lt73. Fergusons Deutung wurde teilweise aufgenommen von R. Robinson, der in seinem in England und Amerika einflu reichen Buch ber .Plato's Earlier Dialectic* ebenfalls eine ausf hrliche Analyse der Stelle 504 ff. gab74. Aber 68 Ferguson I, 143. 69 A. N. Murphy, The .Simile of Light' in Plato's Republic, Class. Quart. 26 (1932) 93 - 102 (= Murphy I). 70 Murphy I, 93. 71 Murphy I, 93 f. 72 Murphy I, 94. 73 S. Ferguson II. In seiner Erwiderung auf Fergusons Artikel in derselben Nummer des Classical Quarterly (,Back to the Cave' 211-213) bringt Murphy keine neuen Argumente f r seine Interpretation der Linie. Vgl. auch die Diskussion der Linie in Murphys Budi ,The Interpretation of Plato's Republic'. Oxford 1951, 21960, 157160. 74 R.Robinson, Plato's Earlier Dialectic, 1941, 2i953, 147-201, zur Frage der Interpretation der unteren Linienh lfte vgl. insbesondere 195; Robinson will allerdings die illustrative Funktion nur f r die Unterteilungen der unteren Linie gelten lassen, w hrend die Teilung der Linie in untere und obere H lfte eine ontologische Verschiedenheit ausdr cken soll.

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Robinsons Untersuchungen lieferten bei allem Scharfsinn doch eher Argumente zu einzelnen, den Text betreffenden Fragen und nicht eine durchgängige Auslegung des Textes selber; die Treffsicherheit der phänomenologischen Beobachtungen Fergusons und dessen exegetische Akkuratesse sind ihm fremd. Es war D. Ross, der wieder einen Einwand gegen Fergusons Interpretation vorbrachte, gegen den sie in der Form, in der sie von Ferguson formuliert worden war, nicht geschützt schien: Ross verwies nämlich darauf, daß Platon die Mathematik, die doch der oberen Hälfte der Linie angehört, die Gegenstände des vorhergehenden Abschnittes als Bilder benutzen läßt (vgl. 510 b 4, e 1-3, 511 a 6-8)75. In der Tat: Besteht zwischen dem oberen Teil der unteren und dem unteren Teil der oberen Linienhälfte ein Verhältnis von Abbild zu Urbild, dann kann nicht die untere Linie als gesamte eine bloße Illustration der oberen Hälfte sein. Aus dem Dilemma, in das die Interpretation der Linie durch diesen Einwand gebracht war, versuchte J. E. Raven die Konsequenzen zu ziehen76. Raven wollte einerseits zwar die richtigen Beobachtungen Fergusons nicht aufgeben: die Linie ist als Ergänzung des Sonnengleichnisses zu verstehen bis zum Satz 510 a 8-10 ist in beiden Figuren immer nur vom Sichtbaren und Gesehenen die Rede, „a consistency that is surely too marked to be merely accidental" 77. Aber die These einer ausschließlich illustrierenden Funktion der unteren Linienhälfte schien ihm durch den Einwand von Ross widerlegt78. Nach Ravens Meinung hat die Linie eine doppelte Funktion zu erfüllen: einerseits ergänzt sie das Sonnengleichnis, andererseits bereitet sie die Rückkehr zum Gegensatz von Wissen und Meinung vor79. Dieser Interpretation schlössen sich J. Gould8C sowie D. W. Hamlyn81 an. Ähnlich wie Raven argumentierten auch R. C. Cross und A. D. Woozley, die in ihrem Buch ein gutes Resümee des Diskussionsstandes zu dieser Frage geben 82. Allerdings belassen es Cross und Woozley nicht bei der Feststellung 75 D. Ross, Plato's Theory of Ideas 47 f. 76 J. E. Raven, Sun, Divided Line, and Cave, Class. Quarterly 47 (1953) 22 - 32. Vgl. auch die ausführlichere Darstellung in seinem Buch: Plato's Thought in the Making, chap. 10, 131 - 189. 77 Raven a. a. O. 24. 78 Raven a. a. O. 25 f. 79 Raven a. a. O. 32. 80 J. Gould, The Development of Plato's Ethics 165 -181 vgl. insbesondere 167 Fußnote 2. si D. W. Hamlyn, Eikasia in Plato's Republic, Philos. Quarterly 8 (1958) 14 - 23. Hamlyn bezieht sich aber in seiner Kritik der Ferguson'schen Interpretation weniger auf diese selbst als auf Robinsons Formulierung derselben (vgl. Hamlyn a. a. O. r8 f.). 82 Cross and Woozley, Plato's Republic, chap. 9 insbes. 208 - 214.

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einer doppelten Funktion der Linie, sondern unterscheiden diese beiden einander konträren - Funktionen auch im Diagramm selbst. Sie berufen sich dafür auf Murphy, der die untere Linienhälfte insgesamt als Darstellung des Bereiches der Doxa, die Unterteilung in ihr dagegen als eine nur innerhalb des Sichtbaren geltende und darum nur illustrative Unterscheidung verstand83. Damit war die Diskussion zu der traditionellen Interpretation, wenn auch in modifizierter Form, zurückgekehrt. Bei der Erörterung des zweiten Problems, der Frage nach einer Übereinstimmung zwischen den Abschnitten der Linie und den Etappen des Aufstiegs des Gefangenen aus der Höhle, ging der entscheidende Diskussionsanstoß von den Untersuchungen Fergusons aus84. Während die traditionelle Interpretation eine Entsprechung zwischen Linien- und Höhlengleichnis nachzuweisen suchte85, verwies Ferguson bei seiner Kritik dieses Versuches darauf, daß die Anweisungen, die Sokrates zum Verständnis des Höhlengleichnisses 517 a-c gibt, das Höhlengleichnis nicht mit der Linie, sondern mit dem Sonnengleichnis in Verbindung setzen86. Von dieser Kritik Fergusons an der traditionellen Auffassung des Verhältnisses von viergeteilter Linie und der Parabel der Höhle ist sein eigener, positiver Interpretationsvorschlag zu unterscheiden: Ferguson will der Gefangenschaft in und der Befreiung aus der Höhle einen bestimmten politischen Sinn geben 87. Auf die damit zusammenhängenden Fragen werden wir weiter unten bei der Untersuchung des Höhlengleichnisses eingehen; hier soll uns nur die Diskussion der Parallelität von Linie und Höhle beschäftigen. Das Motiv für die Kritik Fergusons an der traditionellen Parallelismusthese war auch hier eine Schwierigkeit, die mit der Eikasia zusammenhängt. Sollte die erste Stufe der Höhle, nämlich der Zustand der Gefangenen, mit der Eikasia identisch sein, so blieb gerade unerklärlich, warum im Hohlengleichnis so viele metaphorische Veranstaltungen getroffen werden, die alle 83 Cross/Woozley a. a. O. 216 f. S. Murphy, The Interpretation of Plato's Republic 163, der damit seinerseits an einen ähnlichen Erklärungsvorschlag Robinsons anknüpft (S. Plato's Earlier Dialectic 195). - Es sollte vielleicht angemerkt werden, daß die Rede von einer „Darstellung des Bereiches der Doxa" in der Linie, die wir im Anschluß an Cross' und Woozleys Referat (vgl. 216 „The whole main lower Line ... stands for belief") benutzt haben, eine der wichtigsten Thesen von Murphy verfälscht (vgl. The Interpretation of Plato's Republic 158). 84 Fergusons Kritik an der Parallelität von Linien- und Höhlengleichnis war teilweise von Jackson (a. a. O. 140) und J. L. Stocks (The Divided Line of Plato Republic VI, Class. Quarterly 5 (1911) 73-88, insbes. 86 f.) antizipiert worden. 85 Vgl. Adams Kommentar ad Remp. VII, 516 a, 517 a 7. 86 Ferguson I, 139- 141; Ferguson II, 208 f. 87 Ferguson I, 16, 21 - 25; Ferguson II, 207.

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den Zweck haben, ein Bildbewu tsein der Gefangenen zu verhindern, w hrend jemand, der Schatten oder Spiegelbilder von Dingen sieht, normalerweise wei , da er da Abbilder sieht. Um diesen Widerspruch zu beseitigen, nahmen die Erkl rer h chst k nstliche Deutungen in Kauf, deren Inkonsistenz Ferguson aufdeckte88. Auch bei der Diskussion dieses zweiten Problems war es wiederum Murphy, der die traditionelle Parallelismusthese gegen Fergusons Kritik zu verteidigen suchte. Er interpretierte das Liniendiagramm als blo e Vorbereitung des H hlengleichnisses und bezog dann die Wendung des Sokrates in 51738 (ταύτην . .. την εικόνα) auf Linien- und H hlengleichnis zusammen 89. Murphy nimmt also die fehlende Erw hnung der Linie an der Stelle 5173-0, auf die sich Ferguson bei seiner Kritik der Parallelismusthese berufen hatte, als ein Indiz f r die enge Zusammengeh rigkeit von Liniendiagramm und H hlengleichnis. Aber zugleich wurde Murphy auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die in der Folge das Hauptargument gegen die von ihm verteidigte Interpretation bilden sollte: im H hlengleichnis sind n mlich nach Sokrates eigener Deutung 532 a—d nur drei Grade der Einsicht allegorisch dargestellt: die άπαιδευσία der Gefangenen, dann die Losl sung von den Fesseln, der Aufstieg ins Freie bis zur Betrachtung der Schatten und Spiegelbilder der Oberwelt, die die Erziehung durch die mathematischen Wissenschaften darstellen, und schlie lich als sinnbildliche Darstellung der dialektischen Erkenntnis die Betrachtung der Dinge, der Gestirne und der Sonne selbst90. Da Murphy aber auf der Gegenstandsseite eine strenge Parallelit t zwischen der Szenerie des H hlengleichnisses und den vier Abschnitten der Linie gegeben sah91, kam er zu der Schlu folgerung, „that the distinctions made within the visible world (whether in the Cave or in the Line) are not made for their own sake, and cannot be interpreted at their face value" 92. Aber in seiner eigenen Deutung interpretierte Murphy diese Unterscheidungen nicht nur nicht „at their face value", sondern berhaupt nicht: er schlug vor, die - w rtlich verstandene - Eikasia der Linie als Bild der Doxa in der Hohle 88 Ferguson I, 141 f. 89 Vgl. Murphy I, 100: „The Line does no more than to prepare for the Cave by establishing governing ratios between the group of things we are going to find there in an allegorical setting" und ibid.: „The Line is an explanatory diagramm of the real things which are going to be dealt with in the allegory." Vgl. Murphy II, 213. 90 Murphy I, 95. 91 Murphy ibid, z hlt auf: „(I) Firelit images; (II) the puppets which are the immediate originals of these images; (III) the originals of the puppets outside the Cave first seen in shadow then reflected in water; ... (IV) these originals themselves." 92 Murphy I, 96 f.

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insgesamt zu verstehen 93, ohne erklären zu können, welche Funktion dann die Pistis besitzt. Es war Robinson, der als erster aus dieser Stelle (532 a-d) die Konsequenz zog, daß eine Parallelität von Liniendiagramm und Höhlengleichnis nicht besteht94. Die Vertreter der Parallelitätsthese in der Folgezeit gingen - mit einer einzigen Ausnahme - nicht auf das durch die Stelle 532 a-d gestellte Problem ein 95. Die Ausnahme ist Ross. Er versuchte, zwischen zwei inhaltlich verschiedenen Deutungen der Beziehung von Höhlengleichnis und Linie durch Platon zu unterscheiden, zwischen 517 a—b und 5323—d: an der ersten sollte Platon im „parallelistischen" Sinn interpretieren, an der zweiten nicht%. Die Inkonsequenz, die damit Platon in einer für das Verständnis seiner drei Bilder doch sehr wesentlichen Frage zugemutet wird, macht diesen Interpretationsvorschlag nicht eben überzeugend, zumal da Ross 517 a dabei in einer Weise verstehen will, für die Ferguson eine plausible Alternative vorgeschlagen hatte97. Wenn wir im Hinblick auf die Schwierigkeiten, denen sich eine erneute Interpretation der Stelle 506-517 konfrontiert sieht, das Fazit aus dieser 93

Vgl. Murphy , . 94 Robinson, Plato's Earlier Dialectic 184: „it follows quite inexorably that, according to this passage, either the prisoners' original state corresponds to both the lower states in the Line or one of the lower states in the Line has nothing corresponding to it at all in the Cave. That is something other than one-one correspondence of state to state". Vgl. a. Ferguson II, 203 Fußnote i (gegen die Parallelisierung der Gegenstände im Höhlengleichnis mit den Linienabschnitten). 95 Vgl. etwa Raven, Sun, Divided Line, and Cave 27 ff., Plato's Thought in the Making 172 ff.; Gould, Plato's Ethics 175 ff.; Hamlyn, Eikasia in Plato's Republic 19 ff.; Cross and Woozley, Plato's Republic 214 ff. Auch G. Patzig, der neuerdings in der deutschen Literatur die These einer Parallelität von Höhle und Linie vertreten hat (vgl. Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, a. a. O. 123 f.), geht auf das durch 532 a - d gestellte Problem nicht ein. 96 Ross, Plato's Theory of Ideas 74 f. 97 Ross versteht (wie die meisten Erklärer) die von abhängige Konstruktion in 5 i 7 b i - 4 so, daß hier die sichtbare Welt mit der Höhle und das Höhlenfeuer mit der Sonne analogisiert werden soll (Ross a. a. O. 71, 74). Ferguson hatte argumentiert, daß mit diesem Satz nicht eine Relation von Symbol zu Symbolisiertem gemeint sei, sondern ein Vergleich zwischen den beiden Bereichen von Höhle und Oberwelt innerhalb des Höhlengleichnisses selbst (Ferguson I, 140; Ferguson II, 208 f.). Ross" Einwand hiergegen war, daß in Fergusons Interpretation gesagt worden war: „The visible region, held together by sunlight, is compared and contrasted with a wretched place ..." (Ferguson I, 140; vgl. Ferguson II, 208 f.) und daß nicht die Bedeutung von ,to contrast* haben könne (Ross a. a. O. 73). Aber das scheint mir Beckmesserei. Ferguson hatte keine Übersetzung, sondern eine Umschreibung gegeben, und der Sache nach kann der Zweck eines Vergleiches ebensowohl die Herausstellung einer Ähnlichkeit wie die Verdeutlichung eines Kontrastes sein.

Die Funktion der drei Gleichnisse

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Diskussion ziehen, so ergibt sich im Fall der zuletzt behandelten Frage eine Entscheidung gegen die traditionelle These der Korrespondenz von Linienund Höhlengleichnis. Robinsons Argument scheint hier schlagend und bisher nicht widerlegt. Daraus folgt umgekehrt die Notwendigkeit, positiv zu bestimmen, in welchem Verhältnis das Höhlengleichnis zu den voraufgegangenen beiden Figuren steht. Dagegen führte die Diskussion der ersten Frage zu einem Kompromiß zwischen den beiden ursprünglichen Positionen. Hier wird zu prüfen sein, ob die untere Hälfte der Linie wirklich widerspruchsfrei jene doppelte Funktion erfüllen kann, die ihr dieser Kompromiß zumutet. Wir werden dabei jedoch ausgehen können von der Beobachtung mehrerer Erklärer, daß an der entscheidenden Stelle 51038-10 ausdrücklich auf die Diskussion am Ende des fünften Buches Bezug genommen wird.

g) Die Funktion der drei Gleichnisse in der Argumentation des sechsten und siebten Buches Bei einer Stelle, die wie die unsere ein Feld höchst kontroverser und oft spekulativer, am Text nicht zu belegender Deutungen ist, scheint es ratsam, den Ausgangspunkt der Interpretation so zu wählen, daß wir jedenfalls zu Beginn unserer Analyse auf einem Boden stehen, der nicht strittig ist. Daher soll hier vor der Einzelanalyse der drei Gleichnisse und ihrer wechselseitigen Beziehungen die Untersuchung der Frage stehen, welche Funktion dieser Textpassus als ganzer innerhalb der Argumentation des sechsten und siebten Buches hat. Auf welche Frage gibt er eine Antwort? Welches Problem soll er lösen? Bei dem Versuch einer Beantwortung dieser Frage ergibt sich zunächst ein befremdlicher Sachverhalt. Sokrates beginnt seine Gleichnisreden in der Absicht, auf die Frage, was das Gute ist ( ' $ 6 d8 -e i), an Stelle einer direkten eine analogische Antwort zu geben (vgl. 506 d-507a). Aber wenn wir die Gleichnisse durchlaufen haben, ist zugleich auf eine zweite Frage eine - ebenfalls bildliche - Antwort gegeben worden, auf die Frage nämlich, wie denn zu einer Erkenntnis des Guten zu gelangen sei. Diese Antwort wird im Verlauf des siebenten Buches übersetzt in das Programm einer Erziehung, in der die mathematischen Wissenschaften und die Dialektik eine Erkenntnis der Idee des Guten bewirken sollen (vgl. 532 a-d). Vom siebten Buch aus lesen sich die drei Gleichnisse als die metaphorischen Prolegomena eines Erziehungsprogramms, das durch

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die zentrale Stellung der mathematischen Wissenschaften charakterisiert ist. Allerdings ist diese Forderung einer zentralen Rolle der Mathematik mit einer Kritik des traditionellen Verständnisses dieser Wissenschaft verbunden (vgl. 522 0-525 a, insbesondere 523 a 1-3). Daß Sokrates von der - sinnbildlichen - Antwort auf die Frage nach dem Guten zur Antwort auf die Frage nach dem Weg zur Erkenntnis des Guten übergeht, findet seine Erklärung in den voraufgegangenen Argumentationen. Wir erinnern uns, daß die Frage nach dem Guten durch die beiden Brüder Adeimantos und Glaukon zu einem Thema der Untersuchung gemacht worden war (vgl. 506 b-d und oben 137 f.). Die argumentierenden Fragen des Sokrates zielten dagegen seit 503 e auf das Problem, wie die Philosophenkönige zur Erkenntnis der Idee des Guten kommen können (vgl. 5 0 4 C 9 ~ d 3 und 5 o 6 a 4 - b i ) . Die Frage des Adeimantos nach der Meinung des Sokrates über das Gute (506 b 2-4) führte, gemessen an die1· sem Hauptproblem, nur in einen Seitenweg der Untersuchung. Wenn Sokrates also innerhalb der drei Gleichnisse eine — sinnbildliche — Antwort auf die Frage nach der Erkenntnis des Guten gibt, so kehrt er damit nur zu dem Problem zurück, das vor der durch Adeimantos verursachten Digression des Gespräches das Ziel der Untersuchung war. Wo liegt aber genau der Punkt, an dem Sokrates von einer analogischen Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Guten zu einer bildlichen Antwort auf die Frage nach der Erkenntnis des Guten übergeht? Da das Sonnengleichnis ebenso eindeutig in den Bereich der Antwort auf die erste Frage gehört wie das Höhlengleichnis in den der zweiten, stellt sich die Frage nach dem Punkt des Überganges als die Frage, wohin das Liniengleichnis zu rechnen sei. Soll das Liniendiagramm Teil der bildlichen Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Guten oder nach dessen Erkenntnis sein? Wenn wir uns dabei zunächst nur am Aufbau des Textes orientieren, so ergeben sich gewichtige Argumente dafür, das Liniengleichnis auf die Seite des Höhlengleichnisses zu setzen: das Höhlengleichnis schließt unmittelbar an das Liniengleichnis an (die Zäsur des Bucheinschnittes ist ohne Belang, da sie von späteren Herausgebern stammen kann und in jedem Fall nur editionstechnischen Sinn hat), während sich zwischen Sonnen- und Liniengleichnis das Zwischenstück 509 c 5-11 schiebt, in dem Sokrates von Glaukon aufgefordert wird, die Analogie der Sonne ( 509 c 5-6) abermals durchzugehen, um etwa vorher Ubergangenes bei diesem zweiten Durchgang darzustellen. Gerade weil das Liniendiagramm zwar innerhalb des durch das Sonnengleichnis gesetzten Rahmens bleibt, die Analogie von Sonne und Idee des Guten aber erst wieder im Höhlengleich-

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nis benutzt wird (vgl. 516 b 9 - c 2 mit 517 b 7 - c i), ist es wahrscheinlich, daß das Liniendiagramm und die Allegorie der Höhle zusammen den zweiten, von Glaukon geforderten Durchgang durch die Analogie der Sonne bilden. Aber das alles sind zunächst nur Indizien; wir werden die Frage der Funktion der Linie bei der folgenden Interpretation noch einmal stellen müssen. Hier sei nur noch daran erinnert, daß eine Zusammengehörigkeit von Linien- und Höhlengleichnis nicht die Parallelität von Linie und Höhle impliziert. Gerade wenn man die beiden Figuren als Antworten auf dieselbe Frage zu lesen hätte, läßt sich ihr Verhältnis möglicherweise präziser bestimmen als mit dem Versuch, eine Parallelität von Linienabschnitten und Etappen des Aufstiegs aus der Höhle zu konstruieren.

h) Das Sonnengletchnis (507 c i - 509 c 4) Das Sonnengleichnis soll eine analogische Antwort auf die Frage geben „Was ist das Gute?"; es gibt diese Antwort, indem es die Funktionen der Sonne für das Sehen und den Bereich der sichtbaren Dinge als Analogie der Funktionen benutzt, die die Idee des Guten für das Denken ( ) und den Bereich des Denkbaren hat. Aber Sokrates beginnt nicht etwa mit einer Beschreibung der Funktionen der Sonne. Das Gleichnis ist vielmehr, wie Ferguson treffend charakterisiert hat, „a simile of search" 98. In der Tat zeigt sich die Kunst der sokratischen Gesprächsführung hier gerade in der epagogischen List, mit der Glaukon zunächst zu einer Art phänomenologischen Analyse des — Sehens genötigt wird, wobei es nicht ohne den leisen Spott des Sokrates über die Begriffsstutzigkeit seines Unterredners auf diesem Gebiet abgeht (vgl. etwa 507 e 4 und 508 a 4-8). Sokrates knüpft die Exposition seines Gleichnisses an die Bemerkung an, mit der die voraufgegangene kurze Erinnerung an die Differenz der vielen Dinge, auf die ein Begriff Anwendung findet, und der Einheit dieses Begriffes (der Idee) selber abgeschlossen worden war: „von jenen (sc. vielen Dingen) sagen wir, daß sie gesehen, aber nicht gedacht werden, von den Ideen, daß sie gedacht, aber nicht gesehen werden" (507 b 9-10). Auf diese Unterscheidung mit Hilfe des Gegensatzes ,gesehen werden / gedacht werden' kann sich Sokrates als auf etwas Bekanntes, eine übliche Redeweise ' Ferguson II, 191.

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berufen (vgl. 507 b 3,4, 9). Aus dieser gegensätzlichen Beziehung von Denken und Sehen gewinnt Sokrates nun dadurch eine analogische Beziehung, daß er das Sehen, das in der Redeweise, auf die Sokrates sich berufen hatte, Repräsentant sinnlicher Wahrnehmung überhaupt war, zu den anderen Sinnen in Opposition bringt. Er nimmt die Rede vom Sehen und Gesehenwerden wörtlich, fragt auf den Gesichtssinn ( ) zurück (507 c 1-2), läßt sich bestätigen, daß dieselbe Beziehung wie zwischen Gesicht und Gesehenem auch zwischen Gehör und Gehörtem und analog bei den anderen Sinnen ( ) besteht (507 c 3-5), um dann seinen Unterredner zu fragen, ob ihm aufgefallen ist, wodurch das Vermögen des Sehens und Gesehenwerdens ausgezeichnet sei (507 c 6-8). Darauf weiß Glaukon keine Antwort (507 c 9) und Sokrates wählt zur Erläuterung seiner Frage ein Gegenbeispiel: Gehör und Schall bedürfen, um zu hören bzw. gehört zu werden, keines Dritten (507010^3) und ebenso scheint es bei den anderen Sinnen (507 d 4); Glaukon weiß keine Gegeninstanz gegen die These, daß das Wahrnehmen nur vom Sinnesvermögen und von der aktuellen Gegebenheit wahrnehmbarer Objekte abhängt (507 d 5-7). Auch Sokrates' pointierte Gegenfrage, ob er nicht bemerke, daß es im Fall des Sehens und des Sichtbaren solch eines Dritten bedürfe (507 d 8-9), verhilft ihm nicht zur Einsicht in das gemeinte Phänomen, ebensowenig wie die folgende Verdeutlichung (507dn-e3). Sokrates muß die Antwort auf seine Frage selber geben: das Licht ist jenes Dritte, ohne das es nicht zum aktuellen Sehen kommt (507 e 4). Das „weiß" natürlich auch Glaukon - und darum ist Sokrates' provozierendes „du weißt doch" ( 507 e i) ganz berechtigt - nur ist er sich dessen nicht inne und muß an diese Bedingung des Sehens erst erinnert werden. Es könnte sein, daß Platon hier nicht einzig eine Begriffsstutzigkeit Glaukons darstellen, sondern in der Analyse des als Bild dienenden Bereichs der Sichtbarkeit und ihrer Bedingungen auf einen Zug hinweisen will, der ein Pendant auch im Bereich des Denkens und Erkennens hat: so wie die notwendige, außerhalb des Sehenden und des Sichtbaren liegende Bedingung der Sichtbarkeit, die das Licht ist, im Sehen gar nicht als Bedingung bewußt ist und erst durch eine eigene Reflexion eingeholt werden muß, so ist auch das Denken und Erkennen seiner Bedingungen zunächst nicht inne. Der nächste Frageschritt der Argumentation (508 a 4-6) fragt noch eine Stufe weiter zurück auf die Bedingung des Lichtes selber - wobei hier immer das Tageslicht gemeint ist. Der Witz dieser Frage liegt dabei in einem Wortspiel, mit dem Sokrates Glaukons Begriffsstutzigkeit ironisiert: hat

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man erst einmal bemerkt, da das Licht eine notwendige Bedingung f r aktuelles Sehen und aktuelles Gesehenwerden ist, dann ist die Frage nach der Ursache des Lichtes, der Sonne als „Lichtquelle", eigentlich trivial; dieser trivialen Frage wird nun von Sokrates der Schein einer wirklichen Frage, bei der man sich zwischen mehreren Alternativen entscheiden mu , dadurch verliehen, da er einen doppeldeutigen Ausdruck, das εν ούρανφ (a 4), verwendet: es kann sowohl ,am Himmel' wie ^innerhalb des Universums' hei en und ergibt zusammen mit der mythologischen Kost mierung der Frage jenen Doppelsinn, durch den der Schein einer Frage mit mehreren Alternativen erzeugt wird. Im Deutschen k nnte man diese Doppeldeutigkeit etwa durch die Formulierung nachbilden: „Welchen unter den G ttern des Himmels". Glaukons Reaktion in seiner Antwort (,508 a 7-8) zeigt, da ihm der ironische Spott der sokratischen Frage nicht entgangen ist: er verwahrt sich dagegen, da Sokrates diese Frage mit direkter Anrede (έχεις a 4) an ihn richtet, wo das doch jedermann (και συ ... και οί άλλοι a 7) wei , und wo die Antwort ohnehin trivial (vgl. δήλον a 7) ist. Wichtig ist also, da die Rede von den θεοί und von der Sonne als einem θεός nicht ernst gemeint, sondern durch die Absicht des Sokrates motiviert ist, eine Frage ironisch mit einem Doppelsinn auszustatten. Da wir es hier in der Tat mit einem Wortspiel zu tun haben, best tigt Sokrates selber indirekt zu Anfang des Liniengleichnisses (vgl. 509 d 2-4): dort sagt er in seiner Zusammenfassung des Vorhergehenden von der Sonne (die er allerdings explizit nicht nennt), da sie ber das όρατόν herrsche, und f gt im Hinblick auf diesen Ausdruck hinzu, da er damit den Ausdruck ουρανός vermeiden wolle, weil Glaukon in dessen Gebrauch ein gesuchtes Wortspiel sehen k nnte (509 d 3-4). Das ist eine deutliche Anspielung auf den ,pun* von 508 34". Bevor Sokrates vom Bereich des Sehens und des Sichtbaren bergeht zum Illustrandum, analysiert er zun chst noch das Verh ltnis von Sehen und Sonne (508 a 9 -b 10). Er l t sich als erstes von Glaukon best tigen, da weder das Sehverm gen (δψις) noch das Organ dieses Verm gens, das Auge, die Sonne ist (508 a n -b 2) - eine angesichts der Evidenz dessen, wonach gefragt wird, fast absurd scheinende Frage. Aber die Herausstellung der 99

Die Erkl rer haben allerdings in der Bemerkung 509 d 3 - 4 eine Anspielung auf Grat. 396 b sehen wollen (vgl. Adam ad loc.; Shorey, Plato's Republic II, 108). Aber es scheint sehr unwahrscheinlich, da Sokrates sich hier auf eine der gek nstelten Etymologien des Kratylos bezieht; daf r gibt es auch gar kein Motiv im Gespr disgang selbst. Dagegen wird diese Bemerkung sofort zwanglos verstehbar, wenn wir sie auf das σοφίζεσθαι περί το δνομα in 508 a 4 zur ckbeziehen.

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Differenz von Sehvermögen ( ) resp. Auge und Sonne ist nur die Folie für die Aufdeckung einer spekulativen Beziehung zwischen ihnen. Zunächst (508 b 3-4) wird das Auge - mit einem Neologismus Platons - als das „sonnenhafteste" der Sinnesorgane bezeichnet; das ist eine Vorstellung, die in der griechischen Literatur auch an anderen Stellen zu finden ist, die aber vor allem durch diese Platons teile auf die europäische Literatur weitergewirkt hat 10°. An zwei strukturellen Zügen läßt sich eine Ähnlichkeit von Auge und Sonne sofort illustrieren: die Reichweite des Auges ist prinzipiell ebenso unbegrenzt wie die des Lichtes - im Gegensatz zur Beschränktheit des anderen Fernsinnes, des Gehörs, und ebenso wie das Licht nur in Bahnen fallen kann, ist auch das Sehen nur in geradlinig fortlaufender Richtung möglich, eine Beschränkung, der umgekehrt der Gehörsinn wiederum nicht unterliegt. Die folgende Frage an Glaukon (508 b 6-7), deren phänomenaler Sinn nicht ganz klar ist, will offenbar noch einmal an die Sonne als Bedingung des aktuellen Sehens erinnern101. Aber zur eigentlichen Pointe seiner letzten Frageschritte kommt Sokrates nun mit der anschließenden Frage (508 b 9-10), die auf einen in der Tat spekulativen Zug im Verhältnis von Sonne und Sehvermögen hinweist: obwohl die Sonne nicht das Sehvermögen ( ) ist, sondern davon als Bedingung unterschieden ist, wird sie doch selbst von der Sehkraft gesehen. Sie ist keine Bedingung, die dem, wofür sie Bedingung ist, uneinholbar vorausliegt, sondern sie kann selbst noch Gegenstand jener Akte werden, deren Bedingung sie ist. Das ist in der Tat von fundamentaler Wichtigkeit angesichts dessen, wofür Sokrates hier eine Analogie aufbaut. In den Bereich des und der übersetzt, heißt das doch, daß die Bedingung, die das aktuelle Denken des Denkbaren ermöglicht, auch selber dem Denken noch zugänglich ist. Innerhalb der drei Gleichnisse hat Sokrates hier das Fundament gelegt für die Frage, wie die Idee des Guten zu erkennen ist; denn diese Frage setzt voraus, daß die Idee des Guten erkannt werden kann. Die Heraushebung dieses Zuges im Sonnengleichnis ist von einer Bedeutung, die über den Kontext der ,Politeia' hinausreicht: sie macht nämlich den rationalen Charakter der platonischen Philosophie in einem Zusammenhang deutlich, auf den sich gerade die irrationalen und mystischen Platoninterpretationen seit den Neuplatonikern berufen haben. Es ist charakteristisch, 100 Die einschlägigen Stellen sind bei den Erklärern aufgeführt: Adam ad loc. und Shorey, Plato's Republic II, f. 101 jDynamis' meint hier also nicht das Sehvermögen überhaupt, sondern die Möglichkeit aktueller Sehwahrnehmung. Vgl. a. Adam ad loc.

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da in der christlichen Platonrezeption gerade dieses Moment der Sichtbarkeit der Lichtquelle selber eliminiert wird102. Mit diesem Hinweis auf die Sichtbarkeit der Lichtquelle hat Sokrates das Vokabular seines ersten Gleichnisses beisammen und bersetzt nun im n chsten Schritt der Argumentation (der diesmal keine Frage an Glaukon ist) die Elemente der Bildseite in die des Illustrandum: so wie das Gute sich im Bereich des Intelligiblen zum νους und zu den νοούμενα verh lt, so verh lt sich die Sonne im Bereich der Sichtbarkeit zum Verm gen des Sehens und zum Gesehenen (508 b 12-02). Die Selbigkeit der Verh ltnisbeziehung zwischen Idee des Guten und νους/νοούμενα auf der einen sowie Sonne und δψις/όρώμενα auf der ndern Seite ist also die Selbigkeit einer Funktion, die der Aktualisierung eines Verm gens103. Die Differenz zwischen Sonne und Idee des Guten wird durch die verschiedenen Bereiche, in denen sie wirksam sind, gesetzt: durch den νοητός τόπος und den ορατός τόπος (^o8c 1-2). F r Glaukon kommt diese analogische Beschreibung des Guten, die diesem die Funktion einer Aktualisierung zuweist, ganz unerwartet: seine R ckfrage und die Bitte um weitere Aufkl rung (508 c 3) signalisieren dem Leser seine berraschung. Die Verwunderung Glaukons wird aber verst ndlich auf dem Hintergrund des Sinnes, den f r ihn wie f r Adeimantos die Frage nach dem Guten hat; weil er auf diese Frage die Angabe eines Gutes als Antwort erwartet, von etwas also, was Ziel von Handlungen ist, ist die Antwort, das Gute sei Bedingung von Erkenntnis, f r ihn notwendigerweise h chst befremdlich. Sokrates geht auf Glaukons Frage und Bitte hin zun chst noch einmal auf die Ebene der Illustration zur ck: er macht darauf aufmerksam, da im Bereich der Sichtbarkeit, im τόπος ορατός, die Privation des Sonnenlichtes den Schein einer Privation des Sehverm gens erzeugen kann (508 c 4—7), wie umgekehrt die Pr senz des Lichtes den Schein erzeugt, da nun erst die Sehkraft den Augen einwohnt (508 d 1-2): wer beim Schein von νυκτερινά φέγγη sich zurechtfinden mu 104, gleicht in der Tat einem Blinden; der Gesichtssinn als Fernsinn geht ihm ab und die Unterscheidung von Farben z.B. ist eingeschr nkt. Nun ist dieser Schein im Ph nomenbereich des Se102

Vgl. H. Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit, Studium Generale 10 (1957) 440. 103 Zur Bestimmung von νους als Verm gen und zu den Bedeutungen dieses Wortes bei Platon vgl. meine Rezension von G. J ger, „Nus" in Platons Dialogen, Philosophische Rundschau 17 (1970) 266 - 274, zum Sonnengleichnis vgl. insbesondere 270 - 272. 104 Zum Ausdruck νυκτερινά φέγγη vgl. Ferguson II, 194 Anm. f. und die dort erw hnte Stelle bei Aeneas Tacticus.

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hens ein blo er und von jedermann schnell durchschauter Schein. Die eigentliche Funktion dieser Analogie erhellt erst aus der Analogisierung mit dem νοητός τόπος (508 d 4-9), genauer aus der Analogisierung von verdunkelter Nachtwelt und dem Bereich des Werdens und Vergehens (508 d 6-7): dem Schein des Mangels der Sehkraft dort entspricht hier der Schein des Mangels des νους (vgl. 508 c 6-7 mit d 8-9). In dieser Parallelisierung ist zuv rderst ein Punkt von eminenter Wichtigkeit: jene Unterscheidung von Meinung und Wissen als verschiedener Verm gen, denen unterschiedene Seinsbereiche korrespondieren, wie sie von Glaukon gegen Ende des f nften Buches (vgl. V, 477-478) vorgenommen worden war, ist hier expressis verbis von Sokrates revidiert; das Meinen (δοξάζειν) ist nicht Bet tigung eines Verm gens der Meinung, sondern privativer Zustand des Verm gens ,νοΰς': das άμβλυώττειν der Augen, denen das Sonnenlicht fehlt, wird zur Analogie des δοξάζειν (vgl. 508 c 6 mit d 8). Wir werden beachten m ssen, ob Glaukon, der dieser analogischen Beschreibung des Meinens seine Zustimmung gibt (508 d 10), sich ber die Konsequenzen seiner Antwort im klaren ist. Da hier mit dem Bild der scheinbaren Blindheit f r die Doxa eine Meinung ber die Doxa wie ber die Denkf higkeit korrigiert wird, zeigt der Gebrauch der Metapher der Blindheit in 506 c 7-10, wo Adeimantos keinen Unterschied sehen will zwischen „Blinden, die ihren Weg richtig treffen, und Menschen, die ohne Verstand (άνευ νου) etwas Wahres meinen" (vgl. auch 4 8 4 c 6 - d 6 ) . Sokrates' Analogie in 508 c-d illustriert n mlich gerade, da die Doxa nicht als ein Fehlen des νους, sondern als dessen mangelhafte Anwendung zu verstehen ist und da der Grund dieser mangelhaften Anwendung im Fehlen einer Aktualisierungsbedingung des νους liegt. Diese Bestimmung des νους als eines Verm gens, dessen Aktualisierung an bestimmte Bedingungen gebunden ist, ist umgekehrt aber die Voraussetzung daf r, da berhaupt ein Programm aufkl render Paideia entworfen werden kann; mit diesem Gedanken, da es nicht von Natur gegebene verschiedene Grade von Vern nftigkeit, sondern nur Grade des richtigen Gebrauchs der Vernunft gibt, hat Platon zum ersten Mal die Grundvoraussetzung aller Aufkl rung formuliert. Zugleich mit der Revision der Unterscheidung von Doxa und Episteme als Verm gen wird aber auch die entsprechende Unterscheidung verschiedener, sich wechselweise ausschlie ender Seinsbereiche, die den „Verm gen" Doxa und Episteme korrespondieren sollten, durch die Analogisierung von verdunkelter Nachtwelt und Bereich der verg nglichen Dinge zur ckgenommen. Die Pointe dieser Analogie liegt gerade darin, da der τόπος νοητός

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nicht ein mundus intelligibilis jenseits der erscheinenden Erfahrungswelt ist, sondern da diese zum τόπος νοητός hinzugeh rt: das Entstehende und Vergehende ist der τόπος νοητός in statu privationis. Wieso ist dieser nochmalige R ckgang auf die Sph re der Illustration und die Aufdeckung einer weiteren Parallele zwischen Sehen und Denken nun aber eine Erf llung der Bitte Glaukons von 508 c 3? Was kann Sokrates nach diesen Ausf hrungen, in denen von der Idee des Guten gar nicht die Rede war, jetzt ber die Idee des Guten Pr ziseres sagen? Er kann offenbar auf dem Hintergrund der privativen Bestimmung von Doxa einerseits und dem Bereich der sinnlich erscheinenden Dinge andererseits die Funktion des Guten, die er oben bereits implizit als die der Aktualisierung eines Verm gens beschrieben hatte, pr ziser bestimmen; genauer gesagt: dieser Hintergrund privativer Bestimmungen gibt der abermaligen Beschreibung der Idee des Guten 508 e i - 509 a 5 einen pr ziseren Sinn. Die Aktualisierung, die die Idee des Guten in Analogie zur Sonne leistet, wird n mlich jetzt verst ndlich als die Aktualisierung nicht des Verm gens berhaupt - denn auch in der nur vom Schein der νυκτερινά φέγγη erleuchteten Nachtwelt ist ein Sehen m glich -, sondern als die Aktualisierung der Ausbung eines Verm gens in statu perfectionis105. Die Unterscheidung eines status privationis und eines status perfectionis im Bereich des Sehens wie in dem des Denkens erlaubt aber Sokrates noch eine andere Differenzierung, die Unterscheidung der νοούμενα von den γιγνωσκόμενα. W hrend die νοούμενα, das Gedachte, den δρώμενα (den Farben n mlich vgL 508 c 5) korrespondieren (vgl. 508 c i—2) — und zu den δρώμενα geh rt auch, was nur vom Schein der νυκτερινά φέγγη erhellt wird -, sind die γιγνωσκόμενα die νοούμενα in statu perfectionis: sie entsprechen den im Sonnenlicht sichtbaren Farben. Von 508 e i bis zum Ende des Sonnengleichnisses wird nicht mehr vom νοεΐν und von den νοούμενα geredet, sondern vom γιγνώσκειν und den γιγνωσκόμενα. Sokrates gibt seine erneute analogische Beschreibung des Guten (508 e i - 509 a 5) - wie die beiden voraufgegangenen und die noch folgende Analogie durch ein τοίνυν eingeleitet (508 e i, vgl. b 12, d 4, 509 b 6) - unmittelbar im Anschlu an die vorauf gegangene Analogie: diese hat nur erl uternde Funktion f r das Folgende. Die Idee des Guten verleiht dem Erkannten Wahrheit und dem Erkennenden die δύναμις (e 1-3) - die vorhergehende Erl uterung macht den Sinn von δύναμις hinreichend klar: nicht i°5 Dieses Moment der Aktualisierung einer Perfektion hat insbesondere Ferguson herausgearbeitet (vgl. Ferguson II, 194 f.)· Allerdings untersucht Ferguson nicht die Funktion der verschiedenen Analogien innerhalb der Argumentation mit Glaukon.

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das blo e Verm gen ist gemeint, sondern das zur Perfektion aktualisierte Verm gen106. Der n chste Satz nennt dann die Idee des Guten ausdr cklich die Ursache (αίτια) der Episteme und der Wahrheit, wobei die Wahrheit noch n her bestimmt wird durch ein ως γιγνωσκομένης - „insofern sie erkannt wird" (508 e 4)107. Wenn Sokrates dann im Folgenden επιστήμη einmal (508 e 5) durch γνώσις (Erkenntnis) ersetzt, so ist das m glicherweise ein Hinweis darauf, da der νους in zweierlei Sinn einen status perfectionis kennt: sowohl in der Disposition des Wissens wie im Akt des Erkennens im Unterschied zur δψις, die ihre perfectio nur im aktuellen Sehen bei Sonnenlicht hat, nicht in einem Gesehenhahen. Aber der Punkt, auf den Sokrates in dieser analogischen Beschreibung der Idee des Guten hinaus will, ist die Differenz von Episteme und Aletheia einerseits und Idee des Guten andererseits, eine Differenz, deren analogische Parallele auf der Bildseite 508 a n -b n entwickelt worden war: auf diese Bemerkung nimmt Sokrates Bezug, wenn er sagt, da man, wie man Licht und Sehkraft zwar f r sonnenhaft, aber nicht f r die Sonne, so auch Wissen und Wahrheit nicht f r ,gut', wohl aber f r ,guthaft' (άγαϋοειδή) halten d rfe; die έξις des Guten sei noch h her einzusch tzen (508 e 6 509 a 5)10". Der Zweck dieser Betonung der Unterschiedenheit des Guten von Wissen und Wahrheit ist es, Glaukon, der hier direkt angesprochen wird (vgl. ορθώς ήγήσχι 508 e 6), von dem Mi verst ndnis einer Identifikation des Guten mit einer έξις des Erkennenden oder des Erkannten abzuhalten. Das ist eine notwendige Warnung angesichts jenes vergegenst ndlichenden Verst ndnisses des Guten als eines h chsten Gutes, das Sokrates bei seinem Gespr chspartner voraussetzen kann. Da Glaukon sich aber von genau dieser vergegenst ndlichenden Vorstellung des Guten nicht gel st hat und ihm deshalb der Sinn der sokratischen Analogie, die die Idee des Guten als Bedingung 106 Vgl. a. Adam ad loc. So die Handschriften, denen sich die meisten Herausgeber angeschlossen haben; Adam will in γιγνωσκομένην emendieren; vgl. dazu in seinem Kommentar den App. IX zu Buch VI. (Bd. II, 83 f.). Der Einwand Adams: „Nor is there any point, so far as I can discover, in saying that the Idea of the Good is the cause of truth so far as truth is known. The Idea of the Good is the cause of all Truth, known and unknown" (a. a. O. 83) scheint mir nicht durchschlagend. Es erscheint doch viel problematischer, von einer Ursache der Wahrheit berhaupt zu reden als von einer Ursache des Wissens der Wahrheit. 108 Auff llig ist das Fehlen des Artikels in 509 a 3; der Sinn des Satzes ist also nicht nur eine Leugnung der Identit t von Idee des Guten und Wissen resp. Wahrheit, sondern die Behauptung, da man den Ausdruck ,gut' nicht dem Wissen oder der Wahrheit zusprechen kann.

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von Wissen aufweisen will, verschlossen bleibt, zeigt nun seine Reaktion auf die Explikationen des Sokrates (509 a 6-8). Das zweimalige λέγεις (a 6,8) ist ein erstes Indiz daf r, da Glaukon hier nur Thesen des Sokrates h rt, nicht aber jenen Sachzusammenhang versteht, den Sokrates analogisch zu beschreiben sucht. Die Bemerkung, da Sokrates hier von einer „unvorstellbaren Sch nheit" (άμήχανον κάλλος a 6) redet, klingt eher ironisch. Vollends aber macht die Nachfrage (a 7-8) deutlich, von welchem Vorverst ndnis aus Glaukon den spekulativen Analogien des Sokrates folgt. Wenn er sich erkundigt: „Denn f r die ηδονή h ltst du jedenfalls es (das Gute) doch wohl nicht?" 1C9, so zeigt er, da sich die voraufgegangene Darlegung des Sokrates f r ihn darin res mierte, da das Gute jedenfalls nicht das Wissen, die Episteme, ist. Glaukon ist im Horizont jener Frage befangen, die sein Bruder 506 b 2-4 an Sokrates gerichtet hatte. Ihn interessiert, ob das Gute das Wissen oder das Vergn gen oder ein Drittes neben diesen (παρά ταϋτα jo6 b 3-4) ist da Sokrates' Metaphern das Gute gerade ber die G ter setzen, da sie einen kategorialen Unterschied zwischen G tern und Idee des Guten machen wollen, ist ihm nicht zu Bewu tsein gekommen. Es ist f r das Verst ndnis der folgenden vierten Analogie von entscheidender Wichtigkeit, sich die Tatsache und den Inhalt von Glaukons Mi verst ndnis vergegenw rtigt zu haben, denn diese letzte Analogie des Sonnengleichnisses ist ein abermaliger Versuch des Sokrates, Glaukons Verst ndnis des Guten zu korrigieren und ihm die kategoriale Differenz vor Augen zu f hren, die zwischen dem Guten als der Idee des Guten und den G tern besteht. Schon die Einf hrung dieser Analogie (509 a 9-10) macht deutlich, da ihre Funktion die einer Verst ndnishilfe ist: mit einer analogen Formel hatte Sokrates 507 c ίο ('Αλλ' ώδε σκοπεί) jene Aufweisungen eingef hrt, die dort Glaukon die von ihm nicht sofort bemerkte Auszeichnung des Gesichtssinnes vor den anderen Sinnen verdeutlichen sollten. Die neue Analogie (509 b 2-4), die Sokrates verwendet, berschreitet den als Bildbereich gew hlten Bezirk der Sichtbarkeit, in dem die Sonne in ihrer Funktion als Ursache aktuellen Sehens von Bedeutung war, und benutzt die Funktion der Sonne als Ursache biologischer Ph nomene (γένεσις, αύξή, τροφή 509 b 3-4). Liegt in dieser Ausweitung des Bereichs, aus dem Sokrates jetzt seine Analogie bezieht, eine Differenz zum Vorhergehenden, so ist doch die Intention dieses Vergleiches identisch mit der der vorangegangenen Analogie: beide Male soll die Differenz des Guten von dem durch es Erm glichten illustriert werden: ου γένεσιν αυτόν οντά (509 b 4) lst 109 Vgl. hierzu die Anmerkung von Apelt in seiner

bersetzung 500.

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Schlu und Pointe dieser erneuten Beschreibung der Sonne und ihrer Funktionen. Die Applikation dieser Analogie in den Zeilen 509 b 6-10 ist nun zu einer Quelle der theologisierenden Platondeutungen von den Neuplatonikern bis in die Gegenwart geworden no. Dabei ist die theologisierende Interpretation dieser Stelle nur eine Spielart einer Auffassung, die aus diesen Zeilen eine Aussage ber die Transzendenz des Guten herauslesen will der Begriff des έπέκεινα, mit dem Platon hier das Verh ltnis des Guten zur ουσία beschreibt (509 b 9), ist geradezu der begriffsgeschichtliche Vorl ufer des Transzendenzbegriffes geworden. Dies Verst ndnis der Wendung έπέκεινα της ουσίας ist aber abh ngig von einer Auffassung des Ausdrucks ουσία, die hier problematisch scheint. Er wird n mlich verstanden als ,Sein', nicht als ,Wesen'1U. Beide Ausdr cke sind nicht quivalent: ,Sein' bezeichnet die Gesamtheit des Seienden, wobei unter dem Titel des Seienden jeweils verschiedene Dinge befa t sein m gen. ,Sein* wird von einer Gesamtheit pr diziert, wie ,Welt' (im absoluten Sinn) oder ,Universum'; es fungiert wie ein Eigenname. ,Wesen* dagegen kann gar nicht in absolutem Sinn gebraucht werden, es ist immer ,Wesen von ...'. Untersuchen wir den Gebrauch dieses Ausdrucks in den platonischen Schriften, so zeigt sich, da ουσία in beiderlei Sinn verwendet wird. So wird etwa im ,Sophistes' von der Gigantomachie zwischen Materialisten und Ideenfreunden wegen des Streits ber das Sein (ουσία) gesprochen: die ersten wollen nur k rperliche Dinge, die ndern nur die ασώματα είδη als ουσία anerkennen (Soph. 24j a-c). Umgekehrt hat ουσία an Stellen, wo es 110 Vgl. Plotin, Enn. VI, 7 und 9; Proklos, In Remp. ed. Kroll I, 287, 16 f. und Theol. Platon. lib. I, cap. 17. Die theologische Interpretation der Neuplatoniker wurde dann von Augustinus f r die christliche Platonrezeption kanonisiert vgl. De Civ. Dei (ed. Em. Hoffmann CSEL 40,1 368): Ipsum autem verum ac summum bonum Plato dicit Deum. - So noch Zeller, Philos. d. Griechen II, i 710 ff. Unter den neueren Interpreten haben Apelt (vgl. Platon, Der Staat, ^oo) und G. Kr ger (vgl. seine (Einf hrung* in Platon, Der Staat (Z rich 1950) 36) an einem theologischen Verst ndnis des Agathon der ,Politeia' festgehalten. 111 Auch hier haben wir es mit einer neuplatonischen Umdeutung zu tun; Proklos macht aus dem έπέκεινα της ουσίας ein έπέκεινα του δντος (In Remp. ed. Kroll I, 278, 12 f. Vgl. 277, 24 - 27). Noch Friedl nder wiederholt diese Formel des Proklos, wenn er vom „Sein jenseits des Seins" spricht (Platon III, 105). Schleiermacher bersetzt die platonische Wendung mit „jenseits des Seins" (analog. O. Apelt: „ ber das Sein"). Shorey verteidigt in seiner Ausgabe der ,Politeia' (vol. II, 106 f.) ausdr cklich die Interpretation des Proklos auf Grund der Wendung το είναι τε και την ούοίαν (5(^7-8). Vgl. dagegen 5i8c$-di. Adam ad loc. meint gegen den klaren Wortlaut des Textes, da das Gute „in a higher sense ... is the only true ουσία".

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mit einem Genitiv konstruiert ist, die Bedeutung ,Wesen' (vgl. Pol. II, 359 a 5, Phaedr. 237 c 3, 245 e 3, 270 e 3-4, Euthyph. n a 6-8). Damit ist f r unsere Stelle jedenfalls soviel deutlich, da man sich nicht ohne Gr nde f r eine der beiden Bedeutungen von ουσία entscheiden kann. Da ουσία an der Stelle 509 b 6-10 ,Wesen' meint, wird aber daran deutlich, da dieser Ausdruck bei seinem ersten Vorkommen (509 b 8) in einem attributiven Gebrauch erscheint: als ουσία n mlich, die erst durch das Gute den γιγνωσκόμενα zukommt. Die ουσία, von der hier also die Rede ist, ist die ουσία der γιγνωσκόμενα, das Wesen des je Erkannten. Nun w rde aber die Gegen berstellung, auf der die Stelle 509 b 2-10 aufgebaut ist, ihre ganze Pointe verlieren, wenn ουσία beim zweiten und dritten Vorkommen (509 b 8, 9) nicht auch , Wesen* hie e. Eine quivokation, ein bergang zu einer anderen Bedeutung, n mlich zu der von ,Seinl, w rde die Analogie, die auf der Einsinnigkeit von γένεσις in 509 b 3-4 ebenso beruht wie auf der von ουσία in 509 b 8-9, gewisserma en leerlaufen lassen. Den Sinn von Sokrates' Worten i n ^ o g b -io k nnen wir demnach so umschreiben: Das Gute ist die Ursache f r das Wesen der γιγνωσκόμενα, ohne doch selber Wesen zu sein. Hier k nnen wir nun wieder an die oben durchgef hrten Analysen des Ausdrucks ,gut' ankn pfen. Dort war gezeigt worden, da der Ausdruck ,gut' nicht als analytisches Pr dikat fungieren kann. Den Grund daf r fanden wir in der Logik dieses Ausdrucks, genauer darin, da ,gut' gar keine inhaltlich bestimmte Bedeutung hat, sondern als Ausschlu begriff fungiert (vgl. o. 146). Wenn Sokrates sagt, da das αγαθόν kein Wesen ist, so l t sich das auf Grund unserer Analysen von ,gut' sachlich verst ndlich machen. Da ,gut' nicht im Ausdruck der Wesensbestimmung von etwas fungieren kann, ist nun allerdings kein Spezifikum dieses Ausdrucks; auch f r andere Ausschlu begriffe trifft dies zu. Die Auszeichnung, die dem αγαθόν zugesprochen wird, liegt darum auch nicht in der Bes mmung, nicht Wesen zu sein, sondern darin, Grund f r das Sein und Wesen und Erkanntwerden der γιγνωσκόμενα zu sein, obwohl es nicht Wesen ist: diese Auszeichnung wird von Sokrates dadurch unterstrichen, da er die blo negative Feststellung, das Gute sei nicht ουσία, durch den Nachsatz αλλ' έτι ... υπερέχοντος (b 9-10) erg nzt - ein Satzglied, dem in der Parallelstelle 509 b 2-4 nichts entspricht. K nnen wir die Aussage des Sokrates, das αγαθόν sei nicht ουσία, in der angegebenen Weise aus der Logik von ,gut' erkl ren, so wird die Funktion, die Sokrates dem Guten als Prinzip des Erkanntwerdens (γιγνώσκεσθαι) und des Seins und Wesens (το είναι τε και την ούσίαν 5O9b7~8) der

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γιγνωσκόμενα gibt, aus der Funktion erkl rbar, die das Gute bei der Aufdeckung ideativer Begriffe hat. Den γιγνωσκόμενα entsprechen auf der Seite des Illustrationsbereiches die Farben bei Tageslicht (vgl. 508 c 4-5). Erst im Licht des Tages gewinnen Farben bekanntlich ihre Eindeutigkeit und Bestimmtheit - im Schein von Lampen und Fackeln bleiben sie unbestimmt und undeutlich. Diese Eindeutigkeit der Farben im Licht der Sonne fungiert als Bild f r die Eindeutigkeit der ideativen Begriffe im Gegensatz zur Unbestimmtheit ihrer empirischen Realisierungen. Die ideativen Begriffe, die Grundbegriffe der exakten Wissenschaften, k nnen als ideative Begriffe erkannt werden, weil der Begriff eines m glichst Guten, zu dem kein Besseres mehr denkbar ist, wo immer dieser Begriff Sinn hat, als jeweiliges inhaltliches Pendant einen solchen ideativen Begriff impliziert. Das Gute „gew hrt" aber, wie Sokrates sagt, den γιγνωσκόμενα nicht nur ihr Erkanntwerden, sondern auch ihr Sein und Wesen. Damit kann, so scheint mir, nichts anderes gemeint sein, als da die ideativen Begriffe gar kein Sein und Wesen au erhalb ihrer Funktion als Grenzbegriffe, als inhaltliche Erf llungen von vollkommen Gutem haben: das f r eine gleichf rmige Fortbewegung am besten geeignete Rad w re das vollkommen runde (kreisrunde) Rad, die f r eine Verschiebung von Lasten beste Fl che w re eine vollkommen ebene Fl che. Auf Grund unserer vorausgegangenen Kl rung der Logik von ,gut' und der Funktion, die der Begriff des Guten bei der Aufdeckung ideativer Begriffe hat, l t sich die Stelle 509 b 6-10 als eine wissenschaftstheoretische Aussage ber die Funktion und Begr ndung ideativer Begriffe verstehen; die Hartn ckigkeit, mit der auch neuere Platoninterpreten in diese Stelle eine theologisierende Metaphysik hineinlesen, f r die ein sachliches Motiv aus dem Gespr chsgang ohnehin nicht beizubringen ist, beweist nur die undurchschaute Macht der neuplatonischen Interpretationsmodelle. Wenn wir wieder zum Text zur ckgehen und fragen, ob dieser erneute Versuch des Sokrates, seinem Gespr chspartner den kategorialen Unterschied von Idee des Guten und G tern einsichtig zu machen, gelungen ist, so zeigt sich schnell das Scheitern auch dieser letzten Bem hung des Sokrates. Glaukon, der sein Unverst ndnis schon 509 a 6-8 nicht mehr durch eine R ckfrage (wie etwa noch 508 c 3) signalisiert, sondern eine ironische Bewunderung ausgesprochen hatte, wiederholt seine Reaktion hier nur in verst rkter Form. Sein Ausruf (509 c 1-2) maskiert sein mangelndes Verst ndnis durch den Spott eines ironischen Erstaunens. Sokrates' Replik (509 c 3-4) antwortet daher auch gar nicht auf die ironische Verwunderung Glaukons, sondern auf das, was sie in Wahrheit ausdr ckt: Glaukons Un-

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mut n mlich, da ihm hier trotz all der aufgebotenen Bilder nicht deutlich geworden ist, was Sokrates denn nun ber das Gute hat sagen wollen. Sokrates' Replik antwortet auf einen Vorwurf, indem sie diesen zur ckgibt (συ γαρ .. . αίτιος 509 c 3). Die Schuld daran, da Glaukon hier nur Unverst ndliches geh rt hat, tr gt er selbst, weil er Sokrates gezwungen hat, seine Meinungen (vgl. τα έμοί δοκοΰντα c 3) ber das Gute vorzubringen. So endet also das Sonnengleichnis mit einer v lligen Dissoziierung des Verst ndnisses der beiden Gespr chspartner, nicht in einer Homologie, weder der einer gemeinsamen Erkenntnis noch der einer gemeinsamen Aporie. Es scheint, da wir uns nach dieser Replik des Sokrates eine Pause denken m ssen, ein Schweigen des Sokrates, das erst die Aufforderung Glaukons, doch nicht einzuhalten (μηδαμώς ... παύση 509 c^), unterbricht; diese Bemerkung Glaukons w re eigentlich nicht verst ndlich, wenn sie unmittelbar auf Sokrates' Worte von 509 c 3-4 folgen w rde. Das, wozu Glaukon inhaltlich auffordert, ist eine abermalige Durchnahme des Sonnengleichnisses (την περί τον ηλιον ομοιότητα 509 c 5-6), „wenn irgend etwas ausgelassen worden ist" (ει πη απολείπεις 509 c 6). Glaukon erhofft sich also offenbar ein besseres Verst ndnis, wenn Sokrates nur noch mehr „Material" ausbreitet (vgl. auch 509 c 8). Ihm kommt es nicht in den Sinn, da der eigentliche Grund f r die Unverst ndlichkeit der spekulativen Bilder, mit denen Sokrates die Idee des Guten analogisch zu beschreiben sucht, in seinem vergegenst ndlichten Vorverst ndnis des Guten liegt.

i) Das Liniengleichnis (509 d i —511 e 5) Das Gleichnis der Linie wird von Ferguson als das f nfte in einer Reihe von Analogien interpretiert112, die im Sonnengleichnis beginnt. Gegen diese unmittelbare Anreihung der Illustration des Liniendiagramms an die Analogien des Sonnengleichnisses scheinen mir jedoch gewichtige Gr nde zu sprechen. Zun chst der ganz u erliche des Umfanges: das Liniengleichnis ist fast doppelt so lang wie die vier voraufgehenden Analogien zusammengenommen. Weiterhin ist es durch die Z sur des Zwischenst ckes 509 c 5-11 und die diesem Zwischenst ck m glicherweise vorausgehende Pause deutlich vom Voraufgehenden abgesetzt. Das Liniengleichnis ist jener erneute Durchgang durch das im Sonnengleichnis Gesagte, um den Glaukon 509 c 5-6 gebeten hatte, nicht aber 112 Ferguson II, 195: „The Line is the fifth of a series of analogiae involving the causal action of the sun."

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die Fortsetzung des Sonnengleichnisses auf derselben Ebene. Sokrates weist hier nicht, wie bei den voraufgegangenen Analogien, auf eine unmittelbar einsichtige Funktion der Sonne hin, sondern konstruiert eine Illustrationshilfe, eben die viergeteilte Linie. Dennoch ist das Liniengleichnis nicht vom Sonnengleichnis g nzlich abgetrennt: es ist ein abermaliger Durchgang durch das im Sonnengleichnis Gesagte: Sokrates erinnert vor Beginn der Linienillustration noch einmal an das Grundmodell des voraufgegangenen Gleichnisses, an die analoge Funktion, die die Sonne und die Idee des Guten resp. f r den Bereich der Sichtbarkeit und den der Denkbarkeit haben (vgl. 509 d 1-3 mit 508 b 14- c 2). Diese Erinnerung soll zun chst nur dem Glaukon die beiden Bereiche des όρατόν und νοητόν vergegenw rtigen (509 c 4). Aber gerade weil das Liniendiagramm selbst nur die Funktion einer Illustration, nicht die einer Analogie hat, werden wir fragen m ssen, ob im Text von 509d-511 e von Analogien Gebrauch gemacht wird, die eine Beziohung auf den Bildbereich der vorauf gegangenen enthalten. Sokrates l t Glaukon also eine zweigeteilte Linie bilden, deren beide Teile abermals im selben Verh ltnis wie die Linie insgesamt geteilt werden sollen (509 d 6-8) m: die beiden Hauptabschnitte der Linie symbolisieren l13 Die neueren Herausgeber lesen an der Stelle 509 ά6-γ άνισα τμήματα. Diese Lesart wird durch wichtige Handschriften, wenngleich nicht durch alle bezeugt (vgl. die Apparatnotiz bei Burnet und Chambry und Adams Kommentar zur Stelle). Sie ist weiterhin durch Proklos (In Rempubl. ed. Kroll I, 288, 19 - 20) und Plutarch (Moralia 1001 c) wahrscheinlich gemacht. W hrend in der lteren Literatur der Streit um die Frage ging, ob hier άνισα oder ίσα (so Stallbaum) zu lesen sei, hat N. R. Murphy die Vermutung ge u ert, da es sich bei ανισα τμήματα um eine Glosse handelt, die in den Text geraten ist (vgl. Murphy I, 99; Murphy III, 157 ff.). Wir k nnen dabei von Murphys Motiv (der Nichtbenutzung der Verschiedenheit der Linienabschnitte im anschlie enden H hlengleichnis) absehen, und uns nur seine Argumente vergegenw rtigen. Murphy st tzt sich zun chst auf den Sinn von δ'ιχα τέμνειν, das bei Euklid ausschlie lich in der terminologischen Bedeutung des Halbieren* gebraucht wird - und Sokrates w hlt hier ja ein geometrisches Beispiel. Entscheidender noch scheinen mir Murphys Argumente aus der Konstruktion des Satzes: da γράμμην δίχα τετμημένην wegen des Anschlusses durch ώσπερ nicht das direkte Objekt von λαβών sein kann, kommen daf r nur entweder διττά είδη (d 4) oder ανισα τμήματα in Betracht; aus Gr nden des sachlichen Sinnes l t sich aber die letztere M glichkeit ausschlie en: „wie eine zweigeteilte Linie ungleiche Abschnitte" zu nehmen, ist keine sinnvolle Forderung - zumindest w rde man ein δύο vor άνισα erwarten. (Ist das der Grund, warum Proklos bei der Paraphrasierung sagt: δύο δε όμως (In Remp. ed. Kroll I, 288, 20)? Festugiere hat sich jedenfalls zu Recht an dem δμως gesto en, vgl. Proclus, Commentaire etc. trad, par A. J. Festugiere (Paris 1970) II, 97.) Wenn aber ανισα τμήματα nicht grammatisches Objekt von λαβών sein kann, dann ist es in dem Satz nicht unterzubringen. Man kann Murphys Argumente noch durch zwei weitere verst rken. Das erste ist wiederum philologisch: δνισα τμήματα kann nicht - wie die meisten Erkl rer und bersetzer verstehen - von τετμημένην abh ngen: abgesehen von der Stellung, es fehlt daf r das είς vor άνισα. Sowohl eine

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dabei den Bereich des Sichtbaren und den des Denkbaren (d 8). Innerhalb des St ckes, das das όρώμενον γένος darstellt, sollen die beiden Unterabschnitte nach „Deutlichkeit und Undeutlichkeit" (509 d 9) unterschieden sein und der unterste Abschnitt soll „Bilder" (εικόνες 509 e i) symbolisieren. Dabei fa t Sokrates jedoch den Ausdruck ,Bild' ausdr cklich enger als im griechischen Sprachgebrauch blich: er will darunter nur Schatten- und Spiegelbilder verstanden wissen (509 e i - 510 a 3)114, also nur nat rliche Bilder im Gegensatz zu gemachten Bildwerken115. Gerade weil Sokrates hier nur einen ganz eingeschr nkten Bereich, den der nat rlichen Bilder (der Schatten und Spiegelbilder) im Auge hat, f llt die Betonung der Allumfassendheit des anderen Abschnittes im Bereich des Sichtbaren auf: er enth lt παν το φυτευτόν και το σκευαστόν όλον γένος (510 a 6). Da Sokrates hier ausdr cklich auch von der „gesamten Gattung des Hergestellten" spricht, macht in umgekehrter Formulierung noch einmal deutlich, da unter den εικόνες des vorigen Abschnittes nicht auch hergestellte Bildwerke gemeint sind. Die Kommentatoren haben h ufig den Bereich der εικόνες ausdehnen wollen116; aber das verst t gegen den unmi verst ndlichen Wortlaut des Textes und erkl rt sich nur aus der berm chtigen Tradition des Platonismus, der unter dem Einflu der aristotelischen Kritik an Platon die Urbild-Abbild-Relation zu einem universalen ontologischen Modell umstilisiert hat. Welche Funktion die Urbild-Abbild-Beziehung in Wirklichkeit f r Platon hat, wird im Fortgang der Interpretation noch deutlich werden. Welchen Sinn hat nun diese Unterscheidung der sichtbaren Dinge von ihren „nat rlichen" Abbildern? Sie kann offenbar nicht auf eine blo e hnlichkeitsrelation abzielen, denn dann g be es keinen Grund f r den Aus- von Ferguson (II, 197) als Parallele angef hrte - Stelle der Nikomachischen Ethik (EN, E 7, 1132 a 25 f.) wie die Paraphrasierung des platonischen Textes bei Plutarch (Moralia 1001 c - d) und bei Proklos (In Remp. ed. Kroll I, 288) reden vom τέμνειν είς άνισα. Das zweite Argument ist ein inhaltliches: Von den Erkl rern (s. Adam z. St.) wird die Ungleichheit der Linienabschnitte damit begr ndet, da andernfalls die „elaborate proportions drawn in 510 a, 511 e, VII 534 a represent no corresponding relations between the different segments of the line" (Adam II, 64). Dies Argument bersieht jedoch, da die Uwgleichheit der Linienabschnitte gerade dem Urbild-Abbild-Verh ltnis zwischen unterem Abschnitt der oberen und oberem Abschnitt der unteren Linienh lfte (vgl. 510b4-5, 51136-8) nicht Rechnung tragen w rde. H 4 Proklos (In Rempubl. ed. Kroll I, 289, 19-26) weist ausdr cklich auf diese Engerfassung von εΐκών gegen ber dem griechischen Sprachgebrauch hin, in dem auch Skulpturen und Gem lde εικόνες hei en. us Vgl. R. Hackforth, Plato's Divided Line and Dialectic, Class. Quart. 36 (1942) 2. 116 So Adam, The Republic of Plato vol. II, 157; Nettleship, Lectures 243 - 245; Paton, Plato's Theory of Eikasia a.a.O. 79; Sinaiko, Love, Knowledge, and Discourse in Plato 149 f.; Patzig, Platons Ideenlehre a. a. O. 122 f.

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Schluß gemachter Bildwerke, die ja ebenfalls häufig Abbilder sind (z. B. Porträts). Gerade weil die Urbild-Abbild-Relation durch die Metaphysik des Neuplatonismus zu dem Interpretationsmuster der Beziehung von „Idee" und „Wirklichkeit" gemacht worden ist, scheint es geboten, den Sinn dieser Relation dort phänomenologisch genau auszuartikulieren, wo von ihr als einer Beziehung innerhalb des Bereichs der Sichtbarkeit gesprochen wird. Und das erste, was es hier also festzuhalten gilt, ist, daß mit ihr innerhalb dieses Bereichs nicht eine Relation von Urbild zu Abbild überhaupt, sondern von Urbild zu natürlichem Abbild gemeint ist. Warum ist das ein so wichtiger Unterschied? Deshalb, weil natürliche Abbilder (Schatten und Spiegelbilder) Funktionen haben, die hergestellte Abbilder nicht haben können. Was natürliche von hergestellten Abbildern unterscheidet, ist zunächst, daß erstere immer an die sinnliche Präsenz ihres Urbildes gebunden sind. Das heißt umgekehrt auch, daß natürliche Bilder immer Abbilder sind; bei einem Bildwerk kann man nicht von vornherein wissen, ob es Wirklichkeit darstellt oder nur ein Fantasieprodukt ist. Entscheidender Unterschied ist aber schließlich der, daß die natürlichen Abbilder im Gegensatz zur Starrheit der Bildwerke die Bewegungen ihrer Urbilder mitmachen - und daß Sokrates hier vor allem an solche sich bewegenden Urbilder denkt, macht er durch die ausdrückliche Nennung der Lebewesen ( ) deutlich (510 a 5). Es sind die genannten Strukturmomente natürlicher Abbilder, die diesen die Funktion unmittelbarer Hilfsmittel bei der Erkenntnis sichtbarer Dinge geben; bei der Beobachtung und Betrachtung des Sichtbaren wird ständig von solchen Gebrauch gemacht: der Schatten des Wildes zeigt dem Jäger das Sich-Nähern der Beute an, der Schatten eines Bauwerkes erlaubt die Berechnung seiner Höhe, das eigene Gesicht wäre für uns ohne den Gebrauch eines Spiegels unsichtbar, eine Sonnenfinsternis beobachtet man in der abschwächenden Spiegelung einer Wasseroberfläche (vgl. Phaed. 99 d)117. Daß Sokrates bei dieser skizzenhaften Gegenüberstellung der beiden Abschnitte im in der Tat die Punktion von Bildern, ihre Brauchbarkeit nämlich im Prozeß eines Erkennens, vor Augen hat, macht der Fortgang des Gesprächs deutlich: dort ist im Hinblick auf die Mathematik immer nur vom Gebrauch von Bildern die Rede, von der Funktion, die sichtbare, als Bilder gebrauchte Figuren im Prozeß der mathematischen Erkenntnis haben (vgl. 510 b 4, d^, e 3, 511 a 6, vgl. auch 516 a 6-8). 117 Ferguson hat diesen Punkt sehr richtig herausgehoben: „A reflection is not a copy; it is the object itself seen indirectly" (Ferguson II, 200 - Hervorhebung von mir. Th. E.). Vgl. a. Ferguson III, 17 ff.

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Wenn aber die Unterscheidung, die Sokrates innerhalb des όρώμενον γένος zwischen den sichtbaren Dingen und ihren nat rlichen Abbildern trifft, gar nicht auf eine ontologische Differenz (die von Urbild und Abbild) zielt, sondern auf die Funktion, die eine bestimmte Klasse von Bildern, die nat rlichen Abbilder, wie wir sie genannt haben, in Prozessen optischer Wahrnehmung haben kann, dann liegt in dieser Unterscheidung indirekt eine Charakterisierung des Sehens, die wiederum den Gesichtssinn vor den anderen Sinnen auszeichnet. Nur im Fall der optischen Wahrnehmung n mlich gibt es die M glichkeit indirekten Erkennens. hnlichkeitsrelationen und selbst Urbild-Abbild-Beziehungen lassen sich auch im Gegenstandsbereich anderer Sinne, etwa bei tastbaren Formen oder akustischen Ph nomenen (z. B. der Imitation einer Melodie) aufzeigen. Aber nur im Bereich optischer Ph nomene gibt es Abbilder, die den Status von Erkenntnismitteln haben, die n mlich zur indirekten Wahrnehmung sichtbarer Dinge gebraucht werden k nnen. Bevor Sokrates von der Unterteilung des Bereichs des Sichtbaren zur Explikation der Abschnitte im νοητόν γένος bergeht (510 b a f f . ) , stellt er seinem Gespr chspartner eine Frage (510 a 8-10). Es ist diese Frage, die eine konsistente Interpretation des Liniengleichnisses zu einer so vertrackten Aufgabe gemacht hat. Sokrates f hrt hier n mlich, nachdem vorher immer vom illustrativen Bezug des όρατόν und νοητόν die Rede war, das Gegensatzpaar δοξαστόν/γνωστόν ein, und scheint damit zu der ontologischen Zweiteilung der Welt, wie man sie aus dem Ende des f nften Buches herauslas, zur ckzukehren. Wir haben die Diskussion ber das Problem, das mit dieser Frage des Sokrates gestellt ist, oben referiert (s. 153-156) und k nnen hier deshalb im Fortgang der Interpretation unseren eigenen L sungsvorschlag vortragen. Was an diesen drei Zeilen (510 a 8-10) zun chst auff llt, ist das gegenber dem Kontext unterschiedliche Gewicht, das sie dem Glaukon zumessen. W hrend Sokrates in der Exposition des Liniendiagramms sonst immer nur Imperative (νόησον 509 d i ; τέμνε d j ; τί/θει 51035; σκοπεί 510b 2) oder blo e Verst ndnisfragen (509 d 4; 510 a 3) gebraucht, wird hier pl tzlich dem Glaukon eine wirkliche Frage vorgelegt, und zwar so, da ihre Form nicht impliziert, da Sokrates hier die Zustimmung seines Gespr chspartners zu einer von ihm selbst vertretenen These einholt. Hier wird vielmehr in einer auff llig vorsichtigen Formulierung nach einer Meinung Glaukons gefragt. Es ist von mehreren Erkl rern dieser Stelle darauf hingewiesen worden, da die Begriffe, in denen Sokrates seine Frage an Glaukon formuliert, an die Unterscheidungen ankn pfen, die am Ende des f nf-

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ten Buches gemacht worden sind118: Sokrates fragt, ob Glaukon auch bereit ist zu behaupten, da hinsichtlich Wahrheit und Unwahrheit, wie das δοξαστόν zum γνωστόν, so auch das Abbild zum Urbild sich verhalte. Wir hatten bei der Interpretation von Pol. V, 475-480 gezeigt, da die Bestimmung von Doxa und Episteme als verschiedener Verm gen, denen als Gegenstandsbereiche das δοξαστόν und das γνωστόν entsprechen sollen, nur die Konsequenz einer Vormeinung Glaukons, nicht aber eine These des Sokrates war. Das erkl rt die distanzierte Formulierung dieser Frage des Sokrates, der sich hier sowenig wie am Ende des f nften Buches auf diese Unterscheidung Glaukons einlassen will. Es erkl rt uns jedoch nicht, warum Sokrates mit seiner Frage berhaupt an die damals getroffenen Unterscheidungen erinnert. Es mu einen bestimmten Grund haben, da Sokrates genau an dieser Stelle des Liniengleichnisses diese Frage stellt. Der Grund f r die Frage des Sokrates wird deutlich, wenn wir zun chst pr fen, was Glaukon mit ihrer Bejahung eigentlich zugibt. Er bejaht, da , wie sich δοξαστόν zu γνωστόν hinsichtlich Wahrheit und Unwahrheit, so auch das Abgebildete zu seinem Urbild verh lt. Sokrates' Frage formuliert also eine Proportion zwischen der gerade im Bereich des Sichtbaren gemachten Unterscheidung von Abbild und Urbild einerseits und der Unterscheidung von δοξαστόν - in der von Glaukon am Ende des f nften Buches angenommenen Terminologie: der Bereich des Wahrnehmbaren — und γνωστόν - entsprechend der Bereich des Denkbaren - andererseits. Dabei wird von der letzteren Unterscheidung - der von δοξαστόν und γνωστόν - als von der schon bekannten ausgegangen und nach der M glichkeit gefragt, im Verh ltnis von Abbild zu Urbild ebenfalls von einer solchen Teilung nach Wahrheit und Unwahrheit zu sprechen. Aber mit der Bejahung dieser Frage und der Etablierung der Proportion hat Glaukon zugleich auch konzediert, da das δοξαστόν sich zum γνωστόν hinsichtlich unwahr und wahr so verh lt wie das Abbild zum Urbild. Halten wir also fest, da mit dieser Proportion nicht eine graduelle Steigerung der Wahrheit vom „untersten" Bereich des Sichtbaren, den Bildern bis zum Bereich des Denkbaren gesetzt ist; hier ist von einem kontradiktorischen Gegensatz, nicht von Graden die Rede. Gesagt ist, da die im Bereich des Sichtbaren gemachte Unterscheidung von nat rlichen Abbildern und dem, was in ihnen abgebildet ist, ebenso nach unwahr und wahr gegliedert werden kann wie die Unterscheidung von Wahrnehmbarem (wozu auch das Sichtbare geh rt) und Denkbarem. Versuchen wir zun chst zu 118

Vgl. Adam vol. II, 157; Ferguson I, 143; Murphy I, 95.

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erkl ren, in welchem Sinn sich von einem Gegensatz der Unwahrheit und Wahrheit im Verh ltnis zwischen den Bildern, von denen Sokrates vorher gesprochen hatte, und ihren Urbildern reden l t. Hier erh lt nun der Umstand, da wir es mit einer funktionalen Unterscheidung, n mlich der von Gegenst nden indirekter und direkter Wahrnehmung zu tun haben, eine fundamentale Bedeutung; auf dieser Basis einer funktionalen Unterscheidung gewinnt n mlich die Unterscheidung von unwahr und wahr einen plausiblen Sinn: die Erkenntnisse, die wir vermittelst eines Spiegel- oder Schattenbildes gewinnen und die wir in Aussagen ber das entsprechende gespiegelte oder schattenwerfende Urbild darstellen k nnen, f hren zu falschen Urteilen, wenn wir sie als Aussagen ber das interpretieren, was wir unmittelbar, n mlich als Schatten oder Spiegelbild vor Augen haben: die Projektion von r umlich Auseinanderliegendem in eine Ebene beim Schatten oder die Seitenverkehrung bei Spiegelbildern werden von uns stets schon in Abzug gebracht, wenn wir nat rliche Abbilder als Hilfsmittel indirekter Erkenntnis benutzen. Wir behandeln das, was der Spiegel uns auf der linken Seite zeigt, als die rechte Seite des Gespiegelten, f llen also ein falsches Urteil ber das, was wir unmittelbar vor Augen haben. In ganz analoger Weise l t sich das Verh ltnis des Wahrnehmbaren zum Denkbaren durch diesen Gegensatz von Unwahrheit zu Wahrheit interpretieren, wenn wir dabei an das denken, was Sokrates, wie der Fortgang des Textes zeigt, vorschwebt, n mlich der Gebrauch sichtbarer Figuren in der Geometrie. Bezieht man die Aussagen der Geometer auf ihre Zeichnungen, dann sind es falsche Aussagen: die Seiten des Vierecks, die z. B. als gleich lang bezeichnet werden, sind von ungleicher L nge, die geraden Linien sind krumm und schief und die rechten Winkel sind keine rechten Winkel. Und die Geometer machen, wie Sokrates sagt (^lod^-S), ihre Aussagen ber die gezeichneten Figuren, obwohl sie nicht diese, sondern das durch sie Dargestellte im Sinn haben (τους λόγους περί αυτών ποιούνται, ου περί τούτων διανοούμενοι d 5-6). Sie machen also in gewissem Sinn st ndig falsche Aussagen, weil sie n mlich ber gezeichnete Figuren und Linien reden, obwohl sie doch um des Vierecks selbst (του τετραγώνου αύτοΰ d 7) willen ihre Beweise f hren. Der Gegensatz von unwahr und wahr ist hier also, weil er die Unterscheidungshinsicht zwischen den nat rlichen Abbildern und ihren Urbildern abgibt, nur ein Indikator f r die M glichkeit indirekter Erkenntnis. Das erkl rt nun auch, warum Sokrates seinem Gespr chspartner gerade hier diese an das Ende des f nften Buches ankn pfende Frage vorlegt. Sokrates wiH n mlich mit den folgenden Darlegungen am Beispiel der Geometrie zeigen,

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daß es einen solchen Gebrauch von Bildern als Mittel indirekter Erkenntnis auch im Verhältnis von Sichtbarem zu Denkbarem gibt (vgl. 5 i o d 5 ~ 511 a i). Das ist aber auf der Basis der Abtrennung des Wahrnehmbaren und Denkbaren als unterschiedener Gegenstandsbereiche der Vermögen Wissen und Meinung, wie Glaukon sie am Ende des fünften Buches vorgenommen hatte, gerade nicht möglich. Ein Verhältnis von einem Mittel indirekter Erkenntnis zu dem, was durch es erkannt wird, ein Verhältnis von Abbild zu Urbild ist nur innerhalb des Bereiches eines und desselben Vermögens möglich. Indem Sokrates sich also in Anlehnung an die Begrifflichkeit der Stelle 478 a-b von Glaukon eine Urbild-Abbild-Relation oder doch eine dieser Relation analoge Beziehung zwischen den damals unterschiedenen Gegenstandsbereichen von Meinung und Wissen hat zugeben lassen, hat er implizit den Glaukon zu einer Revokation der These gebracht, daß Meinung und Wissen zwei verschiedene Vermögen sind. Es scheint nicht, daß Glaukon selbst sich über diese Implikation seiner Bejahung der Frage des Sokrates im klaren ist - seine Antwort (510 b i) ist zu emphatisch für jemanden, der mit Bewußtsein eine früher vertretene These zurücknimmt. Aber Glaukons subjektives Bewußtsein ist gegenüber den objektiven Implikationen des Argumentes zunächst unwichtig. Der Sache nach stimmt diese Revokation der Unterscheidung von Wissen und Meinung als verschiedener Vermögen, zu der Glaukon hier unbewußt seine Zustimmung gibt, mit der Analogie 508 c-d im Sonnengleichnis überein: dort war es dasselbe Vermögen des Nous, das im status privationis als Doxa und im status perfectionis als Episteme erscheint, so wie es dieselben Augen (vgl. 508 d 2) sind, die im Schein nächtlicher Leuchten undeutlich und bei Tageslicht deutlich sehen. Sokrates hat sich also mit seiner Frage eine für den Fortgang notwendige Prämisse zugeben lassen und kann jetzt an die Darstellung der Unterteilung im gehen. Das erste, was an seiner Beschreibung der oberen Linienhälfte in die Augen fällt (510 b 4-9), ist der Umstand, daß wir hier nicht eine neue „Stufe der Wirklichkeit" betreten, sondern zunächst nur Gegenstände des voraufgegangenen Abschnittes in neuer Funktion vor uns haben: was zuvor den Status des Abgebildeten, nicht des Abbildes hatte, fungiert hier als Abbild (5iob4). Daß dieser Wechsel des funktionalen Status, der Umschlag vom zum , die Pointe dieser Stelle (und der Text also trotz abweichender Lesarten einiger Handschriften durchaus in Ordnung) ist, zeigt die ausführliche Explikation 510 e, wo es von den Gestalten und Figuren der Mathematiker heißt, daß sie „Schatten und Bilder im Wasser" (62-3) werfen (vgl. auch 511 a 6-8). Dabei ist nun jedoch

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wichtig, da es von dem hier gemeinten Sichtbaren, den gezeichneten Figuren, die die Geometer benutzen, nicht hei t, sie sind Bilder, sondern nur, sie fungieren als Bilder: nicht von Abbildern tout court ist hier die Rede, sondern nur vom Gebrauch als Abbilder (510 b 4; 64; 5113 6). Wir k nnen hier schon eine erste Folgerung ber den Sinn des Liniengleichnisses und seinen Zusammenhang mit dem voraufgegangenen Sonnengleichnis ziehen: die gemeinsame Analogie, die ihnen beiden (und auch noch dem H hlengleichnis) zu Grunde liegt, ist die Analogie von δψις und νους, bzw. von όραν und νοεϊν, von Sehen und denkendem Erkennen. Innerhalb dieser sich durchhaltenden analogischen Beziehung ist nun in jedem der beiden Gleichnisse als gewisserma en spezifische Differenz ein Strukturmoment des Sehens herausgehoben: im Sonnengleichnis ist es die Angewiesenheit dieses Sinnes auf das Licht, im Liniengleichnis ist es die M glichkeit indirekter Wahrnehmung, die den Angelpunkt der metaphorischen Gleichungen des jeweiligen Gleichnisses bilden. Der Sinn des Liniengleichnisses ist dann also zun chst der analogische Hinweis darauf, da es f r das denkende Erkennen (νοεϊν) ebenso wie f r das Sehen (όραν) die M glichkeit indirekter Erkenntnis gibt. Weil die Absicht des Liniengleichnisses zun chst darin liegt, die M glichkeit indirekter Erkenntnis f r das νοεϊν an der M glichkeit indirekter Wahrnehmung beim Sehen zu illustrieren, kann daher hier auch gar nicht von einem Verh ltnis von Abbild zu Urbild in einem absoluten Sinn, n mlich au erhalb eines Prozesses indirekter Erkenntnis gesprochen werden. Die Analogie, auf die Sokrates hier abhebt, ist die Analogie einer Funktion. Das Liniengleichnis ist (zusammen mit dem H hlengleichnis) der locus classicus f r die am Urbild-Abbild-Verh ltnis orientierte Interpretation Platons, die aus seinen Dialogen, eben auf Grund dieses Verh ltnisses, eine dualistische Metaphysik herauslesen will. Eine genaue Interpretation des Liniengleichnisses zeigt, was es mit dem platonischen Dualismus auf sich hat. Die Unterscheidung von Urbild und Abbild wird von Platon gerade nicht als absolute Unterscheidung von „Seinsstufen", sondern als funktionale Unterscheidung mit Bezug auf einen Erkenntnisproze eingef hrt. Sie indiziert gerade nicht die Zweiteilung der Welt in den mundus intelligibilis und den mundus sensibilis, sondern die Unteilbarkeit des Erkenntnisverm gens. Damit kl rt sich aber sofort zweierlei: zum ersten der Sinn der Kritik, die im ,Parmenides' an der Auslegung der Methexis durch das UrbildAbbild-Modell ge bt wird (vgl. Parm. 132 d i - 133 a 6). Die Argumente des ,Parmenides' richten sich n mlich gegen ein Verst ndnis der UrbildAbbild-Relation, das diese in einem absoluten Sinn, als eine ontologische

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Differenz, und nicht in einem funktionalen Sinn versteht: als Differenz zwischen dem, was Mittel in einem Proze indirekter Erkenntnis ist, und dem, was mit Hilfe dieses Mittels erkannt wird. Weit entfernt also, da der ,Parmenides' die Kritik der Rede vom Urbild-Abbild-Verh ltnis in der jPoliteia* kritisiert und zur cknimmt, gibt er vielmehr eine ausdr ckliche Best tigung ihres Sinnes. Das zweite, was durch die Aufdeckung des funktionalen Sinnes der Unterscheidung von Urbild und Abbild einsehbar wird, ist die Verfehltheit der aristotelischen Kritik an diesem Verh ltnis und das Ausma der Abh ngigkeit des Platonismus von Aristoteles. Die Kritik des Aristoteles (vgl. etwa Met. A 6, 987 b 9-14; A 9, 991 a 20-22) unterstellt n mlich das UrbildAbbild-Verh ltnis zwischen „Idee" und „Wirklichkeit" in jenem absoluten, nicht-funktionalen Sinn einer ontologischen Differenz, der in der ,Politeia' nicht gemeint und im ,Parmenides' ausdr cklich kritisiert wird. (Ist es nur Zufall, da Aristoteles den ,Parmenides' nirgends erw hnt?). Der Platonismus, der die Ideenlehre gegen die aristotelische Kritik zu sch tzen suchte oder gar Platon und Aristoteles zu harmonisieren unternahm, hat diese Pr misse der aristotelischen Kritik nie in Zweifel gezogen. Er suchte vielmehr nur nach Konstruktionen, die der These von den Ideen als Urbildern der erscheinenden Welt, die in einem mundus intelligibilis aufbewahrt sind, den Rang eines plausiblen Theorems geben konnten. Die Ideen als „Gedanken Gottes" und die „eingeborenen Ideen" waren solche Konstruktionen. Da die Kritik des neuzeitlichen Empirismus an Platon und am Platonismus nicht eine Interpretationspr misse revidieren w rde, die der gesamte Platonismus mit dem prominentesten antiken Kritiker Platons teilt, liegt auf der Hand. So mu te die Vorstellung von einer dualistischen Metaphysik Platons fast zwangsl ufig auch zu einer nie hinterfragten Pr misse der modernen Platonforschung werden (vgl. Einleitung 12). Kommen wir zum Text zur ck. Sokrates erl utert also den Sinn der Unterteilung des oberen Linienabschnittes dahingehend, da in seinem unteren Teil die Seele gezwungen ist, von Voraussetzungen aus zu suchen, wobei sie das, was in dem durch die untere Linienh lfte Symbolisierten den Status eines Urbildes hat, als Abbild benutzt; dabei geht sie nicht zum Anfang (αρχή), sondern auf die Folgen (τελευτή) (vgl. 510 b 4-6). Im anderen Teil geht die Seele von der Voraussetzung zur nicht (blo ) vorausgesetzten Arche119, wobei sie sich, ohne von Bildern Gebrauch zu machen, nur innerhalb der Ideen selbst bewegt (5iob6-9). Glaukon gesteht, da er diese 119

Ich lese mit Ast, Adam und Shorey έπ' αρχήν άνυπόθετον (ohne το).

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Unterscheidung nicht zureichend verstanden hat (5iob 10). Daraufhin gibt Sokrates eine ausf hrliche Erl uterung, die von 5 i o c i b i s 5 i i C 2 reicht. Die Ausf hrungen, mit denen Sokrates die Unterteilung des oberen Linienabschnittes erl utert, sind durch drei Zwischenbemerkungen Glaukons in vier St cke abgeteilt, eine Teilung, die der inhaltlichen Gliederung entspricht. Die ersten beiden Bl cke ( 5 i o c i - 5 i i a i ) enthalten eine vorausgeschickte Erl uterung (προειρημένα vgl. c i), die das, was zuvor in zweieinhalb Zeilen (5iob4-6) ber den dritten Abschnitt der Linie gesagt worden war, am Verfahren der Geometer ausf hrlich exemplifiziert. Die anderen beiden St cke (511 a 3-02) geben nach dieser Explikation am Beispiel der Geometrie eine abermalige und ausf hrlichere Darstellung dessen, was mit der Teilung im νοητόν γένος gemeint ist - zun chst des unteren (511 a 3-8), dann des oberen Abschnittes (511 b 3 -c 2) der oberen Linienh lfte. Sokrates beginnt seine Exemplifizierung damit, da er in ihrem ersten Teil (510 c 2 - d 3) das erl utert, was er 510 b 5-6 ber das gemeinte Verfahren gesagt hatte: da hier n mlich von Voraussetzungen ausgegangen werde, die nicht auf ein Prinzip (αρχή) hin hinterfragt w rden. Er erkl rt zun chst, was unter den Voraussetzungen (υποθέσεις) zu verstehen ist, n mlich das Gerade und Ungerade, die (geometrischen) Figuren — weiter unten wird das Viereck (τετράγωνον) genannt (d 7) - und die drei Arten der Winkel, offenbar den rechten und den spitzen und stumpfen, und verwandte Annahmen (^10 C3~5). Danach verdeutlicht er die oben schon in dem ουκ έπ' αρχήν πορευομένη (b ^—6} angedeutete Kritik an dem Verfahren der Mathematiker: sie machen die genannten Annahmen, als ob sie ein Wissen dar ber h tten (ως είδότες) und ohne da sie sich selbst und anderen gegen ber eine Begr ndung f r n tig halten, zu Prinzipien ihres Beweisverfahrens (εκ τούτων δ'άρχόμενοι 510 d i vgl. 511 b 5) (510 c 6 -d 3). Was meint Sokrates hier mit den Hypothesen, die die Geometer machen, und worin genau sieht er ihre Unzul nglichkeit? Der Streit ber diese Frage hat zu keinem positiven Ergebnis gef hrt; nur soviel kann man als sicheres Resultat festhalten, da Sokrates hier jedenfalls eine Zwischenstellung mathematischer Gegenst nde zwischen Ideen und Sinnendingen, wie sie Aristoteles als Lehre Platons behauptet, nicht voraussetzt 12°. Man kann aber 120

Vgl. Jackson, On Plato's Republic VI, 509 d, sqq. a. a. O. 133; Cornford, Mathematics and Dialectic a. a. O. 38; Shorey, Plato's Republic vol. II, Introduction XXXI f.; Ross, Plato's Theory of Ideas 59 f. Der neuerliche Versuch von J. Brentlinger (The Divided Line and Plato's .Theory of Intermediates', Phronesis 8 (1963) 146 -166), im Liniengleichnis doch eine Best tigung f r eine Mittelstellung der Gegenst nde

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auch ausschließen, daß Sokrates' Kritik sich auf eine Mathematik bezieht, die sich sensualistisch mißversteht: es heißt im folgenden ausdrücklich, daß das Viereck selbst und die Diagonale selbst (d 7-8), nicht ihre figürlichen Darstellungen der Gegenstand der Argumentationen der Geometer sind (d 5-7)'". Auch auf diese Frage scheint mir aber eine plausible Antwort möglich, wenn man im Auge behält, daß die Geometrie hier als Beispiel einer Erkenntnisweise fungiert, in der es die Möglichkeit indirekter Erkenntnis gibt. In der geometrischen Erkenntnis muß zwischen dem, was als Mittel indirekter Erkenntnis fungiert und dem, was durch dieses Mittel erkannt wird, unterschieden werden und beides steht in einem Verhältnis von Unwahrheit zu Wahrheit: die Reden, die die Geometer über die gezeichneten Figuren führen (vgl. 5iod6), sind als Reden über die gezeichneten Figuren sofort falsifizierbar. Es sind erst die Hypotheseis, die den Reden der Geometer den Charakter der Wahrheit sichern. Von dieser Funktion der Hypotheseis aus klärt sich aber ihr Sinn: Sokrates meint, daß die Geometer die Voraussetzung idealer Figuren, Winkel, Verhältnisse etc. machen: sie setzen voraus, daß man von den Größen Verhältnissen - etwa beim Halbieren oder beim Verdoppeln oder Verdreifachen - als von rationalen Verhältnissen ausgehen kann, sie idealisieren also ihre Größen; sie setzen voraus, daß man von idealen Figuren und idealen Winkeln ausgehen kann (vgl. 51003-5). Es sind also nicht bestimmte Lehrsätze, Axiome, gemeint, die am Anfang eines geometrischen Systems wie etwa der euklidischen ,Elemente' stehen, sondern die Voraussetzungen idealer Größen und Figuren, die überall, wo überhaupt Geometrie als eine beweisende Wissenschaft (und das muß nicht notwendig schon eine axiomatisierte Wissenschaft sein) getrieben wird, schon gemacht worden sind. Von dieser Bedeutung der Hypotheseis her wird dann auch der Sinn der Kritik am Verfahren der Geometrie verständlich. Die Geometer geben für die Annahme idealer Größen, Figuren und Winkel allerdings weder sich noch ändern eine Begründung, sondern behandeln sie als jedermann einsichtige Voraussetzung ( ^ l o c o - d i ) . Die Kritik an der Geometrie, die Sokrates in dem ersten Stück seiner Exemplifizierung (5100 i -d 3) übt, bezieht sich also auf diese nicht hinterfragten Voraussetzungen geometrischer Idealitäten, nicht etwa auf den Gebrauch sichtbarer Figuren als Bilder: das zweite Stück der sokratischen Erläuterung ^ l o d ^ - ^ n a i ) , das der Mathematik zu finden, hat, soweit ich sehen kann, die Argumente von Cornford und Ross nicht entkräftet. 121 Vgl. dazu Cornford, Mathematics and Dialectic a. a. O. 38.

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nicht den Ausgang von Hypotheseis, sondern den Gebrauch dessen, was im Bereich des Sehens den Status eines Urbildes hat, als Abbild im Bereich mathematischen Erkennens am Beispiel der gezeichneten Figuren der Geometer erl utert, enth lt nur eine Beschreibung, nicht aber eine Kritik dieses Verfahrens. Auff llig ist dabei die Betonung des Umstandes, da es von den Zeichnungen und Gebilden der Geometer auch Schatten und Spiegelbilder im Wasser gibt (511 e 2-3). Zwar steht der Gebrauch gezeichneter Figuren als Bilder in der Geometrie, wie wir erl utert haben, in Analogie zum Gebrauch von nat rlichen Abbildern in der optischen Wahrnehmung, aber das erkl rt uns nicht, warum Sokrates solchen Wert darauf legt, da es auch von den Figuren der Geometer selbst Abbilder gibt, denn die werden direkt und nicht im Spiegelbild betrachtet. F r den Geometer ist die M glichkeit indirekter Wahrnehmung, anders als etwa f r den Astronomen, ganz uninteressant. Nach der Erl uterung am Beispiel der Geometrie kann Sokrates seine Charakterisierung des durch den unteren Abschnitt der oberen Linienh lfte Symbolisierten wiederholen (511 a 3-8). Und auch hier hebt er wieder darauf ab, da die von der ψυχή gebrauchten Bilder im Bereich des Sichtbaren den Status von Urbildern haben (a 6-8). Es ist erst die abermalige Beschreibung des dem obersten Linienabschnitt Entsprechenden (511 b 3 c 2), des Verfahrens der Dialektik n mlich, wodurch dieser wiederholte Hinweis des Sokrates, da die in der Geometrie als Bilder gebrauchten Figuren im Bereich des Sichtbaren den Status von Urbildern haben, erkl rlich wird. Hier vollzieht sich n mlich ein Wechsel im funktionalen Status der Hypotkeseis, ganz analog dem Wechsel von μιμηθείς zu είκών, den das Verfahren der Geometer vornimmt: so wie die Geometer n mlich das, was im Bereich des Sehens den Status eines Urbildes hat, als Abbild ihrer idealen Figuren etc. gebrauchen, so werden wiederum die Hypothesen der Geometer, die idealen Gr enverh ltnisse, Figuren und Winkel, die. innerhalb der Geometrie als άρχαί, als unbewiesene Ausgangspunkte f r Beweise fungieren, f r die Dialektik zu etwas, das von einer αρχή άνυπόθετος abzuleiten ist (511 b 5-7). Was Sokrates also hier klarmachen will, ist das Verfahren der Dialektik: die ausf hrliche Darlegung des Verfahrens der Geometrie gibt nur die Folie ab f r die Charakterisierung der dialektischen μέθοδος 122. Und zwei Dinge hat er am Beispiel der Geometrie f r die Methode der Dialektik er122 Vgl. dazu a. R. Hackforth, Plato's Divided Line and Dialectic, Class. Quart. 36 (1942) 2.

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l utert: erstens gibt es auch f r das dialektische Erkennen die M glichkeit indirekter Erkenntnis, n mlich einer Erkenntnis, die ihre Einsichten im Ausgang von etwas gewinnen kann, was gerade nicht zum Bereich ihres Erkennens geh rt; die Hypothesen der Mathematiker fallen als Hypothesen so wenig in das Gebiet der Dialektik wie die gezeichneten Figuren der Geometer als sichtbare Lineamente in das der Mathematik. Zweitens konstituiert sich die Dialektik analog der Geometrie durch einen Wechsel im funktionalen Status von etwas, das schon die Dignit t eines Erkenntnisgegenstandes in einer anderen Erkenntnisweise, n mlich der der Mathematik, besitzt. Sowohl vom Fortgang des Textes her wie auf Grund unserer sachlichen Analyse der Funktion, die der Begriff des Guten f r die M glichkeit ideativer Begriffe hat, scheint es berechtigt, die αρχή άνυπόφετος des Liniengleichnisses mit der Idee des Guten gleichzusetzen: 532 a-b wird mit Wendungen, die deutlich a n 5 i i b 3 ~ c 2 anklingen, die Dialektik beschrieben und als das τέλος του νοητοί; das Gute selbst (αυτό δ εστίν αγαθόν 532 b i) bezeichnet (vgl. auch 5 i 7 b 8 - c 5 ) . Das Liniengleichnis hat also den Sinn, die M glichkeit der Erkenntnis des Guten als einer Bedingung von Erkenntnis darzulegen. Man verkehrt aber diesen Sinn des Liniengleichnisses, wenn man es als eine Darstellung verschiedener Erkenntnisstufen interpretiert. Gerade das, was die bildliche Rede von Stufen der Erkenntnis nicht erkl ren kann, wie man n mlich von der einen zur ndern kommt, will Sokrates mit der Illustration der viergeteilten Linie erl utern. Weil n mlich den vier Abteilungen auf der Seite der Erkenntnisgegenst nde nur drei Erkenntnisweisen entsprechen und weil jede der unterschiedenen Erkenntnisweisen auf zwei der Abteilungen im Bereich der Erkenntnisgegenst nde bezogen ist, haben wir es bei dieser Illustration mit der Darstellung einer Verkettung von Erkenntnis weisen zu tun. Und eben diese Verkettung von wahrnehmender, mathematischer und dialektischer Erkenntnis garantiert die M glichkeit des Aufstiegs zur Erkenntnis der Idee des Guten. Wir k nnen damit auch die oben (vgl. 161) offengelassene Frage, ob das Liniengleichnis auf die Frage nach dem Was des Guten oder auf die Frage nach dem Weg zu seiner Erkenntnis antworten will, zugunsten der zweiten Alternative entscheiden. Wenn dennoch das Liniengleichnis immer als Illustration einer Stufenfolge und nicht einer Verkettung von Erkenntnisweisen verstanden worden ist, so ist dieses Mi verst ndnis nicht einzig dem Einflu der Metaphysik des Platonismus zuzuschreiben. Es hat vielmehr auch eine Quelle im Text selbst und das im Zusammenhang mit jener schon des fteren kritisierten

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Manier, die Dialoge Platons als dramatisierte Traktate zu lesen. Die Textstelle, die unmittelbar die von uns kritisierte Interpretation des Liniengleichnisses zu st tzen scheint, ist die abschlie ende Bemerkung des Sokrates in 511 d 6 - e 4. Hier werden den vier Abschnitten der Linie vier - wie Sokrates sich ausdr ckt — παθήματα εν τη ψυχή (511 d 7) zugeordnet. Diese das Liniengleichnis abschlie ende Bemerkung des Sokrates ist die Antwort auf eine l ngere Ausf hrung Glaukons (51103-^5),in der dieser die Erl uterungen, die Sokrates zur Einteilung der oberen Linienh lfte gegeben hatte, wiedergeben will. Der ganze Passus von ^ l o c i - ^ n c i hatte, wie wir uns erinnern, den Zweck, dem Glaukon eine Anleitung zum Verst ndnis des Gesagten zu geben. Sie waren durch das ούχ ίκανώς εμαθον (510 b ίο) Glaukons veranla t worden. Erreicht Sokrates diesen Zweck einer Aufkl rung seines Gespr chspartners ber den Sinn der Unterteilung des νοητόν γένος? Die ersten beiden Antworten, die Glaukon dem Sokrates gibt (510 d 3; 511 a 2), best tigen nur, da das, was ihm gerade auseinandergesetzt worden ist, das Verfahren der Geometrie n mlich, f r ihn nichts Unbekanntes ist. Aber die Antwort, die er auf die erneute Darlegung des durch die untere Abteilung des νοητόν Versinnbildlichten gibt, macht der ich, da er den Schritt vom Beispiel (des Verfahrens der Geometrie) zu oem, was ihm an diesem Beispiel verdeutlicht werden sollte, nicht getan hat. „Ich verstehe", antwortet er, „da du das Verfahren der Geometrie und der ihr verwandten K nste meinst" (51 i b 1—2). Warum Sokrates bei der Beschreibung des Verfahrens der Geometrie st ndig davon redet, da die geometrischen Figuren auch Spiegelbilder haben (vgl. 5106 2-3; 511 a 6-8), was doch f r die Beweisg nge der Geometer ganz unerheblich ist, scheint ihm nicht klar geworden zu sein. Glaukons vierte Antwort - seine wiederholende Zusammenfassung dessen, was Sokrates gerade dargelegt hat - macht nun jedoch vollends offenbar, da ihm der Sinn der Ausf hrungen des Sokrates entgangen ist: wo Sokrates vom Zusammenhang verschiedener Erkenntnisweisen gesprochen hat, will Glaukon eine Differenz von Gegenstandsbereichen etablieren - er unterscheidet das von der dialektischen Wissenschaft Betrachtete (θεωρούμενον) von dem Gegenstandsbereich der geometrischen Technai (51105-6). Wo Sokrates davon gesprochen hatte, da die ψυχή bei der Verfahrensweise der Geometrie gezwungen ist, von Voraussetzungen aus zu suchen (vgl. 510 b 5; 511 a 3-4), sagt Glaukon, da die Geometer gezwungen sind, ihre Gegenst nde mit dem Verstand (Dianoia) und nicht mit den Sinnen anzuschauen (5110 7-8). Obwohl Sokrates schon im Sonnengleichnis (508 c-d) erl utert

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hatte, da auch die Doxa nur scheinbar einen Mangel des Nous, in Wirklichkeit aber dessen unzul nglichen Gebrauch indiziert, spricht Glaukon hier den Mathematikern den Nous ab (511 d 1-2). Wo Sokrates von den Geometern gesagt hatte, da sie unter Zuhilfenahme sichtbarer Figuren das zu sehen suchten, was man nicht anders als „mit dem Geist" (τη διάνοια 5ii a i) sehen kann, da hat Glaukon die Beschreibung einer Hexis (d 4) der Geometer herausgeh rt, die vom Nous unterschieden sein soll123. Wie er schon 478 c-d die Doxa zwischen Kenntnis und Unkenntnis gestellt hatte, so soll hier ein analoges Zwischenglied zwischen Doxa und Nous angesetzt werden, die Dianoia (511 d 4-5). Das ist in der Tat eine vollkommene Verballhornung dessen, was Sokrates mit dem Liniengleichnis hat klar machen wollen. Und der Grund f r dieses Mi verst ndnis ist nicht weit zu suchen: er liegt in der Orientierung Glaukons am Modell der sinnlichen Wahrnehmung und der entsprechenden Auffassung von Erkenntnisweisen als unterschiedlicher Verm gen mit zugeordneten Gegenstandsbereichen. Dies Modell hindert Glaukon daran, die unterschiedenen Weisen der Erkenntnis und des Wissens als unterschiedliche Grade der Aktualisierung des einen Verm gens des Nous zu erkennen. So zerf llt ihm in ein abgestuftes Nebeneinander, was Sokrates als die Kontinuit t einer Verkettung von Erkenntnisweisen beschrieben hat. Glaukon ist also der Sinn der sokratischen Ausf hrungen im Liniengleichnis ebensowenig aufgegangen wie im Sonnengleichnis, aber w hrend sich sein Unverst ndnis am Ende des Sonnengleichnisses in einer ironisch gemeinten Verwunderung ausdr ckte, hat er f r das Liniengleichnis ein vermeintliches Verst ndnismodell zur Verf gung: das der Abteilung von Erkenntnisverm gen. Auf diese Verballhornung seiner Darlegungen antwortet die das Liniengleichnis abschlie ende Bemerkung des Sokrates. Sokrates versucht jedoch nicht eine direkte Kritik an Glaukons Verst ndnis, sondern formuliert es um: er redet zun chst von „Zust nden in der Seele" (παθήματα εν τη ψυχή 511 d 7), vermeidet also Glaukons Ausdruck έξις (511 d 4). Zust nde (παθήματα) sind etwas, das wechselt und sich abwechselt124 - die Wahl dieses 123 Shorey betont sehr richtig, da der Ausdruck διάνοια 511 a i „generally for the mind as opposed to the senses" gebraucht wird (Plato's Republic vol. II, 112 Anm. c) und erst 511 d 2 als Terminus f r die Hexis der Mathematiker; aber er zieht keine Konsequenzen daraus, da diese terminologische Ver nderung von Glaukon vorgenommen wird. 124 Aufschlu reich f r den Sinn von πάτημα ist der medizinische Gebrauch des Ausdrucks Tim. 65 c; dort werden die physiologischen Reaktionen der Zunge auf verschiedene Geschmackseinwirkungen παθήματα genannt. Vgl. a. den Gebrauch Pol.

Glaukons Mi verst ndnis des Liniendiagramms

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Ausdrucks wehrt den Gedanken an unterschiedliche Verm gen oder auch έξεις ab: im Gegensatz zu παθήματα sind Verm gen dauerhaft und k nnen nebeneinander bestehen. Und Glaukons Ausdruck έξις meint soviel wie ,Habitus', etwas Best ndiges also125. Wo Glaukon von νους gesprochen hatte (511 d 4), spricht Sokrates von νόησις (^ιι d 8): eine Ersetzung, die auf derselben Linie liegt - νους ist ein Verm gen, νόησις die Aktualisierung eines Verm gens, etwas, das „geweckt" werden kann (vgl. Pol. VII, 524 d^). Sowenig wie νόησις meint dann aber auch διάνοια 511 d 8 ein Verm gen — Sokrates kann hier den von Glaukon gew hlten Ausdruck bernehmen, weil διάνοια im Griechischen neben der Bedeutung ,Geist* (vgl. etwa Theaet. 173 e 3; vorher 511 a i) auch den Sinn von » berlegung* hat (vgl. Soph. 263 e 5, 264 b i). Wie wenig Sokrates jedoch hier ernstlich an die Einf hrung einer strengen Terminologie denkt, zeigt eine Stelle wie 524 d, an der Noesis und Dianoia promiscue gebraucht werden. Auch Pistis und Eikasia sind wechselnde Zust nde, nicht habituelle Verfassung der Seele: alle Erkl rungen, die hier, meist unter Bezug auf andere Dialoge, solche Verfassungen finden wollen126, setzen sich nicht nur ber den Sinn des Ausdrucks παθήματα hinweg, sondern auch dar ber, da hier nur auf der Basis dessen, was Glaukon vorher mitgeteilt worden ist, erkl rt werden kann. Glaukon wei aber nur von nat rlichen Abbildern und den direkt sichtbaren Dingen. Auf diese Unterscheidung k nnen Pistis und Eikasia allein bezogen werden: Pistis ist die ,Gewi heit' bei der direkten Betrachtung des Sichtbaren, Eikasia die ,Vermutung' der indirekten Wahrnehmung. Die K nstlichkeit dieser Einteilung ist beabsichtigt, denn sie signalisiert die Unsinnigkeit einer Unterscheidung von Erkenntnisstufen, wo eine Verkettung von Erkenntnisweisen gemeint war. Sokrates' Absicht ist hier, den Glaukon, dem dieser Gedanke der Verkettung von Erkenntnisweisen nicht aufgegangen ist, wenigstens von dem Fehler der Umwandlung von Erkenntnisweisen in starre Erkenntnisverm gen abzuhalten. Da Sokrates mit dieser letzten Bemerkung des Liniengleichnisses in der Tat nur ad personam redet, zeigt ihre Einleitung: Glaukon hatte seine wieIII, 393 b, wo πάθημα soviel hei t wie ,Geschehnis' und Pol. II, 380 e 6, wo Hitze und Sturm, also wechselnde Wetterlagen, παθήματα genannt werden. 125 Audi f r den Sinn dieses Ausdrucks ist wiederum der Gebrauch in medizinischem Sinn an der erw hnten Timaiosstelle erhellend: w hrend die physiologischen Reaktionen der Zunge dort παθήματα hei en, wird ihre anatomische Beschaffenheit g|ig genannt (66 c 2). Vgl. a. Aristoteles, Cat. 8, 8 b 27 - 35: dort wird die Ιξις von der διάθεσις durch ihre Best ndigkeit und Dauerhaftigkeit unterschieden, Beispiele sind έπιστήμαι und άρεταί. 126 So etwa Adam, Republic of Plato vol. II, 157 ff.; Gould, The Development of Plato's Ethics 177 f.

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derholende Zusammenfassung der Ausf hrungen des Sokrates mit den Worten eingeleitet: „ich verstehe, freilich nicht hinreichend" (μανθάνω . . . ίκανώς μεν οίί 511 c 3) - Sokrates erwidert: „vollkommen hinreichend hast du es aufgefa t" (ίκανώτατα ... άπεδέξω 511 d6). Jemandem, der selber sagt, da er etwas noch nicht verstanden hat, zu versichern, er habe es verstanden - das kann, jedenfalls im Munde des Sokrates, nur Ironie sein. Die in der Schlu bemerkung des Sokrates gemachte Unterscheidung von Noesis, Dianoia, Pistis und Eikasia wird an einer Stelle des siebten Buches (53367-53438) noch einmal wiederaufgenommen. Im Unterschied zu 5 i i d 6 - e 4 i s t hier ,Noesis* durch ,Episteme' ersetzt und der erstere Ausdruck fungiert als Obertitel f r Episteme und Dianoia; entsprechend ist ,Doxa' der Oberbegriff f r Pistis und Eikasia. Da zudem noch Episteme der ουσία und Doxa der γένεσις zugeordnet wird, haben wir hier, so scheint es, eine Best tigung daf r, da die am Ende des Liniengleichnisses gemachten Unterscheidungen nur eine weitere Spezifikation der Differenzierung von Doxa und Episteme am Ende des f nften Buches sind. Untersuchen wir die Stelle im Kontext. Der Passus, in dem diese Wiederholung der vier Pathemata steht, ist eine Folge von Erl uterungen und Fragen des Sokrates, die durch die Bitte Glaukons ausgel st worden sind, nach dem „Vorspiel" der mathematischen Wissenschaften nun noch eine Beschreibung der „Melodie" der Dialektik von Sokrates zu bekommen (532 d 2 -e 3). Obwohl Glaukon ber das vorher zu der Rolle der mathematischen Wissenschaften Gesagte noch schwankend ist (d 2-4), will er es f r jetzt einmal gelten lassen (d 6), um von Sokrates etwas ber die Arten und das Verfahren der Dialektik zu h ren (d 8 - e i). Es ist also auch hier wieder das Motiv der Neugier - Glaukon als φιλήκοος -, das diesen Vorsto motiviert. Sokrates entgegnet mit der Feststellung, da Glaukon nicht mehr in der Lage sein werde, ihm bei der geforderten Darstellung zu folgen, obwohl er, Sokrates willens ist, ihm das Gemeinte auch ohne das Mittel eines Sinnbildes darzustellen (533 a 1-3). Dann stellt er zwei Fragen an Glaukon (533 a 5-6; a 8-10), die besagen, da sich das, was Sokrates vorher nur bildlich dargestellt hat - wie man aus der Parallelit t von 5333 3-5 mit 506 e 2-3 folgern kann, seine Theorie des Guten - nur mit Hilfe der Dialektik „enth llt" werden kann und nur jemandem, der schon in die mathematischen Wissenschaften initiiert ist. Darauf folgt eine ausf hrlichere Darstellung des Verfahrens der Dialektik (533 b 1-62): Sokrates beginnt mit ihrer von jedermann zugegebenen Bestimmung als einer Wissenschaft der Begriffsbestimmungen (b 1-3). Dann grenzt er sie zun chst von anderen Tech-

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nai ab, den manipulative!! (b4) - Rhetorik und Sophistik sind offenbar gemeint -, den produktiven (b 5) und den auf die Erhaltung des Gewachsenen oder Gemachten gerichteten (b 6). Von diesen Technai, die in dem philosophischen Erziehungsprogramm keinen Platz haben, sind die mathematischen Wissenschaften unterschieden, auf die jedoch hier das Bild des Traumes, das wir aus 476 c—d als Metapher der Meinung kennen, angewendet wird (533 b 8 - c i). Was das Bild des Traumes 476 c-d ausdrücken sollte, ist auch hier gemeint: ein falsches Bewußtsein über die Gegenstände, von denen erst die Dialektik ein wirkliches Wissen hat - nicht also eine auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche gegründete Unterscheidung von Vermögen. Die Differenz der Dialektik von der Geometrie und den ihr verwandten Wissenschaften wird nun wiederum, ganz wie in der sokratischen Exposition der Linie (vgl. 510 b 5-9; c 3 - d 3; 311 a 3-6; b 5-8), durch die unterschiedliche Funktion der Hypotheseis in Geometrie einerseits und Dialektik andererseits bestimmt (533c 1-3; C 7 ~ d i ) . Nicht ein Bereich ihr zugehöriger Gegenstände zeichnet die Dialektik aus, sondern ihre Fähigkeit, das „Auge der Seele", den Nous - wie Sokrates jetzt unter Benutzung der Metaphorik des Höhlengleichnisses sagt - nach oben zu ziehen und dabei die mathematischen Wissenschaften als Helferinnen zu gebrauchen (533 d 2-4). Diese „Wissenschaften" sollten darum auch nicht den gewohnheitsmäßigen Namen der Wissenschaft führen, sondern einen Titel erhalten, der, so führt Sokrates aus, klarer ist als der der Doxa, unklarer als der der Episteme (d 4-6), und er erinnert an den Ausdruck ,Dianoia' aus dem Liniengleichnis (d 6-7), wobei er jedoch gleich hinzufügt, daß ein Streit um einen Ausdruck bei ihrer Untersuchung unangebracht sei (d -e 2). An diese abermalige Darstellung des Unterschiedes der Geometrie und der ihr verwandten Wissenschaften einerseits und der Dialektik andererseits schließt sich die Stelle 533 6 7 - 534 a 8 an127. Im Argumentationszusammenhang des Textes ist sie zunächst ohne Funktion — die Fragen, die Sokrates ab 534b 3 seinem Mitunterredner stellt, könnten sich, so scheint es zunächst, auch unmittelbar an 533 e 3 anschließen. Die Funktion dieses Stückes ist aber gar nicht die eines Schrittes in der Argumentation, sondern die einer Aufforderung an Glaukon, die früher gemachten Unterscheidungen zu überprüfen. Es ist eine Frage an Glaukon128. Sokrates will wissen, 127 Leider ist der unmittelbar voraufgehende Text (533 64-6) korrupt; Adam vermutet eine Interpolation (Rep. of Plato II, 192 f.). Ist es aber ein korrumpiertes Stück des ursprünglichen Textes, dann ist nicht klar, ob hier Sokrates oder Glaukon redet (vgl. die Ausgaben von Burnet und Chambry). 128 Shorey hat den Sinn des Textes, anders als Apelt oder Chambry, richtig wiederge-

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ob Glaukon, nachdem ihm nochmals der funktionale Sinn der Unterscheidungen in Linien- und Höhlengleichnis erläutert worden ist, an seinem, am Begriff des Vermögens orientierten Verständnis dieser Unterscheidungen und den entsprechenden Implikationen festhalten will. Und er gibt Glaukon einen Hinweis auf ihre Unangemessenheit, wenn er den Verzicht auf eine Abteilung von Gegenstandsbereichen innerhalb des Bereiches von Noesis und Doxa mit den umfänglichen Untersuchungen erklärt, in die einzutreten man bei einer Diskussion dieser Frage genötigt wäre (53436-8). Aber Glaukons Vormeinung ist nicht zu erschüttern: wie seine Erwiderung zeigt, hat er die Unverträglichkeit der funktionalen und der dispositionalen Auffassung dieser Unterscheidungen nicht bemerkt (534 b 1-2). Daß durch diese Antwort Glaukons eine Dissoziierung in den Voraussetzungen des Verständnisses der beiden Gesprächspartner eingetreten ist, läßt sich an den Fragen des Sokrates ablesen. Alle Fragen, die nach dem Passus 533 e 7 ~ 5 3 4 b 2 von Sokrates gestellt werden, sind (bis zu dem thematischen Neueinsatz 53533) Fragen in der zweiten Person Singular, die sich nach Meinungen Glaukons erkundigen (vgl. 534b 3; b 6; 04; d 3; d4; d 8; e 2), alle vorhergehenden Fragen benutzen dagegen nicht die zweite Person Singular, sondern sind direkte Sachfragen auf dem Boden gemeinsamer Voraussetzungen (vgl. den häufigen Gebrauch der ersten Person Plural 53339; b i; b 7; b 8; d 3; d 4; d 7; e 2). Über dieses formale Indiz für den im Gesprächsgang eingetretenen Bruch hinaus weist aber auch der Inhalt der Fragen auf diese Dissoziierung des Verständnisses hin: die erste Frage, die Sokrates im Anschluß an 53367 — 5 3 4 b 2 stellt, will von Glaukon eine erneute Bestätigung für etwas, was vorher schon als selbstverständlich bezeichnet worden war (vgl. 534 b 3-4 mit 533 b 1-3). Für unsere Diskussion der Unterscheidungen des Liniengleichnisses mögen diese Auf Weisungen genügen. Wir haben zeigen können, daß die Abteilung von Stufen der Erkenntnis und entsprechender Stufen der Wirklichkeit gerade nicht dem Sinn entspricht, den Sokrates seiner Illustration mit Hilfe der viergeteilten Linie geben will, sondern auf Glaukons am Modell der Sinnesvermögen orientiertes Mißverständnis zurückgeht. Die Erkenntnisweisen, die Sokrates bei seinen Darlegungen im Blick hat, sind dadurch charakterisiert, daß sie nicht auf jeweils einen Abschnitt der Linie, sondern auf jeweils zwei bezogen sind: die optische Wahrnehmung auf den vierten und dritten Abschnitt, die geometrische Erkenntnis auf den dritten geben, wenn er übersetzt: „Are you satisfied, then, as before, to call the first division science etc." (Rep. of Plato II, 205).

Das H hlengleichnis

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und zweiten und die Dialektik auf den zweiten und ersten129. Die berlappungen, die sich dadurch bei den beiden mittleren Linienabschnitten ergeben, sind gerade die Pointe der ganzen Illustration durch die Linie: sie erkl ren die ausgezeichnete Stellung der Geometrie und der mathematischen Wissenschaften als Br cke vom sinnlichen Erkennen zum Erkennen durch Begriffe. k) Das H hlengleichnis (514 a i - 517 a γ) War das Liniengleichnis eine Illustration der kontinuierlichen Verkettung von Erkenntnis weisen, so setzt das H hlengleichnis als Sinnbild eines Gegensatzes ein: es will die menschliche Natur hinsichtlich παιδεία und άπαιδευσία, ,Bildung' und ,Unbildung' allegorisch darstellen (514 a 1-2) 13°. Dabei ist der Zustand der Gefangenen in der H hle offenbar das Bild der άπαιδευσία. Man darf sich aber durch die plastische Kraft der Schilderung der H hle und der Gefangenen nicht davon ablenken lassen, da Sokrates auch hier, wie in den beiden vorangegangenen Bildern, einen dem Gesichtssinn spezifischen Zug herausgreift und zum Angelpunkt seiner Analogien macht. War es im Sonnengleichnis die Angewiesenheit des Sehens auf das 129 Insofern haben also die Erkl rer, die hier eine Unterscheidung von „drei Gebieten wissenschaftlicher Erkenntnis" (Apelt, Platon, Der Staat 500) gesehen haben und entsprechend die Eikasia eliminieren wollten („im Grunde nur des Parallelismus wegen eingef hrt" Apelt a. a. O.), der Sache nach ganz recht, nur als Kritiker Platons nicht. 13° Ferguson hat sich bei seinem Versuch, das H hlengleichnis in einem politischen Sinn zu deuten, einen, wie mir scheint, falschen Ausgangspunkt gew hlt. Er argumentiert n mlich, da der ganze, auf die Erzeugung von Illusion angelegte Apparat der H hle ein Sinnbild der politischen Manipulation von Menschen durch Menschen sei (vgl. Ferguson I, 16, 20, 25; II, 202). Dagegen scheint mir der ganz generelle Gebrauch von ημετέρα φύσις im ersten Satz des Gleichnisses zu sprechen, der keinen Unterschied zwischen manipulierenden Herrschern und manipulierten Beherrschten erlaubt: Auch vermi t man irgendeine nicht-metaphorische Entsprechung f r die Tr ger der Eidola bei der sp teren Erl uterung des Gleichnisses durch Sokrates. Ebenso geht der Widerstand gegen die Befreiung der Gefangenen nur von diesen selbst (vgl. 517 34-6), nicht von den Tr gern der Bildwerke aus. - Fergusons Interpretation des H hlengleichnisses war gegen die opinion recue eines Parallelismus von Linien- und H hlengleichnis gerichtet (vgl. Ferguson II, 202). Dies richtige Motiv Fergusons und ebenso seinen Hinweis auf den politischen Sinn des H hlengleichnisses kann man aber festhalten, ohne in den Tr gern der Bildwerke eine durch Manipulation regierende Herrscherklasse zu sehen: sofern im H hlengleichnis Herrschaftsverh ltnisse dargestellt sind, fallen sie in die Gemeinschaft der Gefangenen selber (vgl. 51608d i). - Wenn meine Interpretation der Gleichnisse auch in Einzelfragen nicht mit Ferguson bereinstimmt, so teilt sie doch immer seine Intention, jene „substitution of general metaphysics for concrete images" (Ferguson III, 18) r ckg ngig zu machen, durch die diese Gleichnisse Platons so unverst ndlich geworden sind.

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Licht, im Liniengleichnis die Möglichkeit indirekter Erkenntnis in Prozessen optischer Wahrnehmung, so ist es hier die Gerichtetheit dieses Sinnes, die Sokrates zum Ausgangspunkt seiner Parabel macht. Im Gegensatz zum anderen Fernsinn, dem Gehör, der keiner Beschränkung in der Richtung seiner Wahrnehmung unterliegt - der Schall dringt von allen Seiten an unser Ohr -, können die Augen nur das sehen, was in der Richtung ihres Blickes liegt. Diese natürliche Beschränkung des Sehens auf ein Blickfeld wird im normalen Gebrauch des Gesichtssinnes durch das unkomplizierte Mittel der Wendung des Kopfes oder des Sich-Umdrehens kompensiert. Sokrates' erste metaphorische Veranstaltung bei der Beschreibung der Gefangenen besteht nun in der radikalen Eliminierung dieser Kompensationsmöglichkeit: die Gefangenen sind von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln (514 a 5-6) - die Folge davon ist deutlich und wird von Sokrates mit dem anschließenden Konsekutivsatz noch eigens genannt: sie verharren an derselben Stelle, sehen nur nach vorn, denn sie können wegen der Fessel den Kopf nicht drehen (51436-^2). Entsprechend ist der erste Gegensatz, auf den wir bei der Beschreibung der Höhle stoßen, nicht der von unten und oben, sondern der von vorne und rückwärts ( b ; b 3). Hinter den Gefangenen - und das heißt: ihrem Blick und Bewußtsein entzogen - brennt oben und in der Ferne ein Feuer, und zwischen diesem Feuer und den Gefangenen, also auch hinter ihnen, verläuft eine halbhohe Mauer (514 b 2-5). Hat Sokrates mit diesem ersten langen Satz (5143 2 -b 6) die Szenerie der Höhle statisch beschrieben, so treten mit dem nächsten, der wie der erste ein an Glaukon gerichteter Imperativ ist (5i4b8 — 51533), Bewegungen in das Bild: die Bildwerke, die über die Mauer gehalten und an ihr entlanggetragen werden. Glaukons Kommentar (515 a 4) und Sokrates' Replik darauf bilden eine Zäsur, die das erste Stück des Höhlengleichnisses, die Schilderung der Gefangenschaft in der Höhle (514 a 2 — 515 C3), teilt: wurde bis hierhin der Zustand der Gefangenen gewissermaßen von außen beschrieben, so ist die zweite Hälfte dieses ersten Teils eine Schilderung ihres Bewußtseins. Die ersten beiden Fragen lassen von Glaukon bestätigen, daß die Gefangenen von sich und voneinander (515 a 6) und ebenso von den vorübergetragenen Bildwerken (b 2) nur die durch das Feuer auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand geworfenen Schatten gesehen haben (a 6-8). Glaukons Antwort (515 a 9-b i) gibt den Grund dafür die lebenslange Unbeweglichkeit des Kopfes - noch einmal ausdrücklich an. Das Perfekt ( a 6) in der Frage des Sokrates zeigt, daß hier auf

Das H hlengleichnis

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den Status des Bewu tseins abgehoben ist: h tten die Gefangenen irgendwann fr her einmal die M glichkeit gehabt, sich umzudrehen oder sich frei zu bewegen, so w rden sie die Schatten als Schatten erkennen k nnen. Nicht da die Gefangenen Schatten sehen, sondern, da sie nicht wissen, da das, was sie sehen, Schatten sind, ist die eigentliche Pointe der metaphorischen Veranstaltungen des Sokrates. Die beiden folgenden Frageschritte (515 b 4-10) sind als Konditionals tze formuliert: sie untersuchen Folgerungen, die sich aus bestimmten zus tzlichen Annahmen ber die Gefangenen und ihr Gef ngnis ergeben. Die erste Frage unterstellt die M glichkeit wechselseitigen Gespr chs (διαλέγεσθοα . .. προς αλλήλους b 4) und fragt, ob nicht die Gefangenen glauben w rden, mit ihren Worten f r die Schatten Dinge zu bezeichnen131. Die zweite Frage (515 b 7-9) macht die Unterstellung, da von der H hlenwand auch ein Echo zur ckgeworfen wird, so da , wenn von den Tr gern der Bildwerke ein Schall zu den Gefangenen her berdringt, sie diesen Schall dem vor berziehenden Schatten zuschreiben: sie wissen nicht, da nur K rper, nicht Schatten Schall aussenden k nnen. Beide Fragen haben einen ganz bildimmanenten Sinn. Sie wollen sagen, da weder die M glichkeit wechselseitiger Unterredung, die sonst doch ein Mittel der Korrektur von Irrt mern ist, noch auch das Geh r, das ja keiner dem Blickfeld analogen Einengung seiner Wahrnehmungsm glichkeit unterliegt, hier als Vehikel der berwindung des geschilderten falschen Bewu tseins fungieren und ein Wissen von dem, was im R cken der Gefangenen liegt, vermitteln k nnen. Wechselrede und Geh rsinn tragen vielmehr noch zur Befestigung des falschen Bewu tseins bei. Dieses ist unter den Bedingungen der Gefangenschaft vollst ndig gegen jede Korrekturm glichkeit abgedichtet - das ,παντάπασι* zu Anfang der res mierenden dritten Frage des Sokrates (5150 1-2) unterstreicht diesen Charakter einer v lligen Unzug nglichkeit der Gefangenen f r die M glichkeit der Aufkl rung ber die Bedingungen ihres Sehens: die Schatten gelten ihnen als das einzig Wahre (αληθές c 2)132. 131

ber den Text dieser Frage gehen die Handschriften auseinander; ich habe mich der Ausgabe von Chambry angeschlossen. Aber es scheint nicht ausgeschlossen, da das όνομάζειν nicht in den Text geh rt. F hat es nicht und νομίζειν όνομάζειν (so ADM) verlangt nach einem Partizip, von dem der Relativsatz abh ngig ist. 132 Man sollte den Ausdruck αληθές, der hier auf Gegenst nde, nicht auf S tze angewandt wird, nicht pressen, oder Platon gar die Erkenntnis bestreiten, da ,wahr' und falsch' Eigenschaften von Aussagen sind, was doch im ,Sophistes' (262 e - 263 b) ausdr cklich und eher als Selbstverst ndlichkeit denn als philosophische Entdeckung festgestellt wird. Aber die Richtigkeit dieser Feststellung schlie t nicht aus, da ,wahr' und »falsch* in anderer Bedeutung auch von Gegenst nden gebraucht werden;

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Was Sokrates in dieser Allegorie beschreibt, ist also der Zustand eines Bewußtseins, das nur auf einem Sehen von Schattenbildern beruht, das aber gerade diese Bilder nicht als Bilder erkennt. Wie wenig dieser Mangel eines Bildbewußtseins beim Erblicken von Bildern das Normale ist, wird durch die künstlichen Veranstaltungen der Gefangenschaft in der Höhle und der lebenslangen Fesselung an Haupt und Schenkeln deutlich. Erst die von Sokrates vorgenommene radikale Eliminierung der Möglichkeit, durch eine Wendung von Kopf und Körper die Begrenzung des Sehens auf ein Blickfeld zu überwinden, gibt den Schattenbildern der Höhle die Funktion, Mittel der Etablierung eines falschen Bewußtseins zu sein. Auch hier haben wir es also wiederum nicht mit dem Urbild-Abbild-Verhältnis als dem Modell einer ontologischen Differenz zu tun, als Interpretament von Stufen der Wirklichkeit, sondern mit einer Funktion von Bildern. Waren sie im Liniengleichnis Mittel indirekter Erkenntnis, so sind sie hier gerade umgekehrt Mittel der Verblendung eines Bewußtseins, Vehikel der Täuschung. Alle Interpretationen, die nach dem Vorgang des Proklos133 einen Parallelismus zwischen der Linie und dem Höhlengleichnis behaupten, setzen sich, abgesehen von der schon erwähnten immanenten Inkonsistenz dieses Interpretationsvor Schlages, über den Sinn hinweg, in dem hier jeweils von der Urbild-Abbild-Beziehung gesprochen wird. Im Linien- wie im Höhlengleichnis ist von dieser Beziehung nicht in einem absoluten, sondern in einem funktionalen, auf den Prozeß optischen Erkennen« bezogenen Sinn die Rede. Aber während die Funktion der Bilder im Liniengleichnis gerade ihr Gebrauch als Bilder (j;iob4,d.5,e3,5iia6), ihre Funktion als Mittel der Erkenntnis ist, fungieren die Schattenbilder der Höhle als Hindernis der Erkenntnis. Erst dieser Gegensatz des funktionalen Sinnes der Bilder in Linien- und Höhlengleichnis macht aber auch die Beziehung deutlich, in der das Höhlengleichnis zum Liniengleichnis steht: Sokrates weist mit seiner Parabel von Gefangenschaft und Befreiung darauf hin, daß die im Liniengleichnis auch im Deutschen können wir ja von einem ,wahren' Freund reden. ,Wahr' und falsch' in diesem letzteren Sinn, also wenn wir sie von Gegenständen aussagen, stehen im Verhältnis der analogia attributionis zu der Hauptbedeutung, in der sie Eigenschaften von Sätzen meinen. So wie ,gesund', um an das bekannte aristotelische Beispiel für dies Verhältnis des iv zu erinnern, auch solches bezeichnet, was die Gesundheit eines Organismus bewirkt, die .gesunde' Ernährung z. B., so bezeichnen auch ,wahr' und .falsch' Gegenstände, die geeignet sind, wahre resp. falsche Meinungen und Urteile hervorzubringen; sie fungieren dann also in dispositionalem Sinn. In dieser Bedeutung können sie dann auch einen Komparativ haben, was bei Wahrheitswerten klarerweise nicht möglich ist. 133 Vgl. In Remp. ed. Kroll I, 2Q3, 5-9.

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als ganz unproblematisch vorausgesetzte Möglichkeit, Bilder als Bilder zu sehen und als Mittel indirekter Erkenntnis zu gebrauchen, ihrerseits von Bedingungen abhängig ist. Gerade weil die Möglichkeit, Bilder als Bilder zu erkennen, im natürlichen Gebrauch des Gesichtssinnes so selbstverständlich ist, verstellt die Analogie von Sehen und intellektuellem Erkennen hier die Einsicht in die Schwierigkeit, die der Wechsel im funktionalen Status eines Urbildes in der sichtbaren Welt zu einem Abbild d. h. Mittel indirekter Erkenntnis für die Begriffserkenntnis bietet - und dieser Wechsel im funktionalen Status war ja gerade der Garant des Übergangs von einer Erkenntnisweise zur anderen. Deshalb ist Sokrates gezwungen, jene Verfremdung des Höhlengleichnisses vorzunehmen, in dem uns ein Sehen vorgeführt wird, dem die Möglichkeit, Bilder als solche zu erkennen, genommen ist, obwohl es nur Bilder sieht. Der Grund für die Unmöglichkeit, Bilder als Bilder zu erkennen, Hegt für die Gefangenen des Höhlengleichnisses in der radikalen Eliminierung der Möglichkeit, die Begrenztheit ihres Blickfeldes durch eine Wendung von Kopf oder Körper zu überwinden. Aber die Eliminierung dieser Möglichkeit ist nur ein Mittel, den Akzent auf sie zu legen; die Privation unterstreicht nur das, was die Selbstverständlichkeit der Verfügung über diese Möglichkeit an ihr gerade verdeckte. Die Beschränkung des Sehens auf ein Blickfeld zeigt nämlich umgekehrt, daß der Gebrauch dieses Sinnes abhängig ist von der Beweglichkeit des ganzen Körpers, anders als bei den nicht richtungsgebundenen Sinnen von Gehör und Geruch. Das Gesicht ist ein Sinn, der dadurch vor anderen Sinnen spezifisch ausgezeichnet ist, daß er in seiner vollen Funktionsfähigkeit von einem Zustand des Körpers insgesamt abhängig ist, nämlich von dessen Beweglichkeit (vgl. 5180 4-10). Die Schilderung der Gefangenschaft ist daher auch nur die Folie für die Befreiung und den Aufstieg an die Oberwelt; und diese sind gemeint als eine Einübung in die Fähigkeit, Bilder als Bilder zu erkennen. Darum ist auch nicht die Überwindung des Gegensatzes von unten/oben, sondern die des von vorne/rückwärts der eigentliche Inhalt der Befreiung: nicht unter der Chiffre des Aufstiegs, sondern unter der der Umwendung ( , ) wird die Befreiung aus der Gefangenschaft der Höhle im Verlauf des siebten Buches zitiert und auf sie angespielt (vgl. 518 08-9; d4; 64; 521 c 6; 525 c y, 526 e 3; 532 b 7; 533 d 3). Der zweite Teil des Höhlengleichnisses, der die Schilderung dieser Befreiung geben will, reicht von 515 c 4 bis 516 c 3. Er gliedert sich in sechs Argumentationsschritte, die in zwei Gruppen von je drei Schritten zerfallen 0 4 - 516 a 4; 516 a 5 - 516 c 3). Der äußerlichste Unterschied zwi-

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sehen diesen beiden Gruppen besteht zun chst darin, da in der ersten Glaukon gefragt ist (οΐει d i ; d}); die Infinitivkonstruktionen in den Haupts tzen der zweiten und dritten Frage dieses Abschnittes (e 1-4; e 651633) sind noch von dieser Anrede der ersten Frage abh ngig. Im zweiten Abschnitt dieses Teils haben wir es dagegen nicht mit Fragen an Glaukon zu tun, sondern mit einer Darlegung der Meinung des Sokrates, zu der Glaukon seine Zustimmung gibt: dem ο'ίει der ersten Gruppe entspricht hier das zweimalige οίμαι (51635,b4). Die neueren Herausgeber haben daher auch ganz richtig durch die Zeichensetzung die u erungen des Sokrates von 5 i 6 a 5 ~ C 2 als Mitteilungen, nicht als Fragen gekennzeichnet. Vergleichen wir die beiden Abschnitte nun inhaltlich miteinander, so f llt auf, da im ersten der aus der Gefangenschaft Befreite immer nur Objekt, nicht Subjekt der Befreiung ist; schon grammatisch ist er zumeist Objekt der Akte seines Befreiers: er wird gezwungen (5i5c6, d5, e i ) und geschleppt (e 6, e 8) und wo er selber grammatisches Subjekt von Verben ist, die nicht erzwungene Handlungen, wie die des pl tzlichen Aufstehens, des Kopfwendens, Gehens, Ins-Licht-Blickens (515 c 6-8) bezeichnen, da sind es doch Ausdr cke, die nur seine Reaktionen auf und Effekte der Handlungen seines „Befreiers" darstellen: er hat Schmerzen (515 c 8, e 2, e 8), er ist verwirrt (d 6), er ist unwillig ber den Zwang (51631). Im zweiten Abschnitt ist dagegen von einem Zwang nicht mehr die Rede, der Befreite wird als Subjekt und Ursache seines Tuns vorgestellt. Der Pl tzlichkeit (vgl. εξαίφνης 515 c 6) und Gewaltsamkeit (βία 515 e 6) des ersten Abschnittes kontrastiert die Allm hlichkeit selbst ndiger Eingew hnung (συνήθεια 51635). Wenn wir nun diese beiden Abschnitte auf den Zweck hin vergleichen, den man bei der Befreiung aus der H hle unterstellen mu , also auf den Zweck der berwindung des falschen Bewu tseins der Gefangenen hin, dann ist der erste Abschnitt die Schilderung eines v lligen Fehlschlags: der Befreite h lt die Schatten f r wahrer und deutlicher als die Bildwerke in der H hle, die ihm sein Befreier zeigt (515 d 6-7; e 3-4). Das Tageslicht schlie lich f hrt nur zu v lliger Blendung und der Unm glichkeit, berhaupt noch etwas von dem zu sehen, was ihm jetzt als wahr bezeichnet wird (516 a 1-3). Erst die Allm hlichkeit, das πρώτον . .. και μετά τοΰτο (51636) der Eingew hnung im zweiten Abschnitt f hrt ihn nicht nur zu einem wirklichen Gebrauch des Gesichtssinnes in der Oberwelt und schlie lich zu der F higkeit, die Sonne direkt zu betrachten (516 b 4-7), sondern auch zur Erkenntnis ihrer Funktion: αίτιος ist das Schlu wort dieses Ganges (5i6ca).

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Der Kontrast, der zwischen den beiden Abschnitten 51504-51634 und 51635-03 besteht, macht eine Interpretation unm glich, die hier zwei kontinuierlich aneinander anschlie ende Etappen desselben Prozesses sehen will. Da aber die Schilderung der Befreiung im ersten der beiden Abschnitte nur eine M glichkeit ihrer Durchf hrung ist, sagt Sokrates selber ausdr cklich: Glaukon wird n mlich von ihm zu Beginn des zweiten Teils des H hlengleichnisses aufgefordert, die Befreiung und Heilung der Gefangenen von Fesseln und vom Unverstand zu betrachten, „wie sie w re, wenn ihnen durch Natur (φύσει) das folgende widerf hrt" (5150 5-6). Die Darstellung, die dann gegeben wird, steht also unter der einschr nkenden Bedingung des φύσει134. Wie immer man den Sinn dieses Ausdrucks versteht, soviel ist jedenfalls deutlich, da hier eine einschr nkende Bedingung formuliert wird und da man sich die Befreiung aus der H hle auch noch anders vorstellen kann. Was Sokrates aber mit dieser Einschr nkung des „von Natur" meint, wird klar, wenn wir uns fragen, wof r die Befreiung aus der H hle ein Bild abgeben soll: f r die Paideia n mlich, die ,Bildung' oder ,Erziehung' (vgl. 5 i 8 b 7 ~ d i und 52105-8). Der erste Abschnitt des zweiten Teils schildert aber nicht eine Paideia, sondern deren Ausbleiben; der befreite Gefangene gewinnt gerade keine Einsicht in die Zusammenh nge der wahren Welt, und der Aufstieg ist in dieser gewaltsamen Weise kein Mittel, eine solche Einsicht herzustellen. Es klingt wie ein Kommentar zu der Befreiung des ersten Abschnittes, wenn Sokrates an einer sp teren Stelle des siebten Buches (536 d- 537 a) ausdr cklich vor der Anwendung von Zwang in der Erziehung warnt, da „in der Seele kein erzwungenes Wissen von Dauer sei" (53663-4). Der Ausdruck φύσις mu , so scheint mir, von dem Gegenbegriff παιδεία aus verstanden werden. Der Sinn dieser Einschr nkung w re dann also der, da diese gewaltsame Befreiung gerade durch die Abwesenheit dessen charakterisiert ist, was durch die Befreiung aus der H hle bildlich sollte dargestellt werden. Der Text 51505-6, in dem die modernen Herausgeber (Stallbaum, Jowett/Campbell, Adam, Burnet, Chambry und Shorey) bereinstimmen, wird von den besten Handschriften bezeugt (AFM). Lediglich Jamblich hat an Stelle des ει ein ή - offenbar eine Dittographie des Schlu buchstabens des voraufgehenden εΐη. In D fehlt das et. Bei dieser berlieferungslage scheint es mir nicht gerechtfertigt, das φύσει vor das εΐ zu setzen, wie Schleiermacher und Herwerden vorschlagen und was von Heidegger ohne weitere Begr ndung als Text angenommen wird (Platons Lehre von der Wahrheit. 10). Sachlich ist zu dieser Lesart zu sagen, da das φύσει offenbar pleonastisch wird (vgl. Adam ad loc.). In Heideggers bersetzung fehlt es dann auch einfach. Innerhalb des Konditionalsatzes dient das φύσει aber als Angabe einer Bedingung, unter der sich die Befreiung aus der H hle vollzieht.

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Die Pl tzlichkeit und Gewaltsamkeit, mit der sich die Befreiung aus der H hle in der Schilderung des ersten Abschnittes vollzieht, haben einen privativen Sinn: sie wollen auf eine Gegenm glichkeit verweisen, die uns dann der zweite Abschnitt vorf hrt. Zwar l t Sokrates die συνήθεια, die Eingew hnung, dort erst au erhalb der H hle einsetzen, aber es gibt keinen Grund, warum sie nicht auch schon innerhalb der H hle nach der Abnahme der Fesseln m glich sein sollte. Wenn Sokrates im Verlauf des siebten Buches den Kursus der mathematischen Wissenschaften auf das H hlengleichnis zur ckprojiziert (vgl. 5 3 2 b 6 - d i ) , so umfa t die Mathematik den gesamten Weg von der L sung der Fesseln bis zum Erblicken der Schatten au erhalb der H hle. Und die mathematischen Wissenschaften geh ren wiederum zu jener τέχνη της περιαγωγής (518 d 3—4), von der gefordert war, da sie „m glichst leicht" (ως ρςίστα jiSd^) die Umwendung zum Licht (518 c 4) zu Stande bringen sollte - eine Wendung, die auf die Schilderung der συνήθεια anspielt (vgl. ρςίστα καθορφ 516 a 6; ρςίον θεάσαιτο 39)· Was unterscheidet nun die allm hliche Gew hnung des zweiten Abschnittes von der Gewaltsamkeit und Pl tzlichkeit der berg nge im ersten Abschnitt unseres St ckes? Offenbar nicht einzig der Umstand, da dem Befreiten hier Zeit gelassen wird, um sich an das ihm ungewohnte Licht zu gew hnen. Hier wird vielmehr den Schatten- und Spiegelbildern wieder jener Status von Mitteln indirekter Erkenntnis zur ckgegeben, den sie im Liniengleichnis besa en. Der Befreite lernt die Dinge zun chst in ihrem Schattenri (51636), dann an ihren Spiegelbildern im Wasser (51637) betrachten - die Reihenfolge: Schatten - Spiegelbilder und die Wendungen, die Sokrates hier benutzt, verweisen auf die Erl uterung der ,Bilder' in 50961-51032 zur ck. Genau der Verzicht auf die M glichkeit, die Schattenbilder der H hle als Bilder zu erkl ren und zu benutzen, ist aber umgekehrt der Grund sowohl f r die Gewsltsamkeit wie f r die Erfolglosigkeit der Befreiung, wie sie im ersten Abschnitt geschildert wird. Dort werden die Schatten nicht als Bilder, als Mittel indirekter Erkenntnis benutzt, sondern als Gegenstand des Geschw tzes (φλυαρίαι 515 d 2) abqualifiziert. Nirgends wird dem Gefangenen hier eine Aufkl rung ber den T uschungsmechanismus der H hle zuteil. So wird er nur mit dem K rper nach oben geschleppt, den Aufstieg des Sehens, dss indirekte Erkennen, erlernt er gerade nicht. M glicherweise liegt such dsrin, da die Schilderung des ersten Abschnittes formal als Fragen an Glaukon, die des zweiten als Darlegung der Meinung des Sokrates eingef hrt wird, ein Hinweis auf das unterschiedliche

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Verständnis, das beide Unterredner vom Liniengleichnis her haben: wer, wie Glaukon, nur eine Abteilung von Erkenntnisvermögen sieht, wo ihm eine Verkettung von Erkenntnis weisen gezeigt werden sollte, für den kann sich ein , Auf steigen' von den unteren zur oberen nur in der Weise des unvermittelten und gewaltsamen Übergangs vollziehen. Der letzte Teil des Höhlengleichnisses (51604 — 51737) zerfällt, wie die beiden vorangegangenen, in zwei Abschnitte. Im ersten (516 c 4 - e 2) schildert Sokrates, wie der Befreite über die frühere Wohnung der Höhle denkt, im zweiten (51663-51737) wird uns die Rückkehr unter die Gefangenen vorgeführt. Die erste Frage dieses Stückes (516 c 4-6) läßt von Glaukon bestätigen, daß der ehemalige Gefangene sich in seinem jetzigen Zustand, verglichen mit dem früheren und mit dem damaligen falschen Bewußtsein, das hier ironisch (c 5) heißt, glücklich schätzen und seine früheren Mitgefangenen bemitleiden muß. Aber diese erste Frage bildet nur eine Folie für die folgende (516 c 8 - d 8): diese zweite Frage des Sokrates macht deutlich, was durch die Höhle eigentlich symbolisch dargestellt ist; nicht die „sichtbare" oder „wahrnehmbare" Welt und das Wissen von ihr, sondern der Bereich des Werdens und Vergehens, den schon die verdunkelte Nachtwelt im Sonnengleichnis abgebildet hatte (508 d 7), in einem Sinn, der nicht primär die Physis, sondern die Polis meint. Diese Frage des Sokrates interpretiert die Gemeinschaft der Gefangenen in der Höhle in einem politischen Sinn135. Wenn es dort unten nämlich Auszeichnungen und Ehren gäbe und Vorrechte für denjenigen, der am besten die vorüberziehenden Schatten sieht, ihre Folge und ihr Zugleichsein erinnert und deshalb auch am besten Voraussagen machen kann, der sich also in der ,Sophia' der Höhle auszeichnet, würde der Befreite, so fragt Sokrates, noch nach den Ehren und der Macht in der Höhle verlangen oder würde er lieber, wie Sokrates mit einem Homerzitat fragt, „das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann" und lieber alles erdulden als wieder in jene Meinungen zu verfallen und in der Höhle zu leben. Man muß das Zitat aus dem elften Buch der Odyssee (Od. XI, 489) in seinem Zusammenhang kennen, um seinen Sinn an dieser Stelle zu verstehen: diese Worte stehen in der 135 Ich stimme also mit Ferguson darin überein, daß das Höhlengleidinis einen politischen Sinn hat - wir befinden uns in einem Fragezusammenhang, der von dem politischen Problem der Erziehung der Herrscher ausgegangen ist und zu ihm zurückkehren wird. Aber das Höhlengleichnis will nicht einen Manipulationsapparat beschreiben, der Teil eines Herrschaftssystems ist (vgl. Ferguson I, 16; II, 201), sondern das falsche Bewußtsein über jene Begriffe, die die Orientierung politischen Handelns begründen sollen, wie der des Gerechten (vgl. 517 d 7-6 2, wo von den „Schatten des Gerechten" die Rede ist).

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Antwort des Achilles an Odysseus, welcher ihn aus dem Hades emporgerufen hat und über seinen Tod damit trösten will, daß er im Hades doch Herr über die Schatten sei: Darauf entgegnet Achilles, daß er Heber auf Erden ein Dasein als Knecht fristen „als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen" (Od. XI, 490) wolle. Die Alternative zu dem Leben auf Erden als Knecht, von dem das Odysseezitat spricht, ist also nicht die Existenz, sondern die Herrschaft im Hades. Mit dieser Frage hat Sokrates daran erinnert, daß wir uns in einer Untersuchung über die Erziehung der Philosophenkönige befinden. Hier ist die Prämisse für eine Schlußfolgerung gelegt, die ^ a o d - j a r b gezogen wird: gerade daß für die künftigen Herrscher die Macht nicht höchstes Ziel und Gut ist, befähigt sie zum Regieren. Der zweite Abschnitt dieses dritten Teils des Höhlengleichnisses wird durch den einleitenden Imperativ (51663) als neuer Gedankenschritt kenntlich gemacht. Hier wird eine Rückkehr des Befreiten in das Gefängnis der Höhle angenommen und die Wirkung des Wiedereintritts in das Dunkel der Höhle auf ihn dargestellt: dabei tritt nun eine ähnliche Unfähigkeit zum Gebrauch der Augen ein wie bei dem entsprechenden Wechsel aus dem Dunkel der Höhle ins Licht (516 e 4-6). Die Folge davon ist, wie die zweite Frage des Sokrates sagt ( 5 i 6 e 8 - 5 i 7 a 6 ) , daß er zunächst die Schatten gar nicht erkennen kann, daß er also, gemessen an der „Sophia", dem „Wissen" der Höhlenbewohner, jetzt weniger weiß, eher dem Irrtum erliegt als jene, die nie in der Oberwelt gewesen sind. Den Höhlenbewohnern also scheint er sich durch den Weg nach oben nur die Augen verdorben zu haben. Eine Befreiung scheint ihnen nur zu einem Schaden für den Befreiten zu führen und gegen einen Befreiungsversuch würden sie sich mit dem Versuch der Tötung dessen wenden, der sie befreien will (51734-6). Die Anspielung auf den historischen Sokrates ist offenkundig und macht noch einmal deutlich, daß wir in der Gefangenschaft der Höhle nicht eine Allegorie für die sinnliche Erfahrung vor uns haben, sondern für ein falsches Bewußtsein, das ganz wesentlich auch ein falsches Bewußtsein über politisch-moralische Begriffe - wie den des Gerechten (vgl. 5 i j d 7 - e 2 ) ist. Damit ist die Darstellung des Höhlengleichnisses beendet. Im Anschluß an seine Erzählung gibt Sokrates aber noch einzelne Anweisungen zum Verständnis dieses Gleichnisses, aus denen dann ab 518 b 6 Folgerungen für den Begriff der Paideia gezogen werden: diese kann nicht die Einsetzung eines neuen Vermögens in die Seele sein, sondern nur das vorhandene Vermögen des Nous „umwenden" (vgl. 5i8b6-c9); sie ist eine

Sokrates' Deutung des H hlengleichnisses

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περιαγωγής (518 d 3-4). 521 b n beginnt dann die gro e Diskussion darber, wie (τίνα τρόπον, πώς 521 e i, a) diese „Umwendung der Seele" (521 c 6) bewerkstelligt werden kann, eine Diskussion also, die aus dem Gleichnis und seiner Deutung die Konsequenz einer Untersuchungsfrage zieht, auf die dann die ,Wissenschaftslehre' des siebten Buches antwortet. Ich m chte die Interpretation der drei Gleichnisse mit einer Diskussion von zwei Fragen abschlie en, die an die Deutungsanweisungen des Sokrates und das aus ihnen gefolgerte Programm einer mathematischen Erziehung der Philosophenk nige ankn pfen. Die erste betrifft das Problem des Zusammenhangs der drei Gleichnisse; sie soll vor allem den Sinn der unmittelbar an das Gleichnis anschlie enden Aufforderung des Sokrates (517 a 8 b 6) untersuchen, in der ausdr cklich von einer Beziehung des Bildes der H hle zu den έμπροσθεν λεγόμενα die Rede ist. Die zweite Frage lie e sich etwa so formulieren: Wenn die Idee des Guten gerade nicht ein h chstes moralisches Prinzip und auch nicht ein h chstes Gut als Ziel menschlichen Handelns ist, sondern wenn sie Begr ndungsprinzip f r die ideativen Begriffsbildungen etwa der Geometrie ist, warum soll dann die Erziehung der Philosophenk nige aus einem Kursus erst noch zu reformierender mathematischer Wissenschaften bestehen? Warum kann die Idee des Guten auch als Paradigma f r die Polis fungieren, wie Sokrates am Ende des siebten Buches (540 a 9) formuliert? Nachdem Sokrates mit der Darstellung der Parabel des H hlengleichnisses geendet hat, fordert er Glaukon auf, das ganze Gleichnis (ταύτην . .. την εικόνα . . . άπασαν 517 a8-b τ) mit dem vorher Gesagten zu verbinden, indem er die durch den Gesichtssinn erscheinende Region mit der Gef ngnish hle vergleicht und das Licht des Feuers in ihr mit der Kraft der Sonne (517 a 8 - b 4). Das Problem, wie dieser Satz zu verstehen ist, n mlich als die Herstellung einer Beziehung innerhalb der Illustrationsbereiche von Sonnen- und H hlengleichnis oder als eine bersetzung von Illustration in Illustrandum, war einer der Streitpunkte, um die sich die Diskussion zwischen Ferguson und den orthodoxen Auslegern drehte. Die letztere Interpretation, also die Auffassung, da hier die H hle zum Sinnbild der wahrnehmbaren (sichtbaren) Welt gemacht werde, war die traditionelle Lesartm. Dagegen interpretierte Ferguson diesen Satz als „the comparison of two antithetical sets of symbols, which are in pari materia" 137. Ich verzichte hier darauf, die Diskussion im einzelnen zu referieren und trage die Argumente vor, die mir f r die Auffassung, da wir es hier mit 136 Vgl. Adam ad loc.; Ross, Plato's Theory of Ideas 72 - 75. 137 Ferguson I, 140.

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einem kontrastierenden Vergleich innerhalb von Illustrationsbereichen zu tun haben, zu sprechen scheinen. Zunächst ist schon durch die politische Dimension, die Sokrates letzte Bemerkungen dem Leben der Gefangenen in der Höhle gegeben haben, ausgeschlossen, die Höhle lediglich zu einem Bild der wahrnehmbaren Welt zu machen. Insbesondere verliert aber der ganze kunstvolle metaphorische Apparat der Höhle, der die Darstellung eines falschen Bewußtseins intendiert, seinen Sinn, wenn man das Höhlenfeuer als Analogie der Sonne in der sichtbaren Welt auffaßt. Dann ist man nämlich gezwungen, die Schatten der Höhle für die Schatten im Bereich der Sichtbarkeit zu nehmen was Adam z. B. auch tut. Welchen Sinn dann die Eliminierung der Möglichkeit, den Kopf zu drehen, eigentlich noch haben soll, bleibt unklar. Das Verständnis von (vgl. 5 i / b 3 ) als Dergleichen' und zwar mit der Absicht des Aufsuchens von Kontrasten - ein Sinn, den /vergleichen' häufig hat - scheint mir natürlicher als das von ,analogisieren'. Was soll dann hier in der Weise des kontrastierenden Vergleichens verglichen werden? Offenbar der Bereich, in dem ein normaler Gebrauch des Gesichtssinnes möglich ist, nämlich die Oberwelt des Höhlengleichnisses ebenso wie die Bildbereiche der beiden voraufgegangenen Gleichnisse und der Bereich der Höhlenwelt. Worin sich der Bereich normaler Sichtbarkeit von dem Schattenreich der Höhle unterscheidet, hatten wir schon gesehen: in der Oberwelt gibt es ein Bildbewußtsein und die Möglichkeit, Bilder als Erkenntnismittel zu gebrauchen, ein Bewußtsein und eine Möglichkeit, die den Gefangenen der Höhle gerade abgehen. Der Gegensatz, der hier gemeint ist und durch den Vergleich eingesehen werden soll, ist also der von Verfügung oder Besitz und Privation. Wir werden vermuten dürfen, daß die Vergleichshinsicht, die zwischen dem Licht des Feuers in der Höhle und der Kraft der Sonne aufgesucht werden soll, eine analoge ist. Aber mir scheint dieser Kontrast nun nicht nur einer der Quantität, einer von Helle und Dunkel zu sein, wie auch Ferguson etwa meint138. Was zunächst die Sonne der Oberwelt und des Illustrationsbereichs des Sonnengleichnisses vom Höhlenfeuer unterscheidet, ist ihre Zugänglichkeit für das Sehen; sie kann selber Objekt des Gesichtssinnes werden. Nicht so das Feuer der Höhle, das im Rücken der Gefangenen brennt. Aber damit haben wir noch nicht erklärt, was Sokrates zu vergleichen aufgefordert hatte: denn wir sollen hier nicht Höhlenfeuer und Sonne miteinander ver138 Vgl. Ferguson I, 24: „The firelight is but an obscure and distorting medium compared to the sunlight".

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gleichen, sondern das Licht des Höhlenfeuers und die Kraft ( ) der Sonne, also ihre Fähigkeit des Erhellens und Wärmens, ihr Licht. Was unterscheidet nun aber das Licht der Sonne vom Licht des Höhlenfeuers? Das Licht des Höhlenfeuers ist ein künstliches Licht; das ist zunächst wichtig angesichts des Umstandes, daß Sokrates auch die Möglichkeit gehabt hätte, den auf die Erzeugung von Illusionen abgestellten Mechanismus der Höhle mit dem einfallenden Tageslicht zu etablieren: am Anfang der Schilderung der Höhle wird uns gesagt, daß es „einen gegen das Licht geöffneten breiten Zugang längs der ganzen Höhle" (514 33-5) gibt. Dieser Zug in der Beschreibung der Höhle wird jetzt verstehbar. Er läßt nämlich das Höhlenfeuer als Alternative zu einer anderen Möglichkeit erscheinen, die gerade nicht benutzt wird. Die Künstlichkeit des Lichtes ist also für die Erzeugung der Schatten entbehrlich. Sie muß einen anderen Sinn haben. Daß der Schein des Höhlenfeuers ein künstliches Licht ist, hat zunächst eine Folge, die als eine Auszeichnung dieses Lichtes vor dem Tageslicht erscheinen könnte: es ist als künstliches Licht nicht dem Wechsel von Tag und Nacht unterworfen. Aber innerhalb der Illusions weit der Höhle heißt das gerade, daß die Gefangenen gar nicht wissen können, daß ihr Sehen immer von einem Medium, dem Licht abhängig ist, weil das Licht der Höhle, dessen Quelle ohnehin den Blicken der Gefangenen entzogen ist, als Licht eines dauernd brennenden Feuers nicht durch sein Verschwinden auf sich selbst als auf eine Bedingung des Sehens aufmerksam macht. Was bei Glaukon im Sonnengleichnis eine bloße Begriffs stutzigkeit war, als er nämlich nicht auf das Licht als Medium des Sehens kam (507 d 8 — e 4), ist in der Gefangenschaft der Höhle zu einer gar nicht aufhebbaren Begrenzung der Einsicht in die Bedingungen des Sehens geworden. Damit bestätigt sich also die oben gegebene Interpretation der Gefangenschaft in der Höhle als Bild eines falschen Bewußtseins. Die Gefangenen sind nicht nur nicht in der Lage, die Bilder als Bilder zu erkennen, sondern ihr falsches Bewußtsein erstreckt sich auch auf die Bedingung der Aktualisierung des Sehens, auf das Licht. Zugleich klärt sich damit die Funktion des Höhlengleichnisses innerhalb der drei Gleichnisse: indem Sokrates in der Gefangenschaft der Höhle ein privatives Sehen konstruiert, ein Sehen, das Bilder nicht als Bilder und Licht nicht als eine Bedingung des Sehens erkennen kann, bringt er etwas zu Bewußtsein, was durch die Analogie von Sehen und intellektuellem Erkennen in den beiden voraufgegangenen Gleichnissen verdeckt ist. Die Problemlosigkeit, mit der für das natürliche Sehen sowohl das Licht als Bedingung von aktuellem Sehen und aktueller Sichtbarkeit als auch Bilder als Bilder erkennbar sind, hat im Bereich des

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intellektuellen Erkennens keine Entsprechung. Jene Strukturmomente des Sehens, auf denen Sonnen- und Liniengleichnis ihre Analogien bauten und die wir in der Oberwelt des Höhlengleichnisses dann versammelt finden, suggerieren als eine naturgegebene, selbstverständliche Möglichkeit des intellektuellen Erkennens, was bei diesem erst das Ergebnis der allmählichen Herausdrehung aus einem falschen Bewußtsein ist. Hier ist gerade die Privation, das Nicht-Verfügen-Können über den Weg indirekter Erkenntnis und über die Einsicht in die Bedingungen von Erkennen das Normale, und eben diesen Umstand bildet Sokrates durch den Unterschied von Höhlenwelt und Oberwelt innerhalb des Illustrationsbereiches selber ab. Durch diese Zweiteilung seines Illustrationsbereiches in die Höhlenwelt als Ort privativen Sehens und die Oberwelt, in der ein normaler Gebrauch des Gesichtssinnes möglich ist, gewinnt Sokrates dann ein Sinnbild der Paideia, das diese nicht nur als einfachen Aufstieg, als Weg von der sinnlichen Erkenntnis zur dialektischen Erkenntnis des Guten darstellt, dessen prinzipielle Möglichkeit durch die Verkettung der Erkenntnisweisen im Liniengleichnis gezeigt worden war. Der Aufstieg zur Erkenntnis des Guten wird durch das Höhlengleichnis als ein Weg darstellbar, in dem die Überwindung des Gegensatzes von unten und oben zugleich die Überwindung des fundamentaleren Gegensatzes von vorne und rückwärts ist, die Einübung in die Fähigkeit, Bilder als Bilder zu erkennen und als Mittel indirekter Erkenntnis zu gebrauchen. Erst durch das Höhlengleichnis erhält darum auch die Mathematik eine Funktion, die nicht nur die einer via regia von der sinnlichen zur Begriffserkenntnis ist: sie wird nämlich innerhalb einer als definierten Paideia zu einer „Mitumwenderin" ( vgl. 533 d 3), sie hilft mit, ein falsches Bewußtsein zu überwinden. Wir können hier zur Diskussion jenes Problems übergehen, das durch die zweite der oben gestellten Fragen bezeichnet ist, denn die Frage, warum die Philosophenkönige einen Kursus mathematischer Wissenschaften durchlaufen sollen, hängt unmittelbar mit einer Frage zusammen, die sich aus der gerade gemachten Beobachtung über die Funktion der Mathematik als „Mitumwenderin" ergibt, mit der Frage nämlich, wieso die Mathematik, die doch glücklicherweise gar nicht darauf angewiesen ist, auf ihrem Gebiet erst ein falsches Bewußtsein zu zerstreuen, diese Aufgabe der Überwindung ideologischer Verblendung übernehmen kann. Die mathematische Erkenntnis scheint doch eher eine Instanz dafür, daß jene Verblendung, die uns das Höhlengleichnis vorgeführt hatte, so absolut gar nicht ist, wie dieses Bild zu suggerieren scheint. Was befähigt dann die Mathematik zu dieser Rolle einer Mithelferin bei der Heilung eines verblendeten Bewußtseins?

Geometrie und politische Erziehung

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Wir müssen, um diese Funktion der mathematischen Wissenschaft zu verstehen, noch einmal das falsche Bewußtsein, das uns in der Gefangenschaft der Höhle vorgeführt wird, untersuchen und dabei auf seine Inhalte Rücksicht nehmen. Der abschließende dritte Teil des Höhlengleichnisses ( 5 i 6 c 8 - 5 i / a 7 ) hatte deutlich gemacht, daß das falsche Bewußtsein der Höhlenbewohner einen politischen Sinn hat; in seinen Hinweisen zum Verständnis dieses Gleichnisses spricht Sokrates von den „Schattenbildern des Gerechten" (517 d 9), über die der in die Höhle Zurückgekehrte „vor Gericht oder anderwärts" (517 d 8) streiten muß. Wir werden daran erinnert, daß wir uns in einem Gespräch über die Gerechtigkeit befinden. Nun ist der Begriff des Gerechten ebenso wie alle anderen normativen moralischen Begriffe ein Begriff, der niemals in einer möglichen Erfahrung dargestellt werden kann - das, wovon wir den Ausdruck ,gerecht' gebrauchen, sei es eine Person oder eine Handlung, ist immer in anderer Hinsicht auch ungerecht (vgl. 47634-7 und 47935-8). Diese Eigenschaft teilen die Begriffe der Moral mit denen der Geometrie. Im Unterschied zu den letzteren wird aber bei den moralisch-politischen Begriffen die Unmöglichkeit einer adäquaten Darstellung zum Anlaß für den Schein, daß diesen Begriffen nur eine empirische Gültigkeit zukomme. Das Gerechte scheint nur ein Inbegriff bestehender Rechtsnormen zu sein - und von da ist der Schritt zu dem ideologiekritischen Zynismus des Thrasymachos, der im Gerechten nur einen Ausdruck von Herrschaftsinteressen sieht, nicht mehr weit. Der Satz, daß alle Rechtsordnungen Ausdruck von Machtinteressen sind, ist ebenso wahr wie der, daß alle Kreislinien die Eigenschaft gemeinsam haben, nicht von jeweils nur einem Punkt gleich weit entfernt zu sein. Aber während niemand aus der Wahrheit des letzten Satzes ein Argument gegen die Geometrie machen würde, ist die Zahl derer nicht gering, die auf Grund der Wahrheit des ersten den Gedanken einer von allen faktischen Rechtsordnungen unabhängigen Idee des Rechtes für eine Chimäre halten139. Wie kann aber nun dies falsche Bewußtsein, das die Grundbegriffe der Moral nicht als ideative Begriffe erkennt, durch die Geometrie korrigiert werden? Das bloße Faktum, daß die exakten Wissenschaften sich auf solchen ideativen Begriffen aufbauen, beweist nur die Möglichkeit dieser Begriffe überhaupt, nicht aber schon, daß wir es im Gebiete der Moral mit 139

Um dem Mißverständnis vorzubeugen, mit der Annahme einer Idee des Rechtes sei die Behauptung eines dogmatischen Naturrechts verbunden, verweise ich auf die Abhandlung von J. Ebbinghaus, Die Idee des Rechtes (Jetzt in: J. Ebbinghaus, Gesammelte Aufsätze. Darmstadt 1968, 274-331). Die Idee des Rechtes ist nicht die Vorstellung einer idealen Rechtsordnung (eines Systems von Gesetzen), sondern die Idee einer Funktion des Rechtes, die als Kanon von Rechtsordnungen dienen kann.

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Viertes Kapitel: Politeia V—VII

ebensolchen Begriffen zu tun haben. Darum ist auch nicht die Geometrie als solche ein Mittel der Heilung des falschen Bewu tseins. Sie wird es erst dadurch, da sie ein Mittel zur Erkenntnis der Idee des Guten ist: dabei meint die Erkenntnis der Idee des Guten die Einsicht in die Funktion der Idee des Guten als Bedingung der M glichkeit ideativer Begriffe berhaupt. Der Erkenntnisweg des H hlengleichnisses schlie t nicht etwa mit dem Anblick der Sonne (5i6b4-/), sondern mit der Einsicht, da die Sonne Ursache in der Ober- wie f r die H hlenweit ist (5i6b-C2). Diese Erkenntnis der Funktion der Sonne hat ihre genaue Entsprechung in der Erkenntnis der Funktion der Idee des Guten (vgl. συλλογίζοιτο . .. αίτιος 5i6 b 9 - c 2, συλλογιστέα .. . αιτία 517 c 1-2). Die Idee des Guten wird als Ursache aller ideativen Begriffe erkannt (πάντων αυτή ορθών τε και καλών αιτία 51602), nicht mehr nur der geometrischen. Aber diese Funktion der Idee des Guten wird gerade dadurch erkennbar, da sie zun chst im Gebiet der Geometrie eingesehen werden kann, weil dort der Status der ideativen Begriffe au er Frage steht. Wenn die Denkbarkeit der ideativen Begriffe in den exakten Wissenschaften dadurch nachgewiesen werden kann, da sie als Normen in dem oben s. 149 f.) bestimmten Sinn fungieren k nnen, als Grenzbegriffe, die den Begriff eines m glichst Guten, zu dem es kein Besseres mehr gibt, inhaltlich f llen k nnen, dann mu sich auf demselben Wege eine Begr ndung der ideativen Begriffe der Moral erreichen lassen: das Gespr ch der ,Politeia' macht die Probe auf dies Exempel, indem es die Realit t des Begriffs der Gerechtigkeit aus der Denkbarkeit eines besten Staates zu begr nden sucht. Gerade weil die Idee des Guten nicht ein h chstes moralisches Prinzip und auch nicht ein h chstes Gut als Ziel menschlichen Handelns ist, sondern ein Prinzip der Begr ndung ideativer Begriffe, kann sie die Rolle eines Paradigma auch f r den Bereich des politischen Handelns bernehmen. Wem an der Geometrie einmal diese Funktion der Idee des Guten einsichtig geworden ist, der ist auch gegen die Sophisterei der Erfahrung auf dem Gebiet der Moral gefeit. Nicht weil sie die Menschen in einem direkten Sinn moralisch bessern k nnte, sondern weil sie ihnen Aufkl rung ber den Status der normativen Begriffe im Gebiet des politischen Handelns verschaffen kann, ist die Geometrie eine m gliche Schule der Gerechtigkeit.

Schlußbemerkimg Mit dem Namen Platons ist die Vorstellung einer Philosophie verknüpft, welche, wie Kant sagt, „die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt", verläßt und „sich jenseit derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes" l wagt. Platon gilt als der Begründer der Metaphysik in dem Sinn einer Intellektualphilosophie, die eine Ideenwelt, eine Welt intelligibler Gegenstände über der Welt des bloßen Sinnenscheins behauptet. Er scheint der Urheber jener Tradition, in deren Kritik die neuere philosophische Theorie seit Locke und Kant ihr eigenes Selbstverständnis begründete. Auch wo die moderne Platonforschung versuchte, Platon wenigstens teilweise - durch die Unterscheidung verschiedener Phasen in seiner philosophischen Entwicklung - vor diesem Vorwurf zu bewahren, da blieben doch die Anamnesislehre und die Urbild-Abbild-Metaphysik der jPoliteia* ein, wie es schien, unwiderlegliches Zeugnis für eine dualistische Metaphysik gerade der Hauptwerke Platons. Wo aber, wie vor allem in der amerikanischen Platonforschung, wegen des Fehlens direkter Zeugnisse für eine solche Entwicklung Platons in seinen Schriften und unter dem Eindruck des Schweigens der aristotelischen Testimonien über sie an der „Einheit von Platons Denken" festgehalten wurde, und wo die Untersuchungen von Cherniss umgekehrt versuchten, die Kritik der aristotelischen Berichte an der philosophischen Lehre Platons durch den Nachweis der Widersprüchlichkeit und - wo sie an den Dialogen zu überprüfen waren - der Unzuverlässigkeit dieser Berichte zu entkräften, da blieb doch auch der Hauptvorwurf des Aristoteles, die Kritik am ,Chorismos', an der Abtrennung einer Ideen- von der uns umgebenden Welt, ganz unwiderlegbar. Für diesen zentralen Punkt seiner Kritik, so scheint es Cherniss, kann sich Aristoteles zu Recht auf Platons Schriften berufen 2. Alle Versuche einer philosophischen Rehabilitierung Platons, etwa von Leibniz oder den Neukantianern, die in 1 KdrV B 43. Vgl. H. Cherniss, Aristotle's Criticism of Plato 208 ff.

2

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ihm den verkannten Vorläufer eigener Einsichten sehen wollten, waren bei diesem offenkundigen Interpretationsbefund schnell zu Fall zu bringen. Die vorstehenden Untersuchungen gingen daher von der Überlegung aus, daß ein Interpretationsversuch, der in Platon nicht mehr einfach den überwundenen, nur noch doxographisch interessanten Antipoden der neueren Philosophie, sondern einen ihrer möglichen Diskussionspartner erkennen will, eine Neuinterpretation jener Textstellen unternehmen muß, auf die sich die Vertreter des jplatonistischen* Platon Verständnisses immer berufen haben. Dabei zeigte sich die Notwendigkeit, den Charakter der platonischen Schriften als Dialoge und die in den Dialogen implizit gegebenen Anweisungen zu ihrer Interpretation weitaus stärker zu berücksichtigen, als das üblicherweise bei der Auslegung platonischer Texte geschieht. Insbesondere machten wir daher die Unterscheidung von Frage und Antwort im Wechselgespräch zu der leitenden Maxime der Exegese; anstatt die Äußerungen der Dialogpartner zu Lehrmeinungen Platons zusammenzurechnen, insistierten wir auf der Rollengebundenheit des je im Dialog Gesagten. Das Ergebnis, zu dem wir auf diesem Wege gelangt sind, ist in der Tat überraschend. Es erwies sich nämlich, daß gerade jene Stellen im Werk Platons, die man bislang immer als Aussagen über die Ideenmetaphysik verstanden hatte, gar nicht die Theorie formulieren wollen, die aus ihnen herausgelesen wurde. In der eigentümlich indirekten Mitteilungsform des sokratischen Gesprächs formulierten sie vielmehr eine Theorie des Erkennens und Wissens, die jedoch nicht primär an der Frage nach der Herkunft der in der Erkenntnis benutzten Begriffe, nach den apriorischen oder empirischen Elementen des Wissens orientiert ist, sondern an der Frage nach den Bedingungen des Übergangs von der bloßen Meinung zum Wissen. Dabei besteht die Originalität dieser Fragestellung wiederum darin, daß Platon dem Wissen nicht eine Vielzahl von Formen des Irrtums gegenübergestellt sieht, sondern ihm einen Opponenten in jener Meinung gibt, die zu wissen meint, was das Wissen ist, die Wissen unausdrücklich und unhinterfragt nach dem Modell des Kennens wahrnehmbarer Objekte versteht. Jene auch für das griechische vierte Jahrhundert so archaisch anmutende These der ,Wiedererinnerung' des Wissens ließ sich nun ebenso als eine metaphorische Darstellung des Weges von einem vermeintlichen Wissen zur Einsicht verstehen wie die Parabel von Gefangenschaft und Befreiung im Höhlengleichnis. Und das Liniengleichnis zeigte uns, daß auch das Urbild-Abbild-Verhältnis nicht den Sinn der metaphysischen Aufteilung der Welt in eine intelligible und eine Sinnenwelt hat, sondern daß mit ihm eine funktionale Unterscheidung im Hinblick auf einen Erkenntnisprozeß

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gemeint ist. So gelesen, erwies sich die Rede von der Urbild-Abbild-Relation nicht als Indikator für die Zweiteilung der Welt, sondern für die Unteilbarkeit des Erkenntnisvermögens. Und die Iterierbarkeit der mit dem Urbild-Abbild-Verhältnis gemeinten Funktion von Mitteln indirekter Erkenntnis garantierte den Aufstieg von der auf Wahrnehmung gegründeten Erkenntnis weise zur Erkenntnis durch Begriffe dank jener Möglichkeit, den funktionalen Status von Erkenntnisgegenständen in einem Prozeß indirekter Erkenntnis zu wechseln und das, für das anderes als Abbild fungiert, als etwas zu nehmen, das für anderes als Abbild fungiert. Die Analogie von Sonne und Idee des Guten ließ sich schließlich ebenso aus dem Sinn der Funktion des Guten für die Möglichkeit der Erkenntnis ideativer Begriffe verständlich machen: nicht eine Idee der Ideen, nicht ein metaphysisches Prinzip allen Seins und schon gar nicht eine transzendente Gottheit war hier gemeint, sondern die funktionale Auszeichnung einer Idee für die Begründung der Erkenntnis ideativer Begriffe. So hat unsere Interpretation eigentlich nur jene Vermutung Kants bestätigt, der trotz der Kritik, die ihm an „der mystischen Deduktion dieser Ideen" (von mathematischen Gegenständen) bei Platon nötig schien, doch meinte, daß „die hohe Sprache, deren er sich in diesem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wohl fähig ist" 3. Gewiß ist damit für ein mögliches Neuverständnis Platons nur ein erster Schritt getan. Ohnehin werden die vorstehenden Interpretationen im einzelnen an manchen Punkten zu korrigieren sein. Daß durch sie gerade die zentralen Fragen, die in der philosophisch orientierten Platonforschung seit je diskutiert wurden, nicht aus der Welt geschafft oder beantwortet sind, liegt auf der Hand. Sie nötigen vielmehr zu ihrer erneuten Untersuchung. Aber für die Klärung dieser wie anderer Fragen, die kritisch oder ergänzend auf die vorstehenden Untersuchungen Bezug nehmen, läßt sich aus diesen doch eine Richtschnur für das methodische Vorgehen ablesen: ich meine die Maxime einer genauen Lokalisierung des jeweils im Dialog Gesagten innerhalb der Argumentationsstrategien der Dialogpartner; negativ gesagt: der Verzicht auf die Interpretationsprämisse, daß die platonischen Dialoge als dramatisierte Traktate gelesen werden können. Zumindest ein Teil jener Stellen, die prima facie Gegeninstanzen für unsere Interpretation zu sein scheinen, dürfte dann dieses Aussehen verlieren; daß z. B. eine Stelle wie Pol. X, 597 b, an der Gott zum Hersteller einer Idee des Bettgestelles gemacht wird, nur ironisch zu verstehen ist und ihren Sinn aus der Kritik des mimetischen Künstlers gewinnt, ist von Cherniss mit, wie mir scheint, 3 KdrV B 371 Fußnote.

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überzeugenden Argumenten nachgewiesen worden4. Umgekehrt scheint mir bei den Wendungen, die für ein Für-Sich-Sein, für den Chorismos der Ideen zu sprechen scheinen, zu untersuchen nötig, ob hier wirklich eine Ideenwelt postuliert ist oder ob nicht nur die Unmöglichkeit der Darstellung ideativer Begriffe, etwa der Mathematik und Moral, in einer - kantisch gesprochen empirischen Anschauung gemeint ist. Daß Aristoteles prädisponiert war, die platonische Ideenlehre in diesem Punkt ontologisch mißzuverstehen, wird durch die Unzulänglichkeit seiner eigenen Theorie mathematischer Gegenstände (vgl. Met. K 3, 1061 a 28-29; Phys. B 2, 193 b 33-35) wahrscheinlich gemacht. Für zwei Probleme der Platonforschung, die nicht unmittelbar mit der Interpretation der Dialoge zusammenhängen, ergeben sich aus der oben gegebenen Deutung der platonischen Philosophie Folgerungen, auf die ich hier abschließend noch kurz eingehen möchte. Zunächst wird nämlich ein zweifacher Grund für die Mißverständnisse der aristotelischen Kritik an Platon deutlich: Aristoteles stellt an Platon die Fragen, in denen er, Aristoteles, sich mit der vorplatonischen griechischen Philosophie unter Ausschluß der Eleaten — einig glaubt: die Fragen nach den der Physis und des Seienden. Wo Platon also eine Theorie des Erkenntnisweges von der Meinung zum Wissen hat geben wollen, hört Aristoteles Antworten auf die Fragen einer ontologischen Theorie. Unterstellt man der platonischen Philosophie die Fragen des Aristoteles, dann muß sie in der Tat das Aussehen einer mangelhaft durchdachten und dogmatischen Metaphysik gewinnen, dann verkehren sich die funktionalen Unterscheidungen Platons in eine metaphysische Unterscheidung von „Seinsstufen". Der zweite Grund für das Mißverständnis der platonischen Philosophie durch Aristoteles und auch für die Suggestion, die von seiner Kritik auf die Interpretation Platons in der Tradition ausging, liegt in einer Eigentümlichkeit der dialogischen Darstellungsform Platons, die wir durch eine genaue Analyse der argumentativen Strategien in den untersuchten Dialogpartien herausarbeiten konnten. Platon gibt nämlich seine Theorie über den Weg von der Meinung zum Wissen nicht gewissermaßen von außen her, sondern so, daß er das falsche Bewußtsein zugleich in den Dialogen unter den Masken der Gesprächspartner des Sokrates präsent sein läßt. Kritias, Menon und Gkukon waren Vertreter jener fundamentalen Doxa, die das Wissen unter dem Modell sinnlicher Kenntnis mißversteht. So wurde, was von Platon lediglich als Mittel der Darstellung falscher Meinung 4 H. Chetniss, On Plato's Republic X 597

> AJPh 53 ( 932) *33 ~ 242·

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gemeint war, von Aristoteles und durch seine Kritik für die spätere Philosophie in sein genaues Gegenteil verkehrt: aus den Darstellungen der Fehler und Aporien, in die sich die Doxa verstrickt, las man Platons eigene philosophische Theorie heraus. Kann man die Gründe für die Verzerrungen der aristotelischen Platonkritik verstehen, so haben wir damit aber umgekehrt ein Mittel zur Entzerrung der aristotelischen Berichte und der indirekten Überlieferung insgesamt in der Hand. Wir können versuchen, die dogmatische Ideen- und Prinzipienmetaphysik der Testimonien wieder in jene Theorie zurückzuübersetzen, in deren Zusammenhang sie an ihrem Ursprungsort gestanden haben müssen. Insbesondere gewinnen die Berichte über Platons Vorlesung „Über das Gute" im Zusammenhang der vorgelegten Interpretation des Sonnengleichnisses einen sachlich verstehbaren Sinn. Bei dem Versuch, diese Berichte neu zu interpretieren, kann jetzt der Text der ,Politeia' zumindest partiell als Korrektiv gegen die Umdeutungen der Tradition fungieren. Der Versuch einer erneuten Aneignung der indirekten Überlieferung kann den Weg durch die Dialoge nehmen und muß nicht zu einer Repristination der Metaphysik des Platonismus in der Platoninterpretation führen, wobei es gerade unerklärlich bleibt, wie der scharfsinnige und undogmatische Autor der Dialoge sich zu dem Dogmatismus dieser Metaphysik versteigen konnte. Man muß Platons Philosophie weitaus radikaler als es auch in der modernen Platonforschung üblich ist, vom Platonismus unterscheiden. Erst dann kann man hinter den platonischen Metaphern und Gleichnissen, die seit Aristoteles und den Neuplatonikern als Zeugnisse einer dualistischen Metaphysik gelten, das hohe theoretische Niveau dieser Philosophie sichtbar machen. Von Karl Popper, immerhin einem der schärfsten Kritiker Platons und zugleich einem bedeutenden Wissenschaftstheoretiker, stammt die Charakterisierung Platons als des „greatest epistemologist of all" 5. Dies Urteil Poppers haben wir gerade an jenen Textstellen bestätigen können, die ihm am ehesten zu widersprechen scheinen. Platon, dieser Schüler des Sokrates, ist nicht der Begründer der Metaphysik des Platonismus, sondern der erste Theoretiker der Aufklärung.

5

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I. Loci Platonici Alcibiades maior 113 a Apologia 20 e- 2i a 21 c-d d 34» 38 b Charmides 153 c 159 b 3 5 160 e 4 i6ib4-c2 163 b cio e 164 a-c ai-c6

D7-C3 cff.

d - 169 c d-iÖ7b d 2-3

b4 5-C3

56 68 127 30 30

57 57 57 57 77 57 55, 63, 80 55 57 55 35 56 58 55 61 61,82 58 56 58 58 58, 62 62

5-6 04-6 6-7 7 8 -166 a 2 IO-d2

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Stellenregister

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