Meine Begegnungen mit Gottfried Benn. 1951–1956: Anlaß, Stationen, Dokumente [1 ed.] 9783428466573, 9783428066575

Die hier erstmals vorgelegten Erinnerungen des Literaturwissenschaftlers Hermann Kunisch (1948-1955 an der Freien Univer

117 90 9MB

German Pages 91 Year 1989

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Meine Begegnungen mit Gottfried Benn. 1951–1956: Anlaß, Stationen, Dokumente [1 ed.]
 9783428466573, 9783428066575

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

HERMANN KUNISCH

Meine Begegnungen mit Gottfried Benn

HERMANN KUNISCH

Meine Begegnungen mit Gottfried Benn 1951-1956

Anlaß - Stationen - Dokumente

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hermann Kunisch: Meine Begegnungen mit Gottfried Benn: 1951 - 1956; Anlass - Stationen - Dokumente I Hermann Kunisch. Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 ISBN 3-428-06657-X

Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06657-X

Frau Dr. med. dent. Ilse Benn-Kaul in aufrichtiger Verehrung zugeeignet.

"Du stehst für Reiche, nicht zu deuten und in denen es keine Siege gibt." "Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich. " "Es gibt Zerstörungen, nicht daß ich leide, man kann die Götter ja nicht anders sehn, und eine Liebe, arm und krank ihr beide, du mußt für sie auf Höfe singen gehn." "Das Wesen des Menschen ist die Gestaltungssphäre." "Form nur ist Glaube und Tat, die erst von Händen berührten, doch dann den Händen entführten Statuen bergen die Saat." "Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge-: dienst du dem Gegenglück, dem Geist."

D

er äußere Anlaß zur Niederschrift meiner "Begegnungen" mit Gottfried Renn ist dessen hundertster Geburtstag: 1986. Ein paar Daten müssen genügen, um den Rahmen festzulegen, innerhalb dessen sich begeben hat, was man Benns Lebensgang nennen kann. Als Sohn eines strenggläubigen Pfarrers wurde er in Mansfeld (Westprignitz) geboren, wuchs dort und in Sellin (Neumark) auf. Nach den Gymnasialjahren in Frankfurt/Oder studierte er nach Anfängen in Marburg seit 1904 in Berlin, zunächst Philologie, dann seinem eigenen Wunsch folgend Medizin. Nach vielen, durch äußere Umstände hervorgerufenen Stationen (Militärdienst im 1. Weltkrieg, bis 1917, Assistenzarzt, Schiffsarzt) ließ er sich 1917 endgültig als Facharzt in Berlin nieder, das in genauem Sinn der "Ort" seiner menschlichen und künstlerischen Existenz wurde. Dort hat er zunächst in der Belle-Alliance-Straße, dann bis zu seinem Tode, 1956, in der Bozener Straße gewohnt. Von allem öffentlichen Verkehr abgeschieden, in einfachen äußerlichen Verhältnissen aus den nicht üppigen Mitteln der Arztpraxis lebend; im Umgang scheu, verletzlich, zurückhaltend. Neben und nach frühen medizinischen Aufsätzen, die jüngst gesammelt worden sind - darunter eine 9

von der Kaiser Wilhelm Akademie preisgekrönte Arbeit über Epilepsie (1911) - entstanden seine ersten dichterischen Äußerungen, 1912 "Morgue", 1913 "Söhne", 1916 die "Rönne"-Novellen, 1919 "Szenen". Den ersten Sammlungen seiner "Schriften" (1922), der "Gedichte" (1927), der "Prosa" (1928), den "Ausgewählten Gedichten" (1936; seiner letzten Veröffentlichung im Dritten Reich) folgten spät, nach 1948, als er sich nach der Zurückgezogenheit der dreißiger 1ahre gegen sein Gefühl der Öffentlichkeit wieder verbunden hatte, die neueren "Statischen Gedichte" (im Verlag der "Arche" in Zürich, 1948, dann "Limes", Wiesbaden 1949), die "Essays", die autobiographischen Schriften ("Doppelleben" 1950). Als eine Art Vermächtnis hat sein noch von ihm betreuter Gedichtband "Gesammelte Gedichte" von 1956 zu gelten. Ihm stellte er sein letztes vollendetes Gedicht vom 6. 1anuar 1956 als eine Art "Prolog" voraus, seine letzte Einsicht in Leben und Schaffen zusammenfassend in den W orten: "Kann keine Trauer sein. Zu fern, zu weit[ ... ] Kein Nein, kein 1a." In einem anderen späten Gedicht (1954) umschrieb er sie: "Teils-teils": "Teils-teils das Ganze I Sela, Psalmenende." Die Beziehungen Gottfried Benns zu zeitgenössischen Künstlern - beginnend 1912, als er den Mitgliedern der "Aktion" von Pranz Pfemfert, dem "Pan", dem "Sturm" und den "Weißen Blättern" 10

näher trat, sich fortsetzend während des Krieges in Brüssel (1915) in dem Zusammentreffen mit Carl Einstein, Otto Flake, Wilhelm Hausenstein, Carl Sternheim - traten, je älter er wurde, um so mehr zurück. Es gab nur wenige, die länger und bestimmender in seiner Welt blieben, darunter vor allem Else Lasker-Schüler, die Bildhauerin Renee Sintenis und trotz mancher Wesensverschiedenheiten Oskar Loerke, der ihm den Zugang zur "Neuen Rundschau" vermittelte und seine Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste einleitete (1932 unter der Präsidentschaft von M ax Liebermann ). Dazu trat die fruchtbare Brieffreundschaft mit dem noblen Gönner und Bewunderer F. Wilhelm Oelze aus Bremen 1932 - 1956. Die Mitgliedschaft in der Akademie führte zu mancherlei Spannungen und Krisen. Darunter die von seiner Geburtstagsrede auf Heinrieb Mann (1931) ausgelöste!, und in weiterem Zusammenhang die noch heute bewegende Auseinandersetzung mit dem jungen Klaus Mann, auf dessen hochherzigen Brief vom 9. 5. 1933 er in seiner problematischen Rundfunk-Ansprache vom 24. 5. antwortete. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, daß Benn in seinem "Doppelleben" (1949/50) nicht nur Klaus Manns Brief vollständig abgedruckt, sondern den Impuls und die Aufrichtigkeit des Jüngeren eindrucksvoll und hochherzig gewürdigt hat: "Dieser 11

Siebenundzwanzigjährige hatte die Situation richtiger beurteilt, die Entwicklung der Dinge genau vorausgesehen, er war klarerdenkend als ich. " 2 In seiner Huldigung Heinrich Manns hatte Gottfried Benn diesen- gegenüber der gängigen Einschätzung als sozialen Schriftsteller- als "Künstler" gefeiert. Er verteidigte darin die Kunst als ,,unzeitgemäß"; und ihre Besonderheit, die sie von anderer "Rede" sonst unterscheidet, im Anschluß an Nietzsches "Artistenevangelium" als "Oberflächlichkeit aus Tiefe", als "Olymp des Scheins". "Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit" (1, 132. 442 und öfter); Kunst als der "Kategorie des Verbrecherischen" nahe stehend - und dies als Gegensatz zum "Schwammigen des deutschen Geistes", zu der deutschen Neigung zum "Wolkigen", zur "Sprache der Weissagung" und zum "Prophetischen im Halblicht", zum "Ungewissen, U nausgestalteten, sich Verschiebenden, Wachsenden jeder Art". Kunst und Dichtung, wenn auch "sinnlos wie Raum und Zeit", sind doch "Reflex der Immortalität, der über versunkenen Metropolen und zerfallenden Imperien von einer Vase oder einem gestalteten Vers aus der Form sich hebt, unantastbar und vollendet" (1, 415). Kunst ist "dionysische", "absolute" Kunst: Artistik. Damit haben wir die Ebene bezeichnet, auf der von Anfang an die Begegnungen mit Gottfried Benn 12

sich ereigneten. Sie standen immer unter dem Zeichen der von ihm leidenschaftlich verteidigten "Ausdruckskunst" als der letzten Chance des Menschen im zu Ende gehenden "Quartär": der "vierte Mensch", "der Mensch ohne Inhalt, der die Grundlagen der Ausdruckswelt schuf" (1, 484). Alle seine sonstigen Möglichkeiten sind verspielt, einzig die Kunst gibt ihm noch das Recht auf Dasein. "Verlöschen der Substanz auf Kosten der Expression" (1, 489), "die Erledigung der Wahrheit und die Fundamentierung des Stils", so in der Nietzsche-Rede von 1950 (1, 493). "Stil ist der Wahrheit überlegen" (1, 292). Die Stimmung ist vom Gefühl der Endzeitlichkeit geprägt, dunkel und pessimistisch: "Dieser Pessimismus war mein Gewicht und meine Erdverbundenheit". "Der Name des Stückes ist Apreslude" (2, 221): Niemand weiß, wo sich die Keime nähren, niemand, ob die Krone einmal blüht Halten, Harren, sich gewähren Dunkeln, Altern, Apreslude. 3

So erschien er mir seit der ersten Begegnung mit ihm im Jahre 1951 : einsam, teilnahmslos am "Betriebe" draußen, auch dem literarischen, müde und in der Tiefe von einer sich nicht zeigen wollenden Güte.

13

I Mit dem Wort "Begegnungen", unter dem wir die folgenden Betrachtungen zusammenfassen, ist ein doppelter Sinn verbunden. Es meint einmal tatsächliche Begegnungen im persönlichen Gespräch zwischen zwei Menschen oder aus Anlaß öffentlichen Zusammentreffens, so etwa bei Vorträgen, Dichterlesungen, auf den Berliner Festwochen 1952, im Rundfunkstudio 1954 - dann, diesem vorausgehend und folgend, Auseinandersetzung mit Person und Werk des Dichters in intensiver Lektüre und, daraus sich ergebend, in literarkritischen Skizzen und Essays, in öffentlichen Vorträgen und in der U niversitätsarbeit. Diese Niederschrift soll ausdrücklich den Charakter der persönlichen Erinnerungen haben; so mag es gerechtfertigt erscheinen, wenn neben den äußeren Ereignissen auch die geistigen Beziehungen zu Worte kommen. Die Begegnung mit Gottfried Benn bedeutet für mich den großen Abschluß meiner Berliner Zeit, - meiner Tätigkeit als Professor der Germanistik, seit 1946 an der Ostberliner Humboldt-Universität und von 1948 bis 1955 an der neugegründeten Freien Universität in Berlin-Dahlem, ehe ich 1955 nach München übersiedelte. 1951 begann die äußere Verbindung mit Gottfried Benn. Sie kam, wenn auch von außen inszeniert, aus mnerer Notwendigkeit; von beiden Seiten war 14

Kenntnis des anderen und Bereitschaft zur Begegnung bereits vor dem tatsächlichen Bekanntwerden vorhanden. Bei dem Literaturwissenschaftler und Lehrer einfach durch seine mit dem Amt gegebene Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur, seit den Anfängen in Ost-Berlin. Dort war es mehrfach notwendig, Auswahl der literarischen Zeugen und Art der Behandlung und Bewertung gegen politische Einflußnahmen zu verteidigen, darunter auch die wiederholte Bezugnahme auf Benn. Der von mir vertretene Grundsatz, daß der allein gültige Grund für Auswahl und Wertung der Zeugnisse die Frage sei, ob ein "literarisches" Werk Kunst sei, ohne andere Absicht, als eben Kunst zu sein, traf- nicht bei den meisten der Hörer, das sei dankbar vermerkt- bei "Kollegen", der Besatzungsbehörde und dem staatlichen Amt für Volksbildung auf heftigen Widerstand. Eine in einer Vorlesung dargelegte Rechtfertigung, die später unter dem Titel ,,Geist und Wahrheit. Einleitung zu einer Vorlesung 1948" veröffentlicht wurde, führte dann zum Austritt aus der HumboldtUniversität. 4 Bei diesen Bemühungen um Sinndeutung der Dichtung war Gottfried Benn für mich schon vor unserer persönlichen Begegnung von maßgebendem Einfluß. Seine geistige Position und Überlegenheit waren Bestärkung und Richtmaß für die wissenschaftliche Arbeit. Seine Reden und Dichtungen waren Anlaß zur Auseinandersetzung, Klärung 15

des geistigen Standorts; vermittelten Bestätigung in der eigenen Zuneigung zu Vorhandensein und Wesen der Dichtkunst, und gaben die herzhafteste Versicherung, daß man damit nicht auf einem nicht mehr vertretbaren Irrwege sich befand, sondern dem Rechten und Notwendigen verbunden war. Benn war in der angespannten Lage der Zeit der Garant dafür, daß es bei dem Gegenstand literarhistorischer Arbeit um etwas Letztes, Adeliges,·Unabdingbares ging. Gewiß war der Grund solcher Überzeugung bei mir in der langen vorausgegangenen Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Dichtung gelegt - Mittelalter, Goethe, Eichendorff, Stifter, Hofmannsthal, um nur einige vertrauteste Namen zu nennen- und in der Zeugenschaft ähnlich denkender Wissenschaftler- ich nenne außer meinem Lehrer Arthur Hübner dankbar Emil Staiger, Friedrich Gundolf, Ernst Beutler, ]osef Hankamer, Max Kommerell- und den großen abseitsstehenden Theodor Haecker, einem der entschiedensten Verfechter der "Unterscheidung der Geister", seit seinen Streitschriften "Satire und Polemik" (1922) bis zu dem unvergeßlichen "Vergil" (1931 ). Daß aber damals Benn bestimmender in Erscheinung trat und wirkte, lag an der Situation Berlins, der wir beide, jeder auf seine Weise, verpflichtet waren. Auch wenn er damals noch von jeder "Öffentlichkeit" geschieden war, so war er doch dem nach Orientierung im Wirrwarr der Zeit Suchenden 16

als lebendige Kraft gegenwärtig: atmosphärisch spürbar und in seinen Verlautbarungen direkt wirkend. Seine Rede auf Heinrich Mann (1931) und der parallel laufende Essay wurden bereits genannt. Dazu kam 1932 der denkwürdige Aufsatz über "Goethe und die Naturwissenschaften"; später (1950) die Nietzsche-Rede und die beiden im eigentlichen Sinne maß-gebenden Altersreden: "Probleme der Lyrik" (1951) und "Altern als Problem für Künstler" (1954 ). Benns Anteilnahme an den die Öffentlichkeit in Berlin lebhaft beschäftigenden geistespolitischen Vorgängen verband sich mit der ihn immer stärker bewegenden Frage nach der Möglichkeit eines Fortbestehens der von ihm als überlebt und erledigt empfundenen Welt des "Quartär". Gibt es, vielleicht im Hinblick auf den neuen "triploiden" Menschentyp, noch eine Chance des Überlebens? Das Verzweifelte an dieser schicksalhaften Analyse war, daß er solches Fortbestehen an die Schaffung von "Kunst" im Sinne der "Erledigung der Wahrheit und Fundamentierung des Stils" gebunden hat. Der Künstler als letzte Existenzform des Menschen, Kunst als seine einzige Auszeichnung und Rechtfertigung. Es gibt zu dieser Zeit nur noch eine ebenso elitäre, großartige und verzweifelte Flucht aus dem Ganzen menschlichen Daseins in eine vom Künstler getragene Ausnahmesituation. Das ist die Rilkes. Was dem Einen (Benn) die Schaffung noch berechtigter und lebensfähiger 17

Gebilde war, die der "Statuen", das war dem Anderen die Rettung der vom Menschen zerstörten Welt in den der Zeit und dem Leben enthobenen "Weltinnenraum", den zu vollenden und vor das Angesicht des Gültigkeit verleihenden "Engels" zu bringen, Aufgabe und Auszeichnung des Künstlers, des "Singenden", des "Orpheus" ist. Mit der Verkündigung der Kunst als des einzig zu Bewahrenden und Gültigen stimmt Benn mit dem Politiker, Historiker und Kunsttheoretiker Andre Malraux überein. Seine Überzeugung, daß die "Statuen" die Saat bergen, ist die gleiche wie die Malrauxs, daß nur die Kunst Welt und Leben vor dem Gericht der "Götter" rechtfertigen wird. Damit soll nur eine Übereinstimmung festgestellt, nicht aber etwa eine Abhängigkeit Benns von Malraux behauptet werden. Beide gelangten, so wird man sagen dürfen, aus verwandter Erfahrung zu dieser außerordentlichen Einsicht.5 Bei Benn heißt es: Form nur ist Glaube und Tat, die erst von Händen berührten, doch dann den Händen entführten Statuen bergen die Saat (3, 134).

Bei Malraux steht im Schlußabschnitt seiner "Psychologie der Kunst" ("Das vom Menschen geschaffene Universum"): "Mögen die Götter am Tage des Gerichts den einstigen Formen des Lebens das Volk 18

der Statuen gegenüberstellen! Dann wird von der Gegenwart der Götter nicht die von ihnen geschaffene Welt der Menschen Zeugnis ablegen; die Welt der Künstler wird es tun." Und etwas später: "Der Sinn der Zeitalter liegt in einigen Bereichen von Linien, Worten, Klängen oder Gedanken." Wir kehren zur Berliner Situation 1948 zurück. Trotz aller Isolierung, in die sich Gottfried Benn durch sein extremes, aller Parteinahme entrücktes Bekenntnis zur "absoluten Kunst", der "monologischen Kunst", selbst hineingelebt hatte, und trotz aller Skepsis gegenüber etablierter Wissenschaft und dem Gelehrtenturn mußten ihn die Vorgänge nach der Teilung der Stadt, der Errichtung einer zweiten, "freien" Universität tief berühren. Im Mittelpunkt aller geistespolitischen Interessen und Überlegungen stand aber, wie immer bei ihm, die Frage nach dem Wesen der Dichtung, ihrer "Aufgabe", ihrer Berechtigung. Intensiviert wurden diese geistigen Auseinandersetzungen durch das Vordringen der östlichen Welt mit ihrer Deutung und Wertung des Menschen und der Kunst, wie sie von dem "geschichtsphilosophischen Materialismus" propagiert- und zu seinem Entsetzen von der "westlichen" Welt weithin anerkannt wurde. Im Frühjahr 1931 hielt der russische Schriftsteller Tretjakow in Berlin emen "raffinierten und pole19

misch fesselnden Vortrag, dem das ganze literarische Berlin zuhörte" (1, 422). Benn war der Einzige, der sich aus seiner "artistischen" Grundposition heraus energisch gegen die Inanspruchnahme der Kunst und Dichtung durch außerdichterische Instanzen verwahrte. In einem Rundfunkvortrag vom August 1931, "Die neue literarische Saison" (1, 419- 430), nahm er grundsätzlich und ausführlich Stellung zu der von dem sowjetrussischen Schriftsteller vertretenen Propagierung der Kunst als der Gesellschaft verpflichtet und ihren Forderungen unterworfen. Er stellte sich damit, wie schon in seiner Rede auf Heinrich Mann vom Frühjahr desselben Jahres auf die Seite der nichts bewirkenden, nur sich selbst genügenden "Schönheit". In einer nachgelassenen Anmerkung vom 20. IV. 1950 zu der Heinrich Mann-Rede heißt es (1, 624): "Wer Kunst macht, ist stigmatisiert, ist anfällig, ist im bürgerlichen Sinne nicht ernst zu nehmen. Wer Kunst macht, ist kein Stadtverordneter. Lassen wir seinen Haß sich bewegen, wohin er will, wenn nur außerhalb dieses Hasses das Unvergängliche steht - Schönheit ist immer Verrat, Schönheit ist seltener als Uran, wer will kann ihr aus dem Weg gehn, wer politisch arbeiten will, kann über sie hinwegsehn, wer dem Tode nicht anheim gegeben sein will, um mit Platen zu reden, kann den Blick auf sie vermeiden." Die Nennung Platens verrät, in welchem geistigen Umkreis sich der 20

späte, heimgesuchte Benn bewegt und aus welcher W eltenzone, von der eigenen Veranlagung abgesehen, sein Schicksal bestimmt war. Benns Stellungnahme gegen die politisch bestimmte Literaturbetrachtung beginnt nicht erst mit den Reden des Jahres 1931. Ihnen voran gingen öffentliche Auseinandersetzungen, die von einem Artikel von Max Herrmann-Neiße in der "Neuen Bücherschau" im Juli 1929 hervorgerufen waren. Der Lyriker Max Herrmann-Neiße (1886- 1941), der "Aktion", dem "Pan" und Schickeies "Weissen Blättern" verbunden, wandte sich darin gegen die "literarischen Lieferanten politischer Propagandamaterialien" und nannte Benn als "Beispiel des unabhängigen und überlegenen Weltdichters". Diese Parteinahme führte zur Entfremdung Herrmann-Neißes von ]oh. R. Becher und Egon Erwin Kisch und zu deren Austritt aus der Redaktion der "Neuen Bücherschau". Beide griffen daraufhin Benn an und verteidigten die Aufgabe der politisch engagierten Schriftsteller, von denen Kisch meinte, daß sie "turmhoch über dem überlegenen Weltdichter [ständen], über allen Benns und Stefan Georges". Benn antwortete darauf in einigen kritischen Essays, in denen er seine Position zu klären suchte: angestrengte Übungen. Dahin gehört unter anderem der an Becher und Kisch gerichtete "Brief an die Herausgeber der ,Bücherschau"', Oktober 1929 (jetzt 4, 21

205 ff.): "Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit". Darin begegnete er der gegen ihn gerichteten Frage ]ohannes R. Bechers, ob ein Dichter schweigen dürfe, "wenn allein in Berlin sechsunddreißigtausend Fälle offener Tuberkulose festgestellt würden ... " mit der harten, keinen Widerspruch zulassenden Absage an diese "Stimme der Zeit" und erklärt in Anlehnung an "die großen Kulturphilosophen des vorigen Jahrhunderts", daß die "historischen Wendepunkte" im Weltprozeß "keiner literarischen Lieferanten und keines politischen Propagandamaterials" bedürften (4, 212). Diese Unbedingtheit verdichtet sich in dem Rundfunkdialog "Können Dichter die Welt ändern?" (vermutlich mit dem um ihn bemühten Oskar Loerke) von 1930, der einige Passagen wörtlich aus dem an Becher und Kisch gerichteten öffentlichen "Brief" übernimmt. Hier vertritt er seinen "Nihilismus der Kunst", wobei zu sagen ist, daß Nihilismus für ihn ein positiver Begriff ist: "Aufhebung des brutalen Realismus der Natur", indem der Dichter das "Zweideutige des Seins" "gliedert und bildnerisch klärt". Solches Tun aber genügt sich selbst, steht nicht im Dienst der "Arbeiterbewegung" oder des "Aufstiegs des Proletariats". Benns unerbittliche Verteidigung der "Artistik" gipfelt in der Feststellung: "Kunstwerke sind phänomenal [das heißt, reine Erscheinung, oder mit Nietzsche: "Olymp des Scheins"], historisch unwirksam, prak:22

tisch folgenlos. Das ist ihre Größe" (4, 215). Diese Grundüberzeugung wird variiert in dem gleichzeitigen Essay "Zur Problematik des Dichterischen" ("Neue Rundschau" 41, 4, 1930; jetzt 1, 66- 83). Verschärft erscheint sie aus Anlaß der bereits erwähnten Berliner Rede des sowjetischen Schriftstellers Sergej Tretjakow in dem Rundfunkvortrag vom 28. August 1931: "Die neue literarische Saison" ("Die Weltbühne" XXVII, 37, 1931, S. 402- 408; jetzt 1, 419- 430).6 In dieser Verteidigung der "artistischen Kunst" als Gegensatz zur "kollektivistischen" stellte er einander gegenüber "Stimmung und Gesinnung" und auf der anderen Seite "konstruktive Glut, Leidenschaft zur Form" (1, 420f.). Während Tretjakow die Forderung nach Überwindung des Gehalts in der gültigen "Form" als "westeuropäische Individualidiotismen" verurteilte, wandte sich Benn gegen die gerade den Deutschen so naheliegende Beurteilung der Kunst nach ihrem "Gehalt", den ja, wie er an anderer Stelle sagt, jeder hat: Vaterland, Liebe, Natur. Statt dessen fordert er, "das Leben ausschließen, es verengen, ja es bekämpfen, um es zu stilisieren" (1, 426). "Stil", so heißt es anderswo, "ist der Wahrheit überlegen." Er berief sich dabei auf Goethe, der kein "Mann des Stammtisches" gewesen sei, den, wie wir wissen, Heine als "Zeitablehnungsgenie" und "Stabilitätsnarr" verwarf.7 23

Den geistigen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildet die Umschreibung des Menschen als des nicht ableitbaren, nicht aus Herkunft und Milieu zu begreifenden "unwillkürlichen" Wesens. Diese Berufung auf die geistige, personale Individualität des Menschen gehört zu den ergreifendsten und auszeichnendstell Leistungen dieses als Nihilisten und Materialisten verschrieenen Menschen und Künstlers Benn. Seine faszinierende Rede gerät wieder in die Nähe Goethes und dessen Bestimmung des Menschen als "ineffabile", das heißt, nicht ableitbar, nicht erklärbar; wie er Lavater gegenüber sich äußert: "ein Wort, daraus ich eine Welt ableite." Die hier gemeinte, Benns "Anthropologie" wesenhaft zusammenfassende Stelle lautet: "Ich frage nun, ist das [die materialistische Deutung des Menschen und, davon abhängend, die Inanspruchnahme der Kunst für politische und gesellschaftliche Zwecke] psychologisch wahrscheinlich oder ist das primitiv? Ist der Mensch in seinem Wesen, in seiner substantiellen Anlage, im letzten Grundriß seines Ich naturalistisch, materialistisch, also wirtschaftlich begründet, wirtschaftlich geprägt, nur von Hunger und Kleidung in der Struktur bestimmt oder ist er das große unwillkürliche Wesen, wie Goethe sagte, der Unsichtbare, der Unerrechenbare, dertrotzaller sozialen und psychologischen Analyse U nauflösbare, der auch durch diese Epoche materialistischer

24

Geschichtsphilosophie und atomisierender Biologie seinen schicksalhaften Weg: eng angehalten an die Erde, aber doch über die Erde geht?" (1, 425). Das ist abendländisch - ich weiß, Benn würde verlegen oder gar unmutig abwehren!- und ein Ärgernis für alle, die einer politisch und gesellschaftlich bestimmten Auffassung des Menschen anhängen. Wie hier bei Benn, so erscheint der Mensch - lassen wir einmal Antike und Mittelalter aus dem Spiel- in der großen europäischen Tradition: das heißt für Deutschland etwa Goethe, trotzallen Einschränkungen der deutsche Idealismus, Romantik, Kierkegaard bis hin zu dessen späten Aneignern Romano Guardini und Theodor Haecker; Adalbert Stifter, Nietzsche, Hofmannsthal, um einige Hinweise zu geben, die keineswegs erschöpfend sind, aber verdeutlichen, um was es hier geht, und warum Benn mir als Kronzeuge für eine der Grundwahrheiten europäischen Menschenverständnisses, nicht nur für eine große der "Zeit" nicht verpflichtete, unabhängige Deutung der Kunst merkwürdig wurde, schon vor der direkten Begegnung. Was dann geschah, war notwendig und voller Berechtigung und Sinn, auch wenn der Anlaß dazu nicht von uns beiden ausging. II Die erste Verbindung mit Gottfried Benn wurde durch einen äußeren Anlaß herbeigeführt. Kurz nach 25

dem Kriege hatten wir, um des Eigenen und Notwendigen uns wieder zu versichern, in Berlin einen "Verein der Freunde der Natur- und Geisteswissenschaften" gegründet. Die geisteswissenschaftliche Klasse wurde mir anvertraut. Die Amerikaner nahmen sich dieses Unternehmens fördernd an. Sie überließen uns für unsere abendlichen Veranstaltungen in ihrem Sektor eine Villa am Wannsee, die ihren Offizieren als Kasino diente. Der Honorarprofessor Altenberg von der Freien Universität hatte sich erboten, einen Vortrag 'über Benn zu halten. Mir fehlen nähere Aufzeichnungen, um den Titel anzugeben; ich vermag auch nicht zu sagen, ob er jemals gedruckt worden ist. Es war noch die Zeit, wo das literarische Leben äußerst beschränkt war, an Veröffentlichungen dieser Art kaum zu denken war. Der Wannsee-Club war wie eine Oase in einem noch weithin unzugänglichen und unzulänglichen geistigen Gelände. Berlin war von der Außenwelt abgeschnitten; 1948 begann die vom Osten verfügte Blockade; die "Luftbrücke" der "Alliierten" ermöglichte das notwendige materielle Bestehen. Mir fiel an diesem Benn-Ahend (17. November 1951) die Aufgabe zu, den Vortrag einzuleiten und mit einem Nachwort zu beschließen. Es war meine erste öffentliche Äußerung über Benn. Auch hier fehlen mir Notizen, um den Inhalt meiner, am

26

Schluß offenbar längeren Bemerkungen anzugeben. So weit mir erinnerlich, habe ich einige Modifikationen zu dem Vorgetragenen dargelegt. Gottfried Benn war eingeladen worden, erschien aber nicht, wie vorauszusehen war. Er lebte damals noch in seiner selbstgewählten Isolierung von jedem öffentlichen Betrieb. Statt seiner war aber seine Frau, Dr. Ilse Benn-Kaul, anwesend. Sie hat ihm von dem Abend berichtet; wie aus Benns unmittelbarer Reaktion zu schließen ist, mit Zustimmung zu meinen Worten. Am folgenden Tag, dem 18. XI., antwortete er in emem maschinenschriftlichen Brief mit dem gedruckten Absender: Dr. med. Gottfried Benn. Berlin-Schöneberg, Bozener Str. 20. Tel. 712097. Datum und Unterschrift waren handschriftlich. Der Brief lautete: Sehr verehrter Herr Professor, meine Frau hat mir berichtet, daß Sie die Freundlichkeit hatten, den Abend in der Gesellschaft der Freunde der Natur- und Geisteswissenschaften einzuleiten und zu schließen. Ich danke Ihnen sehr dafür und erlaube mir, Ihnen ein gerade erschienenes neues Buch zu senden, allerdings ein Buch mit alten Aufsätzen, ein für meine Verhältnisse äußerst harmloses Buch, das man fast als Lektüre bezeichnen kann. Ich kann nicht damit rechnen, daß es Sie sehr fesselt und bitte es 27

nur als Dankgabe von mir entgegen nehmen zu wollen. Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener Gottfried Benn. Dem Brief beigefügt war der Band "Essays", Limes Verlag Wiesbaden 1951. Die handschriftliche Widmung lautete: "Dem ord. Professor für Deutsche Philologie an der F. U. Herrn Prof. Dr. Kunisch mit ergebenstem Gruß XI/51 Gottfried Benn" Berlin Bemerkenswert ist, daß Benn 1951 diese frühen Aufsätze - darunter die uns als provozierend und noch immer faszinierend und von sachlicher Wichtigkeit erscheinenden "Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht" (1934) "Nach dem Nihilismus" (1932) und "Die neue literarische Saison" (1931) mit der Tretjakow-Auseinandersetzung - als "äußerst harmlos" empfindet und sie "fast als Lektüre" bezeichnet; was doch wohl bedeutet, daß er sie als eine Art unverbindlicher Unterhaltung bewertet wissen wollte. Solche Ver-

28

kennung ist vermutlich Ausdruck seiner damaligen von Verbitterung und Zynismus geprägten Vereinsamung. Er war durch die Ablehnung von links und rechts unsicher, was sein solche abwertende Einschätzung hervorrufendes Werk eigentlich zu bedeuten habe; ob es nicht nur für ihn noch irgend einen Wert besitze. Dazu das Gefühl, was man auch tut, für wen immer man es getan hat, im Grunde hätte es auch unterblieben sein können- und die Ungewißheit, ob es ihm noch möglich sein würde, das noch zu leisten, was in dem bisher Vorhandenen nicht geleistet war. -In der "Vorbemerkung" des Bandes von 1951 heißt es: "Für mich war das Schreiben der Aufsätze vielfach nur eine Art von Erprobung auf Produktivität und eine Prüfung von Konstellationen, Lagen, Zusammenhangsfindungen, von denen aus sich wieder zum Gedicht vordringen ließ, es war also eine Art Materialbeschaffung für die Lyrik, die immer mein eigentliches Anliegen war." Jedenfalls darf man dieses Bekenntnis oder Eingeständnis nicht als aus Eitelkeit oder Selbstbewußtsein geäußerte Unaufrichtigkeit bewerten. Die Tatsache, daß er nach dem ihm gewidmeten Abend sich zu Dank bewogen fühlte, zeigt, daß er seiner zweifelnden Selbsteinschätzung nicht ganz traute- und daß der damals Vergessene und Übergangene doch wünschte, seine Arbeit möge nicht ganz umsonst und ohne Gewicht gewesen sein. Eine eigenartige

29

Spannung zeigt sich auch in der Widmung: "Dem ord. Professor ... ". Der dem wissenschaftlichen Gehabe skeptisch Gegenüberstehende verbindet in ihr ironischen Abstand mit vorsichtiger, tastender Anerkennung. Rührend und anziehend diese Ambivalenz -um Benns mehrfach genannte Charakteristik zu gebrauchen- eines Einzigartigen und Einmaligen. Die nächste, nun auch persönliche Begegnung und erstes direktes Kennenlernen wurde wieder von außen herbeigeführt: die Mitarbeit an den "Berliner Festwochen" August, September 1952. Es war üblich geworden, daß die eigentlichen Festveranstaltungen: Theater, Oper, Konzerte, begleitet wurden von einigen sonntäglichen Matineen, bei denen Fragen der literarischen und künstlerischen Situation erörtert wurden. Von dem Leiter der "Festwochen", dem Intendanten der Berliner Philharmoniker Georg v. Westermann, waren für dieses Jahr drei oder vier öffentliche Diskussionen geplant über das Thema: "Wo stehen wir heute?", in der Musik, der bildenden Kunst, dem Theater, der Literatur. v. Westermann bat mich, die Leitung der Matinee über die Literatur zu übernehmen. Wir berieten, welche Schriftsteller oder Dichter man dazu einladen könnte. Mir war an der Teilnahme des mir seit der NS-Zeit nahestehenden Werner Bergengruen sehr gelegen. Wir konnten dabei eine alte Gerneinsamkeit gegen den damaligen "Geist der Zeit" erneuern. Westermann, der Balten30

deutsche, stimmte freudig zu, da ja Bergengruen wie er aus dem Baltenland stammte und so eine landsmännische Nachbarschaft vorhanden war. Ich erinnere mich genau, daß ich dann, wiewohl nicht wissend, wie das ausgehen würde, vorschlug, Gottfried Benn um seine Mitwirkung zu bitten. "Wenn wir in Berlin über die ,Literarische Saison' sprechen wollen, können wir den, der hier exemplarisch die Dichtung vertritt, nicht übergehen, gleichviel wie weit der zurückgezogen Lebende dem öffentlichen Bewußtsein gegenwärtig und wie sein Werk in den literarischen Kreisen beurteilt wird." Ich fügte hinzu: "Vielleicht wird er, so wie ich ihn kenne, ablehnen. Nun, dann haben wir das Unumgängliche getan und können, zur Kennzeichnung der Lage, in der Einführung darauf hinweisen, daß wir auf Benns Mitwirkung leider hätten verzichten müssen." Es geschah aber anders. "Wenn Herr K. das Gespräch leitet, sage ich zu." Was das bed_euten sollte, konnte man nur ahnen. Es steht mir nicht zu, darüber Näheres zu sagen. Er kannte, wie sich später herausstellte, meinen "Rilke" von 1944; ob auch den "Stifter" von 1950, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht war es die Erinnerung an den von mir geleiteten Benn-Ahend vom Jahre zuvor. Genug, es stand fest, Benn würde einer der Teilnehmer der geplanten Unternehmung sein. Außer ihm und Werner Bergengruen sollte dann noch HansEgon Holthusen, gebe31

ten werden. Wie und von wem vorgeschlagen der vierte Schriftsteller, Rolf I taliaander, in diesen Kreis geriet, ist mir nicht mehr erinnerlich. Vielleicht war es die Spannweite seiner literarischen und menschheitlichen Interessen und die Weitläufigkeit des durch seine völkerkundlichen Arbeiten in mehreren Kontinenten sich auskennenden "Weltfreundes", die den Anstoß gegeben hatten. Ich habe aber noch das Empfinden, daß er sich in unserem Kreise nicht recht wohl fühlte. Er hat auch an der Diskussion kaum teilgenommen. Am 12. August habe ich Benn brieflich gebeten, an den "Festwochen" mitzuwirken und mir die Gelegenheit zu einer persönlichen Vorbesprechung zu geben. Meine Einladung umschreibt die gegebene Lage und unser damaliges Verhältnis einigermaßen deutlich; so mag sie hier ihren Platz finden. 12. 8. 52. Sehr verehrter Herr Dr. Benn! Sie werden sich erinnern, daß zu Ende des vorigen Jahres eine mehr indirekte Begegnung zwischen uns stattgefunden hat, auf die Sie dann mit der Übersendung eines Essay-Bandes sehr freundlich geantwortet haben. Längeres Kranksein und dann die Last des Semesters haben mich nicht zu einer Antwort kommen lassen. Nun hat es sich ergeben, daß wir bei den Berliner Fest-

32

wochen zusammenwirken sollen. Ob solche Veranstaltungen einen Sinn haben, weiß ich nicht. Zugesagt habe ich aber, da die persönliche Begegnung Aufschluß und Anregung bieten könnte. Freilich weiß ich nicht, ob Sie und die übrigen Eingeladenen es nicht für überflüssig und unfruchtbar halten werden, sich mit jemandem, den Sie mit Recht von Ihrem Standpunkt aus für unbefugt halten müssen, sich einzulassen. Aber da die Dinge nun einmal von denen, deren Aufgabe der Betrieb ist, so eingerichtet worden sind, möchte ich Sie fragen, ob es Ihnen recht ist, wenn wir uns im August einmal treffen und unterhalten könnten. Ich für meinen Teil würde mich sehr freuen, wenn ich Sie persönlich kennen lernen dürfte. Und für die Sache, die man doch so gut machen sollte als es irgend geht, würde es sicher von Nutzen sein, wenn man sich vor der Veranstaltung einmal sähe. Lassen Sie mich bitte Ihre Meinung hören und seien Sie inzwischen bestens gegrüßt. Ihr sehr ergebener H.K. Benn antwortete am nächsten Tag mit folgender handschriftlicher Briefkarte (mit Aufdruck: BerlinSchöneberg Dr. med. Gottfried Benn):

33

13. VIII. 52 Tel. 712097 Sehr verehrter Herr Professor, besten Dank für Ihr Schreiben vom 12. VIII. Es wird mir eine Freude sein, Sie über die beabsichtigte Veranstaltung zu hören. Aber bei der Hitze kommen Sie nicht in die Stadt u. ich meinerseits weiß nicht, wo Ihre Wohnung liegt u. wie u. womit man sie erreicht. Darüber müßten wir telefonieren. Ich werde mir erlauben, Sie morgen Vormittag 10 11, oder nachmittag 5 - 6 anzurufen. Mit den besten Empfehlungen Ihr sehr ergebener Benn So trafen wir uns denn nach Verabredung am 27. August in der Bozener Straße. Ich befangen und unsicher, dem Verehrten persönlich gegenüberzutreten. Ich kann mich undeutlich an den Ort, die nicht gerade einladende Bozener Straße, das etwas dunkle Haus erinnern, nicht aber an den Verlauf und den Inhalt des Gesprächs. Ich weiß nur noch, daß Benn sehr gütig, milde und müde war. Wir waren auch nicht lange beieinander; ich merkte, daß es ihn anstrengte, und habe mich bald verabschiedet. Das Gespräch fand dann, wie gesagt, am 7. September im Theater am Kurfürstendamm statt. Ihm voraus ging ein heiteres Vorspiel. Der Kultursenator Berlins, Professor Tiburtius, hatte uns am Vorabend 34

zu einem Abendessen in den Bühnenklub eingeladen. Kurz vorher rief mich Bergengruen an. "Was haben Sie gemacht? Ich erfahre eben, daß ich mit Benn zusammentreffen und morgen mit ihm auftreten soll. Das kann ich nicht, ich setze mich mit diesem Nazi nicht an einen Tisch." Worauf ich: "Sie wissen, ich bin genau so wie die übrigen von der Stadt Berlin zu dieser Unternehmung aufgefordert worden. Der Einladende ist Berlin. Im übrigen, lassen wir einmal offen, ob Benn ein Nazi war. Ich sehe es anders. Also, geben Sie Ihren Widerstand auf. Wir sehen uns heute Abend." Wenig später ruft mich Benn an: "Was haben Sie da angerichtet? Ich habe keine Lust, mit Bergengruen mich zu treffen und mit ihm zu agieren. Der ist ja ein ganz charmanter Mann, aber doch kein Dichter." Und wieder ich: "Der Einladende bin nicht ich, der ja selbst, wie Sie, ein Eingeladener ist. Im übrigen, das mit dem ,Dichter' lassen wir einmal unerörtert. Sie kennen ihn vermutlich gar nicht. Also, kommen Sie." Und dann kam es, bei einem herrlichen französischen Rotwein, den beide kennerhaft genossen, zu einem vergnügten, inhaltsreichen Abend. Seinen Glanz bekam er durch das launige, geistreiche Gespräch Benns mit Bergengruen, das sich zunehmend konzentrierte - ich weiß den Anlaß nicht mehr, und wer den Gegenstand hervorgerufen hat- auf den Rang der Lyrik Schillers. Es ging nicht um die Balladen, sondern um die, sagen 35

wir, philosophischen oder weltanschaulichen Gedichte, darunter: "Worte des Glaubens", "Die Größe der Welt", "An die Freude", "Die vier Weltalter". Wach geblieben ist nur die Freude, mit derbeidesich gegenseitig die auswendig gesprochenen Gedichte zuwarfen. "Ist das nicht herrlich?", "Ja, und dies." Das Ergebnis des Abends war die herzliche Übereinkunft beider über einen großen Gegenstand. Beim Nachhausegehen klopfte mir der vom Wein gesprächig gewordene Benn auf die Schulter: "Der Bergengruen ist doch ein doller Kerl." Am nächsten Morgen trafen wir uns dann in der Theatergarderobe. Bergengruen kam als Letzter, elegant angezogen, einen Spazierstock mit Elfenbeinknopf in der Hand. Benn: "Sagen Se, Bergengruen, sin Se gehbehindert?" "Wieso?" "Nun, der Stock." "Ein richtiger Mann ist nicht angezogen ohne Stock." Von dieser angeregten, lockeren Atmosphäre war dann auch das öffentliche Gespräch geprägt, das Benn eröffnete mit der Frage an mich: "Sagen Sie, wie kommen Sie zu diesem Thema: ,Wo stehen wir heute?'" Ich konnte nur antworten: "Ich bin nicht der Veranstalter, und das Thema ist nicht von mir bestimmt. Aber, was haben Sie dagegen einzuwenden?" Darauf antwortete er: "Wir stehen nicht. Ich stehe immer allein." Das rief Bergengruens Widerspruch hervor, und so kam eine lebhafte Auseinandersetzung über die Rolle des Dichters und die Auf36

gabeder Kunst.zu Stande. Holthusen begleitete und bestätigte- ich weiß nicht mehr, auf wessen Seitedas Gespräch mit gelehrten historischen Einzelheiten. Es gibt leider keine Aufzeichnung der Unterhaltung; so bin ich nicht in der Lage, Einzelheiten zu benennen. Nach allem aber, was in diesen Erinnerungen über Benn bereits gesagt ist, ist verständlich, daß es bei ihm um die Verteidigung und, von Seiten Bergengruens, das Infragestellen oder vorsichtige Einschränken der Bennschen Vorstellung der "Artistik" ging, der "absoluten Kunst", der Dichtung als wirkungslosem "Monolog", der "Fundamentierung des Stils auf Kosten der Wahrheit". Der Verfasser der von uns in den Jahren des Unheils als Bestärkung und Warnung aufgenommenen "Zeit"-Romane "Der Großtyrann und das Gericht" (1935), "Am Himmel wie auf Erden" (1940) -und der zum Teil im Miteinander mit Reinhold Schneider entstandenen Lyrik der "Zauber- und Segenssprüche" und "Dies irae" konnte naturgemäß der Absolutheit Benns nicht zustimmen und beharrte auf der aus Not geborenen Mittlerschaft des Dichters. Es hat in der Zeit wenige geistige Bekundungen von dieser Wesentlichkeit gegeben über den Ort, an dem Kunst und Dichtung angesiedelt sind, wie es das Podiumsgespräch vom September 1952 gewesen war. Es bleibt zu bedauern, daß das Ganze dieser Auseinandersetzung nicht mehr rekonstruierbar ist. Daß aber hier, wenn 37

auch nur von Wenigen wahr-genommen, Ungewöhnliches im Raum des Geistigen sich begeben hat, das sei doch hier erinnernd mit Nachdruck betont. Der hier und heute Schreibende weiß, wie sehr das Große im Geräusch der Zeit vergessen wird und vergeblich ist: umsonst! Bereits am nächsten Tag erhielt ich von Gottfried Benn - er war in solchen ihm wichtig erscheinenden Formen des Umgangs von äußerster Aufmerksamkeit und Korrektheit - seinen Band "Ausgewählter Gedichte": "Trunkene Flut" (Limes-Verlag, 2. erweiterte Auflage, Wiesbaden 1952) mit eigenhändiger Widmung: "Herrn Prof. Dr. Hermann Kunisch mit Dank für seine hervorragende Leitung unserer Diskussion am 7. IX. 52". Auf dem Schutzumschlag steht die vom Verlag veranlaßte gedruckte Werbenotiz: " ... der größte europäische Lyriker seit Rilke und Valery. Frank Maraun". Benn hat diese Bemerkung durchgestrichen und hinzugefügt: "sehr übertrieben Benn". Wieder diese ihm eigene Mischung aus Abwehr äußerer Anerkennung und verschwiegenem Wissen um den eigenen Wert. Es mag noch gesagt sein, daß diese von ihm getroffene Auswahl aus seiner bis dahin erschienenen Lyrik einen besonderen Reiz dadurch hat, daß sie seine Stellung zu seinem Werk verrät. So steht dieser schmale Band in inniger Nachbarschaft zu dem Sammelband von 1956, der sein eigentliches Vermächtnis ist. Wie er

38

sich in diesen beiden Auswahlen darstellt, so wollte er gesehen sein. Darüber hat er sich in seinen theoretischen und selbstbiographischen Schriften nie geäußert. Das widersrpach seiner Scheu, die sich mit Selbstbewußtsein eigen verbindet. "Mögen sie zusehen, ich für meinen Teil weiß, was an mir und dem von mir Geschriebenen ist." So höre ich ihn sprechen, wiewohl ich es in der Wirklichkeit nicht erfahren habe. Wohl hat er sich, davon war ja schon mehrfach die Rede, bestimmt über die grundsätzliche Bedeutung der Kunst und ihrer Rolle im geistigen Kosmos geäußert. Wie selten ein Dichter, ist er als Privatperson hinter seinem Werk verborgen: "Statuen bergen die Saat", der Säende ist zufälliger Anlaß solcher Endgültigkeit: "Form nur ist Glaube und Tat." Dieses nicht billige, sondern tapfere Absehen von seiner Person ist einer der bezwingendsten Züge im verschatteten Antlitz des Dichters Gottfried Benn: Du wirst nicht ernten, wenn jene Saat ersteht in den Entfernten, dein Bild ist längst verweht. (3, 235)

Auf Benns ausdrückliche Einladung hin habe ich am 25.Januar 1953 an dem "Dichter-Abend Gottfried Benn" im Georg Kolbe-Museum, Charlottenburg, teilgenommen. Der Schauspieler Walter Tappe 39

las Texte von Benn. Ich vermag nicht mehr zu sagen, ob Benn an der Auswahl mitbeteiligt war. Tappe las Aphorismen aus der "Ausdruckswelt" und dem "Doppelleben", aus der Frühzeit die "Gehirne", dann Gedichte aus der mittleren und späten Zeit. Der Dichter selbst sprach "einleitende Worte". Sie wurden zum ersten Mal nach dem im Besitz von Frau Benn noch vorhandenen Typoskript im 4. Band der "Gesammelten Werke" (1961, S. 434 - 437) gedruckt. Sie stellen einen der vielen Versuche dar, die Eigenart des dichterischen Handwerks zu beschreiben. Ausgehend von dem Museumsraum mit Statuen von Georg Kolbe, ging er auf das Besondere und Auszeichnende des "Herstellers von Statuen und Bildern" und des "Autors von Versen und Prosa" ein. Dieser, "der Hersteller" und der "Autor" "ist ein Typ besonderer Art insofern, als er der einzige Typ ist, der seine Dinge fertigmachen muß, sie abschließen muß. Wenn er sie aus der Hand gibt, müssen sie nach Maßgabe seiner Kräfte vollendet sein." Die ,, Themen" der Wissenschaftler dagegen sind "ererbt", werden dann "bearbeitet" und weitergegeben. Sie sind nie "fertig" und gehen immer über in "neue Fragestellungen". Das Besondere und, wie ich meine, Neue dieser kurzen Charakterisierung des künstlerischen Tuns war, daß er im Anschluß an die Darstellung eines französischen Philosophen die Welt, "die Lage des 40

heutigen Menschen", in der und aus der der Künstler arbeitet, als "Ambivalenz" bezeichnete. "Wir sind alle nur noch Setzung und Gegensetzung, wir sind seelisch betrachtet völlig chaotisch, haltlos." Der Mensch ist, wie der französische Professor nach Giraudoux zitiert: "Karyatide des Leeren", eine, wie Benn meint, "großartige Formel". Die Auszeichnung dieses ambivalenten "Herstellers" und "Autors", des Verlorenen, jenseits des Geltenden und Anerkannten angesiedelt, besteht darin, daß ihm verliehen ist, in den "hinterlassungsfähigen Gebilden" die Vollkommenheit zu retten: Eine Vorstellung, die ihm immer eigen gewesen ist. Wir sprachen schon davon, daß er sich darin mit Andre Malraux begegnet, der den "Statuen" die Rechtfertigungskraft menschlicher Existenz zubilligte. "Ordnung schaffen gegen vage traurige Realitätszufälligkeiten", so formuliert er dieses Mal. "Der Künstler kann nicht ambivalent bleiben, er muß handeln, er muß glauben. Die Kunst ist die Wirklichkeit der Götter, vielleicht vielfach aus trüben Quellen genährt, aber wenn sie dasteht, trägt sie die Erinnerung an jene." Er schloß mit den von mir schon berufenen Versen, mit denen er zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung, dem Saal der Statuen Kolbes, zurückkehrte:

41

Form nur ist Glaube und Tat, die erst von Händen berührten, doch dann den Händen entführten Statuen bergen die Saat (3, 134).

Das Thema des Kolbe-Abends mag ihn bewogen haben, mir kurz danach eine kleine Broschüre zuzuschicken, die eben im Limes-Verlag erschienen war: "Monologische_ Kunst? Ein Briefwechsel zwischen A. Lernet-Holenia und G. B." (Limes. Wiesbaden 1953). Lernet-Holenia hatte in der "Neuen Zeitung" vom 27./28. IX. 1952 einen offenen Brief an Benn gerichtet: "Aufforderung zum großen Zwiegespräch", in dem er seine Bedenken gegen Benns "monologische Kunst" vorgetragen hatte. Dieser antwortete in der gleichen Zeitung am 18./ 19. X. 1952. Diese "Erwiderung an Alexander Lernet-Holenia" (jetzt 4, 307 - 363) verteidigte seine Auffassung in einer Weise, die das alte Thema noch einmal aus persönlichem Anlaß variiert. Diese "Variation" des Grundthemas hat ihre besondere inhaltliche Färbung aus eben dieser persönlichen Auseinandersetzung, darin auch formal, in der Darbietungsform, eine Variierung des schon öfter Geäußerten darstellend. Vom Schicksal Nietzsches ausgehend, den Lernet als "gescheitert" bewertet hatte, verteidigte Benn zunächst die dichterische Existenz als Gegenteil von sieghaft, dabei Gedanken seiner Nietzsche-R.ede von 1950 und der Rede auf dem 42

internationalen Schriftstellertreffen in Knokke 1952 wiederholend; ich könnte auch sagen: behutsam abwandelnd. Vor allem den damaligen Grundgedanken: "Dieses Herz [Nietzsche] hatte alles zerbrochen, was ihm begegnete: Philosophie, Philologie, Theologie, Biologie, Kausalität, Politik, Erotik, Wahrheit, Schlüsseziehn, Sein, Identität - alles hatte es zerrissen, die Inhalte zerstört, die Substanzen vernichtet." Nietzsche also als der große Zeuge für die Gültigkeit von Benns eigener Situation: "Der Weg vom Inhalt zum Ausdruck, das Verlöschen der Substanz zugunsten der Expression." Wieso also, fragt er jetzt, ist Nietzsche "an seiner Einsamkeit gescheitert"? Es war sein Weg, notwendig und unausweichbar; darin bestand seine Einsamkeit. Mit wem hätte er sprechen sollen? "Es gab ja keinen Menschen mehr, nur noch seine Symptome." Das war kein "Scheitern", das war "Verhängnis" im antiken Sinn. Der Brief endet mit immer persönlicher werdenden Verteidigungen seiner Skepsis gegenüber Geschichte, Gemeinschaft, Glaube und beruft sich in "Ehdurcht" vor dem Geheimnis Gottes auf die mit dem Menschen gegebene "Ambivalenz" und die Undurchdringbarkeit des Ganzen. "Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können." Noch einmal: eine menschlich bewegende" Variation" seines alten Themas; weniger radikal; dunkler, stiller, subjektiver als die vorangegangenen Formen. Darum vielleicht seine leise Resigna43

tion, als er mir das Heft schickte mit folgender Widmung: "Sehr verehrter Herr Professor Kunisch, für dieses kleine Heft, das nicht durch meinen Wunsch, sondern nur durch die Ruhelosigkeit meines Verlegers als Publikation erscheint, bitte ich ausdrücklich nicht zu danken. Lohnt sich nicht! In Erinnerung an Kolbe-Museum 25.1. 53. Ihr ergebenster Gottfried Benn." Eine Postkarte (Ansicht vom Ostseebad Heiligenhafen) ist nicht mit Sicherheit zu datieren. Benn gibt keine Zeit an, wie oft nur Tag und Monat, so hier 6/ 8. Der Poststempel ist nicht zu entziffern. Ich vermute, daß dieses kurze Lebenszeichen und Zeichen eines freundlichen Erinnerns und - vielleicht - einer verschwiegenen Zuneigung - aus dem Jahre 1953 stammt; es ist sonst inhaltlich von keinem Belang und kann hier ausgespart werden. Wichtiger, weil sie von einem geistigen, von der Sache her bestimmten Miteinander Zeugnis gibt, ist seine Reaktion auf meinen Vortrag am 3. November 1953 im Rathaus Schöneberg über den "späten Hofmannsthai". Benn war zu meiner nicht geringen Bestürzung (im ersten Wahrnehmen seiner in der

44

ersten Reihe) unter den Hörern. Der Veranstaltungsort war nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Der Vortrag ist nicht gedruckt, ist aber in den wichtigsten Feststellungen in meine späteren Hofmannsthai-Vorträge und -Aufsätze eingegangen, die sich im Wesentlichen auch auf seine Spätzeit bezogen; so wenn ich 1966 sein "Europäertum" als Bekenntnis seines Alters, oder 1974 sein "politisches Vermächtnis" in den Altersdichtungen, 1986 den Widerstreit von "Geist und Macht" im "Turm" darzustellen versucht habe, oder der geistigen Auseinandersetzung mit Zeitgenossen nachgegangen bin, Vertretern des "alten Europa", Leopold v. Andrian, Eberhard v. Bodenhausen, dem Kunstgelehrten und Minister ]osef Redlich, dem Politiker und Historiker Carl ]acob Burckhardt, Helene v. Nostiz, den Dichterfreunden Max Mell, Annette Kolb, R. A. Schröder, Rudolf Borchardt. 8 Dabei stand vor allem Hofmannsthals Grundauffassung des Menschen als "Person" und des "Reiches" als "Geist" im Mittelpunkt der Bemühungen. Letztlich ging es in dem Schöneberger Vortrag darauf hinaus, daß die Frühdichtung, die lyrischen Dramen und die Lyrik, trotz ihres hohen ästhetischen Reizes nicht Hofmannsthals "eigentliche" Leistung seien, daß die Enttäuschung der Zeitgenossen über die Abwendung von Reim, betonendem Rhythmus und frühreifer Melancholie ein Irrtum war, daß also Hofmannsthai das, was ihm 45

zu sagen aufgetragen war, erst mit der Spätdichtung erreichte, der "Frau ohne Schatten", dem "Schwierigen", dem "Salzburger Großen W elttheater", .vor allem im "Turm", denen bestätigend und begründend die großen Reden, besonders die "Rede auf Grillparzer" (1922) und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" (1927), die Ernst Robert Curtius 1933 als "das letzte denkwürdige Ereignis der deutschen Bildung" würdigte, zur Seite traten. Benn nahm unmittelbar darauf Stellung in einem handschriftlichen Brief vom 5. November, voll höflicher Anerkennung, aber mit deutlicher Ablehnung meiner Position: der "späte" Hofmannsthai als Erfüller dessen, was seine "eigentliche" Aufgabe sei. 5. XI. 53 Sehr verehrter Herr Professor, Nehmen Sie noch meinen herzlichen Dank für Ihren voluminösen (geistig gemeint) Vortrag vom Dienstag. Mich interessiert z. Z. das Thema "der späte ... " sehr, da ich mit einem Vortrag in dieser Richtung beschäftigt bin. Aus Ihrem Rilke Buch nehme ich auch manchen Gedanken dazu auf. Meine persönliche Beurteilung Hofm.s ist eine andere als die Ihre, aber ich habe viel bei Ihnen gelernt. Ich hatte schon vor einiger Zeit in der Zeitung über Ihren Vortrag gelesen, den Sie ja wohl schon auf der Germanisten Tagung im

46

Sommer gehalten haben9 , u. ich war schon nahe daran, Sie um Einsicht in das Manuskript zu bitten. Nun war es äußerst glücklich für mich, Sie so nahe bei meiner Wohnung hören zu können. Übrigens: Sie setzen viel voraus - ob alle Ihre Hörer diese Voraussetzung mit brachten? Ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Lassen Sie mich bitte nicht herauswerfen, wenn ich auch in einer Vorlesung von Ihnen in der F. U.tO im Laufe des Winters auftauche! Mit vielen Grüßen Ihr aufrichtig ergebener Benn Der hier von Benn genannte Vortrag wurde Ende 1953 vollendet; das Typoskript ist datiert XII/53. Er wurde öffentlich gehalten am 7. März 1954 im Süddeutschen Rundfunk und am 8. März in der Bayerischen Akademie der schönen Künste in München. Ich habe ihn damals nicht gehört und Benn bei dieser Gelegenheit nicht gesprochen. "Altern als Problem für Künstler", so nannte Gottfried Benn seine endgültige Darstellung der Frage nach der Entwicklung, Reifung, dem Wachstum künstlerischer Persönlichkeiten in bildender Kunst, der Musik und der Dichtung. Was H ofmannsthal angeht, das mag vorweggenommen sein, so hatte er, im Gegensatz zu meiner Wertung, von der Spätphase eine geringe Meinung;

47

überhaupt schien er ihm im Ganzen fremd zu sein. Sehr hart, vielleicht darf man sagen, uneinsichtig, heißt es in der Rede vom "Altern": "Der Weg von den Gedichten des zwanzigjährigen Loris zu den politischen Verworrenheiten des Turm des Fünfzigjährigen war der Weg der Speisung der Fünftausend zum Einsammeln der Brocken" (1, 562). Im Gespräch nannte er einmal den "Turm" eine "schweinslederne Schwarte". Es erfüllt mich noch heute mit einiger Freude, daß ich an Benns Rede als einer der "Anlässe" meinen Anteil habe. Ausführlicher als in dem Brief stellt er hier die Anstöße dar, die bei der Ausgestaltung seiner ungeschichtlichen Position mitgewirkt haben. Er hat die Behandlung der Frage einer Spätkunst, Alterskunst in den Wissenschaften genau verfolgt. Er nannte ausdrücklich einen philosophischen Vortrag in der Kant-Gesellschaft in Berlin, in dem nachgewiesen wurde, daß Kants nachgelassene Schriften "die früheren Thesen gelegentlich aufhöben". Über ältere Maler erfuhr er in der wissenschaftlichen Literatur, daß sie im Alter "unsicher in ihrer Produktion" geworden wären, oder umgekehrt gegenüber der unsicheren Jugend "gewiß". Mit Nachdruck weist er darauf hin, daß die Deutungen der Alterskunst auf keinen Nenner zu bringen seien, widerspruchsvoll und damit verdächtig.

48

Wenn man einmal davon absieht, was der Dichter in dieser "Untersuchung" über sein eigenes Werk sagt - von drängender Intensität -, und was er hier Früheres wiederholend- über seine Forderung nach der allein Gültigkeit besitzenden "absoluten Kunst", der Kunst ohne Inhalt, der "Expression, die sich vor die Tiefe drängt", formuliert: daß nicht in der Bewältigung von "Inhalt" Wirklichkeit geschaffen wird, sondern dadurch, daß etwas "ausgedrückt" wird: "Was Sie nicht aussprechen, ist nicht da", daß dieses Sprechen die Dinge "fertig" machen muß, daß heißt "vollenden" - wenn man von dem allen absieht, dann ist die Mitte seiner oft beschwörend vorgetragenen Botschaft eben diese: daß es kein "Altern" für Künstler gibt in dem Sinne, daß nach einer Stufe der "Versuche, der Bemühungen, der Ansätze" das Stadium der "eigentlichen" Form käme. Er hält solchen "Drang der Forscher, den Künstler in Phasen zu sehen und darzustellen" für einen "spezifischen deutsch-idealistischen Drang" (1, 563). Als Zeugen solcher "idealistischen" Kunstdeutungen nennt er neben dem Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann ("Spätwerke großer Meister", 1925), mit dem er sich eingehend auseinandersetzt, dabei die Pieta Rondanini Michelangelos als kennzeichnendes Beispiel eindringend erörternd, meine frühe Deutung Rilkesll, als deren Absicht er hinstellt, die letzte Phase seiner künstlerischen Entwicklung als seine "eigentliche" 49

zu werten, in der er erst geworden sei, "was er anfangs zu sein meinte, aber nicht war". Benns letzte Meinung war, daß das Alter eher eine Fragwürdigkeit als eine Vollendung sei. Es gibt keinen das Ganze krönenden AltersstiL Man muß bedenken, diese Rede ist das Werk eines alternden Mannes. Eigenes drängt sich nicht immer klärend in die Darlegung ein. Wie ja überhaupt diese Arbeit gegenüber seinen früheren kunsttheoretischen Versuchen, vor allem dem ihr kurz vorangegangenen Vortrag "Probleme der Lyrik", eine der am wenigsten geschlossenen, abgeschlossenen, um es mit seinem Wort zu sagen, "fertigen" Äußerungen Benns ist. Sie ist geprägt von Bitterkeit, ist provozierend, absichtlich schockierend; manches klingt gereizt, als fühle er Einwände auf ihn zukommen, die er sich vielleicht im Geheimen selbst machte. Alter, das ist "eine bionegative Olympiade" (1, 570). Was ist "klassisch"?; auch doch nur eine idealistische, professorale Vorstellung. Auf Flaubert, Beckmann, Delacroix verweisend, sagt er: "Nattern, Gullys, Abzugskanäle - das ist das Vorspiel zu den Lebensabenden". Vielleicht war es nur mit Goethe und Rubens, die ein "Haus" bekamen, anders. Wenn hier, wie in dem Falle von Gottfried Benns Rede vom "Altern" meine Bemühungen und Überlegungen an der Herausarbeitung seiner Vorstellungen von Einfluß waren - neben vielen anderen wichtige50

ren - so darf ich vielleicht empfinden und es hier ausdrücken, daß das ein Anlaß ist, am Eigenen nicht ganz irre zu werden und das Übergangenwerden, falsch Beurteiltwerden, das niemandem Schaffenden erspart bleibt, zu übersehen. Ich erinnere mich dieses Angenommenseins durch den hoch verehrten Dichter mit Dankbarkeit. Noch kurz vor seinem Ende, bald nach meinem Weggang von Berlin nach München (1955) erreichten mich seine schlichten Glückwünsche zu Weihnachten und zum Neuen Jahre mit der handschriftlichen Zufügung: "Ihnen Verehrter und Ihrer Gattin! Schade, daß Sie fort sind. Ihr ergebenster Benn." Einem Erinnerungsbuch mag es erlaubt sein, diese - dem, der sie erfahren durfte, wesentlichen - Zustimmungen zu erwähnen, ohne der Peinlichkeit verdächtigt zu werden. Zustimmungen übrigens eines Mannes, der sich mit dem Ausdruck seines Empfindens und der Zuneigung nicht leicht tat. Die letzte, vielleicht für beide Teile erregendste und im Unsicheren, Ungeklärten bleibende Begegnung mit Gottfried Benn ging wieder auf eine öffentliche Anregung zurück. Die damalige Leiterin der Abteilung "Kulturelles Wort" im "Sender Freies Berlin" forderte uns im Sommer 1954 auf, uns in einem öffentlichen Rundfunkgespräch über ein HölderlinWort zu unterhalten.t2 Das Wort, das den Ausgangspunkt bilden sollte: "Wozu Dichter in dürftiger 51

Zeit?" steht in der großen Elegie Hölderlins "Brod und Wein": Indessen dünket mir öfters Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?

Das Gespräch ging ohne Vorbereitungen vor sich; es war eine wirkliche spontane Auseinandersetzung, deren Stimmung sich zunehmend verschärfte, je näher die Diskussion sich dem Grundthema Benns näherte, dem "Ausdruck" als der Auflösung des "Inhalts": "Ausdruck statt Mitteilung", wie Hofmannsthai es formuliert hat. Was wird denn ausgedrückt, und für wen? Gibt es ein dialogisches Gedicht, an jemanden gerichtet, jemanden meinend, oder heißt "monologische Kunst" daß sie nur in und für sich spricht? Benn war von vornherein unruhig, fast gereizt. Vielleicht fühlte er sich als jemand, der verhört werden sollte. Ich gestehe heute, daß meine Fragen, statt ihn anzuregen, herausfordernd waren, auf Klärung drängend von etwas, das bei ihm nicht mehr in Frage stand. Es war gewiß von meiner Seite der inneren Lage Benns gegenüber zu scharf, wenn ich das Problem immer heftiger zuspitzte auf den Satz: "Kann man ,nichts' ausdrücken?" Allerdings war ich in der am wenigsten günstigen Lage, wenn ich immer aus dem Augenblick heraus antworten 52

und formulieren mußte, während Benn, zunehmend unruhiger werdend, an kritischen Stellen nicht mehr auf Einwände oder Fragen antwortete, sondern aus mitgebrachten eigenen Büchern vorher ausgesuchte Stellen vorlas: seit langem also Gedachtes und endgültig Ausgedrücktes; oft allerdings aus dem Augenblick heraus den Text ändernd, so daß es kaum möglich ist, seine Beiträge im Werk nachzuweisen. In der zugespitzten Phase des Dialogs schwieg er und mußte von dem technischen Leiter zum Weitersprechen veranlaßt werden. Man merkte dem Ton und der Sprechweise an, wie schwer es ihm wurde, darzustellen, öffentlich zu rechtfertigen (so empfand er wohl, was meine Fragen ihm zumuteten), was nur da-sein sollte, aber nicht mehr beredet werden durfte. Wenn er am Schluß zu mir sagte: "Sie haben mich schlecht behandelt", so trifft das weder meine Absicht noch meine innere Haltung; auch wenn ich, wie gesagt, zugebe, daß mein Drängen auf Verdeutlichung des Kernpunktes ihn irritieren mußte: "Kann man ,nichts' ausdrücken?" So wurde das Ganze keine abgerundete Darbietung: aber sie ist, wenn man sich heute das Wesentliche vergegenwärtigt, ein bewegendes Zeugnis, ein wenn auch zum Teil widerwillig bekundetes Geständnis eines Dichters von dem, was er eigentlich gewollt hat. Es gibt von der Unterhaltung eine Bandaufnahme, die im Ganzen wiederzugeben sich aus ver53

schiedenen Gründen verbietet. Die danach hergestellte Niederschrift vermag von der Atmosphäre der Stunde kaum etwas zu vermitteln, weder von der Spannung der mittleren Partien noch von dem etwas gezwungenen Ausgleich des Schlusses. 13 Ich versuche nun, aufgrund der Aufzeichnung Verlauf und Inhalt der Diskussion wiederzugeben. Dabei Benns Aussagen, soweit notwendig und möglich, in genauem Wortlaut. Ich begann damit, zu fragen, ob das -nicht von mir ausgewählte- HölderlinZitat nicht seiner, Benns, eigener Frage: "Warum drücken wir etwas aus?" entspräche? Ich wollte damit sein Befremden darüber, mit diesem Wort Hölderlins- übrigens eines von ihm verehrten Dichters - konfrontiert zu werden, mildern. Schon die Berufung der "Zeit" und dazu noch einer "dürftigen" beunruhigte ihn: "Ein Dichter kümmert sich zunächst doch überhaupt nicht darum, wie die Zeiten sind, ob sie dürftig oder fruchtbar sind." Die Unterhaltung drohte, sich vom Thema abzuwenden und Hölderlin, seine Art und Absicht, in den Vordergrund zu stellen. Daher mein Insistieren auf Benns Verhältnis zum dichterischen Wort: "Sie haben, wenn ich mich recht erinnere, davon gesprochen, daß wir bestimmte Dinge nun durchgearbeitet hätten. Die seien für den Kulturkreis besprochen. Sie haben dagegen die ,Frage nach dem Satzbau' als die eigentlich dringende hingestellt. ,Alle haben den 54

Himmel, die Liebe und das Grab, damit wollen wir uns nicht befassen'" (3, 249). Darauf Benn: "Aber diese Frage nach dem Satzbau ist eine Spezialfrage meiner Generation. Uns ist eben die Frage des formalen Aufbaus z. B. eines Gedichts besonders ins Bewußtsein getreten. In früheren Epochen war das anders. Es würde Mörike, oder es würde der von uns beiden so verehrte Platen wahrscheinlich niemals über Theorien des Gedichts nachgedacht haben. Aber uns heute hat die Frage des formalen Aufbaus eines Gedichts, des Satzbaus, sehr stark beschäftigt. Natürlich ist das eine Sache der Zeit, und es werden Generationen kommen, denen das gleichgültig ist, diese Frage. Aber wir haben einen ganz ausgesprochenen Drang, etwas zu formulieren, mitbekommen. Anders zu formulieren als die Generation vor uns. Das meine ich mit der Sache vom Satzbau. "14 Das Gespräch kreiste dann weiter um die den Inhalt aufhebende Form, das keinen Empfänger meinende Gedicht, und damit um das Stehen des Dichters außerhalb seiner "Zeit" und ihren Forderungen. Der "vierte Mensch" tauchte auf, der Mensch ohne Inhalt. Das Werk hat deswegen kein "wozu", Werk und Dichter sind "ungeschichtlich ?". Benn: "Ich habe schon so oft geschildert, daß jede Generation eben ihre eigene neue Realität und ihre eigenen neuen Neurosen mitbekommt und ihren eigenen neuen Zwang, diese zur Sprache zu bringen. 55

Und bei unserer Generation war es eben, daß ungeheuer viele Dinge, die früher lyrisch, metaphorisch, romantisch in uns lagen, ins Bewußtsein gehoben wurden und ins Intellektuelle sich übertrugen. Der Ausgangspunkt ist ja sehr bekannt: Nietzsche, darüber brauchen wir gar nicht zu sprechen. Die Welt nach Nietzsche sieht anders aus wie die Welt Mörikes und wie die Welt Platens. Ich möchte mal sagen, bis zu Stefan George und Hofmannsthal, von Goethe an, war die Sprache eine einheitliche, eine einheitliche Stimmung, eine einheitliche Färbung, ein einheitlicher Stil. Und dann plötzlich kam der Aufstand, der in meiner Generation begann. Wie Sie ihn nennen, ist gleich: Surrealismus oder Futurismus oder Expressionismus. Es war ein Aufstand gegen die Sprache, aber damit gegen das Leben. Es war die Zerstörung des alten Sprachstils und damit die Zerstörung des alten inneren Menschen." [0, hier wäre viel zu fragen gewesen. Werfel: "Die Welt fängt im Menschen an" in dem alarmierenden Gedicht: "Lächeln, Atmen, Schreiten", und vieles sonst bei ihm, bei Stadler, Heym!]. "Daraus ergab sich dann alles, was man Ausdruck und Form nennen kann. Wenn Sie nun also fragen: Wozu ist ein Werk da? Ist es geschichtlich, oder ist es ungeschichtlich?, kann man doch nur darauf antworten vom Gesichtspunkt, vom Standpunkt des Dichters aus: Es ist völlig ungeschichtlich. Natürlich hat der in seinem lnnern 56

die Ergebnisse der vorangegangenen Jahrhunderte, seiner Nation, anderer Nationen, die Traditionen seit der Antike; aber er geht natürlich doch nur von seinen eigenen, ihm mitgegebenen neuen Strömungen, Störungen und Mitteln aus. Historisch wird doch, oder geschichtlich wird doch eine Angelegenheit erst, wenn er tot ist oder wenn seine Generation tot ist. Und die Literaturgeschichte und die Soziologie befaßt sich mit ihm. Dann ist es natürlich anders, wenn der Vogel der Minerva seinen Flug beginnt, dann wird der Dichter historisch. Aber er seinem Wesen und seinem Ziel nach ist gänzlich unhistorisch und ungeschichtlich." In der folgenden längeren Betrachtung verschärfte Benn seine Aussage: "Sie müßten nach meiner Meinung überhaupt sich sagen, daß, wer sich mit Dichtung beschäftigt, in eine Welt tritt, in der alles Historische, Wissenschaftliche, Literarhistorische völlig abwegig ist. Alle Dinge, alle Begriffe und Kategorien verändern ihren Charakter in dem Augenblick, wo sie im Zusammenhang der Dichtung betrachtet werden [... ] Dichtung ist eine neue Haltung, eine neue Affektation, es ist eine Welt, die Sie nicht in Beziehung bringen können zu den wissenschaftlichen und soziologischen Welten. [... ]Aber die Kunst ist eine Sache, der man sich eigentlich nur nähern kann, wenn man eben, ich möchte sagen, berufen ist. Das ist kein Hochmut. [... ]Die Kunst ist in sich- das ist 57

ihr Fluch, und das ist natürlich auch ihr ganz großes Prä: daß da eine Welt ist . . . daß sie eine Welt zeigt, die außerhalb des Geschichtlichen steht." Das war einer der Punkte, wo der Dialog auseinander zu brechen drohte. Benn zog sich auf seine,. des Kunst Schaffenden Position zurück und wollte nicht gelten lassen, daß Kunst, Dichtung, wie alle geistigen Vorgänge, sich innerhalb des Geschichtlichen, einer so oder so beschaffenen Zeit vollziehen; daß, sagen wir es etwa so: der "Grüne Heinrich" in unserem Jahrhundert nicht mehr könnte geschrieben werden, oder der "Doktor Faustus" noch nicht im vorigen hätte geschrieben sein können. Diese inneren Zusammenhänge aufzuzeigen, ist nun einmal die Aufgabe der Literaturwissenschaft, die auch- neben anderen Absichten - eine historische ist- freilich, das sei mit Nachdruck betont, ohne daß sie vergessen dürfte, daß sie es mit "Kunst" zu tun hat und von deren Wesen und "Absicht" einen Begriff haben muß. So wie Goethe es am 15. Januar 1816 schreibt: "Seit Winckelmann und seiner Nachfolger Bemühungen ist Philologie ohne Kunstbegriff nur einäugig." Ich versuchte deswegen, zwei Dinge zu trennen, die im Gespräch ineinander geraten waren: daß Dichtung zwar nicht auf die Zeit bezogen sei, nicht ihr zu dienen habe (Stifter: "Es ist nicht meine Aufgabe, über den Zollverein zu dichten", sagte er zur Verteidigung seines angeblich zeitfernen "Nachsom58

mer"), daß es aber etwas anderes sei, ob darum oder dadurch Dichtung "monologisch" sei; ob das "Wort" überhaupt "monologisch" sei, also nicht vernommen werden will. Ich verwies darauf, daß gerade auch Dichter unserer Tage, nicht nur Goethe, Gotthelf, Stifter, dichteten, um vernommen zu werden (warum strebte Hofmannsthai nach dem Theater?), um etwas als gültig, seiend, notwendig zu verkünden; daß sie dagegen freilich, wenn sie eine zu direkte Inanspruchnahme fürchteten, sich dagegen wehrten, beim Wort genommen zu werden in Dingen, die für sie so selbstverständlich waren, daß sie keiner Rechtfertigung bedurften. Es gibt sogar äußerste Stellungnahmen in der Frage des WiFkens in der Zeit. Ich greife ein eminent großartigesund erschütterndes her~us -, wie das Rilkes, der für seine "Elegien" nicht "Aufklärung", sondern "Unterwerfung" verlangte, unQ. der des Glaubens war, wenn ihm 1912 die ins Stocken geratenen "Elegien" ("das, was nottat!") gelungen wären, sie so gewirkt haben würden wie "das Aufheben einer Monstranz über einer Menge, die ins Knie bricht". Oder Goethe: "Warum sucht' ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?" ("Zueignung" 1784). Darauf Benn, das Problem polemisch zuspitzend und aus dem berechtigten Zusammenhang lösend: "Also wollen wir mal Goethe weglassen. Der ist ja zu umfangreich und zu gigantisch. Aber sonst erzählen 59

Sie von lauter idealistischen Dichtern aus einer Zeit, die mit unserer gar nicht verglichen werden kann. Dies Wort, daß die Kunst trösten soll [... ], das ist doch eine ganz überholte, abwegige, ganz unmögliche Angelegenheit. Der Künstler kann sich doch nicht mit den anderen Leuten beschäftigen, dann würde er nicht dichten. Dann würde er was anderes treiben, Sozialfürsorge betreiben, oder sonst was werden. Aber wenn einer dichtet, ist er ein Monologist. [ ... ]Es ist kein Zweifel, daß die Dichtung heute monologischen Charakter hat. Wen soll sie denn heute andichten, oder an wen soll sie sich wenden? Die Lyrik ist so kompliziert heute, daß sie ja kaum jemand verstehen kann. Man rechnet ja auch gar nicht damit, daß sie jemand versteht. Mallarme wurde nie verstanden, übrigens Hölderlin ja auch nicht." Auf meinen Hinweis, daß Dichtung - und Kunst überhaupt- vom Wesen her so sei, daß in der Begegnung mit ihr der Mensch, der "Andere" also, der Angeredete, "zu sich komme", seiner selbst inne werde, brachte er, verneinend und bestätigend, seine Vorstellung von dem dichterischen Wort nicht als "Mitteilung", sondern als "Faszination" ins Spiel, die keine Absicht verträte, sondern in sich und für sich sei: "Bestimmt, da ist doch überhaupt kein Zweifel. Was gedichtet wird, wenn es Dichtung ist, bezieht sich auf die Menschheit im Allgemeinen, oder wenig60

stens auf die menschliche Lage, auf alles, was sie erleiden muß. Aber sie denkt natürlich doch nicht an einen Partner, der es liest. Wissen Sie, was ich vertrete, wird immer Formalismus genannt und Nihilismus und Intellektualismus. Aber wer hinter den Begriffen von Faszination und Wort und Form nichts anderes sieht als immer wieder nur Nihilismus und Laszivität, dem ist eben nicht zu helfen. In jeder Form, die fasziniert, liegen genügend Substanzen von Leidenschaft, Natur und tragischer Erfahrung. Es ist kein Intellektualismus, wenn man für die Form eintritt. Aber was das Monologische angeht, so bleibe ich auf meinem Standpunkt: die Dichtung ist monologisch. Denken Sie doch mal über die Menschheitsgeschichte nach. Die ganze Menschheit zehrt doch von einigen Selbstbegegnungen. Aber wer begegnet sich selbst? Nur wenige, und diese dann allein." Dem hatte ich nicht widersprechen wollen, und ich hatte ja auch den Vorwurf des Formalismus oder gar Nihilismus gar nicht erhoben. Mir kam es darauf an, die Tatsache zu klären, daß der Dichter, wie jeder Künstler, ein "Material" brauche, um sich ausdrükken zu können. Und das sei im Falle der Dichtung ein anderes als in den bildenden Künsten und der Musik; eben das Wort. Ein "Material" also, das es auch außerhalb der Dichtung gibt. Das also, wenn es der Dichter gebraucht, bereits etwas ist, etwas mit61

bringt, das wir "Bedeutung" nennen. "Können Sie", so fragte ich, "als Dichter davon absehen, daß das Wort, das Sie benutzen, auch wenn es jetzt bei Ihnen in einen anderen Seins- und Sinnzusammenhang gerückt wird, doch etwas mitbringt. Sind Sie nicht doch gezwungen, diesen vordichterischen Inhalt wieder mit aufzunehmen?" Hier scheint mit der geistige Kern zu liegen bei der Frage nach der "monologischen" Kunst. Kann das Wort, wenn es in die geistige Atmosphäre der Kunst erhoben wird, seinen Sinn aufgeben, der eben darin besteht, Inhalt zu haben, "Bedeutung" zu haben? Diesen aber nicht in sich und für sich, sondern um vernommen zu werden? Benns tragische Größe scheint mir darin zu bestehen, daß er sich aus diesem Zirkel nicht befreien konnte. Es war ein Ja und Nein, aber immer wieder aus dem Bedürfnis, er selbst zu sein, seine Kunst zu rechtfertigen mit dem Drang, das Nein als sein Eigenes zu vertreten. So stimmte er zunächst meiner Auffassung, daß das dichterische Wort nicht von seinem vordichterischen Sinn gelöst werden könne, zu. Fügte dann aber hinzu, daß der Dichter nicht alle Worte gebrauche. Er übe eine "Selektion" und - wogegen niemand einen Einwand erheben würde - er führe seine Worte über den "Gebrauchscharakter" hinaus in eine andere "Welt", eine andere "Atmosphäre". Was die Frage der "Selektion" angeht, so muß man sagen, daß das eine

Angelegenheit vornehmlich unserer Zeit ist. Aber Barock, Klopstock? Es gibt Gedichte Goethes, Mörikes, Eichendorffs und Anderer, in denen kein Wort vorkommt, das nicht auch der einfachste Sprechende sein eigen nennt. Daß damit nicht der Geheimnischarakter des Wortes, der Sprache, geleugnet werden soll, braucht nicht versichert zu werden. Darin waren beide Parteien einer Auffassung - wie hätten sie sonst über das "Wozu" der Dichtung sich unterhalten können. Benn trat an diesem Punkt fast über seine sonst betonte Isolation heraus, wenn er die letzte Bedeutung des Wortes so umschrieb: "Wir kommen nicht darum herum, zuzugeben, daß Worte eine latente Existenz besitzen, die auf entsprechend Eingestellte als Zauber wirkt und sie befähigt, diesen Zauber weiterzugeben. Dies scheint mir das letzte Mysterium zu sein, vor dem unser immer waches, durchanalysiertes, nur von gelegentlichen Trancen durchbrochenes Bewußtsein seine Grenze fühlt. Das Wort ist nicht zu erklären. Das Wort ist mystisch. Und "am Anfang war das Wort", und es war in der Mitte, und es wird am Ende sein. Aber nicht im soziologischen Sinne, sondern, Sie mögen sagen in religiösem oder metaphysischen oder im dichterischen Sinne." Ein einigermaßen erregtes Zwischenspiel gab es wieder, als ich als Entgegnung auf Benns Erklärung, daß der Dichter die Worte auswähle, so daß 1m 63

modernen Gedicht der "Slang", das "Rotwelsch" Eingang fände, auf einen Vers Goethes aus dem Gretchenlied im "Faust" anspielte: "Nach ihm nur schau ich zum Fenster hinaus". Hier sei, so sagte ich, "die Gebärde der Wartenden einfach anwesend geworden, aber doch nur in den Worten, die jedem anderen auch zur Verfügung ständen." "Und doch sei dieser an sich s~hlichte Vorgang, der immer und überall sich wiederholen kann, dem Zufall enthoben und anders geworden." Benn lehnte nicht nur meine Deutung ab, sondern verwunderlicherweise auch den Vers Goethes, wiewohl er ihn doch sonst trotz gelegentlicher ironischer Distanzierung: "Balkongott", "unser olympischer Urgroßvater", auf verschwiegene Weise verehrt. "Diesen Vers würde ich gar nicht gut finden, nein! Das ist ja eigentlich so eine journalistische Feststellung, ohne Gefühl und Faszination." Auf meinen Einwand, daß die Isolierung dieser Zeile, wie ich sie vorgenommen hätte, freilich unsachlich sei, daß man das Ganze dieses Liedes gegenwärtig haben müsse, ging er dann nicht ein. Er faßte noch einmal seine Grundmeinung vom "Wort" zusammen, vorher Gesagtes zuspitzend: "Aber ich will noch einmal auf das , Wort' zu sprechen kommen. Ich glaube, man kann nicht drum herum, einfach zu sagen, das Wort ist und bleibt ein M ysterium. Wir kommen an seine letzten Probleme nicht heran. Es ist irgendwie eine Sache im Menschen, die

64

auf Wort reagiert, ... , in bestimmten Menschen. Ein Geheimnis; und warum soll man jedes Geheimnis aufklären und lüften und so. Es ist ja gar nicht ... es ist nicht möglich, und es ist ja auch gar nicht nötig. Das ist die Wissenschaft, das sind die Geisteswissenschaften, die alle diese Probleme interessiert. Aber der Dichter selbst ist eigentlich ganz ohne Interesse daran." Das war natürlich, obwohl in sich wahr und überzeugend, ein Ausweichen; die im Text angedeuteten Pausen zeigen außerdem, daß er müde wurde. Was in der Tat verständlich ist. Ich erwiderte, daß es ja gerade heute wieder - wie schon seit Gottsched und Lessing, Goethe und der Romantik; was hätte ich nicht alles nennen können bis zu Rilke, George und Hofmannsthai -von Dichtern veranlaßte und herausgegebene Zeitschriften für- sagen wir- Literaturkritik gäbe: Georges "Die Blätter für die Kunst" oder Hofmannsthals "Neue deutsche Beiträge", ferner Sammlungen von Zeugnissen zur Sprache, wie Hofmannsthals "Wert und Ehre deutscher Sprache". Gerade er und die von Benn mehrfach genannten T. S. Eliot und Paul Valery seien ja dadurch gekennzeichnet, daß ihnen an der theoretischen Klärung ihres dichterischen Handwerks und der geheimnisvollen Tatsache des dichterischen Kunstwerks gelegen sei. Meine Verweise auf historische Tatsachen des theoretischen Umgangs der Dichter mit ihrem 65

Metier - seit Antike und Mittelalter: und hän ich kunst, die git mir sin, W alter von der Vogelweide, bis zu Renaissance und Barock - wollen wir hier übergehen; es würde ins Unermeßliche gehen. Schon damals waren meine literarhistorischen Anmerkungen verwirrend und den Zusammenhang störend. Benn versuchte die Vielfalt zusammenzufassen und griff auf einen Rundfunkvortrag eines Amerikaners zurück, der sich mit Benns und Eliots Lyrik-Theorien beschäftigte und dem man den Titel: "Lyriker dichten nach Theorien" gegeben hatte: "Das ist natürlich ganz verkehrt. Man dichtet und dann entwickelt man natürlich Theorien, um sich zu begründen und zu entschuldigen und zu sagen: ,So muß es sein heutzutage'." Es war daraufhin angezeigt, auf die Kernfrage unserer Auseinandersetzung zurückzukommen. Ich versuchte das mit der Frage: "Was ist denn nun das Eigentliche an der Dichtung? Liegt das Schwergewicht darauf, was gesagt wird, also auf dem Inhalt, dem Problem oder (im erzählenden Gedicht) auf dem Vorgang - oder liegt es darauf, wie etwas ausgedrückt wird, auf der Form? So daß es möglich sein kann, daß ein Gedicht gegen sich selber zeugt; anders: daß seine Wirkung auf den ihm Begegnenden der wörtlichen Aussage widerspricht. Ich denke da an Platens unerhörtes Ghasel: ,Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts', 66

dessen einziges Reimwort von der ersten bis zur letzten Zeile ,nichts' lautet und das aussagt, daß alles vom Menschen Erfahrene im Guten und im Bösen ,nichts' ist, nichts gilt; und daß ,Jeder' der ,ein All' zu sein ,glaubt', ,im Grunde nichts' ist. Die Wirkung des Gedichts auf einen ihm unvermutet Begegnenden und sich dem Klang und der inneren Bewegung Hingebenden kann aber so sein, daß er gerade das Gegenteil zu vernehmen glaubt: der Mensch sei dennoch anders, keineswegs ein ,Nichts'. Daß also, wo vom Dichter ,nein' gesagt wird, man eines ,ja' gewiß wird." Benns Antwort, wieder faszinierend und irritierend, lautete [etwas gekürzt] so: "Es kann einer persönlich ... , körperlich möchte ich sagen, den tiefsten Pessimismus vertreten, eine Melancholie ohnegleichen: in dem Augenblick, wo er etwas arbeitet, ein Werk, ein Gedicht, ist er es ja nicht. Da tritt er ja einfach als Positiver und Produktiver hervor. Es ist ja ein Irrtum, wenn man den inhaltlichen Nihilismus eines Gedichtes nun auf den Dichter rückwendet und sagt, ... der Mann ist ja ein tragischer Nihilist." Das war ja nicht der Sinn meiner Berufung auf Platen. Ich hatte gesagt, das Gedicht habe die innere Kraft, gegen seine wörtliche Aussage zu zeugen, und zwar durch die Weise des Sagens. Wenn er dann fortfuhr: "Das Gedicht als solches ist ja eine Tatsache, die sich einreiht in die Reihe der Realitäten", so war das wie-

67

der keineswegs von mir bestritten. Dann aber kam Benn auf meine Frage zurück und schloß mit einer sehr diffizilen Umschreibung des hier Gemeinten; meine Feststellung von der möglichen Aufhebung des Inhalts durch die Form in das Gegenteil bestätigend und durch die Verwandlung in seine Vorstellungsform variierend und geradezu aufhebend: ,,Sie haben hier einmal was gesagt, ob der Ausdruck, die lebendige Form sich von der Inhaltsschwere befreit: ich würde da sagen: Im Gegenteil. Die Form, der Ausdruck befreit sich nicht von der Inhaltsschwere: er füllt sich vielmehr mit dieser Inhaltsschwere; er erträgt sie und gibt ihr durch seine Arbeit lyrischen Ausdruck, er hebt sie in eine Sphäre geistiger Art, oder man kann ·lieber einfacher sagen, in eine andere Sphäre: eine Sphäre, in der es Inhaltsschwere nicht mehr gibt, in der es nur noch die Leichtigkeit der Formen gibt, die - ich will nicht sagen Spiel, aber immerhin - Überwundenheit des Inhaltlichen und des Sachlichen ist;" Gerade diese letzten Versuche, eine Art Übereinkunft oder Klärung zu erreichen, blieben im Grunde offen; die Begegnung ging im Unerfüllten aus und hinterließ bei beiden das Gefühl des Vergeblichen solcher Bemühungen. Bei mir, der dies Zusammentreffen mit dem Dichter als Auszeichnung empfinden durfte, kam hinzu der Eindruck eines Gegenübers, in dem Großgeartetheit und Schwermut sich eigentüm-

68

lieh mischen, in dieser bezwingenden Form wohl kaum noch irgendwo sonst anzutreffen: ein Gefühl tiefer Verehrung, verbunden mit noch heute nachwirkendem stillen Schmerz über das Glück und Verhängnis einer seltenen künstlerischen Existenz. Gottfried Benn schloß unser Gespräch mit den folgenden resignierenden, das offen und unaussprechbar Gebliebene umschreibenden Worten: "Ich möchte schließen mit einem Begriff, der von Hegel kommt: ,Die Formen fordernde Gewalt des Nichts.' Je stärker das Nichts in einem Menschen ist, der an sich produktiv ist, um so mehr reizt es ihn, zwingt es ihn, Formen zu machen, Gedichte zu machen, um dieses Nichts in sich zu überwinden, das ja an sich völlig unerträglich ist. Damit glaube ich, schließen wir diese Diskussion, denn die Dinge sind nicht auf logische Formeln und nicht auf Erkennungsbegriffe zu bringen." Dieses "Gespräch" war die letzte öffentliche Begegnung mit dem Dichter Gottfried Benn. Vorangegangen war ein kurzer Besuch Benns in unserer Wohnung ,,Am Schlachtensee 134", in der von Bruno Paul gebauten Villa Leo v. Königs, jetzt im Besitze eines meiner medizinischen Kollegen von der F. U. Ulrich Fehr. In seinem musischen Hause (Musik, Bildhauerei, Geigenbau) waren wir mehreremale Zuhörer beim Klavierspiel des mit Fehr befreundeten Wilhelm Kempf Bei einer solchen

69

Gelegenheit ergab es sich, daß der Besitzer 1952 uns die obere Mansarden-Etage, die praktisch unbewohnt war, als Wohnung anbot. Es war die letzte in unserer Berliner Zeit. U nvergeßlich in der Lage über dem See und in der inneren Gliederung der Räume. Mein damaliger germanistischer Kollege, Helmut de Boor, nannte mein Arbeitszimmer, dessen zwei kleine Mansardenfenster auf den See hinausgingen, eine "Fürstabtsklause". Man sah auf den Garten mit der großen Trauerweide und den schmalen See hinaus, dahinter auf das andere, hügelige, mit dichtem Wald, Kiefern und Birken, bestandene Ufer. Es gibt ein undatiertes Gemälde von Walter Leistikow, dem Entdecker der Schönheiten der märkischen Landschaft und Freund und Weggnossen Max Liebermanns, das den Blick vom Weg genau unterhalb des Hauses auf ein Stück See und die abschließenden Bäume im Abendlicht wiedergibt (jetzt im BröhanMuseum in Berlin-Charlottenburg).t 5 So steht das damalige Refugium in unserer Erinnerung. Benn sah alles schweigend an, innerlich beunruhigt, und auf meinen Hinweis auf den Blick aus den Fenstern sagte er nur unwillig: "Ich brauche das nicht. Ich brauche nur ein Kino, eine Kneipe und eine Apotheke." Und es war doch der Benn, der an seiner märkischen Heimat mit scheuer Liebe hing, bis in die späte Zeit sie in seiner Lyrik liebevoll vergegenwärtigend. So im "Epilog" von 1949 (3, 345): 70

"Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe, östlich der Oder, wo die Ebenen weit, ein Graben, eine Brücke, und ich stehe an Fliederbüschen, blau und rausch bereit";

oder in dem Nachlaßgedicht "Ein See" (3, 469): "Immer füllst du dich neu, See, den die Trauerweiden, Schilf und Rohre umkleiden, eben den Ufern treu"

Wasser, das zögernd spricht, dunkles, derer und dessen, sein Wort heißt: "willst du vergessen?" "Nein, ich will es nicht."

Eine Anhänglichkeit, die sich melancholisch mit der an das Elternhaus, den Friedhof (Astern!), "Allerseelen" verband. Aber das waren Dinge, die er mit niemandem sonst teilte, die nur - außer in seinen verschwiegenen inneren Gefühlen- ein Recht hatten da zu sein, wenn sie in Ausdruck verwandelt werden konnten. Was ihn daran hinderte, die ihm von mir entgegengebrachte unaufdringliche, vorsichtige Verehrung in persönlicherer Form zu erwidern, kann ich nicht sagen. Wenn ich heute etwa den schon erwähnten Briefwechsel Benns mit Max Rychner (1930- 1956) lese (Stuttgart 1986) und dort finde, daß dieser sich 71

wundert, Benn in den fünfziger Jahren so ohne Verbindung mit Anteilnehmenden zu wissen, so ist mir das schmerzlich. Immerhin hatte ich ihn nicht nur meine hohe Bewunderung seines Werkes, meine Anteilnahme an seinem Wesen und Leben merken lassen, ich hatte, so meine ich sagen zu dürfen, einiges zu seiner Rückkehr in eine ihm freundlich und bewundernd begegnende Umwelt beigetragen. Es war schwer, ihm gegenüber die im Augenblick notwendige Form der Mitteilung zu finden; auch wenn man sich seiner Sensibilität und Verletzbarkeit bewußt war. Vielleicht gelang mir nicht, meine Unsicherheit zu überwinden, unbefangen und einfach zu sein. Was mich ja auch- ich sehe es heute mit Bedauern - hinderte - andere machten es anders -, im persönlichen Gegenüber nicht Aussprechbares in Briefen zu äußern. Hier war diese äußerste Zurückhaltung zum Schaden beider wohl fehl am Platze. Wie immer, der aus der Unwirtlichkeit seiner Bozener Straße - darf man es so sagen? . ;., Kommende war von der anderen Wirklichkeit des Schlachtensees - einem Stück seiner geheimen Liebe - bedrückt und verwirrt. 0, er brauchte schon mehr als Kino, Kneipe und Apotheke! Darin lag seine Einsamkeit begründet, daß er in einer dem Betrieb, dem Erfolg, dem Herrschen ausgelieferten Welt an den Menschen glaubte, der nicht "ableitbar", nicht von Herkunft und Milieu be72

stimmt sei. Er verstand ihn, auf Goethe sich berufend, als "das große unwillkürliche Wesen", den "Unsichtbaren, U nerrechenbaren, Unauflösbaren". Davon war bei der Deutung der Essays "Die neue literarische Saison" (1931) und "Nach dem Nihilismus" (1932) schon die Rede. Sie sind alarmierende Zeugnisse für dieses Bekenntnis zum Grundwesen des Menschen. Stiller, aber von nicht geringerer Intensität sprechen viele Gedichte die gleiche innere Lage aus, das Bewußtsein, zweierlei Verkennungen oder gar Verurteilungen ausgesetzt zu sein: der des "Nihilisten", Pessimisten auf der einen, des "Artisten" und Formalisten auf der anderen Seite, welches beides ja im Grunde die Einheit seines Wesens begründete. Das Gedicht "Die Astern" (1935) umschreibt das Unbehaustsein auf endgültige Weise. Eng angehalten an den Naturvorgang der sich zum Fortziehen sammelnden Schwalben, aber ihn ins beschwörende Gleichnis verwandelnd, heißt es am Schluß: Der Sommer stand und lehnte und sah den Schwalben zu, noch einmal ein Vermuten, wo längst Gewißheit wacht: die Schwalben streifen die Fluten und trinken Fahrt und Nacht. (3, 174)

73

Im übertragenen Sinne "Fahrt und Nacht trinken", das war schwermütiger Ausdruck seines ionersten Lebensgefühls. Oder noch schmerzvoller: Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich (3, 342; 2.1. 1953).

Ende 1955 hielt Benn im Kölner Rundfunk das Zwiegespräch mit Reinhold Schneider "Soll die Dichtung das Leben bessern?", in dem er seinem immerwährenden Pessimismus Ausdruck gab, daß solches von der Dichtung weder zu fordern sei,noch daß sie es zu leisten im Stande wäre. Dabei erörterte er besonders kritisch, was denn das zu bessernde "Leben" eigentlich sei. Er sprach ihm den ihm von unserem "Kulturkreise" zuerkannten "Ordnungsund Grundbegriff" ab; dieser sei ein "Residuum des biologischen neunzehnten Jahrhunderts und spiele in anderen Kulturen überhaupt keine Rolle". Dann fragte er, in welcher Richtung dieses fragwürdige Leben "gebessert" werden solle, in sozialer, kultureller oder medizinischer? Das alles zog sich zusammen in seine Grundüberzeugung, daß Dichtung gar nicht bezogen sei auf das Leben, sondern gegen das Leben stände: "monologisch". "Das moderne Gedicht, das absolute Gedicht ist das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden 74

gerichtet, ein Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren" (1, 592). Dichtung "bessert" nicht, aber sie "verändert", "sie hebt die Zeit und die Geschichte auf". Das sind bekannte Gedanken, die vielleicht hier durch die persönliche Färbung, hervorgerufen durch den äußeren Anlaß und die Konfrontation mit Reinhold Schneider, eine besondere Eindringlichkeit bekommen, wenn sie auch an Präzision und Provokation hinter denen der späten grundsätzlichen Essays zurückbleiben. Meine Berufung auf den Lehrstuhl in München und die Übersiedlung dorthin im Sommer 1955 hob die äußere Verbindung zwischen uns auf. Das schwierige Sichhineinfinden in eine gegenüber Berlin ganz andere geistige, religiöse und wissenschaftliche Situation erschwerte von meiner Seite aus zunächst jede Äußerung ihm gegenüber, was zur Folge hatte, daß auch Benn nicht mehr aus seiner Vereinsamung heraustrat. Die schon erwähnte Briefkarte zu Neujahr 1956 mit der tröstlichen Nachschrift: "Schade, daß Sie fort sind", war sein letztes Zeichen einer über der Verschiedenheit dennoch bestehenden Zuneigung und einer nie benannten oder zugestandenen Gemeinsamkeit. Benns weiteres, nur noch kurz währendes Leben war geprägt von der zunächst nicht angenommenen 75

und nicht genau diagnostizierten Krankheit. Im Januar ließ er sich zur Untersuchung in das St. Gertrauden-Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf überweisen. Damals schrieb er sein letztes Gedicht, datiert 6. 1. 1956: "Kann keine Trauer sein". In diesen Worten und den anderen: "Kein Nein, kein Ja", faßt sich am Anfang der nun folgenden qualvollen Monate sein Lebensgefühl zusammen: namenloses Siebanheimgehen an das Rätsel des Da-Seins, das weder durch "Ja" noch durch "Nein" eine Auflösung erfährt. Er hat dieses Vermächtnis seinen von ihm noch betreuten "Gesammelten Gedichten" vorangestellt. Im Juni war er drei Wochen zur Behandlung in Schlangenbad, ohne daß man dort die Ursache der immer sich steigernden Schmerzen erkannte. "Ich werfe mich vor den nächsten Bus", war eine der Äußerungen dieser Schmerzenszeit. Am 7. Juli ist er in Berlin gestorben, wie es in der Todesanzeige hieß: "nach bewußt durchkämpfter Todesnacht". Im Mai hatte ich ihm noch die Versicherung meiner Anteilnahme übermitteln können, verbunden mit der Ankündigung meiner Absicht, im Wintersemester 1956/57 im Seminar seine Dichtung zu behandeln. Am 10. Juli habe ich im Kolleg Gedenkworte auf den Verstorbenen gesprochen. Später ist dann noch ein sehr erregtes, spannungsreiches Seminar zustande gekommen mit dem Thema: "Gibt es eine Benn-Nachfolge?" Die Stellung der jungen Studen76

ten war sehr unterschiedlich, reichte von bewundernder Verehrung bis zu heftiger, teilweise arroganter Ablehnung. Als ob sich die Signatur seiner Stellung im geistigen Schicksal seiner Zeit noch einmal wiederholen müßte. "Kann keine Trauer sein." Meine eigene Beschäftigung mit Person und Werk Gottfried Benns hat dann die folgenden Jahre bis heute fortgedauert, auch in öffentlichen Bekundungen, mündlich und schriftlich sich geäußert. Immer stärker über das Problematische hinweg zur Zustimmung und Anerkennung sich läuternd.t6 Wenn ich zum Schluß 'versuche, das Erkannte und Gewonnene, von direkter Begegnung und gesammeltem geistigen Umgang Bestimmte, zusammenzufassen, so meine ich, es nicht deutlicher und gerechter tun zu können, als mit dem Wort: "Geist als Gegenglück" als der gültigsten Formel für Benns Existenz. Damit ist bezeichnet die Herkunft seines Wesens und Werks aus dem "Geist" als der Gegenwelt von "Leben" und diese bewußte Haltung als Verzicht auf das, was die "anderen" im "Leben" suchen: Gemeinsamkeit, Versicherung des Bestehens, Aufenthalt im Gesicherten, Gegebenen, in Umgebung und Milieu; Tröstung, Stillung, Glück. "Ich sehe in ein fernes Land, wo die Schatten weinen."

77

Tragisch und heroisch - beide Kennzeichnungen hätte Benn selbst abgelehnt, aber sie sind dennoch zutreffend- war sein Rückzug nur auf das Gestalten, das "Destillieren", das "Filtrieren", in dem der Inhalt zugrunde geht zugunsten der Form. Was im Ganzen der Menschheitsgeschichte aller Kulturen gilt, gilt auch für den einzelnen Künstler: Es zählen nicht Meinung, Überzeugung, Idee, Fühlen, "die Räusche", "die Träume" ,sondern nur das Geformte, Gestaltete: "die hinterlassungsfähigen abgeschlossenen Gebilde": "Diese Arbeit an der Ausdruckswelt, ohne Erwartung, aber auch nicht ohne Hoffnung -: etwas anderes hat die Stunde für uns nicht." (1, 387); oder im "Doppelleben": "Statue, Vers, hinterlassungsfähiges Gebilde - ich gehe das Leben an und vollende ein Gedicht" (4, 129). Oder: "Auch Ideen sind sinnlos wie Fakten, genauso chaotisch, da auch sie nur einen geringen Teil des Äon ordnen und beleuchten; - es gelten nur die abgeschlossenen Gebilde, die Friese, der Schild des Achill. Diese sind ohne Ideen, sagen nur sich selbst und sind vollendet" (Pallas 1943, 1, 368f.). Es wurde schon zitiert: Form nur ist Glaube und Tat, die einst von Händen berührten, doch dann den Händen entführten Statuen bergen die Saat (3, 134).

78

Das Letzte an Isolierung in dieser Kunstlehre ist eben dies: "Die abgeschlossenen Gebilde [... ] sagen nur sich selbst." Kunstwerke, so wird immer wieder versichert, sind einsam, drücken nur sich selbst aus. Das ist das den Dichter Benn sein ganzes Werk hindurch faszinierende - wenn er zu zweifeln begann, berief er sich auf Nietzsche; davon ist schon gesprochen worden - Problem der "Artistik": "Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden, es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue Transzendenz zu setzen, die Transzendenz der schöpferischen Lust" ("Probleme der Lyrik", 1951, 1, 500). Die Verlorenheit dieser seiner letzten Position umschreibt er mehrfach so: "Du stehst für Reiche, nicht zu deuten, und in denen es keine Siege gibt" (2, 140; 4, 172). Sieg, das wäre eine für seine unabsichtliche, nicht auf Ergebnisse zielende Kunst unvorstellbare Haltung. "Tapfer" sein, das heißt ihm nicht, gewinnen, siegen wollen. So zitiert er am Schluß seines "Doppellebens" ein Gedicht von 1933: und heißt dann: schweigen und walten, wissend, daß sie zerfällt, dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt (3, 182).

79

Ist es erlaubt, gegen solchen Pessimismus- wir haben dieses Wort, uns auf ihn selbst berufend, schon genannt - die Meinung eines ganz anders gearteten und nicht der Kunstwelt angehörigen, wenn auch von Kunst tief berührten Zeitgenossen, des Theologen und Kulturkritikers Romano Guardini anzurufen? In seinem frühen Buch "Vom Geist der Liturgie" (zuerst 1918) verficht er gegen die landläufige Reduzierung des Gottesdienstes auf Verständlichkeit und Zwischenmenschlichkeit, daß Liturgie etwas mit "Spiel" zu tun habe und darum neben dem Ernst als Erscheinung "Schönheit" sei. Von eben dieser Schönheit sagt er aber, daß sie "Sinn" habe, "eigengültiger Wert" sei, zur "Wahrheit" in einem "engsten Ordnungsverhältnis" stehe. Schönheit ist "Glanz vollkommen ausgedrückter W esenswahrheit". Wenn nicht die Gefahr der "Schöngeisterei" auftauchen solle, sei die Loslösung der "Formvollendung vom Gehalt", des "Ausdrucks von Seele und Sinn" nicht möglich und erlaubt. "Absolute Form" sei ein "Schattengebilde": "Sinn der Form ist es, Ausdruck eines Inhalts, Daseinsweise eines Wesens zu sein." Diese Berufung auf Guardini ist hier nicht- das ist wohl aus dem Ganzen meiner Stellung zu Benn, wie sie hier vorgetragen wurde, glaubwürdig - als Kritik oder gar Widerlegung gemeint. Sie dient nur der "Unterscheidung" und dem genaueren Erfassen dessen, was sich in Benns Künstlerturn darstellt. Er

80

war als schaffender Dichter in ganz anderer Weise ausgesetzt als der aus Abstand urteilende Denker. Benns Erfahrung war die, daß Kunst "für sich eine einsame hohe Welt bleibe" (1, 290). Aber, wie schon gesagt, nicht nur dies, "einsam und hoch", sondern das Endgültige, dem "Leben" Überlegene und es Widerlegende. Das Leben, und mit ihm der Mensch als "halbgelungenes Wesen", als "Entwurf", ist "ein tödliches Gesetz und ein unbekanntes" (4, 67). Und was es als "Glück" auszugeben sich müht, ist eine Irreführung, eine Art Betrug, Verrat an dem, was eigentlich gilt, dem "Geist". Geist als Gegenglück. "Man beende endlich dies konfuse Gerede von Leben und Glück", schreibt er am Anfang des "Ptolemäer" (1947), und im Gedicht: "Leben- niederer Wahn! Traum für Knaben und Knechte" (3, 134, aus dem Jahre 1936).

Jedes Wort dieser zwei Zeilen wie eine Beschwörung, Aufruf zu einem Letzten, das gegen diese Welt bewahrt werden muß; bestürzender Ausdruck der "Mischung Gottfried Benn in Reinkultur", von der er seinem Gönner Oelze gegenüber einmal gesprochen hat: "cynisch und melancholisch" ("Briefe an F. W. Oelze, 1950- 1956", II, 2, S. 131). Mehr melancholisch als cynisch. hat er das gleiche Gesetz seines Künstlertums, die Überwindung des Lebens in der 81

Gestalt, umschrieben in seiner späten Rede vor jungen Dichtern "Altern als Problem für Künstler" (Dezember 1953): "Meine Herren Nachfolger" [... ] Es gibt keine Restauration. Die geistigen Dinge sind irreversibel, sie gehen weiter bis ans Ende, bis ans Ende der Nacht. Mit dem Rücken an der Wand, im Gram der Müdigkeiten, im Grau der Leere lesen Sie Hiob und Jeremias und halten aus. Formulieren Sie Ihre Thesen auf das rücksichtsloseste, denn Sie sind nur nach Maßgabe ihrer Sätze vertreten, wenn die Epoche zur Rüste geht und dem Gesang ein Ende macht. Was Sie nicht aussprechen, ist nicht da. Sie machen sich Feinde, Sie werden allein sein, eine Nußschale auf dem Meer, eine Nußschale, aus der es klirrt mit fragwürdigen Lauten, klappert vor Kälte, zittert vor Ihren eigenen Schauern vor sich selber, aber geben Sie nicht SOS - erstens hört Sie keiner und zweitens wird Ihr Ende sanft sein nach so viel Fahrten" (1, 580f.). Wo ist noch einmal in unserer Zeit Schmerz und Adel des nur im Gestalten sich verantwortenden Künstlerturns so gültig und von so stiller Verzweiflung ausgedrückt worden als hier? Ich frage; hingerissen von der Unbedingtheit, Lauterkeit und einsamen Größe dieses Dichters. Welche unausweichliche Forderung: nur das Gestaltete besteht; alles Durchlittene, Ausgestandene eines angefochtenen und doch bejahten Lebens rechtfertigt sich in den "sechs bis acht vollendeten

82

Gedichten". Um dieser Ernte willen ist es aber nötig, sich von allem zurückzuziehen, was das "Glück" der anderen ausmacht. Der Preis für die Auszeichnung des Gestaltens ist der Verzicht auf "Glück". Verzicht auch auf den von Guardini geforderten Zusammenhang von "Spiel", "Faszination" und "Wahrheit". Es gibt keine Versicherung, Gültigkeit außerhalb der "Gestalt". Und diese ist Gegenwart, Schweigen, ohne Verweis auf eine außerhalb ihrer bestehenden Endgültigkeit, "Wahrheit". Das faßt sich vollendet zusammen in einem der für Benn kennzeichnenden Gedichte, in dem Resignation und Heimweh nach einem innigeren Dasein, hier versinnbildlicht in der Vision seiner Heimatlandschaft, sich rätselhaft und sibyllinisch offenbarend verbinden: Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde - im Gelände die roten und die goldenen Brände doch wo ist deiner Gärten Lust? Die Seen hell, die Himmel weich, die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich? Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im W eingeruch, im Rausch der Dinge -: dienst du dem Gegenglück, dem Geist (3, 140).

83

Gottfried Benn hat dieses Gedicht als em ihm "besonders nahestehendes" bezeichnet (an Oelze 5. XII. 1940). So mag es denn unsere "Betrachtung" als Ausdruck dessen, was dem ihm Begegnenden als Innerstes seines Wesens entgegentrat, beschließen.

Anmerkungen Zitiert wird nach den "Gesammelten Werken", Band 1 - 4, Limes Verlag, Wiesbaden 1958 - 1961, herausgegeben von Dieter Wellershoff. Im Folgenden mit Band- und Seitenzahl, ohne nähere Angabe. t "Rede auf Heinrich Mann" (gehalten am 23. 3. 1931 auf dem Bankett des Schutzbundes deutscher Schriftsteller), 1, 410- 418. Gleichzeitig erschien in der "Literarischen Welt" vom 27. 3. 1931 der Essay "Heinrich Mann zum sechzigsten Geburtstag", 1, 129- 139. Dazu als Verteidigung gegen den Angriff von W erner Hegemann: "Eine Geburtstagsrede und die Folgen" (Voss. Zeitg. 16. 4. 31) 4, 231 234. 2 Klaus Mann an G. B. in "Doppelleben", 4, 74 - 78. Benns Antwort: "Antwort an die literarischen Emigranten", 4, 239- 248. Dazu die Darstellung dieses Ereignisses in Benns "Doppelleben": "Schatten der Vergangenheit", 4, 69- 81. -Zu bedenken bleibt aber, daß Benn im November 1933 trotz einiger unklarer Zugeständnisse an das Regime, seine, die als volksfremd und entartet verunglimpfte "expressionistische Generation" als "europäisch" verteidigte: "Expressionismus", 1, 240- 256. 3 So in dem späten Gedicht "Apreslude" (1955. 3, 326). Siehe dazu noch an F. W. Oelze II, 2, 250. Zum Ganzen dieser existenziellen Grundstimmung Benns vgl. meinen Aufsatz: ",Artisten-Evangelium'. Gottfried Benns ,Ausdruckswelt'". In: "Wirklichkeit und Dichtung", Festschrift f. Franz Link, Berlin 1984, S. 419 ff. • "Kleine Schriften", Berlin 1968, S. 15- 17.- Die Vorlesung, der dieses Bekenntnis zur "freien" Wissenschaft voranging, trug im Anschluß an Friedrich Gundolf den Titel: "Shakespeare und der deutsche Geist". In ihr wurde versucht, die Souveränität geistiger Leistung gegenüber unsachlicher Inanspruchnahme durch außerwissenschaftliche Instanzen darzustellen; also das, was Benn seit etwa 1930/31 als seine "Aufgabe" vertrat. 5 Benn verweist zur Bestätigung seiner eigenen Position auf Malraux in zwei späten Texten, den "Marginalien" ("Nihilistisch oder positiv" 1953), 1, 400, und der Vorrede zu "Frühe Lyrik und Dramen" (1952), 4, 411. Er nennt die von mir angeführte Stelle aus der "Psychologie der Kunst" ein "wunderbares Wort" und "großartig". Die hier angeführte Stelle nach dem Neudruck der "Psychologie der Kunst II" in "rowohlts deutsche enzyklopädie", Harnburg 1958, S. 125. Malrauxs "Psychologie de l'art" erschien zuerst 1947- 1950; deutsch: "Psycho-

85

logie der Kunst" 1949. Die Verse von Benn sind die letzte Strophe des Gedichts "Leben- niederer Wahn", 3, 134, (1936). Sie sind vor Benns Bekanntschaft mit Malrauxs großem Werk entstanden. 6 Vgl. dazu den Bericht des nicht auf Benns Seite stehenden niederländischen Journalisten Nico Rost: "Meine Begegnungen mit Gottfried Benn", im Auszug mitgeteilt in: "G. B. Den Traum alleine tragen. Neue Texte, Briefe, Dokumente", hrsg. von Paul Raabe u. Max Niedermeyer, Limes, Wiesbaden 1966, S. 39- 60. - N. R., von Tretjakows Aufruf, am Aufbau der neuen Welt mitzuwirken, angeregt, empfindet Benn, dessen frühe Dichtung er rühmt, jetzt als "kalt und hochmütig". Benn dagegen bezeichnet den russischen Literaten als "Tschekatyp".- Es mag hier noch erwähnt werden, daß diese materialistische, gesellschafts-politische russische Theorie sehr früh sich ausgebildet hat: Belinskij, Tschernyschewskij, Dobroljubow.: Eines der erschütterndsten Zeugnisse, von unaussagbarer geistiger Ode, ist die Dissertation von N. G. Tschernyschewskij (1828 - 1889): "Die ästhetischen Beziehungen der Kunst zur Wirklichkeit" von 1855; 1954 deutsch erschienen rriit einem einführenden Essay von Georg Lukacs, Aufbau-Verlag, Berlin Ost, die seitdem auch in der westdeutschen Publizistik wirksam ist. Der von Belinskij und Ludwig Feuerbach abhängige, von Lenin geschätzte, einen vulgären naturwissenschaftlichen Materialismus vertretende Verfasser wertet die Kunst als in jedem Belang der "Wirklichkeit" unterlegen; sie verhält sich zum "Leben" wie die Banknote zum Goldbarren, der Reproduktionsstich zum Original (Sixtinische Madonna), der Klavierauszug zur Originalpartitur, ein "Handbuch des Lebens" zum Leben selbst. Wirklichkeit und Leben sind "schön", das Schöne der Kunst ist "Surrogat". Kunst hat nur Berechtigung als "Reproduktion der Natur und des Lebens". Vgl. dazu meine Aufsätze "Dichtung als Wirklichkeit" (1953), jetzt in "Kleine Schriften" (1968) S. 495 - 529; s. dort zu unserem ProblemS. 516f. und Anm. 48; "Dichtung und Zeitgeist im 19. Jahrhundert", in: "Von der ,Reichsunmittelbarkeit der Poesie'", Berlin 1979, S. 23 - 82; dort besonders S. 66f. und S. 105, Anm. 36. Auf Tschernyschewskij beruft sich Lukäcs oft in seinen literarsoziologischen Schriften. Zum ganzen Problem vgl. noch die bestätigende Beurteilung von Benns Rede zur "Literarischen Saison" durch Max Rychner in einem Artikel in der "Kölnischen Zeitung" vom 23. IX. 1931: "Der Kollektivgedanke in der Literatur". Jetzt in: "Gottfried Benn I Max Rychner, Briefwechsel 1930- 1956", Cottas Bibliothek der Moderne, 1986, S. 65 - 70. -Hinzuzunehmen ist R ychners grundsätzliche Würdigung Benns: "Züge seiner dichterischen Welt", "Neue Schweizer Rundschau", Juli 1949 (jetzt in: "G. B. Lyrik u. Prosa, Briefe u. Dokumente", Limes Wiesbaden 1962, XXIII- LVIII), und dessen Nachwort zu Benns "Ausgewählten Briefen" (Limes 1957), 320- 337.

86

7 Es bleibt unverständlich, wenn in dem Marbacher Katalog zu Benns hundertstem Gehunstag die keineswegs nebensächliche Episode der Auseinandersetzung mit Tretjakow unerwähnt bleibt. Versehen, Unkenntnis oder Absicht? Wird die kritische Nennung Rußlands und Moskaus, des östlichen "substantiellen Nihilismus", wie sie bei Benn innerhalb seines spezifischen Kunstverständnisses begegnet, als anstößig empfunden? s Die Hofmannsthai-Studien sind gedruckt in meinen Aufsatzsammlungen: "Hofmannsthal als europäische Gestalt" in: "Kleine Schriften", Berlin 1968; "Hofmannsthals politisches Vermächtnis" in: "Von der Reichsunmittelbarkeit der Poesie", Berlin 1979. - "H. v. Hofmannsthai u. Max Mell. Zu ihrem Briefwechsel", "Jahrb. d. Freien Deutschen Hochstifts", Tübingen 1983. Die jüngste Arbeit über den "Turm": "Geist oder Macht. H's abendländisch-christliches Geschiehtsund Staatsbewußtsein in seinem Drama ,Der Turm'" in: "Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1985", Köln 1986, 22 - 49. 9 Gemeint ist der ungedruckt gebliebene Vortrag "Hofmannsthals Komödien" auf der Germanisten-Tagung in Münster am 16. September 1953. Seine Ergebnisse sind in die späteren Hofmannsthai-Vorträge eingegangen, vor allem: "H. v. H. als europäische Gestalt", seit 1959 mehrfach gehalten. Jetzt in: Kl. Sehr. (1968) S. 373 - 388. 1o F. U. = Freie Universität in Berlin-Dahlem. 11 Zu Brinckmann vgl. Brief an Oelze 30. X. 53, II 2, S. 185- H. K. "Rainer Maria Rilke. Dasein und Dichtung", Berlin 1944. Das Buch wurde später in sehr erweiterter Form herausgegeben, wobei aber die Grundauffassung trotz Benn erhalten blieb, wenn auch differenziert: Berlin 1968, unter dem gleichen Titel. - Obwohl B. in der Rede meinen Namen nicht nennt, zeigen die Zitate, daß er sich hier, wie auch in dem Brief vom 5. XI. 53 auf dieses Buch bezieht. 12 Die Aufnahme fand statt im Studio des Sendersam 17. VIII. 54; die öffentliche Sendung am 26. VIII., 11 40 - 1230 • n Die Bandaufnahme wurde mir mit gütiger Genehmigung von Frau Dr. Ilse Benn am 15. I. 1969 zur Verfügung gestellt. Ich verzichte aus dem oben angeführten Grund auf eine vollständige Wiedergabe und versuche, in meine Darstellung einige Kernstellen der "Rechtfertigung" Benns einzufügen. Damit sein Bild, so weit es noch geht, eindringlicher wird. Dabei erfolgt die Wiedergabe mit Beibehaltung der stilistischen Form, der Satzbrüche, Wiederholungen, der Vorläufigkeiten .... deuten eine Sprechpause an;[ ... ] bedeutet Auslassungen von mir aus der Aufnahme. 14 Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, Benns Forderung nach dem Satzbau vollständig zu erörtern. Verwiesen sei nur auf das Gedicht: "Satzbau" (3, 249). Die Frage nach dem Satzbau sei "dringend: Warum drücken wir etwas aus?" Der Schluß des Gedichts sagt:

87

warum das sei, sei "überwältigend unbeantwortbar", "aber heute ist der Satzbau das Primäre". Dabei sich auf seinen Goethe (Faust I, 59f.) berufend und wieder seine Ausnahmestellung, seine lsoliertheit betonend: ",Die wenigen, die was davon erkannt' - (Goethe) - wovon eigentlich? Ich nehme an vom Satzbau." 15 Siehe die Abbildung in: Margrit Bröhan, "Walter Leistikow (1865 - 1908). Maler der Berliner Landschaft", Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1988, S. 79. Siehe dazu noch eine andere Ansicht des von Leistikow geliebten Schlachtensees S. 58. 16 Vgl. im Anhang das Verzeichnis der sich mit Gottfried Benn befassenden Arbeiten.

Anhang

Verzeichnis meiner gedruckten Arbeiten über Gottfried Benn 1. "Dichtung in der technisierten Welt". In: "Glückauf. Bergmännische Zeitschrift" 99 (1963) s. 1268 - 1273. [Nach einem Vortrag im Hause des Oberbergrats Theo Keyser, Essen/Ruhr.] Ein Auszug daraus: "Über ein Gedicht von G. B." ["Astern"] wurde auf "Veranlassung von ]ohannes Pfeif/er veröffentlicht in: "Die Spur. Vierteljahrsschrift f. evangel. Lehrer in Deutschland" 5 (1965) S. 51 -53. 2. "Gottfried Benn". Ausführlicher Artikel (mit Bibliographie) in meinen "Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur", Nymphenburger Verlagshandlung, München, 1. Aufl. 1965, S. 88- 93; 2. Aufl. 1969, Bd. 1, S. 101 - 106. Danach in meinem "Kleinen Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur", München 1967, 2 1969, s. 55 - 70. Neubearbeitung: "Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", hrsg. von H erbert Wiesner, Nymphenburger Verlagshandlung, München 1981, S. 53- 57; 2. Aufl. 1987, S. 58- 62. 89

3. Gottfried Benn. "Von Bremens Schwesterstadt". "Frankfurter Anthologie" in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 7. X. 1983 unter dem Titel: "Schmerzliches Bekenntnis". -Neudruck: "Frankfurter Anthologie", hrsg. von Marcel Reich-Ranicki, Bd. VIII 1984, S. 150 - 152, Insel Verlag, Wiesbaden. 4. ",Artisten-Evangelium.' Gottfr. Benns ,Ausdruckswelt'". In: "Wirklichkeit und Dichtung. Festschrift für Franz Link". Duncker & Humblot, Berlin 1984, S. 419 - 442. Über Benn als Vertreter der "Artistik" vgl. noch den Abschnitt: "Die moderne Artistik" in meiner Darstellung der Literatur der Gegenwart: "Die deutsche Gegenwartsdichtung. - Kräfte und Formen", Nymphenburger Verlagshandlung 1968, s. 97- 119.