Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013): Vom kurativen zum präventiven Selbst? 3515118837, 9783515118835

Ein homöopathischer Laienverein ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich für eine Alternative zur Schulmedizin ent

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Forschungsstand
1.2 Methodisch-theoretische Überlegungen und Fragestellung
1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit
2. „Hoffentlich können wir durch die Homöopathie noch viele Thränen trocknen“ – Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)
2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen? Zur Sozialstruktur der Laienbewegung
2.1.1 Geschlechterverteilung
2.1.2 Sozialbzw.Berufsstruktur
2.1.3 Alter der Laienhomöopathen
2.1.4 Motive für das Engagement in einem homöopathischen Laienverein
2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine
2.2.1 Regionale Ausbreitung der homöopathischen Laienbewegung
2.2.2 Größe der einzelnen Vereine
2.2.3 Mitgliederentwicklung
2.2.4 Zusammenfassung
2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins? Zur Klassifikation des homöopathischen Vereinswesens
2.3.1 Theoretische Zielsetzung
2.3.2 Versammlungen mit Vorträgen
2.3.3 Kurse
2.3.4 Vereinsbibliotheken und homöopathische Zeitschriften
2.3.5 Vereinsapotheken
2.3.6 Fragekasten
2.3.7 Botanische Wanderungen
2.3.8 Anschaffung von Utensilien
2.3.9 Geselligkeit
2.4 Anstellung von und Verhältnis zu homöopathischen Ärzten
2.5 Laienpraxis
2.6 Das Verhältnis zum außerschulmedizinischen Methodenspektrum
2.7 Gesundheitspflege
2.8 Einflussnahme auf die Politik und das politische Wahlverhalten der Vereinsmitglieder
2.9 Zwischenfazit
3. Mit „recht patriotische[r] Gesinnung“ – Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918)
3.1 Verwundetenversorgung
3.2 Ernährung
3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs
3.4 Vereinslazarette und öffentliches Engagement
4. „Krankheiten verhüten und Gesundheit pflegen“ – Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933)
4.1 Nachkriegs- und Inflationsjahre
4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention
4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung
4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis
4.4.1 Krankenpflege, Arzneimittel, Gymnastik- und Kochkurse
4.4.2 Die „Pflege edler Geselligkeit“
4.5 Jugendgruppen
4.6 Der Anfang vom Ende? Die homöopathische Laienbewegung am Vorabend der „Willkürherrschaft“
5. „Gesundsein ist die sittliche Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk“ – Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)
5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine durch die Nationalsozialisten: Ablauf, Reaktionen und Konsequenzen
5.1.1 Konsequenzen der Gleichschaltung und Reaktion der Laienhomöopathen
5.1.2 Die Laienbewegung als Teil einer „Neuen Deutschen Heilkunde“
5.2 Anpassung oder Verweigerung? Die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der NS-Gesundheitspolitik
5.2.1 Verbreitung der NS-Ideologiedurch die Laienhomöopathen
5.2.2 Rassenhygiene
5.2.3 Die Rolle weiblicher Laienhomöopathen im Dritten Reich
5.3 Die „innere Gleichschaltung“: Berücksichtigung der NS-Gesundheitspolitik in der Vereinspraxis
5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“ Die homöopathische Laienbewegung im Zweiten Weltkrieg
5.4.1 Das Ende der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens- und Heilweise und seine Auswirkungen auf die Laienbewegung
5.4.2 Vereinsleben während des Zweiten Weltkriegs
6. „Keine Sklaven der Zivilisation!“ – Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970)
6.1 Wiederaufnahme der Vereinsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg
6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955
6.3 Entgiftung und Diätetik: Das handlungsleitende Gesundheitskonzept der Laienbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
6.3.1 Die Umwelt in der Wahrnehmung der Laienhomöopathen
6.3.2 Die „neuzeitlichen Erkrankungen“: Auswirkungen der vergifteten Umwelt auf Körper und Geist
6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis: Vorbeugung durch Kompensation der Risikofaktoren
6.4.1 Ernährung
6.4.2 Ausgleich in der Freizeit und zwischenmenschliche Harmonie
6.5 Vom Selbsthilfe- zum bloßen Informationsverein? Die Arzneimittellehre als Kernkompetenz des präventiven homöopathischen Selbst
7. „Homöopathie in unserer modernen Zeit“ – Die homöopathische Laienbewegung auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit (1970–2008)
7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihre quantitativen Auswirkungen auf die Laienbewegung
7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen
7.2.1 Individuelle Gesundheitsförderung statt kollektiver Krankheitsverhütung: Die Weiterentwicklung des laienhomöopathischen Gesundheitskonzepts
7.2.2 Heilpraktiker als Vortragsredner: Notwendiges Übel oder Bereicherung?
7.2.3 Die Laienbewegung auf dem Weg in die postmoderne Gesundheitsgesellschaft: Medizinischer Eklektizismus statt Homöopathie?
8. „Info ist alles, sonst läuft nichts“ – Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen
8.1 Zum soziologischen Profil
8.2 Zum medikalen Profil
8.3 Zusammenfassung der wichtigsten Teilergebnisse
9. Fazit
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ungedruckte Quellen
Gedruckte Quellen
Periodika
Forschungsliteratur
Internet-Adressen
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
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Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013): Vom kurativen zum präventiven Selbst?
 3515118837, 9783515118835

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Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013) Vom kurativen zum präventiven Selbst?

von Daniel Walther MedGG-Beiheft 67

Franz Steiner Verlag Stuttgart

Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013)

Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 67

Medikale Kultur der homöopathischen Laienbewegung (1870 bis 2013) Vom kurativen zum präventiven Selbst? von Daniel Walther

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2017

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH

Coverabbildung: „Lebendes Bild des Verbandskurses des Heidenheimer homöopathischen Vereins anläßlich des 40. Vereinsjubiläums im Heidenheimer Konzerthaus im Jahre 1926“ aus dem Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11883-5 (Print) ISBN 978-3-515-11893-4 (E-Book)

Vorwort Diese Arbeit wurde Ende 2016 unter dem Titel „Vom kurativen zum präven­ tiven Selbst? Transformation der medikalen Laienkultur am Beispiel der ho­ möopathischen Laienbewegung zwischen 1870 und 2008“ von der Philoso­ phischen Fakultät der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie leicht überarbeitet und ihr Titel gekürzt. Zum Abschluss des Promotionsverfahrens möchte ich die Menschen nen­ nen, die mich in dieser Zeit begleitet, mir mit Rat und Tat geholfen und auch die schönen Momente mit mir geteilt haben. Mein Dank gebührt an erster Stelle Prof. Dr. Martin Dinges, meinem Doktorvater. Er konnte mir in zahlrei­ chen Gesprächen das Gefühl vermitteln, wichtige Erkenntnisse zutage geför­ dert zu haben, auch wenn sie mir selbst manchmal zunächst banal erschienen. Profitieren konnte ich ebenso von seinen klugen Hinweisen und kritischen Kommentaren. In großer Dankbarkeit bleibe ich überdies Herrn Prof. Robert Jütte, dem Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart (IGM), verbunden. Ohne die finanzielle Unterstützung durch ein Stipendium und Übernahme der Druckkosten seitens des Instituts wäre diese Dissertation nicht möglich gewesen. Zudem fand ich im IGM in jeder Hinsicht optimale Arbeitsbedingungen vor. Für den reibungslosen Ab­ lauf der Formalitäten und gelegentliche Ablenkung bei heiteren Unterhaltun­ gen sorgte Dorothea Schmucker. Ihr sei ebenso herzlich gedankt wie Steffi Berg, Sandra Dölker und Beate Schleh, die mir bei den Archiv­ und Literatur­ recherchen zur Hand gegangen sind. Fachlichen Rat und Beistand gewährte auch Dr. Marion Baschin, die meine Arbeit mit regem Interesse verfolgte, mir wichtige Unterlagen zur Ver­ fügung stellte und mir oft in Detailfragen weiterhalf. Mit meinen Kollegen Aaron Pfaff, Dr. Pierre Pfütsch und Sebastian Wenger, mit denen mich längst freundschaftliche Bande verknüpfen, habe ich unzählige Fachgespräche ge­ führt, aber auch viele kurzweilige Momente erlebt. Eine ganz wesentliche Voraussetzung des Erfolgs waren darüber hinaus Anja Smieszkol, Lukas Fortwengel, Juli Waldschmidt und meine lieben El­ tern. Sie haben den Schaffensprozess und seine Sonnen­ wie Schattenseiten am engsten miterlebt und mit mir durchlebt. Ihre Anteilnahme werde ich allzeit in schöner Erinnerung behalten! Daniel Walther Heidelberg, im Sommer 2017

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .................................................................................................... 1.1 Forschungsstand ................................................................................... 1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung ............ 1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit ................................ 2. „Hoffentlich können wir durch die Homöopathie noch viele Thränen trocknen“ – Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914) ...................................................................... 2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen? Zur Sozialstruktur der Laienbewegung .............................................................................. 2.1.1 Geschlechterverteilung .............................................................. 2.1.2 Sozial­ bzw. Berufsstruktur ........................................................ 2.1.3 Alter der Laienhomöopathen ................................................... 2.1.4 Motive für das Engagement in einem homöopathischen Laienverein ................................................................................. 2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine ............................................. 2.2.1 Regionale Ausbreitung der homöopathischen Laienbewegung .......................................................................... 2.2.2 Größe der einzelnen Vereine ................................................... 2.2.3 Mitgliederentwicklung .............................................................. 2.2.4 Zusammenfassung ..................................................................... 2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins? Zur Klassifikation des homöopathischen Vereinswesens ................. 2.3.1 Theoretische Zielsetzung .......................................................... 2.3.2 Versammlungen mit Vorträgen ................................................ 2.3.3 Kurse ........................................................................................... 2.3.4 Vereinsbibliotheken und homöopathische Zeitschriften ....... 2.3.5 Vereinsapotheken ....................................................................... 2.3.6 Fragekasten ................................................................................. 2.3.7 Botanische Wanderungen ......................................................... 2.3.8 Anschaffung von Utensilien ...................................................... 2.3.9 Geselligkeit ................................................................................. 2.4 Anstellung von und Verhältnis zu homöopathischen Ärzten .......... 2.5 Laienpraxis ........................................................................................... 2.6 Das Verhältnis zum außerschulmedizinischen Methodenspektrum ............................................................................. 2.7 Gesundheitspflege ................................................................................ 2.8 Einflussnahme auf die Politik und das politische Wahlverhalten der Vereinsmitglieder .......................................................................... 2.9 Zwischenfazit ........................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

3. Mit „recht patriotische[r] Gesinnung“ – Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) ............... 3.1 Verwundetenversorgung ...................................................................... 3.2 Ernährung ............................................................................................. 3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs ................................... 3.4 Vereinslazarette und öffentliches Engagement ................................. 4. „Krankheiten verhüten und Gesundheit pflegen“ – Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) ................................................................................ 4.1 Nachkriegs­ und Inflationsjahre ......................................................... 4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention ...................................................................................... 4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung .......................... 4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis ................................... 4.4.1 Krankenpflege­, Arzneimittel­, Gymnastik­ und Kochkurse ................................................................................... 4.4.2 Die „Pflege edler Geselligkeit“ ................................................. 4.5 Jugendgruppen ..................................................................................... 4.6 Der Anfang vom Ende? Die homöopathische Laienbewegung am Vorabend der „Willkürherrschaft“ ............................................... 5. „Gesundsein ist die sittliche Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk“ – Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945) .............................................................. 5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine durch die Nationalsozialisten: Ablauf, Reaktionen und Konsequenzen ...................................................................................... 5.1.1 Konsequenzen der Gleichschaltung und Reaktion der Laienhomöopathen ................................................................... 5.1.2 Die Laienbewegung als Teil einer „Neuen Deutschen Heilkunde“ ................................................................................. 5.2 Anpassung oder Verweigerung? Die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der NS­Gesundheitspolitik ....................... 5.2.1 Verbreitung der NS­Ideologie durch die Laienhomöopathen ................................................................... 5.2.2 Rassenhygiene ............................................................................ 5.2.3 Die Rolle weiblicher Laienhomöopathen im Dritten Reich .............................................................................. 5.3 Die „innere Gleichschaltung“: Berücksichtigung der NS­Gesundheitspolitik in der Vereinspraxis ..................................... 5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“ Die homöopathische Laienbewegung im Zweiten Weltkrieg ...............................................

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5.4.1 Das Ende der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens­ und Heilweise und seine Auswirkungen auf die Laienbewegung .................................... 233 5.4.2 Vereinsleben während des Zweiten Weltkriegs ...................... 236 6. „Keine Sklaven der Zivilisation!“ – Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) ............. 6.1 Wiederaufnahme der Vereinsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg ............................................................................................... 6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955 ................................................................................................. 6.3 Entgiftung und Diätetik: Das handlungsleitende Gesundheitskonzept der Laienbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ................................................................ 6.3.1 Die Umwelt in der Wahrnehmung der Laienhomöopathen ................................................................... 6.3.2 Die „neuzeitlichen Erkrankungen“: Auswirkungen der vergifteten Umwelt auf Körper und Geist ........................ 6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis: Vorbeugung durch Kompensation der Risikofaktoren ..................................................... 6.4.1 Ernährung ................................................................................... 6.4.2 Ausgleich in der Freizeit und zwischenmenschliche Harmonie ................................................................................... 6.5 Vom Selbsthilfe­ zum bloßen Informationsverein? Die Arzneimittellehre als Kernkompetenz des präventiven homöopathischen Selbst ..................................................................... 7. „Homöopathie in unserer modernen Zeit“ – Die homöopathische Laienbewegung auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit (1970–2008) .............................................................. 7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihre quantitativen Auswirkungen auf die Laienbewegung ....... 7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen ..................................................................................... 7.2.1 Individuelle Gesundheitsförderung statt kollektiver Krankheitsverhütung: Die Weiterentwicklung des laienhomöopathischen Gesundheitskonzepts ......................... 7.2.2 Heilpraktiker als Vortragsredner: Notwendiges Übel oder Bereicherung? ................................................................... 7.2.3 Die Laienbewegung auf dem Weg in die postmoderne Gesundheitsgesellschaft: Medizinischer Eklektizismus statt Homöopathie? ...................................................................

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8. „Info ist alles, sonst läuft nichts“ – Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen .......................................... 8.1 Zum soziologischen Profil ................................................................... 8.2 Zum medikalen Profil ......................................................................... 8.3 Zusammenfassung der wichtigsten Teilergebnisse ...........................

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9. Fazit .............................................................................................................. 330 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... Quellen­ und Literaturverzeichnis ................................................................. Abbildungsverzeichnis .................................................................................... Tabellenverzeichnis .........................................................................................

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1. Einleitung Das Thema Gesundheit ist in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig: Well­ ness­ und Beautyprodukte werden breit beworben, Bio­ und neuerdings das vermeintlich noch gesündere Superfood sind in aller Munde. Übergroße Wer­ beplakate transportieren ideale Körperbilder und machen auf die Notwendig­ keit einer abwechslungsreichen Ernährung, Hautpflege oder sportlicher Betä­ tigung aufmerksam. In populären Zeitschriften und Magazinen wird regelmä­ ßig über Erkrankungen aufgeklärt und beinahe schon gebetsmühlenartig die Bedeutung einer vorbeugenden, rauch­ und möglichst stressfreien Lebens­ weise betont. Gerade hier liest man in diesem Zusammenhang häufig von den Vorzügen alternativmedizinischer Heilmethoden. Studien zum Gesundheits­ verhalten der Deutschen spiegeln diesen Trend wider und belegen, dass sich deren Anwendung in leichten Krankheitsfällen seit etlichen Jahren einer im­ mer größeren Beliebtheit und stärkeren Inanspruchnahme erfreut.1 Ganz vorne mit dabei ist die Homöopathie. Laut einer 2014 vom Allensbacher Institut für Demoskopie (IfD) durchgeführten Studie ist sie 94 % der Bevölke­ rung ein Begriff, immerhin 60 % – überwiegend Frauen – haben in der Ver­ gangenheit bereits von homöopathischen Arzneimitteln Gebrauch gemacht.2 Die zunehmende Popularität der Homöopathie kommt indessen nicht von ungefähr, sondern sie reicht weit zurück: Der Heilmethode zugrunde liegt das von ihrem Begründer Samuel Hahnemann3 (1755–1843) Ende des 18.  Jahrhunderts formulierte Ähnlichkeitsprinzip4, nach dem Erkrankungen durch eine künstlich hervorgerufene Sekundärerkrankung geheilt werden. Dem Kranken werden potenzierte, d. h. in Alkohol oder Milchzucker ver­ dünnte, Giftstoffe verabreicht, die in gesundem Zustand ähnliche (nicht glei­ che) Symptome verursachen wie sie auch der eigentlichen Erkrankung eigen­ tümlich sind. Obwohl sich Hahnemann anfänglich gegen die homöopathi­ sche Selbstbehandlung durch Laien aussprach, fand seine Heilmethode unter gleichgesinnten und reformwilligen Ärzten rasche Verbreitung.5 Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur, am bedeutendsten jedoch dürften die fehlen­ den Nebenwirkungen und die Zugänglichkeit der Homöopathie gewesen sein: Hahnemann, selbst approbierter Arzt, begründete die Homöopathie in Opposition zur akademisch gelehrten Heilkunde, der er wegen ihrer zweifel­ 1

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Vgl. Marstedt (2002); Wolff: Alternativmedizin (2010); Baschin: Selbstmedikation (2012), S. 1; Dinges (2012), S. 138–139; einen statistischen Überblick bieten die vom Allensba­ cher Institut für Demoskopie durchgeführten Studien: Gesundheitsorientierung (2000), insbesondere S. 18–33; Naturheilmittel (2010). 2009 waren es noch 53 %. Vgl. hierzu: Sombre (2009) und (2014). Die Biographie Hahnemanns ist in zahlreichen Monographien und Aufsätzen erschöp­ fend behandelt worden. Es sei daher auf das Überblickswerk von: Jütte (2005) verwiesen. Vgl. Wolff (1989), S. 37 f.; Faltin (2000), S. 330–345. Der Entstehung, Verbreitung und Entwicklung der Homöopathie widmet sich aus unter­ schiedlichen Perspektiven ausführlich: Jütte: Deutschland (1996); Schmidt (1990); Schmidt (2007). Zu den erwähnten und anderen alternativen Heilverfahren siehe: Jütte: Alternative Medizin (1996).

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1. Einleitung

haften und oft gefährlichen Kuren den Rücken kehrte. Denn bevor Bakterio­ logie und Mikrobiologie der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin zum Durchbruch verhalfen, standen den humoralpathologisch geschulten Ärzten meist nicht mehr therapeutische Maßnahmen zur Verfügung als der zusätzlich schwächende Aderlass, entkräftende Brech­ und Abführmittel oder teilweise giftige Medikamente.6 Die Homöopathie vertraute zwar ebenso auf Arzneimittel mit toxikologischen Inhaltsstoffen, deren Auswirkungen auf den Körper aber mittels Potenzieren auf ein unschädliches Maß minimiert werden konnten. Die Folge war, dass homöopathisch behandelte Patienten oft eine größere Chance hatten zu überleben bzw. zu gesunden, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass eine weitere Gesundheitsschädigung oder ­schwächung un­ terblieb. Oft genannt werden in diesem Zusammenhang die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts grassierenden Cholera­ und Typhusepidemien, bei de­ nen die Homöopathie im Vergleich zur allopathischen Behandlungsweise eine geringere Mortalitätsrate zu verzeichnen hatte.7 Das brachte ihr in weiten Kreisen und überregional großes Ansehen ein und erklärt ihre rasch stei­ gende Popularität. Der zweite maßgebliche Grund für die rasche Verbreitung der Homöopa­ thie war ihre Anwendung durch medizinische Laien. Bereits wenige Jahre nach Begründung der Homöopathie, deren Prinzipien Hahnemann 1810 in seinem Organon der Heilkunst8 schriftlich niederlegte, erschienen die ersten Laienratgeber in Form von Handbüchern, Nachschlagewerken und später auch Zeitschriften.9 Sie erreichten ein großes Publikum, waren doch die Nachfrage an derartigen Schriften und das Interesse an einer leichtverständ­ lichen und ­erlernbaren Heilmethode gegeben. Hahnemann selbst sah in der laienhaften Anwendung seiner Heilmethode durch Laien einen Widerspruch, denn seiner Auffassung nach gehörte die Homöopathie in professionelle Hände, sollte sie zu einem Behandlungserfolg führen. Das eingängige und plausible Prinzip aber, seine Unschädlichkeit sowie die Abdeckung eines brei­ ten Krankheitsspektrums trugen maßgeblich zur Verbreitung auch unter Laien bei. Erstmals war ihnen die Möglichkeit in die Hand gegeben, sich auf der Grundlage eines medizinischen Systems selbst zu therapieren. Davon wurde nach der Veröffentlichung des Organons auch reger Gebrauch ge­ macht, denn nicht nur Laienheiler priesen den Hilfe suchenden Kranken ihre Dienste an. Auch bildeten sich, vornehmlich in Sachsen, bereits die ersten homöopathischen Laienvereine als ein Zusammenschluss von Menschen, die sich für eine Alternative zur akademischen Medizin entschieden hatten und 6 7 8

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Vgl. Regin (1996), S.  41; Jütte: Alternative Medizin (1996), S.  21; Jütte: Pluralismus (2011), S. 52; Baschin (2012), S. 43, 77 ff. Scheible (1996); Jütte (1998), S. 28; Baschin (2012, S. 77–93; Schreiber (2002), S. 61–64. Zur sozialen Ungleichheit von Krankheit siehe auch: Spree (1981), S. 37, 134 u. 152 ff. Als maßgebliches Grundlagenwerk der Homöopathie gilt heute die sechste Auflage des Organons, die 1921 von Richard Haehl (1873–1932) veröffentlich worden ist. Sie ist on­ line verfügbar unter: http://www.homeoint.org/books4/organon/ (letzter Zugriff am 18. April 2016). Hierzu ausführlich: Baschin (2012), S. 94–157.

1. Einleitung

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sich durch den Austausch von Erfahrungen gegenseitig unterstützen sowie ihr eigenes Wissen erweitern wollten.10 Mit dem zuletzt genannten Grund – dem Vorteil der Selbstmedikation – ist nun die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt, denn noch immer erfreut sich die Selbstbehandlung mit homöopathischen Medikamenten großer Beliebtheit.11 Das gilt trotz oder gerade wegen der nicht zu leugnenden Fortschritte der naturwissenschaftlich orientierten und fundierten Medizin, deren Siegeszug alles andere als reibungslos verlief und andere Heilmethoden weder diskreditieren noch obsolet machen konnte. Das wird besonders an der immer wieder aufflackernden Kritik an einer zuneh­ menden Ökonomisierung und Technisierung des Gesundheitssystems12 deut­ lich: Viele Menschen hegen eine gewisse Skepsis gegenüber einer von Ma­ schinen und anderen technischen Instrumenten dominierten Medizin. Sie vertrauen vermehrt auf alternativmedizinische Konzepte, die dem Individuum als Ganzes und seinem persönlichen Leiden mehr Aufmerksamkeit schenken und es in den Heilungsprozess miteinbeziehen. Gleichzeitig wächst das Unbe­ hagen gegenüber dem übermäßigen Gebrauch synthetischer Arzneimittel und damit der „Over the Counter“­Markt, also der Absatz von nicht verschrei­ bungspflichtigen Medikamenten. Mit der Skepsis gegenüber der Schulmedi­ zin und der verstärkten Inanspruchnahme von alternativmedizinischen Heil­ verfahren geht demnach ein Verhaltenswandel der Patienten einher, die mitt­ lerweile verstärkt auf Mitsprache pochen, einst sakrosankte Arztmeinungen in Zweifel ziehen und sich ein mitunter komplexes medizinisches Wissen aneig­ nen.13 Nicht unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang der Lifestyle­ Aspekt, der mit alternativer Medizin und Lebensführung in Verbindung ge­ bracht werden kann.14 Alternativmedizinische Heilkonzepte, wie die Homöo­ pathie oder Naturheilkunde, üben auch gegenwärtig auf Gesunde wie Kranke eine große Anziehungskraft aus, sei es, weil sie ihnen das Gefühl von Mündig­ keit und Selbstbestimmung über den eigenen Körper vermitteln, sie Teil ihrer individuellen Weltanschauung sind oder sie sich schlicht eine schonende, sanfte und im Einklang mit der Natur stehende Heilung ihrer Beschwerden versprechen.

10 Der nachweislich erste homöopathische Laienverein konstituierte sich 1832 im branden­ burgischen Köritz auf Initiative eines Pfarrers. Vgl. hierzu: Baschin (2012), S. 211 f.; Wolff (1989), S. 49; Grubitzsch (1996), S. 57 f. 11 Entgegen den immer wieder in der Tages­ und Fachpresse zu lesenden Unkenrufen, de­ nen zufolge die Wirksamkeit der Homöopathie wissenschaftlich nicht erwiesen sei. Bei­ spielhaft für die kritische Berichterstattung über Homöopathie und Alternativmedizin sei verwiesen auf: Singh/Ernst (2008); Hackenbroch (2010); Ernst (2015). 12 Vgl. Porter (2000), S. 686–708; zur Kritik an der Schulmedizin siehe auch: Illich (1977); Jeserich (2010), S. 203–227; Dornheim (1987), S. 7–33; Dinges (1996). 13 Vgl. Babitsch/Berg (2012), S. 313 ff. 14 Günter/Römermann (2002); Fritzen (2006), S.  329; Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 181.

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1. Einleitung

Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache umso paradoxer, dass die Existenz homöopathischer Laienvereine, um die es im Folgenden gehen soll, der Bevölkerungsmehrheit weitgehend unbekannt und ihre Gesamtzahl rela­ tiv gering ist.15 Ein interessiertes Nachfragen im Freundeskreis wird die gele­ gentliche Inanspruchnahme homöopathischer Arzneimittel bestätigen, mitun­ ter bei den Befragten sogar auf ein fundiertes Wissen hindeuten. Dieses Wis­ sen wird aber nicht der Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein zu­ zuschreiben sein. Eher schon der Rezeption leicht verständlicher Fachbücher, den Empfehlungen gutinformierter Bekannter oder versierter Apotheker/­in­ nen oder auch den Vorzügen des digitalen Zeitalters16. Der Frage nach den tieferen Gründen für diesen allmählichen Bedeutungsverlust der traditionsrei­ chen Laienbewegung wird am Ende der Arbeit nachzugehen sein. Zunächst gilt es, die Entstehung und den Aufstieg der Bewegung, ihre Konsolidierung, ihren Niedergang, kurz: ihre wechselvolle und facettenreiche Geschichte vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Ent­ wicklung zu skizzieren. Nach der Rekapitulation des Forschungsstands, der Präzisierung der Fragestellung und der Vorstellung des Quellenkorpus (Kap. 1) wird es darum gehen, wer die Laienhomöopathen eigentlich waren, welche Angebote ihnen von den Vereinen offeriert und welche Utensilien da­ bei eingesetzt worden sind (Kap. 2). Auf dieser Grundlage können dann die Herausforderungen sichtbar gemacht werden, denen sich die Laienbewegung im und nach dem Ersten Weltkrieg stellen musste (Kap. 3). In chronologi­ scher Reihenfolge schließt daran die Frage an, wie sich die Laienhomöopa­ then im nationalsozialistischen Gesundheitssystem zu behaupten versuchten (Kap. 4) und wie sie auf die soziokulturellen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reagierten (Kap. 5). Die Befunde und Ergebnisse münden abschließend in die Auswertung und Analyse eines im Spätsommer 2013 an alle Zweigvereine des Dachverbands „Hahnemannia“ versandten Fragebogens (Kap. 6). Durch ihn sind Einblicke in die homöopathische Laien­ bewegung am Anfang des 21. Jahrhunderts und somit die Zusammenführung von gegenwärtiger Vergangenheit und gewordener Gegenwart möglich.

15 Am Jahresende 2014 zählte der Deutsche Verband für Homöopathie und Lebenspflege „Hahnemannia“ insgesamt 40 angeschlossene Laienvereine, in denen zu diesem Zeit­ punkt 4.082 Mitglieder organisiert waren. Der prozentuale Anteil der homöopathischen Vereine am bundesrepublikanischen Vereinswesen (über 600.000 Vereine) ist demnach verschwindend gering. 16 Zu denken ist hierbei vor allem an die Möglichkeiten der digitalen Informationsbeschaf­ fung, die sich mittlerweile längst nicht mehr in der Konsultation einschlägiger Internet­ foren erschöpft. Hinzugekommen ist in den letzten Jahren eine Vielzahl an mehr oder weniger seriösen gesundheitsbezogenen Apps für Smartphones und Tablets. Zur Vermitt­ lung und Inanspruchnahme (alternativ­) medizinischer Wissensbestände mittels Internet und elektronischer Endgeräte siehe: Welz (2005); Hilber (2008); Bogen (2010); Marstedt (2010), insbesondere S. 48–55; Kickbusch/Hartung (2014), insbesondere S. 213–230.

1.1 Forschungsstand

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1.1 Forschungsstand In diesem Kapitel wird ein Überblick über den derzeitigen Stand der ein­ schlägigen Forschung gegeben. Dabei werden im Wesentlichen die Arbeiten zur Homöopathiegeschichte im Allgemeinen und zur Geschichte der homöo­ pathischen Laienbewegung im Besonderen vorgestellt. Jüngere sozial­, kultur­ und medizinhistorische Ansätze, die zur Beantwortung der zentralen Frage­ stellung nach einer Verlagerung des Schwerpunkts weg von der Therapie und hin zur Prävention beitragen können, sollen hingegen an späterer Stelle Be­ rücksichtigung finden. Als Eberhard Wolff erstmals 1985 die wesentlichen Merkmale der ho­ möopathischen Laienbewegung in einem überblicksartigen Aufsatz skizzierte, musste er einleitend feststellen, dass die Bewegung, im Gegensatz zu den an­ deren Bereichen der medizinischen Reformbewegung, bisher noch kaum durch die Forschung rezipiert worden sei.17 Diesen Missstand führte er nicht etwa auf ihre fehlende reale Bedeutung, sondern auf forschungsimmanente Gründe zurück. Denn als Außenseitermethode habe die Homöopathie in Kombination mit ihrer Laienorientierung für die medizinhistorische For­ schung eine „doppelte Marginaliät“18. Die gegenwartsbezogene Medizinsozio­ logie identifiziere die Laienvereine in erster Linie als historisches Problem und würde sie deshalb vernachlässigen, die soziologische und volkskundliche Vereinsforschung fände als Untersuchungsgegenstand quantitativ bedeuten­ dere Vereinsarten und auch die Homöopathie­Geschichtsschreibung selbst schrecke bislang davor zurück, sich in eine Sphäre unterhalb der akademi­ schen Diskussion zu begeben. Einige Jahre später, bei der Niederschrift von Wolffs Magister­ und zugleich Pionierarbeit über den Homöopathischen Ver­ ein Heidenheim19, war es um die Forschungslage keineswegs besser gestellt. Einzig Alfred Haug hatte das Wirken und Handeln des Süddeutschen Ver­ bands für Homöopathie und Lebenspflege während des Nationalsozialismus 1986 in einem sechsseitigen Aufsatz rekonstruiert.20 Sein Forschungsinteresse weckten die ihm zuvor vom ehemaligen Verbandsvorsitzenden Karl Fischle übergebenen Verbandsprotokolle aus jener Zeit.21 Ähnlich muss es auch Wolff gegangen sein, dem der Heidenheimer Homöopathie­Verein sein fast vollstän­ dig erhaltenes Archiv, darunter rund 2.500 handschriftliche Protokollseiten der Vereinsversammlungen, zur Verfügung gestellt hat. Zu den forschungsim­ manenten Gründen gesellte sich demnach auch die einseitige Quellenlage: Umfassende Einblicke in und unverfälschte Analysen der homöopathischen Laienbewegung konnten nur ungedruckte und lokale Quellen liefern, die nicht die „Perspektive der jeweiligen ideologischen Köpfe und organisatori­

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Wolff (1987), S. 62. Wolff (1987), S. 62; Wolff (1989), S. 21. Wolff (1989). Haug (1986). Haug (1986), S. 228.

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1. Einleitung

schen Spitzen“22 widerspiegeln. Solche Quellen wurden aber bis dato der Forschung nicht oder wie im Falle Haugs und Wolffs nur ausnahmsweise zu­ gänglich gemacht. Sondern waren entweder nach Auflösung eines Vereins vernichtet worden oder befanden sich weitgehend in Privatbesitz. Umgekehrt verkannten die organisierten Laienhomöopathen aufgrund des geringen wis­ senschaftlichen wie öffentlichen Interesses den historisch­kulturellen Wert ih­ rer Archive. Weshalb sie sich auch nicht veranlasst fühlten, ihre Protokoll­ und Mitgliederbücher zum Zwecke der Erforschung und Aufbewahrung aus den Händen zu geben.23 Bei der Auswertung seiner einzig­ und neuartigen Materialgrundlage, die beinahe ungefiltert den Alltag der Vereine und nicht die offizielle Ideologie der Bewegung wiedergibt24, konnte Wolff an zeitgenössische Forschungstrends anknüpfen. So näherte er sich seinem Untersuchungsgegenstand gewisserma­ ßen „von unten“, wie es der britische Medizinhistoriker Roy Porter 1985 in einem professionskritischen und programmatischen Aufsatz forderte. Porter beklagte darin, „that the history of healing is par excellence the history of doctors.“25 Den Medizin­ und Sozialhistorikern seien die gewöhnlichen Men­ schen aus dem Blick geraten. Statt sich der Frage nach deren Wahrnehmung von Gesundheit und Bewältigung von Krankheit anzunehmen, hätten sie bis­ lang in erster Linie versucht, die Geschichte und Soziologie der naturwissen­ schaftlichen Medizin aus der Perspektive bedeutender Ärzte zu beleuchten. Diese linear­teleologische Sichtweise hätte jedoch nicht nur zu einem „vereng­ ten Blickwinkel auf die ‚Geschichtsschreibung des Heilens‘“26 geführt, son­ dern, so Porter, auch zur Vernachlässigung solcher Quellen, die einen Ein­ blick in die Lebenswelt eben jener gewöhnlichen Menschen gewähren.27 Als Lösung schlug er daher vor, Medizingeschichte „from below“ zu betreiben. Porters Postulat fügte sich nahtlos in ähnliche Entwicklungen auf dem Ge­ biet der Volkskunde ein. Während die Volksmedizin­Forschung als deren Teil­ disziplin traditionell darauf abzielte, die tradierten volkstümlichen und ver­ meintlich irrationalen Krankheitsvorstellungen und Heilgebräuche zu identifi­ zieren und der wissenschaftlichen Medizin gegenüberzustellen, wurden An­ fang der 1980er Jahre Stimmen laut, die diese Dichotomie zwischen Volks­ 22 Wolff (1989), S. 23. Wolff bezieht sich dabei zwar auf die Naturheilbewegung, gleiches gilt aber auch für die homöopathische Laienbewegung. 23 Ohne dem Quellenkapitel vorgreifen zu wollen, sei hier anekdotisch auf den Homöopa­ thischen Verein Bischheim verwiesen: 1996 zeigte das Deutsche Hygiene­Museum Dres­ den eine Ausstellung über „Homöopathie 1796–1996. Eine Heilkunde und ihre Ge­ schichte“. Darin wurde auch die Laienhomöopathie thematisiert. Unter den Besuchern befand sich jemand, der im Besitz eines Protokollbuchs des besagten Vereins war. Er trat daraufhin mit der Museumsleitung in Kontakt und übergab ihr das Buch als Dokument einer bedeutenden medizinischen Reformbewegung. Ohne die Ausstellung wäre es ver­ mutlich im Dunkel der Geschichte verschwunden. 24 Vgl. Wolff (1989), S. 19. 25 Porter (1985), S.  175. Zum Porterschen Gegenentwurf zur konventionellen Medizinge­ schichtsschreibung siehe auch: Loetz (1993), S. 24 f.; Jütte/Eckart (2014), S. 347 ff. 26 Wolff (1989), S. 9; vgl. auch Hoffmann (2008), S. 222. 27 Porter (1985), S. 175.

1.1 Forschungsstand

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und Schulmedizin kritisierten.28 Unter dem Begriff der „medikalen Laienkul­ tur“ rückten die Volkskundler Jutta Dornheim und Wolfgang Alber erstmals 1983 „alle Wissensvorräte und Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Ansprüche unterer Bevölkerungsschichten, ihre Einstellungen zu Heilpersonen und ihre Nutzungsgewohnheiten von therapeutischen Angeboten“29 in den interdiszi­ plinären Fokus. Es ging ihnen demnach um das spezifische Verhältnis, „in dem der medizinische Laie bzw. Patient zur (werdenden) wissenschaftlichen Medizin stand“30. Dieses Verhältnis wurde jedoch nicht als ausgewogen oder wechselseitig verstanden: Die an Dornheim und Alber anknüpfenden Unter­ suchungen diskutierten und interpretierten die Inanspruchnahme volksmedi­ zinischer Angebote und Praktiken vornehmlich als Reaktion auf die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtbaren Versuche von Ärzten, den heterogenen und offenen medizinischen Markt zu technisieren, institutionali­ sieren, politisieren, professionalisieren und nicht zuletzt zu monopolisieren.31 Und gleichzeitig mit präventivmedizinischen Gesundheitsregeln normierend und hygienisierend in private und intime Lebensbereiche und ­erfahrungen einzudringen, die bislang außerhalb ihres Einflusses standen, wie etwa Sexua­ lität, Schwangerschaft und Geburt.32 Maßgeblich vorangetrieben wurde die­ ser als Medikalisierung33 bezeichnete Prozess 1883 durch die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung, die immer mehr Menschen (zwangsweise) mit den Auswirkungen der wissenschaftlichen Medizin in der Praxis konfron­ tierte.34 Der Kranke selbst verlor dadurch seinen sozialen Status in der Arzt­ Patient­Beziehung. Einst Auftraggeber ärztlicher Leistungen, deren Zahlung er bei erfolgloser Behandlung verweigern konnte, wurde er nun zum „Pa­ tient“, zum geduldigen und unmündigen Objekt medizinischen Handelns de­ gradiert. Das Arzt­Patient­Verhältnis erfuhr somit eine Hierarchisierung zu Gunsten des sozial überlegenen Arztes, der aufgrund seiner naturwissen­ schaftlichen Bildung die Deutungshoheit über Krankheit und Gesundheit für 28 Einen Überblick über die Entwicklung der Volksmedizin­Forschung bietet: Wolff (2001). 29 Dornheim/Alber (1983), S. 165. 30 Wolff (1989), S. 11. Wolff weist in einer Fußnote darauf hin, dass schon 1971 Hermann Bausinger bemerkte, dass sich die wissenschaftliche Medizin überhaupt nicht von der Volksmedizin abtrennen ließe und dass die Volksmedizin­Forschung gerade auch den Stellenwert zu erfragen habe, den die wissenschaftliche Medizin innerhalb der Einstel­ lungen und Verhaltensnormen bestimmter Schichten hatte. Vgl. hierzu: Bausinger (1971), S. 220 ff. 31 Wolff (1989), S. 28 f.; Dinges: Medizinkritische Bewegungen (1996), S. 10. 32 Wolff (1989), S. 30; Eckart/Jütte (2007), S. 314 ff. Zur „Hygienisierung“ des individuellen gesundheitsrelevanten Verhaltens siehe: Labisch (1985). 33 Eine erschöpfende Forschungsdiskussion bietet: Loetz (1993), S. 43–56. Zur „Medikali­ sierung der Gesellschaft“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe: Conrad (2007), insbesondere S. 3–18. 34 Spree (1981), S. 158; Frevert (1986), S. 42; Wolff (1989), S. 11 u. 26 f.; Dinges: Medizin­ kritische Bewegungen (1996), S. 11. Frevert unterscheidet zwischen einer harten und wei­ chen gesundheitlichen Normierung. Zur harten Variante zählt sie beispielsweise den Impfzwang, zur weichen die freiwillige Verhaltensänderung infolge gesundheitlicher Auf­ klärung. Vgl. Frevert (1986), S. 46.

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1. Einleitung

sich in Anspruch nahm, gesundheitskonformes Verhalten von seinen Patien­ ten einforderte und Erkrankungen infolge von Zuwider­ oder Fehlhandlungen hingegen mit Nichterstattung von Leistungen sanktionieren konnte. Dieses „Aufzwingen eines medizinischen Systems von oben nach unten“35 konnte als Reaktion kulturelle Entfremdung und zunehmende Abwanderung in den volks­ bzw. alternativmedizinischen Sektor zur Folge haben, da eine rationali­ sierte und krankheitsfixierte Medizin an anderen wesentlichen menschlichen Bedürfnissen und Lebensbedingungen vorbeizielte.36 Dass Medikalisierung aber nicht zwangsläufig zu Ab­ oder Auflehnung führen muss, zeigte Olivier Faure in seiner richtungsweisenden Mikrostudie über das Krankenhauswesen in Lyon im 19. Jahrhundert.37 Faure stellte darin die theoretischen Zielsetzun­ gen der Gesundheitsverwaltung dem praktischen Krankenhausalltag gegen­ über und kam zu dem Schluss, „daß die wachsende Einbindung der Bevölke­ rung in ein öffentliches Versorgungsnetz auch als Ergebnis eines medizini­ schen Bedarfs von unten gesehen werden sollte.“38 Gesunde wie Kranke oder Patienten reagierten auf den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts medi­ zinkulturellen Wandlungsprozess nicht nur ablehnend, sondern auch mit Ak­ zeptanz, Adaption und Internalisierung der medizinischen und hygienischen Normen und Werte. Soweit die Rekapitulation der Ende der 1980er Jahren kontrovers geführ­ ten Medikalisierungsdiskussion. Mit den beiden Polen – Medikalisierung ei­ nerseits „von oben“ als Durchsetzung des „ärztlichen Blicks“ und andererseits „von unten“ als gestalterische Partizipation der Bevölkerung am Gesundheits­ system – war gleichsam der analytische Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich Wolff der homöopathischen Laienbewegung und näherte. Seine zentrale Problemstellung lautete daher: Anhand einer Objektivation medikaler Laienkultur, nämlich eines Vereins der Laienbe­ wegung, werde ich die in ihm vertretenen Motivationen, Einstellungen, Ideologien und seine Tätigkeit dokumentieren und aufbauend darauf der Frage nachgehen können, wie weit diese auf eine Distanz zu bzw. eine Entfremdung von den Formen und Inhalten des damals herrschenden Medizinsystems schließen lassen; oder ob sie sie auf eine Unter­ ordnung darunter, ihre aktive bzw. passive Aneignung oder sogar ihre Vorwegnahme hindeuten.39

Mit anderen Worten: Verstanden sich die Laienhomöopathen als Protestler, die sich wie die medizinkritischen Anhänger der Naturheilkunde und Lebens­ reform dem Zugriff der naturwissenschaftlichen, technischen und organfixier­ ten Medizin verweigern wollten, oder orientierten sie sich am Werte­ und Therapiekanon des offiziellen Gesundheitssystems? Sowohl in seinem 1985 publizierten Aufsatz als auch in seiner darauf aufbauenden Studie über den Heidenheimer Homöopathie­Verein kommt Wolff zu dem Ergebnis, dass die 35 36 37 38 39

Loetz (1993), S. 45. Wolff (1989), S. 32 f.; Dornheim/Alber (1983), S. 170, 177. Vgl. Faure (1987); Loetz (1993), S. 28 f.; Eckart/Jütte (2014), S. 315 f. Loetz (1993), S. 28. Wolff (1989), S. 13.

1.1 Forschungsstand

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homöopathische Laienbewegung, zumindest bis 1945, weder den wissen­ schaftlichen Charakter der Medizin in Frage stellte noch eine mangelnde ganzheitliche Perspektive kritisierte.40 Im Gegenteil, den Vereinsmitgliedern und interessierten Laien seien bei Vorträgen und in Zeitschriftenartikeln die anatomisch­physiologischen Grundlagen des menschlichen Körpers sowie die somatischen Ursachen verschiedener Krankheitsbilder auseinandergesetzt worden. „Hieraus wird deutlich, daß die Aktivitäten der Vereine nicht als Protest gegen eine den Menschen in seinen Organe zerlegenden naturwissen­ schaftliche Medizin gewertet werden dürfen.“41 Ebenso sei der Heidenheimer Verein, so Wolff, der „hygienischen Normierung seiner Mitglieder“ dadurch entgegengekommen, „daß er ihnen gesundheitsförderliche Verhaltensregeln vermittelte, indem er für sie ein sehr ausgedehntes Angebot an Gesundheits­ bildung offerierte, das von den Mitgliedern auch intensiv und kontinuierlich genutzt wurde, vor allem dann, wenn die jeweilige Information eine schnelle und einfache Handlungsanweisung für Krankheitsfälle bot.“42 Auch die Be­ mühungen auf institutioneller Ebene, etwa um Lehrstühle an Universitäten oder um Krankenhäuser, würden die Nähe der Laienhomöopathie zur Wis­ senschaft und deren Institutionen beweisen.43 Wolff bringt diese Befunde des­ halb pointiert auf den Punkt, wenn er die homöopathischen Vereine als „frei­ willige medikale Sozialisationsinstanz[en]“44 charakterisiert: Mit ihrer thema­ tisch­funktionalen und rationalen Ausrichtung standen sie nicht in Opposition zur Schulmedizin, sondern kamen deren Professionalisierungs­ und Institutio­ nalisierungsbestrebungen sowie den von Ärzten propagierten hygienischen Verhaltensregeln durchaus entgegen. Ganz abgesehen davon, dass die Ho­ möopathie in erster Linie eine an eine medizinische Theorie gebundene Arz­ neimitteltherapie war, sie dem methodischen Ansatz der Schulmedizin also schon deshalb näherstand als etwa die Naturheilkunde. Die homöopathische Laienbewegung unterschied sich also in mehrfacher Hinsicht beträchtlich von anderen Richtungen der medizinkritischen Reformbewegung45, da sie ihren Mitgliedern lediglich konkrete Handlungsanweisungen zur Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Gesundheit gaben, sie jedoch nicht weltanschaulich zu indoktrinieren versuchten. Während die Ende des 19. Jahrhunderts erstar­ kenden Reformbewegungen vor allem vom Unbehagen angesichts tiefgreifen­ der sozioökonomischer und ­kultureller Modernisierungsprozesse profitieren konnten und der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen gesell­

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Wolff (1989), S. 218. Wolff (1987), S. 73; Stolberg (1999), S. 75 f. Wolff (1989), S. 218. Wolff (1987), S. 73. Wolff (1989), S. 222–223. Die Begriffswahl erfolgt in Anlehnung an Reinhard Spree, der die Krankenkassen Orte einer medizinischen „Zwangssozialisation“ nannte. Vgl. Spree (1981), S. 156 f. 45 Zu den Merkmalen medizinkritischer Bewegungen siehe ausführlich: Dinges: Medizin­ kritische Bewegungen (1996). Eine Übersicht über Reform­ und Alternativbewegungen bieten: Conti (1984); Krebs (1998).

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1. Einleitung

schaftliche Utopien entgegenstellten46, beteiligte sich die Laienhomöopathie nicht an diesem auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen abzielen­ den Diskurs.47 Weder die Rückkehr zur Natur als zentrales Motto der Lebens­ und Gesellschaftsreformer48 noch die prinzipielle Veränderung des Gesund­ heitssystems standen auf ihrer Agenda, es genügten ihr die Gleichberechti­ gung mit der Schulmedizin – symbolisiert vor allem durch Einrichtung von Lehrstühlen und Zulassung von Kassenärzten – sowie die ungehinderte Aus­ übung und Ausdehnung der Vereinspraxis. Mit Eberhard Wolffs grundlegenden Arbeiten über die homöopathische Laienbewegung ist die Fachliteratur speziell über die homöopathische Laien­ bewegung bereits beinahe erschöpft. Nach 1989 erschienen nur wenige fast ausnahmslos in Aufsatzform verfasste Abhandlungen zu bestimmten Aspek­ ten der Laienhomöopathie.49 Die wichtigsten von ihnen seien in chronologi­ scher Reihenfolge und mit kurzer Zusammenfassung ihrer Befunde wiederge­ geben. Eberhard Wolff selbst nahm sich der Laienhomöopathie oder genauer gesagt: des homöopathischen Arzneimittelmarktes abermals 1996 an. In ei­ nem längeren Aufsatz arbeitet er heraus, dass die Konsumenten von Homöo­ pathika den Anbietern anfänglich überlegen waren, die Nachfrage also das Angebot bzw. den Preis regelte. Meist verfügten die Vereine und ihre Mitglie­ der über mehrere Bezugsquellen, vor allem Zentralapotheken, was sie in die Lage versetzte, Forderungen an die lokalen Apotheker zu stellen. So mussten sich letztere – entgegen ihrer angestrebten professionellen Autonomie – man­ cherorts auf Rabattverhandlungen, Mitsprache beim Sortiment und sogar auf Qualitätskontrollen einlassen, wollten sie ihren Kundenstamm nicht an die Konkurrenz verlieren.50 Die Laienhomöopathen konnten also, solange sie or­ ganisiert und als Großabnehmer auftraten, eine verhältnismäßig große Macht ausüben und den Arzneimittelmarkt bis zu einem gewissen Grad zu ihren Gunsten mitbestimmen. Die Homöopathischen Laienvereine fungierten dem­ nach als eine Art „selbsternannte halböffentliche medizinische Kontrollin­ stanz“ bzw. als „medikales Verbraucherbüro“, das für die Interessen der Mit­ glieder eintrat.51 Im selben Sammelband, in dem auch der eben erwähnte Aufsatz von Eberhard Wolff erschien, publizierte Dörte Staudt ihre – leider sehr oberfläch­ liche  – Einführung in die Geschichte der homöopathische Laienbewegung. Staudt beschreibt die Situation der Laienbewegung um 1900 im Überblick, 46 Wolff (1987), S. 74. Vgl. auch Krabbe (1974), S. 14; Huerkamp (1986), S. 158; Dinges: Medizinkritische Bewegungen (1996), S. 15 f. 47 Wolff (1987), S. 74. 48 Vgl. Wolff (1987), S. 73 f.; Haug (1991), S. 136 f.; Faltin (1996), S. 166 ff. 49 Ganz im Gegensatz zur Geschichte und Inanspruchnahme der Homöopathie im Allge­ meinen. Einen Überblick über die neuere Forschung bietet: http://www.igm­bosch.de/ content/language1/html/ 11862.asp (letzter Zugriff am 28. April 2016). 50 Wolff (1996), S. 124 f. 51 Wolff (1996), S. 127.

1.1 Forschungsstand

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ordnet sie in den Kontext der Medikalisierung52 ein und berücksichtigt dabei den „Lokalverein als kleinste Einheit“ sowie die „Dachorganisationen als Inte­ ressengruppen“ gleichermaßen.53 Wie Eberhard Wolff kommt sie abschlie­ ßend zu dem Schluss, dass die Laienhomöopathen „nicht die Konfrontation mit, sondern eine Integration ihrer Therapiemethoden in das sich neu formie­ rende Medikalsystem“54 suchten. Es sollten zwei weitere Jahre vergehen, bis die homöopathischen Laien­ vereine erneut ins Blickfeld der medizinhistorischen Forschung gerieten. Der Arzt Christian Lucae untersuchte in seiner Dissertation die Bestrebungen zur Institutionalisierung der Homöopathie an deutschsprachigen Universitäten von 1812 bis 1945.55 Darin streifte er auch die Laienbewegung, da gerade die Einrich­ tung eines Lehrstuhls für Homöopathie und damit die Ausbildung von Nach­ wuchskräften zu deren wichtigsten Zielen zählte. Um es zu erreichen, richte­ ten einzelne oder sich zusammenschließende Vereine und Verbände entspre­ chende Petitionen an die Landesbehörden. Entgegen ihrer apolitischen Grundeinstellung versuchten sie außerdem indirekt Einfluss auf die Politik zu nehmen, indem sie Kandidaten der Reichs­ oder Landtagswahlen ihre Stimme versprachen, sollten sie sich für die Institutionalisierung der Homöopathie einsetzen.56 Diese Bemühungen scheiterten aber am vehementen Widerstand der medizinischen Fakultäten und blieben trotz einflussreicher politischer Für­ sprecher langfristig erfolglos. Unter dem Aspekt der Medikalisierung sind sie dennoch von einiger Bedeutung, denn die Laienhomöopathen lehnten sich nicht etwa gegen das bestehende medizinische System auf, sondern nahmen es sich zum Vorbild: Sie forderten und förderten die akademische Anerken­ nung ihrer Heilmethode, verlangten nach homöopathischen Krankenhäusern und Kassenärzten und stellten damit der realen Professionalisierung der Me­ dizin sozusagen die Professionalisierung der Homöopathie zur Seite. Die Zeit des Nationalsozialismus fand in der sozial­ und medizingeschicht­ lichen Forschung breiten Wiederhall.57 Um die für die vorliegende Arbeit re­ levante historische Aufarbeitung der alternativmedizinischen Laienbewegun­ gen bzw. ­verbände dieser Zeit hat sich in erster Linie der Arzt und Medizin­ historiker Bertram Karrasch verdient gemacht. In seiner 1998 erschienenen Dissertation über die Volksheilkundlichen Laienverbände im Dritten Reich58 unter­ sucht er u. a. die NS­Vergangenheit des Reichsbunds für Homöopathie und 52 53 54 55

Staudt (1996), S. 88 f. Staudt (1996), S. 86–101. Staudt (1996), S. 99. Lucae (1998). Siehe zur Institutionalisierung der Homöopathie auch: Blessing (2010), S. 84; Mai (1996), S. 71–78. 56 Wolff (1989), S. 189 ff.; Staudt (1996), S. 95 f. 57 Einen guten Überblick bieten: Wuttke: Medizin im Nationalsozialismus (1982); Frei (1991); Jütte (1997); Klee (2001); Kopke (2001); Süß (2003); Jütte: Medizin und National­ sozialismus (2011). Im Kontext dieser Arbeit sind neben den Genannten besonders relevant: Bothe (1996), S. 81–91; Haug (1986); Barwig (1996); Haug (2009); Mildenberger (2016). 58 Karrasch (1998).

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1. Einleitung

Lebenspflege. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dessen damaliger Leiter Immanuel Wolf sich nach 1933 „eilfertig“ bemüht habe, „die Vorgaben der nationalsozialistischen Gesundheitsführung umzusetzen, teilweise sogar zu übertreffen.“59 Wolf habe den Verband in kürzester Zeit auf die neue Linie gebracht. Mit diesem Fazit knüpft er an seinen zwei Jahre zuvor publizierten Aufsatz60 über die homöopathische Laienbewegung zwischen 1933 und 1945 an. Wie schon Eberhard Wolff61 kommt er zu der Feststellung, dass die Laien­ homöopathen auf Verbandsebene recht schnell auf Kurs gewesen seien und schon vor und verstärkt ab 1933 völkisch­nationalistische Töne Einzug in offi­ zielle Reden hielten.62 In den Lokalvereinen hingegen sei die Arbeit weitest­ gehend unbeeindruckt vom politischen Geschehen weitergelaufen, eine An­ biederung an den Nationalsozialismus habe nur in dem Maße stattgefunden, wie es für das Überleben des Vereins von Bedeutung war.63 Karraschs und Wolffs Ergebnisse sind beachtenswert, gleichwohl mit einiger Vorsicht zu be­ trachten: Beide stützen sich auf ein recht dünnes Quellenkorpus, das sich in Karraschs Fall vorwiegend auf „verbandseigene Publikationen“64 stützt. Wolff beruft sich in seinen Aussagen zwar auf die Durchsicht der Heidenheimer Protokollbücher, kann seine Beobachtungen aber nicht anhand einer breite­ ren Quellenbasis überprüfen. Ob sich die Laienbewegung zwischen 1933 und 1945 tatsächlich durch weitgehende Passivität, Funktionalisierung und Instru­ mentalisierung, kurz: widerstandslose Vereinnahmung durch die Nationalso­ zialisten charakterisieren lässt, muss daher im Rahmen dieser Arbeit an weite­ ren Laienvereinen überprüft werden. Nach Bertram Karraschs Arbeit über die NS­Vergangenheit schien das Thema homöopathischen Laienbewegung weitgehend erschöpft zu sein, denn erst 2012 griff Marion Baschin in ihrer Geschichte der Selbstmedikation in der Homöopathie die Aktivitäten der Laienvereine erneut auf.65 Den Fokus legt sie dabei auf die überblicksartige Darstellung der organisierten Laienhomöopa­ thie, vornehmlich bezogen auf ihre quantitative Entwicklung sowie qualitative Ausprägung vor 1933. Baschin behandelt in besagtem Kapitel die Entstehung der Laienbewegung derart ausführlich, dass in der vorliegenden Untersu­ chung auf eine Rekapitulation ihrer Ergebnisse verzichtet und stattdessen an geeigneter Stelle auf sie verwiesen werden kann. Anders verhält es sich mit ihrer Schilderung des alltäglichen Vereinslebens zur Zeit der Jahrhundert­ wende. Hier zeugen Baschins Ausführungen zwar ebenfalls von Sachkenntnis. Allerdings konzentriert sie sich auf das Vereinsangebot im Allgemeinen, nicht aber auf die eigentlichen Inhalte und deren diachrone Entwicklung. Hervor­ zuheben ist, dass sie sich in ihrer Darstellung nicht wie Eberhard Wolff allein 59 60 61 62 63 64 65

Karrasch (1998), S. 247. Karrasch (1997), S. 167–193. Siehe Wolff (1989), S. 196–217. Karrasch (1997), S. 186; Wolff (1989), S. 199. Wolff (1989), S. 202. Karrasch (1998), S. 245. Vgl. Baschin (2012), S.  209–272; zur Selbstmedikation der Laienhomöopathen siehe auch: Wolff (1996), S. 102–131.

1.1 Forschungsstand

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auf den württembergischen Raum beschränkt, sondern auch die Laienbewe­ gung des Rheinlands und Sachsens66 wenigstens fragmentarisch in den Blick nimmt. Ebenso geht sie stärker als Wolff auf die wechselseitigen Verbindun­ gen zwischen der Laienhomöopathie und der pharmazeutischen Industrie ein: Waren die Laien primär interessiert an einer qualitativ hochwertigen Ver­ sorgung mit homöopathischen Arzneimitteln und entsprechender Gebrauchs­ literatur, so sahen Pharmaunternehmer wie der sächsische Apotheker Will­ mar Schwabe die Laienbewegung als wichtigen Absatzmarkt.67 Angesichts der eben aufgeführten Publikationen kann festgehalten wer­ den, dass die Erforschung der homöopathischen Laienbewegung in den letz­ ten beiden Jahrzehnten zwar vorangetrieben worden ist, analytische Arbeiten im Stile Wolffs zu diesem Thema seither jedoch gänzlich ausgeblieben sind. Das liegt zum Einen sicherlich daran, dass Wolff die Goubertsche68 Ausle­ gung der Medikalisierung als eine restriktive, normierende und einseitig von oben nach unten verlaufende Einbindung der Bevölkerung in ein medizini­ sches System überzeugend relativiert und damit der weiteren Forschungsent­ wicklung vorgegriffen hat. Am Beispiel der homöopathischen Laienbewegung konnte er zeigen, dass die Bevölkerung als Zielgruppe medizinischer Aufklä­ rung keineswegs passiv blieb, sondern auf die Verwissenschaftlichung der Me­ dizin teils mit Auf­ und Ablehnung, teils mit prinzipieller Anerkennung, Anpassung und Gestaltungswillen reagierte. Francisca Loetz löste die Ambi­ valenz und Widersprüchlichkeit des Medikalisierungstheorems Mitte der 1990er Jahre durch das Konzept einer „medizinischen Vergesellschaftung“ auf: „Anstatt in der Monopolisierung des Gesundheitssystems durch die Ärzte das ausschließliche Aufeinanderprallen entgegengesetzter politischer Interes­ sen oder kultureller Normen zu sehen, fasst medizinische Vergesellschaftung Medikalisierung als Produkt wechselseitiger Einflussnahme auf, in denen Staat, die (Gesamtheit der) Heilkundigen und die (potentiellen) Kranken um die in ihren Augen beste medizinische Versorgung rangen.“69 Mit ihrer Ver­ gesellschaftungstheorie, deren Praktikabilität sie anhand ihrer Fallstudie zur Medizingeschichte des Großherzogtums Baden zwischen 1750 und 1850 de­ monstrierte, beendete Loetz die kontrovers geführte Medikalisierungsdiskus­ sion. Es erschienen danach nur einzelne weitere Studien, die das wechselsei­ tige Verhältnis der unterschiedlichen Akteure untersuchten70; keine aber, die es grundlegend in Frage stellten oder erweiterten. Daraus erklärt sich indirekt auch das Ausbleiben weiterer analytischer Studien über die Laienhomöopa­ then: Warum sollte man sich der Einstellungen, Ideologien und Tätigkeiten der Laienhomöopathen und ihres spezifischen Verhältnisses zu Staat und offi­ zieller Medizin annehmen, wenn doch bereits im Vorfeld klar ist, dass nach 66 Speziell auf die Entwicklung der homöopathischen Laienbewegung in Sachsen bis Ende des Zweiten Weltkriegs geht auch Grubitzsch (1996), S. 57–70, ein. 67 Baschin (2012), S. 220. 68 Vgl. Goubert (1982), S. 170; Eckart/Jütte (2007), S. 163 u. 312. 69 Loetz (1994), S. 148. 70 Lindemann (1996); Stenzel (2005).

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1. Einleitung

aktueller Forschungs­ und Quellenlage keine neuen Befunde zu Tage geför­ dert werden können? Im nachfolgenden Kapitel soll diese Frage aufgegriffen und anhand gegenwärtiger medizin­ und kulturgeschichtlicher Akzentuierun­ gen erläutert werden, warum eine neuerliche Beschäftigung mit der homöo­ pathischen Laienbewegung lohnenswert und ertragreich ist. 1.2 Methodisch-theoretische Überlegungen und Fragestellung Die Rekapitulation des Forschungsstands hat deutlich gemacht, dass ein neuerliches Annähern an die homöopathische Laienbewegung aus medikali­ sierungstheoretischer Richtung wenig viel­ bzw. erkenntnisversprechend ist. Das hat zwei Gründe: Zum einen arbeitete Eberhard Wolff in seiner Studie über den Homöopathischen Verein Heidenheim die aufgeschlossene Haltung der Laienhomöopathen gegenüber dem offiziellen Gesundheitssystem umfas­ send heraus. Letztere verweigerten sich dem normativen Zugriff der akade­ misch­naturwissenschaftlichen Medizin und ihrem Verständnis von Rationali­ tät und Effizienz nicht oder lehnten das arzt­ und krankenkassendominierte staatliche Gesundheitssystem ab, sondern versuchten die gegebenen Struktu­ ren in ihrem Sinne zu nutzen und zu erweitern. Zum anderen verstellte die Frage nach einem passiven „von oben“ oder aktiven „von unten“ den systemi­ schen Blick auf die anderen, nichtmedizinischen Inhalte und Merkmale der Laienbewegung. Werden beispielsweise die Tätigkeiten der Vereine allein dar­ aufhin untersucht, ob sie einen verwissenschaftlichten Wissens­ und pragma­ tisch­rationalen Gesundheitsstil ihrer Mitglieder förderten oder nicht, sind besondere Formen der Geselligkeit kaum von Interesse. Die hygienischen Ge­ sundheitsvereine werden dadurch auf das Bestimmungswort „Gesundheit“ und den Grad ihrer medizinischen oder holistischen Auslegung reduziert. Um dieser inhaltlichen Eingrenzung zu entgehen, schlage ich die zugegebe­ nermaßen etwas abstrakte Umstellung der beiden Konstituenten vor. „Vereins­ gesundheit“ meint, dass Gesundheit oder seelisch­körperliches Wohlbefinden als erstrebenswerter Zustand durch die Vereinsarbeit als Ganzes beeinflusst wird. Es geht also um die Beschreibung einer spezifischen homöopathischen Laienkultur, die das gesamte Vereinsangebot berücksichtigt – und nicht nur gesundheitsbezogene Praktiken und Techniken. Angesichts der Tatsache, dass die Medikalisierung als heuristisches Raster nur bereits Bekanntes zu Tage fördert, könnte man nun überlegen, Francisca Loetz’ Konzept der medizinischen Vergesellschaftung am Beispiel der ho­ möopathischen Laienbewegung zu überprüfen. Von Interesse wären vor allem die Wechselwirkungen zwischen Laienhomöopathen einerseits und Staat bzw. Gesundheitsbehörden, (schulmedizinischen) Ärzten und Krankenkassen an­ dererseits. Dass solche Wechselwirkungen wirkmächtig sein müssen, wird bei­ spielsweise daran deutlich, dass heutzutage nicht wenige Allgemeinmediziner über die Zusatzqualifikation Homöopathie verfügen. Vor 100 Jahren wäre das für standesbewusste Schulmediziner undenkbar gewesen, trotz der schon da­

1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung

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mals nicht geringen Nachfrage nach alternativen Behandlungsmethoden.71 Auch wurden alternativmedizinische Behandlungsmethoden, etwa die Ho­ möopathie, in den Leistungskatalog vieler gesetzlicher und privater Kranken­ kassen aufgenommen.72 Allerdings verweigert sich das der Arbeit zugrunde­ liegende Quellenkorpus einem solchen Zugang. Wie dasjenige von Wolff be­ steht es nämlich zum Großteil aus unveröffentlichten Protokoll­ und Mitglie­ derbüchern, zum kleineren Teil aus einem Sample homöopathischer Zeit­ schriften. Es tritt demnach nur ein einziger Akteur in Erscheinung, nämlich die personifizierte Laienbewegung. Über die anderen Akteure, die notwendi­ gerweise an einer Vergesellschaftung beteiligt sein müssen, geben die Quel­ len, wenn überhaupt, nur aus einer einzigen Perspektive Auskunft. Die Frage, inwieweit alternativmedizinische Bewegungen an der Ausgestaltung sowohl des neoliberalen Gesundheitsmarkts73 als auch des staatlichen Gesundheits­ systems beteiligt waren und noch immer sind, muss vorerst offenbleiben. Medikalisierung und medizinische Vergesellschaftung können also nur sehr bedingt oder gar nicht in Anschlag gebracht werden, um dem Erkennt­ nisinteresse der Arbeit (soziale und inhaltliche Entwicklung vor dem Hinter­ grund politischen und gesellschaftlichen Wandels) und der zentralen Frage­ stellung (Verlagerung des Schwerpunkts weg von der Therapie und hin zur Prävention?) nachgehen zu können. Metaphorisch gesprochen schöpft das erste Konzept die sprudelnde Quelle mit einem zu kleinen Gefäß ab, wäh­ rend das zweite Konzept den Forschenden durstig zurücklässt. Als Aus­ oder Mittelweg bietet sich die interdisziplinär ausgerichtete Medikalkulturfor­ schung74 an, die der Frage nach „Vorstellungen, Erwartungen, Umgangswei­ sen, Verhaltens­ und Denkmustern und Deutungen, Logiken, Praktiken in bezug auf Gesundheit, Krankheit und Medizin im weitesten Sinne“75 nach­ geht. Die deutschsprachigen Wegbereiter waren vor allem Jutta Dornheim und Wolfgang Alber, die bereits 1983 in einem Aufsatz die Überwindung der traditionellen Volksmedizin­Forschung forderten und stattdessen das heuris­ tische Konzept der medikalen Kultur vorschlugen. Im Vordergrund stehen sollten „die medikalen Wissensvorräte und Verhaltensweisen, Bedürfnisse und Ansprüche unterer Bevölkerungsschichten, ihre Einstellungen zu Heilperso­ nen und ihre Nutzungsgewohnheiten von therapeutischen Angeboten“76. Diese seien im Rahmen des klassischen Medikalisierungsprozesses von Staat und Ärzten bzw. vom „professionell­medizinischen Dienstleistungsangebot“ 71 Körner (2012), S. 20 ff. 72 Nutzer alternativer Arzneimittel können sich mittlerweile online informieren, welche Krankenkasse die von ihnen präferierten Verfahren erstattet: https://www.krankenkassen. de/krankenkassen­vergleich/gesetzliche­krankenkassen/alternative­medizin/ (letzter Zu­ griff am 29. April 2016). 73 Vgl. Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 179 f. Zu den Charakteristiken und Vorläufern einer „Gesundheitsgesellschaft“ siehe: Kickbusch (2006); Kickbusch/Hartung (2014). 74 Zur Begriffsgeschichte siehe: Roelcke (1998); Wolff (2001); Wolff (2008); (Eckart/Jütte (2007), S. 334 f. 75 Wolff (2001), S. 630. 76 Dornheim/Alber (1983), S. 165.

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1. Einleitung

sowie den „von ihm ausgehenden Normierungstendenzen“ verdrängt und nicht kompensiert worden. Jens Lachmund und Gunnar Stollberg griffen den Medikalkultur­Ansatz auf77, verlagerten aber den begrifflichen Schwerpunkt in Anlehnung an Clifford Geertz von „Medizin“ auf „Kultur“78: Nicht schul­ medizinische Deutungsmuster sind relevant für Körpererfahrung, Krankheits­ wahrnehmung bzw. ­bewältigung, kurz: für die medikale Lebenswelt von Laien, sondern „gesellschaftlich vermittelte Wissensbestände“79. Ähnlich wie Francisca Loetz kommen sie in ihrer Untersuchung von Patientenautobiogra­ phien zu dem Schluss, dass unter Medikalisierung besser „vielfältige Aus­ handlungsprozesse“ verstanden werden sollen, „in denen die Problemlösungs­ angebote der sich professionalisierenden Medizin und die kulturellen Katego­ rien, in denen die Patienten ihre Bedürfnisse artikulierten, sich wechselseitig aufeinander bezogen, sich durchdrangen und umdefinierten.“80 Die Chancen einer solchen Sichtweise liegen auf der Hand: losgelöst von der dichotomi­ schen Unterscheidung einer professionellen, akademischen Medizin auf der einen und einer ihr gegenübergestellten diffusen Volksmedizin auf der ande­ ren Seite, werden die in einer sozialen Gruppe – im vorliegenden Fall ist das die organisierte Laienhomöopathie – vorkommenden Verhaltens­, Sicht­ und Handlungsweisen untersucht und aus ihrer Gesamtheit die medikale Lebens­ welt erschlossen, der Elemente der Schulmedizin ebenso angehören können wie laienätiologische Überzeugungen oder Momente der nichtprofessionellen Selbsthilfe. Ohne direkt auf Lachmund und Stollberg zu verweisen, beschreibt Katha­ rina Ernst aus der Perspektive der Patientengeschichtsschreibung die medi­ kale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert. Sie erinnert da­ bei zunächst an die Verdienste Roy Porters auf diesem Gebiet und an seine programmatische Forderung nach dem „Patient’s View“81, die er in zwei ge­ meinsam mit seiner Frau Dorothy verfassten Studien82 einlöste.83 Ernst lobt zwar das komplexe Quellenmaterial, anhand dessen Deutungs­, Wahrneh­ mungs­ und Handlungsmuster von Patienten im 18. Jahrhundert untersucht werden, problematisiert aber gerade auch die daraus resultierenden Verkür­ zungen: Aufgrund der Themenvielfalt der Porterschen Studie bleibe eine kon­ krete Differenzierung der verschiedenen Muster bzw. die Herausarbeitung der genauen Unterschiede in ihrer sozialen und ökonomischen Bedingtheit notwendigerweise auf der Strecke. Stattdessen spricht sie sich – in Modifizie­ rung des Ansatzes von Porter und Loetz – dafür aus, den Gegenstand der pa­ tientengeschichtlichen Untersuchung zeitlich wie lokal einzugrenzen, „um diese dann analytisch und periodenspezifisch in ihrem jeweiligen Kontext be­ 77 78 79 80 81 82 83

Vgl. Lachmund/Stollberg (1995). Vgl. Roelcke (1998), S. 52. Roelcke (1998), S. 53. Lachmund/Stollberg (1995), S. 230. Porter (1985). Porter/Porter (1988) und (1989). Ernst (2003), S. 7 ff.

1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung

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handeln zu können.“84 Begrifflich möchte sie ein solches Unternehmen aber gerade nicht als Patientengeschichtsschreibung verstanden wissen, da dieser Terminus implizite als auch explizite Konnotationen beinhaltet und den Kran­ ken in erster Linie als Empfänger ärztlicher Dienstleistungen charakterisiert und erst danach als eigenständig handelndes, kulturell geprägtes Individuum, um das es eigentlich gehen soll. Es sei daher sinnvoller von einer „‚Geschichte der medikalen Kulturen‘“85 zu sprechen, wenn eigentlich Patientengeschichte gemeint ist. Die vorliegende Untersuchung der homöopathischen Laienbewegung folgt, nicht nur was die Begriffsbestimmung betrifft, Katharina Ernst. Und das aus zweierlei Gründen: Zum einen vermeidet der Fokus auf die nach Lach­ mund und Stollberg definierte medikale Kultur einer sozialen Gruppe per­ spektivische Verkürzungen auf die Laienmedizin: „Die Untersuchung medika­ ler Kultur beschränkt sich nicht auf Patienten in Behandlung oder auf Kranke, sondern umfasst alle Handlungen und Denkweisen in Bezug auf Krankheit und Gesundheit.“86 Und darunter fallen sowohl schul­ als auch alternativme­ dizinische Vorstellungen und Praktiken. So konnte bereits Eberhard Wolff zei­ gen, dass auch innerhalb einer alternativmedizinischen Bewegung Einflüsse der professionell­akademischen Medizin nachzuweisen sind. Die Annahme verschiedener homogener Medikalkulturen entsprach daher eher dem kon­ struktivistischen Wunsch nach Klassifizierung und Kategorisierung entgegen­ gesetzter kultureller Phänomene als der Realität.87 Zum anderen greift die Subsumierung unter die Patientengeschichte schon deshalb nicht, weil die Laienhomöopathen nicht zwingend als Patienten und damit unter ärztlicher Kontrolle stehend gelten können. Der Beitritt in einen homöopathischen Ver­ ein oder die Inanspruchnahme der Homöopathie zur Selbsthilfe und ­medi­ kation ist ein primär auf Freiwilligkeit beruhender Akt des individuellen Ha­ bitus, über den das eigene, auch zukunftsorientierte, Wohlbefinden, nicht aber die Meinung eines schulmedizinischen oder homöopathischen Arztes zu ent­ scheiden hat. Ernst liefert hier allerdings keine Begriffsalternative bzw. als Er­ satz allenfalls eine vage Definition des „Kranken“, unter dem eine Person zu verstehen ist, die aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung infolge einer Erkrankung auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Doch auch diese Klassifizie­ rung ist zu hinterfragen, denn Kranksein beginnt nicht erst mit der Unselbst­ ständigkeit oder Handlungsunfähigkeit. Angesichts der oben angesprochen Freiwilligkeit sollte deshalb statt von einem Patienten oder Kranken im Rah­ men einer alternativmedizinischen Laienbewegung treffender und ganz allge­ mein von einem an Gesundheit interessierten Laien bzw. Nichtmediziner ge­ sprochen werden.

84 Ernst (2003), S. 8. 85 Ernst (2003), S. 9. 86 Ernst (2003), S. 9. Zum Verhältnis von Patienten und den Angeboten der akademischen Medizin siehe: Wolff (1998). 87 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 177.

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1. Einleitung

Die Darstellung verschiedener Forschermeinungen und Entwicklungsli­ nien diente der genaueren Positionsbestimmung der vorliegenden Studie über die homöopathische Laienbewegung hauptsächlich im 20. Jahrhundert. Ge­ zeigt wurde, dass eine alleinige Ausrichtung der Bewegung auf die Medikali­ sierungsthese deren Vielfalt nur in Bezug auf gesundheits­ und krankheitsbe­ zogene Verhaltensweisen, Norm­ oder Wertvorstellungen gerecht wird. Alles, was die organisierten Laienhomöopathen als Teil ihrer gesundheitsbezogenen Vereinskultur darüber hinaus auszeichnete, bleibt zwar nicht gänzlich auf der Strecke, fällt aber unter die Rubrik: „Das gab’s auch noch!“ Das Konzept der medikalen Kultur versucht diese thematische Reduktion zu umgehen. Es deu­ tet alle in einer bestimmten sozialen Gruppe vorkommenden Praktiken und Verhaltensweisen  – sofern sie mit Gesundheit und Krankheit im weitesten Sinne in Zusammenhang stehen – per se als (präventiver) Bewältigungsakt (zu erwartender) physisch­psychischer Dysfunktion. Die vorliegende Arbeit strebt demnach eine Art Klassifikation der ho­ möopathischen Laienbewegung bzw. Vereine und deren sozial­ und medizin­ historischen Verortung an. Durch den Zusatz 20. Jahrhundert wird jedoch deut­ lich, dass dieses Unterfangen ohne einen makrohistorischen Rückbezug auf gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse auf eine bloße Tatsa­ chenbeschreibung hinauslaufen muss. Am Ende der Arbeit hat der Leser dann zwar eine Vorstellung davon, was unter einer homöopathischen Laien­ kultur zu verstehen ist, welches Wissen vermittelt und welche Praktiken ange­ wendet worden sind, um (homöopathische) Selbsthilfe und Gesundheit zu fördern, und wie sich Wissensvermittlung und Praxis auf diachroner Ebene entwickelt haben. Diese Befunde stehen aber gleichsam in luftleerem Raum, werden sie aus dem soziokulturellen Kontext, mit dem sie ja unauflöslich ver­ bunden sind, herausgelöst. Um eine Verortung oder Positionsbestimmung der homöopathischen Laienkultur im 20. Jahrhundert zu ermöglichen, muss des­ halb in vergleichender Weise die gesamtgesellschaftliche Ebene desselben Zeitraums Berücksichtigung finden. Die wiederum als „ein langfristiger Pro­ zess der Entwicklung von Gesundheit in der Moderne zu einem primären, sich selbst legitimierenden Wert unserer Gesellschaft“88 definiert werden kann. Mit anderen Worten: Während die Laienhomöopathen ihrem Vereins­ alltag nachgingen, Vorträge und andere Veranstaltungen organisierten, avan­ cierte parallel dazu die Gesundheit und damit auch ihre Erhaltung zu einem zentralen Anliegen erst der Gesundheitspolitik89 und im letzten Drittel des Jahrhunderts auch zunehmend des Individuums selbst. Gegenwärtig stellt sich die Frage nach der gesundheitlichen Bedeutung unseres Alltagshandelns nahezu in jeder Lebenssituation. Eberhard Wolff ist gar der Meinung, dass sich Gesundheit für viele mittlerweile zu einem ubiquitären, „quasireligiösen Orientierungspunkt“90 gesteigert habe. Angestoßen wurde diese Entwicklung 88 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 180. 89 Thießen (2013), S. 354. 90 Vgl. Wolff: Alternativmedizin (2010), S.  180. Angesichts des jüngsten Phänomen des „Quantified Self“, das technikgestützt seine Alltagshandlungen nach gesundheitlichen

1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung

29

durch den Staatswissenschaftler und Nationalökonom Adolph Wagner bzw. dem 1983 von ihm formulierten „Präventivprinzip“. Wagner zufolge solle der Staat sowohl innen­ wie außenpolitisch nicht als Interventions­, sondern als Vorsorge­ und Wohlfahrtsstaat agieren. Es sei nämlich „effizienter und ökono­ mischer, gesellschaftliche oder zwischenstaatliche Spannungen und Konflikte durch präventive Verhaltensregeln zu vermeiden als die Konfliktparteien ex post durch Bestrafungen zu sanktionieren.“91 Auf den gesundheitspolitischen Bereich angewendet markierte dieses Prinzip die Abkehr von Disziplinierung und die Hinwendung zur Steuerung der Gesellschaft: Rationalisierte und bü­ rokratisierte gesundheitspolitische Maßnahmen zielten fortan auf den „Schutz des ganzen V ‚ olkskörpers‘“, Gefahrenverhütung und Minimierung kollektiver Risiken.92 Trotz Zusammenbruch des Kaiserreichs und Wechsel des Regie­ rungssystems, trotz des menschenverachtenden Missbrauchs von Prävention im Nationalsozialismus und Neubeginns nach der „Stunde Null“93 sollte sich an dieser primären Zielsetzung der staatlichen Gesundheitspolitik nichts Grundlegendes ändern. Die Republikaner richteten Gesundheitsämter ein und veranstalteten sozialhygienisch bzw. präventivmedizinisch orientierte Ausstellungen94, die Nationalsozialisten propagierten neben Rassenhygiene die Gesundheitsvorsorge als zweiten Grundpfeiler ihrer Gesundheitspolitik. In der Bundesrepublik waren es wiederum die seit Ende der 1970er Jahre verabschiedeten Gesetze zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen, die eine „Umschichtung kurzfristiger und kurativer Leistungen zu Gunsten langfristi­ ger präventiver Maßnahmen“ bewirken sollten.95 Getragen und verbreitet wurde der Vorsorgegedanke aber nicht allein vom und durch den Staat, der diese Ziele mit der Einrichtung neuer Institutio­ nen und Vereinigungen zu verwirklichen suchte.96 Ihm zur Seite sprangen privatwirtschaftliche Akteure wie Krankenkassen, Pharmaunternehmen und pri­ vate Gesundheitseinrichtungen, die den Bereich der Gesundheitsprävention nach dem Ersten Weltkrieg als Markt entdeckten, zunehmend kommerziali­ sierten und zugleich präventive Verhaltensformen propagierten und festig­ ten.97 Maßgeblich verantwortlich für den medizinischen wie ökonomischen Bedeutungszuwachs präventiver Leistungen und Angebote war die unter dem Begriff „epidemiologische Transition“ gefasste Wandlung des Krankheitspa­

91 92 93 94 95 96 97

Aspekten misst und protokolliert, mag man Wolff durchaus zustimmen. Mittlerweile hat auch die soziologische Forschung die Vermessung und Verdinglichung des Selbst als Untersuchungsgegenstand entdeckt: Zillien/Fröhlich/Dötsch (2014); Lupton (2016). Lengwiler/Madarász (2010), S. 13; vgl. Stöckel (2002), S. 11. Möhring (2006), S. 286 ff.; Thießen (2013), S. 354; Lengwiler/Madarász (2010), S. 15. Vgl. Schildt (2009), S. 21 ff. Zur Gesundheitspolitik der Weimarer Republik im Allgemeinen sowie den Gesundheits­ ausstellungen im Besonderen siehe: Stöckel (2002). Forsbach: Aspekte (2008), S. 103. Zur „Prävention in der Gesetzlichen Krankenversiche­ rung von 1970 bis heute“ siehe: Eberle (2002). Vgl. Walter/Stöckel (2002), S. 14. Lengwiler/Madarász (2010), S. 15.

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1. Einleitung

noramas.98 Anfang des 20. Jahrhundert gelang zwar die Eindämmung der Infektionskrankheiten (Cholera, Diphtherie, Grippe, Tuberkulose, Typhus) die schwer zu heilenden Zivilisationskrankheiten wie Diabetes oder Herz­ kreislauferkrankungen befanden sich hingegen auf dem Vormarsch. Sichtbar gemacht wurde der epidemiologische Wandel wiederum durch den zeitglei­ chen Aufstieg der Medizinalstatistik, deren Mortalitäts­ und Morbiditätsstatis­ tiken die Veränderung des kollektiven Gesundheitszustandes überhaupt erst sicht­ und verhandelbar machten.99 Der dritte Akteur, der die staatliche Präventionspolitik indirekt mittrug, waren zivilgesellschaftliche Vereinigungen, vor allem alternativmedizinische Be­ wegungen des 20. Jahrhunderts.100 Diese Vereinigungen zeichneten sich in aller Regel durch eine ausgeprägte Präventionskultur aus, die sie gegen die verwissenschaftlichte, primär kurativ ausgerichtete und  – denkt man an die katastrophalen Auswirkungen der Spanischen Grippe  – letztlich erfolglose Medizin in Stellung brachten. Ebenso diente die oben angesprochene Zu­ nahme von chronischen Krankheiten als zentrales Argument ihrer Gesell­ schafts­ und Zivilisationskritik: Indem der Mensch sich mehr und mehr einer unnatürlichen Verhaltensweise zugewendet habe, habe er die Entstehung von chronischen Krankheiten begünstigt. Übermäßiger Fleischkonsum, Konser­ vierungsstoffe, nicht funktionale Modekleidung oder das nervenaufreibende Großstadtleben waren den Lebensreformern Anzeichen einer fortschreiten­ den Degeneration, die es mittels einer ökologischen, vegetarischen und ganz allgemein natürlichen Lebensführung aufzuhalten galt.101 Als eine Folge des staatlichen, privatwirtschaftlichen und reformerischen Präventionsgedankens bildete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viertens der individuelle Akteur als eigenständiger Nachfrager und Anwender krankheitsminimierender Praktiken und Techniken heraus. Ihm gilt Gesund­ heit als oberster Lebenssinn, dem Werte wie Glück, Selbstverwirklichung oder individuelle Freiheit untergeordnet werden. Das Gefühl für Selbstverant­ wortung entsteht als „internalisierte Selbstführung“ aus ihm selbst heraus, nicht mehr durch äußeren Zwang.102 In der jüngeren sozial­, kultur­ und ge­ sundheitswissenschaftlichen Forschung wird dieser Akteur mit dem Typus des „präventiven Selbst“103 umschrieben, in dem sich die sozialstaatliche Aktivie­ rung des Einzelnen sowie individuelle Bedürfnisse nach präventiv ausgerich­

98 99 100 101 102

Jütte (1998), S. 27 f.; Lengwiler/Madarász (2010), S. 18. Lengwiler/Madarász (2010), S. 18. Lengwiler/Madarász (2010), S. 15. Fritzen (2006), S. 336 ff. Wolff: Alternativmedizin (2010), S.  181. Zu dem Ergebnis, dass ein „prophylaktischer Gesundheitslebensstil“ im Laufe des 20. Jahrhunderts zugenommen hat, kommt auch: Hoffmann (2010), S. 406. 103 Vgl. Rose (2001), S. 1–5; Lengwiler/Madarász (2010), S. 16. Zu den Techniken des „prä­ ventiven Selbst“ siehe die Beiträge von Tobias Dietrich, Jakob Tanner und Eberhard Wolff in: Langwiler/Madarász (2010).

1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung

31

teter Alternativmedizin und „gesundheitsorientierter Lebensführung“104 ver­ einen und überschneiden. Eberhard Wolff sieht das gesundheitsbewusste und präventive Selbst in Anlehnung an Ilona Kickbusch als konstitutiven Teil der gegenwärtigen „Gesundheitsgesellschaft“105. Es nimmt die zahlreichen und von verschiede­ nen Seiten angebotenen alternativmedizinischen Verfahren und gesundheits­ fördernden Produkte rege in Anspruch und nimmt am deregulierten Gesund­ heitsmarkt als selbstbewusster, eigenständiger und selektiver Kunde teil.106 Dadurch verwischt innerhalb der Gesundheitsgesellschaft nicht nur die hierar­ chische Abstufung zwischen allwissendem Arzt und unmündigem Patien­ ten107, sondern auch die Grenze zwischen Therapie und Prävention.108 Beide seien, so Wolff, „typische Orte der Arbeit an sich selbst. Sie basieren oft auf der Eigenaktivität der Patienten, der Selbstbeobachtung und der Selbstfüh­ rung, vom Vegetarismus bis zur Homöopathie, und tun dies oft mehr als ‚schulmedizinische‘ therapeutische Techniken.“109 Alternativmedizin ist also in der Mitte der Gesellschaft angekommen und gar nicht mehr so alternativ, wie sie es in früheren Zeiten gewesen sein mag. Mit Blick auf die historischen Wurzeln der Alternativmedizin, auf die Robert Jütte ausdrücklich hinweist110, könnte man nun etwas überspitzt von einer Transformation der traditionellen alternativen Gesundheitsbewegungen zur modernen Gesundheitsgesellschaft sprechen. Übertragen auf die homöopathische Laienbewegung würde diese Annahme bedeuten, dass sie als Vorläufer aktueller medikalkultureller Phäno­ mene verstanden und interpretiert werden kann. Es ginge demnach nicht nur darum, die in erster Linie therapeutischen Praktiken und Techniken der ho­ möopathischen Laienvereine zu typologisieren und vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung von Prävention zu analysieren. Die Ergebnisse und Befunde über die Vergangenheit müssten in einem zweiten Schritt mit der Gegenwart abgeglichen und dabei danach gefragt werden, inwieweit die spe­ zifische homöopathische Laienkultur als Antizipation des aktuellen kollekti­ ven Gesundheitsverhaltens interpretiert werden kann. Ich fasse die oben präzisierten Überlegungen zusammen: Die längs­ schnittartige Untersuchung der homöopathischen Laienbewegung bietet die Chance, die Formen und Akzentuierungen populärer Selbsthilfe vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt medizini­ schen Wandels im 20. Jahrhundert zu rekonstruieren. In Anlehnung an die neueren Ansätze der Medikalisierungsthese gilt es, wie Eberhard Wolff vor 104 Zu den Charakteristiken einer solchen Lebensführung siehe: Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 178 f. 105 Vgl. Kickbusch (2006); Kickbusch/Hartung (2014); Paul/Schmidt­Semisch (2009); Mühl­ hausen (2000); zum „medizinischen Pluralismus“ als Merkmal der Gesundheitsgesell­ schaft: Jütte: Pluralismus in der Medizin (2011). 106 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 179 f. 107 Zum modernen Arzt­Patient­Verhältnis siehe: Kaminski (2005); Kraft/Schemel (2005). 108 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 178. 109 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 181. 110 Jütte (2010).

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1. Einleitung

einigen Jahren gefordert hat, das Bild vom medizinischen bzw. homöopathi­ schen Laien als einem aktiven und eigenständig handelnden Individuum zu zeichnen und ihn (oder sie) nicht als ein „Opfer ‚der Medizin‘“ misszuverste­ hen.111 Die genaue Beschreibung und Analyse aller Vereinspraktiken  – das schließt interagierende Subjekte und gebrauchte Objekte mit ein – dient da­ her dazu, eine historisch gewachsene „Patienten­Persönlichkeit“112 zu definie­ ren, die sich im Gesundheitswesen etabliert hat und selbstbewusst entschei­ det, welche Normen, Techniken und Deutungen sie übernimmt und welche nicht. Phänomene wie Medizin, Gesundheit, Krankheit oder der Umgang mit dem eigenen Körper sollen nicht als gegeben gesehen werden, sondern als „etwas von Menschen in ihrer Umwelt und Geschichte Gemachtes, als Aus­ druck von Anschauungen und Praktiken, Traditionen oder Werterhaltung und Werteentscheidungen, etwas zwischen den Beteiligten Ausgehandeltes.“113 Im Folgenden soll also ein gewisser „Theorienpluralismus“ zur Anwen­ dung kommen, der die Themenkomplexe „Medikalisierung“ und praxisbezo­ gene „Medikalkultur“ umfasst und sich deren theoretischen Fundierungen bedient. Am Quellenmaterial gilt es empirisch zu überprüfen, ob sich deren Akzentuierungen zu einem Ganzen zusammenfügen lassen, ferner zur umfas­ senden Beschreibung einer homöopathischen Laienvereinskultur als Vorläu­ fer der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft nutzbar gemacht werden kön­ nen. Sinnvoll erscheint es daher, das eingangs grob umrissene Erkenntnisinte­ resse sowie die zentrale Fragestellung zu rekapitulieren und in wenigen Sätzen zu erläutern. Die zu schreibende „Geschichte der medikalen Kultur“ der Laienhomöopathie versucht in erster Linie zu klären, – ob sich im Laufe des 20. Jahrhunderts innerhalb der homöopathischen Laienbewegung der Schwerpunkt weg von der Therapie hin zur Prävention verlagert hat. Zu dieser Überlegung führt die zeitgleiche Verbreitung des Präventionsgedan­ kens, der zunächst vom Staat eingefordert, vom Individuum selbst internali­ siert worden und schließlich in Gestalt des präventiven Selbst aufgegangen ist. Angesichts der ubiquitären Bedrohung durch Infektionskrankheiten und mangelnder medizinischer Versorgung hätten die homöopathischen Laienver­ eine demzufolge zunächst darauf abgezielt, ihren Mitgliedern ein kuratives Selbst anzuerziehen, das sie dazu befähigt, sich im Krankheitsfall selbst zu helfen. Nachdem im Zuge der epidemiologischen Transition die Infektions­ von chronischen Krankheiten abgelöst und Präventionspostulate spätestens nach dem Ersten Weltkrieg immer bedeutsamer wurden, griffen auch die Laienhomöopathen – so die Vermutung – die Verhütung von Krankheiten als zentrales Thema der Wissensvermittlung auf. Und orientierten sich damit 111 Wolff (2008), S. 32. 112 Wolff (2008), S.  33. Dieser Begriff muss freilich differenziert bewertet und angewendet werden, schon allein deshalb, weil es sich bei den Vereinsmitgliedern nicht um Patienten im klassischen Sinne handelt. 113 Wolff (2008), S. 36.

1.2 Methodisch­theoretische Überlegungen und Fragestellung

33

mehr als zuvor an der Lebensreformbewegung, die schon seit dem ausgehen­ den 19. Jahrhundert Vorbeugung durch eine naturgemäße Lebensweise pro­ pagierte. – ob die homöopathische Laienbewegung als Vorläufer der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft gesehen werden kann bzw. ob sich charakteristische Merkmale der Gesundheitsgesellschaft in der Laienbewegung widerspiegeln. Anders gefragt: Kann davon ausgegangen wer­ den, dass sich innerhalb der Laienbewegung Alternativmedizin und Gesund­ heitsförderung vermischt(e), eine Kommerzialisierung der Gesundheit und des Körpers zu beobachten ist und die Mitglieder homöopathischer Vereine sich ein individuelles und aktives Gesundheitsverständnis angeeignet haben?114 Aufschluss hierüber erhoffe ich mir insbesondere aus der Auswer­ tung der Fragebogen­Aktion, mit der neben Sozial­, Alters­ und Bildungsstruk­ tur die Motive und das Gesundheitsverhalten der Vereinsmitglieder erfragt wurde. Die Ergebnisse lassen sich wiederum mit den historischen Befunden sowie gesamtgesellschaftlichen Tendenzen und Trends in Bezug setzen und erlauben Rückschlüsse auf die Frage, ob und wie die Laienbewegung sich verändert und zeitgenössischen Anforderungen angepasst hat. Bereits die Formulierung dieser zentralen und langzeitperspektivischen Grundanliegen macht klar, dass sie nicht aus sich selbst heraus beantwortet werden können, sie sich vielmehr aus verschiedenen Teilfragen zusammenset­ zen. Diese Teilfragen sind umso wichtiger, als deren Beantwortung die Eigen­ tümlichkeiten und Besonderheiten der homöopathischen Laienkultur im en­ geren und eigentlichen Sinne beschreibt. Um Aussagen über das Ob und Wie einer Transformation des Gesundheits­ bzw. Krankheitskonzepts treffen zu können, muss also jederzeit nach den eigentlichen Inhalten, Praktiken, Anlie­ gen, Zielen, beteiligten Personen und parallel ablaufenden makrohistorischen Prozessen gefragt werden: – Wer waren die Laienhomöopathen, was waren ihre Motive, Ziele, Bedürfnisse und Ansprüche? Dies zu klären ist von einiger Bedeutung, werden dadurch doch die tieferen Strukturen in den Blick genommen, die der Entstehung der Bewegung Vor­ schub leisteten. In diesen Kontext fällt auch die Frage einerseits nach ihrer netzwerkartigen Struktur und ihrer Effektivität, andererseits nach der Schicht­ bzw. Klassenzugehörigkeit der Mitglieder: Welchem sozialen Milieu ent­ stammten sie, gab es Unterschiede zwischen der Vereins­ und Verbandslei­ tung und der Basis, wie nahm sich die Laienbewegung in Bezug auf die bür­ gerliche Vereinskultur aus? Wie steht es um die Beteiligung von Frauen inner­ halb der Laienbewegung, wie hoch war ihr Anteil an der Gesamtzahl der Vereinsmitglieder, wurden ihnen eigene Kompetenzbereiche zugeschrieben und wenn ja, welche? 114 Vgl. Kickbusch/Hartung (2014), S. 10 f.

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1. Einleitung

– Welchen Einfluss auf das Vereinsgeschehen hatten die einfachen Mitglieder, wie hoch war deren Beteiligung an Veranstaltungen, wie ausgeprägt deren Treue in wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeiten? Dieser Frage geht die Überlegung voraus, dass nicht alle Mitglieder aufgrund ihrer homöopathischen Gesinnung eingetreten sind, sondern sich in erster Linie einen materiellen Vorteil für sich und ihre Familien versprachen. Von besonderem Interesse ist daher das Verhältnis zwischen der Gesamtmitglie­ derzahl und der Anzahl derjenigen Mitglieder, die regelmäßig die Veranstal­ tungen besuchten. Indirekt lassen sich darüber Rückschlüsse ziehen, welchen Stellenwert die Mitglieder einzelnen Praktiken beimaßen bzw. welchen Nut­ zen sie sich von ihnen versprachen. – Welche Bedeutung kommt der Selbsthilfe und (homöopathischen) Selbstmedikation zu? Wie stark wird sie betont, wie vielschichtig ist ihre theoretische wie praktische Verankerung im Programm der Laienbewegung, wie groß ihre Nachfrage? Selbsthilfe und homöopathische Selbstmedikation standen, zumindest am Anfang, im Mittelpunkt der Laienbewegung. Sie sind der Kern, um den sich die sonstigen Vereinsaktivitäten zu drehen scheinen. Es soll herausgefunden werden, ob diese Annahme, vor allem in der Langzeitperspektive, zutreffend ist oder ob sich in den Praktiken bzw. dem vermittelten Wissen Belege für eine Relativierung oder thematische Schwerpunktverlagerung finden lassen. An Aktualität gewinnt der Aspekt der Selbsthilfe und ­medikation auch im Hinblick auf eine sich im Laufe der Jahrzehnte stark wandelnde Infrastruktur. Gut sortierte Apotheken bieten gegenwärtig flächendeckend homöopathische Medikamente an, das nötige Wissen über deren korrekte Anwendung kann im Internet, mittels Büchern oder entsprechender Apps abgerufen werden. Anzunehmen sind daher kontextspezifische Reaktionen in Gestalt eines ange­ passten Angebots, das die Laienvereine auch im Internetzeitalter als Teil einer medikalen Laienkultur bestehen lässt. – Welche gesundheitsfördernden Praktiken wurden den Mitgliedern über die Selbsthilfe und Selbstmedikation hinaus angeboten? Geht man davon aus, dass per se alle Praktiken der homöopathischen Laien­ bewegung der Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit ihrer Mitglie­ der dienen sollen (Stichwort „Vereinsgesundheit“), so rücken auch jene Ange­ bote in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick keinen derartigen Zweck verfolgten. Zu fragen ist demnach nach all jenen Angeboten und Veranstal­ tungen, die weder homöopathischen noch gesundheitsrelevanten Inhalts und mehr der Orientierung an einer bürgerlichen Vereinskultur geschuldet waren, etwa Theateraufführungen oder Jubiläumsfeierlichkeiten. Gab es solche und wenn ja, wie ausgeprägt waren sie und, wichtiger noch, sprach ihnen die Be­ wegung gesundheitsfördernde Bedeutung zu?

1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit

35

– Wie positionierten sich die Laienhomöopathen gegenüber der akademisch-naturwissenschaftlichen Medizin und dem Staat als legitimierender oder sanktionierender Instanz? Das von Wechselseitigkeit und Spannungen geprägte Verhältnis zwischen Schulmedizinern sowie die Einflussnahme auf gesundheitspolitische Entwick­ lungen spielt vor dem Hintergrund der Medikalisierung eine nicht unerheb­ liche Rolle. Die Frage knüpft an die von Eberhard Wolff erarbeiteten Ergeb­ nisse an, denen zufolge die Laienbewegung in weiten Teilen eine Adaption schulmedizinischer Wert­ und Normkategorien verfolgte. Ob dieser Befund einem breiteren empirischen Material standhält, wird gerade auch für die Zeit nach 1945 zu prüfen sein. Die umrissenen Teilfragen vereinen in ihrer Vielseitigkeit sowohl sozial­ als auch kulturgeschichtliche Perspektiven. Diese „Multiperspektivität“ soll helfen, die homöopathische Laienbewegung in ihrer formalen wie inhaltli­ chen Komplexität zu erfassen und ihre Bedeutung als „Enkulturationsphäno­ men in die Moderne“115 zu beschreiben. 1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit Wie schon Eberhard Wolffs Studie über den Homöopathischen Verein Hei­ denheim liegen auch dieser Arbeit die Vereinsprotokolle als Hauptquelle zu­ grunde. Das mutet selbstverständlich an angesichts des Untersuchungsgegen­ standes, ist es aber nicht: schaut man auf andere Untersuchungen über das Gesundheitsvereinswesen116, so fällt auf, dass die wenigsten Forscher auf stre­ ckenweise belanglose Vereinsregister zurückgreifen. Zugänglicher und weit häufiger überliefert sind gedruckte Verbandsorgane; sie gewähren einen schnellen Einblick in die Vereinsarbeit und ­strukturen, nennen führende und prägende Persönlichkeiten und informieren über die vermittelten Inhalte der jeweiligen Bewegung. Gerade deshalb können die beiden Zeitschriften Homöo­ pathische Monatsblätter (HM) und Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie (LPZ) auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der homöopathi­ schen Laien(vereins)bewegung nicht unberücksichtigt bleiben.117 Aus zwei Gründen stellen sie jedoch nicht das Hauptkorpus: erstens sind sie als offiziel­ les öffentlichkeitswirksames Medium ein per se tendenziöses und daher nur bedingt repräsentatives Abbild der Bewegung. Und zweitens ist die Durch­ sicht aller für den Untersuchungszeitraum in Frage kommender Jahrgänge (annähernd 200) schlichtweg zu aufwendig und für das Erkenntnisinteresse auch wenig zielführend. Denn Auskunft über die Sozialstruktur der Bewegun­ gen geben die Zeitschriften beispielsweise ebenso wenig wie über die kon­ 115 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 177. 116 Zu denken ist dabei vor allem an die Arbeiten über die Naturheilbewegung und ­vereine, die sich vornehmlich auf gedruckte Quellen stützen: Regin (1995); Herrmann (1990). Vgl. auch Karrasch (1998); Baschin (2012). 117 Zu den beiden Zeitschriften siehe ausführlich: Baschin (2012), S. 96–102.

36

1. Einleitung

krete Gestaltung der lokalen Vereinsarbeit. Statt an gedruckten Quellen sollen die aufgeworfenen Fragen und Hypothesen anhand der vornehmlich hand­ schriftlich angefertigten Vereinsprotokolle, Kassenbücher, Mitglieder­ und Bü­ cherlisten überprüft werden. Zu diesem Zweck wurden insgesamt 32 solcher Vereinsregister von zwölf homöopathischen Vereinen ausgewertet118, die zwi­ schen 1883 und 2009 aktiv waren. Dass die Bearbeitung einer derart umfang­ reichen Quellenmenge überhaupt möglich ist, liegt indessen nicht wie in Wolffs Fall an der Bereitschaft mehrerer Vereine, ihre Archive einem Histori­ ker zu überlassen. Sie ist dem besonderen Umstand geschuldet, dass das Stutt­ garter Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) aufgrund einer regen Sammeltätigkeit in den Besitz eines bundesweit einzigar­ tigen Bestands an Vereinsarchivalien gekommen ist. Dazu gehören nicht nur die von Wolff bearbeiteten Archivalien des Vereins Heidenheim sowie diverse Unterlagen des Dachverbands Hahnemannia. In den letzten Jahren konnten dem Konvolut die „Nachlässe“ weiterer, zumeist württembergischer, homöo­ pathischer Laienvereine einverleibt werden. Sie decken hauptsächlich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einschließlich der NS­Zeit ab, gehen zum Teil aber auch bis in die jüngste Vergangenheit (vgl. Diagramm 1). Die Bedeu­ tung dieser Sammlung wird umso größer, als sich in anderen Stadt­ und Staatsarchiven keinerlei vergleichbare Überlieferungen der Laienbewegung finden lassen. Diese schwierige Überlieferungslage wurde schon vom Leiter des IGM­Archivs Martin Dinges in der online abrufbaren Bestandsbeschrei­ bung119 konstatiert. Sie hat auch aktuell Gültigkeit: Eine Recherche, bei der insgesamt 50 Archive in Nord­, Ost­, West­ und Mitteldeutschland per E­Mail kontaktiert und auf etwaige Vereinsarchivalien befragt wurden, erbrachte nur in zwei Fällen den Nachweis noch existierender Vereinsregister.120 Zum Einen handelt es sich dabei um ein einziges Protokollbuch (Laufzeit: 1899–1937) sowie um einige Register aus der Bibliothek des sächsischen Vereins für Ho­ möopathie Bischheim, in dessen Besitz heute das Deutsche Hygiene­Museum in Dresden (DHMD) ist. Ein weiteres und recht umfangreiches Vereinsregis­ ter beherbergt das Stadtarchiv im nordrhein­westfälischen Radevormwald. Dass umfangreiche Vereinsregister einem Archiv zur Verwahrung übergeben wurden, ist hingegen eine seltene Ausnahme. In den meisten Fällen gaben die angeschriebenen Archive einen unzureichenden oder auch gänzlich negati­ 118 Bischheim, Fellbach, Göppingen, Grasberg, Hürben, Nagold, Nattheim, Laichenden, Radevormwald, Reutlingen, Rohracker, Stuttgart­Wangen. Verzichtet worden ist auf die Untersuchung der Homöopathischen Vereine: Esslingen, Heidenheim, Machtoldsheim, Metzingen. Ihre minutiöse Durchsicht hätte angesichts des umfangreichen empirischen Materials nicht viel Neues zu Tage gefördert und wäre eher der berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen gleichgekommen. 119 Zum Bestand „Varia“ (V) des IGM siehe die zugehörige Beschreibung von Martin Din­ ges, online verfügbar unter: http://www.igm­bosch.de/content/language1/downloads/ Varia_2013.pdf (letzter Zugriff am 4. Mai 2016). 120 Die Auswahl der Archive erfolgte auf Grundlage einer von Dörte Staudt angelegten und von Marion Baschin und mir erweiterten bzw. korrigierten Liste sämtlicher homöopathi­ scher Vereine, die in den HM und LPZ erwähnt worden sind.

1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit

37

ven Bescheid: In ihren Beständen werden, wenn überhaupt, nur noch ein­ zelne Vereinsstatuten oder andere fragmentarisch erhaltene Zeugnisse wie etwa Mitgliederlisten und Korrespondenzen mit Behörden bewahrt. Konnte ihre Durchsicht wie in Wuppertal und Ludwigsburg ohne größeren Aufwand bewerkstelligt werden, haben relevante Befunde Eingang in die Arbeit gefun­ den. Die bundesweite Archivrecherche hatte indessen nicht allein die Erweite­ rung des ohnehin schon umfangreichen Quellenmaterials zum Zweck. Durch das Hinzuziehen von Vereinsregistern, die nicht Teil des IGM­Bestands sind, sollte der primäre Fokus auf das homöopathische Laienvereinswesen in Würt­ temberg vermieden werden. Aufgrund der noch immer prekären Überliefe­ rung von Vereinsprotokollen konnte diesem Anspruch nach geographischer Ausdehnung nur bedingt entsprochen werden. Rückschlüsse auf die Tätigkei­ ten von homöopathischen Vereinen vor 1945 ließen lediglich die Protokollbü­ cher der Homöopathischen Vereine Bischheim und Radevormwald zu. Der Aktenbestand des Landesarchivs Stade umfasst einzig die Mitgliederliste und Statuten des 1882 gegründeten Homöopathischen Vereins Grasberg sowie den aufschlussreichen Beschwerdebrief eines Apothekers samt einiger Ge­ richtsprotokolle. Über die Zeit nach 1945 gaben ausschließlich Vereinsregis­ ter aus Württemberg (Fellbach, Hürben, Nattheim, Reutlingen, Rohracker, Suttgart­Wangen) Auskunft. Die aus ihnen gezogenen Befunde können aller­ dings umso leichter verallgemeinert werden, als die Laienbewegung bis heute weitgehend auf die überwiegend württembergischen Zweigvereine des 1952 wiedergegründeten „Deutschen Dachverbands für Homöopathie und Lebens­ pflege e. V.“ beschränkt ist.121 Die DDR konnte im Rahmen der Arbeit nicht berücksichtigt werden, was nicht etwa daran lag, dass es in ihrem Hoheitsbe­ reich keine Laienhomöopathie gegeben hat, wie die Historikerin Anne Nierade jüngst in ihrer Arbeit über die Homöopathie in der DDR gezeigt hat. Zwar war die Heilmethode im staatlichen Gesundheitswesen weder akzeptiert war noch wurde sie gefördert, bei der Bevölkerung erfreute sie sich jedoch großer Beliebtheit – wie in Westdeutschland zunehmend ab den 1980er Jah­ ren.122 Ein freier Zusammenschluss ihrer Anhänger nach bundesrepublikani­ schem Vorbild war aufgrund der Restriktionen im Vereinswesen allerdings nicht möglich.123 Die einzelnen Vereinsprotokolle sind also die Basis der Arbeit, an sie rich­ ten sich die im vorgehenden Kapitel formulierten Forschungsfragen. Ihre Vor­ züge liegen auf der Hand: mit ihrer Unmittelbarkeit oder, um mit Eberhard 121 Laut der im April 2014 letztmalig aktualisierten Internetpräsenz des Dachverbands „Hahnemannia“ gibt es Zweigvereine in Baden (Karlsruhe, Pforzheim, Weingarten), Bayern (Schwabach, Bayreuth) und Niedersachsen (Eschede): http://www.hahnemannia. de/html/start.htm (letzter Zugriff am 6. Mai 2016). 122 Vgl. Nierade (2012), S. 207; Faltblatt über die Ausstellung der Europäischen Bibliothek für Homöopathie Köthen: „Aus einem verschwundenen Land. Homöopathie in der DDR“, online verfügbar unter: http://www.hombib­dzvhae.de/index.php?menuid=60& downloadid=24&reporeid=51 (letzter Zugriff am 6. Mai 2016). 123 Schäfers/Zapf (2001), S. 715.

38

1. Einleitung

Wolff zu sprechen, „Ausschnitthaftigkeit“124 ermöglichen die Protokolle einen direkten, in aller Regel authentischen Zugriff auf das Vergangene, im Gegen­ satz zu Berichten in den Verbandszeitschriften. „Die nur halböffentlichen Pro­ tokolle erweisen sich demgegenüber als wesentlich offener, weniger auf den erwünschten Soll­Zustand hin gefärbt und zensiert und kommen somit der Komplexität der Wirklichkeit näher.“125 Das protokollierte Ereignis ist zum Zeitpunkt der Niederschrift entweder noch im Gange oder liegt nur wenige Stunden zurück, es wird quasi spiegelbildlich und ohne retrospektive Verzer­ rungen abgebildet. Der quellentypische Fokus auf die vereinsrelevanten The­ men mache es zudem möglich, so Wolff, „das Vereinsleben nahezu vollstän­ dig, manchmal minutiös nachzuzeichnen und damit ein der historischen Realität sehr nahe kommendes Abbild des Tätigkeits­, Meinungs­ und Motiva­ tionsspektrums eines Gesundheitsvereins ‚vor Ort‘ zu erhalten.“126 Mit Hilfe der ausgewerteten Protokolle lassen sich also alle Einzelheiten der Laienver­ einsbewegung ungefiltert erfassen, charakteristische Merkmale ebenso wie die allerorts vorkommende Vereinsmeierei oder sich wiederholende Formalitä­ ten. Zwar erschließt sich die facettenreiche Entwicklung der homöopathi­ schen Laienbewegung erst durch die selektive Rekonstruktion, durch Ver­ knüpfung, Streichung von Neben­ und Betonung von Hauptsächlichkeiten. Die Entscheidung darüber, welche einzelnen Bestandteile des Gesamten sozu­ sagen festhaltenswert sind, obliegt aber allein dem Beobachter. Die Kehrseite dieser auf Vereinsthemen fokussierten Ausschnitthaftigkeit ist hingegen, dass die „konkreten Lebensbedingungen der Mitglieder, etwa ihre Arbeits­ und Wohnsituation, ihr Gesundheitszustand und andere Um­ stände, die auf das Einstellungs­ und Tätigkeitsspektrum der Mitglieder einen direkten Einfluß gehabt haben können, kaum Erwähnung finden.“127 Mit an­ deren Worten: Die individuellen gesund­ und krankheitsbezogenen Wahrneh­ mungs­, Deutungs­ und Handlungsmuster, nach denen die jüngere Patienten­ geschichtsschreibung128 fragt, können durch die Vereinsprotokolle nicht oder nur sehr pauschal erfasst werden. Die Laienhomöopathen als eigentliche Adressaten der vereinsinternen Wissensvermittlung sind eine abstrakte Masse, aus der nur selten einzelne Subjekte durch Äußerungen heraustreten und noch seltener namentlich bekannt werden. Ansonsten tauchen die Mitglieder nur in Angaben über die Höhe des aktuellen Mitgliederstands oder der Teil­ nehmerzahlen bei Veranstaltungen auf. Lediglich über letztere kann indirekt darauf geschlossen werden, welche Themen auf Interesse stießen und dem­ nach eine gewisse Rolle im alltäglichen Gesundheitsverhalten der Mitglieder gespielt haben könnten. Offen muss nach wie vor bleiben, ob sie die dort ge­ hörten Ratschläge im Alltag berücksichtigen. Wenn sich mit Pierre Bourdieu 124 125 126 127 128

Wolff (1989), S. 17. Wolff (1989), S. 19. Wolff (1989), S. 17. Wolff (1989), S. 17. Etwa die Studien zum geschlechtsspezifischen Gesundheitsverhalten: Hoffmann (2008) u. (2010); Schweig (2009); Osten (2010); Unterkircher (2014); Linek (2015).

1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit

39

im Habitus eines Menschen sowohl Struktur als auch Praxis vereinen, so kann mit den Vereinsprotokollen einzig „das System der Erzeugungsschemata von klassifizierbaren Praktiken“ definiert, nicht aber Näheres über „das System von Wahrnehmungs­ und Bewertungsschemata“ ausgesagt werden.129 Die Ge­ nese eines spezifischen „homöopathisch­medikalen Laienhabitus“ bleibt also vorerst ein Desiderat. Die vereinsseitige Vermittlung von Gesundheits­ und Krankheitswissen in Theorie und Praxis darf also nicht automatisch mit dem individuellen Ge­ sundheitsverhalten der Mitglieder gleichgesetzt werden. Die Vereinsproto­ kolle geben nur wieder, was sich innerhalb der Vereinslokale oder ­versamm­ lungen abspielte, Einblicke in den Privatbereich der Mitglieder gewähren sie hingegen nicht. Daneben halten die Quellen noch weitere Fallstricke parat, die es – vor allem in politisch repressiven Zeiten – zu beachten gilt: Bei den handschriftlichen Aufzeichnungen des Vereinsalltags handelt es sich in erster Linie um halböffentliche Texte, die vor Beginn jeder Versammlung rekapitu­ liert wurden und gegen die bei Missfallen oder Unvollständigkeit Einspruch erhoben werden konnte und wurde.130 Bedeutsam wird dieser Umstand bei­ spielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus. Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Nazis erfolgte die Gleichschaltung des politischen wie gesellschaftlichen Leben, die auch die homöopathische Laienbewegung er­ fasste. Dem Vereinsvorstand musste fortan u. a. mindestens ein NSDAP­Mit­ glied angehören. Finden sich also zwischen 1933 und 1945 in den Versamm­ lungsprotokollen Anhaltspunkte einer anbiedernden Linientreue oder exal­ tierte Lobpreisungen Hitlers, so müssen diese Aussagen aufgrund der omni­ präsenten Kontrolle und Überwachung nicht zwingend die Meinung des Vereins und schon gar nicht die seiner Mitglieder widerspiegeln. Umgekehrt ist aus den Protokollen nicht ohne weiteres ersichtlich, ob die positive Erwäh­ nung des NS­Regimes und seiner Protagonisten nicht doch Ausdruck einer tatsächlichen Freude über den politischen Umschwung war. Stichhaltige Aus­ sagen über den Grad der „Faschisierung“ der homöopathischen Laienvereine ergeben sich deshalb nicht unmittelbar aus einzelnen Sätzen oder Worten, sondern aus deren Umsetzung in Taten. Eberhard Wolff konnte beispielsweise in seiner Studie zeigen, dass sich der Homöopathische Verein Heidenheim nach 1933 den restriktiven Bestimmungen nur dann widerstandslos beugte, wenn sie seinen gewohnten Rhythmus nicht störten. Darüber hinaus beteiligte er sich nicht übermäßig an der Verbreitung der nationalsozialistischer Ideolo­ gie, was als Hinweis seiner (opportunistischen) Passivität gedeutet werden kann und tendenziöse Passagen in den Protokollen relativiert.131 Wie eingangs erwähnt, stützt sich die vorliegende Arbeit nicht allein auf die Auswertung von Protokollbüchern, Mitglieder­ und Bücherlisten der zwölf untersuchten Vereine. Als „informativer Hintergrund“132 werden die beiden 129 130 131 132

Bourdieu (1987), S. 280. Wolff (1989), S. 18. Wolff (1989), S. 201 f. Wolff (1989), S. 16.

40

1. Einleitung

homöopathischen Laienzeitschriften Homöopathische Monatsblätter sowie die Monatshefte der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie herangezogen. Angesichts des langen Untersuchungszeitraums und der schieren Menge der einzelnen Jahrgänge musste aus forschungsstrategischen Gründen ein in sich verschränktes Sample angelegt werden. Das Sample der LPZ beginnt mit dem Jahr ihrer ersten Auflage 1870, springt dann auf das Jahr 1875 und schließt bis zu ihrer Fusion mit den HM 1953 alle weiteren Jahrgänge in Zehnjahres­ schritten ein. Das Sample der HM und ihrer Nachfolger Modernes Leben, natürliches Heilen (MLNH, ab 1974) und Natur & Heilen (NH, ab 1996) hinge­ gen umfasst das Ersterscheinungsjahr 1876 und zählt die einzelnen Jahrgänge von 1890 bis 2010 ebenfalls in Zehnjahresschritten. Durch die Zuhilfenahme von Zeitschriften lassen sich vertiefte Kenntnisse über die geographische Ver­ breitung der organisierten Laienhomöopathie, über die andernorts vorherr­ schende Organisationsstruktur oder ganz allgemein über die Vereinspraxis gewinnen. Sie geben ausführlich Aufschluss über die einzelnen Themen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der Laienbewegung en vogue wa­ ren. Der Abgleich mit gesamtgesellschaftlichen Trends legt wiederum offen, inwieweit sich die Laienbewegung an reformerischen Strömungen orientierte oder sie vernachlässigte. Durch die Analyse der Jahrgänge kann zudem nach­ gewiesen werden, inwieweit die Zeitschriften den inhaltlichen Kurs der Ver­ eine mitbestimmten oder sogar vorgaben. Bezirk Brenz

56

Esslingen

21

Fellbach

51

Göppingen

9

Hürben

49

Hahnemannia

141

Heidenheim

111

Laichingen

33

Machtoldsheim

22

Metzingen

64

Nagold

44

Nattheim

92

Reutlingen

73

Rohracker

82

Stuttgart-Wangen

121

Bischheim (DHMD)

38

Radevormwald (Stadtarchiv) Grasberg (Landesarchiv Stade)

43 7

1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010

Diagr. 1: Überblick über die noch existierenden Vereinsregister und deren Laufzeit in Jahren.

1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit

41

Wie Eberhard Wolff greife auch ich im Wesentlichen auf Vereinsregister zu­ rück (vgl. Diagr. 1). Die Rekonstruktion der „Geschichte der medikalen Kul­ tur“ der homöopathischen Laienbewegung ist nur durch Vereinsprotokolle und Verbandszeitschriften möglich. Die Frage nach der praktischen Umset­ zung und Anwendung dieser medikalen Kultur im Alltag, die schon Wolff vergeblich gestellt hat, könnten wiederum Selbstzeugnisse von Vereinsmitglie­ dern beantworten. Falls solche in Brief­, Tagebuch­ oder Autobiographieform festgehaltenen Reflexionen des individuellen Gesundheitsverhaltens über­ haupt existieren, dann haben sie bislang nicht den Weg aus Privatbesitz in die Hände von Historikern gefunden.133 Anders und etwas besser sieht es hinge­ gen in Bezug auf das gegenwärtige Gesundheitsverhalten der Mitglieder ho­ möopathischer Vereine aus. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wa­ rum sie sich für einen Vereinsbeitritt entschieden oder aus welchen Gründen und in welchen Fällen sie Homöopathika benutzen, bot sich die Formulierung eines entsprechenden Fragebogens an. Erarbeitet wurde er in Zusammenar­ beit mit Sandra Dölker, Archivarin am IGM, und über Ingrid Meier­Regel, Präsidentin der „Hahnemannia“, im Herbst 2013 per Mail an die einzelnen Vereinsvorstände weitergeleitet. Zusätzlich wurde der Fragebogen in gedruck­ ter Form dem Verbandsorgan Natur & Heilen beigelegt, um möglichst viele der damals etwa 4.300 Mitglieder zu erreichen. Ausgewertet werden konnten schließlich 238 Fragenbögen, die Rücklaufquote betrug damit 5,3 %. Neben Angaben zum Alter, Geschlecht und zur Bildung der Laienhomöopathen fragt er vor allem das Nutzerverhalten der Vereinsmitglieder ab. Die Ergeb­ nisse dieser Fragebogen­Aktion werden am Ende der Arbeit zum einen mit den historischen Befunden verglichen, zum anderen mit den Merkmalen der zeitgenössischen „Gesundheitsgesellschaft“ in Beziehung gebracht werden. Dieser doppelte Vergleich lässt Rückschlüsse zu, inwieweit sich die homöopa­ thische Laienbewegung im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat und in der modernen Medikalkultur aufgegangen ist. Nach der Beschreibung und Kritik der Quellengrundlage sei abschlie­ ßend noch der Aufbau der Arbeit und die Periodisierung des langen Untersu­ chungszeitraums dargelegt: Der Beantwortung der beiden zentralen Fragestel­ lungen – Transformation eines kurativen zu einem präventiven Selbst? Laien­ bewegung als Vorläufer der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft? – ist ein streng chronologisches Vorgehen geschuldet. Nur so können einerseits Konti­ nuitäten und Brüche in der Entwicklung der homöopathischen Laienbewe­ gung sichtbar gemacht und andererseits mit gesamtgesellschaftlichen Prozes­ sen abgeglichen werden, um zu klären, ob beide Entwicklungen synchron 133 Die einzige Quelle, die Aufschluss gibt wenigstens über die Rezeption des bei Vereins­ vorträgen Gesagten, ist das Notizbuch von Emma Beck. Beck war Anfang der Fünfziger Mitglied des Homöopathischen Vereins Esslingen und notierte bei Vorträgen alles, was ihr wichtig erschien, mit geübter Handschrift in ihr Büchlein. Am ausführlichsten neh­ men sich dabei die Notizen bei Frauenvorträgen aus. Das Notizbüchlein kam jüngst in Besitz des IGM und ist Teil des Bestands Varia (IGM/Varia 542); vgl. hierzu im Allge­ meinen: Schweig (2009), Hoffmann (2010), Osten (2010).

42

1. Einleitung

verlaufen oder man in Anlehnung an Ernst Bloch von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“134 sprechen muss. Die Langzeituntersuchung der Laien­ bewegung beginnt dementsprechend mit einer kurzen Rekapitulation deren Vorgeschichte und der Faktoren, die maßgeblich dazu beitrugen, dass aus ein­ zelnen lokalen Vereinen eine überregionale Massenbewegung entstehen konnte. Danach folgen ausführliche Angaben zur Sozialstruktur der Vereins­ bewegung, den Besonderheiten ihrer Organisation sowie Befunde über die durchschnittliche Größe eines homöopathischen Laienvereins. Angesichts der zu schreibenden „Geschichte der medikalen Kultur“ der Bewegung nimmt die anschließende Klassifikation der homöopathischen Vereinspraxis breiten Raum ein. Von ihr erfasst werden sollen alle Praktiken und Techniken, die von den Vereinen um 1900 zur gesundheits­ und krankheitsbezogenen Wis­ sensvermittlung und Selbsthilfe angeboten und angewendet wurden. Diese Bestandsaufnahme dient dem weiteren Verlauf der Arbeit als eine Art Schab­ lone, mit deren Hilfe die inhaltlichen wie formalen Kontinuitäten und Verän­ derungen jeweils erfasst und verglichen werden können. Die nachfolgenden Haupt­ und Teilkapitel nehmen sich dann der Rolle der Laienvereine wäh­ rend des Ersten Weltkriegs, den Umbrüchen während der Weimarer Repub­ lik, dem Verhalten gegenüber den Nationalsozialisten und schließlich der Ent­ wicklung seit der Wiedergründung der Bewegung Anfang der 1950er Jahre an. Mit dieser Unterteilung in Zeitabschnitte ist gleichsam die Periodisierung des Untersuchungszeitraums angesprochen. Es ließe sich einwenden, dass letztere zu stark staatszentriert ist und sich ausschließlich an politischen Ereig­ nissen orientiert. Die politisch wie gesellschaftlich relevanten Jahre 1918/19, 1933, 1945 und 1970 stellen aber aus folgenden Gründen unumgängliche und für den Untersuchungsgegenstand bedeutsame Zäsuren dar: Im Theoriekapi­ tel wurde bereits vorweggenommen, dass die epidemiologische Transition bzw. der Wandel des Krankheitspanoramas von infektiösen zu chronischen Krankheiten dem kollektiven Präventionsgedanken zum Durchbruch verhol­ fen hat. Gleichwohl die Schwerpunktverlagerung von der Krankheitstherapie hin zur ­prävention schon vor 1918 im Gange war, fungierte der Erste Welt­ krieg mit seinen verheerenden Auswirkungen gerade auch auf die Volksge­ sundheit als eine Art „Reaktionsbeschleuniger“135. Die Rufe der Lebensrefor­ mer nach einer ganzheitlichen Berücksichtigung des Körpers und seiner Be­ findlichkeitsstörungen, nach naturgemäßer Lebens­ und Ernährungsweise, nach Bewegung und nach Vorbeugung statt Therapie erreichten nun ein brei­ teres Publikum als bisher. Florentine Fritzen, die ihre Arbeit über die Lebens­ 134 Mit diesem Begriff meinte Bloch „die gleichzeitige Anwesenheit von Phänomen mit un­ gleichen historischen Wertigkeiten. […] Er geht also davon aus, dass Lebensstile, Ideolo­ gien und Überzeugungen, die auf „Altes/Vergangenes“ rekurrieren – „Früheres“ mit sich „tragen“ –, zeitgleich neben jenen in der Gegenwart zu finden sind, die als „neu“, „alter­ nativ“, „modern“ gelten bzw. so bewertet werden.“ Vgl. Hegner (2012), S. 142. 135 Fritzen (2006), S.  189 ff., insbesondere Anm.  834. Fritzen bezieht sich hierbei auf den Chemie­Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932), der 1895 den Begriff des Kata­ lysators als „Reaktionsbeschleuniger“ beschrieb.

1.3 Quellen, Quellenkritik und Aufbau der Arbeit

43

reformbewegung im 20. Jahrhundert ganz ähnlich strukturiert, beschreibt den 1919 vollzogenen Wechsel der Staatsform dementsprechend als Übergang von einem „anderen“ zu einem „vitalen“ Leben. Waren es vorher nur wenige Überzeugte, die dem fortschrittsgläubigen Mainstream Vegetarismus, Körper­ kultur und Naturheilkunde bzw. Alternativmedizin entgegensetzten, fanden diese Themen nun immer größeren Zuspruch.136 Diese Phase dauerte, so Frit­ zen, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an, als die durch ihn verursachten katastrophalen Umweltzerstörungen einen „radikalen Paradigmenwechsel“137 bewirkten. Im Mittelpunkt stand nun die äußere Natur des Menschen, die ihn umgebende natürliche Umwelt. Um sie zu schützen und damit ein gesundes Leben zu ermöglichen galt es fortan, „in harmonischer Wechselbeziehung mit der Außenwelt und allen anderen Lebewesen und, darüber hinaus, umweltbe­ wußter und verantwortungsbewußter zu leben.“138 „Zurück zur gesunden Na­ tur“ lautete der neue, alte Slogan, mit dem die Reformhäuser ihre Produkte an den konsum­ und zivilisationskritischen Verbraucher bringen wollten.139 Es sollten allerdings knapp drei Jahrzehnte vergehen, bis dieses Bewusstsein für die Fragilität der Natur und für die Rückbindung des Menschen an seine Umwelt die Bevölkerungsmehrheit erreichte. Aus den Neuen Sozialen Bewe­ gungen der 1970er Jahre gingen auch die Ökologie­140 und Alternativbewe­ gung hervor, die Postulate der Lebensreformer und Konzepte der Laienheil­ kundigen aufgriffen und sich dadurch zu einer veritablen Konkurrenz entwi­ ckelten. Ganz abgesehen von diesen grundlegenden gesellschaftlichen Moder­ nisierungsschritten bedeuten vor allem Kriegsende und Nachkriegszeit einen eklatanten Einschnitt in der Vereinsarbeit, auf den es entsprechend zu reagie­ ren galt. In der Arbeit wird nun zu klären sein, ob und inwieweit diese sich um 1920, 1950 und 1970 abzeichnenden Umbrüche und Paradigmenwechsel auf die homöopathische Laienbewegung einwirkten.

136 Zur Körperkultur in der Weimarer Republik siehe: Wischermann/Haas (2000), insbeson­ dere S. 223–243. 137 Schipperges (1991), S. 62. 138 Fritzen (2006), S. 253. 139 Vgl. Reichardt (2014). 140 Vgl. Reichert/Zierhofer (1993); Uekötter (2012), S. 110 ff.

2. „Hoffentlich können wir durch die Homöopathie noch viele Thränen trocknen“1 – Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914) 2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen? Zur Sozialstruktur der Laienbewegung Um 1870 begann sich die homöopathische Laienbewegung zunehmend aus­ zubreiten.2 Das lag zum einen daran, dass das Interesse breiter Bevölkerungs­ schichten am Vereinswesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark zunahm.3 In den zahlreichen neugegründeten Gesangs­, Sport­, Kultur­ oder Arbeitervereinen konnten sie ihren politischen wie geselligen Neigungen nachgehen. Gleichzeitig wuchs die Anhängerschaft der medizinkritischen Be­ wegungen, in denen sich Impf­ und Tierversuchsgegner, Kneippianer, Vertre­ ter der Biochemie, Felke­Methode und vieler anderer alternativmedizinischer Verfahren sammelten. Trotz unterschiedlicher Überzeugungen und Ansichten teilten sie als potenzielle Patienten das Bedürfnis nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung sowie Mitsprache bei der Therapie.4 Auch waren sie sich weitgehend einig, allen voran die Naturheilkundler, dass der zunehmenden Verwissenschaftlichung5 und Organfixierung der Medizin durch ganzheitliche Konzepte entgegengesteuert werden müsse.6 Die Homöopathie erwies sich hierbei mit ihrer den ganzen Menschen berücksichtigenden Anamnese und den nebenwirkungsfreien Arzneimittelgaben als anschlussfähig. Hinzu kam der Aspekt der scheinbar einfachen Anwendbarkeit durch Laien – einfacher und mit weniger Aufwand verbunden jedenfalls als die Naturheilmethode.7 Beides bescherte der Homöopathie schon bald nach ihrer theoretischen Be­ gründung im Organon etliche Anhänger und den homöopathischen Vereinen zahlreiche Mitglieder. Dass sich diese bis 1870 nur vereinzelt in Erscheinung tretenden Vereins­ zu einer Massenbewegung entwickeln konnten, lag zum anderen an den sich um diese Zeit formierenden Landesvereinen in Württemberg (1868) und Sachsen (1873).8 Aufgrund ihrer Mitgliederstärke und größeren Finanzmittel konnten sie ganz anders aktiv werden als die einzelnen Lokalvereine. So wandten sie sich mit homöopathischen Schriften werbend an die Öffentlich­ 1 2 3 4 5 6 7 8

StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, Generalversammlung am 24. Februar 1901. Vgl. Wolff (1987), S. 64–70; Wolff (1989), S. 45–53. Dinges: Medizinkritische Bewegungen (1996), S. 13 f. Zum Vereinswesen in Deutschland: Dann (1993) u. (1994). Vgl. Schmiedebach (2002), S. 35. Dinges (1996): Medizinkritische Bewegungen, S. 13 f. Huerkamp (1986), S. 160; Krabbe (1974), S. 14. Wolff (1987), S.  71 f.; zum Vergleich von homöopathischem und Naturheilverfahren siehe auch: Faltin (2000), S. 346–353. Zu den einzelnen Landesvereinen bzw. Dachverbänden siehe: Wolff (1987), S.  66–67; Wolff (1989), S. 54–58; Baschin (2012), S. 215–221. Zur Gründung des sächsischen Lan­ desvereins: Grubitzsch (1996), S. 57 f.

45

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

keit und sandten Petitionen an die Landtage und den Bundesrat, um auf poli­ tischer Ebene die Anerkennung und Gleichstellung der Homöopathie zu er­ reichen. Darüber hinaus fochten sie etliche Gerichtsprozesse aus, in denen es um die Verfolgung von Homöopathen ging9, oder bauten eine homöopathi­ sche medizinische Infrastruktur auf.10 Auf lokaler Ebene setzten sich die Lan­ desvereine wiederum für die Gründung neuer homöopathischer Zweigvereine ein. In Württemberg oblag diese Aufgabe beispielsweise sogenannten „Ver­ eins­Agenten“, die „dahin zu wirken [hatten], daß in den einzelnen Bezirken Bezirks­Vereine gegründet werden“11. 160

148

140 120 96

100

97

Anzahl 80 58

60

64

41

40

26 20 5

9

0 vor 1860 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939

Diagr. 2: Verteilung homöopathischer Laienvereine nach ihrer Ersterwähnung oder einem Gründungsbeleg in HM und LPZ (n=544).12

Wie Diagramm 2 entnommen werden kann, hatten die beiden Landesvereine und anderen Dachverbände in Baden und dem Rheinland mit ihrer Arbeit sichtlich Erfolg. Nach 1870 schnellte die bisher überschaubare Zahl der ho­ möopathischen Vereine stetig in die Höhe. Eine Schätzung ging um 1900 da­ von aus, dass in Deutschland 1,5 bis 2 Millionen Erwachsene der Homöopa­ 9 10 11 12

Baschin (2012), S. 216. Baschin (2012), S. 226. IGM/Varia 8: Bestimmungen für die […] Landes­Commission, § 3a. Die Zahlen basieren auf einer Liste, die Dörte Staudt ermittelte (vgl. Staudt (1996), S. 86). Marion Baschin hat die Liste dann überarbeitet und sie um 30 Vereine ergänzt (vgl. Baschin (2012), S. 210). Bei meinen eigenen Recherchen sind mir weitere 70 ho­ möopathische Laienvereine bekannt geworden, die im besagten Zeitraum aktiv waren. Teilweise konnte ich die Gründungsdaten korrigieren, wodurch sich die Kohorten etwas veränderten.

46

2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

thie zugeneigt waren. Bezöge man deren Familienangehörige mit ein, käme man sogar auf sechs bis sieben Millionen Menschen.13 Marion Baschin legte diese Schätzungen auf die Gesamtbevölkerung um und errechnete, dass damit „etwa 3,5 % der damaligen Bevölkerung zu den Sympathisanten der Homöo­ pathie zu zählen und sogar 12,5 % […] in einem weiteren Sinn der Lehre Hahnemanns gegenüber aufgeschlossen gewesen“ seien.14 Wie viele von ih­ nen zur selben Zeit in einem homöopathischen Laienverein organisiert waren lässt sich nur für den süddeutschen Raum nachweisen. Dort sollte 1897 ein Verband süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde (VVHN) gegründet werden, der insgesamt mehr als 4.657 Laienhomöopa­ then in 51 Vereinen umfasst hätte.15 Die Bemühungen scheiterten allerdings an Interessenkonflikten der unterschiedlichen Gruppen.16 Obwohl sich die homöopathische Laienbewegung nicht nur quantitativ, sondern auch geogra­ phisch in Württemberg, Sachsen, Thüringen und Mitteldeutschland aus­ dehnte, blieben weite Teile des deutschen Sprachraums „weiße Flecken“ auf der Karte der homöopathischen Laienbewegung.17 Im Norddeutschland nah­ men nur vereinzelt homöopathische Vereine ihre Arbeit auf, da es dort keine vergleichbaren überregionalen und zentralen Organisationen gab, die eine geographische Ausdehnung hätten vorantreiben können. In Bayern konnte die organisierte homöopathische Laienbewegung – trotz zahlreicher Fürspre­ cher der Homöopathie in Politik und Adel – indessen nie wirklich Fuß fassen. Einzig in Regensburg wurde 1874 ein „Homöopathischer Verein in Bayern“ gegründet, der zunächst recht erfolgreich war. 1880 gehörten dem Verein 236 Mitglieder an und die von der Vereinsleitung herausgegebenen Homöopathischen Monatsblätter für volksthümliche Gesundheitspflege und Heilkunde erreichten eine Auflagenhöhe von bis zu 600 Exemplaren.18 Nach dem Tod des Vorsitzenden im Juni 1879 scheint der Verein jedoch eingegangen zu sein, zumindest ver­ liert sich in der homöopathischen Publizistik seine Spur. Nachahmer fand er nicht: „Während sich in anderen deutschen Staaten immer weitere neue lokale und regionale homöopathische Laienvereine bildeten, war in Bayern in der Folgezeit jahrzehntelang ohne einen einzigen solchen Verein.“19 Bisher war von den Laien nur als eine abstrakte Menge die Rede. Um verstehen und nachvollziehen zu können, warum und mit welchen Motiven sich Menschen einem (in diesem Fall homöopathischen) Gesundheitsverein angeschlossen haben, muss nach deren Lebensumständen und ­situationen 13 Baschin (2012), S. 219 f. 14 Baschin (2012), S. 220; vgl. hierzu auch Wolff (2012), S. 67–68. 15 Marion Baschin: (2012), S. 216, kommt auf 45.000 Vereinsmitglieder, nennt allerdings keine Quelle für diese Zahl. In einer Fußnote listet sie allerdings die einzelnen Zweigver­ eine inklusive der jeweiligen Mitgliederzahl auf. Zusammengezählt kommt man auf ex­ akt 4.657 Laienhomöopathen. Von dieser Zahl geht auch Faltin (2000), S. 351 Anm. 87, aus. Bei Baschin hat sich wohl ein Tippfehler eingeschlichen. 16 Baschin (2012), S. 216; vgl. zum VVHN auch: Faltin (2000), S. 351. 17 Baschin (2012), S. 217. 18 Stolberg (1999), S. 73. 19 Stolberg (1999), S. 74; Baschin (2012), S. 219.

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

47

gefragt werden. Vorauszuschicken ist, dass die in Rede stehenden Laien in erster Linie Gesunde waren. Über Mundpropaganda drang die Homöopathie zu ihnen durch, ihre Erfolge oder das Bedürfnis nach medizinischer und kos­ tengünstiger Selbsthilfe bewogen sie zu einem Vereinsbeitritt. Der Verein Fell­ bach erlebte 1911 einen beachtlichen Mitgliederzuwachs aufgrund der in der Gemeinde grassierenden Maul­ und Klauenseuche. Gezielt informierte die Vereinsführung über die homöopathische Behandlung dieser und weiterer Tierkrankheiten und zog damit nicht wenige Viehbesitzer in ihre Reihen.20 Die Vereinsgenossenschaft im bei Bremen gelegenen Grasberg verdankte ihre enorme Attraktivität – ein Jahr nach ihrer Gründung im Mai 1882 zählte sie bereits über 180 Mitglieder aus insgesamt 15 umliegenden Ortschaften – wie­ derum der Einrichtung der weit und breit einzigen homöopathischen Apo­ theke. Diese Beispiele sprechen dafür, dass die homöopathischen Laien eine gewisse Mündigkeit und rationale Entscheidungskraft in Gesundheitsfragen kennzeichnete, denn im Falle Grasbergs hätten die Mitglieder auch auf Medi­ kamente der im benachbarten Wilstedt neugegründeten Apotheke zurück­ greifen können. Dass sie das nicht taten, sondern sich zusammenschlossen, um homöopathische Arzneimittel zu beziehen, ist Ausdruck einerseits ihres Wunsches nach Autonomie und andererseits ihres „medikalisierten Gesund­ heitsverhaltens“21. 2.1.1 Geschlechterverteilung Ist bis weit in die Weimarer Republik hinein die Rede von organisierten Laien­ homöopathen, so sind damit erst einmal erwachsene Männer gemeint. Damit sie in einen homöopathischen Verein eintreten konnten, mussten sie aber nicht erst heiraten und eine Familie gründen. Es genügte, zum Zeitpunkt des Beitritts das 21. Lebensjahr vollendet und nichts ehrenrühriges verbrochen zu haben. Über das Aufnahmegesuch neuer Mitglieder entschied entweder der Vereinsvorsitzende oder die gemeinschaftliche Abstimmung während einer Versammlung.22 Mit der Notwendigkeit einer Zustimmung waren wohl zweier­ lei Absichten verbunden: Zum einen versuchten die Laienvereine den An­ schein der Seriosität, Redlich­ und Wissenschaftlichkeit zu wahren, um Obrig­ keit und Gegnern eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten. Unredliche Personen oder gar Kurpfuscher in den eigenen Reihen hätten den Vereinen mehr Schaden als Nutzen gebracht. Zum anderen konnte dadurch bis zu ei­ nem gewissen Grad gewährleistet werden, dass die Mitglieder „überzeugte und begeisterte Anhänger ihrer Sache“ und keine „Mitläufer“ waren.23 Dass Aufnahmegesuche gänzlich abgeschlagen wurden, muss allerdings äußerst selten vorgekommen sein. In den Vereinsregistern bis 1914 findet sich jeden­ 20 21 22 23

IGM/Varia 68, 8. Februar 1911. Wolff (1989), S. 222. DHMD/L 1998/62, Protokoll 1904. Baschin (2012), S. 227.

48

2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

falls kein entsprechender Eintrag  – zumindest wurde die Ablehnung eines Mitglieds nicht verschriftlicht. Offensichtlich war den Vereinen dann doch mehr an einem regen Zuwachs gelegen, denn an Selektion und genauer Prü­ fung ihrer Mitglieder. Männer gaben in allen homöopathischen Vereinen als Vorstände den Ton an und stellten noch dazu fast ausschließlich deren Mitgliederbasis. Frauen tauchen in den Listen vor der Gründung eigener Frauengruppen in den Zwan­ zigern hingegen selten auf. Das lag zum einen daran, dass in den meisten Ver­ einen nur Männer als Mitglieder akzeptiert waren.24 Zum anderen stellte sich um die Jahrhundertwende Frauen in aller Regel die Frage nach einer Auf­ nahme schon deshalb nicht, da die Mitgliedschaft von Männern für die ge­ samte Familie galt, sich also auch auf Ehefrau und Kinder erstreckte.25 Wurden Frauen als offizielle Vereinsmitglieder geführt, dann meist als Witfrauen, auf die die Mitgliedschaft ihres verstorbenen Ehemanns überging. Wegen ihrer prekären finanziellen Situation kamen manche Vereine den Witfrauen dadurch entgegen, dass sie ihnen die Beitragspflicht ganz oder wenigstens zur Hälfte erließen.26 Andere Vereine verwendeten in ihren Statuten den neutralen Be­ griff „Mitglied“ ohne näher zu bestimmen, ob damit nur Männer oder auch Frauen gemeint waren. Beispielsweise der Verein Ronsdorf, dessen 1877 ange­ legte Mitgliederliste dann allerdings ausschließlich Männer auflistet. Entweder sahen Frauen dort noch nicht die Notwendigkeit eines Vereinsbeitritts oder die eigenständige Vereinsmitgliedschaft von Frauen war ohnehin undenkbar und eine sprachliche Differenzierung daher nicht notwendig.27 Anders verhielt es sich hingegen in Krefeld, wo ausdrücklich alle „ehrenhaften Personen beiderlei Geschlechts, welche das 20. Lebensjahr zurückgelegt haben“28 eine Aufnahme fanden. Der Homöopathische Verein Grasberg bestimmte in seinen Statuten 1882 nahezu gleichlautend: „Aufnahmefähig sind alle ehrenhaften Männer und Frauen, welche mindestens das 21. Lebensjahr zurückgelegt haben“29. Von ihrem Recht auf eine Mitgliedschaft im Grasberger Verein machten aller­ dings fast nur Männer Gebrauch. Unter den 173 bis Januar 1883 Eingetrete­ nen befanden sich gerade einmal drei Frauen, deren Anzahl in den Folgejah­ 24 Baschin (2012), S. 229. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Frauen ein Vereinsbeitritt per se untersagt war. Die Mitgliedschaft von Frauen in bürgerlichen Vereinen entsprach aber, zumindest Ende des 19. Jahrhunderts, (noch) nicht den gesellschaftlichen Konven­ tionen. 25 Cornelia Regin kommt in ihrer Arbeit zu einem ähnlichen Ergebnis und konstatiert, dass in den Mitgliederstatistiken der naturheilkundlichen Laienvereine nur die Ehemän­ ner als ordentliche Mitglieder geführt werden, weil sie diejenigen waren, die „die Bei­ träge bezahlten“. Vgl. Regin (1995), S. 98. 26 Etwa 1904 in Bischheim: DHMD/L 1998/62, Protokoll 1904. 27 StA Wuppertal P III 228. 28 Zitiert nach: Baschin (2012), S. 229. Statuten des Vereins Krefeld, in: HStA Düsseldorf Medicinalia 212.16.01 BR 0007 Nr. 38734. Bestandteil dieses Konvoluts sind noch wei­ tere Vereinsstatuten aus Hückeswagen, Elberfeld und Vohwinkel. 29 LA Niedersachsen Rep. 72/172 Lilienthal Nr. 281. Ähnlich lauteten auch die Satzungen der homöopathischen Vereine Bischheim und Hahnemannia. Beide standen explizit auch Frauen offen: vgl. DHMD/L 1998/60, StA Ludwigsburg F 303 III Bü 23.

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

49

ren nicht signifikant anstieg. Ähnlich verhielt es sich auch im Homöopathi­ schen Verein Radevormwald, zumindest zu dessen Anfangszeit. Von den insge­ samt 220 Mitgliedern waren 1895 gerade einmal fünf weiblich.30 Fraglich und letztlich nicht zu klären ist, ob diese und Frauen im Allgemeinen aktiv am Vereinsgeschehen teilgenommen haben. Angesichts der Dominanz der Män­ ner und der abendlichen, in Zigarrenrauch und Bierdunst gehüllten, Zusam­ menkünfte in Gastwirtschaften dürfte aber wohl vom Gegenteil ausgegangen werden. Dass die Rahmenbedingungen der Vereinsversammlungen auf Frauen ungeachtet der dort vermittelten Inhalte nicht gerade anziehend wirkten, muss sich auch der Homöopathische Verein Heidenheim bewusst gewesen sein. Schließlich verlegte er nach 1900 die Veranstaltungen auf den Sonntagnach­ mittag und von einer Gastwirtschaft in den Saal eines „gediegenen Hotels“31. Bis zur Mitte der Zwanziger waren Frauen als aktive Mitglieder die Aus­ nahme. Bei den Vortragsabenden nahm ihre Anwesenheit nach 1900 aller­ dings beträchtlich zu, da sie von den Vereinsleitungen ausdrücklich zur Teil­ nahme eingeladen wurden.32 Der Vorsitzende des Vereins Stuttgart­Wangen hielt bereits im Juli 1896 die Mitglieder dazu an, ihren Ehefrauen von der Vereinsarbeit zu berichten und sie zu den Veranstaltungen mitzubringen.33 Mit der Naturheilkundlerin Frieda Wörner (gest. 1930) konnte bald danach eine Referentin gefunden werden, die sich wiederum in etlichen Vorträgen eigens Frauenbeschwerden annahm. Eine ähnliche Entwicklung ist auch an­ dernorts zu beobachten. Nachdem in den Homöopathischen Verein Bisch­ heim immer mehr Frauen eingetreten sind, begann die Vereinsleitung spätes­ tens ab 1905 Vorträge zum Thema „Frauenkrankheiten“ zu veranstalten. Wa­ rum neben Wangen und Bischheim auch andere homöopathische Vereine damit begannen, um 1900 verstärkt Frauen anzusprechen, geht aus den Ver­ einsregistern indessen nicht hervor. Der Vermerk des Wangener Schriftfüh­ rers, demzufolge Frauen bei verschiedenen Krankheiten ohne Unterschied immer die gleichen Mittel verabreichen würden und man sie deshalb mit der homöopathischen Arzneimittellehre vertraut machen müsse34, scheint als Beweggrund reichlich fragwürdig. Plausibler ist, dass die Verbreitung oder Repräsentation der homöopathischen Heilmethode sowie die Führung der Laienvereine zwar ausschließlich Männersache war, die Anwendung der Ho­ möopathie gerade im familiären Umfeld gegen Ende des 19. Jahrhunderts hingegen den Frauen überlassen wurde. Sabine Schleiermacher hat in ihrem Aufsatz über das Frauenbild in der Gesundheitsaufklärung diesbezüglich da­ rauf hingewiesen, dass im öffentlichen Diskurs des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts die Bedeutung der Frau und Mutter als Ge­ 30 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 3. Drei Frauen arbeiteten als Näherinnen, eine als Lehrerin und eine Frau scheint Witwe gewesen zu sein. Jedenfalls wird sie in der Mitglie­ derliste als „Frau Julius Mühlenmeister“ geführt. 31 Wolff (1989), S. 98. 32 Wolff (1989), S. 97 f.; Baschin (2012), S. 229. 33 IGM/Varia 370, 19. Juli 1896. 34 IGM/Varia 371, 18. Juli 1897.

50

2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

sundheitsbeauftragte der Familie wiederentdeckt worden sei.35 Kindererzie­ hung und die Sorge um die Gesundheit der Familienmitglieder waren imma­ nente Bestandteile ihrer Sozialen Arbeit, die dem „parasitären Leben“ der bürgerlichen Frau innerhalb einer kapitalistischen, bürokratischen und von Eigennutz, kurz: männlich geprägten Gesellschaft einen Sinn gab.36 Diese „Wiederentdeckung“ der mütterlichen Aufgabenfelder spiegelt sich auch in den Vereinsregistern dieser Zeit wider: Einer 1898 in den Homöopathischen Monatsblättern abgedruckten Vereinsmeldung aus Heilbronn zufolge sollten Frauen gezielt zu Veranstaltungen eingeladen werden, da diese „ein größeres Verlangen [zeigten], etwa über Krankheit und deren Behandlung zu hören, weil ihre Pflicht als Mutter ihnen so häufig Gelegenheit bietet, derartige Kenntnisse bei Erkrankung eines ihres Kinder zur praktischen Anwendung zu bringen“37. An die Pflichten der Frauen als Mütter und erste Instanz in Erzie­ hungsfragen appellierte ebenfalls der Verein Stuttgart­Wangen, als er die Mit­ gliederfrauen 1912 dazu aufrief, sie mögen doch zahlreich zu den verschiede­ nen, auch pädiatrischen, Vorträgen kommen.38 Und in Rohracker argumen­ tierte man 1910 damit, weibliche Zuhörer deshalb für einen in Bälde stattfin­ denden Arztvortrag gewinnen zu wollen, „weil Ihnen die Pflege der Kranken am meisten obliegt“39. Dass das Adressieren von Frauen als „Garantin fast al­ ler Hygiene“40 nicht ungehört verhalte, die weiblichen Mitglieder stattdessen zahlreich zu den verschiedenen Vorträgen erschienen, geht aus mehreren Ver­ einsregistern hervor: Als der Schriftleiter der Homöopathischen Monatsblätter Immanuel Wolf (1870–1964) am 11. Januar 1914 in Nagold einen Vortrag über „Herz­ und Herzkrankheiten“ hielt, waren drei Viertel der Anwesenden Frauen. Damit hat sich die Geschlechterverteilung unter der Zuhörerschaft innerhalb von nicht einmal 20 Jahren umgekehrt. 2.1.2 Sozial­ bzw. Berufsstruktur Um 1870 war die Homöopathie – zumindest auf der Vereins­ und Verbands­ ebene  – noch fast ausschließlich Männersache. Sie waren ihre Agitatoren, Multiplikatoren und Adressaten gleichermaßen, sie trugen die homöopathi­ sche Heilmethode in ihre Familie und auch in die Politik. Ungeklärt blieb bisher, welchen Berufen diese Männer nachgingen bzw. welche spezifische Sozialstruktur die Laienbewegung aufwies. Ausführliche Erkenntnisse haben hierüber bereits Eberhard Wolff und vor allem Marion Baschin zusammenge­ tragen. Beide konnten in ihren Arbeiten zeigen, dass die „Vertreter der unter­

35 36 37 38 39 40

Schleiermacher (1998), S. 49. Schleiermacher (1998), S. 49; Sachße (1986). HM 23 (1898), S. 194–195; vgl. Baschin (2012), S. 237. IGM/Varia 371, 24. März 1912. IGM/Varia 72, 12. Februar 1910. Meyer­Renschhausen (1989), S. 164.

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

51

bürgerlichen Schichten“41 die Mehrheit der Mitgliederschaft bildeten. Nach der Auswertung der Mitgliederlisten des Homöopathischen Vereins Heiden­ heim ging Wolff schon 1989 davon aus, dass die homöopathischen Laienver­ eine ihren sozialen Schwerpunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Klein­ bürgertum und in geringerem Maße in den Kreisen der Facharbeiterschaft gehabt hätten.42 Marion Baschin bestätigte diese Annahme kürzlich anhand mehrerer Mitgliederlisten bergischer und rheinischer Vereine für Homöopa­ thie. Ihrer Auswertung zufolge waren in den einzelnen Vereinen überwiegend Bauern, Handwerker sowie Kleingewerbetreibende organisiert.43 Aber auch sozial höher Stehende der Mittel­ und Oberschicht, meist Beamte, Hand­ werksmeister und Selbständige, schlossen sich homöopathischen Vereinen an. Oft ging von ihnen die Initiative zur Vereinsgründung aus und nicht selten amtierten sie als Vereinsfunktionäre.44 An der Spitze des Homöopathischen Vereins Heidenheim standen beispielsweise Selbständige (ein Fabrikant, ein Textilgeschäftsinhaber), Handwerksmeister und höher qualifizierte Facharbei­ ter.45 Die Auswertung der 1913 angelegten Zweigvereinsliste des sächsischen Landesvereins stützt diesen Befund (vgl. Abb. 3): Unter den insgesamt 99 Berufsangaben der bis 1913 gelisteten Vorsitzenden befanden sich 18 Hand­ werksmeister (18 %) und 23 selbständige Fabrik­, Guts­, Wirtschafts­ und Müh­ lenbesitzer (23 %) sowie ein Lehrer und ein Ingenieur. Weitere 18 Vereinsvor­ sitzenden übten den Beruf eines Kaufmanns, Angestellten oder einfachen Postbeamten (18 %) aus. 22 waren Handwerker (22 %) und 13 einfache Arbei­ ter (13 %).46 Der sozialen Mittel­ und Oberschicht gehörten demnach 43 % der Vorsitzenden an, dem Kleinbürgertum 40 % und dem Proletariat immerhin 13 %. Die restlichen drei Prozent stellten ein „Praktiker“, ein Künstler und ein Arbeitsloser. Gut und besser situierte Laienhomöopathen lenkten demnach die Geschicke zahlreicher Vereine. Besitz und gesellschaftliches Ansehen wa­ ren aber nicht die einzigen Kriterien, um zum Vorsitzenden eines Vereins berufen werden zu können. Weit wichtiger war, dass die Vorsitzenden über ein solides Wissen und tiefere medizinische Kenntnisse verfügten.47 Anders ließe sich kaum erklären, weswegen ein ungelernter Packer 16 Jahre als Vor­ sitzender des Vereins Heidenheim amtieren konnte.48 Ganz ähnlich verhielt 41 Wolff (1987), S. 70. 42 Vgl. Wolff (1989), S.  92. Das Kleinbürgertum dominierte auch die Sozialstruktur der Naturheilbewegung: Kratz/Kratz (2004), S. 20. 43 Baschin (2012), S. 231 f. Die Sozialstruktur der homöopathischen Laienbewegung ähnelt damit derjenigen der Naturheilbewegung: Regin (1995), S. 70. 44 Wolff (1987), S. 68; Wolff (1989), S. 56 und S. 91–92; Grubitzsch (1996), S. 64; zeitgenös­ sische Hinweise zur Leitung eines Vereins bei: Michaelis (1909), S. 24–30. 45 Vgl. Wolff (1989), 92. 46 Vgl. Grubitzsch (1996), S. 64. Grubitzschs Auszählung weicht teils beträchtlich ab. Sie macht beispielsweise keinen Unterschied zwischen Arbeitern, Handwerkern und Hand­ werksmeistern, sondern weist darauf hin, dass sich nicht nachweisen ließe, „inwieweit sie den selbstständigen Handwerkern zuzurechnen sind.“ Handwerksmeister sind in der Liste aber eigens als solche aufgeführt. 47 Baschin (2012), S. 232. 48 Wolff (1989), S. 80 f.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

es sich auch im württembergischen Rohracker. Dort litt der Homöopathische Verein anfänglich unter Startschwierigkeiten, „weil es Ihm an einer Persön­ lichkeit gefehlt habe, die in dieser Sache Kenntniß gehabt hätte“. Mit dem neuen Vorsitzenden Emil Ohnmeiß sei ihnen aber „eine Kraft entstanden, die sich der Homöopathie vollständig gewidmet habe“49. Ohnmeiß, der sich un­ ermüdlich bis in die 1960er hinein für den Verein engagierte, war von Beruf gelernter Schlosser und zum Zeitpunkt seines Beitritts erst 24 oder 25 Jahre alt, verfügte also weder über materielle Güter noch über gesellschaftliches Ansehen. Dennoch wählten ihn die Vereinsmitglieder wegen seiner charakter­ lichen Eignung und Kenntnisse zu ihrem Vorstand. Ebenso war man in Göp­ pingen schon 1892 der Meinung, „daß in unserem Verein weniger die soziale, pekuniäre Stellung des Vorstands von Bedeutung sei wie in anderen Vereinen, sondern es hauptsächlich darauf ankomme daß der Vorstand ein in der Ho­ möopathie bewährter Mann sei“50. Künstler

1

arbeitslos

1

Heilkundiger

1

Akademiker

1

Lehrer

1

Beamte

2

Angestellte

5

Kaufleute

11

Arbeiter

13

Handwerksmeister

18

unselbst. Handwerker

22

Selbständige

23 0

5

10

15

20

25

Diagr. 3: Sozialstruktur der Zweigvereinsvorsitzenden des sächsischen Landesvereins 1913 (n=99).

Im Folgenden gilt es, die Befunde von Wolff und Baschin mit dem vorliegen­ den Quellenmaterial auch in Bezug auf die Mitgliederschaft abzugleichen und zu ergänzen. Zurückgriffen werden kann dabei auf drei Mitgliederlisten von 1877, 1893–95 und 1910–17, in denen der Berufsstand jedes Vereinsmit­

49 IGM/Varia 72, 12. Februar 1910. 50 IGM/Varia 225, 27. März 1892.

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

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glieds und im Falle Radevormwalds sogar das Geburtsdatum festgehalten wurde. Die nachweislich älteste Mitgliederliste eines homöopathischen Vereins stammt aus Ronsdorf nahe Wuppertal. Sie ist 1877 bei der Vereinsgründung angelegt worden und enthält Angaben über den Namen der ausschließlich männlichen Mitglieder, ihren Wohnort und ihren Beruf. 78 % von ihnen übten entweder einen handwerklichen Beruf aus oder arbeiteten als Wirker in den örtlichen Textilfabriken.51 In Ronsdorf arbeiteten also mehr als zwei Drittel aller Vereinsmitglieder als Handwerker oder Fabrikarbeiter. Lediglich fünf (8 %) von ihnen verdienten ihr Geld mit dem Verkauf von Waren, drei (5 %) unterrichteten als Lehrer an einer Schule, weitere drei Mitglieder waren selb­ ständige Bäcker und Brauer oder Wirt (5 %) und nur ein Gutsbesitzer war das einzige Mitglied aus der sozialen Oberschicht. Bemerkenswert ist die Tatsa­ che, dass von den drei organisierten Lehrern immerhin zwei im Vorstand des Vereins saßen, einer von ihnen als Vorsitzender. Die anderen vier Vorstands­ mitglieder übten den Beruf eines Wirkers (2), Schusters oder Kaufmanns aus. Über die Sozialstruktur der frühen homöopathischen Laienbewegung in­ formiert zudem detailliert das Vereinsregister des Homöopathischen Vereins Radevormwald. Sein sorgfältig angelegtes Mitgliederbuch gibt Auskunft über die Mitgliederbewegung zwischen dem Gründungsjahr 1893 und den frühen 1920er Jahren. Durch die Gegenüberstellung der Mitgliederlisten von 1893 bis 1895 und 1910 bis 1917 sind Aussagen über die Entwicklung der Mitglie­ derzahlen und der Berufsverteilung möglich (Diagr. 4): Während Arbeiter, Handwerker und Bauern (wie in Ronsdorf) schon bei der Vereinsgründung die Mehrheit aller Mitglieder stellten, nahm ihre Zahl in den folgenden 15 Jahren um das Dreifache zu. Die Gruppe der „Ackerer“ vergrößerte sich sogar um das Vierfache, was im Wesentlichen daran lag, dass der Hauptverein Radevormwald­Stadt weitere Filialvereine in vier landwirtschaftlich geprägten Außenbezirken gründete. Die verhältnismäßig größte Anziehungskraft übte der Homöopathische Verein indessen auf Kaufleute und Händler aus. Bis Ende des Ersten Weltkriegs traten derer insgesamt 26 in den Verein ein, ihre Zahl stieg also um das Fünffache. An der relativen Gewichtung der sozialen Gruppen änderte diese Zuwachsraten hingegen nichts. Gemessen an der ab­ soluten Mitgliederzahl blieb der Anteil der einzelnen Berufe bzw. Sozialgrup­ pen weitgehend gleich. Insofern können die Befunde von Wolff und Baschin im Wesentlichen bestätigt und es kann noch einmal festgehalten werden, dass die Mehrzahl der Laienhomöopathen dem Kleinbürgertum angehörte. Relati­ viert werden muss allenfalls die These von Wolff, dass das Mitgliederschaft der homöopathischen Vereine bis zur Weimarer Republik sozial gesunken 51 StA Wuppertal P III 228. Auch in anderen Vereinslisten korrelieren die häufig vertrete­ nen Berufsarten mit dem wirtschaftlich­industriellen Schwerpunkt der jeweiligen Stadt oder Region. Im nicht weit entfernten Radevormwald ließen sich besonders viele Werk­ zeugmacher und andere metallverarbeitende Industriezweige nieder. Entsprechend viele Mitglieder des örtlichen homöopathischen Vereins übten daher den Beruf des Schlossers aus (vgl. StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 3).

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

sei.52 So hätte in den 1920er Jahren eine absolute Mehrheit an Arbeitern die „Dominanz bürgerlich­kleinbürgerlicher Kreise“ abgelöst.53 Das mag auf den Homöopathischen Verein Heidenheim zutreffen, darf aber nicht verallgemei­ nert werden. Zumindest die soziale Schichtung der Vereine Ronsdorf und Radevormwald spricht dafür, dass Arbeiter, Facharbeiter und Handwerker in den Vereinen stark vertreten waren. Das lag vor allem daran, dass sich die homöopathische Laienbewegung in Gegenden ausbreitete, „die eher als an­ dere einen Urbanisierungprozeß durchgemacht hatten“54. 300

1893-95

1910-17

244

250

200

150

130 105

100

95 55

50

38

30

22 4 5

0

32

3

5

17 1 2

8 7

2 3

0 5

3 4

Diagr. 4: Langzeitverteilung der Berufe im homöopathischen Verein Radevormwald.

Obwohl die Homöopathie teils einflussreiche großbürgerliche und adlige An­ hänger hatte, übte die Laienbewegung auf diese Schichten hingegen so gut wie keine Anziehungskraft aus.55 Unter den 614 Mitgliedern des Vereins Ra­ devormwalds finden sich zwischen 1910 und 1917 gerade einmal ein Fabrik­ besitzer sowie ein „Direktor“. Über dem Verein angehörende Politiker ist 52 53 54 55

Vgl. Wolff (1989), S. 94. Wolff (1989), S. 95. Wolff (1987), S. 68; Wolff (1989), S. 60. Einer Aufzählung in der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie zufolge zählten 1891 „15 Mitglieder, regierender europäischer Fürstenhäuser, 40 Herzöge, Fürsten und Prinzen nicht regierender Häuser, 2.120 Grafen, Barone und Freiherren, 695 deutsche und ausländische Offiziere, 205 höhere und höchste Staatsbeamte, Professoren“ sowie „77 Klöster in Deutschland, Oesterreich und im Auslande“ zu den Kunden der „Central­ Apotheke“ von Willmar Schwabe in Leipzig. Insgesamt wurde der Kundestamm auf eine Größe von 60.000 beziffert, LPZ 26 (1895), Beilage zu Nr. 5/6, S. 57).

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

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nichts bekannt, ebenso wenig über adlige Mitglieder. Dass deren Fernbleiben wegen des dadurch fehlenden Prestigegewinns für die homöopathische Sache mancherorts als Manko empfunden wurde, bezeugt der Verein Reutlingen: Nachdem die Anstellung eines homöopathischen Arztes als oberstes Ziel be­ reits wenige Jahre nach der Gründung erreicht werden konnte, verlagerte man die Bemühungen auf Vergrößerung der Mitgliederschaft. Für die Sache des Vereins sollten vor allem Angehörige der „besseren Stände56 gewonnen werden. Diese scheinbar unbedeutende Aussage relativiert Wolffs These, dass die Laienbewegung bis zur Weimarer Republik einen sozialen Abstieg durch­ gemacht hätte. Die Laienvereine klagten nämlich nicht erst in den Zwanzi­ gern über einen Mangel an „höheren und einflußreicheren Kreisen(n)“ bzw. „Gebildeten“ in den eigenen Reihen, sondern schon um die Jahrhundertwen­ de.57 Ob sich ihnen letztere anschlossen geht aus den Quellen nicht hervor. Die oft am Ende der Versammlungsprotokolle notierten Namen und Berufe der neu aufgenommenen Mitglieder lassen jedoch nicht darauf schließen. So traten zwischen 1907 und 1910 zwar 47 Interessierte in den Verein Reutlingen ein, sie gehörten aber zu 83 % dem Kleinbürgertum an (27 Handwerker, meh­ rere Kaufleute, kleinere Beamte und Angestellte) an. Die restlichen 17 % der in diesem Zeitraum aufgenommenen Mitglieder entstammten der Mittel­ schicht und teilten sich in fünf Handwerksmeister, zwei Lehrer und ein Inge­ nieur auf.58 Insofern spiegelt die ausschnitthafte Stichprobe auch in Württem­ berg die schon aus Ronsdorf und Radevormwald bekannte Sozialstruktur wi­ der, die, wie bei den Naturheilvereinen59, schwerpunktmäßig im mittleren und Kleinbürgertum lag.60 56 IGM/Varia 483, 4. Juni 1900. In einem Fall konnte der Verein in dieser Sache wenigstens kurzzeitig einen Erfolg verbuchen: Unter den zahlreichen Gästen des am 22. März 1903 veranstalteten zehnten Stiftungsfestes war auch der damalige Regierungspräsident Karl von Bellino (1827–1919), der sogar eine Ansprache hielt und brachte „unter den besten Wünschen für Zukunft des festgebenden Vereins einen Toast auf Vorstand Schäfer aus.“ IGM/Varia 483, 22. März 1903. 57 HM 53 (1928), S. 130; Wolff (1989), S. 62. 58 IGM/Varia 483, 1907–1910. 59 Vgl. Regin (1995), S. 77 ff. Regin untersuchte in ihrer Arbeit die Sozialstruktur der Mit­ glieder des Deutschen Bundes der Vereine für Gesundheitspflege. Ihre Aussagen bezie­ hen sich im Wesentlichen auf die Berufsangaben aus dem Jahr 1908. Sie kommt zu dem Ergebnis, „daß selbständige und unselbständige Handwerker zusammengenommen mit über 30 % die größte Berufsgruppe der Mitglieder des Deutschen Bundes stellten, gefolgt von den Arbeitern mit über 20 %. Faßt man die Arbeiter und unselbständigen Handwer­ ker als Angehörige des Proletariats zusammen, stellten diese mit ca. 35 % die größte so­ ziale Gruppe unter den Mitgliedern, waren aber gegenüber den Angehörigen der Mittel­ schichten in der Minderheit. Beinah gleich stark wie sie waren die eindeutig als Selbstän­ dige identifizierbaren Gruppen (Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten, Landwirte und Gärtner) mit zusammen ca. 32 % vertreten. Angestellte (Kaufmännische Angestellte und Privatbeamte) waren mit ca. 9 % ungefähr repräsentiert wie Beamte (Staats­ und Kommu­ nalbeamte) mit ca. 8 %. Akademiker mit 0,4 %, Künstler mit 1,5 % und Landwirte bzw. Gärtner mit 2 % fielen kaum ins Gewicht.“ (S. 79). 60 Wolff (1989), S. 62.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

2.1.3 Alter der Laienhomöopathen Anhand der ausgewerteten Mitgliederlisten ließ sich zeigen, dass der frühen homöopathischen Laienbewegung überwiegend Männer aus kleinbürger­ lichen Verhältnissen angehörten. Neben der Sozialstruktur ist weiterhin die Altersstruktur der Vereinsmitglieder von Bedeutung (vgl. Diagr. 5). Über das Durchschnittsalter lassen sich Rückschlüsse darüber ziehen, in welcher kon­ kreten Lebensphase das Interesse an der Homöopathie am größten war. Für das ausgehende 19. Jahrhundert liefert wiederum die 1893 angelegte Mitglie­ derliste des homöopathischen Vereins Radevormwald einige Erkenntnisse. Bei 167 der insgesamt 220 Mitglieder, die in den ersten beiden Jahren in den Verein eingetreten sind, vermerkte der Schriftführer das jeweilige Geburtsjahr. 27 % von ihnen haben zum Zeitpunkt ihres Beitritts das 44. Lebensjahr er­ reicht oder waren jünger. 35 % der Mitglieder waren zwischen 24 und 33 Jahren alt. Vermutlich sind diese noch relativ jungen Männer bereits verheira­ tet gewesen und hatten damit Sorge zu tragen für die Gesundheit ihrer Fami­ lie. Eine Mitgliedschaft im homöopathischen Verein gab ihnen die Möglich­ keit, sich mit homöopathischen Arzneien selbst helfen und zumindest in leichten Fällen den Beistand eines teuren Arztes entbehren zu können. Ebenso hatten sie Anspruch auf die vom Verein angeschafften medizinischen oder krankenpflegerischen Utensilien wie etwa Klistiere oder Eisbeutel. 1870-1879 1% 1820-1829 2%

Mitglieder geboren zwischen: 1830-1839 12% 1860-1869 35%

1840-1849 13%

1850-1859 37%

Diagr. 5: Alterskohorten des homöopathischen Vereins Radevormwald 1893/94 (n=167).

Aus anderen homöopathischen Vereinen ist eine vergleichbare Liste mit ver­ merkten Geburtsdaten nicht überliefert. Insofern sind diese Daten nicht re­ präsentativ, sondern lediglich als Anhaltspunkt zu verstehen. Auch Eberhard Wolff lagen für die Zeit vor 1900 aus Heidenheim nur Mitgliederlisten mit

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

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Berufsangaben vor. Über das Durchschnittsalter der Laienhomöopathen konnte er lediglich für die Jahre 1943 und 1944 stichhaltige Aussagen tref­ fen.61 Demnach waren die Mitglieder um diese Zeit durchschnittlich zwischen 51 und 52 Jahren alt. Die unter dreißigjährigen Mitglieder kommen zusam­ men auf gerade einmal drei Prozent, wohingegen in den vier Alterskohorten der zwischen 30 und 70 Jahre alten Mitglieder des Vereins Heidenheim die Anteile zwischen 21 und 23 % schwanken. Die über Siebzigjährigen machen nur 11 % aller Mitglieder aus. Mit einiger Vorsicht lässt sich daraus schlussfol­ gern, dass die Mitglieder homöopathischer Laienvereine um 1900 signifikant jünger waren als in späteren Jahrzehnten. Der Prozess der schleichenden Überalterung der homöopathischen Laienbewegung hätte damit schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt. Berücksichtigt werden muss da­ bei allerdings, dass sich das prozentuale Verhältnis junger zu alten Menschen im selben Zeitraum beinahe umgekehrt hat. Während um 1900 ein starkes Bevölkerungswachstum für ein vergleichsweise niedriges Durchschnittsalter sorgte, bedingten der in den Sechziger Jahren einsetzende Geburtenrückgang sowie die gleichzeitig steigende Lebenserwartung die allmähliche Überalte­ rung der Gesellschaft.62 Der Anstieg des Durchschnittsalters innerhalb der homöopathischen Laienbewegung lässt sich deshalb – zumindest in Teilen – durch den demografischen Wandel erklären. Weitgehend unbekannt ist die Konfessionszugehörigkeit der Mitglieder homöopathischer Laienvereine. In den Versammlungen und Vorträgen klin­ gen während des gesamten Untersuchungszeitraums nur sehr selten religiöse Themen an. Das lag zum einen am säkularen Körperverständnis, das Krank­ heiten als sozial bedingt oder selbst verursacht begriff. Ob die Mitglieder die­ ses Verständnis teilten, sei dahingestellt. Auffallend ist jedoch, dass die Red­ ner und Vereinsführer – soweit aus den Quellen ersichtlich – religiös­spiritu­ elle Themen in ihren Vorträgen vermieden. Zum anderen blieb Religiöses aus dem einfachen Grund außen vor, dass viele Vereine die Besprechung explizit verboten.63 Laut Statuten64 durften religiöse und auch politische Angelegen­ heiten nicht zum Gegenstand von Diskussionen gemacht wurden, da solche Themen reichlich Anlass für Zwistigkeiten bieten konnten. Auch waren die Vereine gerade in ihrer Anfangsphase am Ende des 19. Jahrhunderts um von Geschlossen­ und Wissenschaftlichkeit bemüht, weswegen Streitereien und der Ruch von religiös motivierter Sektiererei unter allen Umständen vermie­ 61 Vgl. Wolff (1989), S. 99 f. Marion Baschin macht in ihrer Arbeit keine Angabe über die Altersstruktur in den homöopathischen Laienvereinen. 62 Zum demografischen Wandel in Deutschland siehe ausführlich: Horn (2007); Werz (2008); Heilemann (2010). Statistiken zu verschiedenen Aspekten der Bevölkerungsent­ wicklung sind online verfügbar unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen­und­ fakten/soziale­situation­in­deutschland/61531/be voelkerung (letzter Zugriff am 8. Sep­ tember 2016). 63 Wolff (1989), S. 101. 64 Die Statuten des Homöopathischen Vereins Göppingen hielten unter Paragraph 5 eigens fest: „Der Verein enthält sich aller Einmischung in politische, konfessionelle & kommu­ nale Angelegenheiten“ (vgl. IGM/Varia 225, 1. Mai 1887).

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

den werden mussten. Daran sollte sich auch im 20. Jahrhundert nur wenig ändern; allenfalls setzten in der religiösen Renaissance der 1950er Jahre ein­ zelne Referenten eine gesundheitsbewusste mit einer gottgefälligen Lebens­ weise gleich65 oder interpretierten den Verlust des Glaubens als Verlust des körperlichen­seelischen Ausgleichs, der anfällig mache für Laster und letztlich auch Erkrankungen.66 Ähnlich verhielt es sich mit politischen Diskussionen, deren Wiedergabe in den Protokollen Aufschluss über die Gesinnung der Mitglieder hätte geben können. Welche Parteien von den Laienhomöopathen gewählt wurden, ist ebenso wenig bekannt wie ihre Konfessionszugehörig­ keit.67 2.1.4 Motive für das Engagement in einem homöopathischen Laienverein Anhand des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials lässt sich kaum be­ stimmen, was die Mitglieder im Einzelnen dazu bewogen hat, sich einem homöopathischen Verein anzuschließen. Allenfalls Artikel in den homöopa­ thischen Zeitschriften vermitteln einen Eindruck über die persönlichen Be­ weggründe. In ihnen schildern die Laienhomöopathen, wie sie nach einer durchgestandenen Erkrankung den Weg zur Homöopathie gefunden haben. Solche Artikel müssen wegen ihrer Werbewirkung und mangelnden Authenti­ zität – die Redaktionsleitung bestimmte, welche Artikel mit welchem Inhalt zu welcher Zeit abgedruckt wurden – jedoch kritisch gelesen und interpretiert werden. Von den in diesen Artikeln beschriebenen Beweggründen umstands­ los auf die Motivation der Vereinsmitglieder zu schließen, griffe zu kurz. Aus den halboffiziellen Protokollen gehen die konkreten Motive für einen Vereins­ beitritt indessen noch weniger hervor. Wenn Neuaufnahmen im Protokoll fest­ gehalten worden sind, dann notierte der Schriftführer in aller Regel den Na­ men und den Beruf des neuen Mitglieds, seltener auch die Wohnadresse. Das individuelle Interesse am homöopathischen Verein wurde (wenn überhaupt) mündlich abgefragt, aber nicht ins Versammlungsprotokoll eingetragen. Man muss sie daher zwischen den Zeilen und im jeweiligen Kontext suchen. Auf eine derartige Spurensuche hat sich bereits Eberhard Wolff begeben. Er wollte wissen, ob die Mitglieder aus ideellen oder doch eher handfesten materiellen Gründen in den Homöopathischen Verein Heidenheim eingetreten sind.68 „Eine breite Palette von Hinweisen belegt“, so Wolff, dass letzteres der Fall 65 Dahingehend sprach sich etwa 1959 ein gewisser Dr. Rehm in einem in Stuttgart­Wangen gehaltenen Vortrag aus: „Altwerden ist ein Geschenk Gottes. Es unterliegt aber dem Grundsatz eines menschenwürdigen Lebens. Seelische Qualen bringen unweigerlich Schäden an der Gesundheit. Wie der Körper Nahrung braucht, so auch die Seele und der Geist. Die Gesetze Gottes werden offenbar, wenn wir uns darum bemühen und in Harmonie unserer Gesundheit dienen“ (IGM/Varia, 14. Februar 1959). 66 IGM/Varia 529, 5. Dezember 1978. 67 Zur parteipolitischen Verortung der Laienhomöopathen in Heidenheim siehe: Wolff (1989), S. 178–181. 68 Vgl. Wolff (1987), S. 78–80; Wolff (1989), S. 168–173.

2.1 Wer waren „die“ Laienhomöopathen?

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gewesen sein muss und „daß das ‚kollektive Bewußtsein‘ der Homöopathen ganz zentral von materiellen, ökonomischem Kalkül geprägt oder zumindest mitgestaltet war.“69 Zwar wurde die Vereinsleitung nicht müde, gegenüber den Mitgliedern die ideellen Motive und hehren Ziele ihres Engagements zu betonen und unentwegt darauf hinzuweisen, dass die Mitarbeit im Verein in erster Linie praktische Nächstenhilfe und Dienst am Menschen sei.70 An der Mehrheit der einfachen Mitglieder gingen diese ideellen Implikationen einer Vereinszugehörigkeit aber vorbei. Die Mitgliedschaft in einem homöopathi­ schen Verein bot den Arbeitern, Handwerkern und auch Bauern außerhalb der Städte eher die Möglichkeit, sich im Krankheitsfall selbst zu helfen. Es ist kein Zufall, dass sich viele homöopathische Vereine in industrialisierten Ge­ genden gründeten, wo viele Menschen lebten, die sich in den dort ansässigen Fabriken verdingten, dabei ihre Gesundheit und damit den Verlust ihrer Ar­ beitskraft und einen eklatanten Einkommensverlust riskierten. Diese Situation galt es tunlich zu vermeiden, war der Mann doch der Hauptversorger seiner Familie; sein Ausfall konnte leicht das Abdriften in die völlige Mittellosigkeit bedeuten.71 Auch konnte man sich den Weg zum und die Kosten für den Arzt sparen. Dass letztere beträchtlich sein konnten, geht 1893 aus dem Protokoll des Homöopathischen Vereins Stuttgart­Wangen hervor. Der Schriftführer hielt darin fest, „daß vor Beginn der Versammlung ein Mitglied constatiert habe, daß ehe er unserem Verein angehört habe, in einem Jahr Doktorrech­ nungen bis zur Höhe von 80 Mark erhalten habe und seit derselbe Mitglied und Homöopath ist auf dieselbe so ziemlich verzichten könne.“72 Darüber hinaus waren mit einer Vereinsmitgliedschaft noch weitere finanzielle Vorteile verbunden, etwa das kostengünstige Ausleihen von Ratgeberliteratur oder der Bezug von verbilligten Arzneimitteln, diversen medizinischen Utensilien oder vergünstigten Eintrittskarten für die öffentlichen Badeanstalten.73 Diese finan­ ziellen wie materiellen Vorzüge gaben den Ausschlag für einen Vereinsbeitritt, nicht oder nicht ausschließlich ideelle Motive. Ging die Kosten­Nutzen­Rech­ nung nicht mehr auf, etwa nach Beitragserhöhungen oder Wegfall der ökono­ mischen Vorzüge, war es mit der Treue der Mitglieder nicht mehr allzu weit her. Etliche Mitglieder, die sich primär am persönlichen Nutzen einer Ver­ einsmitgliedschaft orientierten, hatten dann ganz offensichtlich keine Prob­ leme, dem Verein den Rücken zu kehren.74 Für diese These spricht auch, dass die Mitgliederzahlen immer dann sprunghaft anstiegen oder zumindest einen signifikanten Zuwachs erfuhren, wenn im Ort oder der näheren Umgebung Epidemien ausbrachen. Als 1895 im württembergischen Rohracker eine „choleraartige Krankheit“ wütete, war „infolgedessen [sic] der Zuspruch der 69 70 71 72

Wolff (1989), S. 170. Wolff (1989), S. 169; Baschin (2012), S. 225. Vgl. Herrmann (1990), S. 196. IGM/Varia 371, 26. November 1893. Dass Kostenersparnis auch ein zentrales Motiv für die Mitgliedschaft in einem Naturheilverein (vor allem für Arbeiter) war, konstatiert auch: Regin (1995), S. 92–93. 73 Wolff (1989), S. 172 f. 74 Wolff (1989) S. 89, 171.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Arzneimittel ein sehr bedeutender“75 Ein Jahr später hatte sich die Zahl der organisierten Laienhomöopathen auf 100 verdoppelt, sank danach aber bis zur Auflösung des Vereins 1909 kontinuierlich ab.76 Das Interesse am Verein und seinen Veranstaltungen ging nach der Eindämmung der epidemischen Krankheit spürbar zurück, woran auch die angeschafften Utensilien (eine Ba­ dewanne, ein Perimeter und sogar zwei Dampfinhalationsapparate) nichts än­ dern konnten. Auch sonst scheint das fortwährende Beschwören der guten Sache bei vielen Mitgliedern auf taube Ohren gestoßen zu sein. Die vielerorts zu vernehmenden Klagen der Vereinsleiter, dass die Beteiligung der Mitglie­ der an den regelmäßigen Versammlungen zu wünschen übrig ließe und man bloß Mitglieder in Krankheitsfällen hätte77, lässt jedenfalls darauf schließen, dass es längst nicht alle Mitglieder ernst meinten mit der Homöopathie und ihrem Engagement im Verein. Bei den Versammlungen ohne Vortrag oder praktische Vor­ oder Ausführungen ließ sich nur ein Bruchteil der Mitglieder sehen, was wiederum mehr für Passivität und Pragmatismus denn für Idealis­ mus und Einsatzbereitschaft spricht. 2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine In den vorangehenden Kapiteln ging es darum, wer gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts in einen homöopathischen Verein eingetreten ist, welcher Sozial­ schicht die Mitglieder respektive Laien angehörten und mit welchen Motiven sie dem Verein beigetreten sind. Nun wendet sich der Blick der spezifischen Organisationsform der homöopathischen Vereine und Verbände zu.78 Auffal­ lend ist, dass ihr formaler Aufbau und ihr Programm nahezu identisch sind, ganz unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl bzw. Vereinsgröße. So setzten alle Laienvereine ähnlich lautende Statuten auf, die den eigentlichen Zweck des Vereins und die Beitragshöhe bestimmten, die Rechte und Pflich­ ten der Mitglieder regelten und die Art und Weise der Vereinsführung festleg­ ten. Zentraler Bestandteil eines jeden homöopathischen Vereins war demnach der aus mehreren, meist zwischen sechs und acht, Mitgliedern bestehende Ausschuss oder Gesamtvorstand.79 Im gehörten zunächst der Vereinsvorsit­ zende an, dem zugleich die Geschäftsführung und Repräsentation nach au­ ßen oblagen. Auch leitete er die Quartals­, Monats­ oder Generalversammlun­ gen, stattete den Mitgliedern Bericht über die Angelegenheiten des Vereins, 75 IGM/Varia 72, 1895 (undatiert). 76 1910 wurde der Verein dann unter der Führung von Emil Ohnmeiß neugegründet. Ihm gelang es, ein abwechslungsreiches Angebot zu etablieren, dass die Attraktivität des Ver­ eins derart zu steigern vermochte, dass in ihm nur wenige Jahre nach der Wiedergrün­ dung ein Drittel der Dorfbevölkerung organisiert waren. 77 IGM/Varia 68, 11. April 1908; vgl. Baschin (2012), S. 228. 78 Zur Organisation des Verein Heidenheim siehe: Wolff (1989), S. 80–84. 79 In den Statuten und Protokollbüchern tauchen beide Begriffe in synonymer Verwendung auf. Um den Lesefluss zu erleichtern, wird daher im Folgenden nur von Ausschüssen die Rede sein.

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

61

der homöopathischen Verbände sowie der Homöopathie im Allgemeinen ab und nahm Aufnahme­ und Austrittsgesuche entgegen.80 Dem Vorsitzenden zur Seite standen die übrigen Ausschussmitglieder, deren Aufgaben in erster Linie die Schrift­ und Kassenführung waren. Darüber hinaus amtierten in den meisten Vereinsausschüssen, manchmal sogar in Personalunion, eigens Biblio­ theken­ und Apothekenverwalter. Letztere verwahrten die vereinseigenen Arzneimittel in aller Regel in ihrer Wohnung auf und waren befugt, um Hilfe bittenden Mitgliedern gegen Vorlage ihres Mitgliedsausweises die entsprechen­ den Mittel zu auszuhändigen.81 Gewählt wurden die einzelnen Ausschussmit­ glieder von der Generalversammlung. Die Dauer ihrer Amtszeit richtete sich nach einem Rotationsprinzip. So bestimmten etwa die Statuten des Ronsdor­ fer Vereins, dass jedes Jahr „ein Drittel der Gewählten aus[scheidet]; die bei­ den ersten Jahre durch’s Loos, später nach dem Dienstalter. Die Ausscheiden­ den sind wieder wählbar.“82 Im württembergischen Göppingen und Heiden­ heim wechselte alljährlich die Hälfte des aus acht Mitgliedern bestehenden Ausschusses.83 Gewährleistet werden sollte mit diesem Verfahren, dass die Vereine nicht ständig einen komplett neuen Ausschuss wählen mussten und Erfahrungen in Sachen Vereinsführung leichter an Nachzöglinge weiterge­ reicht werden konnten. Der wesentliche Zweck des Vereinsausschusses bestand indessen in der vorbereitenden Besprechung verschiedener, das Vereinsleben und seine Ge­ staltung betreffende Fragen. So traten die Mitglieder je nach Wortlaut der Satzungen im Frühling und Spätsommer zusammen, um das konkrete Ver­ einsprogramm für die kommenden Monate zu bestimmen. Die vorläufigen Ergebnisse, die einer Beschlussfassung der Generalversammlung bedurften (etwa eine geplante Beitragserhöhung), wurden selbiger anschließend unter­ breitet und zur Abstimmung gebracht. Umgekehrt übertrugen die Mitglieder dem Ausschuss in weniger relevanten Teilbereichen uneingeschränkte Voll­ machten. Dass beispielsweise für die Bibliothek Nachschlagewerke oder für die Vereinsapotheke Arzneimittel angeschafft werden sollten, beschloss die einfache Mehrheit der Mitglieder nach zuvor gestellten Anträgen. Um welche Bücher oder Medikamente es sich aber im Einzelnen handelte, entschieden die Ausschussmitglieder. Verpflichtet waren die Ausschussmitglieder darüber hinaus zur pünktlichen und regelmäßigen Teilnahme an den Sitzungen. Man­ che Vereine erhoben deshalb kleinere Geldstrafen bei unentschuldigtem Fern­ bleiben, da das die Beschlussfähigkeit beeinträchtigte. Aus Reutlingen ist bei­ spielsweise bekannt, dass Mitglieder des Ausschusses 10 Pfennige zu entrich­ ten hatten, wenn sie sich verspäteten und die doppelte Summe, wenn sie ohne triftigen Grund nicht erschienen.84

80 81 82 83 84

Wolff (1989), S. 80. Zu den Vereinsapotheken siehe ausführlich: Baschin (2012), S. 245–272; Wolff (1996). StA Wuppertal P III 228. IGM/Varia 225, 1. Mai 1887; Wolff (1989), S. 81. IGM/Varia 483, 17. Januar 1902.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Besondere organisatorische Angelegenheiten, die zwar mit dem Verein in direkter Beziehung standen, dennoch nicht der Aufmerksamkeit des gesam­ ten Ausschusses bedurften, erledigten nur wenige Mitglieder zählende Kom­ missionen. Einer der wichtigsten Verhandlungsgegenstände war die von den allermeisten Vereinen mit Nachdruck verfolgte Anstellung eines homöopathi­ schen Arztes.85 Die damit beauftragen Mitglieder formulierten dann die Zei­ tungsannonce, nahmen Kontakt zu potentiellen Ärzten auf, handelten die nä­ heren Modalitäten ihrer Übersiedlung aus und informierten nicht zuletzt das Plenum vom Fortgang der Gespräche. Dass Kommissionen von der Vereins­ führung auch mit anderen Themen betraut wurden, geht gleich mehrfach aus den Protokollen der Vereins Reutlingen hervor: Während 1898 eine Kommis­ sion den Bezug qualitativ hochwertiger Arzneimittel gewährleistete, regelte eine zweite einige Jahre später die Ausgabe der Darlehen­ oder Anteilsscheine, mit deren Hilfe die Hahnemannia 1911 einen geplanten Krankenhausbau verwirklichen wollte.86 Und als der Verein zu Beginn des Ersten Weltkriegs „Liebesgaben“ an seine im Feld stehenden Mitglieder zu versenden gedachte, kümmerte sich erneut eine mehrköpfige Kommission um Organisation und Logistik.87 Die Arbeit des Vorsitzenden und der Ausschuss­ bzw. Kommissionsmit­ glieder war zweifelsohne wichtig. Es sind jedoch die regelmäßigen Versamm­ lungen gewesen, die einen homöopathischen Verein mit Leben füllten.88 Den Auftakt eines Vereinsjahrs machte in Friedenszeiten die im Januar oder Feb­ ruar abgehaltene Generalversammlung.89 Annoncen in den Lokalzeitungen informierten die Vereins­ und Gemeindemitglieder über deren genaues Da­ tum, den Ort sowie die anstehende Tagesordnung. Zu Beginn der Generalver­ sammlung begrüßte üblicherweise der erste Vorsitzende die erschienenen Mitglieder, dankte ihnen für ihr zahlreiches Erscheinen oder rügte bei einer überschaubaren Zahl von Teilnehmern das Desinteresse der Ferngebliebenen. Der Begrüßung folgte der Bericht des Vorsitzenden über die Vereinsaktivitä­ ten des verflossenen Jahres. Daraufhin wurde das Wort an den Vereinskassie­ rer übergeben, der den Mitgliedern die Finanzsituation des Vereins auseinan­ dersetzte und über die im vergangenen Jahr angefallenen Ein­ und Ausnah­ men aufklärte. Die Richtigkeit seiner Angaben verifizierten die beiden aus der Mitte der Mitglieder gewählten Kassenrevisoren. Selten mussten sie Unstim­ migkeiten bei der Rechnungsführung feststellen, die der Kassier aber in aller 85 Wolff (1989), S. 81. 86 IGM/Varia 483, 18. Juli 1911; die Hahnemannia forderte die homöopathischen Laien­ vereine schon 1901 zur finanziellen Unterstützung eines geplanten Krankenhauses auf, was in Reutlingen aber zurückgestellt wurde, da nicht klar war, ob ein­ oder mehrmalige Beträge gezahlt werden sollen (vgl. IGM/Varia 483, 21. November 1901). 87 IGM/Varia 484, 7. November 1914. 88 Vgl. Baschin (2012), S. 236. 89 Eine seltene Ausnahme stellten die außerordentlichen Generalversammlungen dar, die bei entsprechenden Krisen „unter Angabe der zu verhandelnden Gegenstände durch den Vorstand zu jeder Zeit berufen werden“ konnten (vgl. StA Wuppertal P III 228, Ver­ einsstatut).

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

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Regel aufklären konnte. Nur in einem einzigen Fall zogen Unregelmäßigkei­ ten bei der Kassenführung Konsequenzen nach sich: 1894, ein Jahr nach der Gründung des Vereins Reutlingen, enthob die absolute Mehrheit der Mitglie­ der den Vorsitzenden Laienpraktiker Riedel seines Amtes, nachdem bekannt geworden war, dass er eigenmächtig Aufnahmen entgegennahm und somit die anfallenden Beitrittsgelder veruntreute.90 Die Tatsache, dass die Kasse in allen Vereinen ordnungsgemäß geführt und Verfehlungen sofort geahndet wurden, spricht für das Streben nach Seriosität und Rechtschaffenheit. Damit sollten sowohl innere Konflikte vermieden als auch den Gegnern keine zusätz­ liche Angriffsfläche geboten werden. Nach erfolgtem Jahres­ und Kassenbericht schritten die Mitglieder turnus­ gemäß zur Neuwahl der zuvor ausgeschiedenen Ausschussmitglieder sowie des Vorstandes. Während letzterer oftmals über Jahrzehnte hinweg das Ver­ trauen der Mitglieder genoss, bekundeten die Ausschussmitglieder regelmä­ ßig, dass von ihrer Wiederwahl doch abgesehen werden möge. Die Gründe für eine Ablehnung waren oft privater Natur, denn die Organisation des Ver­ einslebens verlangte zeitliche Verfügbarkeit und, angesichts der überschauba­ ren Teilnehmerzahlen, auch nach Frustrationstoleranz und einem hohen Grad an Idealismus.91 Dennoch blieb das Intervenieren meist ohne Erfolg. Die Mehrzahl der Ausschussmitglieder konnten umgestimmt bzw. zu einer akti­ ven Weiterarbeit animiert werden.92 War neben der Besprechung des Jahres­ und Kassenberichts auch diese formale Angelegenheit erledigt, schritten die Laienhomöopathen zur Bespre­ chung von „Verschiedenem“. Der Vorsitzende oder andere dazu Berufene set­ zen die anwesenden Mitglieder über allgemeine Entwicklungen auf dem Ge­ biet der Homöopathie und der Laienbewegung in Kenntnis oder brachten geplante Anschaffungen oder Veranstaltungen zur Sprache, was nicht selten in einer ausführlichen Diskussion mündete. Wichtigster Bestandteil einer Ge­ neralversammlung war die Verhandlung der Mitgliederanträge, die ebenfalls zur Rubrik „Verschiedenes“ gehörte. Von Verein zu Verein verschiedentlich gehandhabt93, war das Recht der Mitglieder auf Mitbestimmung des Vereins­ lebens nahezu in allen Statuten verbrieft.94 Die Anträge konnten von ganz 90 IGM/Varia 482, 12. August 1894. 91 In mehreren Protokollbüchern ist die Klage der Vereinsausschüsse zu lesen, dass ihnen die mangelnde Beteiligung der Mitglieder bei Vorträgen die Arbeit schwer machen würde. Denn Referenten zu gewinnen sei vor allem dann schwierig, wenn sie statt ei­ ner großen Zuhörerzahl nur leere Tische erwarten (vgl. beispielsweise IGM/Varia 483, 11. Dezember 1903). 92 Für Heidenheim ermittelt: Wolff (1989), S. 81, eine durchschnittliche Amtszeit der Aus­ schussmitglieder von etwa 10 Jahren. 93 Manche Vereine gaben ihren Mitgliedern im Rahmen der Versammlungen die Möglich­ keit Anträge zu stellen. Verhandelt und im positiven wie negativen Sinne beschlossen wurden sie aber vom Gesamtausschuss unter vorheriger Anhörung des Antragstellers. Andernorts wagte man mehr Demokratie, indem nicht der Ausschuss, sondern alle bei einer Versammlung anwesenden Mitglieder zur Abstimmung befugt waren. 94 Kein entsprechender Paragraph, der den Mitgliedern Mitbestimmung garantierte, findet sich lediglich in den Statuten des Vereins Ronsdorf von 1877. Gut möglich, dass er zu

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verschiedener Natur sein und Mitgliederwünsche, etwa nach mehr geselligen Veranstaltungen oder bestimmten Anschaffungen, ebenso zum Ausdruck bringen wie Kritik an der Vereinsführung und allgemeine Anregungen. Unter letzteres fiele beispielsweise der aufschlussreiche Antrag mehrerer Mitglieder in Nagold. Sie forderten, den Namen ihres Vereins mit dem Zusatz „Gesund­ heitspflege“ oder „Naturheilverfahren“ zu versehen, um dadurch ein breites Publikum anzusprechen und den Wirkungskreis des Vereins zu erhöhen. Nach ausgiebiger Debatte entschied sich die Mehrheit jedoch gegen diesen Vorschlag, da eine Verwässerung der Homöopathie befürchtet wurde.95 Um das kostspielige Vereinsangebot (Vortragsredner, Aufbau von Biblio­ theken und Apotheken) finanzieren zu können, erhoben die homöopathi­ schen Laienvereine gemäß ihrer Statuten ein Beitrittsgeld sowie Jahresbei­ träge. Deren Höhe war von Verein zu Verein leicht unterschiedlich, pendelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber zwischen zwei und drei Mark ein. Obgleich Kaufkraftvergleiche mit Vorsicht zu genießen sind, entsprach der Mitgliedsbeitrag für ein Jahr in etwa dem Tageslohn eines Arbeiters. Neben der Höhe der Beiträge variierten von Verein zu Verein auch die Beitragsmodalitäten: Manche Vereine verpflichteten ihre Mitglieder zur per­ sönlichen Entrichtung der Beiträge im Rahmen der monatlichen Versamm­ lungen, anderen hingegen genügte eine viertel­ oder gar halbjährliche Beglei­ chung der Verbindlichkeiten. Für eine halbjährliche Vorauszahlung des Jah­ resbeitrag (1,20 Mark) entschieden sich Ende 1891 immerhin 90 Mitglieder des Göppinger Vereins, was auf eine solide Zahlungsfähigkeit und ­moral schließen lässt. Besser noch als das zweimalige Kassieren des halben war die einmalige Vorauszahlung des gesamten Jahresbeitrags: Die Vereinsleitung er­ sparte sich damit einerseits den nötigen logistischen und organisatorischen Aufwand und konnte andererseits bereits zu Beginn des Vereinsjahres mit dem im Voraus entrichteten Einnahmen wirtschaften. Der Göppinger Verein gewährte seinen Mitgliedern deshalb als Anreiz einen Rabatt von 40 Pfenni­ gen auf den normalen Jahresbeitrag in Höhe von 2,40 Mark. Um den homöopathischen Vereinen beitreten zu können, mussten Inte­ ressierte in der Regel etwa 25 Pfennige entrichten, was um 1900 einem Mo­ natsbeitrag entsprach. Vereine, deren Mitglieder ihren finanziellen Verpflich­ tungen nicht bei den regelmäßig stattfindenden Versammlungen nachkom­ men mussten, engagierten zumeist einen eigenen Vereinsdiener, der von Haus zu Haus ging und die Gelder einkassierte.96 Zugleich oblag ihm das monatli­ che Austragen der Vereinsblätter und Veranstaltungseinladungen, was hin

einem späteren Zeitpunkt noch beigefügt oder die Antragsstellung auch ohne rechtliche Grundlage praktiziert wurde (vgl. StA Wuppertal P III 228). 95 IGM/Varia 419, 2. Mai 1894. 96 In Göppingen besorgte diese Aufgabe der Sohn des Kassiers gegen ein Entgelt von mo­ natlich 40 Pfennigen. Eine Mitgliedschaft im Verein schlug hingegen mit nur 20 Pfenni­ gen zu Buche (IGM/Varia 225, 12. August 1883).

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und wieder von Söhnen oder Töchtern der Vereins­ bzw. Vorstandsmitglieder oder, im Falle Göppingens, von Schülern besorgt werden konnte.97 Die Höhe der Vereinsbeiträge war indessen nicht in Stein gemeißelt, son­ dern „richtet[e] sich nach den Bedürfnissen des Vereins“98. Abhängig waren sie zudem von den ökonomischen Entwicklungen des jeweiligen Landesver­ bands, dem die einzelnen Vereine angeschlossen waren. Erhöhte dieser sei­ nen Beitragssatz, mussten jene wohl oder übel mitziehen und die Mehrkosten auf die Vereinsmitglieder umlegen. Eine wesentliche Rolle spielte bei der Bei­ tragsentwicklung in Württemberg auch das Abonnement der von der Hahne­ mannia herausgegebenen und über den Verbandsbeitrag mitfinanzierten Homöopathischen Monatsblätter. Änderte sich deren Preis, beispielsweise infolge gestiegener Papierkosten, musste zwangsläufig auch der Mitgliedsbeitrag an­ gepasst werden. Eine Erhöhung der vereinsinternen Beiträge hingegen ging meist auf rote Zahlen oder kostspielige Projekte wie die dauerhafte Bindung eines homöopathischen Arztes zurück: Der Göppinger Verein beispielsweise machte Ende 1886 per Zeitungsannoncen auf die vakante homöopathische Arztstelle aufmerksam. Tatsächlich siedelte bald darauf ein gewisser Dr. Gloß aus Neu­Ulm über, freilich erst nach der Zusicherung seiner finanziellen Un­ terstützung durch den Verein. Die Laienhomöopathen verpflichteten sich, die Hälfte der Miet­, Heiz­ und Stromkosten des Arztes zu übernehmen; mit der Konsequenz, dass das Vereinsbudget bereits im Folgejahr ein Defizit von 109  Mark aufwies. Man beschloss deshalb, die Aufnahmegebühr für neue Mitglieder auf 50 Pfennig anzuheben und dem Arzt nicht länger Gelder zu­ kommen zu lassen.99 Der umgekehrte Fall, die Senkung der Mitgliedsbeiträge, war zwar unüb­ lich, aber nicht völlig ausgeschlossen: Der Vorstand des Vereins Radevorm­ wald beschloss 1902 aufgrund der günstigen Geschäftslage, den Mitgliedsbei­ trag von bisher 2 auf 1 Mark herabzusetzen. Ein Jahr später korrigierte man den Beitrag abermals nach unten, er betrug fortan nur noch 60 Pfennig.100 Gleichzeitig wurde Armen und Mittellosen eine kostenfreie Vereinsmitglied­ schaft gewährt, was zusammen mit dem niedrigen Jahresbeitrag die Mitglie­ derzahlen binnen kürzester Zeit in die Höhe schnellen ließ. Zu solchen finan­ ziellen Zugeständnissen in der Lage waren die Laienhomöopathen in Rade­ vormwald aufgrund ihrer Gewinne, die sie mit dem Verkauf von Medikamen­ ten an ihre Mitglieder erzielten. Nicht unerwähnt soll allerdings bleiben, dass der Vereinsvorstand es versäumte, die erwirtschafteten Summen in den Auf­ bau eines vielfältigen Vereinsangebots zu investieren. Denn als der Verkauf von Medikamenten 1911 durch das Oberlandesgericht Düsseldorf verboten wurde, brach die alternativlose Geschäfts­ und Existenzgrundlage des Vereins in sich zusammen, was seinen allmählichen Untergang einläutete.

97 98 99 100

IGM/Varia 225, 10. Januar 1892. StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55. IGM/Varia 225, Protokolle 1886 bis 1890. StA Radevormwald, Kasten 6 / Akte Nr. 1, 16. Februar 1902, 8. Februar 1903.

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War eine Erhöhung der Mitgliedsbeiträge hingegen unausweichlich, be­ riet der Vorstand in Ausschusssitzungen zunächst über den Mindestaufschlag, mit dem die gestiegenen Kosten gedeckt werden konnten. In der Generalver­ sammlung wurde der Vorschlag dann den Mitgliedern unterbreitet, die in al­ ler Regel nach langer und zäher Diskussion darüber abstimmten. Die Korrek­ tur des Beitrags nach oben war allerdings das letzte Mittel, um den Haushalt zu sanieren, da es die Mitglieder zu vergraulen drohte.101 Als etwa die Hahne­ mannia 1910 neben dem bisher zu entrichtenden Verbandsbeitrag von den Vereinen auch noch eine Kopfsteuer wegen der Anstellung eines Sekretärs kassieren wollte, widersetzte sich der Verein Nagold mit dem Einwand, dass in „unserer an Vereinen überreichen Zeit, in der jeder Einzelne durch Ver­ einsbeiträge aller Art schwer belastet ist, die Mitgliederzahl bedeutend abneh­ men würde“102. Wohl deshalb setzte man in Göppingen trotz des beträchtli­ chen Defizits lieber auf die Anhebung der Aufnahmegebühr, statt den treuen Mitgliedern höhere Kosten aufzubürden. Eine praktikablere und mitglieder­ freundlichere Möglichkeit um an Geld zu kommen war stattdessen, bei öffent­ lichen Vorträgen Eintrittsgelder von Nichtmitgliedern103 zu verlangen oder anschließend eine Tellersammlung zu veranstalten, was beides auch gerne und oft getan wurde. Im Allgemeinen ist den jährlichen Bilanzen bzw. Kassenbüchern zu ent­ nehmen, dass die Vereine es verstanden, sparsam und geschickt zu wirtschaf­ ten. Die auf den ersten Blick recht niedrigen Jahresbeiträge summierten sich je nach Größe des Vereins zu einem mitunter stattlichen Betrag, der in aller Regel ausreichte, um Vorträge zu finanzieren, diverse Gegenstände anschaf­ fen oder den Mitgliedern vergünstigte Eintrittskarten für die städtischen Bä­ der anzubieten. Auch kam man für Blumenkränze auf, mit denen man ver­ storbenen Mitgliedern die letzte Ehre erwies oder spendete aus der Vereins­ kasse kleinere Beträge an die Hinterbliebenen. In manchen Fällen bewilligte die Generalversammlung als Anerkennung der Mühen auch Geschenke104 für den gesamten Vorstand oder den Vorsitzenden. Dass einige wenige Ver­ eine über eine enorme Finanzkraft verfügen mussten, zeigt sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Der mitglieder­ und damit vermögensstarke Verein Ra­ devormwald spendete im August 1914 dem Vaterländischen Frauenverein sowie dem Roten Kreuz beachtliche 1.000 Mark. Erneut zum Ausdruck brachten die Laienhomöopathen ihre „recht patriotische Gesinnung“ gerade einmal zwei Monate später, indem sie die aus Radevormwald stammenden Soldaten bzw. ihre Familien mit abermals 1000 Mark bedachten. Zusätzlich wurden für die Ausmarschierten des eigenen Vereins und deren Angehörige 101 Wolff (1989), S. 171. 102 IGM/Varia 419, 21. Februar 1910. 103 Der Vorschlag, bei Vorträgen auch von den Mitgliedern ein Eintrittsgeld in Höhe von 30 Pfennigen zu verlangen, fand im September 1895 vehementen Widerspruch. Stattdes­ sen einigte man sich darauf, freiwillige Spenden zu erheben oder Tellersammlungen zu veranstalten (IGM/Varia 482 14. September 1895). 104 IGM/Varia 68, 18. Januar 1914.

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noch einmal 500 Mark bewilligt und Liebesgaben gesammelt. Auch zeichne­ ten die Homöopathen in Radevormwald mindestens zweimal Kriegsanleihen in Höhe von jeweils 1.000 Mark.105 Im Protokollbuch finden sich keine Ein­ träge, die direkt oder indirekt darauf schließen lassen, dass der Verein hätte Kredite aufnehmen müssen, um diese stattlichen Summen stemmen zu kön­ nen. Stattdessen ist davon auszugehen, dass ihm sein spezifisches Geschäfts­ modell ein entsprechendes Grundkapitel einbrachte. Der Verein hatte – abge­ sehen von der Anschaffung einiger Broschüren und Utensilien – so gut wie keine Ausgaben, konnte die Jahresbeiträge und die Gewinne also verzinst zur Seite legen. Doch nicht nur die Mitglieder des Vereins Radevormwald taten sich mit der Spende großer Summen bei Ausbruch und während des Krieges hervor. Auch in Württemberg flossen die Gelder, hauptsächlich an das von der Hahnemannia unterhaltene homöopathische Lazarett in der Stuttgarter Friedrichstraße.106 Finanzielle Zuwendung erfuhr es neben vielen weiteren Vereinen auch von den Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen, die im Laufe des Krieges insgesamt 230 Mark beisteuerten. In nichts standen ihnen die Laienhomöopathen in Reutlingen nach: Ihr Verein entnahm der Vereinskasse für das Lazarett im Laufe des Krieges mindestens 400 Mark und initiierte eine Sammlung, die noch einmal 87,50 Mark einbrachte.107 Darüber hinaus leiste­ ten die Vereinsmitglieder großzügige Sachspenden in Form von Wäsche oder Lebensmitteln, die 1914 vom Vorstand persönlich nach Stuttgart gebracht wurden. Auch die Orte und Zeiten, an und in denen sich das Vereinsgeschehen im Wesentlichen abspielte, sind interessant: Zu nennen wären zunächst die Räumlichkeiten, die zur Abhaltung der Mitgliederversammlungen bestimmt wurden. Auskunft erteilt hierüber die Liste der dem sächsischen Landesverein angeschlossenen Zweigvereine: Von den insgesamt 102 bis 1913 aufgenom­ menen Vereinen hielten, bis auf eine „unbestimmt“ lautende Angabe, alle Vereine ihre monatlichen oder vierteljährlichen Zusammenkünfte entweder in einem Hotel, einem Restaurant oder einem Gasthof ab, von denen einer den bezeichnenden Namen „Bierpalast“ (Bautzen) trug.108 Die meisten Ver­ eine des ausgehenden 19. Jahrhunderts verfügten noch über kein eigenes Ver­ einsheim, das ihre Versammlungen und Veranstaltungen hätte beherbergen können. Naheliegend war, auf die örtliche Gastronomie auszuweichen, denn die Gastwirtschaften verfügten in aller Regel über einen separierten, beheiz­ baren und nicht zuletzt entsprechend großen Saal. Hinzu kam der erwünschte Nebeneffekt, dass die Mitglieder, während sie einem Vortrag folgten oder über die Vereinsgeschäfte debattierten, nicht „auf dem Trockenen saßen“. Umgekehrt profitierten auch die Gastwirte davon, dass sie den homöopathi­ 105 106 107 108

Vgl. StA Radevormwald, Kasten 6 / Akte 1, Protokolle 1914 bis 1916. Zum Lazarett siehe ausführlich: Eisele (2011). IGM/Varia 483, Protokolle 1914 bis 1918. Vgl. DHMD/L 1998/51. Der Verein Reutlingen hielt seine Versammlungen und Treffen ab 1919 in der Gastwirtschaft „Zur Bierhalle“ ab, deren Inhaber ein Mitglied des Vereins war (IGM/Varia 484, 27. November 1919).

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schen Vereinen eine Heimat boten, versprach ihre regelmäßige Anwesenheit doch ein einträgliches Geschäft. Im Falle Stuttgart­Wangens ist sogar belegt, dass Wirte sich zuweilen als Förderer und Starthelfer noch junger Vereine verdient machten. Als die Mitglieder im Mai 1888 im Rahmen einer Ver­ sammlung beschlossen, sich ebenfalls eine homöopathische Vereinsapotheke anschaffen zu wollen, half der dortige Löwenwirt ihrem Vorhaben mit 50 Mark auf die Sprünge.109 Auch wenn über die genauen Modalitäten, vor allem über die Rückzahlung, nichts in den Protokollen steht, dürfte doch sehr wahr­ scheinlich davon auszugehen sein, dass der Verein dem Löwenwirt aufgrund seiner Unterstützung die Treue hielten. Für Wirte lukrativ konnte auch die bloße Vereinszugehörigkeit sein: Nachdem sich der homöopathische Verein zu Fellbach die ersten zwei Jahre seines Bestehens bei August Pfander im Kernenturm traf, verlegte man den Ort der Versammlungen ins Gasthaus zur Linde. Laut Protokoll entschied man sich nur deshalb gegen Pfander, weil dieser im Gegensatz zum Lindenwirt kein Vereinsmitglied war und sich auch nicht zu einem Beitritt bereitfinden wollte.110 Über die Zeiten, die von der Vereinsleitung zur Abhaltung der regelmäßi­ gen Versammlungen bestimmt wurden, gewährt abermals Liste mit den säch­ sischen Zweigvereinen einigen Aufschluss: Von den 73 Vereinen, bei denen verwertbare Angaben gemacht worden sind111, hielten 27 ihre fast ausschließ­ lich monatlichen Treffen an einem Werktag ab. Die Präferenz eines bestimm­ ten Tags ist nicht zu erkennen, Dienstage waren ebenso beliebt wie Donners­ tage, Mittwoche oder Freitage. Einzig an Montagen versammelten sich nur drei Laienvereine. Die knappe Mehrzahl der Vereine (28) hingegen be­ stimmte, wohl in Absprache mit den Mitgliedern, die bei Nichtgefallen auf Änderungen pochten112, die Versammlungen einmal monatlich an einem Samstagabend abzuhalten. Für die Mehrzahl der Mitglieder ging am Samstag­ nachmittag die Arbeitswoche zu Ende, die kurze Zeit des Abschaltens und der Erholung brach an. Die Vereinsversammlung werden demnach einen will­ kommene Anlass geboten haben, um sich einerseits in Geselligkeit zu bege­ ben, sich andererseits aber auch mit dem eigenen Körper zu beschäftigen. Der Sonntag hingegen war weder der Arbeit noch der eigenen Person oder Freizeit, sondern der Familie und dem gemeinsamen Müßiggang vorbehalten. 109 IGM/Varia 370, Mai 1888 (kein genaues Datum angegeben). 110 IGM/Varia 68, 14. Oktober 1907. Die Laienhomöopathen schienen zwar gern gesehene Gäste der Gastwirtschaften gewesen zu sein, standen zugleich aber nur an zweiter Stelle: In Reutlingen mussten sie zweimal auf ihr regelmäßiges Treffen verzichten, weil der hie­ sige Bürgerverein sein traditionelles Gänseessen (1895) und der Turnverein des Achalm­ gaus eine Gauversammlung (1898) abhielten (vgl. IGM/Varia 482, November 1895 (un­ datiert) und 17. April 1898). 111 Bei vier von insgesamt 102 Zweigvereinen blieb das Feld „Vereins­Abend“ leer, bei weite­ ren 26 ist es mit „unbestimmt“ ausgefüllt worden. 112 Die Laienhomöopathen in Reutlingen trafen sich zunächst regelmäßig am ersten Sonn­ tag des Monats. Schon ein Jahr nach der Gründung äußerte ein Mitglied jedoch den Wunsch, man möge die Versammlung auf einen Samstag legen. Seinem Antrag wurde allgemein zugestimmt (IGM/Varia 482, 6. Mai 1894).

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Insofern verwundert es nicht, dass lediglich 18 Laienvereine ihre Versamm­ lungen auf diesen Wochentag legten. Wegen der konstant schlechten Beteiligung der Mitglieder an den Ver­ sammlungen gingen manche Vereine dazu über, statt Monats­ nur noch Quar­ talsversammlungen einzuberufen. Ein Beispiel von vielen ist der Verein Reut­ lingen: 1899, sechs Jahre nach der Gründung, stellte das Ausschussmitglied Schmolz im Rahmen der jährlichen Generalversammlung den Antrag, dass die Vereinstreffen wegen des unbefriedigenden Besuchs künftig nur noch alle drei Monate stattfinden sollen. Nach kurzer Beratung stimmten die Mitglieder seinem Antrag zu – allerdings mit der Einschränkung, dass in der Zwischen­ zeit einzelne Erörterungsabende113 abgehalten werden, um das völlige Erlah­ men des Vereinsinteresses zu verhindern.114 Über die konkreten Zustände, die während der Monats­, Quartals­ oder Jahresversammlungen geherrscht haben, vermittelt am ehesten der Heiden­ heimer Verein ein anschauliches Bild. Als 1890 ein Redner über die Gesund­ heitsschädlichkeit des Tabak­ und Alkoholkonsums aufklärte, geschah dies „zum Peche der Herren Homöopathen in dem Augenblick, in welchem einer den anderen vor lauter Dampfwolken kaum mehr sah“115. An dieser Unart sollte sich so schnell auch nichts ändern, denn für ein generelles Rauchverbot konnten sich nur die wenigsten Mitglieder erwärmen. Mehrere dahingehende Anträge fielen regelmäßig bei Abstimmungen durch, zuletzt 1930. Noch selbstverständlicher als das Rauchen war der Alkoholkonsum, den der Hei­ denheimer Verein in einer Erklärung von 1901 nicht nur tolerierte, sondern insbesondere „bei hart arbeitenden Menschen [für] legitim und unumgäng­ lich“116 hielt. Zu beachten sei lediglich eine gewisse Mäßigkeit und Zurück­ haltung in manchen Krankheitsfällen, eine generelle Abstinenz wurde hinge­ gen nicht gefordert. Wohlwissend, dass eine solche rigide Position bei den Mitgliedern auf wenig Gegenliebe gestoßen wäre und den geselligen Aspekt der Versammlungen zunichte gemacht hätte. In Nagold beispielsweise zählte der beiläufige Alkoholkonsum noch 1922 derart zum festen Bestandteil der Versammlungen, dass der Schriftführer im Protokollbuch vermerkte: „Bei ei­ nem guten Glas Wein wird über homöopathische Mittel und Naturheilverfah­

113 Die Erörterungsabende tauchen vereinzelt auch in anderen Protokollbüchern auf, wur­ den aber regelmäßig nur vom Verein Reutlingen veranstaltet. Nachdem ihnen die Mit­ glieder anfänglich wenig Beachtung schenkten und die Vereinsleitung sogar drohte, man schaffe sie wieder ab, konnten sie sich schließlich als vereinsinterne Ergänzung der Fach­ vorträge etablieren. Die Abende boten den Mitgliedern die Möglichkeit der ausführli­ chen Diskussion eines bestimmten Themas, für die im Rahmen der Vorträge keine Zeit blieb. Ihre Organisation oblag ab 1900 einer dreiköpfigen Kommission (IGM/Varia 483, 31. Januar 1900). 114 IGM/Varia 483, 22. Januar 1899. 115 Zitiert nach: Wolff (1989), S. 117. 116 Zitiert nach: Wolff (1989), S. 118. Wohl zu einem ähnlichen Schluss kam bereits Dr. Don­ ner, als er am 24. Februar 1895 in Reutlingen über den „Schaden und Nutzen alkoholi­ scher Getränke“ sprach (IGM/Varia 484, 17. März 1918).

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ren eine rege Aussprache geführt“117. Auch die Laienhomöopathen in Bisch­ heim hielten wenig von Alkoholverzicht, weder während der regelmäßigen Treffen im Vereinslokal noch bei geselligen Veranstaltungen. Als man 1906 im Vorfeld den genauen Ablauf der kommenden Versammlung bestimmte, beschloss man neben formalen Angelegenheiten, dass gemeinschaftlich ein Fass Bier getrunken werden solle.118 Konsumiert wurde Bier bzw. Alkohol vor allem auch bei den alljährlichen Stiftungsfesten, anlässlich derer die Vereins­ leitung Konzerte mit Tanzgelegenheit veranstalte und Theaterstücke auffüh­ ren ließ. Um Tanz und Heiterkeit in Schwung zu bringen bzw. zu halten, spendierte man den Mitgliedern 1902 zunächst eine ganze, einige Jahre spä­ ter dann nur noch eine halbe Tonne Bier.119 In Reutlingen sprach man Alko­ hol sogar während der Vorträge zu. Eine Zeitungsannonce von 1907 gab ne­ ben Titel, Redner, Datum, Uhrzeit und Ort eines kurz darauf stattfindenden Vortrags in fettgedruckter Schrift bekannt: „Bier wird verabreicht“120. Ironi­ scherweise handelte der angekündigte Vortrag von „Schädliche[n] atmosphä­ rische[n] Einwirkungen auf den menschlichen Organismus“. Der Konsum von Alkohol gehörte ganz offensichtlich nicht dazu. Die Säle der Vereinslokale boten Räumlichkeiten, um die Vereinsge­ schäfte an einem zentralen, jedermann zugänglichen und noch dazu bewirte­ ten Ort erledigen und das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden zu können. Auch beherbergten die Gastwirtschaften – jedenfalls gegen Ende des 19.  Jahrhunderts, als die frühen Vereine noch recht klein waren  – die Ver­ einsapotheken und ­bibliotheken.121 Beide waren dort zwar sicher, für die Vereine als eines der wesentlichen Instrumente der internen Gesundheitsfür­ sorge und ­bildung aber von derart großem Wert, dass eine Versicherung der Gegenstände notwendig war. Der Homöopathische Verein Radevormwald beispielsweise schloss eine solche Versicherung bereits im Mai 1897 ab. Der Versicherungswert betrug 1020 Mark, hatte eine Laufzeit von 19 Monaten und erstreckte sich auf „Zwei Schränke, Etiquettenkasten und Glocke, Biblio­ 117 IGM/Varia 419, 14. März 1922. 118 DHMD/L 1998/62, Protokoll 1906. 119 Vgl. DHMD/L 1998/62, Protokoll 1902 und 1906; nicht ganz klar ist, ob es sich bei dem Begriff „Tonne“ lediglich um ein Fass (lat. tunna) handelte oder um eine Maßeinheit. Träfe letzteres zu, so könnte 1 Tonne 15,048 Zentiliter bzw. 150,48 Liter oder 40 Stüb­ chen entsprochen haben (Hildesheimer Maßstab). Um 1902 zählte der Verein 84 Mit­ glieder, unter denen sich nur eine Frau befand. Nimmt man also an, dass Dreiviertel al­ ler männlichen Mitglieder zum Fest erschienen und den Biervorrat unter sich aufteilten, so hätte jedes Mitglied im Laufe des Abends ganze 2,4 Liter Bier getrunken – vorausge­ setzt, das Fass wäre leer geworden. Vielleicht entschied sich die Vereinsleitung deshalb dazu, die Gesamtmenge um die Hälfte zu reduzieren. 120 IGM/Varia 483, 9. April 1907. Die zitierte Annonce ist nicht datiert, wurde aber wohl einige Tage vor dem Vortrag publiziert. 121 Die von beinahe jedem Verein, wenigstens in den Anfangsjahren, unterhaltenen Apothe­ ken wusste man hingegen lieber in Privathänden aufbewahrt, was wegen der nicht an Öffnungszeiten gebundenen Entnahme der Mittel ohnehin praktischer war. Im Falle Stuttgart­Wangens verpflichtete sich der bestellte Apothekenverwalter sogar dazu, auch in nächtlichen Notfällen Mittel herauszugeben (IGM/Varia 371, 20. März 1898).

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thek, homöopathische Medicamente […], Salben in Porzellankrügen“ sowie „Leere Gläse, Korken und Etiquettes“122. Den größten Posten machte dabei die Vereinsapotheke aus; ihr Versicherungswert belief sich auf beachtliche 500 Mark, derjenige der Bibliothek auf 200 Mark. Die Verwahrung des Vereinsinventars in den Lokalen bot sich insofern an, als auf diese Weise Medikamente ausgegeben, vor allem aber Bücher und Zeitschriften bei den Versammlungen ausgeliehen oder eingezogen werden konnten.123 Der Schriftführer, dem die Pflege und Aktualisierung der Biblio­ thek oblag, notierte sich dabei den Namen des Entleihers sowie den Titel des für sieben oder 14 Tage ausgeliehenen Buches. Beliebte Ratgeber, wie etwa Reinhold Schlechts Familien­Arzt, wurden gleich mehrfach angeschafft, um einem Engpass vorzubeugen. An die Bücherrückgabe erinnerte der Verein Fellbach seine Mitglieder eine Woche vor der Einberufung der Monatsver­ sammlung per Annonce in der Lokalzeitung. Offenbar mit Erfolg, denn Kla­ gen über ausbleibende Rückgaben der ausgeliehen Bücher finden sich in sei­ nem Protokollbuch keine. Andernorts war es um die Disziplin vieler Mitglie­ der jedoch schlechter bestellt. Nicht selten kam es vor, dass bestimmte Werke für Monate und Jahre ausgeliehen waren, ohne dass der Verein ihrer hätte habhaft werden können.124 Rechnet man die durchschnittliche Teilnehmerzahl hoch, sofern sie sich aus den Protokollen rekonstruieren lassen, so lässt sich sagen, dass zu den Monatsversammlungen nur etwa ein Drittel der Mitglieder erschien. Als Bei­ spiel mag der homöopathische Verein Stuttgart­Wangen dienen, dessen Pro­ gramm (vor allem die abwechslungsreichen Vorträge) sich großer Beliebtheit erfreute. An seinen insgesamt 51 Monats­ und Generalversammlungen, bei denen die Zahl der Anwesenden notiert wurde, nahmen zwischen 1899 bis 1911 allerdings nur durchschnittlich 30 Mitglieder teil und das, obwohl der Verein in derselben Zeit seine Gesamtmitgliederzahl von 218 (1897) auf 408 (1911) beinahe verdoppeln konnte. Insofern sank die Beteiligungsrate, gemes­ sen am absoluten Mitgliederstand, bei Versammlungen ohne angekündigten Vortrag von 14 auf 7 %. Bei Vorträgen war ein besserer Besuch zu verzeich­ nen, doch dürften die Mitglieder des Vereins Stuttgart­Wangen ihren Kamera­ den in Fellbach beigepflichtet haben, als diese 1908 beklagten, dass sie „blos Mitglieder hätten, in Krankheitsfällen, aber für Versammlungen und sonstige

122 StA Radevormwald Kasten 4 / Akte 1. 123 Der Heidenheimer Verein verfügte zudem über einen „Lesezimmer“, dass im Neben­ raum des Vereinslokals untergebracht war und jeden Sonntag für jeweils drei Stunden geöffnet hatte. Vgl. Wolff (1989), S. 104; Baschin (2012), S. 240. 124 Eine dahingehend lautende Klage notierte der Schriftführer des Vereins Reutlingen an­ lässlich der Generalversammlung vom 7. Januar 1912. Die knapp 200 Bände umfassende Bibliothek werde erfreulicherweise zwar stark beansprucht und stetig vergrößert, die Mit­ glieder seien aber nicht an Leihbedingungen gewöhnt und versäumen häufig die fristge­ mäße Rückgabe der Bücher (IGM/Varia 484, 7. Januar 1912). Ganz ähnlich lautet ein Protokolleintrag des Vereins Stuttgart­Wangen (IGM/Varia 371, 15. September 1894).

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Veranstaltungen da fehle das Interesse vollständig“125. Um diesem Missstand abzuhelfen, dachte man zumindest in Wangen kurzzeitig darüber nach, die nicht erscheinenden Mitglieder mit einer Strafe oder sogar dem Vereinsaus­ schluss zu belegen. Diesbezügliche Überlegungen wurden aber schnell fallen­ gelassen und stattdessen mehr Werbung in der Lokalzeitung beschlossen.126 Über die tieferen Gründe des mangelnden Interesses an den Veranstaltungen lässt sich aufgrund fehlender Aussagen der Vereinsmitglieder nur spekulieren. Das Argument der Vereinsführung in Stuttgart­Wangen, die Versammlungen seien wegen zeitgleicher Veranstaltungen anderer Vereine schwach besucht127, ist plausibel und im Einzelfall sicherlich auch zutreffend. Die chronische Inte­ ressenlosigkeit der Mitglieder an einfachen Vereinszusammenkünften oder Erörterungsabenden ist damit aber nur unzureichend erklärt. Anzunehmen ist dagegen, dass die meisten Mitglieder ein eher lockeres Verhältnis zu ihrem Verein pflegten, ihm ihre ohnehin schon spärliche Freizeit nur dann opferten, wenn sie von einem Veranstaltungsbesuch einen echten Mehrwert erwarten konnten (vgl Kap. 2.1). Angedeutet werden sollte mit diesem Beispiel die Tendenz, dass die Ver­ einslokale von ihrer Kapazität her durchaus ausreichten, um die regulären Versammlungen auszurichten. Im Grunde konnten die größeren Vereine aber froh sein, dass nur maximal ein Drittel ihrer Mitglieder mit Regelmäßigkeit an den Treffen teilnahm. Denn hätten alle kommen wollen, hätte der Platz nicht gereicht. Vor genau dieses Problem gestellt sahen sich manche Vereine, als es um die Veranstaltung von Vorträgen zu populären Themen ging. Die Homöopathen in Fellbach wichen deshalb 1909 angesichts ihres enormen Zulaufs  – zwischen 1908 und 1913 traten 402 neue Mitglieder dem Verein bei  – auf das örtliche und wesentlich größere Gemeindehaus aus. Dass die Vereine indessen die separierte und bierselige Enge ihres angestammten Lo­ kals überhaupt verlassen und öffentlichkeitswirksam Anspruch auf Belegung des Gemeindehauses erheben konnten, verdeutlicht, dass sie spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Mitte des (klein)bürgerlichen Vereinswe­ sens angekommen sind. 2.2.1 Regionale Ausbreitung der homöopathischen Laienbewegung Von den 19 homöopathischen Vereinen, die bis einschließlich 1870 gegründet worden sind, befand sich einer in Annaberg (1854), einer in Stralsund (1864), einer in Bromberg (Bydgoszcz, Polen, 1870), einer in Guben (Gubin, Polen, 1870) sieben andere waren in Mittel­, Süd­ und Westdeutschland aktiv, die Wiege der Bewegung aber lag in Brandenburg (Köritz, 1832), Thüringen (Lan­

125 IGM/Varia 68, 11. April 1908; zum mangelnden Interesse an den Versammlungen siehe auch: Wolff (1987), S. 84 f.; Baschin (2012), S. 228 und S. 234; Grubitzsch (1996), S. 61. 126 IGM/Varia 371, 28. Oktober 1906. 127 IGM/Varia 370, 22. März 1891.

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

73

gensalza, 1833) und Sachsen­Anhalt (Halberstadt, 1833).128 Impulsgeber, de­ nen die homöopathische Laienbewegung schließlich ihre flächendeckende Ausbreitung verdankte, waren die beiden Landesvereine in Württemberg (1868) und Sachsen (1873). Ihrem Beispiel folgten die zahlreichen Verbände, die sich bald darauf entweder in Ergänzung oder Abgrenzung zu den bereits bestehenden Dachorganisationen bildeten.129 Ins Blickfeld der Forschung rückte bisher die Frage, über wie viele Vereine und Mitglieder die Verbände verfügten, um die Bedeutung der homöopathischen Laienbewegung quantifi­ zieren und anderen alternativmedizinischen Bewegungen  – etwa der natur­ heilkundlichen oder der biochemischen – gegenüberstellen zu können. Hier haben sich vor allem Eberhard Wolff und Marion Baschin verdient gemacht. Sie liefern in ihren Arbeiten ein beachtliches Zahlenmaterial, das kaum zu ergänzen ist. Nur wenig bekannt geworden ist bisher über die geographische Verteilung der homöopathischen Laienvereine. Zwar konnte Wolff am Bei­ spiel der 1913 an die Hahnemannia angeschlossenen Zweigvereine zeigen130, dass die homöopathische Laienbewegung in Württemberg die „dominante Form des hygienischen Laienvereins“ war und sich die homöopathischen Ver­ eine in Stadt­Land­Richtung ausbreiteten.131 Laienvereine verschiedener Größe waren demnach auch fernab der Industriezentren, aber „in der Nähe von Städten oder Verkehrsachsen des Landes“132, ansässig. Auch konstatierte er, dass städtische Vereine eine durchweg höhere Mitgliederzahl aufweisen konnten, die Laienbewegung deswegen sowohl einen städtischen als auch ei­ nen ländlichen Schwerpunkt hatte.133 Dieser Befund muss anhand der vorlie­ genden Quellen präzisiert werden. Schuldig blieb Wolff ebenso einer prozen­ tualen Aufschlüsselung jener Stadt­Land­Verteilung. Ein Versäumnis, das auch trotz der faktenreichen Darstellung von Marion Baschin noch immer nicht erledigt ist. 128 Damit ist die von Thiele (HM 90 (1965), S.  271–272) angegebene und von Baschin (2012), S. 213–214, um vier Vereine erweiterte Liste nach oben zu korrigieren. Thiele ging davon aus, dass bis einschließlich 1870 neun Vereine (Annaberg, Stralsund, Schei­ benberg, Trier, Stuttgart, Elberfeld, Kühberg mit Bärenstein und Weipert, Döbeln, Quer­ furt) bestanden haben. Baschin ergänzte diese Übersicht ihrerseits um vier weitere Ver­ eine (Köritz, Langensalza, Halberstadt, Darmstadt). Hinzuzufügen sind noch die würt­ tembergischen Vereine Backnang, Engstlatt, Esslingen, Urach sowie Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen) und Guben (Lausitz). 129 Eine Übersicht bietet: Thiele (1966), S. 3–7.; vgl. auch: Baschin (2012), S. 215–225 und Wolff (1989), S. 48–53. 130 Anhand der Listen „Zweigvereine der Hahnemannia und deren Vorstände“ und „Vereine des badischen Landesverbands“: Ausschuss der Hahnemannia (1913). 131 Wolff (1989), S. 59. Den rund 15.000 Laienhomöopathen standen in Württemberg ledig­ lich 2.677 Mitglieder des Naturheilbunds gegenüber. Außerhalb Württembergs war das Verhältnis genau umgekehrt: dem Dachverband der Naturheilvereine waren 1913 knapp 150.000 Mitglieder in 903 Vereinen angeschlossen, während der Bund homöopathischer Laienvereine im Juli 1914 insgesamt 31.260 Mitglieder und ca. 300 Vereine zählte (vgl. LPZ 45 (1914), Beilage Nr. 9, S. 97–98); Regin (1993), S. 177. 132 Wolff (1989), S. 60. 133 Wolff (1989), S. 60.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Tab. 1: Übersicht über die (prozentuale) Verteilung der homöopathischen Laienvereine in Sachsen, Baden und Württemberg (1913).134

Städte mit exakten Angaben (Vereine) Vereine in Städten mit > 50.000

Sachsen

Baden

Württemberg

89

30

102

6 (7 %)

7 (23 %)

7 (7 %)

> 5.000 Einwohner

22 (25 %)

3 (10 %)

17 (16 %)

1.000 bis 5.000 Einwohner

44 (49 %)

13 (43 %)

49 (48 %)

< 1.000 Einwohner

18 (20 %)

7 (23 %)

29 (28 %)

Um detailliertere Aussagen über die Stadt­Land­Verteilung der homöopathi­ schen Laienvereine treffen zu können, bietet sich der Vergleich der 1913 ange­ legten Listen der badischen, württembergischen und sächsischen Zweigver­ eine an. Im Falle des sächsischen Landesvereins gibt die Liste zudem Auskunft über den jeweiligen Mitgliederstand, der wiederum mit den im Meyerschen Orts­ und Verkehrslexikon135 angegebenen Einwohnerzahlen abgeglichen werden kann. Um vergleichbare Werte zu ermitteln, wurden die Städte mit homöopathischen Vereinen in drei Kategorien aufgeteilt: Städte mit mehr als 50.000, mit mehr als 5.000, mit 1.000 bis 5.000 und schließlich Dörfer mit weniger als 1.000 Einwohnern (vgl. Tab. 1). Obwohl die Gesamtzahl der ho­ möopathischen Vereine beträchtlich variiert  – in Baden waren 1913 gerade einmal 30 Zweigvereine im Verband zusammengefasst, in Sachsen und Würt­ temberg gehörten dem Landesverein hingegen 102 bzw. 104 Vereine136 an – ist die prozentuale Verteilung der homöopathischen Vereine in allen Regionen relativ gleich: Nahezu die Hälfte (43–49 %) der homöopathischen Laienver­ eine siedelte sich sowohl in Sachsen als auch in Baden und Württemberg in Kleinstädten an, die zwischen 1.000 und 5.000 Einwohner zählten. Stark ver­ treten (20–28 %) war die Laienbewegung zudem in ländlichen Ortschaften mit weniger als 1.000 Einwohnern. Das mag wie in Grasberg oder Radevormwald an der medizinischen Unterversorgung bzw. an den fehlenden Apotheken ge­ legen haben, müsste jedoch im Einzelfall überprüft werden.137 In industrierei­ chen Großstädten oder deren Stadtbezirken waren homöopathische Vereine hingegen wesentlich seltener aktiv. Die sechs bis sieben Vereine verteilten sich zudem nicht auf je eine Stadt, sondern auf jeweils zwei bis drei Städte. Anders 134 Zugrunde liegt der Stand von 1913, ermittelt durch: Ausschuss der Hahnemannia (1913) und DHMD/L 1998/51 und ergänzt um die jeweiligen Einwohnerzahlen unter Maßgabe von: Uetrecht (1912/1913). 135 Uetrecht (1912/1913). 136 In Tabelle 1 ist von 89 (Sachsen) bzw. 102 (Württemberg) Vereinen die Rede. Die unter­ schiedlichen Zahlen kommen dadurch zustande, dass bei 13 sächsischen Vereinen die Mitgliederzahlen fehlen. Bei zwei württembergischen Vereinen konnte hingegen die Ein­ wohnerzahl der jeweiligen Ortschaften nicht ermittelt werden. 137 Vgl. Wolff (1987), S. 78–79.

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

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ausgedrückt: Die sechs badischen Großstadtvereine hatten ihr Vereinslokal entweder in den Industriestandtorten Karlsruhe (4) oder Pforzheim (2). In Württemberg konnten die Stuttgarter Laienhomöopathen insgesamt zwischen sechs verschiedenen Vereinen in ihrem Stadtbezirk wählen. Der siebte ho­ möopathische Verein in einer württembergischen Großstadt war in Ulm aktiv. In Sachsen waren es die drei Großstädte Chemnitz (1), Dresden (3) und Leip­ zig (2), in denen sich Vereine um die Verbreitung der Homöopathie und die gesundheitlich­medizinische Aufklärung der Einwohnerschaft bemühten.138 Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die homöopathische Laienbe­ wegung in allen drei Regionen ein primär ländlich­kleinstädtisches Phänomen gewesen ist. Dieser Befund steht in scharfem Kontrast zu Wolffs Einschätzung, dass sich die homöopathische Laienbewegung gerade auf die städtischen und stadtnahen Gebiete konzentriert habe, in denen ohnehin im Vergleich zum ländlichen Bereich mehr Ärzte und Apotheker ansässig waren.139 Es ist viel­ mehr davon auszugehen, dass die Laienbewegung gerade nicht in Städten po­ pulär war, da dort die medizinische Infrastruktur (homöopathische wie schul­ medizinisch) besser erschlossen und damit die Notwendigkeit eines homöopa­ thischen Vereins nicht zwingend gegeben war  – schon gar nicht, wenn ein oder mehrere homöopathische Ärzte in der Stadt tätig waren.140 2.2.2 Größe der einzelnen Vereine Über die durchschnittliche Größe der homöopathischen Vereine wissen Wolff und Baschin nur wenig zu berichten. Aufgrund des eingeschränkten Quel­ lenkorpus konnte Wolff lediglich die Entwicklung der Mitgliederzahlen des Homöopathischen Vereins Heidenheim rekonstruieren. Demnach erreichte der Verein seinen quantitativen Höhepunkt zu Beginn des Jahres 1915, als ihm 515 Mitglieder oder jeder siebte Heidenheimer Einwohner angehörte.141 Marion Baschin gibt in den Fußnoten ihrer Arbeit über die Geschichte der homöopathischen Selbstmedikation die Mitgliederstände einiger Vereine an, setzt sie aber nicht miteinander in Bezug bzw. errechnet keine Durchschnitts­ werte. Für die Region bzw. das einstige Königreich Sachsen liefert die Liste des sächsischen Landesvereins von 1913 erneut wertvolle Zahlen und wich­ tige Hinweise (vgl. Diagr. 6): Knapp drei Viertel der insgesamt 102 aufgeführ­ ten homöopathischen Vereine hatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs gerade einmal 100 oder sogar noch weniger Mitglieder. Von den verbleiben­ den 26 % der Zweigvereine hatten immerhin 14 zwischen 100 und 150 An­ 138 Dass in Städten mehrere homöopathische Vereine existierten, war auch in anderen Re­ gionen Deutschlands üblich: In Elberfeld beispielsweise verfügte nahezu jeder Stadtteil über einen eigenen homöopathischen Verein; insgesamt waren es 13, die zwischen 1869 und 1909 dort ihre Arbeit aufnahmen. 139 Wolff (1987), S. 78. 140 Wolff (1987), S. 79. 141 Vgl. Wolff (1987), S. 86–88.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

hänger, lediglich 5 zwischen 250 und 300. Und nur ein einziger Homöopathi­ scher Verein, der Verein „Saxonia“ in Dresden­Neustadt, vereinte 1913 exakt 700 Mitglieder in seinen Reihen. Dieser Querschnitt durch die sächsischen Vereine liefert einen aufschluss­ reichen, wenn auch nicht ganz unproblematischen Einblick in deren Mitglie­ derverhältnisse: Es muss berücksichtigt werden, dass sich etliche dieser Ver­ eine erst kurz oder einige Jahre zuvor gegründet haben und demnach über noch keinen allzu großen Mitgliederstamm verfügen konnten. Ein Vergleich mit anderen Regionen des Kaiserreichs bietet sich an, ist aber aufgrund der dürftigen Quellenlage zumindest auf synchroner Ebene nicht möglich. Unter Vorbehalt kann allenfalls eine Liste derjenigen homöopathischen Laienver­ eine herangezogen werden, die im Mai 1897 dem „Verband süddeutscher Ver­ eine für Homöopathie und Naturheilkunde“ beigetreten sind.142 Von Bedeu­ tung sind die Angaben zu den Mitgliederständen der einzelnen Vereine. Für die insgesamt 47 gelisteten homöopathischen Laienvereine ergeben sich fol­ gende Verteilungen (vgl. Diagr. 7): 14 (30 %) von ihnen gehörten weniger als 50, weiteren 18 (38 %) immerhin 50 bis 100 Mitglieder an. Damit waren die mitgliederschwachen Laienvereine auch in Süddeutschland am zahlreichsten; ihr Anteil betrug innerhalb des Verbands 68 %. In der Unterzahl befanden sich hingegen solche Vereine mit 100 und mehr Mitgliedern. Acht (17 %) von ihnen hatten zwischen 100 und 150 Mitglieder, 5 (10 %) zwischen 150 und 250 und lediglich zwei (4 %), Pforzheim (450) und die Hahnemannia (1650), über 400 Anhänger. über 300 250-299 3% 5% 200-249 1% 150-199 4%

unter 50 38%

100-149 14%

50-99 35%

Diagr. 6: Mitgliederverhältnisse der im sächsischen Landesverein organisierten homöo­ pathischen Laienvereine, Stand 1913 (n=102).

142 Eine Auflistung der besagten Vereine liefert: Baschin (2012), S. 216 f., Anm. 1023; HM 22 (1897), Beilage Nr. 7, S. 1.

77

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine über 450 4%

200-249 4%

150-199 7%

unter 50 30%

100-149 17%

50-99 38%

Diagr. 7: Mitgliederverhältnisse der Gründungsvereine des Verbands süddeutscher Vereine für Homöopathie und Lebenspflege, Stand: 1897 (n=47).

Abgesehen von kleinen prozentualen Abweichungen gleichen sich die für Sachsen und Württemberg ermittelten Ergebnisse. Dieser Befund darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die statistische Auswertung für Württem­ berg auf einer nur halb so großen Grundgesamtheit basiert, die Zahlenwerte daher lediglich als Anhaltspunkt gewertet werden können. Außerdem liegen die Erhebungsjahre mit 16 Jahren zu weit auseinander, um direkt miteinander verglichen werden zu können. Weiter bleibt zu prüfen, ob Wolffs Aussage zugestimmt werden kann, dass „die städtischen Vereine durchweg höhere Mitgliederzahlen aufwiesen“143. Es bietet sich an, auch die sächsischen homöopathischen Vereine stichprobenar­ tig mit der Einwohnerzahl ihrer jeweiligen Gemeinde zu vergleichen (vgl. Tab. 2). Korreliert die Höhe der Einwohnerzahl mit der Höhe der Mitglieder­ zahl, so würde das Wolffs These bestätigen. Um Verzerrungen zu vermeiden, dürfen allerdings nur solche Vereine ausgewählt werden, die zum Zeitpunkt der Mitgliedererhebung mindestens zehn Jahre bestanden haben, also nicht nach 1903 gegründet worden sind. Schließlich benötigten die Vereine einige Jahre, um sich und ihre Angebote zu etablieren und einen Mitgliederstamm aufzubauen. In eine Tabelle übertragen ergeben sich folgende Gegenüberstel­ lungen:

143 Wolff (1987), S. 68; (1989), S. 60.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Tab. 2: Übersicht über das Verein/Stadt­Verhältnis am Beispiel der sächsischen Zweigvereine von 1913. Verein/Stadt

Vereinsgröße > 200

Einwohner der Stadt

Verein/Stadt

Vereinsgröße < 100

Einwohner der Stadt

Bretnig

256

2868

Cranzahl

55

2435

Chemnitz

285

287807

Crottendorf

78

5050

Dresden­ Neustadt

700

548308

Geyersdorf

48

1448

Großröhrsdorf

370

8012

Kamenz

34

11533

Grossschönau

270

7806

Königswalde

60

2836

Harthau

283

6484

Leukersdorf

84

1806

Lössnitz

348

7378

Mildenau

73

2624

Niedersteina

280

966

Seifersdorf

90

712

Die Ergebnisse bestätigen die Annahme von Wolff nur teilweise. Demnach zeichnet sich die Tendenz ab, dass homöopathische Vereine in Städten mit vielen Einwohnern auch mehr Mitglieder hatten. Dass dieser Befund aber keiner Gesetzmäßigkeit folgt und zu relativieren ist, zeigen die beiden Ausrei­ ßer Niedersteina und Kamenz. Während in Niedersteina mehr als 25 % der männlichen Einwohner Mitglied im örtlichen homöopathischen Verein wa­ ren, waren es im einwohnerreichen Kamenz derer gerade einmal 0,3 %. Beide Vereine wurden bereits 1896 ins Leben gerufen und hatten demnach gleich viel Zeit, sich zu entwickeln. In beiden Ortschaften existierten darüber hinaus Textilfabriken und Industrieanlagen, in Kamenz sogar weit zahlreicher als in Niedersteina. Dennoch gelang es der Kamenzer Vereinsleitung nicht, ähnlich viele Mitglieder zu gewinnen wie Niedersteina, wofür meines Erachtens an­ dere Gründe, wie etwa die Fähigkeiten des Vorsitzenden144 oder die Qualität des Vereinsprogramms, verantwortlich gemacht werden müssen. Es kann je­ denfalls nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass städtische Ver­ eine ausnahmslos die meisten Mitglieder hatten. Auch der Homöopathische Verein Bretnig widerlegt diese These. Er hatte überdurchschnittlich viele Mit­ glieder; die Einwohnerzahl der Gemeinde war hingegen überschaubar. Und schließlich ist es Wolff selbst, der in seiner Arbeit ein relativierendes württem­ bergisches Gegenbeispiel nennt: „In einzelnen Orten ging die Ausbreitung nicht nur der Methode, sondern auch der Bewegung so weit, daß, wie in dem Dorf Rohracker bei Stuttgart im Jahre 1913, zwei Drittel der Bevölkerung im Homöopathischen Verein organisiert waren.“145 In Rohracker lebten zu die­ ser Zeit etwa 1.135 Menschen, dem Verein gehörten zeitgleich rund 230 144 Vgl. Wolff (1989), S. 88. Wolff führt den Anstieg der Mitgliederzahlen des Homöopathi­ schen Vereins Heidenheim u. a. auf den charismatischen Vorsitzenden Friedrich Mohn zurück. 145 Wolff (1989), S. 60. Wolff bezieht sich dabei auf einen Artikel in: HM 38 (1913), S. 158. Vgl. auch IGM/Varia 72, 14. Januar 1914.

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

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Laienhomöopathen oder jeder fünfte Einwohner an. Rechnet man die Ehe­ frau und durchschnittlich zwei Kinder hinzu, so waren sogar 80 % der Dorfbe­ wohner im Homöopathischen Verein organisiert. 2.2.3 Mitgliederentwicklung Die Zuwachsraten der dem Korpus angehörenden homöopathischen Laien­ vereine sind mitunter beachtlich. Der württembergische Verein Stuttgart­Wan­ gen konnten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs seine Mitgliederzahl von anfänglich etwa 40 auf über 408 steigern. Eine ähnliche Tendenz ist auch im Falle Reutlingens zu konstatieren: Nachdem Mitte der 1890er die regelmä­ ßige Veranstaltung von Vorträgen beschlossen und in der Folgezeit mit Nach­ druck vorangetrieben wurde146, vergrößerte sich der Verein stetig. Bis 1914 entschlossen sich insgesamt 439 Interessierte zu einem Beitritt. Einen ähnlich starken Zulauf erfuhr auch der Heidenheimer Verein. Zwischen 1897 und 1915 verfünffachte er seine Mitgliederzahl von 110 auf 515.147 Den größten und rasantesten Zulauf verzeichnete jedoch der Laienverein in Fellbach: Er startete 1905 mit gerade einmal 26 Gründungsmitgliedern, legte in den fol­ genden zehn Jahren um das 19­Fache zu und versammelte Ende 1914 schließ­ lich 499 Mitgliedern in seinen Reihen.148 Auch hier kam der Zuwachs nicht von ungefähr: Ein von Beginn an reges Vereinsprogramm, das regelmäßige Vorträge und Belehrungen ebenso umfasste wie botanische Exkursionen oder eine Vereinsbibliothek und ­apotheke, steigerte seine Attraktivität und Anzie­ hungskraft.149 Positiv beeinflusst wurde das Vereinswachstum auch von einer 1911 in Fellbach grassierenden Maul­ und Klauenseuche. Die Vereinsleitung erkannte die sich bietende Chance zur Mitgliederwerbung und reagierte prompt mit einer außerordentlichen Versammlung, in der Viehbesitzer sich Hilfe holen und Aufklärung verschaffen konnten. Die Versammlung war of­ fensichtlich ein Erfolg, denn Anfang 1912 betrug die Mitgliederzahl plötzlich 382, verglichen mit 117 im Jahre 1909. Unter „normalen“ Umständen hätte der Verein wohl nicht derart kräftig an Mitgliedern zugelegt.150 Die These, dass äußere Faktoren die Mitgliederbewegung zusätzlich in Schwung brach­ ten, wird von der Entwicklung des Homöopathischen Vereins Radevormwald gestützt. Von Februar 1904 bis Februar 1906 bekundeten 120 Interessierte ihre Beitrittsabsicht – eine Zahl, die in vergleichbarer Zeit weder zuvor noch danach je erreicht werden konnte. In diese kurze Zeitspanne fallen Masern­, Keuchhusten­ und Grippeepidemien, die den Absatz von Medikamenten be­ günstigten und sehr wahrscheinlich auch die Zahl der Neueintritte anstiegen ließ. Zumal Arme und Bedürftige keinen Beitrag entrichten mussten und in 146 147 148 149 150

IGM/Varia 482, Jahresbericht 1895. Wolff (1989), S. 85. IGM/Varia 68, 24. Januar 1915. Wolff (1989), S. 87. StA Radevormwald, Kasten 6 / Akte 1, 19. Februar 1905.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

manchen Fällen sogar kostenlos Medikamente verabreicht bekamen. Eber­ hard Wolff nennt zudem die Niederlassung eines homöopathischen Arztes oder einer homöopathischen Apotheke als weitere Faktoren, die sich man­ cherorts günstig auf die Mitgliederzahlen auswirken konnten.151 Das wirkungsvollste Moment für den Mitgliederzuwachs war allerdings das Tätigkeitsspektrum der Vereine selbst. Öffentliche wie vereinsinterne Vor­ träge, botanische Wanderungen, Vereinsbibliotheken oder Unterhaltungs­ abende zogen zahlreiche medizinische Laie an.152 Nach Wolff dürfte das seine Ursache im Industrialisierungsprozess gehabt haben: „denn er schuf einer­ seits als Folge der neuen körperlichen Anforderungen den Bedarf nach medi­ zinischem Wissen und andererseits bei den sich auch durch Bildung emanzi­ pierenden Arbeiterkreisen eine Nachfrage nach Aufklärung im Bereich der Gesundheit. Die etablierte Medizin jedoch blieb den Laien auf diesem Gebiet vieles schuldig.“153 Dass Vereine allerdings auch ohne ein abwechslungsrei­ ches Vereinsprogramm aufblühen konnten, solange sie ihren Mitgliedern anderweitige Vorzüge boten, stellt abermals der homöopathische Verein zu Radevormwald unter Beweis: Sein Hauptgeschäft war weniger die hygienisch­ gesundheitliche Aufklärung der Vereinsmitglieder154, sondern nahezu aus­ schließlich der Verkauf von Medikamenten. Damit brachte es der Verein bis 1910 auf beachtliche 616 Mitglieder.155 Als 1911 die Vereinsapotheke per Oberlandesgerichtsbeschluss in ihrer bisherigen Form verboten wurde, sank die Mitgliederzahl bis zur endgültigen Auflösung des Vereins 1937 allerdings kontinuierlich ab.156 Die Vereinsleitung versäumte es, den Mitgliederschwund durch ein vielfältiges Vortrags­ bzw. Vereinsprogramm aufzuhalten. Mit ganz ähnlichen Anreizen zog der norddeutsche Homöopathische Ver­ ein Grasberg an Selbstmedikation Interessierte aus dem Umland an. Der Ver­ ein verstand und gründete sich deshalb auch als Genossenschaft, die homöo­ pathische Medikamente im großen Stil einkaufte und anschließend in kleinen Mengen an die Mitglieder abgab. Über ein regelmäßiges Vortragsprogramm ist mangels fehlender Protokolle wiederum nichts bekannt. Die Statuten lie­ fern aber keine Hinweise, dass der Verein interne und externe Redner ver­ pflichtete, um seine Mitglieder über Homöopathie und Gesundheits­ bzw. 151 152 153 154

Wolff (1989), S. 87. Wolff (1989), S. 87; Baschin (2012), S. 241 f. Wolff (1987), S. 81. Bis 1914 veranstaltete der Verein lediglich neun Vorträge, obwohl schon 1901 im An­ schluss an einen Vortrag über „Heilerfolge bei verschiedenen Erkrankungen unter An­ gabe der angewandten Mittel“ der allgemeine Wunsch geäußert wurde, dass künftig mehr solcher Abende veranstaltet werden sollen, die dem Austausch von Erfahrungen dienen (StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 25. August 1901). 155 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte. 1, 27. Februar 1910. Am Rande sei erwähnt, dass an der an diesem Tag stattfindenden Versammlung gerade einmal 15 Mitgliedern teil­ nahmen. 156 Das gleiche Schicksal ereilte die homöopathischen Vereine Ronsdorf und Hückeswagen. Sie lösten sich auf, nachdem ihre Vereinsapotheken von den Behörden geschlossen wor­ den waren. Vgl. Baschin (2012), S. 267 f.

2.2 Aufbau und Struktur der Laienvereine

81

Krankenpflege aufzuklären. Dennoch schnellte der Mitgliederstand des Ver­ eins in die Höhe, verdoppelte sich innerhalb eines knappen Jahres von 82 auf 173 und erreichte schließlich mit 271 im April 1888 seinen Höhepunkt. Wie auch in Radevormwald stammten die neu eintretenden Mitglieder nicht allein aus Grasberg, sondern zu einem Großteil aus insgesamt 27 umliegenden Ort­ schaften. Die fehlenden Veranstaltungen machten eine Grasberger Ortszuge­ hörigkeit offensichtlich obsolet. Anzunehmen ist, dass die Medikamente per Brief oder Päckchen an die auswärtigen Empfänger versandt worden sind. Der Verein Grasberg ist neben seiner Zersplitterung auch noch anderweitig von Bedeutung: Viele der nahezu ausschließlich männlichen Mitglieder, die in den Listen verzeichnet sind, tragen denselben Familiennamen. Das lässt vermuten, dass sich nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch ganze Familien­ verbände geschlossen für die Homöopathie entschieden haben.157 In man­ chen homöopathischen Vereinen, etwa demjenigen in Reutlingen, wohnten die neu aufgenommenen Mitglieder in derselben Straße, waren also Nach­ barn, die sich untereinander besprochen und einen gemeinsamen Vereinsbei­ tritt beschlossen haben könnten.158 Ein eher durchschnittliches Wachstum verzeichnete hingegen der Ho­ möopathische Verein Bischheim. Obwohl sich seine Leitung intensiv Gedan­ ken um ein vielfältiges Vereinsprogramm machte, trat im Laufe der Jahre nur eine überschaubare Zahl an Mitgliedern ein. Das Gründungsstatut des Ver­ eins von April 1898 nennt die mit Tintenfüller geschriebenen Namen von 40 Unterzeichneten. Die Namen der nachfolgenden Mitglieder sind mit Blei­ stift geschrieben worden, was darauf hindeutet, dass sie kurze Zeit nach der Gründung eingetreten sind.159 15 Jahre später gehörten dem Verein Bisch­ heim noch immer „nur“ 125 Laienhomöopathen an, er wuchs in dieser Zeit um etwa das Dreifache. Gründe, die erklären könnten, weswegen die Mitglie­ derzunahme verhalten blieb, sind nicht auszumachen. 2.2.4 Zusammenfassung Die eingangs gestellte Frage nach den Merkmalen der Laienhomöopathen und der homöopathischen Laienvereine kann zusammenfassend folgender­ maßen beantwortet werden: Spricht man um 1900 von organisierten Laienho­ möopathen, so sind vorwiegend gesunde, auf den Erhalt ihrer eigenen und ihrer Familie Gesundheit bedachte und deswegen materiell motivierte Män­ ner im Alter zwischen 20 und 50 Jahren gemeint. Frauen stand der Vereins­ 157 Vgl. die Mitgliederlisten in: LA Stade, Rep. 72/172 Lilienthal, Nr. 281. Offensichtlich hatte sich zu diesem frühen Zeitpunkt bereits die Familienmitgliedschaft durchgesetzt. Aus Stuttgart­Wangen ist bekannt, dass 1893 Vater und Sohn (sein Name ist mit dem Zusatz junior versehen) zur gleichen Zeit Mitglied des Vereins gewesen sind (IGM/Varia, Mitgliederlisten von 1893). 158 IGM/Varia 483, 27. Januar 1911. 159 DHMD/L 1998/60.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

beitritt mancherorts offen, eine Aufnahme in die Mitgliederlisten war aber meist nur dann geboten, wenn sie unverheiratet oder Witfrauen waren, also nicht über ihren Ehemann dem Verein angehörten. Zahlenmäßig gehörten die Vereinsmitglieder überwiegend den unteren sozialen Schichten an – und zwar schon im Kaiserreich und damit in Gegensatz zu den Befunden von Eberhard Wolff, denen zufolge die Vereine einen „Prozeß sozialer Ausweitung und Verschiebung“160 durchlaufen hätten. Sie übten überwiegend den Beruf eines Fabrikarbeiters, unselbständigen Handwerkers oder Kleingewerbetrei­ benden aus. Das lag vor allem daran, dass diese Vereine vorwiegend in Ge­ genden gegründet wurden, die „eher als andere einen Urbanisierungsprozeß durchgemacht hatten“161 und in denen die negativen gesundheitlichen Aus­ wirkungen von Massenproduktion, Akkordarbeit und das Aufbrechen tradi­ tioneller Versorgungsstrukturen am spürbarsten waren. Die Mitglieder eines homöopathischen Vereins konnten auf ein reichhaltiges Dienstleistungsange­ bot zurückgreifen, um sich im Krankheitsfall helfen zu lassen (vereinseigene Laienheiler, homöopathische Ärzte) oder sich selbst helfen zu können (Vor­ träge, Vereinsbibliotheken, ­apotheken). Es konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die geographische Vertei­ lung der homöopathischen Vereine um 1913 sowohl in Baden, als auch in Sachsen und Württemberg nahezu gleich war. In den Großstädten und indus­ triellen Zentren waren meist mehrere Laienvereine ansässig (Chemnitz, Dres­ den, Karlsruhe, Leipzig, Pforzheim, Stuttgart). Die zusätzliche Gründung von weiteren Vereinen im Stadtbereich leiteten pragmatische Überlegungen: die flächenmäßige Ausdehnung der Städte war zu groß, als dass ein Verein alle Interessierten hätte erreichen können. Begünstigt wurden Neugründung in derselben Stadt offenbar auch durch Konflikte und Meinungsverschiedenhei­ ten innerhalb bestehender Vereine. Die unzufriedenen Mitglieder spalteten sich ab und gründeten in einem anderen Stadtteil einen eigenen Verein.162 Die überwiegende Zahl der homöopathischen Laienvereine (69 % in Sachsen, 66 % in Baden, 76 % in Württemberg) verteilte sich indessen auf klei­ nere Städte und Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern. Wolffs Ein­ schätzung, die homöopathischen Laienvereine in Städten hätten mehr Mit­ glieder als Vereine in ländlichen Gegenden gehabt, ist nach meinen Erkennt­ nissen zu relativieren. Eine Stichprobe ergab, dass homöopathische Laienver­ eine auch in Gemeinden mit weniger als 1.000 Einwohner Fuß fassen, aufblü­ hen und sich als fester Bestandteil des örtlichen Vereinswesens etablieren konnten. Umgekehrt gab es industriell geprägte Kleinstädte mit weit mehr als 160 Wolff (1989), S. 91, vgl. auch: Kapitel 3.1.4. „Die Sozialstruktur der Mitglieder“, S. 91– 96. 161 Wolff (1989), S. 60. 162 Im nordrhein­westfälischen Vohwinkel existierten zwei homöopathische Vereine. Der erste wurde 1893 gegründet, der zweite, betont christliche, 1895. Es ist gut möglich, dass Mitglieder des ersten Vereins aufgrund des allgemeinen Religionsverbots ihre christli­ chen Grundwerte nicht ausreichend gewürdigt sahen und sich deshalb kurze Zeit später zu einem eigenen Verein zusammenschlossen. Vgl. Baschin (2012), S. 229, insbesondere Anm. 1085.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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10.000 Einwohnern, in denen homöopathische Vereine aktiv waren, die nur über eine Handvoll Mitglieder verfügten. Ausschlaggebend für die Gründung von Vereinen in eher ländlichen Regionen dürfte, wie auch schon vor 1870, die medizinische Unterversorgung der Bevölkerung gewesen sein. Als Multi­ plikatoren fungierten dabei neben den Verbänden bzw. Landesvereinen nicht zuletzt die größeren und bereits etablierten Vereine. Sie erkundigten sich, ob in einem nahegelegenen Ort ein Interesse an der Homöopathie bestand. War dies der Fall, organisierten sie einen öffentlichen Werbevortrag, der die Vor­ züge der homöopathischen Heilmethode pries und in dessen Anschluss sich dann gelegentlich ein neuer Laienverein konstituierte.163 In anderen Fällen gingen der Vereinsgründung weniger ideelle, sondern vielmehr materielle Ab­ sichten voraus: Entweder forcierte sie ein Laienpraktiker, der wie im Falle Reutlingens in den Mitgliedern eine potentielle Geldquelle erblickte und noch dazu ihre Beiträge veruntreute. Oder Pharmaunternehmer wie der in Sachsen ansässige Willmar Schwabe regten die Gründung homöopathischer Vereine an.164 Ein florierendes Vereinswesen garantierte schließlich einen Ab­ satzmarkt, den man gewinnbringend mit Medikamenten und Drogeriearti­ keln sowie homöopathischer Ratgeberliteratur bedienen konnte. 2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins? Zur Klassifikation des homöopathischen Vereinswesens 2.3.1 Theoretische Zielsetzung Konstituierten sich die ersten Laienvereine mit dem vordergründigen Anlie­ gen, einen homöopathischen Arzt zum Übersiedeln in ihre Gemeinde oder nähere Umgebung zu bewegen, so besitzt diese Zielsetzung für die Vereinsbe­ wegung nach 1870 keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr. Das Potenzial der homöopathischen Vereine erschöpfte sich auch längst nicht mehr darin, den Laienhomöopathen als Interessenvertreter und Arzneimittelbeschaffer zu die­ nen oder den Ärzten den Weg zu treuer Kundschaft zu weisen.165 Die regel­ mäßigen Treffen wurden beibehalten und durch entsprechende Kurse oder Vorträge zur Vermittlung homöopathisch­medizinischen Wissens sowie als 163 Vgl. Wolff (1989), S. 84; Baschin (2012), S. 215 u. 242. Der württembergische Landes­ verein regte nicht allein die Bildung neuer homöopathischer Vereine an. Seinem Vorbild folgend bemühten sich um 1900 mehrere Laienvereine quasi „von unten“ um die Grün­ dung eines weiteren Vereins in ihrem näheren Umfeld. So entstand etwa der Verein Rommelsbach auf Veranlassung der Laienhomöopathen aus Reutlingen, die im Novem­ ber 1908 in den benachbarten Ort kamen und dort eine „Besprechung zwecks Grün­ dung eines homöopathischen Vereins“ abhielten. Nach Zustandekommen des neuen Vereins überließen ihm die Laienhomöopathen aus Reutlingen leihweise zehn Bücher als Grundstock seiner Bibliothek (IGM/Varia 483, 15. November 1908). 164 Baschin (2012), S. 220. 165 Zu den ersten homöopathischen Laienvereinen und ihren Zielen siehe: Baschin (2012), S. 211–213, 247–249.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Forum zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch genutzt. In den Vordergrund trat nun in verstärktem Maße die Verbreitung und nicht zuletzt die „Beleh­ rung“ der Mitglieder über „das Wesen und den Nutzen der Homöopathie“166. Wie dieser Anspruch in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte, darüber geben die Vereinsstatuten Aufschluss. Der Homöopathische Verein Ronsdorf nahm sich laut seiner Satzungen von 1877 vor, dahingehend zu wirken, dass seine „Mitglieder sich in Krankheitsfällen bei Anwendung der homöopathi­ schen Heilmethode gegenseitig unterstützen und helfen, sowie zur Verbrei­ tung der Homöopathie nach Kräften beitragen“167. Ganz ähnlich lauteten die Passagen in den Statuten des Vereins Bischheim. Sein Programm verfolgte in erster Linie den Zweck, den Mitgliedern „soweit es den Laien möglich [ist], über das Wesen und Nutzen der Homöopathie […] klare Einsicht und Beleh­ rung zu verschaffen“168. Dasselbe Ziel setzten sich auch die homöopathischen Vereine in Württemberg. Der Verein Stuttgart­Wangen bestimmte unter dem ersten Paragraphen seiner 1889 verabschiedeten Satzung, dass sein Haupt­ zweck die Aufklärung der Mitglieder in Sachen homöopathische Arzneimit­ teltherapie bzw. Befähigung zur gegenseitigen Hilfeleistung sei.169 Auch der Verein Nagold verfolgte nicht mehr primär die Anstellung eines homöopa­ thischen Arztes, sondern war bestrebt, durch „Ermunterung und Belehrung in periodischer Versammlung […] die Sache der Homöopathie zu fördern und auszubreiten“170. Ganz konkret um Selbstmedikation mittels homöopathi­ scher Arzneimittel ging es den Laienhomöopathen in Rohracker: „Der Zweck des Vereins ist, den Mitgliedern, aber auch nur diesen, bei eintretenden Krankheiten homöopath. Arzneimittel zu verabfolgen und zwar unentgeldlich [sic]“171. Über die Art und Weise der Umsetzung dieses Anspruchs schienen sich die Laienvereine ebenfalls einig zu sein. Fester Bestandteil nahezu je­ der172 Satzung waren neben rein formalen Regelungen drei wesentliche An­ gebote: erstens die regelmäßig stattfindenden Versammlungen, im Rahmen 166 StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55. 167 StA Wuppertal P III 228. 168 DHMD/L 1998/60. Es ist anzunehmen, dass die Vereinsführung damit andeuten wollte, dass Laien, so sehr sich auch mühen und gute Lehrmeister zu Rate ziehen, sich nicht wie Ärzte ein tieferes Verständnis von der Sache anzueignen im Stande sind. Zwischen den Zeilen zu lesen ist: „Irgendwann ist immer die Grenze der Laienpraxis und des Laienver­ ständnisses erreicht, dessen sind wir uns stets bewusst und diese Grenzen wollen wir auch gar nicht zu überschreiten“. Wohl im Vorfeld vermieden werden sollten damit et­ waige Spannungen mit der homöopathischen Ärzteschaft, der eine erstarkende Laienbe­ wegung nicht zwingend ein Dorn im Auge, so doch aber zumindest eine janusköpfige Erscheinung war. Der Verein Kleinrückerswalde benutzt in seinen Statuten denselben Wortlaut (StA Annaberg Rep. IV. Lit. V Nr. 55). 169 IGM/Varia 371, 20. Februar 1889. 170 IGM/Varia 419, Vereinsstatuten von 1888. 171 IGM/Varia 72, Januar 1895. 172 Der Homöopathische Verein Grasberg organisierte keine Versammlungen, sondern be­ schränkte sich als genossenschaftliche Vereinigung einzig auf die Versorgung seiner Mit­ glieder mit homöopathischen Medikamenten Vgl. LA Stade Rep. 72/172 Lilienthal Nr. 281.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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derer „Vorträge über Homöopathie“173 stattfinden sollten. Zweitens schrieben viele Vereine die Anschaffung und stetige Vergrößerung von Vereinsbibliothe­ ken in ihren Statuten fest. Die Bibliotheken bzw. die Bücher dienten ebenso wie die Vorträge der Belehrung und Aufklärung. Die Mitglieder konnten auf diese Weise das in den Versammlungen Gehörte bei Bedarf zuhause rekapitu­ lieren oder die Ratgeber bei Bedarf zur Selbst­ und Fremdmedikation nutzen. Gleiches galt für die homöopathischen Zeitschriften, die anfangs in wenigen Exemplaren unter den Laienhomöopathen zirkulierten, später dann von je­ dem Mitglied per Abonnement „frei ins Haus“174 bezogen werden konnten. Die dritte Einrichtung, die trotz problematischer Rechtslage weit verbreitet war, diente vor allem der Selbsthilfe in akuten Not­ oder Krankheitsfällen: Um in strukturschwachen Gebieten wenigstens die Versorgung der Bevölke­ rung mit homöopathischen Medikamenten gewährleisten zu können, gingen viele Vereine dazu über, eigene Apotheken (Niederlagen) anzuschaffen.175 Die Mitglieder hatten das Recht, diesen Vereinsapotheken im Bedarfsfall Me­ dikamente zu entnehmen, entweder kostenlos oder gegen Entrichtung einer kleinen Gebühr. Mit diesen unmittelbaren und mittelbaren Angeboten ist grob umrissen, auf welche Weise die homöopathischen Vereine ihren Mitgliedern Wissen über Gesundheit im Allgemeinen und Homöopathie und die homöopathi­ sche Behandlung von Krankheiten im Besonderen zu vermitteln versuchten. Über die Satzungen lässt sich allerdings nur die äußere Gestalt dieser Ange­ bote erahnen. Aus den Statuten geht indessen nicht hervor, ob diese Ange­ bote langfristig erfolgreich waren oder sie sich im Laufe der Zeit formal und inhaltlich weiterentwickelten. Unklar bleibt zudem die Fülle an Aufgaben und Tätigkeiten, die nicht in die Vereinsstatuten aufgenommen worden sind. Dass es neben Vorträgen über Homöopathie, Vereinsbibliotheken und ­apotheken noch weitere Angebote gegeben haben muss, darauf lassen jedenfalls zwei Artikel in den homöopathischen Zeitschriften schließen. Im Oktober 1895 erschien im Vereinsteil der LPZ ein Artikel, der „Winke für die Leiter homöo­ pathischer Verein“176 bereithielt. Um vor allem die Vereinsabende interessant zu gestalten, sollten Vorträge zu verschiedenen Themen aus den Bereichen Homöopathie, Anatomie und Physiologie gehalten werden. Wichtig seien ebenso Vorträge über Krankheiten, die von Laien behandelt werden können. Das erlernte Wissen könne dann durch die Teilnahme an einem „Samariter­ Cursus“ auf praktischer Ebene vertieft und erweitert werden. Ein homöopathi­ scher Arzt empfahl einige Jahre später in den HM den Laienvereinen, für eine „interessante und reichhaltige Tagesordnung“177 zu sorgen. Zu denken sei etwa an „Rabatt bei Bezug der Arzneien, Verbandstoffe, Krankenpflege­ 173 StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55. 174 IGM/Varia 419, Vereinsstatuten. 175 Zu den Vereinsapotheken siehe ausführlich: Wolff (1996), S.  102–131; Baschin (2012), S. 245–272. 176 LPZ 26 (1895), S. 193. 177 HM 23 (1898), S. 6–9.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

utensilien, Bäder etc, vielleicht eine Kranken= oder Arztkasse für freie ärztli­ che Behandlung“. Nicht zu kurz dürften schließlich „gesellige Reize und Ver­ gnügungen“ kommen, die wie die monatlichen Treffen zur Aufrechterhaltung der Vereinsbindung nötig seien. Das alleinige Lesen der Vereinssatzungen lässt also nur in begrenztem Maße Rückschlüsse über die einzelnen Aktivitä­ ten der homöopathischen Laienbewegung zu. Anhand der streckenweise äu­ ßerst detailreichen Protokollbücher soll daher im Folgenden überprüft wer­ den, wie die einzelnen homöopathischen Laienvereine zwischen 1870 und 1914 die Satzungsparagraphen in die Praxis umsetzten und welche Angebote darüber hinaus in das Vereinsprogramm aufgenommen worden sind. Zum einen dient diese „Klassifikation“ der homöopathischen Laienvereine im spä­ teren Verlauf der Arbeit als Grundlage und Fixpunkt, um die Entwicklung der Laienbewegung erfassen und vor dem Hintergrund parallel laufender politi­ scher, ökonomischer und soziokultureller Prozesse analysieren zu können. Zum anderen ermöglicht erst die Rekonstruktion der Vereinskultur in ihre praktischen wie theoretischen Einzelteile die Definition einer spezifischen „homöopathischen Medikalkultur“, deren Anfänge weit in das 19.  Jahrhun­ dert zurückreichen und die bis in die Gegenwart Bestand hat. 2.3.2 Versammlungen mit Vorträgen In den regelmäßig stattfindenden Vereinsversammlungen kamen die Mitglie­ der zusammen, ließen bei Bier, Zigarren und kleineren Verköstigungen den oftmals von harter Arbeit geprägten Alltag hinter sich und tauschten sich über gesammelte Erfahrungen in Sachen Gesundheitspflege und homöopathische Krankheitstherapie aus. Dazu luden vor allem die Vorträge oder Vorlesungen ein, die von den Vereinen bald nach ihrer Gründung in das Vereinsprogramm aufgenommen worden sind und die sich als geeignetes Instrumentarium er­ weisen sollten, um gesundheitsrelevantes Wissen zu vermitteln und dadurch neue Mitglieder zu werben.178 Nachdem die primären Zielsetzungen (Auf­ und Ausbau der Vereinsinfrastruktur, Einrichtung einer eigenen Bibliothek oder Apotheke) nach einigen Jahren erfolgreich umgesetzt worden waren, kümmerten sich die Vorstände aktiv um die Veranstaltung von größeren und kleineren Vorträgen rund um die Themen Krankheit und Gesundheit. Nicht ohne Erfolg, wie Diagramm 8 am Beispiel der homöopathischen Laienver­ eine Reutlingen und Stuttgart­Wangen entnommen werden kann: Nach den Anfangsjahren, die der Konsolidierung dienten, gelang beiden Vereinen die Organisation einer regen Vortragspraxis. In den Jahren zwischen 1888 bzw. 1893 und 1914 wurden in insgesamt 120 (Stuttgart­Wangen) und 153 (Reutlin­ gen) Fällen gesundheitsrelevante Themen zum Gegenstand fachlicher Erörte­ 178 Diese Ansicht vertrat beispielsweise der Vizevorsitzende des Vereins in Reutlingen, der am 26. Juli 1900 im Rahmen einer Ausschusssitzung die Meinung äußerte, die Verpflich­ tung von ärztlichen Rednern sei die beste Methode, um Mitglieder zu werben (IGM/ Varia 483, 26. Juli 1900).

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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rungen gemacht; meist im Rahmen von öffentlichen oder vereinsinternen Vorträgen. Letztere konnten sich spontan ergeben und mussten nicht eigens angekündigt werden, etwa das Vorlesen eines zur Diskussion passenden Arti­ kels aus einer homöopathischen Zeitschrift. Auch waren bei beiden Vortrags­ arten Mehrfachbesprechungen möglich. Statt sich nur einer Krankheit zu widmen, ging der Redner auf mehrere Krankheitsbilder ein. Wilhelm Lang beispielsweise sprach vor den Mitgliedern des Vereins Stuttgart­Wangen im Oktober 1896 über „Erstlingskrankheiten bei Kindern“. Dabei vergas er das Zahnen ebenso wenig wie Brechdurchfall, Lungenentzündung, Scharlach, Masern und Diphterie als die gefährlichsten Kinderkrankheiten sowie die Hirnhautentzündung und klärte außerdem noch über allerlei Verletzungen und die jeweils geeigneten Mittel auf.179 Im Schnitt bereicherten jährlich etwa vier (Stuttgart­Wangen) und sechs (Reutlingen) kleinere und größere Vorlesun­ gen oder Vorträge die regelmäßigen Versammlungen. Ihre Länge hing von der Komplexität des jeweiligen Themas ab, konnte aber mitunter bis zu meh­ reren Stunden dauern und von einer Pause unterbrochen sein.180 Im An­ schluss an die Vorträge bot sich die Möglichkeit, dem Referenten Fragen zu stellen; sofern sie den Zuhörern nicht zu intim erschienen, um mit ihnen an die Öffentlichkeit zu treten. War dies der Fall, konnten die Mitglieder man­ cher Vereine ihr Anliegen anonym in einen eigens dafür eingerichteten Frage­ kasten einwerfen. Dass die Zuhörer ein kleines Büchlein mit sich führten, um sich bei den Vorträgen und Diskussionen kurze Notizen machen, ist zwar erst für spätere Zeit belegt. Gut möglich ist aber, dass sie das auch schon um 1900 taten.181 Die mitunter starken Einbrüche und Ausreißer beider Kurvenverläufe (vgl. Diagr. 8) lassen sich dadurch erklären, dass es erfolgreiche Vereinsjahre gab, in denen mehrere externe wie interne Redner das Vereinsprogramm bereicherten. In anderen Jahren blieben die Bemühungen hingegen hinter den Erwartungen zurück; es gelang nicht, ein vortrags­ und themenreiches Vereinsprogramm zu gestalten. Dass allerdings in Stuttgart­Wangen 1908 kein einziges Mal ein gesundheits­ oder krankheitsbezogenes Thema erörtert wurde, lag nicht an der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Vereinsleitung, sondern vor allem daran, dass zwischen Juli und November keine Versamm­ 179 IGM/Varia 370, 11. Oktober 1896. 180 Vgl. Wolff (1989), S. 105; Baschin (2012), S. 236. In Heidenheim dauerten die Vorträge teils bis zu drei Stunden. 181 Die Vereinsvorsitzenden hielten die Mitglieder später explizit dazu an, sich Notizen zu machen. So wurden etwa die Laienhomöopathen in Nagold erinnert, dass sie gut daran täten, „wenn sie bei den Vorträgen sich Notizen machen“ (IGM/Varia 419, 2. Februar 1920). Erhalten blieb ein solches Notizbüchlein allerdings nur in einem einzigem Fall: Emma Beck, Mitglied des Homöopathischen Vereins Esslingen, führte beim Besuch der Vereinsvorträge zwischen Februar 1951 und Oktober 1952 ein liniertes Büchlein im Ok­ tavformat mit sich, in dem sie mit geübter Schrift Einzelheiten des Gehörten festhielt. Auffallend ist, dass sich die Mitschriebe bei Frauenvorträgen deutlich ausführlicher aus­ fallen; bei allgemeineren Themen genügten ihr dagegen meist wenige Zeilen (vgl. IGM/ Varia 542).

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

16 Reutlingen

Stuttgart-Wangen

14

12

10

8

6

4

2

0 1888

1891

1894

1897

1900

1903

1906

1909

1912

Diagr. 8: Anzahl aller Vorträge und einzelnen Erläuterungen in den homöopathischen Laienvereinen Stuttgart­Wangen und Reutlingen zwischen 1888 und 1914.

lungen einberufen worden sind, in denen Vorträge oder das Verlesen eines Artikels hätten veranstaltet werden können. Über die Gründe schweigt sich der Schriftführer aus; in den Vereinsprotokollen werden jedenfalls keine Gründe genannt für die mehrmonatige Pause. Aus anderen homöopathischen Vereinen ist allerdings bekannt, dass in den Sommer­ und Spätsommermona­ ten aufgrund der Erntearbeiten keine Veranstaltungen einberufen wurden.182 Dort, wo trotz intensiver Bemühungen anfänglich oder auf Dauer keine Redner gewonnen werden konnten, etwa im sächsischen Bischheim, küm­ merte sich die Vereinsleitung um Ersatz in den eigenen Reihen: Statt inhalts­ leere Versammlungen zu veranstalten, sprangen die Mitglieder selbst in die Bresche und hielten ihren Vereinskameraden kurze Referate.183 Die dazu nö­ tigen Kenntnisse, sofern sie nicht schon vorhanden waren, erarbeiteten sie sich im Vorfeld mit Hilfe verschiedener Artikel aus homöopathischen Zeit­ schriften, Ratgebern oder Broschüren. Waren die rhetorischen Fähigkeiten der Laienredner begrenzt oder die Lust zur freien Rede gering, lasen die Re­ ferenten ihre Texte einfach vor. Diesen Vortragsstil präferierte beispielsweise der Vorsitzende des Vereins Reutlingen. Um die in der Anfangszeit noch aus­ bleibenden Fachvorträge zu kompensieren, verlas er 1894 mehrere Artikel aus Herings Hausarzt (Vergiftungen, Brandwunden) oder Adolph von Ger­ 182 Die Erledigung anstehender Feldgeschäfte hinderte beispielsweise die Mitglieder des Homöopathischen Vereins Laichingen im Sommer 1910 daran, regelmäßig Versamm­ lungen einzuberufen (IGM/Varia 64, 23. Oktober 1910). 183 Schon die Mitglieder des Vereins Göppingen wünschten sich 1883, dass etwas Interes­ santes vorgelesen werde, wenn keine Vorträge stattfinden können (IGM/Varia 225, 11. November 1883).

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

89

hardts Handbuch der Homöopathie (Diphterie).184 Andernorts übernahmen Aus­ schussmitglieder die Moderation sogenannter Erörterungsabende, bei denen die Anwesenden entweder individuelle Fragen stellen und diskutieren oder sich über zuvor festgelegte Themen austauschen konnten. Verdient machte sich hierbei vor allem der spätere Vereinsvorsitzende Sabel; er informierte seine Vereinskameraden teils sehr ausführlich über Rachitis, Keuchhusten, Brandwunden oder die Behandlung von Wahnsinn mit Hilfe von Opium.185 Die obigen Ausführungen ließen erkennen, dass die Leiter der homöopa­ thischen Laienvereine versuchten, sowohl ihren Mitgliedern als auch der inte­ ressierten Öffentlichkeit ein ansprechendes Vereinsprogramm zu offerieren. Zentraler Bestandteil dieser Bemühungen waren die der Gesundheitsbildung dienenden Belehrungen in Form von Vorträgen oder einfachen Vorlesungen. Nur beispielhaft angerissen und bisher nicht zufriedenstellend geklärt wurde die Frage nach den konkreten Inhalten, um die sich diese Belehrungen dreh­ ten. Eine ausführliche Übersicht bietet Diagramm 9, in der sämtliche Themen aufgenommen sind, die in den beiden homöopathischen Vereinen Reutlingen und Stuttgart­Wangen nachweislich zwischen 1887 bzw. 1893 und 1914 be­ sprochen wurden. Bereits der erste Blick verrät, dass das Themenspektrum außerordentlich vielfältig war, es also nicht allein um die Homöopathie oder die homöopathische Behandlung von Krankheiten ging. Im Vordergrund stan­ den vielmehr verschiedene Erkrankungen und Beschwerden, etwa der inne­ ren Organe (Lungenentzündung, Herzrhythmusstörungen, Leber­ und Nie­ renschäden), des Magen/Darm­Trakts (Brechdurchfall, Blinddarmentzün­ dung) oder des Hals­Nasen­Ohren­Bereichs (Kopfschmerzen, Hirnhautent­ zündung, Grippe/Influenza, Erkältungskrankheiten). Da entsprechende Impf­ stoffe vor 1914 noch kaum verfügbar waren, wurden in beiden Vereinen häu­ fig Infektionskrankheiten wie Diphterie (6 Reutlingen/15 Stuttgart­Wangen), Scharlach (3/5) und Tuberkulose (5/2) thematisiert. Aufschlussreich für die Wahrnehmung und Einschätzung dieser um 1900 allgegenwärtigen Infektions­ krankheiten sind handschriftliche Aussagen in den Protokollbüchern: Der Schriftführer des Vereins Reutlingen hielt beispielsweise das Fazit einer Dis­ kussion der Vereinsmitglieder fest, die sich im Juni 1899 anlässlich eines Erör­ terungsabends über Tuberkulose entfachte. Nach lebhaftem Hin und Her war man sich letztlich einig, dass die Beseitigung dieser „verheerende[n] Krank­ heit bei der arbeitenden Bevölkerung nur durch eine gründliche Sozial­Re­ 184 IGM/Varia 482, 4. März, 8. April, 10. oder 11. Oktober 1894. Ähnliches berichtet der Schriftführer über die Anfangszeit des Homöopathischen Vereins Bischheim. Dort hielt der Vorsitzende seinen Vereinskameraden verschiedene Vorlesungen, denen Abschnitte aus homöopathischen Ratgebern oder Zeitschriftenartikel der LPZ zugrunde lagen (DHMD/L 1998/62, Protokolle 1899–1903). Erst 1903, vier Jahre nach der Vereinsgrün­ dung, nahmen die Vorlesungen ab und die Vorträge zu. 185 Sabel reagierte damit auf einen im September 1897 im Reutlinger General­Anzeiger er­ schienenen Zeitungsartikel. Offenbar erschien ihm das Thema trotz seines fehlenden Bezugs zur Homöopathie geeignet, um im Rahmen des Erörterungsabends darüber zu sprechen. Möglich, dass er eine konträre Position einnahm, war doch die Gabe von Opiaten vor allem unter Allopathen verbreitet (IGM/Varia 482, 12. September 1897).

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

form und Hebung der pekuniären Lage der Arbeiterschaft möglich sei“186 Diese Überzeugung widerspricht Wolffs Befund, demzufolge im Heidenhei­ mer Verein „kaum ein Bewußtsein für soziale Krankheitsursachen“ bestanden habe.187 Da der zitierte Protokolleintrag allerdings einer der wenigen Bei­ spiele für eine soziale Perspektive auf Krankheiten ist, vermag er die Einschät­ zung von Wolff nicht zu widerlegen – zumindest nicht in Bezug auf die Zeit um 1900. Ebenso wenig wie die Laienhomöopathen versuchten, die sozialen Ursachen der Infektionskrankheiten abzuschaffen, strebten sie einen gesell­ schaftlichen Wandel an – weder durch eine Selbst­ noch durch Staatsreform.188 Stattdessen konzentrierte man sich auf die Linderung und Eindämmung der Auswirkungen infektiöser Krankheiten, indem man die Vereinsmitglieder und Leser der Zeitschriften über ihre Verhütung und homöopathische Behand­ lung aufklärte, nicht aber zu gesundheitspolitischer Intervention oder einer lebensverändernden Selbstreform aufrief. 25

23

22

Reutlingen: 153

Wangen: 120

20 16

12

10 7

5

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7

0

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7

5 3 1

11

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9 7

6

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4

3

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2 2 0

1

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2 0

7

7 4 1

2

2

Diagr. 9: Häufigkeit einzelner Themenbereiche in den Vereinen Reutlingen und Stuttgart­ Wangen.

Ein wesentlicher Teil der Vorträge behandelte Krankheiten nicht geschlechts­ neutral, sondern setzte sich explizit und ausschließlich mit dem weiblichen Körper auseinander. Das lag daran, dass gezielt Frauen als Gesundheitsbe­ auftragte der Familie angesprochen und unterrichtet werden sollten (vgl. Kap. 2.1). Um möglichst viele Frauen für die Vorträge zu interessieren, laute­

186 IGM/Varia 483, 3. Juni 1899. 187 Wolff (1989), S. 181. 188 Zu den Zielsetzungen der Lebensreformer siehe: Barlösius (1996), S.  217–224; Faltin (1996), S. 143–165.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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ten die Titel der stets gut besuchten189 und von der Naturheilkundlerin Frida Wörner gehaltenen Vorträge schlicht „Frauenleiden“ bzw. „Frauenkrankhei­ ten“ oder ausführlicher: „Die häufigsten Unterleibsleiden der Frauen, deren Verhütung und Behandlung“. Andere trugen den reißerischen Titel: „Warum gibt es so viele kranke Frauen?“ oder versprachen „Einiges über die schweren Zeiten der Frau“ berichten zu wollen. Seltener, aber nicht weniger ausführlich widmeten sich die Frauenvorträge der Kindererziehung. In Reutlingen sprach Frida Wörner beispielsweise im Oktober 1907 über das Thema „Wie erziehen wir unsere Töchter zu Frauen und Müttern?“ Über die konkreten Vortragsinhalte ist außer dem Titel nichts bekannt, da von den frühen Frauenvorträgen keine Protokolle angefertigt worden sind. Die Gründe liegen im Dunkeln: Entweder konnte das bei diesen Vorträgen Gesagte nicht mitgeschrieben werden, da der Vereinsschriftführer als Mann keinen Zutritt zu den Frauenveranstaltungen hatte. Oder die Vereine hielten es angesichts der überschaubaren Zahl an weiblichen Mitgliedern für nicht notwendig, die frauenspezifischen Vortragsinhalte ins Protokollbuch einzutra­ gen. Aus den Protokollen der in den 1920er Jahren gegründeten Frauengrup­ pen ist aber bekannt, dass in den Frauenvorträgen zunächst ein gewisses Grundwissen über den weiblichen Körperbau vermittelt und daran anknüp­ fend die entsprechenden Erkrankungen und deren homöopathische sowie naturheilkundliche Behandlung erläutert wurde. Vorträge, die sich dezidiert dem männlichen Körper und seinen anatomischen, physiologischen wie pa­ thologischen Besonderheiten widmeten, gab es während des gesamten Unter­ suchungszeitraums indessen nur ein einziges Mal. Am 20. Januar 1933 hielt ein gewisser Dr. Ruopp vor den ausschließlich männlichen Mitgliedern der Homöopathie­, Sport­ und Gesangsvereine in Stuttgart­Wangen einen Licht­ bildervortrag über „Geschlechtskrankheiten“190. Frauen waren nicht geladen, obwohl das Thema für sie nicht minder interessant gewesen wäre. Vor 1914 könnte sich lediglich ein Vortrag über die als Sucht und Krankheit bezeich­ nete „Onanie“ verstärkt an Männer gerichtet haben. Der Adressatenkreis geht aber aus dem Protokoll ebenso wenig hervor wie der konkrete Vortragsin­ halt.191 189 Die Vereinsschriftführer protokollierten meist einen sehr guten Besuch der Vorträge. Quantifizieren lassen sich solche unpräzisen Angaben durch die spärlichen Angaben von Besucherzahlen: Im November 1911 hielt Wörner im Verein Stuttgart­Wangen vor 180–200 Zuhörerinnen einen Vortrag über die „Entwicklungs­ und Wechseljahre mit ih­ ren Folgezuständen und krankhaften Veränderungen“ (IGM/Varia 371, 30.  November 1911). Dem Laienverein Reutlingen wiederum spülte ein Vortrag von Wörner 33 Mark in die Kasse. Bei einem Eintrittsgeld von 20 Pfennigen waren demnach 165 Zuhörer anwesend, zu denen sich sicherlich noch etliche Vereinsmitglieder (die kostenfreien Ein­ tritt hatten) gesellten. Unter „sehr gut besucht“ wird demnach eine Teilnehmerzahl von rund 200 zu verstehen sein (IGM/Varia 483, 21. Februar 1900). 190 Zu Geschlechtskrankheiten im 19. und 20. Jahrhundert siehe ausführlich: Sauerteig (1999). 191 Masturbation und Onanie spielten  – im Gegensatz zum zeitgleich darüber geführten Diskurs – auch in den Periodika so gut wie keine Rolle. Im entsprechenden Textkorpus findet sich lediglich ein Artikel über die „Heilung moralischer Krankheiten durch ho­

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Das breite Themenspektrum192 war damit noch lange nicht erschöpft: Es reichte von Haut­ über Zahnbeschwerden, streifte Nervosität und Nerven­ krankheiten, behandelte „Bakterien in ihrer Beziehung zum Leben des Menschen“193, die Grippe, Kopfschmerzen, Rheumatismus und Gicht, be­ rücksichtigte Erste Hilfe bei Ohnmachtsanfälle, Brandwunden und Insekten­ stichen ebenso wie Fragen der Ernährung, des Schutzes vor einer Lebensmit­ telvergiftung oder betraf Ratschläge bei Schlaf­ und Verdauungsstörungen. Stets mitgedacht werden muss dabei, dass am Ende jeder längeren oder kür­ zeren Belehrung die Angabe und Dosierung von homöopathischen Medika­ menten folgte, die im jeweiligen Fall eingenommen werden sollten. Dadurch erklärt sich, warum die eigenständige Erläuterung von homöopathischen Arz­ neimitteln (8 Reutlingen / 7 Stuttgart­Wangen) vergleichsweise selten und meist nur im Rahmen von vereinsinternen Diskussionen zur Sprache kamen.194 Größere, öffentliche Vorträge  – etwa des Hahnemannia­Sekretärs Reichert über die „Grundzüge und Vorteile der Homöopathie und ihrer Arzneimit­ tel“195  – nahmen sich der homöopathischen Arzneimitteltherapie eher als Ganzes an und versuchten, den mehr oder weniger versierten Zuhörern einen groben Überblick über die pflanzlichen, tierischen und mineralischen Grund­ stoffe, Herstellungsverfahren und Wirkungsweisen zu vermitteln. Aus Diagramm 9 geht hervor, dass die Krankheitsaufklärung und Gesund­ heitsbildung in den beiden homöopathischen Vereinen Reutlingen und Stutt­ gart­Wangen außerordentlich vielseitig war. Ohne näher auf den konkreten Inhalt der Vorträge einzugehen, bleibt dieser Befund aber relativ nichtssa­ gend. Er vermittelt keine Vorstellung davon, welcher Struktur, welchen Theo­ rien, welchen Schlussfolgerungen das darin Gesagte folgte. Die exemplarische Wiedergabe eines Artikels, der im Reutlinger General­Anzeiger abgedruckt wurde und über einen am 7. November 1899 gehaltenen Vortrag von Frida Wörner berichtet, scheint daher geeignet, die bisherigen Ausführungen zu komplettieren. Vor einem „bis auf den letzten Platz“ besetzten Saal des Gast­ hauses „Traube“ referierte Frida Wörner an diesem Abend über „Magenlei­ den und Verdauungsbeschwerden“: In gemeinverständlicher Weise gab die Vortragende zunächst eine genaue Beschreibung von der Beschaffenheit und den Funktionen des gesamten zur Ernährung des Menschen dienenden Apparats. […] Nachdem hierauf sowohl die mechanische wie die chemische

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möopathische Arzneien“, der die „körperlichen Folgezustände geschlechtlicher Leiden­ schaften (krankhafte Sinnlichkeit, Onanie rc.)“ aber lediglich erwähnt. Eine eingehen­ dere Thematisierung behielt sich der Autor für einen später erscheinenden Aufsatz vor. HM 25 (1900), S. 119. Vgl. zur homöopathischen „Masturbationstherapie“ auch: Weigl (2012), S. 222 f. Zu den innerhalb der homöopathischen Laienbewegung besprochenen Themenfelder siehe auch: Baschin (2012), S. 237. Dieser „Vortrag mit Demonstrationen“ wurde am 26. März 1909 von Richard Haehl im Saal des Vereinslokals „Zur Harmonie“ in Reutlungen gehalten (IGM/Varia 483, Datum wie angegeben). IGM/Varia 482, Juni 1896 und IGM/Varia 483, 22. Januar 1899. IGM/Varia 371, 5. Januar 1907.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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Thätigkeit des Magens, ebenso diejenige der Gedärme eingehende Besprechung gefun­ den, ging Rednerin [sic] auf die Krankheiten des Magens über, und zwar zuerst auf den akuten Magenkatarrh. Als Ursachen für denselben wurden aufgeführt: Genuß von zu heißen Speisen, Mißbrauch des Alkohols, zu kaltes Trinken, Genuß von der Zersetzung schon anheimgefallenen Speisen, insbesondere aber auch geistige Überanstrengung. Die Symptome dieser Krankheit fanden eine eingehende Schilderung, worauf die Vortra­ gende die in einem solchen Fall angezeigten homöopathischen Mittel, ebenso die hierauf bezüglichen Wasseranwendungen nannte. […] Der von den Zuhörern mit lebhaftem In­ teresse und dankbarem Beifall aufgenommene Vortrag war durch zahlreiche anatomi­ sche Karten in anschaulicher Weise illustriert.196

Der Zeitungsbericht suggeriert dem Leser, bei einem homöopathischen Ver­ ein handle es sich in erster Linie um einen Gesundheitsverein. Die Homöopa­ thie wird nur in einem Nebensatz, die Schulmedizin weder positiv noch nega­ tiv erwähnt. Vermieden werden sollten damit wohl Irritationen mit den örtli­ chen Gesundheitsbehörden und allopathischen Ärzten, die die öffentlichen Äußerungen der Laienhomöopathen aufmerksam verfolgten. „Darüber hin­ aus könnte das Fehlen einer intensiven Beschäftigung mit der etablierten Me­ dizin als Ausdruck des Resignierens gegenüber einer sich hermetisch ab­ schließenden Schulmedizin gewertet werden; andererseits aber auch so, daß der Verein dieser Medizin nicht per se kritisch gegenüberstand.“197 Diese selbstauferlegte Zurückhaltung oder „splendid isolation“, von der Eberhard Wolff in diesem Kontext spricht198, scheint mir geeignet gewesen zu sein, um möglichst anschlussfähig zu bleiben und verschiedene Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Denn letztlich war ein öffentlicher Vortrag nichts anderes als ein probates Werbemittel für die homöopathische Laienbewegung, weswegen es sich nicht anbot, die Zuhörer mit Angriffen auf die Schulmedizin zu ver­ prellen. Ein kurzer Kommentar des Schriftführers in Nagold über einen Vortrag zeigt, dass das Anschlagen von sachlichen Tönen durchaus goutiert wurde: „Die klare populärwissenschaftliche Darstellung des Redners, der sich eines vornehmen, von jeder Polemik gegen seine allopathischen Kollegen freien Tons befleißt, erntete reichen Beifall“199. Auch andernorts bemühte man sich um ein friedliches Auskommen mit den schulmedizinischen Ärzten: Da in Kirchheim um 1892 ein „Zeitungskrieg“ zwischen dem Calwer Vereinsvorsit­ zenden Weberheinz und dem örtlichen Apotheker und Arzt entbrannte, be­ schlossen der Göppinger Verein, „daß für Göppingen und die Aufrechterhal­ tung des Friedens zwischen Homöopathen und Allopathen in hiesiger Stadt die Heranziehung von Weberheinz zu Vorträgen nicht ersprießlich sein würde.“200 In den Monatsblättern setzte sich ein friedvollerer Umgang mit der Allopathie hingegen erst nach dem Wechsel der Schriftleitung durch. Der homöopathische Arzt Richard Haehl löste 1898 den Laien August Zöppritz 196 197 198 199 200

IGM/Varia 483, 7. November 1899. Wolff (1989), S. 125. Wolff (1989), S. 124. IGM/Varia 419, 12. Januar 1902. IGM/Varia 225, 10. Januar 1892.

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als Redakteur ab, der im Kampf gegen die Gegner der Homöopathie allzu oft eine „scharfe Feder“ führte.201 Haehl dagegen übte sich bis zur Niederlegung seines Amtes 1910 in Mäßigung, war er doch stets der Überzeugung, „daß die Propaganda für die Homöopathie keineswegs einer fortgesetzten Polemik be­ darf, sondern daß im Gegenteil das Ansehen und die Verbreitung unseres Heilsystems durch belehrende Aufsätze und fachliche Abhandlungen weit eher gefördert werden können als durch Angriffe Andersdenkender.“202 Doch zurück zum zitierten Zeitungsbericht: Ihm ist darüber hinaus zu entnehmen, dass sich das Gesagte nicht nur in Heidenheim, sondern auch in Stuttgart­Wangen an den „positiv besetzte[n] Werte[n]“203 Wissenschaftlichkeit und Rationalität orientierte. Nicht nur bildeten die naturwissenschaftlich fun­ dierten Erkenntnisse über den Körper und seine Funktionsweise die Basis der nachfolgenden Ausführungen. Zusätzlich griff die Rednerin auf etablierte Ter­ mini („Magenkatarrh“) zurück und stützte sich bei der Krankheitsentstehung auf pathogenetische Erklärungsmuster. Die Verbreitung von medizinischem Aberglauben kann Frida Wörner also ebenso wenig unterstellt werden wie eine generelle Entfremdung der Laienhomöopathen von der etablierten Me­ dizin. Signifikante Unterschiede lagen lediglich in der Methodik, nicht zwin­ gend in der Theorie. Zu dieser Einschätzung kommt auch Wolff, nachdem er die Vortragspraxis des Vereins Heidenheim einer eingehenden Analyse unter­ zogen hat.204 Bestätigt werden kann zudem, dass die Vorträge der homöopa­ thischen Laienvereine die Ausprägung der sich zu dieser Zeit entwickelnden „Organperspektive“ der Ärzteschaft begünstigten. So erinnerte Frida Wörner ihre Zuhörer zwar daran, dass die Entstehung von Krankheiten immer auch von der jeweiligen Lebensweise abhängt, ja sogar von „geistige[r] Überan­ strengung“ herrühren können. Letztlich macht sie ihre Ausführungen aber doch an einem einzelnen Krankheitsbild bzw. an einem erkrankten Organ fest. Das aus Diagramm 9 bekannte Krankheitspanorama stützt die These, dass die Laienhomöopathen in erster Linie einzelne Krankheitsbilder und de­ ren homöopathische Behandlung zum Thema ihrer Vorträge machten – selbst dann, wenn diese Vorträge nicht von Homöopathen, sondern ganzheitlich orientierten Naturheilkundlern gehalten wurden. Abschließend soll noch die Bedeutung der Vorträge kurz angesprochen werden. Die beachtlichen und beispielhaften Mitgliederanstiege der oben an­ geführten Vereine fielen zweifelsohne mit anderen Faktoren zusammen, allen voran mit der noch zu thematisierenden Einrichtung einer Vereinsapotheke und/oder ­bibliothek. Aus beiden erwuchs den Mitgliedern ein materieller 201 HM 25 (1900), S. 2. 202 HM 35 (1910), S. 177 f. Meist bestanden die Angriffe darin, die Homöopathie ins rechte Licht zu rücken, indem deren Erfolge gepriesen und den Misserfolgen der Allopathie gegenüber gestellt wurden. Das Ziel solcher Artikel war, „dem homöopathischen Laien­ publikum zu zeigen, was die Homöopathie mit ihren anscheinbar geringwerthigen, so viel verschrieenen Tropfen und Pulvern zu leisten im stande [sic] ist gegenüber der Allo­ pathie mit ihren Roßkolben“ (HM 15 (1890), S. 98). 203 Wolff (1989), S. 126. 204 Wolff (1989), S. 125.

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Nutzen; erst recht, wenn der betreffende Ort über keine homöopathische Apotheke verfügte. Zu Bekanntheit und Anziehungskraft verhalfen den ho­ möopathischen Laienvereinen dennoch die mit Frage­ und Antwortrunden verbundenen Vorträge, die vom Publikum mitunter „begeistert aufgenom­ men“205 wurden. Sie bildeten den Kern der Vereinsarbeit. Umso mehr, als sich andere Formen der Wissensvermittlung um 1900 noch nicht vollends etabliert hatten. Auch waren die Vorträge das eigentliche und einzige Sprach­ rohr, die Schnittstelle zur Außenwelt, Mittel der Repräsentation und Möglich­ keit zur Überzeugung Fernstehender.206 Zu den öffentlichen Vorträgen ström­ ten in größerer Zahl nämlich längst nicht nur Anhänger der Homöopathie, sondern auch Interessierte und der Homöopathie und Naturheilkunde gegen­ über Aufgeschlossene. Die Zuhörer erwartete in den Vereinslokalen in aller Regel ein inhaltlich seriöser und auch für Laien leicht verständlicher Vortrag, der wenig gemein hatte mit medizinischer Quacksalberei oder der Propagie­ rung einer asketischen Lebensreform. Insofern verwundert es nicht, dass sich gerade die öffentlichen Vorträge zu einem gesellschaftlichen Ereignis entwi­ ckelten, das besonders in ländlichen Regionen den örtlichen Kulturkalender bereicherte. 2.3.3 Kurse In Anknüpfung an die Vorträge über Erste Hilfe erweiterten einige homöopa­ thischen Vereine ihr Bildungsprogramm allmählich um das Angebot entspre­ chender Kurse. 1898 veranstaltete beispielsweise der Verein Nagold einen „Samariter Curs“, in dem über die „Schnelle Hilfe bei plötzlichen Unglücks­ fällen“ aufgeklärt wurde.207 Auch der Laienverein Reutlingen unterwies seine Mitglieder im Rahmen eines Erörterungsabends über die Versorgung akuter Notfälle wie Blutungen, Verbrennungen, Fremdkörper im Auge, Ohnmacht, Insektenstiche oder Bewusstlosigkeit.208 Sehr wahrscheinlich führten die Refe­ renten bei beiden Veranstaltungen die praktischen Übungen vor oder leiteten zu deren Wiederholung durch die Teilnehmer an. Das war jedenfalls in Karls­ ruhe­Durlach der Fall, wo ein homöopathischer Arzt um 1900 mehrere Unter­ richtskurse leitete, zu denen auch die Vereinsmitglieder eingeladen waren. Im Kurs wurden neben der allgemeinen Gesundheitspflege auch „erste Hilfe bei Verletzungen und plötzlichen Erkrankungen, Bäder, Güsse, Packungen“ sowie „das Verhalten am Krankenbette“ behandelt.209 An dem bestimmenden Thema „Erste Hilfe“ sollte sich vorerst nichts ändern, die Anleitung zur 205 DHMD/L 1998/62, 29. April 1900. 206 Gemeint sind mit diesen Funktionen freilich nur öffentliche Vorträge; die kleineren ver­ einsinternen, die lediglich dem Unterricht der Mitglieder dienten, bleiben hier außen vor. 207 IGM/Varia 419, 5. Februar 1898. 208 IGM/Varia 483, 12. Juni 1900. 209 HM 25 (1900), S. 30.

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Wundversorgung blieb zentraler Gegenstand der veranstalteten Kurse. Von zentraler Bedeutung waren sie indessen nicht, denn zwischen 1900 und 1912 nahm keiner der untersuchten homöopathischen Laienvereine einen prakti­ schen Vortrag über Erste Hilfe in sein Jahresprogramm auf. Erst kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wuchs das allgemeine Interesse an derartigen Kursen wieder. Ende 1912 brachte der Vorsitzende des Vereins Rohracker, Emil Ohnmeiß, den Vorschlag ein, einen Verbandskurs abhalten bzw. eine Samariterkolonne aufzustellen, wozu sich spontan etliche Männer bereit er­ klärten.210 Bewusst oder unbewusst folgten dieser Anregung auch die Laien­ homöopathen in Fellbach, als sie im August 1913 den Besuch eines Erste­ Hilfe­Kurses beim örtlichen Arbeitersamariterbund beantragten.211 Auch die Vereinskameraden in Stuttgart­Wangen gedachten, der „Nächstenhilfe“ da­ durch auf die Sprünge zu helfen, dass sie im Spätjahr 1914 einen gleichlauten­ den Sanitätskurs veranstalteten.212 Allein der Kriegsausbruch vereitelte die Durchführung dieses Vorhabens, sorgte auf zynische Weise aber letztlich doch dafür, dass die Mitglieder ihre Kenntnisse in Sachen Wundversorgung auffri­ schen mussten. 2.3.4 Vereinsbibliotheken und homöopathische Zeitschriften In den Statuten als Mittel zur gegenseitigen Belehrung, gesundheitlichen Auf­ klärung und Verbreitung der Homöopathie festgeschrieben, kam der Einrich­ tung einer gut sortierten Bibliothek besondere Bedeutung zu. Nahezu alle213 homöopathischen Laienvereine trugen unmittelbar nach ihrer Gründung Sorge dafür, dass solche Lehrbücher und Broschüren angeschafft wurden, „die einen schnellen und unkomplizierten Zugriff auf das jeweilige homöopa­ thische, aber auch naturheilkundliche Spektrum der Therapiemöglichkeiten boten.“214 In manchen Fällen halfen benachbarte Laienvereine bei diesem Unterfangen aus, indem sie ihren Vereinsbrüdern einige abkömmliche Schrif­ ten entweder schenkten oder ausliehen.215 Bei der Beschaffung wichtiger Rat­ geberliteratur konnten die Vereine auch auf die Unterstützung der Dachver­ bände hoffen. In Württemberg hatten die angeschlossenen Zweigvereine das Recht, aus der Bibliothek der Hahnemannia Bücher zu entleihen.216 Wegen der klammen Vereinskassen machten sie davon offenbar regen Gebrauch. Je­ denfalls sah sich der Sekretär der Hahnemannia August Zöppritz schon 1887 210 IGM/Varia 72, 17. Dezember 1912. 211 IGM/Varia 68, 31. August 1913. Zum Arbeitersamariterbund siehe: Herrmann (1990), S. 41. 212 IGM/Varia 372, 16. März 1914. 213 Eine Ausnahme stellt lediglich der Verein Grasberg dar, der sein vordergründiges Ziel darin sah, seine verstreuten Mitglieder mit homöopathischen Arzneimitteln zu versor­ gen. 214 Wolff (1989), S. 111. 215 IGM/Varia 483, 19. Dezember 1908. 216 Baschin (2012), S. 240 f.

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gezwungen, den Göppinger Laienhomöopathen den Bücherbezug aus Stutt­ gart zu verbieten. Die Bibliothek des Landesvereins sei aufgrund der wachsen­ den Zahl an Zweigvereinen überlastet. Auch bedürfe man der Bücher größ­ tenteils selbst, um Vorträge oder in den Homöopathischen Monatsblättern erschei­ nende Artikel vorzubereiten.217 Der tatsächliche Grund, weswegen man ge­ rade dem Göppinger Zweigverein das Recht auf Bücherbezug entzog, geht aus den Protokollen nicht hervor. Vermutlich traute man dem bereits seit vier Jahren bestehenden und florierenden Verein die Selbstständigkeit zu und wollte Kapazitäten für bedürftigere Zweigvereine freimachen. Starthilfe leisteten den homöopathischen Laienvereinen auch Pharmaun­ ternehmen: Willmar Schwabe beispielsweise erkannte in den Vereinsmitglie­ dern schon früh einen lukrativen Absatzmarkt, der nicht nur nach homöopa­ thischen Medikamenten verlangte, sondern auch nach einem für den Laien­ gebrauch zugeschnittenen Literaturangebot.218 Diesem Bedürfnis kam er da­ durch entgegen, dass er den neugegründeten Laienvereinen kostenlose Bü­ cherpakete zusandte219 und sie auf diese Weise zugleich als künftige Kunden zu gewinnen versuchte. Gleiches geschah wohl auch im Falle Radevormwalds: Dort beschlossen die Vereinsmitglieder wenige Tage nach der offiziellen Ver­ einsgründung, dass Bücher und Medikamente aus Leipzig besorgt werden sol­ len, da Schwabe „homöopathischen Vereinen, insbesondere neu gegründeten, ganz bedeutende Vergünstigungen gewähre“220. Neben Preisermäßigungen und der allgemeinen Angebotsfülle dürfte der portofreie und noch dazu be­ queme Versand per Eisenbahn ein weiterer Anreiz für den Bücher­ und Medi­ kamentenbezug aus Leipzig gewesen sein.221 Schenkungen einzelner Vereinsmitglieder waren die dritte Möglichkeit, um kostengünstig an Bücher zu kommen. Gegeben hat es sie sehr wahrschein­ lich in Reutlingen222, ganz sicher aber im sächsischen Annaberg. Eine Inven­ tarliste von 1874 hielt die Namen der großzügigen Spender fest, die die Ver­ einsbibliothek bislang mit Büchergeschenken bedachten.223 War für einen Grundstock an Büchern und Broschüren gesorgt, machten sich die Vereine in der Regel an den weiteren Ausbau der Bibliothek. Nach­ dem die Vereinsgeschäfte weitestgehend geordnet waren und die Anschaffung 217 218 219 220 221

IGM/Varia 225, 1. Mai 1887. Vgl. Baschin (2012), S. 220. IGM/Varia 371, Protokoll 1887. StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 23. September 1893. Die Laienhomöopathen in Radevormwald waren nicht die einzigen, die auf den beque­ men Bezug von Medikamenten und anderen Artikeln aus dem Schwabeschen Sortiment zurückgriffen: „Im Jahre 1889 wurde an die allen Ständen und Berufsklassen angehören­ den Kunden […] 54 325 Post­ und Bahnsendungen mit homöopathischen Arzneimitteln und Lehrbüchern verschickt“ (HM 91 (1966), S. 5). 222 IGM/Varia 482, Jahresbericht 1895. Der Aufruf erfolgte im Zusammenhang mit dem Hinweis auf Anschaffung eines Bücherschranks. Der Schenkung von Büchern stünde nun nichts mehr im Wege. 223 StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55. Zehn der insgesamt 180 Bücher stamm­ ten aus dem Privatbesitz einiger Mitglieder und zweier homöopathischer Ärzte.

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eines Bücherschranks für genügend Platz sorgte, beschlossen die Laienho­ möopathen in Reutlingen im Februar 1896, die Bibliothek sukzessive auszu­ bauen. Dem Ausschuss wurden 25 bis 30 Mark und das Recht zugebilligt, die Auswahl der Bücher und Schriften nach eigenem Ermessen zu treffen.224 Zu achten hatten sie lediglich darauf, dass auch solche Werke besorgt werden, die für die in Sachen Homöopathie weniger Bewanderten geeignet sind.225 Dieser Aufgabe entledigten sich die Ausschussmitglieder offenbar mit Bravour, denn bereits drei Jahre später konnte der Schriftführer im Jahresbericht festhalten, dass die Bibliothek eine „bedeutende Vermehrung“ erfahren habe.226 Auch in den Folgejahren riss die stetige Erweiterung der Bibliothek nicht ab; bis 1913 sollte der Bibliothekskatalog 199 Bände umfassen, von denen die Mitglieder den Protokollvermerken nach auch regen Gebrauch machten.227 Wie die Laienhomöopathen in Heidenheim konnten also auch ihre Kollegen in Reut­ lingen gut 20 Jahre nach der Gründung ihrer Vereine einen „gediegenen ho­ möopathischen Bücherschatz“228 ihr Eigen nennen. Der beträchtliche Umfang der Vereinsbibliotheken darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von den gebräuchlichsten Schriften mehrere Exemplare vorhanden waren. Einen Eindruck von der Beschaffungspraxis und ­priorität vermittelt die Bibliotheksliste des Annaberger Vereins. Mit 14 Ausgaben am häufigsten vertreten war Friedrich Günthers mehrbändiger Homöopathischer Hausfreund, dicht gefolgt vom Homöopathischen Katechismus (6), Hahnemanns Todtenfeier229 von Arthur Lutze (6) und Carl Ernst Bocks Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers (6). Doch auch das Who is who der homöopathischen Ratgeberautoren stand den Vereinsmitgliedern zur Ausleihe bereit. Neben Clothar Müllers Homöopathischer Haus­ und Familienarzt (8) verfügte die Biblio­ thek über den Homöopathischen Arzneischatz von Bernhard Hirschel (4), den Homöopathischen Hausarzt von Carl Gustav Vogel (5), Lutzes Lehrbuch der Homöopathie (2), Constantin Herings (1) sowie Karl Gottlob Casparis (3) Ho­ möopathischer Hausarzt und fünf der Lehrbücher von Georg Jahr (Therapeutischer Leitfaden, Handbuch der Hauptanzeichen). Die übrigen Bücher beschäftigen sich überwiegend mit der Homöopathie als Heilmethode oder der homöopathi­ schen Behandlung von verschiedenen Erkrankungen.230 Im weitesten Sinne naturheilkundliche Werke waren vor 1874 dagegen noch kein Bestandteil der Annaberger Vereinsbibliothek. Einzig ein Exemplar der Diätetischen Kranken­ 224 225 226 227 228

IGM/Varia 482, Protokoll Februar 1896, genaues Datum unbekannt. IGM/Varia 483, Jahresbericht 1897. IGM/Varia 483, Jahresbericht 1899. IGM/Varia 483, Jahresbericht 1904 und 7. Januar 1912. IGM/VHDH 10/2. Zitiert nach: Wolff (1989), S. 109. Heidenheims Bibliothek umfasste 1903 101 einzelne Titel sowie 38 Ratgeber­Broschüren. 229 Der vollständige Titel des Buchs lautet: „Hahnemanns Todtenfeier. Allgemein verständ­ liche Entwicklung des Wesens der Homöopathie, sowie der Haupt­Irrthümer, Vorur­ theile und Mißbräuche der Allöopathie“. Lutze beschreibt also nicht, wie zu vermuten wäre, Hahnemanns „Todtenfeier“, sondern liefert eine Einführung in die Grundzüge der Homöopathie und nennt zahlreiche Beispiele für ihre Wirksamkeit. 230 Zur homöopathischen Ratgeberliteratur siehe ausführlich: Baschin (2012), S. 102–139.

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pflege des Berliner homöopathischen Arztes Weil sowie Gustav Struwes Seelen­ leben zeigen an, dass Ernährungsweise und psychischer Verfassung bereits ei­ nige Bedeutung beigemessen wurden.231 Darüber hinaus standen den Anna­ berger Vereinsmitgliedern homöopathische Zeitschriften zur Verfügung. Der Bibliothekskatalog listet sowohl die bis 1871 verlegte Populäre Homöopathische Zeitung von Peter Bolle als auch die ab 1870 von Schwabe herausgegebene Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie auf. Um möglichst vielen Mitgliedern die häusliche Lektüre zu ermöglichen, bestellten auch andere homöopathische Vereine mehrere Exemplare wichti­ ger Ratgeber. Die Ausschussmitglieder des Vereins Reutlingen reagierten 1909 auf die große Nachfrage nach Hering­Haehls Homöopathischem Hausarzt232 mit dem Zukauf von 16 zusätzlichen Ausgaben, während ihre Amtskollegen in Fellbach die Bibliothek im selben Jahr um 21 Exemplare eines nicht näher identifizierbaren Hausarztes erweiterten. Reinhold Schlechts Familienarzt sowie der ebenfalls von ihm verfasste Pflanzenatlas erfreuten sich bei den Mitglie­ dern derart großer Beliebtheit, dass 1910 zunächst 18, zwei Jahre später aber­ mals 24 Exemplare bestellt und an die Mitglieder zum Selbstkostenpreis ab­ gegeben wurden. Der Verein übernahm damit nicht nur die Aufgaben einer Bücherei, vielmehr fungierte er als eine Art Buchhandlung: Die Mitglieder konnten bei der Vereinsleitung Einzel­ oder Sammelbestellung aufgeben und somit auf bequeme Weise in den Besitz von Büchern und Nachschlagewerken gelangen.233 In Umlauf gebracht wurden dabei nicht nur Bücher, sondern auch kleinere Broschüren über spezifische Krankheitsbilder und deren ho­ möopathische Behandlung.234 Die Vereinsbibliotheken waren in erster Linie als Möglichkeit zur Selbst­ hilfe gedacht.235 Die verschiedenen homöopathischen Zeitschriften hatten hingegen den Zweck, den Lesern mit ihren leichtverständlichen Krankenbe­ richten, Arzneimittelbeschreibungen, Literaturanregungen und Vereinsmittei­ lungen einen Überblick über das gesamte Spektrum der Homöopathie zu verschaffen.236 Ihr Abonnement war in der Regel mit der Mitgliedschaft ver­ bunden. In manchen Vereinen stand es den Mitgliedern wiederum frei, ob sie 231 StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55, Catalog der homöopathischen Biblio­ thek. 232 Zur Überarbeitung des Hausarztes von Constantin Hering durch Richard Haehl siehe: Baschin (2012), S. 117 ff. 233 Teils kamen die homöopathischen Laienvereine auch einzelnen Bestellungen nach: Auf besonderen Wunsch eines Mitglieds schaffte der Verein Reutlingen ein Büchlein über Hämorrhoiden an. Der Vizevorstand machte dieses Thema daraufhin zum Gegenstand zweier kürzerer Vorträge (IGM/Varia 483, 12. März, 25. April und 8. Oktober 1907). Zur Sammelbestellung homöopathischer Ratgeberliteratur in Heidenheim siehe auch: Wolff (1989), S. 111. 234 Der Verein Reutlingen verkaufte schon 1895 Broschüren für 30 Pfennige an seine Mit­ glieder. Einer Beschwerde wegen des zu hohen Preises begegnete die Vereinsleitung mit der Antwort, dass die Kritik nicht unbegründet sei, die Vereinskasse aber einen kleinen Zuschuss gut verkraften könne (IGM/Varia 482, 14. September 1895). 235 Vgl. Wolff (1989), S. 111. 236 Vgl. Wolff (1989), S. 109 f.

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den monatlichen Aufpreis für die Zeitschriften zahlen wollten oder nicht.237 Für den betreffenden Verein hatte dieser auf Freiwilligkeit beruhende Bezug keine unmittelbaren Nachteile; schon gar nicht, wenn zum Verbandsorgan die kommerzielle Leipziger Populäre Zeitschrift bestimmt wurde. Den Zweigver­ einen der Hahnemannia allerdings, die die von ihr verlegten Homöopathischen Monatsblätter bezogen, schadeten wenige Abonnenten allerdings insofern, als sich nach ihnen die Zahl der zur Generalversammlung zugelassenen Delegier­ ten richtete. Die Statuten der Hahnemannia bestimmten, dass jeder Verein „beim Bezug von 20–50 Blättern das Recht auf einen Vertreter, bei 51–150 das Recht auf zwei, bei 151 u. mehr auf drei Vertreter“238 habe. Ging es ledig­ lich um die Berichterstattung, so reichte bereits ein Vertreter aus. Wollte ein mitgliederstarker Zweigverein seinen Einfluss aber auf Verbandsebene gel­ tend machen, waren mehrere stimmberechtigte Delegierte klar von Vorteil. Insofern kann diese Regelung als Druckmittel der Hahnemannia gewertet werden, um die Absatzzahlen der Monatsblätter zu erhöhen. 2.3.5 Vereinsapotheken Vorträge, Kurse, Ratgeber und homöopathische Zeitschriften leiteten die Ver­ einsmitglieder zur Selbsthilfe ­und medikation an. Die seriöseste und umfang­ reichste Wissensvermittlung nütze aber nichts, wenn die Kenntnisse nicht in die Praxis umgesetzt werden konnte. Was den Turnvereinen die Geräte wa­ ren, waren den homöopathischen Laienvereinen sozusagen die Apotheken.239 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es nur vereinzelt Apotheken, die auch Homöopathika anboten. Und selbst dann war die Qualität dieser Arzneimit­ tel nicht gewährleistet. Mitunter wussten die Apotheker selbst nicht so genau, was sie den Kunden eigentlich anboten oder wie die Arzneimittel ordnungs­ gemäß herzustellen waren – was den Laienhomöopathen immer wieder An­ lass zur Kritik gab.240 Um diesem Missstand abzuhelfen und den Mitglieder Selbsthilfe auch in der Praxis zu ermöglichen, schrieben die Vereine die Ein­ richtung einer eigenen Apotheke in ihren Gründungsstatuten fest.241

237 In Stuttgart­Wangen konnten die Vereinsmitglieder 1892 wählen, ob sie monatlich 15 Pfennige inklusive Homöopathische Monatsblätter oder 5 Pfennige ohne Zeitschrift ent­ richten wollten. Da das Abonnement seit 1881 mit jährlich 2,20 Mark zu Buche schlug, ist davon auszugehen, dass der Verein die Differenz übernahm (IGM/Varia 371, 24. Sep­ tember 1892). 238 StA Ludwigsburg F 303 III Bü 23. Die Statuten wurden am 27. Mai 1900 von der Mit­ gliederversammlung der Hahnemannia angenommen: HM 25 (1900), S. 65. 239 Mit den Vereinsapotheken beschäftigt sich ausführlich: Baschin (2012), S. 245–272; vgl. auch Wolff (1996). 240 Wolff (1989), S. 117 f. 241 Baschin (2012), S. 245.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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Die Laienhomöopathen dispensierten die angebotenen Mittel indessen nicht selbst.242 Wie beim Bezug von homöopathischer Literatur fungierten sie als eine Art Distributor, indem sie von lokalen Apothekern oder Zentralapo­ theken Arzneien besorgten und diese dann ihren Mitgliedern vergünstigt oder sogar kostenlos zur Verfügung stellten. Dass sie die Auswahl der Bezugsstellen nicht dem Zufall überließen, zeigt das Beispiel Reutlingen: Als 1897 einigen Mitgliedern Zweifel an der Qualität der städtischen Apotheken kamen, be­ schloss die Vereinsführung, die benötigten Mittel künftig auf halbjährliche Rechnung von der Mayerschen Zentralapotheke in Cannstatt243 zu beziehen. Das anfallende Porto übernahm der Verein, so dass den Mitgliedern keine Mehrkosten entstanden.244 Darüber hinaus betätigte sich der Verein Reutlin­ gen im Kleinen als Pharma­Lobbyist: Im Oktober 1898 bot der örtliche Apo­ theker Haas den Laienhomöopathen an, die gebräuchlichsten Arzneimittel von Schwabe in Originalpackungen vorrätig zu halten. An die Verlesung des Briefs schloss sich eine längere Debatte an, in deren Verlauf darauf hingewie­ sen wurde, dass die Mittel von Schwabe wegen ihrer fabrikmäßigen Herstel­ lung ebenfalls nicht immer von der gewünschten Qualität und keine Garan­ tien für genaue Potenzierungen gegeben seien.245 Die Diskussion endete schließlich mit dem Beschluss, auf die drei Apotheken dahingehend einzuwir­ ken, dass sie ihre homöopathischen Arzneien fortan von den süddeutschen Zentralapotheken (Meyer, Mauch) beziehen.246 Eine mehrköpfige Kommis­ sion nahm daraufhin mit Erfolg ihre Arbeit auf. Nach persönlichen und brief­ lichen Absprachen gelang es, sowohl den besagten Apotheker Haas als auch von seinen Kollegen Rachel und Bleisch zu einer Zusage zu bewegen.247 Nicht immer lief die Zusammenarbeit zwischen einem homöopathischen Laienverein und einer oder mehreren Apotheken derart einvernehmlich ab.248 Schwierig gestaltete sich vor allem das Verhältnis zu örtlichen Apothe­ ken, die keine homöopathischen Medikamente führten und daher in den Laienvereinen keine Geschäftspartner, sondern direkte und noch dazu kon­ zessionslose Konkurrenten sahen. Ein anschauliches Beispiel der daraus ent­ stehenden Konflikte gibt der achtseitige Beschwerdebrief ab, den der Wilsted­ ter Apotheker Voß Ende März 1883 an die königlich preußische Landdrostei in Stade sandte.249 Bitter beklagte er darin die Schmälerung seines Einkom­ mens und die Gefährdung der Existenzfähigkeit seiner Apotheke, die ihm aus der „homoeopathische Cürpfuscherei“ und dem „unbefugte[n] Vertrieb ho­

242 Zum „Selbstdispensierrecht“ in der Homöopathie siehe ausführlich: Michalak (1990), S. 13–27. 243 Am IGM entsteht derzeit eine pharmaziehistorische Dissertation über das homöopathi­ sche Apothekenwesen in Württemberg bis 1914. 244 IGM/Varia 482, Jahresbericht 1897. 245 IGM/Varia 483, 9. Oktober 1898. 246 IGM/Varia 483, 4. Oktober 1898. 247 IGM/Varia 483, Jahresbericht 1898. 248 Vgl. Wolff (1996), S. 124 f. 249 Vgl. LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Brief Voß.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

moeopathischer Arzneimittel“ erwachse.250 Als besonderes Ärgernis schien ihm, dass die Laienhomöopathen ihr Treiben nicht einmal zu verbergen ver­ suchten. In Grasberg und Adolphsdorf gründeten schon seit längerem be­ kannte „Matadore […] der homoeopathischen Pfuscherei“ Vereine zur „Be­ schaffung von homoeopathischen u. diaetetischen Arzneimitteln“251, um sie in großen Mengen einzukaufen und vergünstigt an ihre Mitglieder abzuge­ ben. Auch würden sich deren Vorsitzende ohne Approbation oder sonstige Zulassung als Laienpraktiker betätigen, indem sie Kranke besuchen und ih­ nen Medikamente verabreichen.252 Sehr zum Schaden nicht nur der Apothe­ ker und Ärzte, deren Glaubwürdigkeit Voß durch die homöopathischen Laienpraktiker gefährdet sah. Unter den Auswüchsen der Laienhomöopathie hätten letztlich nämlich auch die Kranken zu leiden. Sie werden von den Lai­ enheilern erst dann zum allopathischen Arzt geschickt, „wenn die pp. Pfu­ scher es mit der Angst kriegen, daß der betreff. Fall einen letalen Ausgang nehmen und sie in Folge dessen […] mit den Strafgesetzen in Conflict kom­ men könnten.“253 Von den Behörden forderte Voß deshalb eine „gründliche Remedur“ dieser Zustände nach Paragraph 367 StGB, der den Erwerb von und den Handel mit bestimmten Arzneimitteln regelte. Die Apothekendepots der Vereine sollten künftig wiederholt medizinalpolizeilich kontrolliert und dahingehend überprüft werden, ob die Arzneimittel unter die Reichsverord­ nung vom 5. Januar 1875 fallen und damit ausschließlich den Apothekern vorbehalten bleiben. Dass es dem Apotheker Voß trotz seiner Sorge um das Allgemeinwohl letztlich wohl mehr um materielle Gründe ging, zeigt die abschließende Bekräftigung seines Anliegens. Die Aufgabe der königliche Landdrostei sei es, die Thätigkeit der Vereine und ihrer Pfuscher in solche Grenzen zurückzuführen, daß dieselbe auf den Geschäftsbetrieb meiner Apotheke den jetzigen existenzgefährlichen Einfluß fernerhin nicht mehr haben kann, daß die dem hiesigen Aerzte und Apotheker und der Apotheke rechtlich und gesetzlich zustehenden Einnahmequellen in ihrem vol­ len Umfange uns wieder eröffnet werden und erhalten bleiben und nicht ferner durch diese Vereinspfuscher lediglich für ihren Zweck u. Nutzen ausgebeutet werden kön­ nen.254

250 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Brief Voß. 251 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Brief Voß. 252 1846 wurde eine Anordnung erlassen, die bestimmte, daß die Ärzte für Homöopathie berechtigt sind, eine ärztliche Praxis zu führen. Sie erhielten darüber hinaus das Recht, Arzneimittel frei zu verkaufen bzw. ihren Patienten zu verabreichen. Die Laienhomöopa­ then verstießen damit zusätzlich gegen das Selbstdispensierrecht, so die Argumentation des Apothekers. Vgl. Michalak (1990), S. 13–27. 253 LA Stade Rep. 80 Nr.  00528. Dieses Argument gebrauchte schon der Wilstedter Ge­ meindevorsteher Meyer, als er der Landdrostei im Juli 1877 zur Kenntnis brachte, dass im Umkreis etliche Dorfschullehrer die homöopathische Heilmethode ausüben, dadurch aber „ohne jede Vorbildung den ärztlichen Beruf sich beimessen und dadurch die Kran­ ken von dem rechtzeitigen Gebrauch ärztlicher Hülfe zurückhalten“ würden. 254 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Brief Voß.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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Dass sich Voß genötigt sah, einen Klagebrief zu verfassen und auf die juristi­ sche Verfolgung der Laienhomöopathie zu drängen, dürfte unmittelbar mit der Gründung des von ihm verunglimpften Grasberger Vereins Anfang 1882 zusammenhängen. Die Konkurrenz drohte nun Überhand zu nehmen, denn im benachbarten Adolphsdorf bestand bereits seit 1877 ein Zusammenschluss von zwölf Anhängern255 der Homöopathie, die gemeinschaftlich eine Apo­ theke angeschafft und daraus vorwiegend kostenlos homöopathische Arznei­ mittel an Hilfsbedürftige abgegeben haben. Von der Landdrostei in Auftrag gegebene Nachforschungen ergaben, dass sich auch in Schmalenbeck und Steinfeld Lehrer mit der Ausübung der homöopathischen Heilmethode be­ schäftigten. Bislang sah das königlich preußische Konsistorium allerdings keine Veranlassung, gegen diese Lehrer einzuschreiten.256 Als 1882 auch noch der Grasberger Verein mit der Abgabe von homöopathischen Mitteln begann, musste für den Apotheker Voß das erträgliche Maß voll gewesen sein. Zu Gute kam ihm, dass das Oberlandesgericht Kiel bereits im Oktober 1881 ei­ nen Schuhmachermeister, der von einem homöopathischen Verein mit der Verwaltung der Apotheke beauftragt wurde und in Ausübung dieser Funktion auch Mittel an Dritte veräußerte, für schuldig im Sinne des Paragraphs 367 StGB befand:257 Der in Rede stehende Paragraph stellt sich als eine gesundheitspolizeiliche Anordnung dar, die bezweckt, daß gewisse Arzneien nur von solchen Leuten verabfolgt werden sol­ 255 Darunter der Lehrer Johann Hinrich Behrens, der Gemeindevorsteher von Adolphsdorf und zehn Moorbauern (LA Stade Rep. 80 Nr. 00528). 256 Bekannt wurde der Landdrostei Stade schon vor dem Beschwerdebrief von Voß, dass die Laienhomöopathie in ihrem Regierungsbezirk vornehmlich von Lehrern und teils auch Verwaltungsbeamten  – wie dem Vorsteher der Gemeinde Adolphsdorf  – ausgeübt wurde. Bisher hielt sie es aber nicht für nötig, gegen die entsprechenden Personen Schritte einzuleiten und deren Laienpraxis zu unterbinden. Erst als sich die angezeigten Fälle – etwa durch Apotheker Voß – häuften, schien Handlungsbedarf gegeben zu sein, um Maßnahmen gegen die vermeintliche Kurpfuscherei der Staatsbediensteten erlassen. In einer Verfügung vom 14. Oktober 1882 untersagte das für Volksschulsachen zustän­ dige Königlich Preußische Konsistorium Lehrern unter Androhung von Disziplinarstra­ fen sowohl die unentgeltliche als auch entgeltliche Abgabe von homöopathischen Medi­ kamenten an Personen, „welche außerhalb der betreffenden Lehrerfamilien stehen“. Eine derartige medizinische Betätigung sei mit dem Lehrerberufe nur schlecht zu verein­ baren und hätte in der Vergangenheit „bereits mehrmals Verwicklungen höchst anstößi­ ger Art hervorgerufen […], welche das Ansehen und die Würde des Lehrerstandes zu beeinträchtigen und die berufliche Wirksamkeit desselben zu schädigen geeignet erschei­ nen“ (LA Stade Rep. 80 Nr. 00528). 257 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528. Wegen Handels mit den verbotenen Mitteln Bryonia, Nux vomica und Pulsatilla musste sich der Schuhmachermeister zunächst vor einem Amtsge­ richt verantworten, das ihn in erster Instanz schuldig sprach. Das Landgericht hob dieses Urteil nach Einlegen von Berufung mit der Begründung auf, dass sowohl der Angeklagte als auch der Empfänger bzw. Hilfsbedürftige Genossenschafter eines homöopathischen Vereins seien und beide als Miteigentümer das Recht haben, der Apotheke Mittel zu entnehmen. Ein „Überlassen an Andere“ im Sinne des Gesetzes könne demnach nicht gefunden werden. Das Oberlandesgericht widersprach dieser Auslegung und bezeich­ nete sie als „rechtsirrthümlich“.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914) len, die nach dem Ermessen des Staates Sachkenntniß genug besitzen, um Irrthümer zu vermeiden, daher wird ein jeder, der ohne polizeiliche Erlaubnis Arzneien, mit denen der Zweck nicht freigegeben ist, feilhält, verkauft oder sonst an Andere überläßt, mit Strafe belegt. Indem der Gesetzgeber die Worte „verkaufen“ und „sonst überlassen“ ein­ ander gegenüberstellt, will er sagen, daß das Verabfolgen von Arznei als solches strafbar ist, ohne Unterscheidung, ob es entgeltlich oder unentgeltlich geschieht. Ueberhaupt je­ des Uebertragen der Arznei von einer Hand in die Andere ist verboten.258

Die Auflösung des ordentlich ins Genossenschaftsregister eingetragenen Ver­ eins Grasberg konnte die Klage von Voß zwar nicht bewirken. Wohl aber war die Landdrostei auf Grundlage des Oberlandesgerichtsbeschlusses in der Lage, bereits bestehende Vereine polizeilich überwachen zu lassen und künf­ tigen Vereinen mit Verweis auf die Rechtslage die Genehmigung ihrer Statu­ ten zu versagen – so geschehen beispielsweise 1882 im Falle der Gemeinde Odisheim. Mit dem Präzedenzfall war ebenso eine rechtliche Handhabe ge­ geben, um schärfer gegen Laienpraktiker vorgehen zu können. Gut dokumen­ tiert ist die Strafverfolgung des Moorbauers Johann Böschen, Beisitzer des Vereins Grasberg.259 Ihm wurde als Verwalter der Vereinsapotheke vorgewor­ fen, ohne entsprechende Erlaubnis reglementierte Mittel an Mitglieder abge­ geben und sich damit einer „Uebertretung des § 367,3 StGB“ schuldig ge­ macht zu haben. Nachdem das Königliche Schöffengericht Lilienthal zunächst kein strafbares Verhalten feststellen konnte und Böschen im August 1883 frei­ sprach, legte die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Verden Revision gegen diese Urteil ein. Der Staatsanwalt erkannte auch im genossenschaftlichen Überlassen von Medikamenten einen Gesetzesverstoß: Der Apothekenver­ walter, so seine Argumentation, übertrüge durch die Abgabe von Medika­ menten die Miteigentumsrechte aller Genossenschafter auf die Empfänger und mache sie dadurch zu Alleineigentümern. Hinzu käme, dass das Moment der Unentgeltlichkeit deshalb nicht gegeben sei, weil die Mitglieder durch das Erwerben von Medikamenten in Höhe ihrer geleisteten Beiträge ihre Mitei­ gentumsrechte aufgeben. Die Abgabe von Arzneimitteln käme einem Kauf­ vertrag gleich, mit dem Unterschied nur, dass der Kaufpreis auf die Beiträge angerechnet und nicht bar erstattet werde. Böschen sei demnach schuldig zu sprechen. Auferlegt wurde ihm ein moderates Strafgeld in Höhe von zwei Mark, da er sich „bei Begehung der Uebertretung in einem durchaus ent­ schuldbaren guten Glauben befunden“260 habe. Das Strafmaß blieb damit weit hinter dem ursprünglich geforderten von zehn Mark zurück; es ging der Behörde offensichtlich mehr um das Statuieren eines Exempels denn um eine harte Bestrafung der Angeklagten. Dafür spricht auch der ausdrückliche Hin­ weis in der Urteilsbegründung der Revision, dass nach der Rechtsauffassung der ersten Instanz der Paragraph 367 „durch die Bildung von Genossenschaf­ ten mit Leichtigkeit zu umgehen wäre und folgeweise der sanitätspolizeiliche

258 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528. 259 Ähnliche Fälle schildert: Baschin (2012), S. 252 ff. 260 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Verfahren gegen Böschen.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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Zweck des Gesetzes vereitelt werden müsste.“261 Wie schon das Kieler Ober­ landesgericht, so verfolgten auch die Verdener Amtskollegen eine unbedingte Untersagung der konzessionslosen Abgabe von homöopathischen Medika­ menten durch Laien. Ganz ähnliche Querelen mit Medizinalbehörden, Apothekern und Ge­ richten hatten organisierte Laienhomöopathen auch in anderen Teilen des Reichsgebiets aus­ und durchzustehen.262 Im Frühjahr 1892 bezog das würt­ tembergische Medizinalkollegium in einem an die Ulmer Kreisregierung ge­ richteten Gutachten Stellung zu den vielerorts eingerichteten Vereinsapothe­ ken und sprach sich darin dezidiert gegen eine Genehmigung derselben aus.263 Bei den Vereinsapotheken handle es um „apothekenähnliche Insti­ tute“, die vornehmlich der Umgehung bestehender Vorschriften bezüglich der Abgabe von Arzneimitteln dienen würden. Im juristischen Sinne seien sie zudem als widerrechtlich zu werten, denn das Verabfolgen von Medikamen­ ten bedeute ein „Überlassen an Andere“ und verstoße damit gegen Paragraph 367,3 des Strafgesetzbuches. Offenbar wusste das Kollegium um die Mehr­ deutigkeit dieses Passus, der bei vergangenen Verfahren gegen homöopathi­ sche Vereine teils zu deren Gunsten ausgelegt worden ist.264 Jedenfalls pochte das Kollegium darauf, dass die Auslegung der Strafbestimmung „aus dem Zweck und der Bedeutung der in Betracht kommenden öffentlich rechtlichen Institutionen und nicht aus dem mitunterlaufenden privatrechtlichen Verhält­ nissen gewonnen werden muß.“265 Auch wenn sich die Hahnemannia beeilte, die vorgebrachten Argumente als haltlos, sachlich nicht korrekt und fragwür­ dig zu entkräften und den Aspekt der Selbsthilfe zu betonen, zeigte das Gut­ achten bald Wirkung: In den folgenden Monaten begannen „in einzelnen württembergischen Oberämtern die Landjägermannschaften […], sich in be­ lästigender Weise in Familien einzudrängen, um in Erfahrung zu bringen, ob sich Familienmitglieder homöopathisch behandeln lassen und ob sie homöo­ pathische Mittel aus einer Vereinsniederlage entnehmen“266. Bereits Ende Mai 1892 brachten die mit der Kontrolle beauftragten Landjäger dem Ober­ amt Kirchheim zur Anzeige, dass der Schullehrer Schlotterbeck in Dettingen, der Bauer Huber in Owen und der Mühlenbesitzer Stempfle in Brucken ohne 261 LA Stade Rep. 80 Nr. 00528, Verfahren gegen Böschen. 262 Einen Überblick über die Auseinandersetzungen zwischen württembergischen Laienho­ möopathen und Apothekern bietet: Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 49–75. Bei­ spiele aus anderen Gebieten des Deutschen Reichs schildert: Baschin (2012), S. 249 ff. 263 Vgl. Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 71 ff. 264 Baschin (2012), S. 252. 265 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 73. 266 HStA Stuttgart E 130 a Bü 165. Das harsche Vorgehen der Landjäger veranlasste den Verein Kirchheim unter Teck zu einer Eingabe, die am 28. Juni 1892 an die Kommission für Gegenstände der inneren Verwaltung der württembergischen Kammer der Abgeord­ neten gerichtet und in der über die Vorgänge berichtet wurde. Der Ausschuss der Hahnemannia nutzte diese Eingabe, um seinerseits in einer Petition die Zulassung eines homöopathischen Arztes zum Medizinalkollegium zu erwirken: Ausschuss der Hahne­ mannia (1893), S. 29 ff.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

polizeiliche Erlaubnis Mittel an die Vereinsmitglieder und damit an andere Personen abgegeben und sich deshalb „einer Verfehlung gegen §. 367 Ziffer 3 des Reichstrafgesetzbuchs schuldig gemacht haben.“267 Gegen die Angeklag­ ten wurde ein Strafgeld in Höhe von je 15, zehn und fünf Mark verhängt, von selbigen aber umgehend Widerspruch eingelegt und eine Gerichtsverhand­ lung angestrebt. Das Kirchheimer Schöffengericht sprach die Apothekenver­ walter schließlich im August 1892 mit der Begründung frei, dass die in Rede stehenden Mittel sämtlich „über die dritte Dezimalpotenz hinausgehen“ und somit „auch außerhalb der Apotheken ohne Rezept abgegeben werden dürfen.“268 Zudem hätten die Angeklagten nicht wider den Paragraphen 367,3 StGB gehandelt: „wenn, wie im vorliegenden Fall, ein Verein Arzneimittel anschafft und diese im gemeinschaftlichen Eigentum der Mitglieder stehend unter dieselben verteilt“, läge kein Überlassen an andere vor, „da die Mitglie­ der im Sinne des Gesetzes keine ‚Anderen‘ sind.“269 Die Freude über die zu Gunsten der Laienhomöopathie ausfallenden Freisprüche währte indessen nur kurze Zeit. Im Oberamt Esslingen kam es im Oktober desselben Jahres zu Anklagen gegen zwei Apothekenverwalter, deren Ausgang weit weniger erfreulich war. Zwar urteilte das zuständige Schöffengericht zunächst ähnlich dem Kirchheimer, doch das Landgericht Stuttgart legte umgehend Revision ein und kassierte 1893 die Freisprüche, indem es die Weitergabe von Arznei­ mitteln innerhalb des Vereins als „Überlassen an Andere“ wertete. In der Fol­ gezeit schlossen sich immer mehr Gerichte dieser Gesetzesauslegung an.270 Gut zehn Jahre nach den Urteilen des Oberlandesgerichts Kiel und des Land­ gerichts Verden setzte sich also auch im südwestdeutschen Raum eine Rechts­ auffassung durch, die das Betreiben einer Vereinsapotheke, auch wenn sie freiverkäufliche Arzneien führte, immer schwieriger machte. Die Vereine selbst reagierten auf die polizeilichen Verfolgungen und juris­ tischen Unannehmlichkeiten mit Anpassung oder Widerstand. Angesichts der rechtlichen Probleme, die sich anfangs vor allem um die Frage einer Abgabe an Fremde oder Bekannte drehte, wies der Verein Stuttgart­Wangen seinen Apothekenverwalter schon 1888 darauf hin, dass er Medikamente nur an Ver­ einsmitglieder veräußern darf.271 August Zöppritz selbst wiederholte diese Mahnung vier Jahre später im Rahmen eines Vortrags. Darin warnte er die Laienhomöopathen davor, Arzneimittel an Nichtmitglieder abzugeben.272 An­ dernfalls drohe die Auflösung des Vereins. War mit dieser Regelung die Hoff­ nung verbunden, Bestrafungen und Konsequenzen ausweichen und gesetzes­ konform handeln zu können, so machte sie das 1893 gefällte Urteil des Land­ gerichts Stuttgart zunichte. In einer Mitgliederversammlung desselben Jahres 267 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 63. 268 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S. 63. 269 Ausschuss der Hahnemannia (1893), S.  64. Die Urteilsbegründung bezieht sich auf Schlotterbecks Verfahren, kann aber auf die anderen beiden Angeklagten übertragen werden, da deren Urteile nach Zöppritz „gleichlautend“ sind. 270 Baschin (2012), S. 259, insbesondere Anm. 1218. 271 IGM/Varia 371, 13. Juli 1888. 272 IGM/Varia 371, 15. Mai 1892.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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klärte die Vereinsleitung Stuttgart­Wangen deshalb über die ungünstigen Ent­ wicklungen auf. Um die Möglichkeit zur Selbstmedikation dennoch zu ge­ währleisten, verteilte sie unter den Anwesenden Musterkästen homöopathi­ scher Hausapotheken. Sie wurden dem Verein von Seiten der Hahnemannia zugeschickt und als Ersatz der rechtlich strittigen Vereinsapotheken empfoh­ len.273 Nicht ganz uneigennützig wohlgemerkt, denn die Hahnemannia war nicht bereit und finanziell nicht mehr in der Lage, weiterhin die hohen Ge­ richtskosten für die Verteidigung der angeklagten Apothekenverwalter zu übernehmen. Es bot sich daher das Ausweichen auf die Hausapotheken an, die mit je zwölf, 24 oder 36 Mitteln und für die Vereine der Hahnemannia mit 50 % Rabatt zu haben waren.274 Gänzlich aufgelöst wurden die eigentlichen Vereinsapotheke aber weder in Stuttgart­Wangen noch in anderen Ortschaf­ ten. Stattdessen erleichterte man sie um diejenigen Stoffe und Arzneien, die nicht freiverkäuflich waren. Verbandsmaterial und für den Handverkauf be­ stimmte Medikamente konnten die Mitglieder nach wie vor zu jeder Tages­ und Nachtzeit275 vom Apothekenverwalter beziehen. Die Hausapotheken selbst erfreuten sich offenbar keiner allzu großen Beliebtheit, denn noch 1907 musste die Leitung des Vereins Stuttgart­Wangen die Mitglieder daran erin­ nern, dass sie doch eigene Apotheken für den Hausgebrauch anschaffen und lediglich die fehlenden Mittel per Bestellschein vom Apothekenverwalter be­ ziehen mögen. Doch selbst dieses gezielte Bestellen von homöopathischen Arzneimitteln war rechtlich nicht unproblematisch. Nach einem Urteil des Landgerichts Ulm, das 1903 vom Stuttgarter Oberlandesgericht bestätigt wurde, konnte es ebenfalls zu einer Bestrafung führen.276 Auf die Mitglieder der homöopathischen Vereine machten solche Verfahren offensichtlich Ein­ druck. In Stuttgart­Wangen sah man sich immerhin genötigt, die verunsicher­ ten Mitglieder mit den Worten zu beruhigen, sie bräuchten „nicht so ängstlich zu sein, wenn der Verein auch einmal bestraft werde“277. Und im Rahmen der Gründungsversammlung des Vereins Fellbach musste der anwesende Landes­ vorstand Fritz Hesse eigens betonen, die Mitglieder sollen „ruhig und ent­ schlossen“ die Apotheke benützen, da ihnen keinerlei Gefahr drohe.278 273 IGM/Varia 371, 20. August 1893; IGM/Varia 35, 15. August 1893; vgl. Baschin (2012), S. 260. 274 Baschin (2012), S. 260. 275 Das sollte sich einige Jahre später ändern, denn angesichts einer Gesamtmitgliederzahl und dementsprechend hohen Frequentierung der Vereinsapotheke beklagte sich deren Verwalter Anfang 1911 darüber, dass er nicht einmal an Sonntagen Ruhe und ungestört Zeit für seine Familie hätte. Er setzte daher durch, dass die Apotheke künftig sonntags zwischen 13 und 18 Uhr nur in Notfällen aufgesucht werden konnte und ansonsten ge­ schlossen blieb (IGM/Varia 371, 22. Januar 1911). Auch der Apothekenverwalter in Fell­ bach äußerte sich verärgert darüber, dass die Mitglieder zumeist an Sonntagen ihre Mit­ tel bei ihm abholen würden, er aber nicht den kompletten Nachmittag opfern möchte. Der Vorsitzende intervenierte und bestimmte, dass die Vereinsapotheke sonntags nur noch bis 14 Uhr geöffnet habe dürfe (IGM/Varia 68, 18. Januar 1914). 276 Baschin (2012), S. 264. 277 IGM/Varia 371, 17. Februar 1907. 278 IGM/Varia 68, 18. Februar 1905.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Hielten Hausdurchsuchungen, Strafbescheide und Gerichtsprozesse die einfachen Mitglieder von der Inanspruchnahme der Vereinsapotheke ab, so ließen sich die Vereinsfunktionäre (vor allem in Württemberg279) nicht so leicht zur Aufgabe bewegen. Die Vereinsführung in Metzingen beschloss bei­ spielsweise, die Apotheke „einstweilen so weiterzuführen wie seither in glei­ cher Weise.“280 Sie begründete ihren Entschluss einerseits mit dem mangeln­ den Interesse der Mitglieder an den Hausapotheken. Außerdem könne eine Hausapotheke nicht in allen Krankheitsfällen die nötige Hilfe gewährleisten, da ihr wichtige Mittel fehlen. Die Vereins­apotheke hingegen sei „bis jetzt von Seiten der Behörden noch gänzlich unbeachtend [sic] geblieben […] & auch keine öffentliche dießbezügliche gerichtliche Bekanntmachung ergangen“281. Zum Wohle der Mitglieder nahm man das Risiko einer Bestrafung also wis­ sentlich in Kauf. Auch andere württembergische Vereine ignorierten das Ur­ teil des Stuttgarter Landgerichts und richteten trotz der unsicheren Rechtslage auch nach 1893 eine eigene Apotheke ein.282 Etwa der 1895 gegründete Ver­ ein Rohracker, dessen Vereinsvorsitzender Emil Ohnmeiß sich noch 1912 „wegen unbefugtem Handel mit verbotenen Arzneimitteln“ vor Gericht ver­ antworten. Von einer Verhaltensänderung sah er aber trotz Geldstrafe mit der Begründung ab, die Abgabe von Medikamenten an Notleidende sei ein „Werk der Nächstenliebe“283. Auch sei man zur Selbsthilfe regelrecht gezwungen, denn im Ort sei weder ein Arzt noch ein Apotheker ansässig, noch könne der  Familienvater, der anderntags notgedrungen „seinem Beruf nachgehen müsse“, warten, bis die Krankheit von alleine weggehe.284 Einen in Sachen Arzneimittelbezug deeskalierenden Weg schlug hinge­ gen der Homöopathische Laienverein Nagold ein. 1912 drohte der Nagolder Apotheker Schmid dem Verein mit einer Klage, sollte er weiterhin homöopa­ thische Mittel im großen Stil beziehen und diese anschließend unter seinen Mitgliedern verteilen.285 Wie der norddeutsche Apotheker Voß verwies Schmid auf die entsprechende Gesetzeslage. Die Laienhomöopathen ließen daraufhin von ihrer Vereinsapotheke ab, konnten aber mit Schmid eine für beide Seiten günstige Vereinbarung treffen und dadurch den Verlust ausglei­ chen: Die Vereinsleitung gab Schmid die Zusage, sie wolle den Mitgliedern empfehlen, ihre homöopathischen Medikamente künftig direkt in der Schmid­ schen Apotheke zu kaufen.286 Der Apotheker verpflichtete sich im Gegenzug, jährlich fünf Mark in die Vereinskasse einzuzahlen. Darüber hinaus sei er be­ reit, wie gewünscht seine plombierten Arzneien von der Mauchschen Zentral­ apotheke zu beziehen, um die hohen Qualitätsansprüche der Vereinsmitglie­ 279 280 281 282 283 284

Baschin (2012), S. 268. IGM/Varia 35, 15. August 1893. IGM/Varia 35, 15. August 1893, vgl. Baschin (2012), S. 261. Baschin (2012), S. 261. IGM/Varia 68, 11. Mai 1912. IGM/Varia 68, 14. Januar 1912. Zur ökonomischen „Bedeutung von Krankheit im Ar­ beiterleben“ siehe: Herrmann (1990), S. 43–46. 285 IGM/Varia 419, 2. Januar 1912. 286 IGM/Varia 419, 2. Januar 1912.

2.3 Was war das Besondere eines Laienvereins?

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der gewährleisten zu können.287 Zu vermuten, Schmid hätte den Verein und sein Mitglieder nie wirklich verklagen, sondern nur als Kunden locken und mit Druck gewinnen wollen, würde zu weit gehen. Wahrscheinlicher ist, dass er erkannte, dass er von der Konkurrenz auch profitieren kann. Damit zeigte er sich flexibler als sein Kollege Voß, dem trotz der lukrativen Aussichten nicht in den Sinn kam, mit den Vereinen in Grasberg und Adolphsdorf eine verträgliche Lösung zu finden. Letztlich sollte sich dieses Modell als zukunfts­ trächtig erweisen: Nachdem im Laufe der Zeit immer mehr gerichtliche Ur­ teile zu Ungunsten der Vereine ausfielen, ihre Apotheken konfisziert und ihre Verwalter verklagt worden waren, lösten viele Vereine ihre Niederlagen auf und bezogen ihre Arzneimittel fortan von lokalen oder homöopathischen Zentralapotheken.288 Eine reichsweite Regelung legte schließlich 1925 end­ gültig fest, dass die Abgabe von Medikamenten innerhalb von Vereinen ver­ boten sei.289 2.3.6 Fragekasten Zwar stand es den Vereinsmitgliedern jederzeit frei, sich im Rahmen der Ver­ sammlungen und vor allem Vorträge zu Wort zu melden und sich vom Ple­ num oder Referenten Auskunft zu erbitten. Diesem Recht stand bei intimen Anliegen allerdings die Scham vor Entblößung entgegen. Um den Mitglie­ dern etwaige Hemmungen zu nehmen, die dem Anspruch nach Aufklärung und gegenseitigem Austausch zuwiderliefen, beschloss der Homöopathische Verein Annaberg bereits bei der Vereinsgründung die Anschaffung eines Fra­ gekastens. Jener hatte den Zweck, den „Mitgliedern Gelegenheit zu geben, Fragen über Homöopathie einzulegen, welche an selbigem Abend […] durch den Vorsteher oder […] ein sich hierzu meldendes Mitglied beantwortet wird.“290 Der erste württembergische homöopathische Verein, der wenige Jahre nach seiner Gründung einen Fragekasten einrichtete, war derjenige in Stuttgart­Wangen: Am 21. Oktober 1894 beschlossen die Vereinsmitglieder anlässlich einer Versammlung, dass ein solcher Kasten, „betreffs der Mitglie­ der welche nicht so sprachfertig sind“291, angeschafft werden soll. Offenbar hatte man in den sieben Jahre des Bestehens die Erfahrung gemacht, dass sich die Teilnehmer und Zuhörer von Veranstaltungen nur selten ins Geschehen einbrachten. Bei den Mitgliedern stieß diese besondere Form der Beteiligung am Vereinsgeschehen jedoch nicht auf Zuspruch. Die Besprechung einer ein­ geworfenen Frage ist nur für das Folgejahr belegt als der Kasten noch neu und interessant war. Danach wurde er nicht mehr genutzt.

287 288 289 290 291

IGM/Varia 419, 2. Januar 1912. Vgl. Baschin (2012), S. 265 f. Baschin (2012), S. 269. StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55. IGM/Varia 371, 21. Oktober 1894.

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Ähnlich verhielt es sich mit dem Fragekasten des Vereins Reutlingen: Im Herbst 1895, ein halbes Jahr nach seiner Einrichtung, fanden sich drei Fragen im Kasten. Zwei von ihnen wären vielleicht nicht eingeworfen worden, hätte man sich zuvor nicht bewusst gegen eine Unterschrift der Zettel entschie­ den.292 Eine der mutmaßlichen Fragestellerinnen wollte wissen, was unter Weißfluss zu verstehen sei und welche Mittel man dagegen anwenden könne. Die Andere interessierte sich dafür, welche Arzneien gegen Nasenbluten wäh­ rend der Periode infrage kämen. Und die dritte Frage (vermutlich ebenfalls entweder direkt von oder im Auftrag einer Frau gestellt) betraf den Umgang mit Kindern, die nachts mit Atmungsbeschwerden erwachen.293 Jede Frage wurde allerdings nur oberflächlich beantwortet mit dem Hinweis, die angeris­ senen Themen blieben einem späteren Diskussionsabend vorbehalten. Der Nachfrage tat dies keinen Abbruch, denn acht Wochen später fanden sich im Kasten erneut zwei Fragezettel. Der erste Fragesteller erkundigte sich nach den spezifischen Symptomen der Diphterie, der zweite nach geeigneten Schüssler­Mitteln bei Ohrenschmerzen. Während der erste Fragesteller einer ausführlichen Beantwortung folgen konnte, erfuhr der zweite eine Rüge we­ gen zu oberflächlicher Formulierung der Frage. Überhaupt sei es irritierend, dass er explizit nach Schüsslerschen Mittel frage. Schließlich könne es ihm doch gleich sein, nach welcher Heilmethode geheilt werden, solange sie auf starke und die Gesundheit zusätzlich schädigende Arzneien verzichte.294 Auf­ fallend ist, dass sich die Fragen in den genannten Fällen auf Beschwerden und Sorgen beziehen, die eher dem weiblichen Verantwortungsbereich zuzuord­ nen sind. Unter Vorbehalt könnte daraus geschlussfolgert werden, dass es mehrheitlich Frauen waren, die von einem Fragekasten Gebrauch machten. Männer hatten vermutlich weniger Probleme damit, ihre heiklen und unan­ genehmen Fragen in der Öffentlichkeit zu thematisieren  – zumindest bei vereinsinternen Versammlungen, bei denen sie in der Überzahl und damit unter sich waren.295 Das anfängliche Interesse am Fragekasten ließ jedoch auch in Reutlingen rasch nach. 1901 nahmen die Mitglieder ihn abermals in Anspruch, danach taucht er in den Protokollbüchern nicht mehr auf. Durchsetzen konnten sich offenbar auch hier die persönlich gestellten Fragen am Ende einer Versamm­ lung oder eines Vortrags. Die Laienhomöopathen in Fellbach entschieden sich 1910 nicht zuletzt deshalb gegen einen Fragekasten, da der Fragesteller wegen der komplexen Anamnese und Symptombeschreibung weitere Anga­ ben machen müsste, um sein Anliegen umfassend klären zu können.296 In den anderen untersuchten homöopathischen Vereinen scheinen die Fragekäs­ ten, sofern sie überhaupt existierten, ebenfalls keine allzu große Rolle gespielt zu haben. Den 1921 eingerichteten Kasten des Vereins Bischheim etwa be­ 292 293 294 295 296

Vgl. IGM/Varia 482, Februar 1895. IGM/Varia 482, 14. September 1895. IGM/Varia 482, 14. September 1895. Zur Diskretion beim Thema Geschlechtskrankheiten siehe: Baal (2002). IGM/Varia 68, 30. Oktober 1910.

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nutzten die Mitglieder in den Folgejahren nur ausgesprochen wenig und zu­ meist waren die Fragen teils belanglos, teils schon beantwortet. In zwei Fällen hätten sie eines eigenen Vortrags bedurft, um sie zufriedenstellend klären zu können.297 Äußerst erfolgreich und nach eigenen Angaben der „Hauptanziehungs­ punkt“ der Versammlungen war die 1900 erfolgte Einrichtung eines Fragekas­ tens lediglich in Heidenheim. Die Mitglieder warfen, teils mehrfach oder gar im Auftrag von Nichtmitgliedern298, jährlich durchschnittlich vier bis neun Fragen in den Kasten ein. 2.3.7 Botanische Wanderungen Botanische Exkursionen oder Wanderungen in die nähere Umgebung der Laienvereine waren eine Mischung aus Wissensvermittlung und Freizeitveran­ staltung. Die erste nachweisbare Wanderung veranstaltete 1891 der Homöo­ pathische Verein Stuttgart­Wangen. Unter Leitung eines erfahrenen Botani­ kers sollte den Mitgliedern die Möglichkeit gegeben werden, sich über die pflanzlichen Grundstoffe zu informieren, aus denen die Medikamente durch Verdünnen und Potenzieren gewonnen wurden. Die Anschaffung eines Kräu­ terbuchs deutet darauf hin, dass der Botaniker daneben auch solche Pflanzen erklärte, die verzehrt oder zur Herstellung einfacher Heilmittel verwendet werden konnten.299 Bei den Mitgliedern scheint die Thematisierung der Phy­ totherapie auf Interesse gestoßen zu sein: 1905 äußerte ein Mitglied den Wunsch, die Delegierten des Vereins mögen doch bei der nächsten General­ versammlung der Hahnemannia den Antrag stellen, dass die Homöopathischen Monatsblätter in jeder Ausgabe mindestens eine Heilpflanze abbilden und ihre Anwendungsgebiete erläutern.300 In Fellbach ging die Wertschätzung von Heilpflanzen und ­kräutern von Seiten der Vereinsführung sogar soweit, dass sie im Mai 1913 im Vereinslokal eine umfangreiche Pflanzenausstellung orga­ nisierte. Eigens zu diesem Zweck sammelte, präparierte und beschrieb ein Ausschussmitglied etwa 100 Pflanzen. Der erhoffte zahlreiche Besuch blieb allerdings wegen der am Ausstellungstag günstigen Witterung sowie einer Festlichkeit im Ort aus.301 Während in Stuttgart­Wangen bis 1914 nur wenige botanische Exkursio­ nen durchgeführt wurden, setzten sie sich in Reutlingen umso leichter durch. Zwischen 1904 und 1914 versammelten sich die Vereinsmitglieder insgesamt zwölf Mal, um entweder die Pflanzen der näheren Umgebung oder des bota­ 297 DHMD/L 1998/62, Protokoll 1927. 298 Wolff (1989), S. 107, Anm. 8. 299 IGM/Varia 371, 19. Juli 1891. Auch der Verein Reutlingen lud seine Mitglieder im Feb­ ruar 1898 zu einer Kräutersammlung ein. Die botanischen Unterweisungen gingen also über das homöopathische Maß hinaus und beinhalteten auch Informationen zur allge­ meinen Verwendung heimischer Pflanzen (IGM/Varia 482, 13. Februar 1898). 300 IGM/Varia 371, 17. September 1905. 301 IGM/Varia 68, 25. Mai 1913.

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nischen Gartens in Tübingen in Augenschein zu nehmen. Angeleitet wurden sie ab 1901 von einem Schullehrer, der die unterwegs gesammelten Heilpflan­ zen in einem wenige Tage später einberufenen Erörterungsabend ausführlich vorführte und ihre Besonderheiten erklärte. Mancherorts gingen die Laienhomöopathen auch gezielt auf die Suche nach Pflanzen, aus denen homöopathische Arzneimittel hergestellt werden konnten. Die Mitglieder des Vereins Fellbach veranstalten beispielsweise im April 1909 einen „Pulsatillausflug“ nach Metzingen.302 Zu welchen Zwecken die Heilpflanze verwendet wurde, geht aus dem entsprechenden Protokollein­ trag nicht hervor. Denkbar, dass erfahrene Mitglieder die Ausbeute der Samm­ lung zu Salben weiterverarbeiteten. Wie viele Laienhomöopathen an den Exkursionen teilgenommen haben, bleibt unklar. Die in den Protokollen notierten Teilnehmerzahlen lassen aber darauf schließen, dass durchschnittlich nur etwa 20 Personen mitgewandert sind. Angesichts der Mitgliederzahlen, die mancherorts über 200 betrugen, nahm demnach nur ein Bruchteil der Vereinsmitglieder dieses Bildungs­ und Geselligkeitsangebot wahr. Eine Ausnahme machten wiederum die Laienho­ möopathen in Heidenheim, deren botanische Ausflüge sich einer vergleichs­ weise hohen Beteiligung erfreuten. 1907 fanden sich 250 Personen ein, um gemeinsam die nähere Umgebung zu erkunden und Wissenswertes rund um die heimische Flora zu hören.303 2.3.8 Anschaffung von Utensilien Sobald die Vereinsbibliotheken mit den ersten Büchern bestückt, die Apothe­ ken mancherorts eingerichtet und die finanziellen Verhältnisse geordnet bzw. Rücklagen gebildet waren, gingen viele homöopathische Laienvereine dazu über, ihr Angebot auch auf praktischer Ebene auszubauen und attraktiver zu gestalten. Den Kassen­ und Protokollbüchern ist zu entnehmen, dass nicht nur Bücher und Medikamente, sondern auch diverse Utensilien zur Körper­ und Krankenpflege angeschafft wurden. So konnten beispielsweise die Mit­ glieder des Vereins Stuttgart­Wangen bereits wenige Jahre nach der Gründung ihres Vereins im Bedarfsfall auf einen „Wärmemesser“ (Fieberthermometer), mehrere Eisbeutel, Luftkissen, Bettschüsseln, ein Mutterrohr304 und ab 1897 sogar auf einen Nachtstuhl zurückgreifen.305 Die Vereine Laichingen und Rohracker stellten Erkrankten vor 1914 darüber hinaus jeweils mindestens eine Wärmflasche zur Verfügung. Ein in nahezu allen Vereinsinventaren vor­ handenes Hilfsmittel waren Irrigatoren oder einfache Klistierspritzen, die zur 302 303 304 305

IGM/Varia 68, 30. Januar 1909. HM (1907), S. 111; Wolff (1989), S. 108. Ein Mutterrohr ähnelt einem Klistier und wird zur Vaginalspülung benutzt. IGM/Varia 371, Protokolle von 1887 bis 1900; ein mehr oder weniger gut bestücktes Kontingent an Utensilien zur Krankenpflege befand sich im Besitz der homöopathischen Vereine Radevormwald, Reutlingen, Rohracker und Bischheim.

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Darmspülung und bei Verstopfungen eingesetzt wurden. In den Versammlun­ gen erläuterten dazu berufene Mitglieder die korrekte Handhabung dieser und anderer Utensilien.306 Aufbewahrt wurden sie indessen bei einem Mit­ glied des Vereinsausschusses, das über die Ent­ und Rücknahme genauestens Buch zu führen hatte.307 Über die Modalitäten, die den Verleih der Utensilien regelten, geht aus den Quellen wenig hervor. Ebenso wenig bekannt ist die Höhe der Gebühren, die von den einzelnen Vereinsleitungen für die Benutzung der Gegenstände erhoben wurden.308 Sicher ist hingegen, dass die Disziplin der Mitglieder nicht nur bei den ausgeliehen Büchern zu wünschen übrig ließ: Mehrfach mussten die Vereinsvorsitzenden die Einhaltung der Ausleihfrist annahmen. Es gäbe schließlich noch andere Mitglieder, die dieses Angebot ebenso gerne in Anspruch nehmen möchten.309 Ein fortwährender Kritikpunkt war stets auch der unsachgemäße Umgang mit den Utensilien, der vor allem bei den Klistierspritzen und Fieberthermometern sehr unerfreulich war. Der Verein Bischheim sah sich deshalb gezwungen, eine Reinigungsgebühr in Höhe von 20 Pfennigen zu erheben, sollten die Mitglieder die „Clysopumpe“ in unsau­ berem Zustand zurückgeben.310 In Rohracker ging die Nachlässig­ oder bes­ ser Mutwilligkeit mancher Mitglieder sogar so weit, dass die vereinseigene Vollbadwanne nach wenigen Jahren komplett gebrauchsunfähig war.311 Die Tatsache, dass umgehend die Beschaffung einer neuen Wanne bewilligt wurde, spricht wiederum für die Bedeutung, die den medizinischen Hilfsmit­ teln beigemessen wurde. Denn ihre Anschaffung folgte nicht allein rein altru­ istischen Überlegungen: Zwar war den Mitglieder durch den Gebrauch von Schwitzapparaten (Stuttgart­Wangen312), Fichtengeist­Inhalatoren313 (Nagold) oder „männlichen und weiblichen Betturinalle[n]“314 (Bischheim) eine zusätz­ liche Möglichkeit der Selbsthilfe im Krankheitsfall gegeben, ein reichhaltiges Inventar fungierte aber auch als Werbung und Anreiz zur Vereinstreue.315 Die Bemühungen, das Vereinsangebot vielseitiger zu gestalten, erstreck­ ten sich nicht allein auf den Zukauf der oben aufgeführten Hilfsmittel. Auch auf didaktischem Gebiet wurden Anstrengungen unternommen, um die Ver­ mittlung von Wissen eingängiger und anschaulicher, kurz: auch visuell erfahr­ 306 IGM/Varia 370, 16. Oktober 1892. 307 IGM/Varia 370, 21. Oktober 1894. 308 Die Mitglieder des Vereins Rohracker mussten für die Benutzung der Badewanne eine Gebühr in Höhe von 20 Pfennigen entrichten (IGM/Varia 68, Einnahmen 1910). 309 IGM/Varia 371, 17. Februar 1907. 310 DHMD/L 1998/62, Protokoll 1906. 311 IGM/Varia 72, 17. Dezember 1912. 312 IGM/Varia 371, 17. April 1904. 313 IGM/Varia 419, 6. März 1898. 314 DHMD/L 1998/62, Protokoll 1907. 315 Dessen waren sich auch die Laienhomöopathen in Reutlingen bewusst, als sie 1908 da­ von hörten, dass in der Stadt ein Verein für natürliche Lebensweise ins Leben gerufen wurde. Bei einer kurz darauf stattfindenden Ausschusssitzung kam die Idee auf, man könne doch eine Voll­ und eine Sitzbadewanne anschaffen, um zu verhindern, dass die eigenen Mitglieder davon­ bzw. überlaufen (vgl. IGM/Varia 483, 15. April 1908).

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bar zu machen. Statt weiterhin trockenen Unterricht zu halten, entschlossen sich die ersten Vereine um 1900, sofern es die Finanzmittel erlaubten, zur Anschaffung anatomischer Modelle316, lebensgroßer Wandtafeln und Tor­ sos317. Über die Bezugswege schweigen sich die Protokollbücher weitestge­ hend aus, einzig der Schriftführer des Vereins Fellbach hielt beiläufig den Her­ steller fest. Das vereinseigene Modell, für das ein Mitglied einen Ständer an­ fertigen sollte318, erstanden die Mitglieder in Fellbach von Friedrich Eduard Bilz (1842–1922). Der Naturheilkundler Bilz machte sich auf literarischem Gebiet einen Namen als Verfasser des 1888 erschienenen Werks Das neue Heilverfahren. Lehrbuch der naturgemäßen Heilweise und Gesundheitspflege. Zentra­ ler Bestandteil dieses „Bilz­Buchs“ waren mehrere ausklappbare Abbildun­ gen, die etwa das menschliche Blutgefäßsystem oder die Lage der verschiede­ nen inneren Organe zeigten. Zur Illustration des bei Vorträgen Gesagten konnten diese Papiermodelle aufgeschlagen und vorgezeigt werden319, womit in Fellbach die Mitglieder Röhm und Schall beauftragt wurden.320 Für den Unterricht vor zahlreichem Publikum waren beinahe lebensgroße Wandtafeln indessen wesentlich besser geeignet als kleinformatige Körpermo­ delle. Neben einfachen Tafeln befanden sich auch filigrane, vielschichtige Exemplare in Besitz mancher Laienvereine. Zum Bestand des IGM gehören mehrere Wandtafeln, die in Lebensgröße zunächst den nackten, männlichen oder weiblichen, Körper zeigten. Wollte der Referent seinen Zuhörern etwa die Funktionsweise des Muskelapparats erklären, so musste er die Tafeln nur umklappen. Unter dem nacktem Körpermodell verbarg sich ein zweites Kör­ permodell, das die einzelnen Muskelfasern und ­stränge zeigte. Klappte der Referent diese Seite der Tafel erneut um, so waren Arterien, Venen, Lymph­ knoten, kurz: die Bestandteile des Blutgefäßsystems von Kopf bis Fuß zu se­ hen. Darunter verbargen sich die verschiedenen inneren Organe des mensch­ lichen Körpers wie Herz, Lungen, Nieren oder Milz und schließlich das bloße Skelett. Im Falle des weiblichen Modells verfügte die Wandtafel noch über 316 Der Verein Metzingen beschloss im Februar 1904 die Anschaffung eines anatomischen Modells in Höhe von 14 Mark, weil „Herr Dr. Haehl erklärte ohne Modell einen wissen­ schaftlichen Vortrag nicht zum verständlichen Ausdruck zu bringen“ (IGM/Varia 35, 20. Februar 1904). Anatomische Modelle benutzte lange Zeit auch der Homöopathische Verein Heidenheim: Wolff (1989), S.  106. Es ist anzunehmen, dass mit den Modellen kleine ausklappbare Papiermodelle gemeint waren. 317 Bei einem Torso­Modell handelt es sich um die Nachbildung des menschlichen Ober­ körpers ohne Kopf und Gliedmaßen. Es sind allerdings weder einzelne Modelle noch Fotoaufnahmen überliefert, auf denen ein solcher Torso abgebildet ist. Ob die von den Vereinen benutzten Torsi tatsächlich keinen Kopf und keine Arme hatten, ist ungewiss. 318 Das beauftragte Mitglied Neef war Schreinermeister von Beruf. Überhaupt zogen die Vereine in erster Linie ihre Vereinskameraden vor, bevor entsprechende Aufträge an fremde Handwerker vergeben wurden; IGM/Varia 68, 19. April 1911. 319 In einer mäßig gut besuchten Monatsversammlung des Vereins Stuttgart­Wangen im März 1910 wurde ein Modell des menschlichen Körpers gezeigt und dazu aufgerufen, ein Mitglied solle sich entsprechend einlesen und die spätere Erläuterung übernehmen (IGM/Varia 371, 23. März 1910). 320 IGM/Varia 68, 26. November 1911.

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ausklappbare Eierstöcke sowie die Gebärmutter, in der sich ein Fötus befand. Der Homöopathische Verein Reutlingen beispielsweise entschied sich im März 1900 nach der Begutachtung einiger Ansichtsexemplare bewusst gegen die Anschaffung der Modelle von Bilz.321 Die Mehrheit der Mitglieder stimmte stattdessen für die Investition in drei Wandtafeln des Verlags Schrei­ ber aus Esslingen, die neben dem Knochenbau auch das Blut­ und Lymphsys­ tem und den Muskelapparat des menschlichen Körpers illustrierten. Die Ta­ feln maßen ca. 156 Zentimeter in der Höhe und 54 Zentimeter in der Breite, waren also auch von einiger Entfernung aus gut erkennbar und aufgrund ihrer Größe auch wesentlich detailreicher gestaltet als die Papiermodelle des „Bilz­ Buchs“. Bei Vorträgen konnten die Tafeln entweder an einer Wand oder ei­ nem freistehenden Ständer aufgehängt und vom Referenten mit Hilfe eines Zeigestabs erläutert werden. Nach dem Vortrag war es den Mitgliedern mög­ lich, sich die Tafeln – ebenso wie die Modelle – aus der Nähe anzusehen. Zur besseren Orientierung lag dabei ein auf die Tafeln abgestimmter Katalog aus, in dem die einzelnen Knochen, Blutgefäße oder Muskeln nummeriert ver­ zeichnet waren. Nur zwei der untersuchten homöopathischen Laienvereine konnten oder wollten die im Vergleich zu den Papiermodellen oder anatomischen Tafeln wesentlich höheren finanziellen Mittel für den Kauf eines Torsos aufzuwen­ den.322 Auch hier ist aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht ganz klar, durch welche Besonderheiten sich diese Nachbildung des menschlichen Oberkörpers auszeichnete. Vermutlich handelte es sich aber um mehrteilige Plastiken des Oberkörpers mit den wichtigsten Organen wie Herz, Lunge, Nieren, Leber und Darmtrakt. In Bischheim wurde der Torso zwischen 1907 und 1920 nachweislich vier Mal bei Vorträgen über Lungenkrankheiten, Diptherie, Blinddarmentzündung und anderen Erkrankungen benutzt. Über den Einsatz des Torsos in Kleinrückerswalde ist hingegen nichts bekannt; auch nicht, ob der Verein tatsächlich die Mittel für seine Anschaffung aufbrin­ gen konnte. Die Anschaffung papierner Modelle, Wandtafeln und Torsos gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann als Indiz gewertet werden, dass die homöopathi­ 321 IGM/Varia 483, 13. März 1900. 322 Der Verein Bischheim stemmte um 1905 die stattliche Summe von 37,50 Mark für einen Torso ohne größere Probleme (DMHD/L 1998/70.14L). Die Laienhomöopathen in Kleinrückerswalde mussten 20 Jahre nach der Gründung ihres Vereins ein Fest veranstal­ ten, um mit Hilfe der Erlöse die „Anschaffung eines Dorsos“ finanzieren zu können. Die Polizeiinspektion Annaberg kommentierte das Erlaubnisgesuch für das Fest folgender­ maßen: „Der homöopathische Verein im Stadtteil Kleinrückerswalde, besteht seit dem Jahre 1894 und zählt zur Zeit 108 Mitglieder. Dieser Verein hält jährlich nur ein Vergnü­ gen­Stiftsball ab. Um nun, wie im Gesuche angegeben, einen ‚Dorso‘, d. s. zerlegbare Körperteile zur Aufklärung anschaffen zu können, die Barmittel bei dem wenigen Mit­ gliederstand nicht ausreichen, gedenkt der Verein durch ein öffentliches Gesangsconzert, Theater mit daran schließenden Balle, eine Beihilfe zu erzielen. In Anbetracht des höhe­ ren Zweckes, welchen der Verein verfolgt […], glaubt man das Gesuch in der erbetenen Weise befürworten zu können“ (StA Annaberg­Buchholz Rep. IV. Lit. V Nr. 55).

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schen Laienvereine bestrebt waren, ihren Mitgliedern optimale Bedingungen der Gesundheitsbildung zu bieten und sich zugleich als modern und zeitge­ mäß zu präsentieren. Der nächste Schritt in Sachen mediengestützter Wis­ sensvermittlung sollte die Verwendung von sogenannten Lichtbildapparaten sein, die vereinzelt bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts Verwendung fan­ den. Die homöopathischen Vereine in Untertürkheim und Stuttgart­Wangen waren die nachweislich ersten, die sich eines solchen Apparats zur Illustration eines Vortrags über „Die verschiedenen Organe des menschlichen Körpers im gesunden und kranken Zustand“ bedienten.323 Einige Jahre später, als die Technik ausgereifter war, zogen weitere homöopathische Vereine nach. Die Laienhomöopathen in Fellbach konstatierten beispielsweise 1912 eine sehr gute Beteiligung bei einem Lichtbildervortrag über die „Ernährung des Menschen“324. Ihre Vereinsbrüder in Reutlingen füllten mit einem ähnlichen Vortrag über die Funktion und den Bau des weiblichen Körpers im Septem­ ber 1913 das Vereinslokal bis auf den letzten Platz.325 Richtig in Schwung kommen sollten die Lichtbildervorträge allerdings erst in den Zwanzigern, als die Geräte billiger und damit leichter erschwinglich waren. Die sonstigen Anschaffungen dienten weniger der Gesundheitsbildung und ­förderung als vielmehr der Erleichterung der alltäglichen Vereinspraxis. Neben Geschäftsbüchern oder Federkielen taucht unter den Ausgaben etwa die Vervielfältigung von Flugblättern auf, die zumeist die Versammlungen und deren Tagesordnungen ankündigten. Um nicht auf die umliegenden Drucke­ reien angewiesen zu sein, leistete sich der Verein Reutlingen 1901 einen Hek­ tographen.326 Und dem Apothekenverwalter der Vereins Stuttgart­Wangen spendierte die darüber abstimmende Mitgliederversammlung, nicht ganz un­ eigennützig, 1903 einen neuen Glockenzug.327 2.3.9 Geselligkeit Die Vereinsstatuten legten fest, dass den Mitgliedern tiefere Kenntnisse im Umgang mit Krankheiten und homöopathischen Arzneimitteln vermittelt werden sollten. Zu diesem Zweck veranstalteten die Vereine regelmäßig Ver­ sammlungen, Vorträge und Erörterungsabende, richteten Vereinsbibliotheken ein und abonnierten Laienzeitschriften. Nachdem die homöopathischen Ver­ eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihr Programm etablieren sowie zahlrei­ che Anhänger gewinnen konnten, wurden bald erste Mitgliederstimmen laut nach mehr Geselligkeit und Pflege des Vereinslebens. Die Vereinsleitungen 323 Da die Mitglieder des Vereins Stuttgart­Wangen erst 1914 den Kauf eines eigenen Appa­ rates beschlossen, ist davon auszugehen, dass die Laienhomöopathen in Untertürkheim die Technik stellten oder – wahrscheinlicher – sich das Gerät nebst der gezeigten Bilder von der Hahnemannia ausliehen. 324 IGM/Varia 68, 10. Februar 1912. 325 IGM/Varia 484, 24. September 1913. 326 IGM/Varia 483, 23. Februar 1901. 327 IGM/Varia 372, 24. Mai 1903.

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schienen gegenüber diesen Forderungen ihrer Mitglieder mancherorts skep­ tisch eingestellt zu sein, war in ihren Augen die Ausrichtung von Feierlichkei­ ten und sonstigen Vergnügungen doch schlecht zu vereinbaren mit den ei­ gentlichen Vereinszielen.328 In Reutlingen beispielsweise lehnte der Vereins­ vorsitzende den Vorschlag ab, man könne gemeinsam unternommene Spa­ ziergänge oder Gesellschaftsabende ausrichten, um dem beklagten Interes­ senmangel und Mitgliederschwund entgegenzuwirken. Als Begründung brachte er vor, dass es das alles schon einmal gegeben, aber nie den gewünsch­ ten Erfolg gebracht hätte.329 Stattdessen setzte der Vereinsausschuss als werbe­ wirksame Maßnahme auf einen gezielten Ausbau der Fachveranstaltungen. Auch im bergischen Radevormwald stand man anlässlich des zehnten Ver­ einsjubiläums einer ausschweifenden Feier wenig aufgeschlossen gegenüber, konnte dieses Datum aber auch nicht unbeachtet verstreichen lassen: „So wurde zwar, um nicht in den Fehler der heutigen Zeit zu verfallen, davon ab­ gesehen, ein Fest zu feiern, aber doch ins Auge gefasst, um diese Zeit einen Redner zu bestellen, der im Verein über Homöopathie einen Vortrag hält.“330 Der Stimmung tat dies aber keinen Abbruch. Befriedigt konstatierte der Schriftführer am Ende des entsprechenden Protokolleintrags: „Auch ohne Musik hatten wir Unterhaltung genug“331. Andere Laienvereine taten sich vor 1900 bedeutend leichter bei der Ge­ staltung eines abwechslungsreichen Vereinsprogramms, das gesellige Ele­ mente der bürgerlichen Vereinskultur ebenso umfasste wie typische Merk­ male der homöopathischen Vereinsbewegung. Der Verein Göppingen war der nachweislich erste, der seine Mitglieder nicht nur im Vereinslokal bzw. zu Vorträgen über Krankheit und Homöopathie zu versammeln versuchte. Be­ reits im Gründungsjahr 1883 lud der Verein zu einem Familienspaziergang ein, der sich derart großer Beliebtheit erfreute, dass er im Spätsommer des Folgejahrs zu einem Ausflug ins benachbarte Eislingen ausgedehnt wurde. Im Winter 1888 folgte dann die erste Weihnachtsfeier der Laienhomöopa­ then in Göppingen. Über sie ist nur bekannt, dass sie alles andere als billig war.332 Der Summe von 91 Mark nach zu urteilen musste den Teilnehmern allerdings deutlich mehr geboten worden sein als ein trockener Vortrag. Drei Jahre später veranstaltete der Laienverein schließlich einen „Unterhaltungs­ abend“ mit insgesamt 18 Programmpunkten, darunter Zither­ und Klavier­ 328 Noch 1930, als gesellige Veranstaltungen schon längst Teil der homöopathischen Ver­ einskultur waren, ist in einem Zeitungsbericht über die Weihnachtsfeier des Vereins Stuttgart­Wangen zu lesen: „Ziel eines solchen Vereins ist freilich nicht, Feste zu feiern. Aber einmal im Jahr darf er wohl seine Mitglieder statt zu ernster Arbeit zu einem fröh­ lichen Abend einladen“ (IGM/Varia 373, 6. Dezember 1930). 329 IGM/Varia 482, Juni 1895. Der Vereinsvorsitzende kann mit dieser Begründung nicht den eigenen Verein gemeint haben, denn dieser existierte seit gerade einmal zwei Jah­ ren. Vermutlich bezog er sich auf andere homöopathische Laienvereine, die solche Ver­ suche bereits unternommen, dadurch aber nichts gewonnen hatten. 330 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 8. Februar 1903. 331 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 1. November 1903. 332 IGM/Varia 225, Rechnungsabschluss 1888.

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spiel sowie Gesangseinlagen. Diese Veranstaltung wurde von den Mitgliedern offenkundig goutiert, konnte der Schriftführer doch einen außerordentlich guten Besuch konstatieren.333 Die dichte Abfolge der Vereinsfeste aber vorei­ lig auf eine ausufernde Feierlaune der Laienhomöopathen zu reduzieren, hieße die tieferen Zusammenhänge außer Acht zu lassen. Denn wie der Ver­ ein Reutlingen hatte auch der Verein Göppingen seit einiger Zeit mit rückläu­ figen Mitgliederzahlen zu kämpfen. Bei einer Ausschussversammlung sprach man sich im April 1891 über mögliche Maßnahmen aus, um dem Schwund Einhalt gebieten und neue Mitglieder zu gewinnen. Obwohl sich der Unter­ haltungsabend nicht unter den genannten Vorschlägen befand, ist dennoch denkbar, dass er auch der Werbung für den Verein dienen sollte. Schließlich annoncierte der Verein den Abend in den Lokalblättern.334 Nach 1900 hielten Geselligkeit und Unterhaltung endgültig Einzug in die homöopathische Laienvereinsbewegung. Kursierten zuvor Bedenken und Zu­ rückhaltung, so setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Überzeugung durch, dass die Veranstaltung von Feierlichkeiten zwar nicht unbedingt in di­ rekten Zusammenhang mit den Vereinszielen zu bringen, als zentraler Be­ standteil des bürgerlichen Vereinswesens aber unumgänglich seien. Mitunter ging von Festen auch eine identitäts­ und zusammengehörigkeitsstiftende Wir­ kung aus, indem man sich abseits des Vereinsalltags auf die Homöopathie und nicht zuletzt auf das bisher Geleistete besann. Letzteres war vor allem bei der feierlichen Begehung der Jubiläen der Fall, bei denen der Vorsitzende zunächst die Vereinsgeschichte rekapitulierte und dabei besonders Erfolge und Fortschritte hervorhob. Einen Eindruck, wie unterhaltsam es bei solchen Veranstaltungen zugehen konnte, vermittelt das 15. Jubiläum des Vereins Reutlingen im März 1908, zu dem auch die benachbarten, zahlreich erschei­ nenden Laienvereine eingeladen waren: „Der gesellige Teil des Festes bot eine reiche Abwechslung durch Musikvorträge einer Abteilung der Stadtka­ pelle, humoristische und komische Vorträge […], eine unterhaltende Dekla­ mation ‚Stadtfräulein und Landmädl‘ und durch Aufführung eines humorvol­ len Theaterstücks ‚Der bekehrte Bauer‘“335. Ebenso beschwingt ging es bei den regelmäßiger stattfindenden Familienabenden und Stiftungsfesten zu: Musikorchester, zu deren Stücken ausgiebig getanzt und gesungen wurde, wa­ ren alsbald nicht mehr wegzudenken. Schließlich sollte nicht zuletzt der Öf­ fentlichkeit vor Augen geführt werden, dass der Verein „nicht nur ernst, son­ dern auch fröhlich und lustig sein kann“336. Auch der Homöopathische Ver­ ein Rohracker führte spätestens 1911 Unterhaltungsabende ein, deren Pro­ gramm der hiesige Gesangs­ und Turnverein bereicherte. Und im sächsischen Bischheim nahm die Geselligkeit schon 1908 solche Züge an, dass in diesem Jahr eigens ein „Vergnügungsvorstand“ gewählt werden musste, um die um­

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IGM/Varia 225, 21. November 1891. IGM/Varia 225, 21. November 1891. IGM/Varia 483, 1. März 1908. IGM/Varia 484, 17. Februar 1912.

2.4 Anstellung von und Verhältnis zu homöopathischen Ärzten

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fangreiche Organisation der Stiftungsfeste parallel zu den laufenden Vereins­ geschäften planen zu können.337 Fester Bestandteil nicht nur des Reutlinger Vereinskalenders sollten nach 1900 die in den Sommermonaten stattfindenden Jahresausflüge und Frühspa­ ziergänge sein. Letztere verbanden auf geschickte Weise Unterhaltung, kör­ perliche Ertüchtigung und Stärkung des Gemeinschaftsgefühls mit Gesund­ heitsbildung in Form von botanischen Erläuterungen und Vorträgen. Die Pro­ tokollbücher schweigen sich über den genauen Verlauf der Wanderungen zwar aus, Fotoaufnahmen und Schilderungen aus späterer Zeit lassen jedoch erahnen, dass sich die Mitglieder gut gerüstet auf den Weg machten und ge­ nügen Zeit für Rast und Erholung einplanten. Desgleichen dürfte für Ausflüge gelten, die in Gemeinschaft mit anderen Vereinen unternommen wurden: Die Laienvereine Dettingen, Metzingen und Urach beschlossen auf einer gemein­ samen Ausschusssitzung, im August 1909 eine rund 20 Kilometer lange Wan­ derung über Dettingen nach Neuffen durchzuführen.338 Ebenfalls im Zusam­ menschluss mit den Vereinsmitgliedern des Filstals besuchten im selben Jahr die Homöopathen aus Reutlingen das nahegelegene Schloss Lichtenstein, um anschließend in Großengstingen noch einem botanischen Vortrag zu lau­ schen.339 2.4 Anstellung von und Verhältnis zu homöopathischen Ärzten Das Verhältnis der Laienhomöopathen zu den homöopathischen Ärzten war ambivalent: Einerseits verschrieben sich die Laienvereine der allgemeinmedi­ zinischen Aufklärung ihrer Mitglieder und ermutigten sie zur praktischen Selbsthilfe. Dabei drangen sie nicht selten in den ärztlichen Kompetenzbe­ reich vor – etwa durch Therapieempfehlungen oder Abgabe von Arzneimit­ teln. Andererseits verstanden sie ihre Arbeit nicht als Konkurrenz zu den ho­ möopathischen Ärzten. Die vielfältigen Angebote der Vereine zielten neben der Begründung einer laienorientierten Gesundheitskultur vor allem darauf ab, in der Bevölkerung für die homöopathische Heilmethode zu werben und dadurch möglichst viele Anhänger zu gewinnen.340 Gelang dieses Vorhaben, so hatte man ein überzeugendes Argument bei der Hand, um einen homöo­ pathischen Arzt zum Übersiedeln in den jeweiligen Ort zu bewegen.341 Neben der Anstellung eines Arztes versuchten viele Vereine zudem, Ärzte zu Fach­ vorträgen einzuladen. Als Beispiel mag der Homöopathische Laienverein Reutlingen dienen, der nach 1890 erfolgreich seine Attraktivität steigerte, in­ dem er regelmäßig Arztvorträge veranstaltete. Homöopathische Ärzte wur­ den also nicht nur wegen ihrer fundierten Fachkenntnisse geschätzt, sondern 337 338 339 340 341

DHMD/L 1998/62, Protokoll 1908. IGM/Varia 36, 11. August 1908. IGM/Varia 483, 27. Juni 1909. Wolff (1987), S. 79. IGM/Varia 225, 27. April 1884.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

auch wegen ihrer Werbewirkung auf Mitglieder und der Homöopathie (noch) Fernstehende. In der Praxis liefen beide Vorhaben – Ärzte als Heiler und Redner zu ge­ winnen – indessen nicht immer reibungslos ab. Noch relativ einfach zu reali­ sieren war letzteres: die Verpflichtung homöopathischer Ärzte als Vortrags­ redner. Richard Haehl, seit 1898 neuer Geschäftsführer der Hahnemannia, hielt jedem angeschlossenen Zweigverein jährlich mindestens einen öffentli­ chen Vortrag.342 Die Themen waren abwechslungsreich und drehten sich meist um Herzleiden, um die menschliche Anatomie oder um die Grundzüge der homöopathischen Arzneimittellehre. In der Regel besuchten Dutzende Zuhörer seine Vorträge, nicht selten sogar über 100 Vereinsmitglieder und Interessierte. Einen ähnlichen Erfolg konnten die Vereine auch bei Vorträgen anderer homöopathischer Ärzte verzeichnen.343 Arztvorträge im Allgemeinen besaßen jedoch Seltenheitswert. In Stuttgart­Wangen wurden bis 1914 gerade einmal zwölf (elf davon von Haehl), in Reutlingen immerhin rund 16 Arztvor­ träge und Erörterungsabende gehalten, wohingegen in beiden Vereinen die Zahl der Laienvorträge mindestens doppelt bis dreimal so hoch war.344 Die Zahl der Arztvorträge stieg aber an; ein Trend, der sich nach 1914 weiter fort­ setzen sollte. Offensichtlich erklärten sich die Ärzte eher bereit, einen Vortrag zu halten als sich gänzlich in einem Ort niederzulassen. Für den betreffenden Arzt waren mit der Vortragstätigkeit außer der aufgewendeten Zeit keine Un­ annehmlichkeiten verbunden, stattdessen bekam er vom Verein sogar ein Honorar gewährt und die Fahrkosten erstattet. Bei nicht allzu großer Entfer­ nung ließen sich bei Vorträgen sogar Patienten für die eigene Praxis werben. Weit schwieriger und langwieriger als die Organisation von Arztvorträgen gestaltete sich indessen die Suche nach einem kompetenten und finanzierba­ ren Vereinsarzt. Auch wenn der Homöopathie der Boden bereitet, die Bevöl­ kerung wenigstens in Teilen über ihre Vorzüge unterrichtet war und der Ver­ ein blühte, so war noch lange nicht garantiert, dass sich im Ort ein approbier­ ter Homöopath niederließ. In Stuttgart­Wangen schien der Fall zunächst einfa­ cher zu sein: bereits ein Jahr nach der Gründung konnte der dortige Verein seinen Mitgliedern bekannt geben, dass Dr. Pfizenmeyer als Vereinsarzt ge­ wonnen werden konnte. Seine ärztliche Tätigkeit war, sofern er sie überhaupt begonnen hat, allerdings nicht von allzu langer Dauer. Schon wenige Monate später erklärte sich dann der Cannstatter Arzt Dr. Donner bereit, in der Woh­ nung von Schriftführer Frey Sprechstunden gegen eine Gebühr von 60 Pfen­ nig abzuhalten. Doch auch diese Lösung hatte nur zwei Jahre Bestand. Im Juli 1890 vermerkte jener Schriftführer in einem Protokolleintrag, dass sich Dr. 342 Haehl bekam zunächst die Hin­ und Rückfahrt zweiter Klasse erstattet und ab 1906 zu­ dem eine Kopfsteuer für jeden Anwesenden in Höhe von 20 Pfennig, maximal aber zehn Mark, ausbezahlt (IGM/Varia 419, 21. Februar 1906). 343 Etwa in Heidenheim: Wolff (1989), S. 142. 344 Zu einem anderen Verhältnis kommt: Wolff (1989), S. 142. 47 der 80 öffentlichen Vor­ träge, die in Wolffs Untersuchungszeitraum gehalten wurden, bestritten approbierte Ho­ möopathen.

2.4 Anstellung von und Verhältnis zu homöopathischen Ärzten

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Schwarzenkölze „zur Sache hergibt“345  – gemeint war die Arztfrage. Nach­ dem man mit diesem Arzt langfristig ebenfalls kein Glück hatte, änderte die Vereinsleitung ihre Strategie. Wiederum zwei Jahre später, im September 1892, fanden Gespräche mit Dr. Schulde aus Cannstatt statt.346 Doch nicht, um die Modalitäten eines etwaigen Übersiedelns nach Stuttgart­Wangen aus­ zuhandeln. Sondern um Schulde zu bitten, in Wangen künftig wöchentliche Sprechstunden im Hause des Apothekenverwalters Friedrich Scholpp anzu­ bieten. Dazu fand sich der Arzt auch bereit. 1894 erreichte den Verein schließ­ lich die Absichtserklärung eines homöopathischen Arztes aus Mühlheim, sich in Stuttgart­Wangen niederzulassen. Als Bedingung verlangte er allerdings die Bereitstellung einer Wohnung und eines geeigneten Arbeitsumfelds. Nicht ganz klar ist, woran seine Bereitschaft letztlich scheiterte, auf ein Schreiben des Vereins antwortete der betreffende Arzt jedenfalls nicht mehr. In der Zwi­ schenzeit musste auch Dr. Schulde seinen Hut genommen haben, denn 1897 stellte sich Dr. Huber aus Stuttgart dem Verein vor und bot an, künftig zwei­ mal pro Woche Sprechstunden in der Wohnung des Vorsitzenden abzuhal­ ten.347 Vermutlich verliefen aber auch diese Verhandlungen im Sande, denn weder das Angebot noch Dr. Huber traten abermals in Erscheinung. Die vor­ erst letzte Chance, einen approbierten Homöopathen zu gewinnen, bot sich dem Verein im Jahre 1901.348 Ein Arzt aus Herrenberg bekundete seine Ab­ sicht, sich in der Nähe niederzulassen. Da auch diese Nachricht nicht wieder aufgegriffen wurde, ist davon auszugehen, dass es sich der besagte Arzt oder die Vereinsleitung inzwischen anders überlegte. Im November 1908 notierte der Schriftführer die Gründe, an denen die „Doktorfrage“ bislang scheiterte: Entweder hätten die Ärzte die Erstattung ihrer horrenden Umzugskosten oder eine jährliche Entschädigung in Höhe von drei Mark pro Mitglied verlangt. Bei schätzungsweise 300 Mitgliedern349 hätte der Verein tief in die Tasche greifen müssen, hätte er den Forderungen des Arztes nachgegeben. Dazu wa­ ren die Suttgart­Wangener Laienhomöopathen letztlich aber nicht bereit: die Ärzte sollten erst arbeiten, dann verdienten sie schon ihr Geld.350 Man be­ gnügte sich in der Folgezeit mit den billigeren Arztvorträgen und den Fach­ kenntnissen einzelner Mitglieder, was dem Wachstum des Vereins auch kei­ nen Abbruch tat. Letztlich musste sich in Stuttgart­Wangen aber doch ein (al­ lopathischer oder homöopathischer) Arzt niedergelassen haben, mit dem man ein Auskommen fand. Darauf lässt zumindest ein beiläufiger Protokoll­ eintrag vom 17. Dezember 1912 schließen, demzufolge der „hiesige Arzt“ auch kalte und warme Wadenwickel, Umschläge und Kamillenbäder verord­ nen würde, worüber man nicht klagen könne.351 345 346 347 348 349 350 351

IGM/Varia 371, 20. Juli 1890. IGM/Varia, 18. September 1892. IGM/Varia, 31. Oktober 1897. IGM/Varia 371, 17. März 1901. Gesicherte Zahlen liegen nur für 1897 (218) und 1911 (408) vor. IGM/Varia 371, 26. November 1908. IGM/Varia 371, 17. Dezember 1911.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Mit teils ganz ähnlichen Problemen bei der Arztsuche hatten die Laienho­ möopathen auch andernorts zu kämpfen: Die Erfolglosigkeit einzelner Ver­ eine veranlasste den Vorsitzenden des Calwer Vereins Weberheinz im Spät­ sommer 1898 sogar dazu, zur Gründung eines Bezirksvereins aufzurufen, um mit vereinten Kräften einen homöopathischen Arzt anzustellen.352 Die Mit­ glieder des Vereins Nagold bekamen von der Hahnemannia einen Arzt ver­ mittelt, beschwerten sich aber über dessen „rücksichtslose[s] Benehmen“353. Weil Gnesse bei den Mitgliedern in Nagold in Ungnade fiel, bot der bereits bekannte Dr. Donner seine Sprechstundendienste an, bis er feststellte, dass es in Nagold lediglich zwei oder drei Patienten zu behandeln gebe, weswegen sich eine Anreise für ihn nicht lohne.354 In Göppingen wiederum ging man 1888 auf die Bedingungen eines homöopathischen Arztes aus Neu­Ulm ein und gewährte ihm eine finanzielle Entschädigung, um ihn dauerhaft zu bin­ den. Diese Entschädigung muss allerdings derart hoch ausgefallen sein, dass sie den Verein binnen zweier Jahre an den Rand des Ruins brachte.355 Im Sommer 1892 weckte die Nachricht, dass sich der homöopathische Arzt Dr.  Endriß in Göppingen niederlassen werde, neue Hoffnungen. Um die Göppinger Vereinsmitglieder und Einwohnerschaft auf die Ankunft des Arz­ tes aufmerksam zu machen, inserierte die Vereinsleitung in den Lokalzeitun­ gen, verschickte Infobriefe an die Landräte und veranstaltete am 4. Septem­ ber desselben Jahres einen Laienvortrag mit dem Thema: „Homöopathie und Reform der Medizin“356. Dr. Endriß war darüber allerdings alles andere als erfreut und kritisierte, dass ein Nichtakademiker sich anmaße, über den Stand der Medizin zu sprechen. Der eigentliche Stein des Anstoßes dürfte allerdings gewesen sein, dass der Redner seinen Zuhörern versprach, Endriß würde Ver­ einsmitglieder gegen Vorlage ihres Ausweises einen Rabatt gewähren. Der Arzt war mit dieser für ihn nachteiligen Sonderkondition offensichtlich nicht einverstanden. Um die Wogen zu glätten und die vermeintlichen Missver­ ständnisse auszuräumen, schickte der Verein umgehend eine dreiköpfige De­ legation zu Endriß.357 Die Beispiele verdeutlichen, dass die Laienvereine anfangs bestrebt wa­ ren, ihren Mitgliedern neben Krankheitsaufklärung und medizinisch­hygieni­ scher Wissensvermittlung im Bedarfsfall auch eine ärztliche Behandlung bie­ ten zu können. Gelang dies, so war die Freude darüber groß: Der homöopa­ thische Laienverein zu Heidenheim etwa überreichte einem 1892 zugezoge­ nen Arzt anlässlich seiner Vermählung „ein entsprechendes Hochzeitsge­ schenk aus Mitteln der Vereinskasse“ und brachte dem Brautpaar ein Ständ­ chen dar.358 In den meisten der untersuchten Fällen war die Suche nach einem 352 353 354 355 356 357

IGM/Varia 419, 25. September 1898. IGM/Varia 419, 15. November 1888. IGM/Varia 419, 15. November 1888. IGM/Varia 225, 1. Mai 1890. IGM/Varia 225, 4. September 1892. IGM/Varia 225, 4. September 1892. Der Ausgang der Unterredung mit Endriß ist nicht bekannt, da das Protokollbuch mit diesem Eintrag endet. 358 Wolff (1989), S. 140.

2.5 Laienpraxis

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Arzt allerdings ein frustrierendes und langwieriges Unterfangen. Zu groß war die Zahl der „konkurrierenden“ Vereine, zu klein die Zahl der zur Verfügung stehenden homöopathischen Ärzte. Einer Statistik zufolge praktizierten 1909 im gesamten Deutschen Reich gerade einmal 211 homöopathische Ärzte359, um deren Gunst an die 250 Laienvereine mit 24.110 Mitgliedern buhlten.360 Vermutlich wussten die Ärzte sehr wohl um diese für die Laienvereine unvor­ teilhafte, für sie selbst aber lukrative Situation. Immerhin sahen sie sich in der Position, Forderungen zu stellen. Lediglich einen „der Homöopathie bereite­ ten Boden“ vorzufinden, genügte ihnen nicht, um sie zum Übersiedeln zu be­ wegen. Vielmehr sollten die Vereine für ihre Umzugs­ und Mietkosten auf­ kommen oder ihnen jährlichen Aufwandsentschädigungen zahlen. Das konn­ ten oder wollten sich allerdings nicht einmal die mitgliederstärksten Laienver­ eine leisten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass nicht wenige homöopathische Vereine sozusagen reflexartig die Suche nach einem Arzt vorantrieben, sich aber parallel um Alternativen und Ersatz bemühten. Eine naheliegende Möglichkeit war die von externen oder vereinseigenen Heilern ausgeübte Laienpraxis. 2.5 Laienpraxis Dass die homöopathische Laienpraxis der Entwicklung und Ausbreitung der Homöopathie schade, weil sie wegen ihrer einfachen Erlern­ und Beherrsch­ barkeit keine rechte Wissenschaft sein könne, verwarf der homöopathische Arzt Georg von Rapp361 (1818–1886) in einem vor der Generalversammlung der Hahnemannia am 24. Februar 1870 gehaltenen Vortrag mit folgenden Worten: „Diesen scheinbaren Vorwurf nehmen wir gerne dahin, denn er ist kein Tadel, er ist das schönste Zeugniß für den Werth der Homöopathie. Ein­ fachheit und Brauchbarkeit einer Sache ist ein Beweis für deren Richtigkeit.“362 Im gleichen Atemzug verteidigte er die Laienpraxis, indem er ihre Vorzüge gegenüber der Allopathie pries und ihre „historische Berechtigung“363 be­ tonte. Schon Hahnemann habe erkannt, „daß bei jedem Fortschritt der Im­ puls von unten vom Volke aus gegeben werden müsse“ und dass die Laienpra­ xis fabelhafte homöopathische Ärzte hervorgebracht hätte. Doch verfehlte Rapp nicht, darauf hinzuweisen, dass es natürlich nicht seine Absicht sein könne, zu sagen, „die Laienpraxis kann die ärztliche Praxis ganz ersetzen“364. Ein verständiger und gewissenhafter Laienarzt werde erkennen, dass seine 359 Jütte (1996), S. 42; Faltin (2000), S. 301 f. Der Anteil homöopathischer Ärzte betrug damit etwa ein halbes Prozent. Vgl. Dinges: Professionalisierung (1996), S. 163. 360 Baschin (2012), S. 221, insbesondere Anm. 1044. Die Zahl der Vereine und Mitglieder ergibt sich aus einer Liste des 1910 gegründeten Bundes homöopathischer Laienvereine Deutschlands und bezieht sich auf den Stand Ende 1911. 361 Zum Leben und Werk von Georg von Rapp siehe ausführlich: Held (1999). 362 Ausschuss der Hahnemannia (1870), S. 4. 363 Ausschuss der Hahnemannia (1870), S. 5. 364 Ausschuss der Hahnemannia (1870), S. 6.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Praxis nur bis zu einem gewissen Grad heilbringend sein kann und wird da­ her „viel früher und häufiger den wirklichen Arzt consultiren, als es andere in der Medicin ganz Unwissende zu thun gewohnt sind!“ Eine vernünftige Laien­ praxis schade der Homöopathie daher gewiss nicht, schon gar nicht in abge­ legenen Dörfern und Gemeinden, wo sie ein „willkommener Anker in der Noth sei“365. Diese Meinung, dass die homöopathische Laienpraxis imstande sei, der Homöopathie eine größere Verbreitung zu verschaffen, […] veraltete Vorurtheile über Homöopathie bei Personen, welche ihre Hülfe in Anspruch nehmen, auszurotten und insbesondere dahin zu wirken, daß das große Publikum über die Vorzüge und Ueberlegenheit der Homöopathie über die Allopathie, sowohl in sanitärer, wie in peku­ niärer Beziehung belehrt […] werde366,

vertrat auch der Kyritzer Kreisgerichtssekretär Wald. In seinem 1875 in der Leipziger Populären Zeitschrift publizierten Artikel „Praktische Winke für gebil­ dete Laien“ stellte er lediglich richtig, dass einige Punkte beachtet werden müssen, damit die Laienpraxis in diesem Sinne wirken könne. So sei ein um­ fassendes Studium der menschlichen Anatomie und homöopathischen Arz­ neimittellehre sowie der verschiedenen Krankheitssymptome nötig, das unbe­ dingte Fernhalten von der Chirurgie angezeigt und ein solides Maß an Be­ scheidenheit gefordert. Einen schwierigen Fall sollen Laien nicht weiterbe­ handeln, sondern ihn umgehend an einen erfahrenen Arzt überweisen. Die richtig angewendete Laienpraxis war demnach ein fester Bestandteil der ho­ möopathischen Laienbewegung und wurde aus verschiedenen Gründen nach Kräften gefördert und bisweilen gegen Angriffe von Seiten homöopathischer Ärzte verteidigt.367 Bis zur Jahrhundertwende erschienen sowohl in den Homöopathischen Monatsblättern als auch in der Leipziger Populären Zeitschrift un­ ter der Rubrik „Aus der Laienpraxis“ regelmäßig von Laien verfasste Erfah­ rungsberichte zu verschiedenen Erkrankungen und deren homöopathische Behandlung.368 Trotz dieses Bekenntnisses sollte die Laienpraxis aber keines­ falls missverstanden werden: Wie Rapp und Wald sah sich auch die Schriftlei­ tung der Homöopathischen Monatsblätter in deren Erstausgabe 1876 zur Richtig­ 365 Ausschuss der Hahnemannia (1870), S. 6. 366 LPZ 6 (1875), S. 25. 367 Vgl. Wolff (1989), S. 147–151. Abfällig über die Laienpraxis äußerte sich beispielsweise der homöopathische Arzt Dr. Thom aus Barmen bei der Wanderversammlung des Ver­ bands bergischer homöopathischer Vereine. Der Schriftführer des gastgebenden Vereins Radevormwald kommentierte diese Schmähung mit der Bemerkung, dass sie Fernste­ hende und mit der Homöopathie nicht Vertraute habe verwirren müssen (StA Rade­ vormwald Kasten 6 / Akte 1, 1. Oktober 1893). 368 Nach 1900 verschwinden diese Laienartikel, abgedruckt werden nur noch ärztliche Er­ fahrungs­ bzw. Fallberichte. Der Anlass für diese Neuausrichtung dürfte in Württemberg ein Redaktionswechsel gewesen sein. 1898 zog sich August Zöppritz als hochgeschätzter Vereinssekretär und Redaktionsleiter zurück, sein Nachfolger wurde der homöopathi­ sche Arzt Richard Haehl. Er vertrat die Ansicht, dass der Homöopathie ein wissenschaft­ licher Anstrich gegeben werden müsse, um sie mit der Allopathie auf Augenhöhe brin­ gen zu können. Vgl. 25 HM (1900), S. 161 f.

2.5 Laienpraxis

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stellung genötigt: „Wir verwahren uns ausdrücklich gegen die Meinung, als glaubten wir einen thüchtigen Arzt entbehrlich machen zu können.“369 Man wolle lediglich die breite Masse über das tiefere Wesen der Homöopathie in­ formieren, damit bestehende Vorurteile abgebaut würden. Schwerwiegende Krankheiten, daran bestand kein Zweifel, gehörten in verständige Arzthände. Anlässlich des 25. Jubiläums der Monatsblätter erinnerte deren proärztliche Schriftleitung370 abermals daran, dass es ihnen nicht einfalle „zu meinen, daß der Leser nun überhaupt keinen Arzt mehr brauche. Solcher Dünkel des Laien, der etwa glaubt, weil ihm die Heilung einiger leichten Fälle gelungen ist, sei er nun im stande, alles fertig zu bringen, straft sich oft bitter.“371 Unver­ antwortlich sei es, wenn ein Laie, der Gelegenheit habe, einen Arzt zu konsul­ tieren, die Behandlung einer schweren Krankheit „auf eigene Faust“ unter­ nehme. Diese Warnungen schienen auch die sich in dieser Zeit ausbreitenden homöopathischen Laienvereine verinnerlicht zu haben, bemühten sie sich doch vielfach um die Anstellung eines homöopathischen Arztes, obwohl sie mancherorts verständige Vereinsexperten in ihren Reihen wussten. Auch kon­ zentrierten sie sich auf die gesundheitliche Aufklärung ihrer Mitglieder mit­ tels Vorträgen und Vereinsbibliotheken und verstanden sich nicht als eine Art Laienpraktikerschule. Sicherlich, die später eingerichteten Fragekästen, Erör­ terungsabende oder im Anschluss an Vorträge veranstalteten Frage/Antwort­ Runden konnten der konkreten Therapieanweisung dienen. Die Beratung und Behandlung von schwer erkrankten Mitgliedern hingegen oblag aber ei­ nem erfahrenen Arzt, dem wegen seiner akademischen Bildung und sozialen Stellung das größere Vertrauen entgegengebracht wurde und der noch dazu das Vereinsprestige steigerte.372 Nicht immer aber waren die Bemühungen erfolgreich, einen Arzt zu ge­ winnen: War, wie im Falle Radevormwalds, die Bahnverbindung ungünstig oder bestanden für Ärzte sonst keine (wirtschaftlichen) Anreize zum Übersie­ deln, so mussten andere Wege gefunden werden, um den Mitgliedern eine medizinische Versorgung bieten zu können. Es bot sich an, gezwungenerma­ ßen doch auf homöopathische Laienpraktiker zurückzugreifen.373 Sofern sie den Ansprüchen der Vereine genügten, stand man der Tätigkeit nichtappro­ bierter gewerblicher Heiler fast ausnahmslos ablehnend gegenüber.374 Ein se­ riöser Laienpraktiker hingegen als eine Art „Notbehelf“ war in jedem Fall besser, als in Krankheits­ bzw. Bedarfsfällen komplett ohne medizinische Be­ treuung zu sein. Ein treffendes Beispiel, wie ein solches Ausweichen auf einen externen Laienpraktiker ablaufen konnte, liefert wiederum der Verein Rade­ vormwald: Er kompensierte die Absage des homöopathischen Arztes Hengs­ 369 370 371 372 373

HM 1 (1876), S. 1 f. Faltin (2000), S. 303. HM 25 (1900), S. 2, 161; vgl. Faltin (2000), S. 302. Faltin (2000), S. 302. Zum Verhältnis zwischen Laienheilkundigen, Laienvereinen und homöopathischen Ärz­ ten siehe: Faltin (1996), S. 300–306. 374 Vgl. Wolff (1989), S. 142; Faltin (2000), S. 300 ff.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

tenbeck mit dem Anwerben des aus dem benachbarten Lennep stammenden „Praktikanten“ Kierdorf. Er sollte bis zum endgültigen Übersiedeln eines Arz­ tes Sprechstunden in Radevormwald halten. Kierdorf versäumte allerdings, dem Publikum bei einem Vortrag über seine Heilerfolge die gewählten Mittel zu nennen, wodurch er bei der Vereinsleitung umgehend in Ungnade fiel.375 Von einer Zusammenarbeit nahm man daraufhin jedenfalls Abstand, ebenso von den Bemühungen um einen homöopathischen Arzt. Erst ab 1902 inse­ rierte die Vereinsleitung wiederholt und erfolglos die vakante Arztstelle in der Leipziger Populären. Im Dezember 1911 meldete sich schließlich erneut ein Laienpraktiker und bot dem Verein sein Dienste an. Mit der Begründung, dass „uns nur ein Arzt helfen kann“376, sah die Vereinsleitung von einer An­ nahme dieses Angebots ohne langes Zögern ab. Auch andere Vereine versuchten wegen des größeren Renommees einen homöopathischen Vereinsarzt zu gewinnen und „griffen erst auf einen Laien­ heiler zurück, wenn dieser Versuch nicht zum Erfolg geführt hatte“377. Dass die Erfahrungen mit Laienheilern aber auch positiv sein konnten, zeigen meh­ rere Beispiele in Württemberg. Dem Homöopathischen Verein Stuttgart­Wan­ gen gehörte mehrere Jahrzehnte Wilhelm Lang an. Er war nicht nur eine füh­ rende Figur der württembergischen Arbeiterbewegung, Mitbegründer des dortigen Gesangs­, Konsum­ und Homöopathievereins, sondern machte sich auch als Laienheiler um die Gesundheit seiner Mitmenschen verdient. Den Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen hielt er zahlreiche Vorträge (haupt­ sächlich über Kinderkrankheiten) und behandelte darüber hinaus die Be­ schwerden seiner Vereinskameraden. Dass Lang damit Erfolg hatten, bezeu­ gen entsprechende Protokollbucheinträge. Der Vereinsschriftführer dokumen­ tierte teils recht ausführlich den glücklichen Verlauf seiner Krankengeschich­ ten; vor allem dann, wenn die von Lang behandelten Erkrankungen zuvor von der Schulmedizin als hoffnungslos bezeichnet wurden.378 Wie erfolgreich und beliebt Lang war, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass man ihn trotz der rechtlichen Schwierigkeiten sprichwörtlich um jeden Preis als vereinseigenen Laiendoktor zu halten versuchte. Die Vereinsleitung rief die Mitglieder daher auf, freiwillig Beträge in die Vereinskasse einzuzahlen, um bei einer etwaigen Verurteilung Langs dessen Prozesskosten tragen zu können.379 Von den Qualitäten versierter Laienpraktiker konnten sich auch die Mit­ glieder des Homöopathischen Vereins Fellbach überzeugen. Ein Mitglied na­ mens Röhm übernahm bald nach der Vereinsgründung 1905 mangels geeig­ neter Fachkräfte die Aufklärung seiner Vereinskameraden. Wie Lang hielt 375 StA Radevormwald Kasten 6  / Akte 1, 14. Januar 1894. Dem Verein käme es „doch hauptsächlich auf gegenseitige Belehrung“ an, weswegen die Mittelangabe von allgemei­ nem Interesse gewesen wäre. 376 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 4. Dezember 1912. 377 Faltin (2000), S. 302. 378 Langs Behandlungserfolge gegenüber der Schulmedizin wurden just in zu dem Zeit­ punkt hervorgehoben, als die Hahnemannia massiv Gelder für den geplanten Bau eines homöopathischen Krankenhauses zu sammeln begann. 379 IGM/Varia 371, 30. Juni 1911.

2.5 Laienpraxis

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Röhm abwechslungsreiche Vorträge, erteilte aber auch direkte Ratschläge und kompensierte damit zumindest ansatzweise das Fehlen eines Vereinsarz­ tes. Offensichtlich war Röhm mit seiner Laienpraxis auch über die Ortsgren­ zen hinaus erfolgreich. 1910 vermerkte der Vereinsschriftführer jedenfalls im Protokoll, dass er wegen Überlastung nur noch Anfragen von Vereinsmitglie­ dern beantworten könne. Nichtmitglieder, die auch weiterhin in den Genuss persönlicher Ratschläge bei verschiedenen Erkrankungen kommen wollen, müssten wohl oder übel dem Verein beitreten.380 Röhm ersetzte also gleich doppelt einen homöopathischen Arzt: Mit seinem Können gewann er nicht nur das Vertrauen der Vereinskameraden und Bürger Fellbachs, sondern warb zugleich für den Verein. Ein letztes Beispiel, das die Bedeutung einer seriösen Laienpraxis unter Beweis stellt, liefert der Homöopathische Verein Rohracker. Der erste Ver­ such, die örtlichen Laienhomöopathen in einem Verein zusammenzuschlie­ ßen, scheiterte nach 15 Jahren, „weil es Ihm an einer Persönlichkeit gefehlt habe, die in dieser Sache Kenntniß gehabt hätte“381. Eine solche Persönlich­ keit musste hingegen der Schlosser Emil Ohnmeiß gewesen sein, der den Verein 1910 wiedergründete. Mit ihm, so der Vereinsschriftführer, sei dem Verein „eine Kraft entstanden, die sich der Homöopathie vollständig gewid­ met habe“382. Ferner seien auch seine Krankenbehandlungen von Erfolg ge­ krönt gewesen.383 Der alte Verein ging also gerade deshalb unter, weil kein geeigneter Vorsitzender an seiner Spitze stand. Zwar wurden schon vor 1910 medizinische oder krankenpflegerische Utensilien sowie Medikamente (auch an Nichtmitglieder) ausgeliehen oder abgegeben, Vorträge über verschiedene Erkrankungen und deren homöopathische Behandlung wurden aber nicht ge­ halten. Ohnmeiß schien der rechte Mann gewesen zu sein, um dem strau­ chelnden Verein sozusagen neues Leben einzuhauchen. Schon vor seinem Amtsantritt als Vereinsvorsitzender vertiefte er seine theoretischen wie prakti­ schen Kenntnisse auf dem Gebiet der Homöopathie und stellte sein Wissen Bedürftigen zur Verfügung. Bei seiner Begrüßungsrede ging er auch auf die im Ort ansässigen Ärzte ein, konnte über ihre Praxis jedoch keine anerken­ nenden Worte verlieren. Es sei deshalb umso erforderlicher, „uns durch Grün­ dung eines H. Vereins Selbsthilfe zu verschaffen.“384 Unterstützt wurden die Laienhomöopathen von dem bei der Wiedergründung anwesenden Vereins­ kollegen aus Stuttgart­Wangen Wilhelm Lang. Er berichtete über seine erfolg­ reich verlaufenen Krankengeschichten, hielt einen Vortrag über verschiedene Erkrankungen und deren Behandlung und warb damit explizit für Selbstme­ dikation und ­behandlung.

380 381 382 383 384

IGM/Varia 68, 23. Juli 1910. IGM/Varia 72, 12. Februar 1910. IGM/Varia 72, 12. Februar 1910. IGM/Varia 72, 12. Februar 1910. IGM/Varia 72, Protokoll 1910.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Diese Beispiele bestätigen im Wesentlichen die Befunde von Eberhard Wolff und Thomas Faltin.385 Den homöopathischen Vereinen war daran gele­ gen, ihren Mitgliedern neben Selbsthilfe auch eine ärztlich­medizinische Ver­ sorgung zu ermöglichen. Blieben die Versuche, einen approbierten Homöo­ pathen zu gewinnen, erfolglos, scheuten sie indessen nicht den Rückgriff auf seriöse und charismatische „Laiendoktoren“. Verstanden diese ihr Handwerk, konnte von ihnen sogar eine ähnliche Breiten­ und Werbewirkung ausgehen wie von homöopathischen Ärzten. Die Laienpraxis sollte aber keinesfalls die Expertise eines homöopathischen Arztes ersetzen, sondern war eine Notlö­ sung in Ermangelung eines Arztes. Mancherorts wurden die Therapieempfeh­ lungen von Laienheilern als „Selbstverständlichkeit“ und als „Gewohnheits­ recht“ empfunden und selbst dann beibehalten, wenn ein homöopathischer Arzt gefunden werden konnte.386 Unternahmen Ärzte Versuche, die Laien­ praxis zu unterbinden, reagierten die Vereine nicht selten mit Widerstand. Zwar betonten sie, dass sie den Ärzten nicht ins Handwerk pfuschen wollen, in der Sache machten die Laienhomöopathen – zumindest in Heidenheim – aber keine Zugeständnisse.387 So etablierte sich allmählich ein Nebeneinan­ der von Laienpraxis und Arztkonsultation, die Wolff zufolge nicht generell als Kritik am ärztlichen Monopol, „sondern höchsten als kompensativer Wunsch nach Mitgestaltung der medizinischen Praxis gewertet werden“388 könne. 2.6 Das Verhältnis zum außerschulmedizinischen Methodenspektrum An einigen Stellen der Arbeit klang an, dass die homöopathische Laienbewe­ gung gegenüber anderen medizinischen Konzepten relativ offen war. Zu Gute kam den Vereins­ und Verbandsfunktionären sowie Autoren der Zeitschriften­ artikel, dass schon Samuel Hahnemann der Naturheilkunde offen gegenüber­ stand: „Er selbst hatte sich positiv über die Wasserheilkunde, die Diät und den Nutzen einer Ordnungstherapie ausgesprochen, so daß wichtige Bau­ steine der naturheilkundlichen Methoden von Anfang an in das homöopathi­ sche System integriert waren“389. Ein weiterer Grund für die Offenheit und Integrationskraft der Homöopathie gegenüber den Naturheilverfahren war, dass sich die Laienhomöopathen derer bedienten, wenn die homöopathi­ schen Arzneimittel nicht anschlugen.390 Wollte man verhindern, dass diese medizinischen Eklektiker gänzlich zur Naturheilkunde abwanderten, musste letztere wenigstens berücksichtigt und in die homöopathische Wissensvermitt­ lung integriert werden. Die homöopathischen Zeitschriften veröffentlichen 385 386 387 388 389

Vgl. Faltin (2000), S. 300–306. Wolff (1987), S. 76; Wolff (1989), S. 150. Wolff (1989), S. 148. Wolff (1989), S. 150. Faltin (2000), S. 348. Zum Stellenwert der Diätetik in Hahnemanns Praxis siehe: Busche (2013). 390 Faltin (2000), S. 348.

2.6 Das Verhältnis zum außerschulmedizinischen Methodenspektrum

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daher in regelmäßigen Abständen Artikel über naturheilkundliche Heilan­ sätze und ­konzepte. Die Homöopathischen Monatsblätter widmeten der Natur­ heilkunde 1877 beispielsweise einen Schwerpunkt und und schilderten in mehreren Abhandlungen deren Eigentümlichkeiten.391 Die von Willmar Schwabe herausgegebene Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöopathie wagte schon früher den Blick über den methodischen Tellerrand: 1870 erschien in der Juli­Ausgabe – in Erwiderung einer der Homöopathie gegenüber „wohl­ wollende[n] und unparteiisch[n]“ Abhandlung des Volkfreundes, dem Organ des Zentralvereins für naturgemäße Heil­ und Lebensweise – ein Artikel über die „Homöopathie und die Naturheilkunde“392. Der homöopathische Arzt Arnold Lorbacher (1818–1899), Herausgeber der Zeitschrift, hob darin die Berücksichtigung und praktische Anwendung der Naturgesetze als verbin­ dende Gemeinsamkeit beider Heilmethoden hervor. Die Homöopathie wolle dies auf direktem Wege erreichen, also durch die gezielte und natürliche Ein­ dämmung der Krankheitsherde. Die Naturheilkunde wiederum beschreite den indirekten Weg, indem sie „durch Beförderung oder Herabsetzung der Hautthätigkeit den Stoffwechsel im Körper zu beschleunigen oder zu verlang­ samen sucht“ und damit entstandene „Stockungen“ beseitigt. Beide Heilme­ thoden könnten gut nebeneinander bestehen und sich sogar ergänzen.393 Die Voraussetzung sei lediglich, dass sie sich davor hüten, sich für die einzig wah­ ren Heilweisen zu halten und stattdessen „das Brauchbare, was Jede bietet, gern anerkennen“394. Die Zeitschrift sei ihrerseits dazu bereit und werde „von Zeit zu Zeit immer einmal Referate darüber bringen“. Obwohl Lorbacher die Gemeinsamkeiten beider Heilmethoden betonte, die Naturheilkunde gar als „natürliche Bundesgenossin“ rühmte, kam er nicht umhin, der Homöopathie gerade wegen ihres Arzneimittelgebrauchs den Vorzug zu geben. Schließlich stünde ihr mit dem Arzneimittelschatz „eine größere Auswahl in den Waffen zur Bekämpfung der Krankheiten zu Gebote“395. Das Beispiel verdeutlicht, dass das Verhältnis zwischen Homöopathie und Naturheilkunde ambivalent war. Wirklich vereint war man nur im gemeinsa­ men Kampf gegen eine übermächtige Schulmedizin und ein bevormunden­ des staatliches Gesundheitssystem; die methodischen Differenzen aber blie­ ben bestehen. Im Falle der Leipziger Populären Zeitschrift nahmen sie sogar noch zu. In der Dezember­Nummer von 1905 publizierte ein gewisser Dr. Bergmann aus Berlin einen polemischen Artikel über „Die Homöopathie als die wahre Naturheilmethode“. Darin versuchte er nachzuweisen, dass die Na­ turheilkunde im Grunde gar nicht „naturgemäß“ sei, weil sie wie die Allopa­ thie letztlich nur die äußeren Erscheinungen der Krankheiten bekämpfe, 391 Allzu sehr ins Detail gehen wollte man aber nicht, sondern „dem Leser die verschiede­ nen Methoden gerade nur soweit beschreiben, um ihn in den Stand zu setzen, deren Werth selbst beurtheilen zu können“ (HM 2 (1877), S. 49). 392 Vgl. LPZ 1 (1870), S. 38 f. 393 Vgl. zur gegenseitigen Ergänzung von Homöopathie und Naturheilkunde: Faltin (2000), S. 349 ff. 394 LPZ 1 (1870), S. 38. 395 LPZ 1 (1870), S. 38.

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nicht aber die Beseitigung oder Milderung der Symptome beachsichtige.396 Für die Verfechter der Naturheilkunde und sicher auch für die zahlreichen gemäßigten Homöopathen musste diese Behauptung ein Affront sein, ver­ prellte sie doch die einstige Bundesgenossin und sprach ihr sogar ihren Heil­ wert ab. Da half es auch nichts, dass Bergmann sich am Ende seines Artikel als „alter Anhänger der Naturheilmethode“ outete und lediglich demonstrie­ ren wollte, dass „gerade die Naturheilmethode alle Veranlassung hätte, die Homöopathie unter ihre Heilfaktoren anzunehmen.“397 Trotz aller Schärfe und Standpunktbezogenheit begegneten die homöopa­ thischen Zeitschriften der Naturheilkunde und anderen alternativmedizini­ schen Heilmethoden im Allgemeinen mit Offenheit und Diskussionsbereit­ schaft. Die Homöopathischen Monatsblätter übertrafen ihr Leipziger Pendant da­ rin sogar.398 Anders lag der Fall hingegen, wenn die Redakteure bzw. Autoren der homöopathischen Zeitschriften Irrationalität und Unwissenschaftlichkeit witterten. Hier musste Einhalt geboten und mit klaren Worten Abgrenzung formuliert werden, wollte man nicht durch Passivität den Anschein der Sym­ pathie erwecken und mit unseriösen Methoden in Verbindung gebracht wer­ den. Verdeutlichen lässt sich dieser Reflex anhand des Umgangs mit der soge­ nannten „Elektrohomöopathie“ des Italieners Cesare Mattei (1809–1896).399 Die Schriftleitung der Homöopathischen Monatsblätter konstatierte zwar, dass hinter der Sache „unzweifelhaft ein guter Kern“400 stecke. Es sei deshalb bes­ ser, zur Aufklärung über die verwendeten Stoffe und Mittel sowie deren Zube­ reitung beizutragen „als die ganze Sache zu ignorieren.“401 Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die „Krankheitslehre Mattei’s und die theoreti­ schen Anschauungen dieses Entdeckers“ schwache Punkte seien und „die Oberflächlichkeit seiner Aussprüche über Hahnemanns Lehre einen bedauer­ lichen Mangel an Sachkenntniß und Urtheilsvermögen“402 zeige. Die Leipziger Populäre Zeitschrift nahm sich ebenfalls der Elektrohomöopathie an, bediente sich aber im Gegensatz zu den württembergischen Monatsblättern einer we­ sentlich kritischeren Sprache. Ein 1895 in der Januar­Nummer abgedruckter Merkzettel wies die Leser darauf hin, dass „jener elektro­homöopathische Heil­Unfug“ mit der Homöopathie nichts zu tun hätte. In fettgedruckten Let­ tern fuhr der Merkzettel dann fort: „Es ist eine entweder aus Unkenntniß der 396 LPZ 36 (1905), S. 191. 397 LPZ 36 (1905), S. 191. 398 Das dürfte vor allem daran gelegen haben, dass die Hahnemannia als unabhängige Herausgeberin der Monatsblätter keine wirtschaftlichen Interessen verfolgte. Willmar Schwabe hingegen wird sich gehütet haben, in seiner Zeitschrift allzu viel Werbung für andere Heilverfahren zu lancieren, deren Produkte er nicht in seinem Sortiment führte. Artikel über die Naturheilkunde hätten geschäftsschädigend wirken können, wäre allzu häufig darüber berichtet worden, dass Sonne, Licht, Luft und Wasser ebenso gut wirken wie relativ teure homöopathische Arzneimittel. 399 Zur Elektrohomöopathie siehe: Wolff (1989), S. 134; Faltin (1996), S. 341–42. 400 HM 5 (1880), S. 39. 401 HM 5 (1880), S. 39. 402 HM 4 (1879), S. 33.

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wissenschaftlichen homöopathischen Heilmethode oder aus böser Absicht hervorgehende Irreführung des Publikums, die Bezeichnung Homöopathie mit dieser Quacksalberei zu verbinden.“403 Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, wie die Laienvereine den Um­ gang mit den nichthomöopathischen Heilmethoden handhabten. Eine erste Aussage lässt die Vortragspraxis der homöopathischen Vereine Reutlingen und Stuttgart­Wangen zu. Beide Vereine griffen um 1900 häufig auf Referate einer Naturheilkundlerin zurück. Berührungsängste mit der „Bundesgenos­ sin“ waren also nicht vorhanden. Ganz im Gegenteil, denn Frida Wörner hielt in mindestens einem Fall im Hotel „Ochsen“ eine auch von Vereinsmitglie­ dern besuchte Sprechstunde ab404; obwohl dazu eigentlich keine Veranlas­ sung bestand. Schließlich verfügten die Laienhomöopathen in Reutlingen mit Dr. Boffenmeyer über einen homöopathischen Kassenarzt. Aus den Protokoll­ einträgen geht nicht hervor, ob der Laienverein diese Sprechstunde initiiert hat. Der konstant hohe Besuch der Wörnerschen Frauenvorträge bzw. das große Interesse an ihrer Person, das ihr die Mitglieder entgegenbrachten, lässt aber darauf schließen. In anderen Vereinen, etwa in Fellbach, war man sich indessen nicht so sicher, was man von Frida Wörner und ihren Vorträgen hal­ ten solle. Schließlich sei sie ein „Mitglied der Naturheilkunde“ und daher fraglich, ob sie dem Verein von Nutzen sein könne.405 Offensichtlich fanden sich die Laienhomöopathen in ihrem Vorurteil bestätigt, denn Wörner hielt tatsächlich nur drei Vorträge (zwei über Frauenkrankheiten, einen über ein allgemeines Thema), die zumindest in einem Fall nachweislich schwach be­ sucht waren. In Kontakt mit der Naturheilkunde kamen die Laienhomöopathen in Reutlingen aber nicht nur durch Frida Wörner. Mindestens einen Vortrag bestritt der Naturarzt Dr. Simoni, der am 7. Dezember 1899 die zahlreich er­ schienen Vereinsmitglieder über „Die Ursachen und die Bekämpfung der all­ gemeinen Nervosität“406 unterrichtete. Simoni mahnte dabei die Rückkehr zur Natur an, ebenso eine langsame Abhärtung durch kalte Waschungen, den Aufenthalt in Sonne und frischer Luft sowie Alkoholverzicht. Eine solche Le­ bensweise ließe eine Altersgrenze von 200 zu; eine Behauptung, die den Schriftführer dazu veranlasste, sein Protokoll (das in der Lokalzeitung abge­ druckt wurde) mit den Worten zu schließen: „Schwerlich werden alle Zuhörer und Zuhörerinnen mit allem, was der Redner ausführte vollständig einver­ standen sein, immerhin aber enthielt der Vortrag sehr viele beherzigenswerte Winke.“407 Die Laienhomöopathen konnten also sehr wohl zwischen Rationa­ lität (mäßig­bedachte, gesundheitsorientierte Lebensweise) und Irrationalität 403 LPZ 26 (1885), S. 14. 404 IGM/Varia 483, 10. Mai 1898. Der Homöopathische Verein Radevormwald griff 1910 in Ermangelung eines Arztes oder ähnlich qualifizierten homöopathischen Laienpraktikers auf einen Felke­Anhänger zurück, um den Vereinsmitgliedern regelmäßige Sprechstun­ den anbieten zu können (StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 27. Februar 1910). 405 IGM/Varia 68, 29. Oktober 1911. 406 IGM/Varia 483, 7. Dezember 1899. 407 IGM/Varia 483, 7. Dezember 1899.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

(extrem hohe Lebenserwartung) differenzieren. Dass Simoni trotz seines be­ gehrten Arztstatus nur ein einziges Mal vom Verein Reutlingen eingeladen wurde, unterstreicht die positive Bewertung der industriegesellschaftlichen Werte Wissenschaftlichkeit, Rationalität und Fortschrittlichkeit: zwar bestand der Bedarf nach fundiertem naturheilkundlichem Wissen bzw. einem seriösen Arztvortrag ohnehin. Allerdings war man nicht bereit, dafür irrationale und verquere Ansichten in Kauf zu nehmen. Diese Beispiele zeigen, dass die Laienvereine anderen Heilmethoden  – allen voran der Naturheilkunde – ebenfalls aufgeschlossen gegenüberstanden, die Homöopathie allerdings auch hier an erster Stelle zu stehen hatte. Waren die Verhältnisse nicht in diesem Sinne geklärt, wurde mit Nachdruck daran erinnert, dass der Verein ein homöopathischer und anderen Heilmethoden kein Forum zu bieten sei. So jedenfalls reagierten drei Mitglieder des Vereins Reutlingen, als 1901 anlässlich einer Ausschusssitzung ein möglicher Vortrag von Otto Wagner, dem Direktor der Bilzschen Naturheilanstalt in Radeburg, besprochen wurde. Mit Sanitätsrat Dr. Bilfinger habe man schon einen Refe­ renten, der mehr der Naturheilkunde als der Homöopathie das Wort rede. Mit Wagner käme nun auch noch ein „ausgesprochener Messmerfreund“408 hinzu. Letztlich konnte Wagner seine Ansichten über „Gicht, Rheumatismus. Ursache nach dem modernen Naturheilverfahren“ doch einem spärlichen Publikum vortragen. Zuvor ist er aber darauf hingewiesen worden, für die Homöopathie zu sprechen – ein Kompromiss, der auch von anderen Verei­ nen eingegangen wurde.409 Der Anweisung kam Wagner auch nach, indem er der homöopathischen Heilmethode ihren Wert zusprach und zugleich für eine Vereinigung der Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde warb.410 Auf die Laienhomöopathen schien die Notwendigkeit eines solchen Schulterschlusses offenbar Eindruck gemacht zu haben: Ein halbes Jahr nach Wagners Vortrag trafen sich die zahlreich erscheinenden Vertreter des Ho­ möopathie­ und Kneipp­Vereins, um zu ergründen, ob eine Vereinigung der beiden Vereine möglich sei. Den Laienhomöopathen missfiel allerdings das selbstbewusste Auftreten der „Kneippianer“, die in der Wahrnehmung des Schriftführers den Anschein machten, der Homöopathie ein Opfer zu brin­ gen.411 Man beschloss daher, von diesem Ansinnen doch besser Abstand zu nehmen und dem Kneipp­Verein eine ablehnende Antwort zukommen zu las­ sen, sollte er noch einmal in dieser Angelegenheit an die Laienhomöopathen herantreten. Die Begegnung der „natürlichen Bundesgenossen“ fand also nicht wirklich auf Augenhöhe statt, die Klüfte konnten trotz ähnlicher Ziele und inhaltlich­methodischer Überschneidungen nicht überwunden werden. 408 IGM/Varia 483, 20. Oktober 1901. 409 Beispielsweise vom Homöopathischen Verein Radevormwald. Die Auswahl an Referen­ ten war infolge des fehlenden Verbandsanschlusses eine recht begrenzte, weswegen die Vereinsleitung gezwungen war, auch auf die Anhänger anderer Heilmethoden zuzuge­ hen. Das Wahl des Themas stand den Referenten zu; wichtig war nur, dass es im Bereich der Homöopathie lag (StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 4. Oktober 1908). 410 IGM/Varia 483, 21. Oktober 1901. 411 IGM/Varia 483, 14. Mai 1902.

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Allerdings verständigten sich beide Vereine darauf, sich künftig gegenseitig zu ihren Veranstaltungen und Vorträgen einzuladen.412 1908 äußerten die Mit­ glieder sogar den Wunsch, gemeinsam mit dem Kneipp­Verein ein Licht­ und Luftbad zu betreiben.413 Der Vorsitzende des Homöopathischen Vereins re­ agierte jedoch mit Skepsis und Zurückhaltung auf dieses Ansinnen.414 Konkrete Bemühungen in Richtung einer Vereinigung oder Zusammenar­ beit von Homöopathie­ und Naturheilkunde­Vereinen sind nur aus Reutlingen bekannt, wenngleich sie letztlich erfolglos blieben. Allenfalls in Nagold wur­ den 1894 Überlegungen angestellt, ob der homöopathische Verein nicht um­ benannt und den Zusatz „Gesundheitspflege“ oder „Naturheilverfahren“ im Namen tragen solle, um auch Anhänger der Naturheilkunde anzusprechen und so dem Mitgliedermangel abzuhelfen. Nach ausführlicher Debatte ent­ schieden sich die Laienhomöopathen aber dafür, sich einzig auf die Homöo­ pathie zu berufen, weil sonst Personen eintreten würden, die nichts mit ihr zu schaffen hätten und den Sinn der Sache verwässern würden.415 Die Verschränkung der homöopathischen und naturheilkundlichen Laienbewegung wurde nicht nur vereinzelt und in Eigeninitiative angestrebt, sondern zur gleichen Zeit auch überregional gefördert. Dafür spricht die ge­ plante Gründung eines „Verbands süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde“ am 2. Mai 1897.416 Auf Betreiben des Homöopathi­ schen Vereins Göppingen traten bereits im Dezember des Vorjahres Vertreter verschiedener Vereine zusammen, um über die Statuten zu beraten. Über die Ziele und Absichten des Verbands informierte ein im April 1897 versandtes Rundschreiben der Laienhomöopathen aus Göppingen, in dem sie ihren süd­ westdeutschen Vereinskameraden zuriefen: „Wer über seinen eigenen Leib und den seiner Angehörigen so weit Herr sein möchte, daß er derjenigen Heilmethode den Vorzug geben kann, die sein oder seiner Familienmitglieder Vertrauen besitzt, wohlgemerkt, ohne daß ihm besondere Opfer auferlegt werden dürfen, wie z. B. Krankengeldentzug, der vereinige sich mit uns.“417 Dem Verband das Vertrauen schenken sollten auch all jene, die den Impf­ zwang abgeschafft oder die Verbreitung beider Heilmethoden unter der Ärz­ teschaft vorangetrieben sehen wollten. Auch derjenige, der „die Bestrebungen der Homöopathie oder Naturheilkunde durch die Kraft der Einigkeit geför­ dert haben möchte und diesen Heilmethoden, die ihnen gebührende Aner­ kennung verschaffen will“ sei im Verband herzlich willkommen. Erst nach der Formulierung der politischen Ziele, wurde den potentiellen Mitgliedern ver­ sprochen, der Verband werde „durch Belehrung und zu Schutz und Trutz für 412 IGM/Varia 483, 14. Mai 1902. 413 In Heidenheim leiteten die Mitglieder des Homöopathischen Vereins einen Luftbadever­ ein: Wolff (1989), S. 136. 414 IGM/Varia 483, 20. August 1908. 415 IGM/Varia 419, 2. Mai 1894. Vgl. auch Faltin (2000), S. 351. 416 Zur Gründung und weiteren Entwicklung des Verbands siehe ausführlich: Faltin (1996), S. 351; HM 22 (1897), Beilagen Nr. 6 und 7. 417 HM 22 (1897), Beilage Nr. 6, S. 1.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

den Einzelnen“ tun und wirken was er kann.418 Den Laienhomöopathen des Vereins Göppingen ging es also nicht primär, sondern sozusagen nur im Ne­ bensatz um eine inhaltliche Zusammenarbeit. Bei der Verbandsgründung stand eher die Vereinigung der beiden Bewegungen im Vordergrund, um in Südwestdeutschland mit geeinten Kräften gegen die Schulmedizin sowie die stets drohende Abschaffung der Kurierfreiheit vorgehen zu können. Zum Ausdruck brachte diese Grundhaltung noch einmal ein knapper Artikel, der der Juli­Ausgabe der Homöopathischen Monatsblätter beilag. Über das überge­ ordnete Verbandsziel stand darin zusammenfassend zu lesen: Ob ein Anhänger der Kneipp’schen Heilmethode oder ein solcher der Homöopathie von den Organen der Regierung belästigt oder bestraft wird, ob der Impfgegner einem ihm verhassten Zwange erliegt oder der Magnetiseur als ‚Schwindler‘ verfolgt wird, das hat mit den einzelnen Zielen der verschiedenen Heilmethoden nichts zu thun, es trifft alle ohne Unterschied gleich empfindlich und darum müssen auch alle ein gleich großes Interesse daran haben, daß eine Macht in unserem Volksleben geschaffen wird, die schnurgerade auf das eine große, schöne Ziel losmarschiert: Freiheit auf dem gesamten Gebiete der Heilkunde.419

Tatsächlich stießen diese Absichtserklärungen vielfach auf Gehör. 34 überwie­ gend homöopathische Laienvereine (darunter auch die Hahnemannia mit 1.650 Mitgliedern) traten dem Verband sofort bei, der württembergische Lan­ desverband für Homöopathie stellte seinen und damit den Beitritt von 15 weiteren Vereinen in Aussicht.420 Die Wahl des Verbandsorgans fiel einmütig auf die Homöopathischen Monatsblätter, deren Übernahme dem Verband ange­ tragen wurde. Aus dieser Entscheidung sollte jedoch bald Unstimmigkeiten entstehen, die nur dadurch gelöst werden konnten, dass der Verband im Januar 1900 schließlich die Zeitschrift Willst du gesund werden? abonnierte. Den Frieden innerhalb des Verbands konnte der Kompromiss hingegen nicht mehr retten. Nach und nach traten die Vereine aus dem Verband aus. Als 1899 auch noch die Hahnemannia aus dem Verband schied, war der Versuch, die homöopathischen und naturheilkundlichen Vereine in Südwestdeutsch­ land zu sammeln, endgültig gescheitert.421

418 419 420 421

HM 22 (1897), Beilage Nr. 6, S. 2. HM 22 (1897), Beilage Nr. 7, S. 2. Vgl. Baschin (2012), S. 216 f. Die Hahnemannia war der mitgliederstärkste und damit einflussreichste Einzelverein, der dem Verband angeschlossen war. Er musste sich allerdings der Verbandsführung in entscheidenden Fragen unterordnen. Nach dem Austritt versuchte die Leitung der Hahnemannia mit allen Mitteln, den Verband zur Auflösung zu bringen und seine Zweigvereine auf seine Seite zu ziehen. Das jedenfalls erklärte Richard Haehl im Som­ mer 1902 den Mitgliedern des Vereins Reutlingen während eines Ausflugs (IGM/Varia 483, 22. Juli 1902).

2.7 Gesundheitspflege

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2.7 Gesundheitspflege Die Nähe der homöopathischen Laienbewegung zur Naturheilkunde hatte zur Folge, dass sich die Inhalte der Gesundheitsbildung nicht gänzlich auf einzelne Krankheitsbilder und deren homöopathische Behandlung konzen­ trierten. Statt einzig Informationen über Homöopathie und homöopathische Selbstmedikation zu propagieren, zielten die Vorträge und anderen Veranstal­ tungen auch auf die Vermittlung von diätetischen und hygienischen Verhal­ tensregeln ab.422 Bereits 1876 publizierte die Schriftleitung der Homöopathischen Monatsblätter einige Artikel zum Thema Gesundheitspflege. Sie beinhalteten allgemeine diätetische Ratschläge, meist in Verbindung mit Erläuterungen zur Naturheilkunde. Über den „chronischen Magenkatarrh“ konnten die Abon­ nenten der Monatsblätter beispielsweise lesen, dass zu den Ursachen dieses Leidens langes Sitzen, geistige Überanstrengung und regelmäßiger Alkohol­ konsum zu zählen sei. Um ein Ausbrechen der Erkrankungen zu vermeiden, solle auf die „gehörige Zerkleinerung der Nahrung“ geachtet, auf scharfe Ge­ würze, Kaffee und Schnäpse nach dem Essen verzichtet und stattdessen aus­ giebig spazieren gegangen oder Zimmerturnen betrieben werden.423 Auffal­ lend ist, dass sich nichtdiätetische Abhandlungen über Gesundheitspflege zu dieser Zeit noch ausnahmslos mit den Wohnverhältnissen bzw. der Atemluft beschäftigten. In der ersten Ausgabe von Juli 1876 gaben die Monatsblätter einen Artikel der Rostocker Zeitung wieder, der sich mit der Frage: „Warum sind feuchte Wohnungen ungesund?“424 beschäftigte. In mehreren Teilen schildert der Artikel ausführlich die Zustände in schlecht belüfteten Wohnungen und welche gesundheitlichen Konsequenzen vor allem bei den „Stadtarmen“ da­ raus entstehen können; allerdings ohne konkrete Verbesserungsvorschläge oder gar sozialhygienische Forderungen daraus abzuleiten. Kurze Zeit später griff die Redaktion in mehreren Artikeln das Problem der ungesunden Wohn­ verhältnisse erneut auf: Die Luft in Wohnungen sei zudem durchsetzt von Staub­ und Stoffteilchen, „die, wenn nicht wieder auf den gewöhnlichen We­ gen (Lunge, Nieren, Mastdarm) ausgeschieden, Veranlassung zu den verschie­ densten Störungen unseres Befinden geben können.“425 Um sich diesen ge­ sundheitsschädigenden Faktoren zu entziehen bzw. sie zu mildern, empfahlen die Monatsblätter den Lesern, sich an der reinen und frischen Luft aufzuhal­ ten. „Wer sie nun nicht immer in der bester Qualität haben kann, wie der Be­ wohner großer Städte, der muß eben das relativ Beste aufsuchen, um seine Athemübungen zu machen.“426 Gleiches gelte vor allem auch im Winter, wenn die Wohnungen per Ofen beheizt und dadurch gesundheitsschädliche Gase freigesetzt werden, die fortwährend eingeatmet eine chronische Vergif­

422 423 424 425 426

Wolff (1987), S. 81. HM 2 (1877), S. 109. HM 1 (1876), Beilage Nr. 33, S. 6. HM 1 (1876), Beilage Nr. 33, S. 6. HM 2 (1877), S. 101.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

tung nach sich zögen.427 Auch 1880 standen die frische Atemluft und vor al­ lem das richtige Atmen im Zentrum der gesundheitspflegerischen Überlegun­ gen. Die Mai­Ausgabe betonte daher zwar den Wert von „Sonne­durchwärm­ ter Luft“ für den gesamten Organismus, kritisierte zugleich aber, dass viele Menschen keine Ahnung davon hätten, „wie vorteilhaft eine methodisch be­ triebene Athemgymnastik auf den Stoffwechsel einwirkt“428. Der Autor klärte die Leser deshalb darüber auf, wie eine solche Atemtechnik erlernt werden kann. Im November 1880 folgte dann ein weiterer längerer Artikel über Ge­ sundheitspflege. Er nahm sich der Frage an, „wie man es bei Nacht halten solle, um sich einerseits genügend mit reiner Luft zu versorgen und anderer­ seits doch vor Erkältungen, der Quelle so vieler Krankheiten, zu schützen.“429 Verwiesen wurde auf den „einfachen Satz des ältesten Gesundheitslehrers Hippokrates“, dem zufolge das beste Schutzmittel gegen Erkältung das Warm­ halten der Extremitäten sei. Man könne also beruhigt die Nächte bei geöffne­ tem Fenster zubringen, solange die Temperatur der Hände und Füße mög­ lichst gleich bleibt. Im übrigen seien morgendliche und abendliche Waschun­ gen und Abreibungen des Körpers zu empfehlen. Ein homöopathischer Arzt griff den Gedanken der ganzheitlichen Vorbeugung von Krankheiten einige Jahre später in einem Artikel der Leipziger Populären Zeitschrift auf. Während es zuvor häufig um die Gefährdung der Gesundheit durch schlechte Luft und falsche Atmung ging, nahm sich der Arzt in allgemeiner Weise der „allmäh­ liche[n] Entartung infolge unzulänglicher und vernunftwidriger Ernährung“430 und den daraus entstehenden Krankheiten an. Am sichersten und nachhal­ tigsten zu erreichen sei die Heilung jener Krankheiten aber nicht durch medi­ zinische oder ärztliche Intervention, sondern durch die gewissenhafte Befol­ gung des kurzen Satzes: „tolle causam (‚entferne die Ursache‘)“431. In den Jahren 1890 und 1900 finden Gesundheitspflege und Vorbeugung von Krankheiten in den Monatsblättern dann keine Erwähnung mehr, ebenso wenig die Themenfelder „Diät“ oder „Homöopathische Diät“. Erst die Blätter von 1910 behandelten die „Homöopathische und physikalisch­diätetische Behandlung von fieberhaften Erkrankungen“432, machten aber weiterhin ei­ nen Bogen um das Thema Gesundheitspflege; zumindest in ihren regulären Monatsausgaben. Die Beiblätter433, die über die Angelegenheiten der Zweig­ vereine berichteten, waren hingegen voll von Artikeln diätetisch­hygienischen Inhalts. Offensichtlich erschien es der Schriftleitung wegen des fehlenden Be­ zugs zur Homöopathie nicht opportun, derartige Abhandlungen in den regu­ lären Monatsausgaben zu platzieren. Ganz ausklammern konnte sie das Thema Gesundheitspflege wegen des regen Interesses jedoch nicht. Die 427 428 429 430 431 432 433

HM 3 (1878), S. 1. HM 5 (1880), S. 57. HM 5 (1880), S. 156. LPZ 17 (1886), S. 1. LPZ 17 (1886), S. 1. HM 35 (1910), S. 22. Die Beiblätter waren gesonderte Beilagen mit kurzweiligen, unterhaltsamen Artikeln und/oder Vereins­ und Verbandsnachrichten, für die in den Hauptheften kein Platz war.

2.7 Gesundheitspflege

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Abonnenten der Beiblätter und damit auch die Vereinsmitglieder hatten dem­ nach die Möglichkeit, sich beispielsweise über den günstigen „Einfluß des Bergklimas auf Gesunde und Kranke“ zu informieren. Auch klärten sie die entsprechenden Artikel darüber auf, „daß man vom Essen und Trinken krank werden kann“434. Solchen Belehrungen folgten dann allerlei diätetische Rat­ schläge, die bei Befolgung die Verfassung von Körper, Geist und Gemüt ver­ bessern sollten. „Mit neuer Gesundheitsfreudigkeit geht es dann wieder hinein in den Kampf ums Dasein!“435 Andere Artikel sensibilisierten die Leser für eine witterungsfeste und ­angepasste Kleidung oder beklagten Faktoren, die einen gesunden, ausreichenden und erholsamen Schlaf verhindern würden. Gepriesen wurde auch die „Nervenstählung durch Körperübungen“436, na­ mentlich durch sportliche Betätigung, sowie das Singen, das vor allem die Lunge entlüfte und noch dazu das Wohlbefinden steigere. Die homöopathischen Laienvereine machten eine gesundheitsadäquate Lebensführung ebenso zum Thema ihrer Vorträge. Entsprechende Ratschläge waren meist in die Besprechung von einzelnen Krankheitsbildern und deren homöopathische oder naturheilkundliche Behandlung eingebaut. Bereits er­ wähnt wurde ein Vortrag der Naturheilkundlerin Frida Wörner, die die Laien­ homöopathen in Reutlingen 1899 über „Magenleiden und Verdauungsbe­ schwerden“ aufklärte. Als Ursachen für derartige Beschwerden nannte sie den Genuss von zu heißen oder schimmligen Speisen, den Missbrauch von Alko­ hol, zu kalte Getränke sowie geistige Überanstrengung.437 Ähnliches ließen auch andere Redner verlauten, beispielsweise der homöopathische Arzt Richard Haehl, als er die Mitglieder des Homöopathischen Vereins Nagold 1902 über „Herzleiden“ aufklärte. Haehl wies ausdrücklich auf die vorbeu­ gende Wirkung einer hygienisch­diätetischen Lebensweise hin und empfahl den Zuhörern eine zweckmäßige Kleidungswahl und mäßige Ernährung, den Aufenthalt an der frischen Luft sowie die Vermeidung von heftigen Gemütsbe­ wegungen.438 Die explizite Thematisierung einer allgemeinen Gesundheits­ lehre kam hingegen selten vor: Wie aus Diagramm 9 hervorgeht, behandelten Vortragsredner in Reutlingen und Stuttgart­Wangen die Gesundheitspflege, Ernährung und Vorbeugung in eigenständigen Vorträgen zwischen 1893 bzw. 1886 nur acht bzw. sechs Mal. Zu einem ähnlichen Befund gelangt auch Eber­ hard Wolff über den Homöopathischen Verein Heidenheim. Dort widmeten sich lediglich zwei öffentliche und fünf interne Vorträge einem rein diäteti­ schen prophylaktischen Thema.439 Wolff kommt deshalb zu dem Schluss, dass der Schwerpunkt gesundheitlicher Bildung im Bereich der homöopathischen 434 435 436 437 438 439

HM 35 (1910), B 39. HM 35 (1910), B 41. HM 35 (1910), B 83. IGM/Varia 483, 7. November 1899. IGM/Varia 419, 12. Januar 1902. Wolff (1989), S. 115. Marion Baschin gewährt ebenso einen Einblick in die Themenviel­ falt der homöopathischen Laienvereine. Ohne dass sie explizit darauf zu sprechen kommt, geht daraus hervor, dass der Fokus der Vorträge und Veranstaltungen auf Selbst­ hilfe und homöopathischer Arzneimitteltherapie lag. Vgl. Baschin (2012), S. 237–245.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Therapie gelegen habe. Die anatomische und diätetische bzw. prophylakti­ sche Aufklärung habe zwar eine „vergleichsweise geringere, aber immer noch quantitativ wie qualitativ bedeutende Stellung“440 eingenommen. Im Kontext der Gesundheitspflege und ­lehre bliebe letztlich noch da­ nach zu fragen, wie sich die homöopathische Laienbewegung zur Lebensre­ formbewegung stellte und ob sie ebenfalls Kritik an gesellschaftlichen Zivilisa­ tionsprozessen übte. Einen ersten Anhaltspunkt liefert wiederum Eberhard Wolff. Am Beispiel des Homöopathischen Vereins Heidenheim konstatierte er das „Fehlen eines zivilisationskritischen Impetus“441; weder tauche in sei­ nen Quellen die Begriffe „Reform“ oder „Lebensreform“ auf noch sei der Verein bereit gewesen, für die Verteidigung der Nacktkultur in dem von ihm betriebenen Heidenheimer Luftbad den Konflikt mit der katholischen Kir­ chengemeinde auszutragen. Wolff macht den fehlenden Protest des Vereins an gesellschaftlichen Konventionen darüber hinaus an der Kleidung seiner Mitglieder fest. Sie sei angepasst und nicht außergewöhnlich oder leger gewe­ sen.442 Obwohl derartige oder vergleichbar konkrete Beispiele in den von mir benutzten Quellen nicht zu finden sind, ist Wolffs Befund zuzustimmen. Zwar herrschte innerhalb der homöopathischen Laienbewegung durchaus ein Be­ wusstsein für sozial bedingte Krankheitsursachen vor. Im Homöopathischen Verein Reutlingen war man beispielsweise der Ansicht, dass die Tuberkulose nur durch eine „Sozial­Reform“ und die „Hebung der pekuniären Lage der Arbeiterschaft“ zu lindern sei.443 Und in einem 1907 ebenfalls in Reutlingen gehaltenen Vortrag resümierte die Naturheilkundlerin Frida Wörner in zivili­ sationskritischer Weise über die Lebenswirklichkeit vieler ihrer Zeitgenossen: Unsere Kultur habe viel dazu beigetragen, daß wir keine rechte innige Herzensfreude mehr kennen: das ewige Hasten und Jagen stumpft die Nerven ab und macht den Men­ schen nur noch zur Arbeitsmaschine, die morgens aufgezogen wird und tagsüber dann in wilder Hast abläuft. Eine weitere Ursache der Nervenzerrüttung ist der zunehmende Materialismus unserer Zeit: wir haben keine Religion, keine Ideale mehr. Anstelle der höchsten geistigen Güter sind weltliche Güter getreten, die Ich­Menschen, die keinen Gemeinsinn mehr haben, und durchsetzt sind von dem Geist des modernen Strebens nach Geld und Ehre. Die Arbeit schädigt uns zwar nicht; was uns aber schädigt, das sind die andauernden Störungen unseres Gleichgewichts, die furchtbaren Gemütsbewegun­ gen, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind und die unsere Nerven zugrunde richten.444

In beiden Fällen führte dieses Bewusstsein bzw. diese Sichtweise aber nicht zur Formulierung sozial­ oder gesellschaftspolitischer Reformbestrebungen. Anders als die Lebensreformer leiteten die Laienhomöopathen daraus kein Programm ab, das zur Beseitigung der vermeintlichen zivilisatorischen Fehl­ entwicklungen geeignet gewesen wäre. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die bereits im Forschungsstand geäußerten Feststellung, der zufolge die homöopathische Laienbewegung weder die weltanschauliche Indoktrinierung 440 441 442 443 444

Wolff (1989), S. 116. Wolff (1989), S. 136. Vgl. Wolff (1989), S. 137. IGM/Varia 483, 3. Juni 1899. IGM/Varia 483, 20. März 1907.

2.8 Einflussnahme auf die Politik und das politische Wahlverhalten

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ihrer Anhänger noch die prinzipielle Veränderung des Gesundheitssystems verfolgte. Insofern verwundert es nicht, dass auch in meinen Quellen die Be­ griffe „Reform“ oder „Lebensreform“ nicht explizit genannt werden. Der Wille zu politischer Mitgestaltung und auch Selbstreform endete spätestens dort, wo die Grenzen der Eigeninteressen überschritten bzw. der Boden der Homöopathie verlassen wurde. Man beschränkte sich (wenn überhaupt) auf das Konstatieren von Problemen, verfolgte aber nicht deren Lösung. Wolff stellt in seiner Studie über den Homöopathischen Verein Heidenheim fest, dass die Behandlung von sozialpolitischen Problemstellungen erst für die Wei­ marer Republik nachzuweisen sei; und auch nur deshalb, weil in dieser Zeit „solche Themen ohnehin mehr in die öffentliche Diskussion gerieten, insbe­ sondere während der Krise der frühen 30er Jahre.“445 2.8 Einflussnahme auf die Politik und das politische Wahlverhalten der Vereinsmitglieder Eine Möglichkeit zur politischen Mitbestimmung waren Petitionen, die vom Verband oder der Vereinsleitung aufgesetzt, von den Mitgliedern unterschrie­ ben und schließlich an die entsprechenden Behörden gerichtet wurden. Um einiges aufwändiger gestaltete sich eine weitere Form der Partizipation an (ge­ sundheits)politischen Prozessen: die direkte Befragung der für die Reichs­ oder Landtagswahlen kandidierenden Politiker. Mit den Wahlen verband sich die Hoffnung, dass Anhänger der Homöopathie in das jeweilige Parlament einziehen und sich dort bei entsprechender Gelegenheit für die Heilmethode verwenden. Die Laienhomöopathen wollten aber nicht auf den Zufall ver­ trauen, sondern selbst aktiv werden und geeigneten Politikern einen Stimmen­ vorteil verschaffen. Zu diesem Zweck forderte die Vereinsführung die in ih­ rem Landkreis zur Wahl stehenden Kandidaten brieflich zu einer Stellung­ nahme bzw. der Beantwortung der Frage auf, wie sie zur Homöopathie ste­ hen. In Kenntnis gebracht werden sollte in manchen Fällen auch, ob sich die Befragten für den Bau eines homöopathischen Krankenhauses oder die Ein­ richtung eines entsprechenden Lehrstuhls an der Landesuniversität einsetzen würden. Fiel die Antwort des Kandidaten im Sinne der Fragenden aus, emp­ fahl der Vereinsvorsitzende seinen Mitgliedern, sie mögen am Wahltag dem Betreffenden ihre Stimmen geben. Um ein anschauliches Beispiel zu geben, soll ein entsprechender Vorfall aus Reutlingen geschildert werden. Am 16. Juni 1898 fand die Wahl des zehnten Deutschen Reichstags statt. Der Verband süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheilkunde, der sich insbesondere für eine Abschaffung des Impfzwangs einsetzte, ließ seinen Zweigvereinen deshalb Ende Mai ein Zirkular zugehen. Darin wurden die Mitglieder aufgerufen, nur diejenigen Kandidaten zu wählen, die gegen den Impfzwang opponieren und im Reichstag für die Abschaffung stim­ 445 Wolff (1989), S. 185.

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2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

men.446 Der Schriftführer des Homöopathischen Vereins Reutlingen folgte diesem Aufruf und verfasste ein Schreiben an die zur Auswahl stehenden Kandidaten Kammerpräsident Friedrich von Payer, Landgerichtsrat Dr. Rupp und Expedient Herrmann. Zwar stellten sich alle drei Befragten dem Ansin­ nen der Laienhomöopathen, doch nur Herrmann sprach sich dezidiert gegen das staatlich erzwungene Impfen aus. Payer und Rupp hingegen ließen den Verein wissen, dass sie der Statistik vertrauen (Payer) bzw. das entsprechende Gesetz nicht ablehnen könnten, wohl aber für eine Verbesserung eintreten würden (Rupp).447 Unsicher ist allerdings, ob Herrmanns Antwort seiner Überzeugung entspricht oder er sie aus purem Opportunismus gab, weil er sich seiner Außenseiterrolle bewusst war und um jede Stimme kämpfen musste. Die Vereinsleitung jedenfalls vertraute seiner Aussage und schaltete umgehend im Reutlinger General­Anzeiger ein Inserat, das sowohl die Laienho­ möopathen als auch alle Interessierten über den Ausgang der Umfrage unter­ richtete und sie zugleich dazu aufrief, ihre Stimme Herrmann zu geben. Das Befragen von Wahlkandidaten schien sich auch andernorts zu bewähren. In Heidenheim beispielsweise suchten die Laienhomöopathen 1887 und 1893 den persönlichen Kontakt mit den Abgeordneten, was ihnen aufgrund der Entfernung jedoch einige Mühen bescherte. Offensichtlich lohnte sich das Unterfangen aber, denn noch 1908 waren die Vereinsfunktionäre der Über­ zeugung, dass „als das beste Mittel für einen Erfolg die Rücksprache mit den Abgeordneten angesehen“ werde, „die ja in den meisten Fällen über das We­ sen der Homöopathie gar nicht unterrichtet“ seien.448 Einen anderen, vermeintlich sicheren Weg der politischen Partizipation schlug der homöopathische Landesverband Baden anlässlich der Landtags­ wahlen von 1905 ein. Er überging die Lokalvereine und sandte selbst ein entsprechendes Rundschreiben an die Bewerber. Der Clou dieses Schreibens war eine beigefügte „Verpflichtungs­Erklärung“, die von den Betreffenden un­ terschrieben werden musste, sollten sie gewillt sein, im Landtag für die Errich­ tung von Lehrstühlen für Homöopathie einzutreten. Dr. Gustav Binz (keine Lebensdaten), der für Karlsruhe­Mittelstadt kandidierte, antwortete daraufhin dem Landesverband, dass er „Fragen, Anträge, welche die Interessen der Ho­ möopathie betreffen, gewissenhaft und ohne Voreingenommenheit prüfen“ und nach Überzeugung seine Stimme abgeben werde. Der gewünschten Er­ richtung eines Lehrstuhls werde er nachkommen, wenn er nach umfangrei­ cher Prüfung zu dem Schluss komme, dass sie der Volkswohlfahrt dienlich sei. Er sei allerdings außerstande, sich mittels einer Erklärung förmlich zu ver­ pflichten, denn der Paragraph 48 der badischen Verfassung verbiete „soge­

446 Auch die Hahnemannia drang in diesem Sinne auf ihre Zweigvereine ein, beispielsweise 1900 anlässlich der bevorstehenden Landtagswahl in Baden. Ihr Hauptanliegen war je­ doch nicht der Kampf gegen Impfzwang, sondern dass „dem Aschenbrödel Homöopa­ thie der Eintritt in die Hallen der Universität gewährt werde“ (HM 25 (1900), S. 162). 447 IGM/Varia 483, 10. Juni 1898. 448 Zitiert nach: Wolff (1989), S. 190.

2.9 Zwischenfazit

141

nannte imperative Mandate“449. Der Landesverband versuchte es in diesem Fall also mit Dreistigkeit; vielleicht sogar wohlwissend, dass die Kandidaten seinem Ansinnen nicht entsprechen können. Die homöopathischen Laienverbände und ­vereine blieben ihrer apoliti­ schen Grundhaltung insofern treu, als sie keinen Unterschied machten, wel­ cher politischen Richtung der empfohlene Kandidat angehörte. Im Vorder­ grund stand nicht das sozial­, sondern einzig das gesundheitspolitische Pro­ gramm, für das er einstand. Dass die Vereine aber überhaupt mit den Abge­ ordneten in Kontakt traten, sich deren Haltungen vergewisserten und ihre Mitglieder aufforderten, ihre „Einzel­ und Gruppeninteressen massiv und möglichst direkt auf der wesentlichen, nämlich der politischen Entscheidungs­ ebene einzubringen“, ist für Eberhard Wolff „ein Beleg für ein gewisses politi­ sches Bewußtsein.“450 Es ist allerdings fraglich und mit dem verfügbaren Quellenmaterial nicht zu klären, inwieweit die Vereinsmitglieder dieser Emp­ fehlung nachkamen. Schließlich konnte es gut sein, dass dieses Programm zwar auf ihre Zustimmung stieß, der Kandidat aber nur in diesem einen Punkt ihre politischen Überzeugungen repräsentierte. Ob sie in einem solchen Fall von ihren Einzelinteressen abwichen, dürfte vom Grad der Identifikation mit dem Verein bzw. der Homöopathie abhängig gewesen sein: Waren es ideelle Motive, die ein Mitglied zum Beitritt bewogen haben, ist eine Ausübung der eigenen Wahlfreiheit zu Gunsten der gemeinsamen Sache denk­ und vertret­ bar. Waren es hingegen eher die materiellen Vorzüge, derentwegen man sich dem Verein und der Bewegung primär anschloss, so ist das Abweichen von der eigenen politischen Linie weniger wahrscheinlich. 2.9 Zwischenfazit Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wuchs die homöopathische Laienbewe­ gung rasch und war nun ein mitgliederstarker medizinkritischer Verband. Sie war vorwiegend in Kleinstädten unter 5.000 Einwohnern in Baden, im Rhein­ land und vor allem in Württemberg und Sachsen aktiv. Im Juli 1914 gehörten ihr 31.260451 Laienhomöopathen in über 280 Vereinen an, von denen die meisten männlich, mittleren Alters und Angehörige des Proletariats bzw. Kleinbürgertums waren. Frauen nahmen als „Garantin[nen] fast aller Hygiene“452, zu denen sie nicht nur von den Vereinsleitungen stilisiert wur­ den, zahlreich an den einzelnen Vorträgen teil. Als selbständige und eigenini­ tiativ handelnde Akteure traten sie innerhalb der Vereine hingegen (noch) kaum in Erscheinung; die Laienbewegung war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Männerdomäne.

449 450 451 452

LPZ 36 (1905), S. 180. Wolff (1989), S. 192. LPZ 45 (1914), Beilage Nr. 9, S. 97–98. Meyer­Renschhausen (1989), S. 164.

142

2. Die homöopathische Laienvereinsbewegung in Deutschland (1870–1914)

Die Motive, die die Mitglieder zu einem Vereinsbeitritt bewogen, können durchaus ideeller Natur gewesen sein. Vehemente Gegner der Schulmedizin fanden in den Vereinen ebenso eine geistige Heimat wie überzeugte Laienho­ möopathen, denen besonders an der Förderung und Verbreitung der Homöo­ pathie gelegen war. In nicht wenigen Fällen waren es jedoch ganz pragmati­ sche Gründe und Überlegungen, wegen derer an Gesundheit (und in gewisser Weise auch Krankheit) Interessierte in einen solchen Verein eintraten. Den Pragmatikern ging es in erster Linie um Zugang zu ärztlichen Dienstleistun­ gen, verbilligten Arzneimitteln, medizinischem Wissen und weiteren Vorzü­ gen, die eine mit rund zwei bis drei Mark pro Jahr erschwingliche Mitglied­ schaft mit sich brachte. Wie die Klassifikation der homöopathischen Laienbewegung zeigte, wa­ ren sich auch die Vereine dessen bewusst. Sie offerierten den Mitgliedern ein breites Spektrum an Angeboten, das weit über bloße Belehrungen zu „Wesen und Nutzen der Homöopathie“453 hinausreichte. Neben modell­ und bildge­ stützten Vorträgen über verschiedene Krankheiten und deren homöopathi­ sche Behandlung richteten sie vielerorts Vereinsapotheken, ­bibliotheken und sogenannte Fragekästen ein, veranstalteten Sanitätskurse, botanische Exkur­ sionen und Feierlichkeiten und entliehen sogar (medizinische) Hilfsmittel wie Badewannen oder Klistiere. Auch bemühten sich viele Vereine um die Anstel­ lung eines approbierten Arztes, der – sofern überhaupt einer gefunden wer­ den konnte – die Vereinsmitglieder oftmals zu vergünstigten Preisen behan­ delte. Die von den Laienhomöopathen praktizierte medikale Kultur war dem­ nach äußerst vielfältig und beinhaltete – entgegen früherer medizin­ und kul­ turgeschichtlicher Deutungen454  – sowohl die laienhaften Selbstmedikation als auch die Inanspruchnahme professioneller medizinischer Dienstleistun­ gen. Aus der typologischen Übersicht geht darüber hinaus hervor, dass der Schwerpunkt der Vereinsarbeit vor 1914 klar auf der Therapie lag. Im Mittel­ punkt der Vereinsarbeit stand die Linderung von Krankheiten und Befindlich­ keitsstörungen. Die Mitglieder und anderen Zuhörer sollten zur (homöopathi­ schen und naturheilkundlichen) Selbsthilfe und ­medikation angeleitet und befähigt, ihnen also ein „kuratives Selbst“ vermittelt werden. Inwieweit dies gelang, muss allerdings (noch immer455) offenbleiben, denn das Quellenkor­ pus liefert nur sehr begrenzt Hinweise auf das tatsächliche Gesundheitsverhal­ ten der Laienhomöopathen. Das rege Interesse an den Vortragsveranstaltun­ gen und sonstigen Vereinsangeboten spricht jedoch dafür, dass die Mitglieder durchaus darauf bedacht waren, sich im Krankheitsfall selbst helfen zu kön­ nen und dies auch taten. Die Mitglieder homöopathischer Vereine waren demnach, um mit Eberhard Wolff zu sprechen, alles andere als „Opfer der Medizin“456, die der fortschreitenden Medikalisierung ihrer Lebenswelt wehr­ 453 454 455 456

DHMD/L 1998/60. Vgl. Wolff (2010), S. 177; Wolff (2006). Vgl. S. 31 f.; Wolff (1989), S. 17. Wolff (2008), S. 32.

2.9 Zwischenfazit

143

los ausgeliefert waren. Ebenso wenig trifft allerdings das Modell des Vereins­ mitglieds als „sympathischem Rebell“ zu, „der sich dem System nicht unter­ ordnet, stattdessen selbstbewusst mit den Behörden verhandelt.“457 Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sich die Laienhomöopathen sehr wohl an hygie­ nischen Normen und naturwissenschaftlichen Prämissen und Wissensbestän­ den orientierten. Auch wollten sie das bestehende Gesundheitssystem nicht revolutionieren, sondern in ihrem Sinne reformieren. Wo sie auf unüberwind­ baren Widerstand stießen, akzeptierten sie ihn schließlich und bemühten sich um legale Alternativen, wie etwa bei den Vereinsapotheken. Von einer Transformation des kurativen zu einem präventiven Selbst – ei­ ner der zentralen Fragestellungen der Arbeit – kann innerhalb der homöopa­ thischen Laienbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts indessen noch keine Rede sein. Die Belehrungen handelten zumeist davon, Krankheiten einzu­ dämmen; die Zahl der Vorträge, die sich explizit der Gesundheitspflege an­ nahmen, war  – wie an den Vereinen Reutlingen und Stuttgart­Wangen bei­ spielhaft gezeigt wurde – verschwindend gering. Nicht einmal die Exkursio­ nen in die heimische Fauna dienten der Regeneration der im Arbeitsalltag stark beanspruchten Abwehrkräfte, sondern vorrangig der Aufklärung über die Heilwirkung bestimmter Pflanzen. Allenfalls externe Redner, die der Na­ turheilkunde nahestanden, betonten in ihren Referaten die Bedeutung einer vorbeugenden Lebensweise. Von den Vereinsleitungen selbst wurde der As­ pekt der Vorbeugung hingegen vernachlässigt, obwohl ihnen der Grundsatz „tolle causam (‚entferne die Ursache‘)“458 durch die inhaltliche und personelle Nähe zur Naturheilkunde und aus entsprechenden Artikel in den homöopa­ thischen Zeitschriften nicht völlig unbekannt war. Jene Artikel, die sich dezi­ diert der Krankheitsprävention widmeten, waren insgesamt gesehen aber ebenso spärlich wie gesundheitsbezogene Vorträge in den Lokalvereinen. Diätetik bzw. homöopathische Diät spielte zudem nur als „Lehre von der rich­ tigen Ernährung“459 während der Therapie und Rekonvaleszenz eine Rolle, nicht aber als zentraler Teil einer gesunden naturgemäßen Lebensführung, wie sie beispielsweise die Naturheilkundler oder Lebensreformer propagier­ ten. Die Laienhomöopathen konzentrierten sich vor 1914 ganz auf die Bewäl­ tigung von grippalen, Infektions­, Frauen­ und Kinderkrankheiten und Funk­ tionsstörungen der Organe und überließen die Ursachenforschung sowie sich daraus ergebende Verhaltensratschläge nahezu gänzlich den anderen medizi­ nischen Reformbewegungen.

457 Wolff (2008), S. 32. 458 LPZ 17 (1886), S. 1. 459 Leitzmann (1988), S. 44.

3. Mit „recht patriotische[r] Gesinnung“1 – Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs dürfte die Mehrheit der Mitglieder ho­ möopathischer Vereine ebenso überrascht haben wie den Rest der Bevölke­ rung. Nichts deutete zu Beginn des Jahres, als das Vereinsprogramm bespro­ chen oder in Württemberg mancherorts der Besuch der im August stattfin­ denden Stuttgarter Gesundheitsausstellung Hygieia geplant wurde2, darauf hin, dass im Spätsommer das Vereinsleben in seiner bisher bekannten Form ein jähes Ende nehmen sollte. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Laien­ vereine bereits nach wenigen Wochen an die neue Situation angepasst und sozusagen auf Kriegsbetrieb umgestellt hatten. Zu Gute kam ihnen dabei, dass sie auf eine mitunter jahrzehntelange und somit bewährte Vereinsorgani­ sation sowie auf eine stabile Infrastruktur zurückgreifen konnten. Die Mecha­ nismen, die nach Ausbruch des Kriegs in Gang gesetzt werden mussten, gli­ chen denen der Friedenszeit; es galt lediglich, sie mit neuen Inhalten zu füllen oder den Erfordernissen der Zeit gemäß zu nutzen. Die meisten Vereinsleitun­ gen waren erfahren genug, um zu wissen, wie sie ihre Stärken zum Vorteil ihrer Mitglieder nutzen konnten. Sie verfügten in aller Regel über eine um­ fangreiche Bibliothek, deren Anschaffung sich nun mehr denn je bezahlt machte. Und dort, wo es noch immer keine Ortsapotheken gab, die homöo­ pathische Arzneimittel in ihrem Sortiment führten, waren längst andere Be­ zugswege bekannt, um den Mitgliedern im Bedarfsfall eine entsprechende Selbstmedikation zu ermöglichen. Im Folgenden soll nun ergründet werden, wie der Erste Weltkrieg konkret die homöopathische Laienbewegung beeinflusste, wie die Laienhomöopathen sich gegen die Widrigkeiten wappneten und wie sich der Verlauf des Kriegs auf das Vereinsleben auswirkte. Einen ersten Zugang bieten die leicht zugänglichen Periodika, die Homöopathischen Monatsblätter und der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöo­ pathie des Jahrgangs 1915. Philipp Eisele bemerkt in seinem Aufsatz über die Handlungsspielräume homöopathischer Militärärzte in den Front­, Etappen­ und Heimatlazaretten treffend, dass die homöopathische Zeitschriftenliteratur maßgeblich dazu beigetragen habe, vor allem 1914 bis 1918, mithilfe einer facettenreichen Berichterstattung den Krieg als Vorstellungsraum kollektiv „erfahrbar“ zu machen.3 Dem ist zweifelsohne zuzustimmen, auch wenn nicht vergessen werden darf, dass letztlich auch die homöopathischen Periodika der Zensur unterlagen und kritische Anmerkungen nicht in den Druck gelang­

1 2 3

StA Radevormwald, Kasten 6 / Akte 1, 18. Oktober 1914. Der Verein Stuttgart­Wangen bot seinen Mitgliedern schon im April den Bezug vergüns­ tigter Eintrittskarten an (IGM/Varia 372, 26. April 1914). Eisele (2010), S. 194.

3.1 Verwundetenversorgung

145

ten.4 Erfahrbar bedeutet demnach nicht, dass den Abonnenten und Lesern ein realistisches Bild des Krieges gemalt worden wäre. Unterrichtet wurden sie in zahlreichen Artikeln aber über nahezu alle vom Krieg durchdrungenen Lebensbereiche, sowohl der Soldaten als auch der in der Heimat Zurückge­ bliebenen. So waren in den Zeitschriften Artikel zu lesen: über die medizi­ nische Erstversorgung und Weiterbehandlung der verwundeten Soldaten, über die Organisation des militärischen und zivilen Sanitätswesen, über kriegstypische innere bzw. infektiöse Erkrankungen wie Typhus oder Tuber­ kulose, über die Ernährung und das entsprechende Verhalten der Bevölke­ rung im Krieg. Daneben brachten die Schriftleitungen beider Zeitschriften wie gewohnt Artikel über verschiedenste Krankheitsbilder und deren homöo­ pathische Behandlung. Der Krieg war also in vielen seiner Schattierungen und ferneren Dimensionen erahn­ und zugleich begreifbar, welche Umstel­ lungen er mit sich bringen und erfordern würde. Anhand der beiden The­ menkomplexe Verwundetenversorgung und Ernährung zeigt sich konkret, wie die Laienhomöopathen auf die neue Situation vorbereitet wurden. 3.1 Verwundetenversorgung Dass die Redaktionen beider Zeitschriften teils ausführlich über die Versor­ gung verwundeter Soldaten und deren glückliche Genesung berichteten, wird dem Wissen geschuldet gewesen sein, dass sich nicht nur die Daheimgebliebe­ nen bzw. Zivilisten, sondern auch etliche Soldaten und eingezogene appro­ bierte Homöopathen unter den Lesern befanden. Oft schickten die Angehöri­ gen ihren Verwandten beim Militär die Monatshefte per Feldpost (der Verein Rohracker versandte im Laufe des Krieges insgesamt 7.773 Exemplare an seine ausmarschierten Mitglieder5), damit dieselben trotz ihrer Abwesenheit von den Zeitschriftenartikeln profitieren konnten. Bereits 1914 begann der ehemalige Schriftleiter der Homöopathischen Monatsblätter Richard Haehl eine Artikelreihe über „Homöopathische Heil­ mittel bei Verwundeten“, der 1915 noch zwei weitere Abhandlungen folgen sollten. In ihnen nahm sich Haehl der homöopathischen Behandlung des ge­ fürchteten Wundfiebers und im zweiten Teil der inneren wie offenen Kno­ chenverletzungen an. Insgesamt nennt er 32 Arzneimittel, unter denen sich 4

5

Eisele (2010), S. 195. Eisele zitiert einen Kommentar aus der Homöopathischen Rundschau von 1918, in dem sich der Autor kritisch zur Zensur äußert: „Diese Zensur war so klein­ lich, so kränkend und verbitternd, daß man kaum die richtigen Worte für ein solches Verhalten von Behörden, die während des Krieges gegen die eigenen Landsleute wüte­ ten, finden kann. […] Von der Wiedergabe zahlreicher Artikel mußten wir […] Abstand nehmen, weil wir die Gewißheit hatten, daß die Genehmigung zur Veröffentlichung nicht erteil werden würde.“ Offen bleibt, welchen Inhalts die in Rede stehenden Artikel waren. Denkbar ist, dass der Autor  – wohlgemerkt 1918 und angesichts der prekären Zustände sowohl an der Front als auch in der Heimat – den Sinn des Krieges bezweifelte und den baldigen Frieden herbeisehnte. IGM/Varia 68, S. 23. Februar 1919.

146 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) die zwölf Hauptmittel befanden, die ebenfalls im Feld zur Verfügung stehen konnten – etwa als Bestandteil der Kriegstaschenapotheken. Es ist offensicht­ lich, dass sich Haehl dem Inhalt nach eher an seine Standesgenossen im Mili­ tärdienst wandte, die sich ebenfalls unter der Leserschaft befanden; denn es ist zu bezweifeln, dass sich ein an Wundfieber erkrankter oder durch Granat­ splitter bzw. Gewehrschuss verwundeter Soldat selbst zu behandeln imstande war. In erster Linie an Militärärzte und Sanitäter richteten sich auch die aus­ führlichen Ausführungen über den Bolleschen Wundverband, der bereits im Deutsch­Französischen Krieg von den Homöopathen angepriesen6 wurde und dessen Wirksamkeit man nun erneut in Erinnerung rufen wollte. Indirekt an die Laienhomöopathen adressiert waren hingegen folgende und ähnliche, recht euphemistische, Zeilen: Heute wissen wir, daß in allen diesen Fällen [Knochenverletzungen, D. W.] eine von au­ ßen kommende Infektion der Wunde den tödlichen Verlauf verschuldet hat und daß die Mehrzahl aller offenen Knochenbrüche, selbst bei ausgedehnten Weichteil­ und Kno­ chenverletzungen, wieder hergestellt werden kann, wenn von Anfang an Arzt und Pflege­ personal allem [sic] aufbieten, um eine Infektion zu verhüten oder, falls eine solche statt­ gefunden hat, sie energisch zu bekämpfen. Heute muß es sich schon um ganz außerge­ wöhnlich schwere Verletzungen, mit völliger Durchtrennung aller wichtigen Blutgefäße handeln, bis der moderne Chirurg sich zur sofortigen Amputation eines Körpergliedes entschließt.7

Darüber, dass alles getan wird, um den Verwundeten eine rasche Versorgung zuteil werden zu lassen, berichtet in der Februar­Ausgabe der Leipziger Populären ein gewisser Dr. Georg Stehli. In einem mehrseitigen detaillierten und mit einer schematischen Abbildung versehenen Propagandaartikel klärt er seine Leser über die „Krankenpflege im Kriege“8 auf und zeichnet die Sta­ tionen nach, die der Verletzte ab dem Zeitpunkt seiner Verwundungen an der Front bis zur Ankunft in einem Heimatlazarett durchlief. Zuerst stünden die Kameraden zur Stelle, um einen ersten Druckverband anzulegen. Während die kämpfenden Truppen weiter vorrücken, würde das Sanitätspersonal die Rückführung der Verletzten zum besser ausgestatteten Hauptverbandplatz be­ sorgen. Von dort ginge es dann zu Fuß oder mit motorisierten oder bespann­ ten Krankenwagen weiter zurück in die Etappen­ und schließlich Reservelaza­ rette, wo die verwundeten Krieger von „zarten Frauenhänden gebettet und gepflegt und von dankbaren Mitbürgern mit allerlei Liebesgaben reichlich bedacht […] ihrer baldigen Heilung entgegen [gehen], um aufs neue hinauszu­ eilen zu den im Kampfe zurückgebliebenen Kameraden, mit denen sie so oft Freud und Leid des rauhen [sic] Kriegerlebens in treuer Kameradschaft geteilt haben.“9 Den Eindruck, dass die Genesenen die Rückkehr ins Feld gar nicht erwarten konnten, vermittelt der Bericht des Sozialhygienikers und Ober­ stabsarztes der Landwehr Rudolf Lennhoff (1865–1933): 6 7 8 9

Vgl. Eisele (2013), S. 199 ff. HM 40 (1915), S. 26. LPZ 46 (1915), S. 41–44. LPZ 46 (1915), S. 44.

3.1 Verwundetenversorgung

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Möglichst schnell wieder an den Feind heran, das ist das Streben der meisten. Niemals sahen wir im Lazarett freudigere Gesichter, als wenn der die Station leitende Arzt bei dem regelmäßigen Rundgang dem Assistenzarzte diktierte: ‚Morgen zur Truppe zu ent­ lassen‘. Manchem ist diese Freude überraschend schnell beschieden, wenn auch die Zahl und die Durchblutung der Verbände bei der Einlieferung den Fall als sehr schwer er­ scheinen ließ.10

Es folgt eine Aufzählung von verschiedensten Schussverletzungen (darunter eine Kugel, die unterhalb des Genicks den Nacken durchschlug), die trotz ihrer vermeintlichen Schwere allesamt glimpflich ausgingen. Kuriert werden konnten in besagtem Feldlazarett zudem eine im Kampf zugezogene Blind­ darmentzündung sowie die Verwundungen gefangen genommener belgischer Soldaten. Lennhoff räumt zwar ein, nicht jede Verletzung sei so glücklich ab­ gelaufen, er und seine Kollegen hätten aber bis zur Übergabe des Feld­ an das Kriegslazarett keinen Todesfall zu beklagen gehabt. Zum Schluss des Artikels folgt ein Hoch auf die Tapferkeit und Einigkeit der deutschen Soldaten: „Ei­ nen Unterschied der Stände oder der Auffassung der Pflichten gibt es nicht. Man ist Soldat und folgt dem Befehl. Wie immer dieser auch lautet. Doch der deutsche Soldat folgt nicht nur dem Befehl, er vollbringt ihn.“11 Ganz im Gegensatz zu Richard Haehls praktischen Überlegungen bezüg­ lich der Behandlung von verletzten Soldaten beschränkt sich Lennhoff aus­ schließlich auf deren Heroisierung und die Stilisierung von Verwundungen zu einem notwendigen Charakteristikum des Kriegers, das durchlitten werden muss. Von Naturheilkunde oder gar Homöopathie ist bei ihm nicht die Rede, stattdessen rühmt er die angesichts der äußeren Umstände erstaunlichen Er­ folge der Kriegschirurgie. Auch stellt sich die Frage, was etwa die unverhoh­ len nationalistischen Auslassungen12 des Generaloberarztes und Hygienikers Ernst von Scheurlen (1863–1952) “Ueber hygienische Zustände in Frank­ reich“13, in denen er die Rückständigkeit der Belgier und Franzosen anpran­ gerte, mit Homöopathie oder der homöopathischen Laienbewegung zu hat­ ten. Absolut gar nichts, wie zweifelsohne festzustellen ist. Dieser Befund ver­ wundert indessen umso weniger, wenn man hinzufügt, dass solche Artikel gar nicht für die homöopathischen Zeitschriften geschrieben, sondern aus ande­ ren übernommen worden sind. Lennhoffs idealisierte Erfahrungen beispiels­ weise stammten aus der Medizinischen Reform (23/1914) und von Scheurlens 10 LPZ 46 (1915), S. 71. 11 LPZ 46 (1915), S. 71. 12 Ein anderer in der Leipziger Populären Zeitschrift erschienener Kurzartikel über den „Alko­ hol bei unseren Feinden“ gibt einen Auszug aus dem Schwäbischen Merkur wieder, demzu­ folge das Branntweinverbot in Russland eine größere Gefahr für Deutschland sei als zehn weitere russische Armeekorps. Dem Leser wird so der Eindruck vermittelt, die Russen seien allesamt undisziplinierte Trinker (LPZ 46 (1915), S. 239). 13 LPZ 46 (1915), S. 72. In dem Kurzartikel steht über die Bevölkerung der Argonnen ge­ schrieben: „Die Einrichtung von Abtritten schien den Einwohnern fast völlig unbekannt, und wo solche vorhanden waren, befanden sie sich in einem Zustande, der ihre Benüt­ zung ausschloß; selbst in besseren Wohnhäusern und Schlössern wurde diese Erfahrung gemacht. Die sich ihrer Zivilisation so sehr rühmenden Belgier und Franzosen werden auf diesem Gebiete noch viel von uns zu lernen haben.“

148 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) vermeintliche Beweise, dass am deutschen Wesen die Welt genesen müsse, aus dem Württembergischen Medizinischen Korrespondenzblatt (ohne Angabe). Die Re­ dakteure der homöopathischen Zeitschriften waren demnach bestrebt, nicht nur die Vorzüge und Erfolge der eigenen Zunft zu rühmen, sondern bedien­ ten sich auch konkurrierender Publikationen, um die betont patriotische und nationalistische Gesinnung der Bewegung zu unterstreichen. Suggeriert wer­ den sollte dem Leser, dass der Krieg zwar nicht angenehm sei und eine Ge­ fahr für Leib und Seele bedeutete, die moderne Medizin und nicht zuletzt die Homöopathie ihm aber viel von seinem Schrecken nehmen würde. Der Sol­ dat und damit auch der einberufene Sohn, Bruder, Onkel oder Vater könne mit einer adäquaten medizinischen Versorgung rechnen. Die (homöopathische) Versorgung von Verwundeten und erkrankten Sol­ daten beschränkte sich derweil nicht nur auf die bloße und ohne Medika­ mente letztlich nutzlose Theorie. Die Umsetzung beispielsweise der Empfeh­ lungen von Richard Haehl ermöglichten die zu tausenden ins Feld geschick­ ten und oft nachgeforderten „Kriegs­Taschenapotheken“. Zusammengestellt und vertrieben wurden sie vor allem vom Leipziger Pharmaunternehmer Willmar Schwabe und in Württemberg von der Hahnemannia.14 Sie enthiel­ ten die gebräuchlichsten Medikamente und wurden von Soldaten wie homöo­ pathisch gesinnten Militärärzten hauptsächlich zur Behandlung der häufig auftretenden Erkältungen und Magen­/Darm­Erkrankungen eingesetzt, wie aus eingesandten Dankesbriefen an hervorgeht. Eugen Mayer, Vizefeldwebel der Reserve, schrieb etwa am 30. November 1914 an Richard Haehl: „Interes­ sieren wird es Sie, daß ich Ihre Kriegsapotheke schon oft bei Kameraden, die Durchfall, Magenschmerzen, Kopfweh oder Zahnweh hatten, in Benützung nahm, die immer wieder wegen der prompten Wirkung zu mir kommen.“15 Die Breitenwirkung, die von den Apotheken ausging und die durchaus beab­ sichtigt bzw. gewünscht war, brachte Ende 1914 ein im elsässischen Giragoutte (Bourg­Bruche) liegender Gefreiter in einem Brief an eine homöopathische Zentralapotheke zur Sprache: Als langjähriger Anhänger der homöopathischen Heilweise hatte ich während meines 3 monatlichen Aufenthalts im Felde schon einigemal Gelegenheit, erkrankten Kamera­ den aus der von Ihnen zusammengestellten homöopathischen Taschenapotheke Heilmit­ tel zu verabreichen und durch die damit erzielten guten Erfolge auch im Felde das Inte­ resse für die Homöopathie zu wecken.16

Diese Aussagen sind freilich mit Vorsicht zu deuten, da sie von der Redaktion bewusst ausgewählt und gefiltert wurden. Dennoch vermitteln sie einen Ein­ druck von den gesundheitlichen Nöten der Frontsoldaten, die wochenlang im 14 Die von der Hahnemannia (auf Anregung von Richard Haehl) in Auftrag gegebenen Kriegsapotheken waren zwei Mark billiger als das Konkurrenzprodukt von Schwabe und enthielten sogar noch vier weitere Arzneimittel. 15 HM 40 (1915), S. 9. 16 HM 40 (1915), S. 10. Ein anderer Soldat berichtet ebenfalls, dass die Verbreitung und Bewährung der Kriegsapotheke „eine sehr wirksame Agitation für unsere Sache“ be­ deute.

3.1 Verwundetenversorgung

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Matsch der Schützengräben ausharren mussten und deren Ernährung bereits 1915 stark zu wünschen übrig ließ; ganz zu schweigen von der nervlichen Belastung infolge des unausgesetzten Artilleriebeschusses. Anzunehmen ist, dass die Soldaten keine Gelegenheit ungenutzt ließen, um sich eine Erleichte­ rung des ohnehin harten Alltags zu verschaffen.17 Taschenapotheken zählten zu diesen Erleichterungen ebenso wie per Liebesgabe zugeschickte Klei­ dungsstücke, Nahrungsmittel oder Zigaretten. Dass manche von ihnen es für ihre Pflicht hielten, sich bei ihren Wohltätern zu bedanken, zeugt von der Wertschätzung, die sie den kleinen Apotheken beimaßen. Für den Kranken­ träger und ehemaligen Schriftführer des Vereins Oberschöneweide (seit 1920 Stadtteil von Berlin) Bruno Hauer war deren Bedeutung gar so groß, dass er ihr in lyrischer Form Ausdruck verlieh. In den Strophen zwei bis sieben eines insgesamt zehnstrophigen Gedichts lässt er ein lyrisches Ich sprechen, das vertraut ist mit dem Leid seiner fiktiven Kameraden und mit der homöopathi­ schen Heilmethode: Tab. 3: Auszug eines Gedichts, abgedruckt im Februar­Beiblatt der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie von 1915. 2. Wenn ihn des Fiebers Schauer schütteln, Ihm heiß und kalt wird und viel Durst, Wenn Todesängste an ihm rütteln, Und viel nach Atem ringt die Brust, Gibt’s auch im Körper manchen Stich, Nimmt Aconit er und Bryona frisch.

5. Wenn ihn im Bauch die Därme zwicken, Viel er muß laufen, droht die Ruhr, Vor Angst und Schwäch’ glaubt umzukni­ cken, Und heiser klingt die Stimme nur, Da greift er schnell, und weiß warum, Nach Mercur und Veratrum.

3. Wenn Schmerzen Kopf und Hirn durchwühlen, Das Blut heiß nach dem Schädel steigt, Vor Augen ihm Gestalten spielen, Verwundung zur Entzündung neigt, Greift er mit hoffnungsvollem Sinn Schnell nach der Belladonna hin.

6. Wenn die Kam’raden etwas quält Und fern die Hilfe weilet, Da haben sie mich auserwählt, Und ich hab’ schon verteilet, Wohl helfend, meine Medizin. Doch nun ist wirklich alles hin.

4. Wenn naß vor Schweiß Erkältung droht, Ihm Kopf und die Gelenke zittern, Des Marsches Plag’ ihn macht marod, Da läßt er sich nicht lang verbittern Das Leben, weil ihm hilft dann schon Arnica und Rhus toxicodendron.

7. Leer ist nun alles, und mein Sinn Bracht mich auf Liebesgaben hin, Zu bitten für die Kameraden: Füllt meinen Apothekerladen Mit helfenden Potenzen wieder. Wir singen euch auch Dankeslieder.18

17 Vgl. Schweig (2009), S. 70 ff. 18 LPZ 46 (1915), Beiblatt Nr. 2, S. 9. Hauers Bitte dürfte ihrer Form, nicht aber ihrem In­ halt nach einzigartig gewesen sein. Ein Mitglied des Vereins Reutlingen schrieb beispiels­ weise im Juli 1915 an den Vereinsvorsitzenden und bat um die Zusendung einer Taschen­ apotheke, denn er habe noch keine Liebesgabe vom Verein erhalten (IGM/Varia 484, 21. Juli 1915).

150 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Wie wir später noch sehen werden, wenn es um die Arbeit der Laienvereine während des Ersten Weltkriegs geht, blieben diese Rufe nicht ungehört. An dieser Stelle soll hingegen verdeutlicht werden, dass die Laienhomöopathen gegenüber ihren medizinisch nicht vorgebildeten Kameraden im Vorteil wa­ ren, da sie ihr in Friedenszeiten erworbenes Heilwissen abrufen und sich da­ mit sowohl selbst als auch anderen helfen konnten – vorausgesetzt, sie verfüg­ ten über die nötigen Medikamente. In den Genuss einer solchen Behandlung werden indessen nur wenige gekommen sein. Es liegen zwar weder genaue Zahlen noch Schätzungen vor, wie viele Laienhomöopathen aktiv am Krieg teilgenommen haben. Allerdings ist davon auszugehen, dass bis 1918 meh­ rere tausend Vereinsmitglieder eingezogen wurden. Angesichts der über 13  Millionen Soldaten, die das Deutsche Kaiserreich insgesamt aufbieten konnte, ist der Anteil der organisierten Laienhomöopathen also verschwin­ dend gering. Umso gefragter werden ihr Rat und ihre Hilfe gewesen sein. Verfolgt man die weiteren Kriegsjahrgänge beider Zeitschriften, so fällt auf, dass Abhandlungen über die akute Wundbehandlung und Berichterstat­ tung über die positiven Erfolge der Kriegsmedizin und ­chirurgie nach 1915 beinahe gänzlich verschwunden sind. In den Homöopathischen Monatsblättern der Jahrgänge 1916, 1917 und 1918 findet sich lediglich ein einziger Artikel, der sich explizit der Soldatengesundheit annahm und danach fragte, wie „sich der Soldat vor Erkrankungen im Kriege“ schützen könne.19 Zwei weitere Ab­ handlungen über die Herz­Rhythmus­Störungen infolge der Kriegsstrapazen und über Frostbeulen und Erfrierungen (beide 1916) standen wenigstens im engeren Sinne in Verbindung mit gesundheitsschädlichen Einflüssen auf den Soldatenkörper. Euphemistische Lazarettberichte oder Darstellungen der Ver­ wundetenversorgung finden sich keine mehr. 3.2 Ernährung Die Schriftleitungen der beiden homöopathischen Zeitschriften stellten sich recht schnell auf den Krieg ein und erweiterten ihr Themenspektrum dement­ sprechend. Im Vordergrund standen fortan zahlreiche Abhandlungen über den versehrten Soldatenkörper und in verstärktem Maße auch über Frauen­ und Kindergesundheit. Erhöhte Aufmerksamkeit kam zudem der Ernährung zu. Schon vor Ausbruch des Krieges planten die Redakteure der Homöopa­ thischen Monatsblätter, eine mehrteilige Artikelserie „Zum Stand der Ernäh­ rungsfrage“ zu veröffentlichen. Selbige sollte sich bis 1915 hinziehen und bot ihrem Autor, dem Stuttgarter Arzt Heinrich Meng (1887–1972)20 die Gelegen­ heit, auch auf die kriegsbedingte Ernährungsumstellung einzugehen und sei­ ner ernährungsreformerischen Haltung Nachdruck zu verleihen. Mengs Aus­ führungen zufolge könne der Soldat auch „bei einfacher Kost, bei der das Brot die Hauptrolle spielt, sehr leistungsfähig“ sein. Wichtig sei allerdings, 19 HM 42 (1917), S. 24. 20 Zum Leben und Werk von Heinrich Meng siehe: Meng (1971); Brenner (1975).

3.2 Ernährung

151

dass er Alkohol meide und nicht als Nährmittel ansehe, denn: „Schnaps, Wein und Bier sind Genußmittel, ihr Genuß beeinflusst ungünstig Leistungsfähig­ keit und Verantwortlichkeitsgefühl des Soldaten“. Weiteren Ernährungsrat­ schlägen für Soldaten enthielt sich Meng allerdings und ging stattdessen, ebenfalls in nur wenigen Sätzen, auf die Zivilbevölkerung ein. Ihr empfahl er die Verwendung von Klaie, die Einschränkung des Fleischkonsums bei gleich­ zeitiger Deckung des Eiweißbedarfs durch Milchprodukte und Gemüse. Auch sollen Gerste und Kartoffeln zu Mehl oder Nahrungsmitteln verarbeitet und nicht zum Bier­ oder Schnapsbrauen verwendet werden.21 Meng sprach sich demnach dezidiert für eine Ernährungs­ und Bodenreform aus, wie sie schon vor dem Krieg von den Anhängern der naturgemäßen Lebensweise propa­ giert wurde22, im Krieg nun aus pragmatischen Gründen angewendet und schließlich in die Friedenszeit hinübergerettet werden sollte. Florentine Frit­ zen konstatiert in ihrer Arbeit über die Lebensreformbewegung im 20. Jahr­ hundert, dass am Ende des Krieges die Gesundheitsdiskurse der Gesellschaft jenen der bürgerlichen Lebensreformbewegung immer ähnlicher geworden sind.23 Auch für die Gesundheitsdiskurse der Laienhomöopathen gilt das. Tiefer als die Monatsblätter ging die Leipziger Populäre Zeitschrift für Homöo­ pathie ins Detail: Bereits im Januar 1915, als die Versorgungslage noch nicht drückend war, druckte sie unkommentiert einen bereits Ende 1914 publizier­ ten Beitrag der Medizinischen Wochenschrift ab. Darin widmete sich der be­ kannte Berliner Arbeitsphysiologe und Hygieniker Max Rubner (1854–1932) explizit der Frage nach den Pflichten der Bevölkerung in Bezug auf die Nah­ rungsversorgung und übte zugleich Kritik an einer verfeinerter Esskultur. Er stimmte die Leser darauf ein, dass die Versorgung der Bevölkerung mit Nah­ rungsmitteln sich im Laufe des Krieges (weiter) verschlechtern würde. Zurück­ haltung und Mäßigung im Umgang mit fleisch­ und fetthaltigen Lebensmit­ teln sei deshalb angezeigt, ebenso der Umstieg auf eine überwiegende Ernäh­ rung mit „Vegetabilien“. Verzichtet werden sollte fortan auf den übermäßigen, täglich mehrfachen Fleischkonsum, der wie der Verzehr von Weiß­ statt des nahrhaften Schwarzbrotes Indiz jener verfeinerten Esskultur sei. Eine prakti­ kable Möglichkeit, um den Eiweiß­ und Nährstoffbedarf der Bevölkerung zu decken bzw. zu kompensieren, sah Rubner im Gemüseanbau, etwa in den „zahllosen kleinen Gärten der Einfamilienhäuser“24. Klar war damit auch, an wen diese ernährungsphysiologischen und zivilisationskritischen Ratschlägen im Wesentlichen adressiert waren: „Um das zu erreichen, müssen uns aber auch die Frauen unterstützen.“25 Die ärztlichen Ausführungen von Rubner scheinen auch bei Laien Gehör gefunden zu haben, widmet sich doch der Hannoveraner Laienhomöopath 21 HM 40 (1915), S. 20–21. 22 Vgl. Baumgartner: Ernährung (1998); Baumgartner: Vegetarismus (1998); Meyer­Rensch­ hausen/Berger (1998). 23 Fritzen (2006), S. 193. 24 LPZ 46 (1915), S. 16. 25 LPZ 46 (1915), S. 15.

152 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Georg Hiller in der März­Beilage der Leipziger Populären Zeitschrift der Frage: „Wie ernähren wir uns im Kriege?“ Auch er sah die daheimgebliebe­ nen Frauen als Verantwortliche in der Pflicht, weswegen er an ihre patrioti­ schen Gefühle appellierte: Welcher wahre, herzechte Vaterlandsfreund möchte im heurigen Kriege nicht auch sei­ nen soldatischen Pflichtanteil mit Freuden erfüllen daheim, wenn er ans Schwert dort draußen hin nicht berufen ist; welche deutsche Frau möchte nicht noch mehr, noch viel mehr tun, als ihre fleißige schwache Hand es vermag, und wo ist derjenige, der heute bloß leben möchte, um zu leben, statt um zu nützen und um zu streben und zu entsa­ gen – wo und wenn es nötig ist – fürs Vaterland.26

Solche Artikel hatten zweierlei im Sinn: Einerseits dienten sie dazu, die Di­ chotomie zwischen Heimat und Front aufzulösen, indem beide Räume zu Kampfgebieten erklärt wurden. Nicht nur bedrohe der Feind die Grenzen Deutschlands, die es mit Waffengewalt zu verteidigen gelte, auch greife er in­ direkt mit wirtschaftlichem Ausschluss den „national[n] Unterhalt, die Volks­ verpflegung“ an. Angesichts dieser Gefahr sei es die „Pflicht eines Jeden, sein täglich Essen und Trinken der großen Zeit anzupassen“27. Mäßigung, Spar­ samkeit sowie der Verzicht auf „Verfeinerung“ und „Verkünstelung“ von Nah­ rungsmitteln wurden von Hiller gleichsam zu Waffen der „Kämpfer daheim“ bzw. der Frauen stilisiert, mit denen sie ganz konkret an die Seite der ausmar­ schierten Männer treten konnten.28 Inhaltlich beschränkte sich Hiller nicht allein auf die Aufzählung dieser Gemeinplätze. Stattdessen versuchte er, seinen Vereinskameraden konkrete Anweisungen zu erteilen, wie diese Waffen – um bei dieser Metapher zu blei­ ben – konkret zu gebrauchen seien. So lehnte auch er die Herstellung und den Konsum von Weißbrot entschieden ab, da durch das mehrfach gesiebte Mehl wichtige Eiweiß­ und Nährsalzverbindungen verloren gingen, zugleich aber Darmträgheit und Magenbeschwerden gefördert werden. Dem Weißbrot sei deshalb der Verzehr von gesünderem weil nährstoffreichem Vollkornbrot vorzuziehen.29 Ebenso sprach sich Hiller im Sinne Mengs, dessen Artikel er offenbar kannte, gegen die „Vernichtung“ von Kartoffeln und Gerste zu Alko­ hol und gegen den uneingeschränkten Alkoholkonsum im Allgemeinen aus. Letzterer sei für ihn sogar ein Zeichen dafür, dass bei den Betreffenden noch „kein echter, wahrhafter, opferbereiter Patriotismus“30 vorherrsche. Der Dienst am Vaterland bedeutete in seinen Augen nicht allein einen rationalen und vorausschauenden Umgang mit Lebensmitteln, sondern auch den Ver­ zicht auf Genussmittel. Problematisch war für Hiller auch der übersteigerte Fleischkonsum, da die Futtermittelproduktion wichtige Ackerfläche binde, die 26 LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 3, S. 18. 27 LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 3, S. 18. 28 Zur Rolle der Frau(en) im Ersten Weltkrieg siehe ausführlich: Daniel (1989); Kundrus (1995); Hagemann/Schüler­Springorum (2002); Daniel (2002); Daniel (2014); Hämmerle (2014). 29 Zum Vollkornbrot­Diskurs vor dem Ersten Weltkrieg siehe: Melzer (2003), S. 62–133. 30 LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 3, S. 19.

3.2 Ernährung

153

eigentlich zum Anbau von Getreide oder Gemüse verwendet werden könn­ te.31 Ohnehin leide der „Fleischkultus“ an großer Übertreibung und unter­ liege zumindest in Städten der Mode, obwohl doch jeder aufgeklärte Mensch wisse, dass „halb so viel“ billiger, besser und gesünder sei. Als Orientierung, wie die Ernährungsregeln im täglichen Bedarf umzusetzen sind, dienten die anschließenden detaillierten Erläuterungen über die fünf „Nahrungs­Kompo­ nenten“ Eiweiß, Fett, Kohlenhydrate, Nährsalze und Wasser/Getränke. Im Mittelpunkt stand dabei wiederum die Substitution dieser Nährstoffe durch eine überwiegend vegetarische Ernährung. Wichtige Eiweiß­ und Nährsalzlie­ feranten seien Nüsse, Pilze, Vollmehlprodukte und Käse, frisches Obst und Salate aller Art sowie verschiedene Kräuter. Pflanzenfette sollten den tieri­ schen vorgezogen und Obstsäfte und Milch statt Bohnenkaffee und Alkohol getrunken werden. „Zurück zur vollwertigen, vollnährigen Nahrung unserer Vorfahren!“ und äußerste Sparsamkeit im Umgang mit Nahrungsmitteln lau­ tete für Hiller das „inhaltsschwere Lebensgebot“32 der Stunde. In den folgenden Kriegsmonaten und ­jahren nahm die Zahl der Artikel über Ernährung (ebenso wie jene über Verwundetenversorgung) in beiden Zeitschriften ab, inhaltlich blieben sie hingegen unverändert und konzentrier­ ten sich auch weiterhin auf praktische Ratschläge. So klärte im Mai 1915 ein gewisser Dr. Thraenhart die Leser der Homöopathischen Monatsblätter ausführ­ lich über „Selbstgesuchte Nahrungs­ und Genussmittel in Feld und Wald“ auf, worunter er Löwenzahn, Feldsalat, Brennnessel, Brunnenkresse, Sauerampfer, die Sumpfdotterblume, etliche Beeren und Früchte oder Kräuter wie Feldthy­ mian oder Salbei zählte.33 Im November 1915 informierte ein anderer Artikel über „Kochersparnisse in der Kriegszeit“34. Der Autor ging darin näher auf die billigsten, zugleich aber nahrhaftesten Lebensmittel wie Fisch, Käse, Eier oder Hülsenfrüchte und deren optimale Zubereitung ein. Anfang 1917 nahm die Schriftleitung einen kurzen Artikel des Arbeitsausschusses deutscher Ver­ eine für Lebensreform in die Monatsblätter auf, um abermals daran zu erin­ nern: Die Volksernährung im Kriege soll sein einfach, aber nahrhaft und gesund. Alle verfüg­ baren Nahrungsmittel sollten in möglichst natürlichem Zustande verwendet werden, nicht durch Künsteleien entwertet und verteuert. […] Im Allgemeinen gilt es also, die Ernährungs­ und Lebensweise unserer Voreltern wieder anzunehmen, bei welcher sie auf dem Lande gesund und stark geworden sind. Dabei wird man auch bald herausfinden, daß alkoholhaltige Getränke, starker Kaffee und viel Tabak leichter entbehrt werden können, ohne daß unser Lebensgenuß im geringsten geschmälert wird. Im Gegenteil, ein zunehmendes Gesundheitsgefühl, wie wir es früher kaum für möglich gehalten hät­ ten, ist erfahrungsgemäß die Folge, ruft alle noch schlummernden und sonst gebundenen körperlichen und seelischen Energien auf den Plan und steigert Lebensmut und Tatkraft bis zu den äußersten Grenzen, wie es die heutige Lage der Nation erfordert.35 31 32 33 34 35

Conti (1984), S. 68. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 3, S. 20. HM 40 (1915), S. 60. HM 40 (1915), S. 132. HM 42 (1917), S. 16.

154 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Mag diese Losung für die ersten beiden Kriegsjahre noch einige Berechtigung gehabt haben, mutet sie 1917 allerdings zynisch an, bedenkt man die äußerst prekäre Versorgungslage in Deutschland. Mit zunehmender Kriegsdauer spitzte sich die Situation aufgrund der von den Entente­Staaten durchgesetz­ ten Seeblockade immer weiter zu; das Resultat war die Verknappung der Lebensmittel, der man auch mit Sparsamkeit und Mäßigung nicht beikom­ men konnte. Zeitweise brach die Versorgung von Grundnahrungsmitteln wie Milch, Eier, Butter oder Fleisch sogar völlig zusammen.36 Von einem freiwilli­ gen Umstieg auf pflanzliche Alternativen und eine Vollwerternährung konnte demnach keine Rede sein, waren diese Güter doch ohnehin kaum verfügbar und ihre Beschaffung seit Herbst 1916 zusätzlich streng rationiert. Kurz: Die jedem einzelnen zustehenden Nahrungsmittel deckten bei weitem nicht den täglichen Kalorienbedarf und reichten nicht einmal zum Leben, geschweige denn zur Steigerung von Lebensmut und Tatkraft. Insofern verwundert es nicht, dass in den homöopathischen Zeitschriften gegen Ende des Krieges nicht mehr die adäquate Ernährung per se, die ja ohnehin nicht mehr gewähr­ leistet werden konnte, sondern die homöopathische Behandlung der Folgeer­ scheinungen von Mangel­ und Unterernährung thematisiert wurden. Dass die unzureichende Ernährung ein immer größeres Problem und zuletzt zu einer ernsthaften gesundheitlichen Bedrohung wurde, belegt die im August 1917 in der Beilage der Leipziger Populären Zeitschrift veröffentlichte Abhandlung eines Laien über „Beschwerden der gegenwärtigen Ernährungsweise“. Otto Kluge, Vereinsmitglied im sächsischen Lößnitz, geht darin gar nicht mehr auf Nah­ rungsmittel wie Gemüse, Obst, Käse oder Getreideprodukte und ihre Nähr­ werte ein, denn sie „stehen uns […] leider gegenwärtig in der schweren Kriegs­ zeit nur wenig zur Verfügung.“37 Stattdessen stellt er die homöopathische Be­ handlung der Symptome in den Mittelpunkt, die von einer unzureichenden und qualitativ minderwertigen Ernährung ausgehen. Insgesamt nennt er zehn homöopathische Arzneistoffe, die bei großer Abmagerung, außerordentlicher Schwäche und Ohnmachtsanfällen, Schwindel, Überempfindlichkeit, An­ spannung, Nervenschwäche, Melancholie, Gemütsbewegungen der Frauen, aber auch Magenbeschwerden wie Blähungen und Durchfällen zur Anwen­ dung kommen können. Kluges Ausführungen geben Aufschluss über die Le­ benswirklichkeit vornehmlich der daheimgebliebenen Laienhomöopathen, die zwar um eine idealtypische Ernährung wissen, sie aber im Spätsommer 1917 längst nicht mehr umsetzen, sondern sich nur noch in ganzheitlicher Schadensbegrenzung üben konnten.

36 Hirschfeld (2005), S. 211 ff. Zur Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkriegs siehe ausführlich: Roerkohl (1991); Hirschfelder (2005), S. 211 ff.; Flemming/Saul/Witt (2011). 37 LPZ 48 (1915), Beilage Nr. 8, S. 30.

3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs

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3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs Lange Zeit prägte das „Augusterlebnis“ die Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Fotografien von jungen Männern, die anlässlich der Mobil­ machung jubelnd durch die Straßen zogen, oder von lachenden Soldaten, denen der Krieg nichts weiter als ein kurzer Ausflug nach Frankreich oder Russland zu sein schien. Die Forschung hat diese Kriegsbegeisterung mittler­ weile als kulturelle Inszenierung entlarvt.38 Gerade die Fotoaufnahmen der Soldaten, die vor Eisenbahnwaggons mit Aufschriften wie „Ausflug nach Pa­ ris“ oder „Jeder Schuss ein Russ“ posierten, waren gestellt und Teil einer aus­ geklügelten Kriegspropaganda.39 Das „Augusterlebnis“40 erfasste also, wenn überhaupt, nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Die Mehrheit derer, die Anfang August als Reservisten zu den Waffen gerufen wurden, war angesichts der zu erwartenden Konsequenzen wenig begeistert.41 Vor allem für die länd­ liche Bevölkerung kam der Kriegsausbruch zum denkbar schlechtesten Zeit­ punkt, musste doch eigentlich die Ernte eingebracht werden. Man kann des­ halb annehmen, dass sich unter den Laienhomöopathen zwar einige befan­ den, die wie der Vorsitzende des Vereins Radevormwald im August 1914 mit Überzeugung erklärten, dass man angesichts „des uns verbrecherisch aufge­ nötigten Krieges“ nicht verzagen müsse, „da Deutschland in nie geahnter Ei­ nigkeit da stünde und unser geliebter Kaiser, der für den Frieden stets voll und ganz eingetreten, im festen Gottvertrauen in den Kampf zöge mit schar­ fem Schwert und gutem Gewissen“42. Viele Vereinsmitglieder werden wie die meisten Deutschen jedoch nicht jubelnd und Hüte schwingend durch die Straßen und anschließend in die Kasernen gezogen sein, um ihrem Kaiser beizuspringen. Allenfalls glaubten sie seinen Worten, oder wollten ihnen glau­ ben, dass der Krieg nicht lange dauern werde43 und man einen aufgezwunge­ nen Verteidigungskrieg gegen die Feinde Deutschlands führe. Von einer eu­ phorischen Grundstimmung, die von den einfachen Vereinsmitgliedern geteilt worden wäre, ist in den Protokollbüchern hingegen nichts zu lesen. Wie viele Laienhomöopathen einrücken mussten, kann anhand einzelner Angaben geschätzt werden. Den größten temporären Abgang hatte der Stutt­ garter Verein „Fortschritt“ zu verzeichnen. Den Angaben seines Schriftführers zufolge kämpfte Anfang 1915 bereits mehr als die Hälfte der 300 Mitglieder an der Westfront.44 Mit über 50 % lag der Anteil vergleichsweise hoch; die 38 Vgl. hierzu: Mommsen (2000), S. 125–138; Sobich (2006), S. 384; zur Propaganda im Ersten Weltkrieg siehe: Jeismann (2014), S. 198–209. 39 Vgl. Verhey (2000); Nübel (2008); Bremm (2013); Flemming/Ulrich (2014). 40 Ausführlich über die „August­Panoramen“ in Europa schreibt: Leonhard (2014), S. 127– 146. 41 Vgl. Strachan (2006), S. 41; Clark (2015), S. 707 f. 42 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 17. August 1914. 43 Weswegen beispielsweise der Verein Rohracker 1914 laut seines Vorsitzenden Ohnmeiß zunächst keine Mitgliederversammlungen einberief, sondern den weiteren Verlauf des Krieges abwartete (IGM/Varia 76, 2. Februar 1919). 44 HM 40 (1915), Beilage Nr. 3, S. 10.

156 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) anderen homöopathischen Vereine mussten, gemessen an der absoluten Mit­ gliederzahl, selten auf mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder verzichten. Einige Beispiele sollen diese Prozentzahl belegen: Der Laienverein Reutlingen stellte zunächst 70, kurze Zeit später 80 Soldaten (439, 16–18 %45), der Heidenhei­ mer 110 (515, 21 %46), der Verein Fellbach entsandte insgesamt 149 Mitglie­ der ins Feld (494, 30 %47) und von den Laienhomöopathen aus Metzingen kämpften 1917 25 an der Front (104, 24 %48). Auch außerhalb Württembergs lässt sich dieses Verhältnis von kämpfenden und daheimgebliebenen Mitglie­ dern beobachten: Unter den insgesamt 375 Mitgliedern des bergischen Ver­ eins Radevormwald waren 1917 75 Ausmarschierte (20 %49). Im sächsischen Röhrsdorf waren im Februar 1915 kriegsbedingt bereits 42 Mitglieder dauer­ haft abwesend (33 %50), in Groß­Naundorf 28 von 95 (29 %51), in Dresden­ Neustadt 250 (700, 35 %52) und im rheinischen Hörde 110 von 628 (18 %53). Diese Zahlen beziehen sich, außer im Falle Radevormwalds und Metzingens, auf die Jahresberichte der Vereine von 1914, die Anfang 1915 entweder an die Redaktionen der Zeitschriften gesandt und in den Beilagen abgedruckt oder im Rahmen der Generalversammlung verlesen wurden. Es ist davon auszuge­ hen, dass die Zahl der eingezogenen Mitglieder im Laufe der kommenden Jahre noch weiter gestiegen ist. Als Beleg kann eine Erhebung des Rheinisch­ Westfälischen Verbands homöopathischer Laienvereine von April 1918 die­ nen, der zufolge der Verband zu diesem Zeitpunkt 6030 Mitglieder, darunter 2513 Einberufene (42 %54), zählte. Wie viele organisierte Laienhomöopathen insgesamt am Krieg teilgenom­ men haben, lässt sich indessen nur grob schätzen: Im Juli 1914 zählte der Bund homöopathischer Laienvereine, dem die meisten Vereine Deutschlands angehörten, anlässlich der Jahrestagung 31.260 Mitglieder.55 Geht man nun davon aus, dass anfangs zwischen zehn und 30 Prozent, später sogar bis zu 40  Prozent der Mitglieder eingezogen wurden, so wird sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf etwa 6.000 bis 12.500 belaufen. Über die Zahl der Ver­ wundeten und Gefallenen ist nichts bekannt. Da die Anhaltspunkte jedoch 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

HM 40 (1915), Beilage Nr. 4, S. 13. HM 40 (1915), Beilage Nr. 5, S. 18. IGM/Varia 68, S. 23, Februar 1919. IGM/Varia 36, 4. März 1917. StA Radevormwald; Kasten 6 / Akte 1, 24. Februar 1917. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 2, S. 7. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 3, S. 12. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 9, S. 44. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 2, S. 8. LPZ 49 (1918), Beilage Nr. 7, S. 16. Vgl. die folgende Anmerkung: Der Verband hat trotz des Kriegswirren bis 1917 1.537 neue Mitglieder gewonnen. 55 LPZ 45 (1914), Beilage Nr. 9, S. 97–98. Diese Zahl verteilt sich wie folgt: Hahnemannia (11.500), Landesverein für Homöopathie in Sachsen (8.800), Rheinisch­Westfälischer Verband (4.493), Landesverband Baden (3.000), Mitteldeutscher Verband (1.313), Ver­ band Homöopathischer Vereine Württembergs (1.533), Norddeutscher Verband (320), Einzelvereine Meiningen, Forst und Görlitz (300), ein Einzelmitglied.

3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs

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weit dürftiger sind und über einzelne Angaben in den Vereinsberichten nicht hinausgehen, verbietet sich eine Schätzung.56 Die homöopathischen Laienvereine und ihre Mitglieder waren demnach in erheblichem Maße und von Anfang an mit dem Krieg konfrontiert. Für die Vereinsarbeit, die in Friedenszeiten auf Gesundheitsbildung und Selbsthilfe ausgerichtet war, bedeutete die Aufspaltung der Mitgliederschaft in ausmar­ schierte Soldaten und in der Heimat gebliebenen Zivilisten bzw. Frauen eine Umstellung und logistisch­organisatorische Herausforderung. Denn einerseits mussten die zu vermittelnden Inhalte an die neue Situation angepasst und Formen gefunden werden, sie den Adressaten im Feld und vor Ort zukommen zu lassen. Eine Möglichkeit, den eingerückten Mitgliedern ihr entbehrungs­ reiches Soldatenleben zu erleichtern und sie materiell wie moralisch zu unter­ stützen, waren die zahlreichen „Liebesgaben“, die von den Vereinen an die Front geschickt wurden.57 Über den genauen Ablauf geht aus den Quellen nichts Näheres hervor. Denkbar ist jedoch, dass wie in Reutlingen vielerorts eigene Kommissionen gebildet wurden, die das Sammeln, bruch­ und feuch­ tigkeitssichere Verpacken und Verschicken der Gaben und schließlich auch deren Finanzierung besorgten.58 Im sächsischen Bischheim mussten die Fami­ lien ihren Soldaten die Pakete in Eigenregie zusenden, allerdings steuerte der Verein je ein Pfund Speck bei.59 Häufiger Bestandteil der Pakete waren neben solchen begehrten Nahrungs­ und Genussmitteln auch Textilien, gerade in den Wintermonaten. In manchen Fällen sandten die Vereine ihren Mitglie­ dern sogar die Monatshefte nach. Offensichtlich von ebenso großem Wert scheinen, wie oben gezeigt wurde, die homöopathischen Kriegsapotheken ge­ wesen zu sein, die von vielen Laienvereinen, teils sogar subventioniert, beige­ legt wurden.60 Sie ermöglichten den Soldaten die eigenhändige Behandlung 56 Auf deutscher Seite leisteten 13.250.000 Männer Militärdienst, von denen 2.037.000, also rund 15 %, in den Kampfhandlungen oder infolge von Verwundung und Erkran­ kung starben. Übertragen auf die homöopathische Laienbewegung würde das bedeuten, dass sie zwischen 900 und 1.875 Gefallene zu beklagen gehabt haben könnte. In die Tausende dürfte indessen die Zahl derer gehen, die langfristig unter Gesundheitsproble­ men oder Traumatisierungen litten. Vgl. zu den Zahlen im Allgemeinen: Heeres­Sani­ tätsinspektion im Reichswehrministerium (1934); Hoffmann (2010), S. 288; zu den deut­ schen Verlusten im Ersten Weltkrieg: Overmans (2003), S. 663–666. 57 Zu den Liebesgaben siehe: Hämmerle (2014), S. 139–160. 58 IGM/Varia 484, 7. November 1914. In Reutlingen schlug ein Paket mit 1,20 Mark zu Buche. 59 DHMD/L 1998/62, 11. Oktober 1914. Manche Vereine, etwa der Laichinger, diskutier­ ten von vor der Verfügbarkeit solcher Kriegsapotheken darüber, welche Mittel denn ge­ eignet seien, um sie den Ausmarschierten nachzuschicken (IGM/Varia 64, Protokoll Dezember 1914). Und in Metzingen ging es in einer am 10. Dezember abgehalten Aus­ schusssitzung ebenfalls um die Frage: „Was soll unseren Ausmarschierten Mitglieder [sic] als Liebesgabe gegeben werden?“ (IGM/Varia 36, Datum wie genannt). 60 In Stuttgart­Wangen empfiehlt der vereinseigene Laienpraktiker Lang den Mitgliedern den Kauf der von der Hahnemannia zusammengestellten Kriegsapotheke zum Vorzugs­ preis von 75 Pfennigen. Es ist allerdings nicht ersichtlich, ob der Verein zuvor ein gewis­ ses Kontingent an Apotheken besorgt und diese nun verbilligt an die Mitglieder abgeben will oder ob die württembergischen Zentralapotheken Rabatt gewährten (IGM/Varia

158 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) akuter oder chronischer Leiden im Feld. Der Verein fungierte als eine Art Bindemitglied, von dem zusätzlich zur immateriellen auch materielle Hilfe zu erwarten war. Wohl auch deshalb hatten die meisten Laienvereine während des Ersten Weltkriegs kaum Austritte zu verzeichnen.61 Manche konnten so­ gar neue Mitglieder gewinnen: der Verein Stuttgart­Wangen vergrößerte sich im Laufe des Krieges immerhin um 21 Laienhomöopathen.62 Die Möglichkeiten, den ausmarschierten Mitgliedern beizustehen, waren begrenzt. Sie erschöpften sich im Versenden von Liebesgaben, Kriegsapothe­ ken und Monatsheften, in ihrer Befreiung von Beitragszahlungen sowie in ei­ nigen Vorträgen über Verwundungen. Einzigartig dürfte in diesem Zusam­ menhang ein Vortrag des Vereinsvorsitzenden und Sanitätsunteroffizier Emil Ohnmeiß gewesen sein. In seinem Vortrag klärte er die Vereinskameraden mit Hilfe von „photographischen Aufnahmen über Verwundungen unserer Krieger und ihre Behandlung“ auf. Offenbar konnte er diese Aufnahmen während seines Sanitätsdienstes in einem Lazarett selbst anfertigen.63 Einen weit größeren Handlungsspielraum bot hingegen die Unterstützung der in der Heimat zurückgebliebenen Vereinsmitglieder. In den Blick rückt zunächst das Kernelement der Laienpraxis, die regelmäßig veranstalteten Vorträge. Auffal­ lend ist, dass nach Ausbruch des Krieges nicht ausschließlich, aber doch ver­ stärkt solche Themen zum Gegenstand von Erörterungen gemacht wurden, die in einem direkten Zusammenhang mit den alltäglichen materiellen Nöten und gesundheitlichen Sorgen standen. Zum Teil verlangten die Mitglieder auch explizit danach; beispielsweise die Laienhomöopathen in Stuttgart­Wan­ gen, die sich 1917 in Ermangelung eines Arztes und wohl auch angesichts der Auswirkungen des „Kohlrübenwinters“ von der Vereinsleitung einige Aufklä­ rung über Kinderkrankheiten wünschten.64 Im Vordergrund standen während des Kriegs Referate über „Häufig auftretende Krankheiten“, „Lungenentzün­ dung“, „Lungenkrankheiten“, „Darmkrankheiten“, um nur vier Vortragstitel aus Bischheim zu nennen.65 Breiten Raum nahm zudem die Besprechung verschiedener infektiöser Krankheiten ein. So fragte etwa Frida Wörner in ei­ nem am 18. März 1915 in Reutlingen gehaltenen Vortrag nach dem „Schutz unserer Bevölkerung gegen die Kriegsseuchen und die jetzt bestehenden

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372, 18. Oktober 1914). Kriegsapotheken verschickten auch die homöopathischen Ver­ eine in Sachsen: Grubitzsch (1996), S. 61. Ausnahmen gab es: Der Verein Radevormwald verlor im Laufe des Krieges 139 Mitglie­ der, von denen nicht alle gefallen oder gestorben sein können. Denkbar ist, dass – wie in anderen Vereinen üblich – die Ausmarschierten und deren Familien oder Witfrauen von den Beiträgen befreit wurden und deshalb nicht mitgezählt wurden. Auch in Baden konnte der Landesverband die relative Konstanz der Mitgliederzahlen konstatieren. Zwar sank die Zahl der Beitragszahler infolge der Steuerbefreiung von 3.364 (Juni 1914) auf 2.673 (Juni 1915), „eine wirkliche Abnahme der Gesamtmitgliederzahl dürfte indes wohl nur durch stattgehabten Austritt des Vereins Stein mit 100 Mitgliedern erfolgt sein“ (LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 8, S. 40). IGM/Varia 372, 23. Januar 1923. IGM/Varia 72, 25. Februar 1917. IGM/Varia 372, 25. Februar 1917. DHMD/L 1998/62, Protokolle 1914–1918.

3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs

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Krankheiten“66. Auch im badischen Büchenau setzte man sich einige Monate später mit „Seuchengefahr und Seuchenschutz“ auseinander und behandelte „die verschiedenen Krankheiten, die die gewöhnlichen Folgen des Krieges sind“67. Konkret ging es den Rednern dabei um die „klassischen“ anstecken­ den Krankheiten, wie sie auch schon vor dem Krieg häufig Thema waren. Der Schwerpunkt lag dabei auf Diphterie, Masern und Scharlach, seltener auch Tuberkulose und Typhus.68 Als Adressaten dieser Aufklärungsbemühun­ gen wurden explizit die weiblichen Vereinsmitglieder ausgemacht, oblag ih­ nen doch  – mehr als noch vor dem Krieg  – die Verantwortung für die Ge­ sundheit vor allem der Kinder. In Nagold nahmen an einem Ende 1917 ge­ haltenen Vortrag über die „Vorbeugung und Behandlung der Diphteritis“69 lediglich zwölf Mitglieder teil, was allgemein bedauert wurde. Noch bedauer­ licher war nur, dass sich unter den Zuhörern gerade einmal fünf Frauen be­ fanden, obwohl das Gesagte doch „sehr wichtig für sie“70 sei. Die Rolle der „Frau als Gattin und Mutter, deren Pflichten und naturgemäße Bestimmung“71 machte wiederum Frida Wörner zum Gegenstand ihres im November 1915 in Reutlingen vorgetragenen Referats. Aus dem Protokoll geht der genaue Inhalt nicht hervor. Eine Ahnung, was unter den Pflichten weiblicher Laienhomöo­ pathen und Frauen im Allgemeinen zu verstehen sei, vermittelt allerdings ein Zeitschriftenbericht des Vereins Tharandt. Über einen Masern­Vortrag heißt es diesbezüglich: Der klare, leicht faßliche und von gründlichem Wissen zeugende Vortrag bot des Lehr­ reichen für die Frauenwelt viel. Mit eindringlichen Worten wies der Redner darauf hin, daß sich vor allem die Gattinnen und Mütter einen frischen, freudigen Sinn bis ins reife Alter bewahren sollten, um des Hauses wärmende Sonne sein zu können. Darum müs­ sen sie vor allem darauf achten, im Besitze ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit zu verbleiben. Daher sei es die heilige Pflicht jeder Frau, sich die Gesetze der Gesund­ heitslehre zu eigen zu machen. […] Möchten doch alle Frauen die Anregungen gegebe­ nenfalls auch richtig befolgen in ihrem eigenen Interesse, im Interesse ihrer Familie und der ganzen Gesellschaft.72

Zwar wurde dieser Appell nicht direkt mit dem bereits seit Monaten laufen­ den Krieg bzw. seinen Folgen für die Zivilbevölkerung in Zusammenhang ge­ bracht. Auch ist die Übertragung der innerfamiliären Gesundheitskompetenz auf Frauen 1914 kein allzu neues Phänomen mehr; bereits Ende des 19. Jahr­ hunderts begannen die Laienvereine, ihre weiblichen Mitglieder aktiv in das 66 IGM/Varia 484, Datum wie genannt. 67 HM 40 (1915), Beilage Nr. 8. 68 Vgl. Stuttgart­Wangen: IGM/Varia 372, 18. Oktober 1914, 23. Januar 1916, 25. Februar 1917; Laichingen: IGM/Varia 64, Januar 1915; Nagold: IGM/Varia 419, 11. November 1917; Bischheim: DHMD/L 1998/62, 1914 (Typhus), 1916 (Diphterie). 69 IGM/Varia 419, 11. November 1917. 70 IGM/Varia 372, 18. Oktober 1914. Das Zitat bezieht sich auf den Wunsch des Vorsitzen­ den, dass sich mehr Frauen an den Aufklärungen über Krankheiten und deren Behand­ lung bzw. Verhütung beteiligen. 71 IGM/Varia 484, 30. November 1915. 72 LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 4, S. 26.

160 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Vereinsgeschehen einzubinden und sie zu Hausärztinnen zu stilisieren. Doch dürfte klar sein, dass mit dem Ausbruch des Krieges und der monate­ und jahrelangen Abstinenz der Ehemänner diese Stilisierung weiterbefördert wurde. Die Frauen und Mütter waren plötzlich alleinverantwortlich für das finanzielle, materielle und körperliche Wohlergehen ihrer Familie. Angesichts der spezifischen Sozial­ und Altersstruktur der homöopathischen Laienbewe­ gung werden nicht wenige weibliche Vereinsmitglieder zudem zur Kompensa­ tion des zunehmenden Arbeitskräftemangels herangezogen worden sein.73 Obwohl Frauen in die „heilige Pflicht“ genommen und die Belastungen mit Dauer des Kriegs immer größer wurden, erfuhren sie von den Vereinen nur wenig Unterstützung. Lediglich die homöopathischen Zeitschriften waren bemüht, sich Frauen und ihrer gefährdeten Gesundheit in zahlreichen Arti­ keln anzunehmen.74 Auf der praktischen Ebene hielt sich die Hilfe allerdings in Grenzen: Die wenigen veranstalteten Vorträge, deren Zahl im Laufe des Krieges weiter abnahm, betrafen kein einziges Mal dezidiert den weiblichen Körper oder die Gesundheit von Frauen. Aufgeklärt wurden die Mitglieder freilich über ansteckende und Kinderkrankheiten, deren Verhütung und homöopathische Behandlung. Ebenso über Säuglingspflege, Ernährung oder effizientes Kochen. Die Thematisierung und Vorbeugung von Frauenleiden wie Regel­ und Unterleibsbeschwerden blieb aber den Periodika vorbehalten. Dieser Umstand verwundert umso mehr, als solche Themen vor dem Krieg fester Bestandteil einiger Vereinsprogramme waren. Nun konzentrierte sich die Arbeit in vielen Vereinen auf die eingezogenen Männer und den Schutz der Kinder, wohingegen Frauen an dritter und letzter Stelle standen. Dennoch konnten Frauen durchaus auf die Hilfe durch den Verein hoffen: die Familien der Ausmarschierten wurden von den Beitragszahlungen befreit, manche Ver­ eine richteten zudem eigens einen Unterstützungsfonds ein. Der mitglieder­ starke Verein Hoerde beispielsweise verausgabte „an Unterstützungsgelder[n] für die Angehörigen der im Felde stehenden Mitglieder“ beachtliche 1300 Mark. Zum Zeitpunkt des Beschlusses hatte der Verein 110 Mitglieder, jede Familie erhielt demnach eine finanzielle Zuwendung von 11,80 Mark.75 73 Vgl. Eckart (2014), S. 253–255, insbesondere S. 254: „Hinzu [zum mangelnden Arbeits­ schutz der Frauen] kam, dass typisch männliche Arbeiten wie etwa in Kesselhäusern, auf Schiff­ und U­Bootwerften, in Bergwerken, Schmiede­ und Schlosserwerkstätten oder bei Straßen­ und Eisenbahnen Frauen auf diesen ungewohnten Posten körperlich vollkom­ men überforderten, wobei die allgemeine Nahrungsmittelknappheit das Belastbarkeits­ defizit noch verschärfte. Nach den üblichen Tagesschichten von 10 und mehr Stunden waren Hausarbeiten zu erledigen und Kinder zu versorgen, so dass bei vielen Arbeiterin­ nen noch erhebliche Schlafdefizite hinzutraten, ganz abgesehen von der Sorge um ihre Ehemänner an den Fronten.“ 74 Fester Bestandteil der HM war die Rubrik „Für Frauen und Mütter“, in der Frauenkrank­ heiten und ­themen behandelt wurden. In der LPZ ging es während des Krieges auffal­ lend häufig um Menstruationsbeschwerden. Zur „Kriegsamenorrhoe“ und der Prävalenz anderer Frauenkrankheiten während des Ersten Weltkriegs siehe: Eckart (2014), S. 244– 262. 75 Dabei wird angenommen, dass von ausnahmslos jeder dem Verein angehörenden Fami­ lie mindestens ein Mitglied „ausmarschierte“. Das dürfte jedoch nicht der Fall gewe­

3.3 Vereinsleben während des Ersten Weltkriegs

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Den Ehefrauen der Soldaten gewährte der Verein zusätzlich weitere 300 Mark, umgerechnet also jeweils 2,70 Mark. Damit stand er nicht allein: wäh­ rend der Gablenberger Verein seinen ausmarschierten Mitgliedern Schoko­ lade und Zigaretten schickte, wurden „den Frauen derselben ein kleines Weihnachtsgeschenk im Betrag von je 2 M übergeben“76. Auch der Laienver­ ein Radevormwald ließ es nicht an finanzieller Unterstützung seiner Mitglie­ der fehlen; die er sich auch leisten konnte, hatte er in den Vorkriegsjahren durch den Verkauf von Medikamenten doch einiges Kapital angehäuft. So spendete er im Oktober 1914 1.000 Mark an die Soldaten der Gemeinde bzw. deren Angehörigen. Weitere 500 Mark gingen an die Familien der eingezoge­ nen Vereinsmitglieder, „da uns dieselben doch immerhin die nächsten sind“77. Es ist nicht bekannt, wie viele Mitglieder zu diesem Zeitpunkt am Krieg teil­ nahmen, vermutlich aber zwischen 50 und 60.78 Jeder Familie standen dem­ nach zwischen acht und zehn Mark zu. Weitere Zuwendungen blieben da­ nach, abgesehen von mehreren Kriegsanleihen79 in Höhe von 1000 Mark, al­ lerdings aus. Neben den thematisch teilweise an den Krieg angepassten Vorträgen und der finanziellen Unterstützung nutzten die Laienvereine auch die anderen etablierten Praktiken, um den Mitgliedern beizustehen und wohl auch, um ihnen ein Gefühl von Kontinuität und Normalität zu vermitteln. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem die botanischen Wanderungen, die im Sommer 1915 von etlichen Vereinen veranstaltet und, glaubt man den Berichten, zahlreich besucht waren. Aufrechterhalten wurde ebenso die Pflege und der Erweiterung der Vereinsapotheken und ­bibliotheken. Aus den Be­ richten geht hervor, dass letztere von den Mitgliedern mitunter stark in An­ spruch genommen wurden, was für ein gesteigertes Bedürfnis nach Selbstme­ dikation und medizinischer Selbsthilfe spricht.80 Teils wurden die Mitglieder gezielt im Umgang mit der homöopathischen Ratgeberliteratur und der An­ wendung von Arzneimitteln geschult. Der zweite Vorsitzende des homöopa­ thischen Vereins Dresden­Neustadt nahm sich in einem Vortrag beispielsweise der Fragen an: „Für wen sind unsere Lehrbücher geschrieben? Wie sind un­ sere Lehrbücher zu gebrauchen? Wie muß man Arzneien anwenden?“81 Die

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sen sein, weswegen der Betrag, den die betroffenen Familien erhielten, vermutlich höher war. HM 40 (1915), Beilage Nr.  4, S.  14. Ebenso im Jahr darauf: HM 40 (1915), Beilage Nr. 12, S. 45. StA Radevormwald, Kasten 6 / Akte 1, S. 18. Oktober 1914. Wie weiter oben bereits angeführt wurde, kämpften 1917 75 Mitglieder an den Fronten. Es ist deshalb davon auszugehen, dass deren Zahl Ende 1914 geringfügig niedriger war. Kriegsanleihen wurden von vielen Vereinen und Verbänden in unterschiedlicher Höhe gezeichnet. Ab 1917 sind plakative Werbeanzeigen fester Bestandteil der homöopathi­ schen Zeitschriften. Etwa in Reutlingen: IGM/Varia 484, Jahresbericht 1916 und 1917. Der Verein beschloss einige Neuanschaffungen, darunter eine Arzneimittellehre sowie je ein Buch über Anato­ mie und die Wechseljahre der Frau. LPZ 46 (1915), Beilage Nr. 9, S. 44.

162 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) Versorgung mit Medikamenten gewährleisteten indessen Absprachen mit den örtlichen Apothekern, bei denen teils Vergünstigungen sowie die Rückzah­ lung von zehn Prozent der bezogenen Arzneien vereinbart werden konnten.82 Es ist möglich, dass auch die daheimgebliebenen Mitglieder wegen des nied­ rigen Preises die gut ausgestatteten Kriegsapotheken benützten. Bliebe zuletzt noch die Frage nach der Akzeptanz und Inanspruchnahme der vereinsseitigen Angebote während des Ersten Weltkriegs: Die einseitige Quellenlage lässt kaum Rückschlüsse zu, wie die Mitglieder im Einzelnen die Bemühungen ihrer Vereine reflektierten. In die Protokollbücher wurde nicht eingetragen, ob das Gebotene auf Gegenliebe oder Kritik stieß. Aus Fellbach ist lediglich bekannt, dass manche Vereine, die den Ausmarschierten und ih­ ren Angehörigen keine Vergünstigungen boten, mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen gehabt hätten.83 Während der Krieg den Alltag einiger Vereine scheinbar kaum beein­ trächtigte84, hatten andere den gesamten Krieg hindurch mit einem mangeln­ den Besuch ihrer Vorträge und Versammlungen zu kämpfen. Von einem ein­ geschränkten Vereinsleben zeugen auch die zwischen 1914 und 1918 nur spärlich verfassten Protokolleinträge der untersuchten Vereine sowie die spür­ bare Abnahme der Vereinsberichte in den Beilagen der homöopathischen Zeitschriften. Nicht nur umfassen sie nur wenige Seiten oder Zeilen, auch ist darin häufig vom schwachen, mäßigen oder schlechten Besuch zu lesen. Es zeigte sich also recht bald, dass das aus Friedenszeiten gewohnte Jahrespro­ gramm quantitativ wie qualitativ nicht beibehalten werden konnte. Die Gründe sind dabei in den äußeren Umständen, sicherlich aber auch im ge­ sunkenen Interesse der Mitglieder zu suchen, das mit der Dauer des Krieges und der Zunahme der Belastungen für die Zivilbevölkerung nur noch weiter abnahm. Die Vereine bemühten sich zwar sichtlich um kriegsspezifische Auf­ klärung und Anleitung zur Selbsthilfe und reagierten dabei zum Teil auch auf die Wünsche ihrer Mitglieder, der Wille zur Wissensaneignung litt allerdings unter dem Krieg. Größeren Zuspruch erfuhren letztlich nur noch diejenigen Vereinspraktiken, die einen greif­ und verwertbaren materiellen Vorteil boten. Gegen Ende des Krieges waren der Überdruss und die Not derart groß, dass die Vereinsleitungen ihnen weder konkrete Hilfe noch Durchhalteparo­ len, sondern nur noch die Sehnsucht nach Frieden entgegenzusetzen hatten. So schloss der Vorsitzende des Vereins Radevormwald, der sich im August 82 IGM/Varia 64, Protokoll Januar 1915. 83 IGM/Varia 68, 24. Februar 1917. 84 Der Homöopathische Verein Neugersdorf (bei Zittau) konnte im Juni 1917 verkündigen: „Die Tätigkeit im verflossenen Jahre war immer eine rege. Zwölf Versammlungen, in je­ dem Monate eine, ausgefüllt mit Vorträgen und Vorlesungen, wurden abgehalten, wobei unser Vorsitzender, Herr Kneschke, wie immer den Hauptanteil an denselben leistete. Der Verein ist auch dieses Jahr in seiner Mitgliederzahl gestiegen; die Durchschnittszahl der Besucher hat sich von 35 auf 40 Personen erhöht“ (LPZ 48 (1917), Beilage Nr.  6, S. 22). 1913 hatte der Verein laut der Liste des sächsischen Landesvereins 63 Mitglieder. Es nahm also gut die Hälfte an den regelmäßigen Veranstaltungen teil, was in Anbe­ tracht der äußeren Umstände keine Selbstverständlichkeit war.

3.4 Vereinslazarette und öffentliches Engagement

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1914 noch in patriotischen Floskeln erging, die im Februar 1918 abgehaltene Generalversammlung mit dem Wunsch, „daß der Friede bis zur nächsten Ta­ gung eingekehrt sei“85. Und in Metzingen musste der Vorsitzende Thomas Laib kurze Zeit später ebenfalls anlässlich einer Generalversammlung geste­ hen, dass es über das vergangene Jahr wenig zu berichten gebe, „denn wir leben immer noch in der schrecklichen Zeit des Krieges, mögen wir doch von dieser schrecklichen Kriegszeit bald hinaus blicken in eine friedliche und freundliche Zeit, daß das Vereinsleben neu aufblühen kann.“86 3.4 Vereinslazarette und öffentliches Engagement Der Ausschuss der Hahnenannia beschloss kurz nach Ausbruch des Krieges, in Stuttgart ein homöopathisches Lazarett einzurichten, das im September 1914 zunächst 50 Betten, später dann um zwei weitere Stockwerke erweitert, ab 1. Oktober 1915 über 85 Betten verfügte.87 Trotz etlicher Schikanen seitens der Behörden, die schließlich darin gipfelten, dass dem Lazarett nur noch chirurgisch zu behandelnde Verwundete zugewiesen wurden88, konnte sich das Lazarett den ganzen Krieg hindurch bis zur Auflösung am 31. März 1919 halten und insgesamt etwa 1.000 Patienten behandeln. Dazu beigetragen hat sicherlich der Umstand, dass das Lazarett finanziell nicht nur von der Hahne­ mannia, sondern auch vom Zentralverein Homöopathischer Ärzte und vor allem vom Stuttgarter Industriellen Robert Bosch (1861–1942) getragen wur­ de.89 Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Lazarett­ betriebs leisteten allerdings auch die Laienvereine und Anhänger der Ho­ möopathie, sei es durch Geld­ oder Naturaliengaben (vor allem Lebensmittel wie Obst, Gemüse, Eingemachtes, aber auch Kleidungsstücke, Rohstoffe und Zigaretten).90 So folgten außer Laichingen und Rohracker (die Protokollbü­ cher weisen keinen entsprechenden Einträge auf) alle näher untersuchten 85 StA Radevormwald Kasten Nr. 6 / Akte 1, 23. Februar 1918. 86 IGM/Varia 36, 10. März 1918. 87 Eppenich (1995), S. 118; Faltin (2002), S. 26 f.; Eisele (2011), S. 205; vgl. auch HM 40 (1915), S. 109. 88 Eisele (2011), S. 206. Das Lazarett war dazu auch in der Lage, war es doch mit einem Operationsraum und sogar einer Röntgenabteilung ausgestattet. 89 Zum Verhältnis zwischen Robert Bosch und der homöopathischen Laienbewegung siehe: Allmendinger (1996). 90 Der Ausschuss der Hahnemannia förderte die Abgabe von Sachspenden gezielt durch entsprechende Aufrufe zu Beginn einer jeden Monatsausgabe. Die Oktober­Ausgabe 1915 beginnt beispielsweise mit der Bitte: „Im Laufe des mehr als einjährigen Lazarett­ betriebs haben unsere Bestände an Leibwäsche, Hemden, Unterhosen und namentlich Socken sehr große Lücken bekommen, weil wir die jeweils zur Entlassung kommenden Genesenen an Stelle der von ihnen mitgebrachten zerrissenen oder sonst sehr stark ab­ genützten Sachen ganz mit guter Leibwäsche ausstatten. […] Da der Bedarf aber in letz­ ter Zeit besonders groß war, weil das Lazarett seit Wochen fast bis auf das letzte Bett be­ legt war und von Ende Oktober an um weitere 15 Betten vergrößert ist, so wären wir für Gaben der genannten Art sehr dankbar. Gaben an Obst und Gemüse sind uns ebenfalls

164 3. Die homöopathische Laienbewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) württembergischen Vereine den wiederholten Aufrufen der Hahnemannia zur Unterstützung des Lazaretts, hauptsächlich durch Geldspenden: Der Vor­ sitzende des Vereins Reutlingen regte beispielsweise 1914 die bis Kriegsende beibehaltene vierteljährliche Zahlung von 25 Mark an. Darüber hinaus bat er die Mitglieder, sich ebenfalls in eigener Sache an der Spendenaktion zu betei­ ligen91, und veranstaltete im Juni 1917 und Januar 1918 zusätzliche Sammlun­ gen, die nochmals insgesamt 147,50 Mark einbrachten. Sachspenden sind für die letzten Kriegsjahre allerdings keine belegt; vermutlich behielten die Mit­ glieder die von ihnen selbst benötigten Gegenstände und trennten sich lieber von Geld. Auch der Homöopathische Verein Stuttgart­Wangen führte im Laufe des Krieges nachweislich mindestens 210 Mark an die Lazarettverwal­ tung ab, der Verein Nagold 118,50 Mark. Die knapp 500 Laienhomöopathen aus Fellbach steuerten, gemessen an ihrer Gesamtzahl, dürftige 60 Mark bei. Der Verein Gablenberg ermöglichte seinen Mitgliedern sogar, sich persönlich von der Einrichtung und Arbeit des Lazaretts zu überzeugen: Am 19. Septem­ ber 1915 veranstaltete er einen Ausflug in die Friedrichstraße, an dem etwa 40 Personen (die Hälfte davon waren Frauen) teilnahmen. Die Führung durch das Lazarett übernahm der eigens erschienene Vorsitzende der Hahnemannia Immanuel Wolf (1870–1964), der im Anschluss noch einige, mit „großem In­ teresse“ verfolgte, Lichtbilder vorführte. Was diese Bilder zeigten, geht aus dem kurzen Bericht nicht hervor. Die Vereine spendeten teils beträchtliche Summen – 647,50 Mark allein der Verein Reutlingen  – nicht nur an die homöopathischen Lazarette, son­ dern auch an das Rote Kreuz und andere Hilfseinrichtungen. Besonders her­ vorgetan hat sich diesbezüglich der Homöopathische Verein Radevormwald: bereits am 17. August wurde im Rahmen einer eigens einberufenen Haupt­ versammlung beschlossen, dem Vaterländischen Frauenverein sowie dem Ro­ ten Kreuz 1.000 Mark zu übermitteln.92 Diesem Beispiel folgten auch andere Vereine. Allerdings fielen die Summen dort meist wesentlicher geringer aus, was nicht zwingend mit fehlender Freigebigkeit, sondern eher mit der gerin­ geren Finanzkraft der Vereine zusammenhing. Schließlich bedeuteten auch die Liebesgaben und sonstigen Aufwendungen eine Belastung der Kasse, in die noch dazu infolge der Beitragsbefreiung weniger Mitglieder als vor dem Krieg einzahlten. Nun mag man sich fragen, ob die hohe Spendenbereitschaft der homöo­ pathischen Laienbewegung rein philanthropisch und altruistisch motiviert war. Für die Einzel­ oder Mitgliederspenden gesprochen kann das ohne Um­ schweife bejaht werden, nicht aber für die offiziellen Vereinsspenden. Letztere dienten wie, bereits erwähnt, immer auch dem höheren Zweck, eine positive Öffentlichkeitswahrnehmung der Bewegung sowie der Homöopathie im All­ immer noch sehr willkommen, sowohl zum sofortigen Gebrauch als auch zur Versorgung des Lazaretts für den kommenden Winter“ (HM 40 (1915), S. 109). 91 IGM/Varia 484, Jahresbericht 1914. 92 StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, Datum wie genannt. Aus dem Protokolleintrag geht nicht hervor, ob jeweils oder insgesamt 1.000 Mark gespendet wurden.

3.4 Vereinslazarette und öffentliches Engagement

165

gemeinen zu bewirken. Dies lässt sich am Beispiel des Deutschen Zentralver­ eins homöopathischer Ärzte anschaulich belegen: Der Ärzteverein spendete im August 1914 10.000 Mark an das Berliner Homöopathische Krankenhaus und damit indirekt an dessen Träger, das Rote Kreuz.93 In einem Bericht über das Geschäftsjahr 1914/1915 heißt es diesbezüglich: Was nun die Spende von 10 000 Mark an das Berliner Krankenhaus anlangt, so war von einer dem Direktorium befreundeten Seite eine Mitteilung an alle Leipziger Tagesblätter sowie an die Berliner Zeitung, Vossische Zeitung, Allgemeine Königsberger Zeitung, Hamburger Nachrichten, Schlesische Zeitung, Magdeburgische Zeitung, Frankfurter Zeitung, Kölnische Zeitung und Dresdener Anzeiger geschickt worden. Soweit dem Direktorium bekannt ist, hat keine dieser Zeitungen irgendwie Notiz davon genommen. Auch das Zentralkomitee vom Roten Kreuz hat es nicht für nötig erachtet, diese für un­ seren Verein doch wirklich reiche Spende zu veröffentlichen.94

Deutlich wird, dass die Homöopathen ein großes Interesse daran hatten, die Nachricht über ihre Verdienste und finanziellen Opfer in die Öffentlichkeit zu tragen. Deutlich wird aber auch, dass die Presse von diesen rühmlichen Be­ strebungen ganz offensichtlich keine Notiz nahm und das Rote Kreuz nicht einmal dankbare Worte an den Zentralverein zu richten wusste. Eine lapidare Anerkennung der beträchtlichen Spende erhielt der Verein erst, nachdem sein Geschäftsführer das Zentralkomitee zu einer Stellungnahme aufforderte. Angesichts dieser latenten Ignoranz, die der homöopathischen Laienbewe­ gung entgegengebracht wurde, darf bezweifelt werden, ob das vereinsexterne soziale und finanzielle Engagement der Laienhomöopathen von der Öffent­ lichkeit überhaupt wahrgenommen wurde. Durch ihren Aufenthalt in einem homöopathischen Lazarett werden die verwundeten Soldaten zwar mit der Homöopathie in Berührung gekommen sein. Um zur Verbreitung der Heil­ methode beitragen zu können, hätte es aber wesentlich mehr solcher Laza­ rette geben müssen. Ihre Arbeit, wenngleich wichtig und verdienstvoll, war lokal begrenzt und fand deshalb keinen Eingang ins kollektive Bewusstsein. Daran hätte auch eine wohlwollende und regelmäßige Berichterstattung in der Tagespresse wohl kaum etwas ändern können.

93 HM 40 (1915), S. 93. 94 HM 40 (1915), S. 93 f.

4. „Krankheiten verhüten und Gesundheit pflegen“1 – Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) 4.1 Nachkriegs- und Inflationsjahre Waren die vielfältigen Bemühungen der homöopathischen Laienbewegung um öffentliche wie staatliche Anerkennung ihrer Heilmethode weitgehend ge­ scheitert, weckte das Kriegsende und mehr noch der Regierungswechsel neue Hoffnungen. Bereits im Januar 1919 wandte sich Immanuel Wolf an die Leser der Homöopathischen Monatsblätter, um selbige auf den nun anbrechenden Neu­ beginn einzustimmen: Die Pflicht aller solle es sein, „mit neuer Kraft, unter ganz neuen staatlichen Verhältnissen, deren Art und Dauerhaftigkeit wir im vollen Umfang noch gar nicht kennen, aus Trümmern wieder aufzubauen, halb entflohenes Leben wieder anzufachen, neuen Boden zu gewinnen“2. Günstiger denn je sei die Zeit, haben doch die jüngeren naturwissenschaftli­ chen, chemischen und medizinischen Forschungen Ergebnisse zu Gunsten der Homöopathie geliefert und die Kriegsapotheken sie mit „weitesten Volks­ kreisen“ in Berührung gebracht. An ihnen, den Anhängern der Homöopathie, läge es, diesen fruchtbaren Boden in der Folgezeit zu bestellen und empfängli­ che Laien und Ärzte zu belehren und zu fördern. Gelingen könne dies bei­ spielsweise, wenn Abonnenten Probenummern der Monatsblätter an Interes­ sierte verteilen oder Werbevorträge zur Gründung neuer Zweigvereine gehal­ ten würden.3 Neu an diesen eindringlichen Worten war weniger die Indienst­ nahme des Einzelnen für die Verbreitung der Homöopathie, sondern der na­ tionale und politische Kontext, in den Wolf seine beiden Appelle explizit stellte. Ähnlich drückte sich auch der homöopathische Arzt Heinrich Moeser in derselben Ausgabe der Monatsblätter aus. Um den schwieriger gewordenen „Kampf ums Dasein“ erfolgreich durchfechten zu können, „haben wir eine recht feste Gesundheit unter allen Umständen nötig und müssen uns deren Erwerbung und Sicherung Mühe und Opfer kosten lassen“4. Wie Wolf sieht auch Moeser die homöopathischen Laienvereine in der Pflicht. Sie sollten nicht wie bisher bloße „Pflegestätten der Lehre Hahnemanns“, sondern Horte der Volksgesundheitspflege und Erzieher zu naturgemäßem Leben sein. Denn nur ein körperlich wie geistig gesundes Volks könne dem gegenwärtigen und noch unbestimmte Zeit anhaltenden schweren Druck standhalten.5 Im Januar 1 2 3

4 5

IGM/Varia 64, 16. Februar 1930. HM 44 (1919), S. 2. Woran sich manche Vereine auch hielten: Der Vorsitzende des Homöopathischen Ver­ eins Laichingen hielt im rund 50 Kilometer entfernten Sontheim einen Vortrag über „Die Bedeutung der Homöopathie für die ländliche Bevölkerung“. Es erklärten darauf­ hin 15 Männer zur Gründung eines homöopathischen Laienvereins bereit (IGM/Varia 64, 24. Juni 1928). HM 44 (1919), S. 8. HM 44 (1919), S. 3.

4.1 Nachkriegs­ und Inflationsjahre

167

1920 bekräftigte Wolf, ebenfalls in den Homöopathischen Monatsblättern, seine Ansichten: Die Sorge für diese gesundheitlichen Angelegenheiten ist deshalb eine Pflicht und Auf­ gabe des gesamten Volkes und nicht nur eines hier besonders interessierten Volksteiles. Dem Volke diese Pflicht und Aufgabe klarzumachen und es zur Mitarbeit zu ermuntern, ist eine der wichtigsten Aufgaben unserer Vereine.6

Das bedeutete nichts weniger als die Hebung der Volksgesundheit durch Selbstreform, womit sich die Laienhomöopathie der Lebensreform annäherte: „Viele lebensreformerische Publikationen, vor allem die Kundenzeitschriften der Reformhäuser […] klärten ihre Leserinnen und Leser zwischen 1918 und 1945 auch konkret darüber auf, wie das Leben zu steigern sei, auf daß es le­ bendiger, vitaler werde: vor allem mit Körperpflege und Körperkultur, also mittels Bewegung, Hygiene und Reinlichkeit, mit, wie man es nannte ‚Erzie­ hung zu Kraft und Schönheit‘. Über die Gesundheit der Einzelkörper sollte sich, so die Vorstellung der Lebensreformer, auch die Lebenskraft des deut­ schen V ‚ olkskörpers‘ verbessern“7. Die kollektive Erfahrung des Krieges und seine katastrophalen Folgen für die Bevölkerung politisierten das Selbstverständnis der homöopathischen Laienbewegung. Neben die bisherigen Ziele und Ansprüche  – Verbreitung und Institutionalisierung der Homöopathie  – trat nun die Sorge um die in­ folge von Krieg, Unterernährung und Grippeepidemien schwer angeschlage­ nen „Volkskörper“. In ihrem Zeichen hatte der Neubeginn zu stehen, die Be­ lehrungen sollten sich an das ganze Volk richten und nicht länger nur an die örtliche Bevölkerung. Umgekehrt war der Einzelne zur aktiven Mit­ und Selbsthilfe und damit zur Beteiligung an der Hebung der Volksgesundheit aufgerufen. Die Bewegung stand damit keineswegs abseits, auch der neuge­ gründete Staat versuchte seinerseits, die eklatanten gesundheitlichen Miss­ stände durch „planmäßige Heranziehung“ gefährdeter Schichten zu Untersu­ chung, Fürsorge und gesundheitlicher Beratung in den Griff zu bekommen.8 Technisierte und spezialisierte medizinische Therapieangebote hatten sich zuvor als wenig wirksam erwiesen – gerade im Hinblick auf chronische Krank­ heiten, die im Zuge der epidemiologischen Transition die Infektionskrankhei­ ten abzulösen begannen. Ausdruck fanden die gesundheits­ und sozialpoliti­ schen Bestrebungen der Regierung beispielsweise in der Novellierung der Reichsversicherungsordnung. Im Kaiserreich war die Gesetzliche Kranken­ versicherung (GKV) in erster Linie auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, nicht aber auf die Bezahlung von krankheitsvorbeugenden Maßnahmen aus­ gelegt; die Kosten für gesundheitsstabilisierende Angebote trug, wenn über­ haupt, die Invalidenversicherung.9 Das sollte sich mit dem sich allmählich wandelnden Morbiditäts­ und Mortalitätsverhältnis und der zunehmenden Bedeutung der Sozialhygiene ändern: Nach dem Ersten Weltkrieg sorgten 6 7 8 9

HM 45 (1920), S. 2. Fritzen (2006), S. 193. Moser (2002), S. 96; Madarász (2010), S. 144. Moser (2002), S. 98.

168 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) gesetzliche Modifizierungen dafür, dass die GKV fortan auch präventivmedi­ zinische Leistungen erstatten konnte.10 Auch die medizinische Infrastruktur wurde in der Weimarer Republik mit der Einrichtung sozialhygienischer Für­ sorgestellen wie der Jugend­, Gesundheits­ und Wohlfahrtsämter weiter ausge­ baut.11 Ihre Aufgaben lagen in der Unterstützung „biologisch wertvoller“ Gruppen wie Säuglinge, Klein­ und Schulkinder und Mütter sowie in der Kontrolle gesundheitsgefährdeter und ­gefährlicher Menschen.12 Im Kontext der staatlichen Gesundheitsfürsorge sind auch die zahlreichen Aufklärungs­ kampagnen zu sehen, unter denen besonders die Hygieneausstellungen her­ vorstechen.13 Die bedeutendste dieser öffentlichkeitswirksamen Gesundheits­ schauen war die 1926 in Düsseldorf veranstaltete und von 7,5 Millionen Men­ schen besuchte Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Lei­ besübungen (GeSoLei) zu nennen. Gemäß des Titels ging es den Ausstel­ lungsmachern um die Vermittlung von „Gesundheitserziehung und ­aufklä­ rung, persönliche Hygiene, Ratschläge in Wohnungs­ und Ernährungsfragen, Sportpropaganda, sexuelle Aufklärung, Alkoholismusbekämpfung und schließ­ lich Rassenhygiene“14. Diese und andere derartige Veranstaltungen verfolgten damit das übergeordnete Ziel, „so etwas wie eine Gesundheitsethik zu entwi­ ckeln und die generelle Pflicht zur Gesundheit zu propagieren, die die sozial­ politisch notwendige Forderung nach dem Recht auf Gesundheit unterlief“15. Eine solche Gesundheitsethik schwebte offenbar auch dem homöopathischen Arzt Heinrich Moeser vor, wenn er 1920 in den Homöopathischen Monatsblättern die Frage „Recht auf Gesundheit oder Pflicht zur Gesundheit?“ folgenderma­ ßen beantwortete: Zweifellos gehört die Pflicht, unsere Gesundheit zu erhalten, mit zu unseren wichtigsten Lebenspflichten. Wir sind ins Leben gestellt mit bestimmten Aufgaben. Diese Aufgaben haben nicht nur unser persönliches Glücklichwerden zum Ziel. Wir sollen nicht nur für uns leben, sondern füreinander. Wer rücksichtslos nur sein eigenes Wohlergehen sucht, wird sein Ziel unbedingt verfehlen.16

Wie sich noch zeigen sollte, konnte die homöopathische Laienbewegung mit ihren Bemühungen um die Volksgesundheit an diese Themen und Absichten, die auf die Beseitigung konkreter Missstände durch vorausschauende Maß­ nahmen abzielten, ohne Schwierigkeiten anknüpfen. Immanuel Wolfs an die Laienhomöopathen gerichteten Worte: „Rafft euch auf zu gemeinsamer Arbeit, zu einheitlichem Zusammenschluß!“17 ver­ fehlten ihren Zweck nicht. Aus den Protokollbüchern aller württembergi­ 10 11 12 13 14 15 16 17

Moser (2002), S. 98; Büttner (2008), S. 372. Stöckel (2002), S. 71. Stöckel (2002), S. 72. Zu den Hygieneausstellungen in Kaiserreich und Weimarer Republik siehe: Münch/La­ zardzig (2002). Wuttke­Groneberg: Medizinische Reformbewegung (1982), S. 283. Wuttke­Groneberg: Medizinische Reformbewegung (1982), S. 283. HM 45 (1920), S. 93. HM 44 (1920), S. 66 f.

4.1 Nachkriegs­ und Inflationsjahre

169

schen18 Laienvereine geht hervor, dass dem „Wesen der Homöopathie“19 – so der Titel eines im November 1919 in Laichingen gehaltenen Vortrags – unmit­ telbar nach der Wiederaufnahme der Vereinstätigkeit größte Beachtung ge­ schenkt wurde. Vor allem die Vereine Laichingen und Reutlingen taten sich hervor; zwischen 1919 und 1932 veranstalteten sie insgesamt 20 Vorträge über die homöopathische Heilmethode im Allgemeinen. Manche Vereine gingen in ihrer Aufbruchsstimmung sogar noch weiter, etwa derjenige in Reutlingen: Ein Mitglied bot den Druck einer Flugschrift „mit dem Inhalt unserer neuen Forderungen“ an. Sie sollten dann an die maßgebenden Her­ ren verteilt werden, damit jene vor der Regierung im gewünschten Sinne vor­ sprechen.20 Beschlossen wurde daraufhin, 100 solcher Schriften anzuschaffen. Über ihren Erfolg schweigt sich der Schriftführer allerdings aus. Gänzlich aus­ geblieben wird er wohl nicht sein, schließlich regten die Laienhomöopathen in Reutlingen einige Jahre später die Verteilung solcher Werbeblätter durch den Verband an.21 In Stuttgart­Wangen ließ der Homöopathische Verein meh­ rere Werbeplakate anfertigen, die man an exponierten Stellen im Ort aus­ hing – allerdings ohne die gewünschte Wirkung zu erzielen, wie der Schrift­ führer vermerkte.22 Am eindringlichsten und konsequentesten aber folgte der Vorsitzende des Vereins Rohracker Emil Ohnmeiß dem Aufruf Wolfs. In sei­ ner ersten Ansprache nach der Kriegsheimkehr beklagte er den allgemein schlechten Gesundheitszustand sowie den Mangel an homöopathischen Ärz­ ten. Er hielt die Mitglieder deshalb dazu an, gemeinsam „an dem höchsten Gut des Staates“, nämlich „an der Hebung der Volksgesundheit“ zu arbei­ ten.23 Man solle die trennenden politischen Meinungsverschiedenheiten, die es auch anderswo gab24, überwinden und als „Freunde zusammenkommen und als Freunde auseinandergehen“25. Nur so könne der „Entscheidungs­ kampf“26 gegen die Widersacher geführt und Gleichberechtigung auf dem Gebiet der Heilkunde errungen werden. Auch setzte Ohnmeiß Hoffnungen in den noch jungen Staat, die er allerdings schon im Januar 1921 zerschlagen sah: „Als die Arbeiterpartei ans Ruder kam, ging ein erwartungsvolles Rau­ nen durch die Presse der Freunde der Homöopathie, aber auch hier haben wir uns getäuscht, wohl werden verschiedene Millionen ausgegeben, aber das sind nur Tropfen auf einen heißen Stein“. Ohnmeiß fügte hinzu, dass, wenn es so bliebe, „Glemaso“ recht damit behielte, „daß noch 15 Millionen Deutsche 18 Die regionale Differenzierung ist hier wichtig, denn ein ähnliches massives Werbeaufge­ bot ist aus Sachsen oder dem Rheinland nicht bekannt. Das könnte damit zusammen­ hängen, das in der LPZ das Kriegsende und die Weimarer Regierung mit relativer Gleichgültigkeit und nicht als Wendepunkt aufgenommen wurde. 19 IGM/Varia 64, November 1919, Datum unbekannt. 20 IGM/Varia 484, 11. Mai 1919. 21 IGM/Varia 484, Jahresbericht 1924. 22 IGM/Varia 372, 28. Oktober 1923. 23 IGM/Varia 72, 2. Februar 1919. 24 Etwa im Verein Heidenheim: Wolff (1989), S. 180 f. 25 IGM/Varia 72, 22. August 1920. 26 IGM/Varia 72, 22. August 1920.

170 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) zu viel auf der Welt sind“27. Der Ausspruch des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau (1841–1929), dessen Namen der Schriftführer verballhornte, zeigt, dass der Vereinsvorsitzende rege am außen­ politischen Tagesgeschehen teilnahm und es in seine Ansprachen einfließen ließ. Außerdem nutzte er es zur Illustration seiner gesundheitspolitischen Überzeugungen, denn abermals beschwor er den bedauernswerten Gesund­ heitszustand der Bevölkerung und forderte die Mitglieder zu Zusammenhalt und Arbeit an der Volksgesundheit auf. Namentlich die arbeitende Bevölke­ rung solle ihren Körper pflegen und den Körperbau des Menschen studieren, wozu die Vereinsbibliothek geeignet sei.28 Dass nicht nur der von der Bewe­ gung bisher vernachlässigte Gedanke der Prävention, sondern die jüngere De­ batte der Erbgesundheit29 auf die Laienvereine überspringen konnte, wird erneut am Beispiel Rohracker erkennbar: Emil Ohnmeiß klärte die Vereins­ mitglieder neben ihrer Pflicht zur Gesunderhaltung über die vermeintlichen Folgen unbedachter Fortpflanzung auf: „Euch Väter möchte ich sagen, klärt eure Kinder beizeiten auf, daß sie nicht gleichgültig in die Ehe treten, daß nicht mehr aus soviel Ehen geistige und körperliche Krüppel hervorgehen.“30 Den eben geschilderten Bemühungen zur Verbreitung der Homöopathie und Hebung der Volksgesundheit stand allerdings sowohl auf der Verbands­ als auch auf der Vereinsebene ein wesentliches Hemmnis entgegen: die seit 1914 schleichende und 1923 vollends ausbrechende Hyperinflation.31 Hatten die meisten homöopathischen Laienvereine während des Krieges kaum Aus­ tritte zu verzeichnen, so ging der Mitgliederstand Anfang der 1920er Jahre im Allgemeinen zurück. Einzig dem Verein Rohracker gelang es, den Schwund zu kompensieren und sogar neue Mitglieder zu gewinnen, was den unablässi­ gen Appellen und Bemühungen seines Vorsitzenden geschuldet gewesen sein dürfte. Andernorts brachen die Mitgliederzahlen hingegen drastisch ein. Ein Beispiel von vielen ist der Homöopathische Verein Heidenheim. Gehörten ihm bei Ausbruch des Krieges 515 Mitglieder an, nahm deren Zahl durch die Kriegsverluste und „unter den Einwirkungen der Inflation“ bis 1922 um mehr als die Hälfte ab und sank auf 225.32 Ähnlich verheerend wirkten sich die In­ flationsjahre auf den Mitgliederstand in Reutlingen aus. Dort betrug der zwi­ schen 1919 und 1923 erlittene Mitgliederverlust 35 % (414 auf 268). Die Gründe waren in beiden Fällen materieller bzw. monetärer Natur: Nicht nur war es vielen Mitgliedern, denen es „an kleinem Geld fehlt“33, schlicht nicht mehr möglich, in ihrer Notlage die Jahresbeiträge aufzubringen.34 Auch wa­ ren diese Beiträge in vielen Vereinen statutenmäßig fest an das Zeitschriften­ abonnement gekoppelt. Das machte in preisstabilen Zeiten Sinn, wurde den 27 28 29 30 31 32 33 34

IGM/Varia 72, 30. Januar 1921. IGM/Varia 72, 21. August 1921. Zur Eugenik siehe: Nate (2014), für die Weimarer Zeit besonders S. 296–333. IGM/Varia 72, 17. Februar 1924. Zur Inflation siehe ausführlich: Büttner (2008), S. 166–181; Mai (2009), S. 32–37. Vereinschronik Heidenheim (1926), S. 11. Vgl. Wolff (1989), S. 88 f. IGM/Varia 68, 23. Februar 1919. Zur „Inflationstrauma“ siehe: Schulz (2005), S. 29 f.

4.1 Nachkriegs­ und Inflationsjahre

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Vereinen nun aber zum Verhängnis. Denn direkt nach dem Kriegsende ver­ teuerte sich das Papier, was auf den Zeitschriftenpreis umgelegt werden und letztlich intensiv debattierte Beitragserhöhungen35 nach sich ziehen musste. Andere Vereine erkannten die Gefahr, die von dem gekoppelten Abonne­ ment ausging, und kündigten die Zeitschriften rechtzeitig. So etwa der Verein Fellbach, der bereits im März 1921 die Abbestellung der Leipziger Populären beschloss und seinen Mitgliedern deren Bezug freistellte. Die Preisdifferenz war beträchtlich: während der Monatsbeitrag „lediglich“ 50 Pfennig betrug, schlug das Abo mit einer Mark extra zu Buche und war damit doppelt so teuer wie die Vereinsmitgliedschaft. Es ist also Eberhard Wolff zuzustimmen, der angesichts ökonomischer Aspekte einen medizinisch­methodisch moti­ vierten Rückgang der Mitgliederzahlen sowohl während der Inflationszeit als auch während der Weltwirtschaftskrise für unwahrscheinlich hält.36 Für die Mitglieder zählte weniger die Loyalität gegenüber Verein und Homöopathie als vielmehr der konkrete materielle Nutzen, den eine Mitgliedschaft für sie bedeutete. Das wird auch an den mancherorts noch immer existierenden Ver­ einsapotheken deutlich. Obwohl die Preise auch hier in astronomische Hö­ hen kletterten, hielt man ihnen zunächst die Treue, denn „andernfalls laufen uns die Mitglieder davon und gerade die Apotheke hält unseren Verein zusammen.“37 An dieser Haltung änderte auch die Inflation nichts, im Gegen­ teil: die Apotheke sei das „Rückgrat des Vereins“, sie müsse trotz steigender Preise gehalten werden.38 Für einen gewissen Pragmatismus spricht auch, dass sich Mitglieder in zumindest einem Fall „vom anderen Lager, also schulmedi­ zinisch“ behandeln ließen.39 In der Rückschau relativiert sich daher auch der relativ gleichbleibende Mitgliederstand während des Ersten Weltkriegs: Die Beitragszahlungen entfielen entweder ganz oder wurden halbiert, während zeitgleich der Nutzen einer Vereinszugehörigkeit durch Liebesgaben und fi­ nanzielle Zuwendungen über das frühere Maß hinausging. Anfang der 1920er hatte sich das Verhältnis jedoch umgekehrt, verschärft durch hohe Arbeitslo­ sigkeit und Armut weiter Bevölkerungsteile. Die Kosten überstiegen nun die Vorzüge, zumal das (gesellige) Vereinsleben auch sonst aufgrund der politi­ schen und wirtschaftlichen Spannungen nur wenig zu bieten hatte. Erst als sich mit der Einführung der Rentenmark und Neuregelung der Reparations­ 35 Etwa in Reutlingen: „In den Ausschuß­Sitzungen gab es immer reiche Arbeit, besonders war darüber viel zu beraten, wie bringt man den Verein durch, wie hoch setzt man den Beitrag, um nicht den Mitgliedern vor den Kopf zu stoßen und hat man einen Beitrag bestimmt so mußte man nach 8 Tagen die leidliche Erfahrung machen, daß der be­ schlossene Beitrag nicht einmal ein Trinkgeld ist“ (IGM/Varia 484, Protokoll Januar 1923). 36 Wolff (1989), S. 89. 37 IGM/Varia 372, 9. November 1919. 38 So die Forderung eines Mitglieds des Vereins Stuttgart­Wangen: IGM/Varia 372, 13. De­ zember 1922. 39 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1928. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Vereinsleben wieder normalisiert, die Abwanderung kann also nicht an der allgemeinen Unzufrieden­ heit mit den Leistungen des Vereins gelegen haben.

172 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) verpflichtungen (Dawes­Plan) die Verhältnisse innen­ wie außenpolitisch all­ mählich stabilisierten40 und sich die Hoffnungen auf ein „regelmäßiges Vereinsleben“41 erfüllten, kehrte auch in die Vereine der gewohnte Alltag zu­ rück. Auch quantitativ wirkten sich die desolaten wirtschaftlichen und gesell­ schaftlichen Zustände der Nachkriegszeit hemmend aus die Laienbewegung aus: Nach dem Krieg gelang zwar vielen Vereinen die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeiten. Auch das Vereinsnetzwerk konnte weiter ausgebaut werden, aller­ dings in weit geringerem Maße als in den Jahrzehnten zuvor. Wie aus der be­ reits bekannten Diagramm 10 hervorgeht, wurden reichsweit zwischen 1920 und einschließlich 1929 insgesamt 64 Laienvereine neu gegründet. In der vor­ herigen Dekade waren es im gleichen Zeitraum allerdings dreimal mehr Ver­ eine, nämlich 148. Die seit 1870 von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmende Expansion der homöopathischen Laienbewegung war damit gestoppt – trotz der massiven Werbemaßnahmen und, das darf nicht vergessen werden, trotz des gestiegenen Interesses der Bevölkerung an naturheilkundlichen Angebo­ ten.42 160

148

140 120 96

100

97

Anzahl 80 58

60

64

41

40

26 20 5

9

0 vor 1860 1860-1869 1870-1879 1880-1889 1890-1899 1900-1909 1910-1919 1920-1929 1930-1939

Diagr. 10: Ersterwähnung von Laienvereinen in den Homöopathischen Monatsblätter und in der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie (n=544).

40 Vgl. Büttner (2008), S. 350, 357–374; Mai (2009), S. 51–89. 41 IGM/Varia 484, Protokoll Januar 1923. 42 Dörter (1991), S. 68–76; Kratz/Kratz (2004), S. 32.

4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention

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4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention Deutlich wurde bisher, dass sich Anfang der 1920er innerhalb der homöopa­ thischen Laienbewegung, zunächst nur rhetorisch, eine Schwerpunktverschie­ bung vollzog. Seit dem allmählichen Aufstieg zu einer bedeutenden, in Würt­ temberg sogar zu der bedeutenden43, Gesundheitsbewegung stand der Aspekt der Aufklärung und homöopathisch­naturheilkundlichen Behandlung von Krankheiten verschiedenster Art im Vordergrund. Es ging darum, Interessier­ ten und Vereinsmitgliedern gleichermaßen eine Alternative zur immer stärker technisierten und rationalisierten Schulmedizin zu bieten, die nicht den menschlichen Organismus als Ganzes im Blick hatte, sondern lediglich ein­ zelne Symptome und Organe. Es ging auch darum, „anders leben“ zu wollen, wie Florentine Fritzen das Motto der Lebensreformbewegung zwischen 1890 und 1918 kennzeichnet.44 Anders im Sinne eines bewussteren Umgangs mit dem eigenen Körper und seiner Medikalisierung, anders im Sinne eines kriti­ schen Reflektierens und Hinterfragens. Man wollte gerade kein „Durch­ schnittsmensch“ sein, der denkt: „‚Viel hilft viel“‘45. Die homöopathische Laienbewegung bediente diese Bedürfnisse ihrer Anhänger auf vielfältige Weise. Dabei hielt sie an ihrem Konzept der Therapie und Tertiärprävention fest, ohne größere Notiz von anderen lebensreformerischen Strömungen wie der Vegetarier­ oder Nudistenbewegung zu nehmen. Allenfalls mit der Natur­ heilkunde stand die Laienhomöopathie in einer ambivalenten Beziehung, die streckenweise von Anziehung, mitunter aber auch von Abgrenzung und Dis­ tanzierung geprägt sein konnte.46 Die Berührungspunkte betrafen aber auch hier lediglich methodisch­therapeutische Fragen, weniger solche der alltägli­ chen Lebenspraxis. Das sollte sich nach 1918 grundlegend ändern: Mit der im Laufe des Krieges immer schlechter werdenden Versorgungslage wandelte sich die Frage nach einer alternativen Lebensweise von einer freiwilligen zu einer unvermeidlichen Überlegung, die alle Bevölkerungsschichten betreffen sollte. Der Krieg wirkte wie eine Art „Reaktionsbeschleuniger“, der Prozesse ganz unterschiedlicher Natur vorantrieb und große Teile der Bevölkerung mit den Absichten und Zielen der Lebensreformer, etwa eine fleischlose und vita­ minreiche Ernährungsweise oder Alkoholabstinenz, in Berührung brachte.47 Auch die homöopathische Laienbewegung, die sich bisher mehr auf Therapie denn auf Verhaltensänderung konzentrierte, blieb von dieser Entwicklung nicht unberührt. Der homöopathische Arzt Erich Haehl bezeichnete den Krieg rückblickend gar als „Lehrmeister“, da er trotz „mannigfache[r] Sorgen 43 44 45 46

Vgl. Wolff (1989), S. 59. Fritzen (2006), S. 182 ff. HM 45 (1920), S. 59. Zur Verschränkung und Unvereinbarkeit von Homöopathie und Naturheilkunde siehe: Faltin (2000), S. 346–353. 47 Fritzen (2006), S.  189 ff., insbesondere Anm.  834. Fritzen bezieht sich hierbei auf den Chemie­Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932), der 1895 den Begriff des Kata­ lysators als „Reaktionsbeschleuniger“ beschrieb.

174 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) und Einschränkungen“ den Beweis geliefert hätte, „daß man auch mit be­ scheidenen Mitteln die Gesundheit erhalten, ja sein Befinden sogar wesentlich bessern kann.“48 Die Forderungen nach einer natürlichen, pflanzlichen und fleischarmen Ernährung, nach einem Bruch mit der verfeinerten Esskultur traten erstmals aus dem Schatten der Lebensreform und in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Ausgesprochen wurden sie, wie in Kapitel 3.3 gezeigt wurde, neben Politikern und Vertretern der Nahrungsmittelindustrie teils auch von wissenschaftlichen Autoritäten wie dem Berliner Physiologen Max Rubner. An der Verbreitung und Vermittlung dieser Forderungen beteiligten sich nicht zuletzt die homöopathischen Zeitschriften, die der Bedeutung der naturgemäßen Ernährung bisher nur im therapeutischen Rahmen einer ho­ möopathischen Diät Beachtung schenkten.49 Nach dem Krieg standen zwar drängendere Probleme wie die oben geschilderte Neuausrichtung der Laien­ bewegung an, an den zentralen Inhalten der Lebensreform wurde aber festge­ halten. Zumal sie im Gegensatz zur homöopathischen Arzneimitteltherapie weit eher geeignet schienen, die Volksgesundheit zu heben. Am deutlichsten in Worte fasste das wiederum Heinrich Moeser. Eine der „Aufgaben der ho­ möopathischen Vereine in der neuen Zeit“ war für ihn die thematische Erwei­ terung ihres Programms. So müsse die Laienbewegung zusätzlich zur Verbrei­ tung der Homöopathie „die gesamte Volksgesundheitspflege in den Bereich ihrer Wirksamkeit hineinziehen, soweit dies Aufgabe von Laienvereinen kann.“50 Konkret bedeutete das, dass es „in Zukunft im Allgemeinen Interesse und nicht zum wenigsten auch im Interesse der Vereinssache selbst zu wün­ schen [wäre], daß die Aufklärungsarbeit der Vereine sich mit solchen Vorträ­ gen über Krankheitsbehandlung nicht erschöpfen, sondern mindestens ebenso viel Wert auf die Krankheitsverhütung und Gesundheitspflege, und zwar sowohl auf die persönliche wie auf die soziale Seite dieser letzteren, ge­ legt würde.51 Gleicher Ansicht war August Reinhardt, Vorsitzender des badi­ schen Landesverbands. Anlässlich der 1920 in Karlsruhe abgehaltenen Ver­ bandsversammlung sprach er sich dafür aus, dass die Aktivitäten der Laienbe­ wegung fortan auch in Baden vordergründig die Volksgesundheit im Allge­ meinen fördern und sich im Besonderen an den einzelnen Bestrebungen der Lebensreformer orientieren52 sollten. Zum Ausdruck kam diese ideelle Verei­ nigung auch auf institutioneller Ebene: Unter der Leitung des homöopathi­ schen Arztes Hermann Göhrum gründete 1919 eine „Anzahl lebensreforme­ rischer Vereine und Verbände“, unter denen sich auch die Hahnemania be­ 48 LPZ 64 (1933), S. 41. 49 Auch in den Laienvereinen wurde das Thema Ernährung kaum berührt, was sich nicht zuletzt in der Vortragspraxis widerspiegelt: Von insgesamt 153 Erläuterungen, die zwi­ schen 1893 und 1914 im Verein Reutlingen gegeben wurden, handelten gerade einmal zwei (1 %) im weitesten Sinne von der Ernährung des Menschen. In Stuttgart­Wangen fand die Ernährung als eigenständiges Thema im selben Zeitraum dagegen überhaupt keine Erwähnung. 50 HM 44 (1919), S. 7. 51 HM 44 (1919), S. 7. 52 HM 45 (1920), S. 71.

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4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention

fand, den Württembergischen Arbeitsausschuss deutscher Vereine für Lebens­ pflege.53 Bis die auf „Krankheitsverhütung“ (Moeser) abzielenden „Reformbestre­ bungen“ (Reinhardt) in die homöopathischen Laienvereine drangen, von die­ sen ins Programm aufgenommen und in Vorträgen und anderen Veranstaltun­ gen umgesetzt wurden, sollte es noch bis zur Mitte der 1920er dauern. Zwi­ schen 1919 und 1924 konzentrierten sich die meisten homöopathischen Laien­ vereine darauf, die infolge von Kriegs­ und Nachkriegszeit zum Erliegen ge­ kommenen Vereinsgeschäfte wiederaufzunehmen. Statt sich auf unbekanntes Terrain zu wagen, wurden die bewährten Praktiken reaktiviert – etwa medien­ bzw. modellgestützte Vorträge54 über spezifische Erkrankungen meist der inne­ ren Organe und ihre homöopathische Behandlung sowie botanische Wande­ rungen und das Verleihen von medizinischen Hilfsmitteln. Den Mitgliedern musste schließlich etwas geboten werden, drohte doch der Mitgliederschwund aufgrund fehlender Angebote bei gleichzeitigen Beitragserhöhungen. 50 44

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Diagr. 11: Anzahl aller Erläuterungen zu verschiedenen Themen55, die zwischen 1915 und 1932 in den homöopathischen Vereinen Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­ Wangen gehalten wurden (n=306). 53 HM 45 (1920), S. 68. 54 Ein herausragender Einzelfall dürfte wiederholt Emil Ohnmeiß gewesen sein: 1924 klärte er die Mitglieder seines Vereins über Operationen auf, wobei er ein Stück des menschlichen Magens vorzeigte. An das Präparat gelangte er sehr wahrscheinlich durch seinen Beruf als Bademeister und Masseur im homöopathischen Krankenhaus zu Stutt­ gart (IGM/Varia 72, 17. Februar 1924). 55 Bei den Erläuterungen handelt es sich nicht um Einzelvorträge. Es kam vor, dass ein Redner an einem Abend über mehrere Erkrankungen und/oder Selbsthilfemöglichkei­

176 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) Einer Wiederaufnahme erfreuten sich etwas später die praktischen Kurse, die in manchen Laienvereinen schon vor 1914 begonnen, durch den Kriegsaus­ bruch aber zurückgestellt bzw. unterbrochen werden mussten. Ein (erstes) Bei­ spiel von vielen ist der Homöopathische Verein Laichingen. Seine Leitung beschloss im November 1924 die Veranstaltung eines von 42 Frauen und Mädchen besuchten Krankenpflegekurses, der im folgenden Jahr wiederholt und um einen parallel laufenden Samariterkurs für Männer erweitert wurde.56 Auffallend ist, dass sich in der Kurspraxis die tradierten und durch den Krieg gefestigten Geschlechterstereotypen spiegelten: Während sanftmütige Frauen die geduldige und aufopfernde Pflege von (chronisch) Kranken oblag57, hat­ ten sich nervenstarke Männer um die Erstversorgung von Verletzen und Ver­ wundeten zu kümmern. Um 1925, als sich die Verhältnisse wirtschaftlich, politisch und gesell­ schaftlich stabilisierten, setzte dann in allen untersuchten Vereinen die Pro­ grammerweiterung im Sinne Moesers und Reinhardts ein. Was in zahlreichen Artikeln der homöopathischen Zeitschriften zunächst nur in Worte gefasst wurde, nämlich die Propagierung einer ganzheitlichen, naturgemäßen, fleisch­ armen, vitaminreichen, also gesundheitsbewussten Lebensweise, schlug sich nun auch auf die Vereinspraxis nieder. Den ersten Beleg für die Verbindung von medizinischer Aufklärung, homöopathischer Selbstmedikation und er­ nährungsbasierter Vorbeugung liefert das Protokollbuch des Homöopathi­ schen Vereins Rohracker: Am 24. Januar 1925 fand im Vereinslokal ein Vor­ trag über den menschlichen Körper und seine verschiedenen Erkrankungen statt. Der Referent Emil Ohnmeiß besprach darin „die einzelnen Arzneimittel an Hand der Arzneimittellehre mit welchen die einzelnen Krankheiten ge­ heilt werden können. An diesen sehr lehrreichen Vortrag […] schloß sich eine sehr lebhafte Diskussion an, wobei hauptsächlich die Magenbeschwerden so­ wie die Ernährungsfragen ausgiebig besprochen wurde, woran jedes Mitglied, welches anwesend war, hat viel lernen können.“58 Letzteres muss offenbar gut angekommen sein, denn im Anschluss an die Diskussion wurde von Seiten der Mitglieder der Antrag gestellt, der Vorsitzende möge doch in der nächs­ ten Versammlung einen Vortrag ausschließlich über „Ernährungsfragen“ hal­ ten. Wie aus Diagramm 11 hervorgeht, scheint dieser Wunsch auch in ande­ ren Vereinen mehr oder weniger nachdrücklich bekundet worden zu sein. Von den 34 Erläuterungen, die dazu in den vier homöopathischen Vereinen im Zeitraum zwischen 1915 und 1932 vorgetragen wurden, handelten 20 aus­ schließlich von der Ernährung des Menschen. Die restlichen 14 drehten sich im weitesten Sinne um das Thema Gesundheitspflege, gingen also der Frage ten referierte. Um nun das ganze Spektrum an medizinischen Themen zu erfassen, kon­ zentrierte ich mich bei deren Zählung und Kategorisierung deshalb nicht auf das jewei­ lige Hauptthema. Erwähnenswert ist zudem, dass in beiden Vereinen insgesamt 87 Vor­ tragsabende von ärztlichen Rednern bestritten wurden. 56 IGM/Varia 64, 9. November 1924; IGM/Varia 64, 15. Oktober 1925. 57 Vgl. Bock/Duden (1977), S.  169; Schleiermacher (1998), S.  49; Hoffmann (2012), S. 268 f., 340. 58 IGM/Varia 72, 24. Januar 1925.

4.2 Die Evolution des Vereinsprogramms: Von der Therapie zur Prävention

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nach, teilweise „bis ins kleinste“59, wie im Alltag durch Sport bzw. Gymnastik, Kosmetik und Kleidung und sogar während der Nachtruhe die körperlich­ geistige Unversehrtheit gefördert werden könne. Insgesamt ist zu beobachten, dass die homöopathischen Vereine in den 1920er Jahren einer kohlenhydrat­, nährsalz­, vitamin­ und bewegungsrei­ chen, kurz: einer gesundheitsfördernden Lebensweise einen größeren Stellen­ wert einräumten als dies vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war. So empfahl die Naturheilkundlerin Frida Wörner den Laienhomöopathen in Laichingen 1926 in einem Vortrag über „Frühjahrskuren“ die blutreinigende Wirkung von Brennnessel­, Lungenkraut­, Löwenzahn­ oder Spitzwegerichtee.60 Durch das viele Sitzen im Winter würden sich Giftstoffe im Körper ansammeln, die im Frühjahr herausgeschwemmt werden müssen. Auch solle man rohes Ge­ müse essen, da es die nötigen Nährstoffe enthält, sich viel im Freien bewegen, turnen, wandern und Sonnen­ und Luftbäder einnehmen.61 Solche Ratschläge wurden fortan in ganz ähnlicher Weise auch den Mitgliedern anderer Vereine gegeben. Das Motto, dem sie verpflichtet waren, fasste der Ulmer Arzt Alfred Pfleiderer in Worte, wenn er die Laienhomöopathen daran erinnerte: „Natur­ gemäß soll unserer Lebensweise sein, denn Früchte aller Art sind die beste Nahrung.“62 Ein knappes Jahr später hielt deshalb auch die um diese Zeit aufkommende abstinente Obstsaftbewegung Einzug nicht nur in den Verein Laichingen.63 Ein dieser Bewegung nahestehender Pfarrer aus dem benach­ barten Ennabeuren klärte die Mitglieder und interessierten Zuhörer auf über „Die Bedeutung unseres Obstes für die Gesundung und Gesunderhaltung und die Gewinnung von Gesundheitsgetränken aus Obst“ nach der Baumann­ Methode.64 Eine immer größere Rolle spielten darüber hinaus allgemeine hygieni­ sche Belehrungen, etwa in Vorträgen über Geschlechtskrankheiten, über die „Körperpflege der Frau“, über die „Grundlagen der Gesundheit“ oder über die „Erziehung, Ernährung und Homöopathie“. Auch die in den 1920er Jah­ ren populäre Körperkultur fand im Vortragsprogramm vieler Vereine Berück­ sichtigung. So entdeckte der Homöopathische Verein Stuttgart­Wangen 1927 59 60 61 62 63

IGM/Varia 373, 11. Februar 1931. Vgl. Fritzen (2006), S. 238. IGM/Varia 64, 9. Mai 1926. IGM/Varia 64, 16. Juni 1928. Ein ähnlicher Vortrag wurde in Stuttgart­Wangen gehalten („Heil­ und Verjüngungskräfte in Obst und Beeren“). Der Redner hob wie Frida Wörner die Ausscheidung von Giftstof­ fen hervor, die durch den Genuss von unvergorenen Fruchtsäften erreicht werden könne (IGM/Varia 373, 5. Juli 1930). 64 Der Schweizer Abstinenzler Fritz Baumann (1894–1992) entwickelte einen Apparat, die „Süßmostkanone“, mit der er und andere Gleichgesinnte durch den süddeutschen Sprachraum zogen und das Trinken von alkoholfreiem Süßmost propagierten. Unter: http://www.bild­video­ton.ch/bestand/objekt/Sozarch_F_5001­Fx­007 (letzter Zugriff: 23. Oktober 2015) ist ein solcher Apparat, den auch manche homöopathischen Vereine anschafften, zu sehen. Zur Herstellung von Obstsäften in den Homöopathischen Verei­ nen siehe auch: Baschin (2012), S. 242.

178 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) den „Gesundheitsförderer Sport“65 und unterrichtete seine Mitglieder umge­ hend „Über Gymnastik zur Hebung der Volksgesundheit“66. Und der Verein in Laichingen verpasste 1926 seinem Namen den Zusatz „Gesundheitspflege“, damit die „Abseitsstehenden“ seinen Zweck besser verstehen.67 Gleichberechtigt traten krankheitsverhütende Maßnahmen bzw. die „Le­ bens­ und Gesundheitspflege“, die das deutsche Volk so bitter nötig hätte68, allmählich an die Seite der homöopathischen Arzneimitteltherapie. Vor allem die Laienvereine Reutlingen und Stuttgart­Wangen taten sich auf diesem Ge­ biet hervor, indem sie zusammen gut zwei Drittel (Reutlingen: 20, Stuttgart­ Wangen: zwölf) solcher Belehrungen anboten. In Reutlingen lag das auch da­ ran, dass mit Dr. Lilly Kober eine praktische Ärztin verpflichtet werden konnte, die in Vortragsreihen anhand lebensgroßer Modelle die weibliche Anatomie erläuterte oder die Zuhörerinnen über eine wahrheitsgemäße, aber behutsame Sexualerziehung informierte.69 Dr. Kober war es auch, die sowohl den Anteil der frauenspezifischen Vorträge (44) als auch der ärztlichen Red­ ner beträchtlich in die Höhe schnellen ließ: An den insgesamt 273 kleineren und größeren Vorträgen, die in Reutlingen und Stuttgart­Wangen zwischen 1887 und 1914 abgehalten wurden, waren nachweislich 31 Ärzte (13 %) betei­ ligt. Zwischen 1915 und 1932 verdreifachte sich ihr Anteil hingegen auf 63 (38 %), wohingegen die Gesamtzahl aller Vorträge kriegs­ und krisenbedingt um mehr als 100 zurückging (165). An diesem Anstieg wird offensichtlich, dass die Laienvereine großes Interesse daran hatten, die (homöopathische) Ärzteschaft für sich zu gewinnen; einerseits als Werbemittel, andererseits aber auch als Zeichen, dass Ärzte und Laien Hand in Hand gehen müssen, um gemeinsam zur Hebung der Volksgesundheit beitragen zu können. Die Tendenz zur Prävention bzw. die Bereitschaft zur Erweiterung ihres Programms teilten, zumindest in Württemberg70, alle Vereine. Die Konse­ quenz, mit der sie in die Praxis umgesetzt wurde, konnte aber von Ort zu Ort schwanken. Ein nicht zu unterschätzender Faktor war auch in diesem Zusam­ menhang die Größe eines Vereins. Die aktivsten Vereine im Quellenkorpus hatten weit mehr als 100 Mitglieder und damit die (finanziellen) Möglichkei­ ten, Redner zu gewinnen, Utensilien zu beschaffen, Feierlichkeiten zu organi­ sieren oder Kurse zu veranstalten.

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IGM/Varia 373, 10. September 1927. IGM/Varia 373, 5. Oktober 1927. IGM/Varia 64, 1. Januar 1926. HM 53 (1928), S. 129. IGM/Varia 373, 8. Oktober 1930. Zur gesundheitsfürsorgerischen und ­erzieherischen Rolle der Ärztinnen siehe: Schleiermacher (1998), besonders S. 50–53. 70 Für die außerwürttembergischen Regionen wie dem Rheinland, Baden, Mittel­ oder Norddeutschland liegen keine handschriftlichen Quellen vor. Einzig das Protokollbuch des Vereins Bischheim gewährt einen nicht repräsentativen Einblick in die Arbeit eines sächsischen Vereins während der Weimarer Republik. Eine ähnliche Entwicklung hin zur „Pflicht zur Gesundheit“ bzw. ganzheitlich­gesunden Lebensweise ist dort allerdings nicht erkennbar.

4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung

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4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung Mitte der 1920er verschob sich der thematische Schwerpunkt innerhalb der Laienbewegung nicht nur in Richtung Vorbeugung durch eine gesunde Er­ nährungs­ und Lebensweise. Nachdem sich die Laienbewegung von den Nachkriegs­ und Inflationsjahren erholt und zu einem normalen Vereinsleben zurückgefunden hatte, zeichnete sich eine weitere Entwicklung ab: die Grün­ dung von sogenannten Frauengruppen, hauptsächlich in Württemberg.71 Dass diese Initiative auf reges Interesse stieß, also auf ein entsprechendes Bedürfnis der Bevölkerung zu reagieren schien, bezeugen die Protokolleinträge der Hauptvereine und Frauengruppen. Dieses Bedürfnis kam indessen nicht von ungefähr; die Vereine sprachen Frauen mit entsprechenden Vortragsthemen schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert an und stilisierten sie zu Ge­ sundheitsbeauftragten der Familie. Die nachweislich erste Frauengruppe konstituierte sich 1920 in Gaisburg auf Betreiben des Vorsitzenden. Als um 1925 die politischen und wirtschaftli­ chen Verhältnisse weitestgehend stabil waren und sich die Vermittlung einer natürlichen Lebensweise innerhalb der Laienbewegung durchzusetzen be­ gann, machten sich schließlich auch andere Vereine daran, die weiblichen Mitglieder in einer eigenverwalteten Gruppe zu sammeln. Der Homöopathi­ sche Verein Laichingen veranstaltete in der zweiten Jahreshälfte 1924 einen breit annoncierten, mehrtägigen Kurs über häusliche Krankenpflege. Der Kursleiter Gottlieb Paul animierte die 42 Teilnehmerinnen im Anschluss zur Gründung einer eigenen Frauengruppe, der sich spontan drei Viertel aller anwesenden Frauen anschlossen.72 In Rohracker wiederum äußerten die Mit­ glieder anlässlich der Generalversammlung von 1927 selbst den Wunsch, in

71 Für Mitteldeutschland und Sachsen wurden die „Mitteilungen zur Förderung der Interes­ sen homöopathischer Vereine“ (1933) durchgesehen. Weder die in diesem Jahr abgehal­ tene Tagung des „Verbands links­rheinischer Vereine für Homöopathie und Naturheil­ kunde“ noch diejenige des „Verbands Homöopathischer Vereine Sachsen“ erwähnen in ihrem Bericht die Arbeit von Frauengruppen. Hervorgehoben wird stattdessen die „er­ freulicherweise wachsende Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft homöopathischer Jugend­ gruppen“ (LPZ 64 (1933), Beilage Nr. 9, S. 251M) und dass sich mehrere Jugendgruppen im Rheinland gebildet haben (LPZ 64 (1933), Beilage Nr. 7, S. 203M). Auch sonst neh­ men die Berichte über die Aktivitäten der Jugendbewegung breiten Raum ein. In Würt­ temberg bzw. Süddeutschland ist es genau umgekehrt. Dort spielen die Jugendgruppen im Gegensatz zu den Frauengruppen so gut wie keine Rolle. 72 IGM/Varia 64, 14. Dezember 1924. Die „Satzung der Frauengruppe“ wurde handschrift­ lich ins Vereinsregister des Homöopathischen Vereins Laichingen eingetragen. Daraus geht hervor, dass die Frauengruppe zwar Teil des Hauptvereins war, allerdings einen ei­ genen Ausschuss hatte. Dieser Ausschuss bestand aus fünf Mitgliedern, die aus ihrer Mitte eine Vorsitzende, eine Schriftführerin und eine Kassiererin wählten. In der Regel fanden die Ausschusssitzungen gemeinsam mit jenen des Hauptvereins statt, doch konn­ ten die Frauen „bei Bedarf ihre besonderen Ausschußsitzungen abhalten.“ Mit dem Hauptverein teilten sie sich zudem „hälftig“ sämtliche Ausgaben (IGM/Varia 64, 13. Ja­ nuar 1929).

180 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) ihrem Ort eine Frauengruppe gründen zu dürfen.73 Dieser Wunsch ist umso verständlicher, als Frauen im Vorfeld offenbar zahlreich an den Mitgliederver­ sammlungen teilnahmen.74 Dementsprechend gab die Vereinsführung dem Antrag ohne Zögern statt, woraufhin noch am selben Abend zehn Frauen ih­ ren Beitritt erklärten. Anschließend gingen je zwei Männer und Frauen mit einer Liste durch den Ort, in die sich Interessierte – insgesamt 85 Frauen und Mädchen  – eingetragen konnten. Diese Zahl erscheint umso beachtlicher, wenn man bedenkt, dass der seit 17 Jahren bestehende Hauptverein zur sel­ ben Zeit „nur“ 190 Mitglieder hatte. Die Frauengruppe kam in nur wenigen Tagen fast auf eine halb so hohe Mitgliederzahl, was auf das erwähnte große Interesse der weiblichen Einwohnerschaft hindeutet. In Stuttgart­Wangen ging die Gründung der Frauengruppe vom Hauptverein aus: 1925 lud der Vor­ stand einige weibliche Vereinsmitglieder zu einer Ausschusssitzung ein, um zu erfragen, wie sie zu einer eigenen Gruppe stehen. Nach einer Aussprache gingen die Frauen auf das Ansinnen des Vorstands ein und beschlossen die Gründung einer Frauengruppe, der einen Monat später bereits 63 Mitglieder angehörten.75 Die drei Beispiele machen den Bedarf und die Notwendigkeit von Vereins­ angeboten ausschließlich für Frauen deutlich. Aus welchen Sozialschichten die zahlreich beitretenden Frauen stammten, ist nicht bekannt; den überlie­ ferten Protokollbüchern der Frauengruppen (Stuttgart­Wangen und Rohr­ acker) sind keine Mitgliederlisten beigefügt, die über Beruf oder Alter aufklä­ ren könnten. Einzig der Bericht über die im Februar 1930 einberufene Frauen­ gruppentagung liefert Hinweise. So hätten sich Frauengruppen hauptsächlich in Vereinen gebildet, „die sich entweder ganz oder größtenteils aus der Indus­ triebevölkerung zusammensetzen“76. In kleineren ländlichen Vereinen hinge­ gen gäbe es so wie gut wie keine Gruppen, was der namentlich nicht bekannte Berichterstatter (vermutlich Immanuel Wolf) ausdrücklich beklagte, denn sol­ len „die Grundsätze vernünftiger Lebensführung und die Vorzüge unserer ho­ möopathischen Heilweise tiefer ins Volk eindringen […], so müßte dies m. E. in erster Linie auf dem Land geschehen.“77 Einer Begründung, warum auf dem Land die Frauengruppenbewegung nicht Fuß fassen konnte, bleibt der Bericht schuldig. Allenfalls die alljährlich anfallende Feldarbeit wird als mög­ licher Grund vermutet, seine Berechtigung aber mit Gegenbeispielen wie Lai­ chingen oder Stuttgart­Wangen relativiert, die zwar auch noch ländlich ge­ prägt seien, wo man dennoch Zeit für die Vereinsarbeit aufwenden könne. Weitere Spekulationen über die mangelnde Verbreitung von Frauengruppen auf dem Land verbieten sich aufgrund fehlender Anhaltspunkte. Denkbar ist 73 IGM/Varia 73, 6. Februar 1927. 74 Der Schriftführer notierte ein Jahr zuvor, dass der Vorsitzende darüber sehr erfreut sei, „da er sehe, daß die Frauen auch ein Interesse zeigen an dem was die Männer in der Versammlung machen (IGM/Varia 73, 21. Februar 1926). 75 IGM/Varia 372, 21. Februar 1925. 76 HM 55 (1930), B 42. 77 HM 55 (1930), B 42.

4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung

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allenfalls, dass sich in kleineren ländlichen Vereinen aufgrund des ohnehin überschaubaren Vereinslebens die Notwendigkeit der Gründung einer eige­ nen Frauengruppe nicht stellte. Möglich ist auch, dass die Frauen auf dem Land schlicht weniger emanzipiert und nicht in der Lage oder Willens waren, ihren Interessen Nachdruck zu verleihen und die Gründung einer eigenstän­ digen Frauengruppe anzuregen. Nicht bekannt ist zudem, wie viele Frauen den insgesamt 38 süddeut­ schen Gruppen angehörten.78 Der Tagungsbericht schätzt deren Zahl im Ver­ bandsgebiet aber auf „rund 3000“79. Die beiden größten Frauengruppen waren in Ludwigsburg (280) und Gaisburg (245) aktiv. Verglichen mit der Gesamtzahl der männlichen und weiblichen Mitglieder des Süddeutschen Verbands für Homöopathie und Lebenspflege (13.514) lässt sich somit sagen, dass 1930 mindestens ein Fünftel (22 %) aller organisierten Laienhomöopa­ then in Süddeutschland Frauen waren. Es muss dabei aber berücksichtigt wer­ den, dass längst nicht alle Vereine separate Mitgliederlisten führten. Auch werden nur diejenigen Frauen erfasst, die in Frauengruppen organisiert wa­ ren, jedoch nicht die Gesamtheit aller Frauen in homöopathischen Laienver­ einen. Es wird daher der Frauenanteil innerhalb der homöopathischen Laien­ bewegung höher zu schätzen sein. Das lässt jedenfalls das oben erwähnte Lai­ chinger Beispiel vermuten, demzufolge zehn Frauen der neugegründeten Gruppe ferngeblieben sind. Dafür, dass ein Frauenanteil von rund einem Fünftel realistisch ist, spricht allerdings der Laienverein Möhringen. Im Jahr 1929 gehörten diesem Verein 81 Männer und 20 Frauen an, eine Frauen­ gruppe bestand (noch) nicht.80 Gegen einen derart hohen Frauenanteil ließe sich der Homöopathische Verein in Gablenberg anführen. Ihm gehörten im Januar 1932 insgesamt 292 Laienhomöopathen an, unter denen sich jedoch nur 33 Frauen (11 %) befanden. Ein Abgleich mit weiteren Vereinen ist nicht möglich. Nur diese beiden Mitgliederlisten aus der Weimarer Zeit geben die über das Geschlechterverhältnis Auskunft. Jedenfalls ist sicher, dass Frauen nach dem Ersten Weltkrieg in der ho­ möopathischen Laienbewegung quantitativ wie qualitativ stärker repräsentiert waren. Das Reichsvereinsgesetz von 1908 begünstigte diese Entwicklung sicherlich; erstmals war Frauen der Eintritt auch in politische Vereine und Parteien möglich. Bevor jedoch näher auf die praktische Arbeit der Frauen­ gruppen eingegangen werden kann, muss zunächst das spezifische Rollenver­ halten dargestellt werden, das von den Frauen erwartet wurde und das ihr Engagement überwölbte. 78 Dem Süddeutschen Verband für Homöopathie und Lebenspflege waren 1930 insgesamt 132 Zweigvereine angeschlossen. Demnach verfügten 29 % von ihnen über eine Frauen­ gruppe. 79 HM 55 (1930), B 44. 80 HStA LB F 303 III Bü 1019. Der erwähnte Bericht über die Frauengruppentagung von 1930 listet auch eine Frauengruppe in Möhringen auf. Entweder hat 1929 tatsächlich noch keine Frauengruppe bestanden oder eine Angabe beim Amtsgericht Stuttgart war nicht notwendig, da 1929 nur der Hauptverein ins Vereinsregister eingetragen werden sollte.

182 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) Der Verein Laichingen beteiligte sich im Mai 1925 aktiv an der Versamm­ lung württembergischer Vereine für Homöopathie und Lebenspflege in Göp­ pingen. Seine Leitung reichte dort zwei Anträge ein, von denen einer die Gründung von Frauengruppen, der andere zusätzlich die Einrichtung einer Institution zur Krankenpflege­Ausbildung von Frauen forderte. Begründet wurden beide Anträge folgendermaßen: „In der Hand der Frau liegt die Sorge um die Gesundheit der Familie und liegen die Hilfsmittel zur Erhaltung der Gesundheit und zur Abwehr von Krankheiten in allererster Linie“81. Wenn nun mittels Frauengruppen und Krankenpflegekursen mehr Frauen für die homöopathische Heilweise und Gesundheitspflege gewonnen werden könnten, so würde das letztlich auch die Sache an sich – gemeint ist die Laien­ bewegung – vorantreiben.82 Auch Karl Fischle hob 1927 die Bedeutung der Frauen für die Familiengesundheit hervor. Anlässlich der Gründung einer Frauengruppe in Rohracker betonte er, dass die Stellung der Frau und Mutter in der Familie es nötig mache, dass sie sich umfassende Kenntnisse in der Kinder­ und Krankenpflege sowie der Ernährungslehre verschaffe.83 Zustim­ mung erhielt Fischle vom Vorsitzenden des Vereins Rohracker Emil Ohn­ meiß, der seinerseits die Notwendigkeit hervorhob, dass die Hausfrau auch in der Krankenkost immer Bescheid wisse und sich in etwaigen Krankheitsfällen helfen könne.84 Die Laienbewegung knüpfte mit der Gründung von Frauengruppen rheto­ risch wie inhaltlich an wesentliche Absichten der Vorkriegszeit an. Endlich war eine mehr oder weniger eigenverwaltete Institution geschaffen, die den langjährigen Integrationsbemühungen von Frauen explizit Rechnung trug. Mit dem verbundenen Kompetenztransfer wurde implizit klargestellt, in wes­ sen Händen eigentlich die „Pflicht zur Gesundheit“ zu liegen habe. Der ge­ stiegene Einfluss der weiblichen Mitglieder in der homöopathischen Laienbe­ wegung könnte nun mit der nach dem Ersten Weltkrieg erstarkenden Frauen­ bewegung in Verbindung gebracht werden. Dafür sprächen etwa die Bestre­ bungen, Frauen mehr Mitsprache zuzugestehen, ihnen Bildungsangebote zu offerieren und den Frauenkörper in den Mittelpunkt der Gesundheitsvorträge und ­vorsorge zu stellen. Ein Nebensatz im Protokollbuch der Frauengruppe Rohracker deutet jedoch darauf hin, dass die Laienbewegung weniger die Emanzipation von Frauen förderte als vielmehr an traditionellen bürgerlich­ konservativen Wertvorstellungen festhielt: Die Gruppe feierte 1927 den Ab­ schluss eines Krankenpflegekurses, bei dem auch die Ehemänner der Kurs­ teilnehmerinnen bewirtet wurden. Soweit wäre diese Notiz nicht außerge­ wöhnlich, hätte die Schriftführerin nicht den damit verfolgten Zweck nachge­ schoben. Die Ehemänner sollten nämlich nicht einfach als Gäste bewirtet werden, sondern „um sie für die fernere Erlaubnis zum Ausgang ihrer Frauen

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IGM/Varia 64, 17. Mai 1925. IGM/Varia 64, 17. Mai 1925. IGM/Varia 73, 21. Februar 1927. IGM/Varia 73, 22. März 1930.

4.3 Die Frauengruppen: Entstehung und Ausbreitung

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zu gewinnen“85. Dieses Einzelbeispiel zu verallgemeinern und daraus die emanzipatorischen Tendenzen gänzlich in Abrede zu stellen, würde zu weit führen. Es veranschaulicht aber die Spannungen zwischen den wachsenden Gestaltungsräumen von Frauen und dem überkommenen Modell einer hie­ rarchisch­patriarchalischen Geschlechterordnung. Dass sich diese im Laufe der Zeit zu Gunsten einer Gleichberechtigung der Frau aufweichen sollte, konservative Einflüsse wie die Ablehnung der weiblichen Erwerbsarbeit aber bestehen blieben, geht wiederum aus dem Protokoll des Homöopathischen Vereins Rohracker hervor. In einem 1931 gehaltenen Vortrag klärte eine Red­ nerin namens Widmer die Laienhomöopathinnen aus Rohracker darüber auf, wie „wir Hausfrauen uns im Haushalt selbst Ruhepausen“ verschaffen kön­ nen. Der Titel deutet bereits an, dass die Rednerin dem bürgerlichen Ideal entsprechend davon ausging, dass es sich bei ihren Zuhörerinnen ausschließ­ lich um berufslose Hausfrauen handelte. Die Möglichkeit, Notwendigkeit und vor allem Realität der weiblichen Erwerbsarbeit ignorierte und negierte die Rednerin in ihrem Vortrag demnach völlig.86 Davon, wie eine Homöopathie­interessierte Hausfrau sich im Alltag zu verhalten habe, hatte Widmer hingegen ganz konkrete, sozusagen ganzheitli­ che Vorstellungen: Um sich genügend Gedanken über die Tagesarbeit ma­ chen zu können, solle sie zunächst einmal jeden Morgen zehn Minuten eher aufstehen. Im direkten Anschluss stand das zeitige Wecken der anderen Fami­ lienmitglieder an, damit dieselben sich nicht eilen müssen und vor allem ihr Frühstück in Ruhe einnehmen können. Der tägliche Einkauf – bei dem deut­ sche Produkte vorgezogen werden sollte, da sie billiger seien und die deutsche Wirtschaft fördern – sei noch in der Frühe zu besorgen, dabei das unnötige Herumstehen auf den Straßen und Treppen allerdings zu vermeiden, da es Zeit koste und „selten etwas Gutes“ dabei herauskäme. Vor dem Kochen habe die Hausfrau dann darauf zu achten, sich einige Minuten Zeit für sich zu neh­ men, um „den vielen Wünschen gerecht zu werden“, die die nun heimkehren­ den Familienmitglieder an sie stellen. Auch beim anschließenden gemeinsa­ men Mittagessen übernahm die Hausfrau Verantwortung für die Familie, in­ dem sie darüber zu wachen hätte, dass Ehemann und Kinder während des Essens möglichst wenig sprechen und nicht lesen, da beides die Verdauung störe. Nachdem sich Widmer ausführlich über die Besonderheiten der durch­ rationalisierten, für die Weimarer Zeit idealtypischen, Hausführung87 ausge­ lassen hatte, streifte sie in ähnlicher Weise die „etwaigen täglichen Vorkomm­ nisse im Haushalt“ – gemeint waren Unfälle oder Verletzungen – und wie auf sie zu reagieren sei. Darüber schweigt sich die Schriftführerin allerdings aus. 85 IGM/Varia 73, 21. Mai 1927. 86 Vgl. Büttner (2008), S. 254 f. 1925 standen den 20,5 Millionen erwerbstätigen Männern trotz Entlassung vieler Frauen im Zuge der Demobilisierung 11,5 Millionen erwerbstä­ tige Frauen gegenüber. Die meisten von ihnen waren allerdings in der Landwirtschaft beschäftigt. 87 Zur alltäglichen Haushaltsführung von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik siehe: Hagemann (1990), S. 90–117.

184 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) Offenbar waren die alltäglichen Mittel und Wege der Ersten Hilfe nur allzu bekannt, als dass sie extra im Protokoll hätten festgehalten werden müssen. Widmer, die offensichtlich Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung war, zeichnete in ihrem Vortrag ein idealtypisches und zutiefst konservatives Frauenbild, das Frauen zu Trägerinnen des Familienlebens stilisierte und auf­ wertete. Als Hausfrauen, Mütter und Gattinnen oblag ihnen einerseits die Haushaltsorganisation, andererseits aber auch die Sorge um die Familienge­ sundheit.88 Wie gezeigt wurde, unterschied sich das spezifische Rollenver­ ständnis einer homöopathisch gebildeten Frau nicht wirklich vom gesamtge­ sellschaftlichen Frauen­ bzw. Familienideal. Frauen wurden seit längerem von der homöopathischen Laienbewegung als die eigentlich Verantwortlichen für die Familiengesundheit gesehen und seit der Jahrhundertwende mittels Vor­ trägen gezielt über ihren Körper, über Selbstmedikation und über Kinderer­ ziehung und ­pflege aufgeklärt. In der Weimarer Republik mündete die Stili­ sierung der Frau zur Hausärztin schließlich in der flächendeckenden Grün­ dung von Frauengruppen, die entsprechend dem zeitgenössischen Frauenbild zwei wesentliche Funktionen zu erfüllen hatten: erstens die institutionalisierte theoretische und praktische Wissensvermittlung und zweitens die Stiftung von Einheit, Zusammenhalt und Ausgleich innerhalb der „Vereinsfamilie“. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, erfüllte die Frauengruppen diese Auf­ gaben vielerorts mit Bravour. 4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis Zwei wesentliche Charakteristika der homöopathischen Laienbewegung wur­ den bisher deutlich: 1. die Propagierung einer Pflicht des Einzelnen zur Ge­ sundheit, die auf Vorbeugung mittels einer ganzheitlichen „vitalen“ Lebens­ weise, Eugenik und individualistischer Therapieansätze abzielte, und 2. die Stilisierung der Frau zur fürsorgenden Hausfrau und erfahrenen Hausärztin. Die Frauengruppen fungierten als eine Art Schnittstelle: Ging es um die Pflicht, den eigenen Körper gesund und leistungsfähig zu erhalten oder den Nachwuchs in diesem Bewusstsein zu erziehen, waren in erster Linie Frauen als Trägerinnen der Volksgesundheit angesprochen. Die Leitungen der Frauen­ gruppen beließen es deshalb nicht allein bei einer theoretischen Aufklärung über Krankheiten, Ernährung, Hygiene und Erziehung, sondern kümmerten sich darüber hinaus um ein vielfältiges praktisches Vereinsprogramm. Worin es im Einzelnen bestehen konnte, soll schwerpunktmäßig anhand der Frauen­ gruppe des Homöopathischen Vereins Rohracker veranschaulicht werden.

88 Vgl. Schleiermacher (1998), S. 49; Hoffmann (2012), S. 269.

4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis

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4.4.1 Krankenpflege­, Arzneimittel­, Gymnastik­ und Kochkurse Mit Kursen sind zumeist abendliche Veranstaltungen gemeint, die unabhän­ gig von den übrigen Vereinsveranstaltungen in regelmäßigem Abstand statt­ fanden und ein zuvor bestimmtes Thema behandelten. Wie in Kapitel 2.4.3 beschrieben wurde, gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg vereinzelt Bestre­ bungen, die bislang weitgehend einseitige und passive Wissensvermittlung durch praktische Lehrgänge lebendiger zu gestalten. Der baldige Kriegsaus­ bruch und die wirtschaftlich wie politisch schwierigen Verhältnisse warfen diese Bestrebungen zwar um einige Jahre zurück, verhinderten letztlich aber nicht ihre Durchsetzung. Als es den Vereinen Mitte der 1920er finanziell und personell allmählich wieder besser ging, machten sich deren Leitungen vieler­ orts an die Veranstaltung praxisbezogener Kurse. Es verwundert nicht, dass man bei der Reorganisation an die Kurspraxis der Vorkriegszeit anknüpfte, zunächst also nur Krankenpflege­ und Erste Hilfe­Kurse geplant und realisiert worden sind. Neben dem Aspekt der Vertrautheit dürfte hierfür vor allem die Tatsache ausschlaggebend gewesen sein, dass schlichtweg keine anderen In­ halte, abgesehen vielleicht von Arzneimittelunterricht, zur Verfügung stan­ den, die im Rahmen von Kursen hätten behandelt werden können. Wie oben deutlich wurde, sollte sich die Wahrnehmung dieser als alternativlos darge­ stellte Situation um 1925 grundlegend ändern. Wir bleiben aber zunächst bei den Anfängen oder besser gesagt: Neuanfängen der Kurspraxis und fragen abermals nach den Eigentümlichkeiten der Krankenpflege­ und Erste Hilfe­ kurse. Bereits erwähnt wurde, dass der Homöopathische Verein Laichingen 1925 einen Krankenpflegekurs für Frauen und parallel einen Samariter­ oder eben Erste Hilfe­Kurs für Männer veranstaltete. Die Rollenverteilung war da­ bei klar: während sich Frauen wegen ihres sanften, einfühlsamen Gemüts für die geduldige und aufopfernde Pflege der Alten und Kranken eigneten, be­ durfte es in akuten Notfällen und unfallbedingten Stresssituationen der männ­ lichen Disziplin und Nervenstärke.89 Dass diese in Laichingen praktizierte Geschlechterdichotomie Mitte der 1920er allerdings nicht mehr zeitgemäß war, führen insgesamt vier Kurs­ abende vor Augen, die der Vorsitzende des Hauptvereins Emil Ohnmeiß im Frühling 1927 für die Frauengruppe Rohracker hielt. Ohnmeiß, als ehemali­ ger Sanitätsunteroffizier auch in diesen Dingen bestens bewandert, übte mit den anwesenden Frauen sowohl das Anlegen von Verbänden an Kopf und Extremitäten als auch die praktische Wundbehandlung. Diese umfasste neben der Versorgung von Schnittwunden, Verbrennungen, Knochenbrüchen, Ver­ stauchungen auch Wiederbelebungsversuche bei Ertrinkenden sowie Gegen­ 89 Letztere konnten die Männer in Laichingen zufällig am letzten Kursabend unter Beweis stellen, als unweit des Vereinslokals ein vollbesetzter Bus von einem Zug erfasst wurde. Die Männer eilten zur Unglücksstelle und erstversorgten die zahlreichen Ober­ und Un­ terschenkel­, Rippen­ und Armbrüche sowie Verrenkungen, Quetschungen und Schür­ fungen mit Bandagen und Verbänden.

186 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) maßnahmen bei Gasvergiftungen. Auch in Reutlingen richtete sich die Unter­ weisung über „Erste Hilfeleistung bei häuslichen Unfällen“ an die Mitglieder der Frauengruppe.90 Das Besondere an diesen Unterweisungen ist allerdings weniger ihr Inhalt als vielmehr die Tatsache, dass sie sich explizit an Frauen und nicht an Männer richteten.91 Das Protokoll des Hauptvereins nimmt kei­ nerlei Notiz von den Kursabenden der Frauengruppe, obwohl darin auch an­ dere Themen von ganz allgemeinem Interesse wie „Die Anatomie des Men­ schen“, „Nerven und Gehirn“ oder „Die Frau von der Wiege bis zum Grabe“ besprochen wurden. Während die Frauen theoretischen und praktischen Un­ terricht in Sachen Gesundheits­ und Krankenpflege nahmen, beschäftigte sich der Hauptverein, und damit der aus Männern bestehende Vereinsvorstand, zur selben Zeit mit organisatorischen Fragen, etwa bezüglich der Bücherbe­ schaffung oder der Zusammenlegung des württembergischen und badischen Verbands.92 Daran sollte sich auch in den Folgejahren nicht viel ändern; zwar organisierte der Hauptverein den einen oder anderen Vortrag oder Ausflug, die Vermittlung von alltagsrelevantem Wissen über Gesundheits­ und Körper­ pflege oblag aber im Wesentlichen der Frauengruppe. Auch in anderen Verei­ nen waren die Rollen derart verteilt, wie aus den Protokollen des Hauptver­ eins und der Frauengruppe in Laichingen hervorgeht: im Frühjahr 1925 lei­ tete der damalige Vorsitzende Oberlehrer Eugen Rinker einen neunteiligen Abendkurs, in dem er ausführlich die zehn wichtigsten homöopathischen Arzneimittel (Aconit, Arnika, Belladonna, Bryonia, Chamonilla, Ipecacuanha, Merkur, Nux vomica, Pulsatilla, Sulfur) erklärte.93 Erwähnenswert ist in die­ sem Zusammenhang, dass der Verein Stuttgart­Wangen, als er Ende 1926 auf­ grund polizeilicher Anordnung seine Apotheke auflösen musste, die restli­ chen Arzneimittel der Frauengruppe übergab.94 Es ist bezeichnend, dass so­ wohl der Kurs in Laichingen, der ja grundlegende Kenntnisse in Sachen all­ täglicher Krankheitsbehandlung bzw. Spezialwissen vermitteln sollte, als auch Arzneimittel in die Frauengruppe ausgelagert wurde. Männern hingegen stand „lediglich“ der Besuch der regulären Vorträge offen, was als nicht uner­ heblicher Kompetenzverlust zu Gunsten der Frauen gewertet werden kann. Relativierend muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass um 1930 weniger als ein Drittel der homöopathischen Vereine in Süddeutschland über Frauen­ gruppen verfügten, in den anderen zwei Dritteln derartige Angebote dem­ nach gleichermaßen für Frauen und Männer bestanden. Wo sich allerdings die Möglichkeit bot, richteten sich die praktischen Inhalte und Unterweisun­ gen gezielt an die weiblichen Mitglieder. Einzig den Frauen vorbehalten waren auch die von mehreren Frauen­ gruppen organisierten, durchgeführten und von den Mitgliedern zahlreich besuchten Gymnastik­ und Kochkurse. Die Gruppen reagierten damit auf das 90 91 92 93 94

IGM/Varia 484, 23. Oktober 1928. Vgl. Baschin (2012), S. 242. Vgl. hierzu Wolff (1989), S. 58. IGM/Varia 64, Januar 1925. IGM/Varia 379, 4. Februar 1927.

4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis

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um die Mitte der 1920er gestiegene gesellschaftliche Interesse an sportlicher Betätigung und einer gesunden Lebensweise. Gerade der Sport entwickelte sich in der Weimarer Republik zu einem Massenphänomen, das die Mitglie­ derzahlen der Turn­ und Sportvereine in die Höhe schnellen ließ. Christiane Eisenberg wies allerdings darauf hin, dass Frauen trotz liberaler Tendenzen nach wie vor von zahlreichen Sportarten und ­vereinen ausgeschlossen blie­ ben.95 Darin dürfte einer der wesentlichen Gründe zu sehen sein, dass die homöopathischen Laienvereine ihr Vereinsprogramm auch in diese Richtung erweiterten. Während Männer sozusagen die Qual der Wahl hatten, gab es für Frauen ungleich weniger Angebote und Möglichkeiten der sportlichen Betäti­ gung. Die Gymnastikkurse versuchten diesen Mangel kompensieren und Frauen ebenfalls am Massenphänomen Sport teilhaben zu lassen. Entsprechend des ansonsten dürftigen Angebots erfreuten sich die Kurse großer Beliebtheit. Die Frauengruppe des Vereins Stuttgart­Wangen veranstal­ tete im Winter 1927/1928 einen Gymnastikkurs. An diesem Kurs, der acht Wochen dauerte und jeden Freitagabend stattfand, nahmen insgesamt 52 Frauen und Mädchen teil. Zu dieser hohen Teilnehmerzahl mag sicherlich auch die theoretische Kursvorbereitung beigetragen haben, die von der Grup­ penvorsitzenden Olga Späth übernommen wurde. In zwei Vorträgen über „Körperkultur“ und „Gymnastik zur Hebung der Volksgesundheit“96 erläu­ terte sie ihren Zuhörerinnen die Bedeutung einer ausreichenden und ausglei­ chenden Bewegung für die Gesundheit, gerade in Kontrast zur einseitigen Alltagsbelastung des Körpers. Wiederholt bzw. aufgefrischt werden sollte der Kurs im Herbst 1930, wobei die Kindergymnastik mit zehn Nachmittagen im Vordergrund zu stehen hatte. Spezielle Gymnastikkurse für Kinder gab es übrigens auch andernorts. In Heidelberg absolvierte die Inhaberin des Ver­ einslokals mit den Mitgliederkindern in den Wintermonaten zweimal wö­ chentlich Turnübungen. Diese Turnstunden waren verknüpft mit der anschlie­ ßenden Bestrahlung der Kinder mit Höhensonne.97 Den bedeutendsten Teil der Frauengruppenarbeit aber machten die Kochkurse aus, die in mehreren Orten unterschiedlich umfangreich veranstal­ tet wurden. Den programmatischen Auftakt lieferten die Debatten, die die Delegierten der Frauengruppen im Februar 1928 im Rahmen der dritten Frauengruppentagung führten.98 Zur Sprache kamen dort von verschiedenen Seiten geforderte vegetarische Kochkurse, gegen die man umgehend ernste Bedenken vorbrachte. Schwierig würde es demnach werden, mit Rohkost durchzudringen. Offensichtlich bestanden innerhalb der Laienbewegung Vor­ behalte, ob die Vereinsmitglieder überhaupt willens waren, eine rigorose na­ turgemäße bzw. fleischlose Ernährung anzunehmen. Immanuel Wolf hielt dagegen, dass der Arbeitsausschuss der württembergischen Vereine für Le­ benspflege und damit auch die homöopathischen Laienvereine nicht ohne 95 96 97 98

Eisenberg (1993), S. 138. IGM/Varia 379, 2. September und 5. Oktober 1927. HM 55 (1930), B 12. HM 53 (1928), S. B48.

188 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) weiteres an der „Rohkostfrage“ vorbeigehen könnten. Es sollte aber nicht der „alte Vegetarismus“, sondern der neue nach Bircher­Benner gelehrt werden.99 Die Verbindung zu dem Schweizer Arzt Maximilian Oskar Bircher­Benner (1867–1939100) kam nicht von ungefähr. Bereits 1927 konnte der Arbeitsaus­ schuss den Ernährungsreformer zu einem Vortrag über richtige und falsche Ernährung im Stuttgarter Gustav­Siegle­Haus gewinnen, „dem ein außerge­ wöhnlicher, hocherfreulicher Erfolg zuteil geworden ist.“101 Der Bericht in den Homöopathischen Monatsblättern erwähnt, dass 500 bis 600 Menschen we­ gen Überfüllung abgewiesen werden mussten, was für das außerordentlich hohe Interesse sowohl an Vorträgen über Ernährung als auch an der Person Bircher­Benners spricht. Ernährungsfehler, so Bircher­Benner, bestünden zur Hauptsache in der „Zerreißung der von der Natur erzeugten Nahrungsein­ heit“, worunter er die Trennung des Getreides von seiner Samenhaut (Weiß­ mehl) und die Denaturierung durch Hitze verstand. Dadurch würden die Vitamine und Nährstoffe der Nahrung zerstört, was zusammen mit habituel­ len Ernährungsfehlern – hoher Fleischkonsum, Alkoholismus und Essgier – zahlreiche Erkrankungen hervorrufe. Darunter seien vor allem Erkrankungen der Verdauungsorgane wie chronische Stuhlverstopfung und Magen­, Darm­ geschwüre sowie Gefäß­ und Herzkrankheiten zu zählen. Bircher­Benner fol­ gerte daraus: „Die Ernährungskrankheiten bilden die Hauptmasse aller Krankheiten des Menschengeschlechtes und schaffen den Boden für die übri­ gen Krankheiten.“102 Im zweiten Teil seines Vortrags ging er deshalb auf die „Heilwirkung der richtigen Ernährung“ ein. Die Grundvoraussetzung sei zu­ nächst, dass Vorurteile und Gewohnheiten aufgegeben werden. So müsse man die eiweißreiche Fleisch­ und Eierkost weitgehend einschränken oder ganz aufgeben, auf Kochsalz, Alkohol und sogar auf teein­ und koffeinhaltige Ge­ tränke verzichten. Am wichtigsten aber sei es, den Schwerpunkt der Ernäh­ rung auf ungekochte Speisen, also Obst und Gemüse, zu legen und Vollkorn­ produkte vorzuziehen. Auch solle Gemüse nur gedämpft und das Kochwasser nicht weggegossen werden.103 Ein Jahr später wiederholte Bircher­Benner ebenso erfolgreich seinen Vortrag, worin er abermals die gewohnheitsbeding­ ten Ernährungsfehler kritisierte und die Zuhörinnen und Zuhörer zum Um­ denken aufrief. Ganz offensichtlich stießen die Ansätze einer reformierten Ernährungs­ weise auf breites Interesse, innerhalb der Bevölkerung kursierten aber noch immer falsche Vorstellungen bezüglich der Ernährung, mit denen eigentlich schon zu Beginn des Krieges hätte gebrochen werden sollen. Sätze wie „‚Von Gras kann man nicht leben!‘“, „‚Ohne Fleisch und Bier (Wein, Schnaps) kann 99 100 101 102 103

IGM/Varia 379, 26. Februar 1928. Zu Bircher­Benner siehe: Wolf (2010). HM 52 (1927), S. 77. HM 52 (1927), S. 77. HM 52 (1927), S. 77. Ganz ähnliche Ratschläge propagierte auch der seinerzeit populäre Ernährungswissenschaftler Werner Kollath (1892–1970). Zu Kollath siehe: Kollath (1973); Melzer (2002); Merta (2003), S. 128–134; Ströhle (2009).

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ich nicht arbeiten!‘“ oder „‚Das Grünzeug gibt keine Kraft!‘“ waren unter Männern weit verbreitet.104 Dafür sprechen nicht nur die Bedenken der Frau­ engruppen­Delegierten oder Bircher­Benners Ermahnungen bzw. Ermunte­ rungen, sondern auch etliche Beispiele zur „Volksernährung“105 der Homöopathischen Monatsblättern. Der Arzt Hans Otto Karl Balzli (1893–1959) schilderte in einem gleichnamigen Artikel anhand zweier plakativer Beispiele die Widerstände und Einwände, die einer fortschrittlichen und vernünftigen Ernährung oftmals entgegenstünden. Im ersten Fall lässt sich die Ehefrau vom Geschwätz der Nachbarinnen davon abhalten, ihre Kochkünste zu Gunsten eines fleischarmen und sparsamen Speisezettels umzustellen. Im zweiten Fall torpediert der alkoholabhängige Ehemann den Reformwillen seiner Frau, in­ dem er ihre Versuche, mehr Gemüse und weniger Fleisch zu servieren, mit Prügel und Zerbrechen des Geschirrs quittiert. Allmählich nimmt der Mann die gesündere Kost aber an, was seine Frau am eingeschlagenen Kurs festhal­ ten lässt. Nach 15 Monaten zahlt sich ihre Beharrlichkeit schließlich aus: „Jetzt trinkt er längst nicht mehr, ißt nie Fleisch, arbeitet regelmäßig und hat es schon zu einem eigenen Häuschen mit Garten gebracht. Die tapfere Frau ist glücklich geworden, und die Kinder, die ihnen geblieben sind, versprechen tüchtige Menschen zu werden.“106 Balzli sprach der bewussten, gesunden Er­ nährung einen ausgesprochenen Heilcharakter zu, denn der Mann wäre ohne die Umstellung „sicher zum Verbrecher geworden, und die Familie wäre verkommen.“107 Damit ging er einen Schritt weiter als Bircher­Benner, der den medizinischen Aspekt der richtigen Ernährung betonte, nicht aber den moralischen. Ob aus medizinischer oder moralischer Perspektive, die Ernährungsre­ form erlebte trotz Einwänden und Bedenken in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einen Durchbruch. Innerhalb der homöopathischen Laienbewegung äu­ ßerte sich das durch die Veranstaltung zahlreicher ernährungsbezogener Vor­ träge und mehrwöchiger Kochkurse der Frauengruppen. Als Beispiel, wie diese Kurse zur Verbindung von theoretischem und praktischen Wissen ge­ nutzt werden konnten und wurden, mag stellvertretend der im Frühjahr 1930 veranstaltete Kochkurs der Frauengruppe Rohracker dienen. Dem eigentlichen Kurs ging ein Vortrag einer gewissen Frau Fischer aus Esslingen voraus. Fischer sprach im November 1929 über die neuzeitliche Kochweise der Speisen im Dampfkocher, von dessen vitaminschonenden Vor­ zügen sich die Zuhörerinnen bei der anschließenden Kostprobe selbst über­ zeugen konnten. Im zweiten Teil des Vortrags erteilte sie Ratschläge bezüglich einer Ernährungsweise im Allgemeinen, etwa: statt Schweinefett solle Öl beim Kochen verwendet werden, „welches dem Körper zuträglicher und auch billi­ ger sei“, beim Anmachen des Salats besser Zitronensaft verwendet werden. Auch solle viel frisches heimisches Obst gegessen und auf Vollkornreis zu­ 104 105 106 107

Alle Zitate: HM 53 (1928), S. 59. Vgl. HM 53 (1928), S. 6. HM 53 (1928), S. 59. HM 53 (1928), S. 59.

190 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) rückgegriffen werden, da polierter Reis keine Nährstoffe enthält. Zum Schluss beantwortete die Rednerin an sie gestellte Fragen. Mit ihren stark an Bircher­ Benner erinnernden Ausführungen und Antworten machte Fischer offensicht­ lich Eindruck, denn im Anschluss an ihren Vortrag traten die Anwesenden mit der Frage an sie heran, ob sie nicht einen Kochkurs halten könne. Fischer erklärte sich bereit, wodurch der Kochkurs einige Wochen später in der Haus­ wirtschaftsschule in Rohracker zustande kam. Die stets gut besuchten (auch von Mitgliedern anderer Frauengruppen) und mit fünf Mark alles andere als billigen108 Kursabende liefen nach dem immer gleichen Muster ab. Nachdem die Schülerinnen den Hauptgang vorbereitet und in den Ofen geschoben hat­ ten, hielt ihnen Fischer einen Vortrag, dessen Thema sich auf das jeweilige Gericht bezog, das zubereitet wurde. So sprach Fischer an einem Abend bei­ spielsweise über „Gicht und Rheumatismus“, worin sie mehrfach betonte, dass Gichtkranke vor allen Dingen kein Fleisch essen sollten, da das Eiweiß den Körper übersäuere. Es verwundert daher wenig, dass das ausgewählte dreigängige Menü (Selleriesuppe, Spinatpudding mit Senftunke und Salzkar­ toffeln) kein Fleisch enthielt. Damit war das Spektrum an vegetarischen Ge­ richten allerdings auch schon erschöpft. Jeder der anderen acht Hauptgänge war fleischhaltig; es gab entweder Kalb­ und Rindfleisch oder Fisch. Die Be­ denken gegen die „Rohkostfrage“ bzw. gegen eine radikale Umstellung auf eine vegetarische Ernährung scheinen also auch von den Frauen aus Rohr­ acker, zumindest aber von der Kursleiterin geteilt worden zu sein. Weit aufschlussreicher als die bloßen Speisezettel allerdings sind die zahl­ reichen Ratschläge, die Frau Fischer den Kursteilnehmerinnen erteilte. Auf­ schlussreich vor allem in Abgleich mit dem Grundkonzept einer naturgemä­ ßen Ernährungs­ und Lebensweise, wie es die Autoren in ihren Zeitschriften­ artikeln formulierten. Ferner interessiert die Art und Weise der Vermittlung von alltagsrelevantem Wissen. Werfen wir also einen näheren Blick auf die Vorträge, die den Frauen während des Wartens auf das Essen gehalten wur­ den. Der erste Kochabend (Menü: Haferflockensuppe mit Wurzelbrühe, ge­ dünstetes Kalbfleisch mit Reis und Sauermilchsulz) stand ganz im Zeichen der Frauen­ und Säuglingsernährung. Den Auftakt machten Ratschläge für werdende Mütter, denen zufolge während der Schwangerschaft auf Alkohol und starken Kaffee und Tee verzichtet, stattdessen täglich Milch getrunken und Obst gegessen werden müsse, „weil darin sehr viel Vitamine u. Kalk ent­ halten sind, welche die Frau in dieser Zeit sehr notwendig braucht.“109 Nach der Entbindung solle dem Säugling möglichst Muttermilch gegeben wer­ 108 Zum Vergleich: Die Mitgliedschaft im Homöopathischen Verein Laichingen schlug ab Januar 1926 mit drei Mark zu Buche. Im Preis inbegriffen war das Jahresabonnement der Homöopathischen Monatsblätter. Ohne dieses Abo mussten die Mitglieder lediglich eine Mark pro Jahr bezahlen. Der Besuch eines Kochabends in Rohracker hatte dem­ nach den Gegenwert einer zwei­ oder fünfjährigen Vereinsmitgliedschaft (IGM/Varia 64, 17. Januar 1926). 109 IGM/Varia 379, 16. Januar 1930.

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den110, alternativ Kuhmilch mit Schleim und Nährzucker, da der gewöhnliche Zucker für Kinder ungeeignet sei. Für ältere Kleinkinder seien Gemüsesäfte gut und junges Gemüse gut, später könne Schwarzbrot mit Butter und Obst verabreicht werden, hauptsächlich aber Gemüse wegen seiner Bedeutung für den Aufbau des Körpers. Auch Frauen in den Wechseljahren und generell alte Menschen sollten sich im Wesentlichen von Gemüse, Obst und Kartof­ feln ernähren, auf nervenreizende Getränke wie Kaffee und Tee hingegen verzichten. An diesen Ausführungen wird bereits deutlich: sich gesund ernäh­ ren bedeutete sich überwiegend vegetarisch und ohne Genussmittel zu ernäh­ ren. Der Verweis auf Vitamine, das Dünsten der Speisen und der Fokus auf Obst und Gemüse verraten abermals die gedankliche Nähe zu Bircher­Ben­ ner.111 Auffallend ist auch die Nähe zu den Empfehlungen und Ratschlägen der Zeitschriftenautoren Kerzen, Held und besonders Zweig. Es muss offen­ bleiben, ob Fischer deren Artikel gelesen hat. Sicher ist aber, dass sie die sel­ ben Ansichten vertrat und sie im Rahmen der Kochabende praktisch erfahr­ bar machte. Diese Charakteristika einer idealtypischen Ernährungsweise wiederholen sich in ähnlicher Form in den übrigen Vorträgen. Auch Magen­ und Darm­ kranke, um die es am zweiten Kursabend ging, sollten strenge Diät halten und sich von Sauermilch, Obst und jungem Gemüse ernähren, Fleisch, harte Eier und Käse dagegen meiden. Gut für den Magen, weil leicht verdaulich, seien zudem Fisch und Naturreis, weswegen es an diesem Abend auch Lauchsuppe, gedämpften Fisch mit holländischer Tunke und Reisauflauf sowie Himbeer­ saft als Nachspeise gab. Fischer ließ es aber nicht allein bei den Besonderhei­ ten der Krankenkost bewenden, sondern berücksichtigte in ihren Vorträgen zumindest ansatzweise auch die anatomisch­physiologischen Prozesse, die im Körper während und nach der Nahrungsaufnahme ablaufen. Den Ausführun­ gen Fischers zufolge verstünde man unter Verdauung die „Verflüssigung der Nährstoffe wie Eiweiß, Fett, Zucker und Mineralsalze.“ Sie beginne bereits im Mund, wo durch Kauen und Speicheleinweichung „die Stärke und der Zucker der Speisen zu Traubenzucker verwandelt und der Speisebrei schlüpfrig ge­ macht“ werde. Die eigentliche Verdauung gehe dann hauptsächlich im Zwölf­ fingerdarm vor sich, wo der 40 Grad warme Magensaft alles auflöse. „Fett und Kohlehydrate sind Verbrennungsstoffe, welche dem Körper die nötige Wärme

110 Die Bevorzugung einer natürlichen Ernährungsweise der Säuglinge ist im Kontext der zu dieser Zeit noch immer hohen Säuglingssterblichkeit zu sehen. Jörg Vögele weist in die­ sem Zusammenhang darauf hin, dass „Flaschenkinder“ aufgrund mangelnder Hygiene – vor allem in den Sommermonaten – einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren als „Brustkinder“. Vgl. Vögele (2006), S. 176 ff. 111 Dessen Ernährungsreform auch andere Frauengruppen ihren Kochkursen zugrunde leg­ ten. Verwiesen sei auf einen Jahresbericht des Vereins Laichingen, demzufolge die Frauen­ gruppe 1931 einen Kochkurs veranstaltete. Die durchschnittlich 84 Frauen seien in fünf Abenden „in die Krankenkost, die Bircher­Bennerkost und die Rohkost“ eingeführt wor­ den (IGM/Varia 64, 10. Januar 1932). Zu Bircher­Benner und seinem Wirken siehe: Wolff: Bircher­Benner (2010); Wolff: Zauber Berge (2010).

192 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) verschaffen zur Arbeit, Energie und Krafft [sic].“112 Die Schlacken und unver­ wertbaren Abfallprodukte würden schließlich als Kot und Urin aus dem Kör­ per entfernt, weswegen man dafür sorgen solle, guten Stuhlgang zu haben und immer Wasser lassen zu können. Neben Ernährungsratschlägen und Informationen bezüglich der spezifi­ schen Körper­ oder Organfunktionen flocht die Rednerin auch ätiologische Überlegungen in ihre Unterweisungen ein. So wusste sie über die Ursache der Zuckerkrankheit oder „Zuckerruhr“ zu berichten: „Die Ursachen sind ver­ schiedene. Teils befalle sie Personen welche einen sitzenden Beruf haben u. deshalb das Blut nicht recht zirkulieren könne. Auch ungeregelte leichte Le­ bensweise, Überanstrengung beim Sport und dergleichen könne die Ursache sein.“113 Linderung verschaffe die neuzeitliche Diät, die darauf abziele, den Zucker aus dem Urin zu entfernen. Dazu geeignet seien Speisen, die arm an Kohlenhydraten, aber reich an Fett, hauptsächlich Pflanzenfett und ­ölen, sind. Der Eiweißbedarf könne wiederum mit grünem, gedämpftem Gemüse gedeckt werden, nicht aber mit rotem Fleisch, Käse oder Eiern. Ohne Beden­ ken dürfe dem Zuckerkranken gründlich gewaschenes Obst und Kompott, Kartoffeln und Vollkornbrot mit Haferflocken gegeben werden. Es ist bemer­ kenswert, dass Fischer die tieferen Zusammenhänge der Zuckerkrankheit als eine „Störung des Kohlehydratwechsels“ erkannte und im Folgenden einen Speisezettel entwarf, der ganz auf die Vermeidung von Zuckerzufuhr ausge­ richtet war, da „die Leber nicht mehr fähig ist Stärke und Zucker zu verdauen“114. Mit keinem Wort erwähnte sie allerdings die Insulinsubstitu­ tion, die seit 1921 bekannt und seit 1923 auch in Deutschland möglich war.115 Im Gegensatz zu den Stoffwechselprozessen oder der Bedeutung der Vita­ mine, die im Laufe der 1920er eine enorme Popularisierung erfuhren, ist die­ ses medizinische Spezialwissen noch nicht in die Laienwelt vorgedrungen; am wissenschaftlichen Diskurs über Diabetes nahm vorerst nur das gebildete Fachpublikum teil. Breiteren Bevölkerungsschichten blieb die Teilnahme am Diskurs verschlossen, sie stützen sich stattdessen auf ernährungsphysiologi­ sche Ansätze, die sich noch dazu gut ins Konzept einer medizinkritischen, naturgemäßen und vorbeugenden Lebensweise integrieren ließen. Auffallend ist zudem, dass Fischer gänzlich auf die Angabe von oder Querverweise zu homöopathischen Medikamenten verzichtet. Im Vorder­ grund stand einzig die Aufklärung über die Ernährungsweise in gesunden und kranken Tagen. Die verschiedenen Kurse verfolgten demnach den Zweck, die Forderungen, die in der Theorie bzw. in Artikeln und Vorträgen an die Haus­ frauen und Mütter gestellt wurden, in die Praxis umzusetzen: Die Arzneimit­ telkurse bildeten Hausärztinnen aus, die Gymnastikkurse steigerten die kör­ perliche Leistungsfähigkeit der Frauen und die Kochkurse trugen wesentliche Impulse der Lebensreform in die Haushalte, getreu dem eugenischen Motto: 112 113 114 115

IGM/Varia 379, 10. Februar 1930. IGM/Varia 379, 17. Februar 1930. IGM/Varia 379, 10. Februar 1930. Zur Geschichte der Diabetologie siehe: Tattersall (2009).

4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis

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„Wir müssen unsere Frauen aufrufen, zeitgemäße Reformen in der Küche durchzuführen, in einigen Punkten umzulernen und so zu ihrem Teil an einer Aufartung unseres Volkes und an der Verbesserung der Volksgesundheit beizutragen.“116 Ideell überwölbt wurden die praktischen Bemühungen von der „Pflicht zur Gesundheit“, die eng verbunden war mit rassenhygienischen Absichten und letztlich der Stärkung der Volkskraft dienen sollte. Auch hier lässt sich wegen der einseitigen Quellenlage nicht klären, inwieweit die medi­ zinischen, gymnastischen, lebens­ und haushaltsreformerischen Unterweisun­ gen im Alltag Berücksichtigung fanden. Ferner ist fraglich, wie vielen Frauen derartige Veranstaltungen überhaupt zugänglich waren. Dass am ersten Kurs­ abend lediglich 28 der ca. 82 Frauen (34 %117) teilnahmen, spricht dafür, dass die Kurse und damit das darin vermittelte Wissen längst nicht alle Mitglieder erreichte. Einer Teilnahme konnte, wie oben gezeigt wurde, die fehlende Zu­ stimmung des Ehemanns ebenso im Wege stehen wie die hohen Kursgebüh­ ren. Fraglich ist auch, ob und inwieweit die wenigen Teilnehmerinnen die In­ halte der Kochkurse mit anderen Frauen teilten und sich im Alltag darüber austauschten. So oder so, die Veranstaltung von Erste Hilfe­, Gymnastik­ und Kochkur­ sen war eine vielerorts beliebte Praktik, wie eine Auflistung von 1930 bzw. 1929 beweist: „Heidenheim wiederholt stets Verbandlehre; Jebenhausen (häusliche Krankenpflege); Eßlingen über ‚Pflichten und Aufgaben einer Hausfrau‘ (Schaukochen); Ludwigsburg (Kochkurs), Münster (Krankenpflege), Zuffenhausen (Gymnastik), Dietlingen (Verband­ kurs); Pforzheim (Sanitätskurs); Botnang (zwei Gymnastikkurse, ein Süßmostkurs); Gais­ burg (Rohkostabend); Gablenberg (Rohkostabend); Rohracker (Schaukochen); Wangen (dreimonatiger Gymnastikkurs, zweimonatiger Kochkurs, besonders Diät).118

4.4.2 Die „Pflege edler Geselligkeit“119 Schon vor dem Ersten Weltkrieg luden die meisten Laienvereine ihre Mitglie­ der nicht nur zu ernsten Vorträgen oder trockenen Versammlungen, sondern auch zu kurzweiligen Feierlichkeiten. Erinnert sei lediglich an den Homöopa­ thischen Verein Bischheim, der 1908 die Organisation der alljährlichen Stif­ tungsfeste einem eigens dazu bestimmten „Vergnügungsvorstand“ übertrug. Auch diese Praktik fand nach dem Krieg eine Fortsetzung, angesichts der pre­

116 Dieser Überzeugung jedenfalls war der Vorsitzende des Vereins Oberndorf: HM 55 (1930), S. B32. 117 Die Zahl bezieht sich auf den Mitgliederstand der Frauengruppe von Februar 1928. Da­ mals waren 82 Frauen in der Gruppe aktiv (IGM/Varia 379, 19. Februar 1928). Zum Vergleich: in Laichingen nahmen 1931 zwischen 42 und 52 % der Frauengruppenmit­ glieder an einem Kochkurs teil (IGM/Varia 64, 10. Januar 1932). 118 HM 55 (1930), B 51. 119 Laut des oben erwähnten Berichts über die Frauengruppentagung in Stuttgart 1930 war das eine der wesentlichen Aufgabe der Frauengruppen (HM 55 (1930), B 51).

194 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) kären Lage allerdings nur eingeschränkt.120 Als um die Mitte der 1920er das Vereinsleben erneut aufblühte, nahmen auch die geselligen Veranstaltungen wieder zu. Ihre Organisation gaben viele Hauptvereine an die Frauengruppen ab, da sie die Aufgabe hatten, „neben dem Nützlichen und Nötigen der Ge­ sundheitsaufklärung auch das Schöne und das Unterhaltende, Gesellige zu pflegen und dadurch in den Kreis unserer Arbeit mehr und mehr die Jugend hereinzuziehen und sie damit zum wahrhaft Gesunden und Schönen in kör­ perlicher und geistig sittlicher Hinsicht zu erziehen.“121 Die Frauen hatten ganz offensichtlich für den Verein das zu sein, was sie als Hausfrau und Mut­ ter auch für die Familie sein sollten: die gute Seele des Vereinslebens, das verbindende, integrierende und einheitsstiftende Element, ein Quell beständi­ ger Harmonie und Einheit.122 Es stellt sich deshalb die Frage, wie sich die Frauengruppen dieser Aufgabe konkret entledigten. Die vielerorts durchgeführten Kurse dienten nicht nur der praktischen Wissensvermittlung, ihr Abschluss bot auch einen willkommenen Anlass für gesellige und unterhaltsame Zusammenkünfte. Weit verbreitet war die Veran­ staltung einer teils recht aufwendigen Schlussfeier, in der die Frauen und Mädchen bei Gymnastikkursen einstudierten Übungen vor Publikum aufführ­ ten. Die Präsentation von Wissen beschränkte sich damit nicht länger nur auf die Ausstellung und Erklärung von Pflanzen123, sondern stellte den (weibli­ chen) Körper nun selbst in den Mittelpunkt. Ergänzt wurden die gymnasti­ schen Aufführungen um Vorträge, Gedichte, Gesangseinlagen oder parodis­ tische Einlagen, die den jeweiligen Kurs oder die Frauengruppe selbst aufs Korn nahmen. Großer Beliebtheit erfreuten sich ferner volkstümliche Thea­ terstücke. Bezeichnend ist hierbei der Umstand, dass, zumindest in Stuttgart­ Wangen124, die Frauen in Männerrollen schlüpften. Im Spiel und auf der Bühne wiederholte sich demnach das, was sich parallel auch im Vereinsalltag vollzog oder schon längst vollzogen hatte: die teilweise Ablösung der Männer durch die Frauen. Frauen waren seit geraumer Zeit die Hauptadressaten von medizinisch­homöopathischem Wissen, übernahmen die Organisation der ge­ selligen Versammlungen und ließen den Männern, überspitzt gesagt, nicht 120 Der Schriftführer des Vereins Reutlingen notierte noch im August 1924 ins Protokoll­ buch, dass „wirklich ein jeder Verein eine Herbstfeier hat und das Festen zu stark betrie­ ben wird, die Zeit aber nicht so rosig ist und der Verein doch nicht so zum Festen da ist, sondern wir in den nächsten Monaten auf ein anderes Gebiet wandeln müssen und zwar mit Vorträgen unseren Mitgliedern aufwarten müssen, auch ist die Vereinskasse nicht auf Rosen gebettet“ (IGM/Varia 484, 9. August 1924). 121 HM 52 (1927), B 62. 122 Es ist daher wenig verwunderlich, dass Frauen auch explizit mit der Sorge um erkrankte Mitglieder der Vereinsfamilie beauftragt wurden, etwa in Laichingen (IGM/Varia 64, 29. Mai 1931). Auch in Rohracker übernahmen Frauen karitative Aufgaben. 1929 statte­ ten sie Wöchnerinnen und Schwerkranken Besuche ab und überreichten Alten, Kranken und Bedürftigen Vereinsmitgliedern am Silvesterabend ein Geschenkkorb als „Neujahrs­ grüßlein“, den sie mit ihren eigenen Mitteln finanzierten (IGM/Varia 73, 31. Dezember 1931). 123 Vgl. Kapitel 2.4.7; Wolff (1989), S. 108. 124 IGM/Varia 373, 6. Dezember 1930; IGM/Varia 379, 30. Januar 1932.

4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis

195

einmal mehr das Vorrecht, sich selbst bzw. ihr biologisches Geschlecht dar­ stellen und repräsentierten zu dürfen. Die Metabedeutung dieses Rollenaus­ tauschs wird umso offensichtlicher, als es vor dem Ersten Weltkrieg Männer waren, die sich im Rahmen der Theateraufführungen als Frauen verkleideten. Neben Kurzweil kam bei den Feierlichkeiten auch die Werbung für die Homöopathie selten zu kurz, wie beispielsweise aus dem Protokoll der Frauen­ gruppe Stuttgart­Wangen hervorgeht: Anlässlich ihrer Jahresfeier, die zugleich die Abschlussfeier des Kochkurses war, kostümierten sich die Vereinskinder „als homöopathische Arzneigläschen mit Etikette“ und mussten die Abstam­ mung und Wirkung ihrer Arznei aufsagen, wobei sie von einer Fee angeführt wurden, die ihrerseits ein Lob des Meisters Hahnemann anstimmte.125 Hier wird abermals die Körperlichkeit der Wissensinszenierung deutlich; die Kin­ der sagten Wissen nicht einfach nur auf, sie verkörperten oder materialisierten es zugleich. Solche besonderen Aufführungen dürften allerdings eher die Aus­ nahme als die Regel gewesen sein, bringen aber den Erfindungsreichtum der Laienhomöopathen zum Ausdruck, wenn es um die Programmgestaltung der Feierlichkeiten ging. Zum festen Bestandteil des Vereinskalenders avancierten die alljährlichen Weihnachtsfeiern, an die meist ein Märchenabend für Kinder angeschlossen war. Ein solches Kinderweihnachtsfest organisierte 1930 die Frauengruppe Rohracker. Die Schriftführerin Berta Stückle notierte über den Ablauf: Gespannt auf die Darbietung saßen die Besucher vor dem noch geschlossenen Vorhang. Dieser ging alsbald auf und nun zeigten unsere Kleinen ihre Kunst. Unter der bewährten Führung unseres Vergnügungsleiters Karl Stern ging das schöne Märchenspiel Schnee­ wittchen über die Bretter. Was hier gezeigt wurde, überstieg alle Erwartungen. Mit gro­ ßem Eifer und Geschick spielten die Kleinen, unter herrlicher Bühnenausstattung in märchenhaften Kostümen ihr erlerntes Bühnenwerk, ganz gewiß bei Alt und Jung gro­ ßen Erfolg erntend.126

Im Anschluss an das Theaterstück fand die Bescherung statt, im Rahmen de­ rer die insgesamt 143 teilnehmenden Kinder – wohlgemerkt von Mitgliedern eines homöopathischen Vereins  – je eine Kaffeetasse mit Löffelchen und Süßigkeiten (Backwerk und Schokolade) als Weihnachtsgeschenk erhielten. Wohlwissentlich, dass eine derart aufwendige Veranstaltung nicht nur ein Zeit­, sondern gerade auch ein Kostenfaktor ist, sprach sich die Frauengruppe dezidiert für die Beibehaltung der Kinderweihnachtsfeier aus. Schließlich sei es den Frauen eine große Freude gewesen, wiederum den Kleinen eine Freude zu bereiten, weshalb sie keine Mühen scheuten, ihr Amt „treu und liebevoll“ zu verwalten. Diese Zeilen lassen erkennen, dass sich die Frauengruppen mit ihrem Engagement offensichtlich vor dem Hauptverein rechtfertigen mussten, der schließlich den Großteil der Finanzierung ihrer Aktivitäten trug. Die Tat­ sache relativiert allerdings das vermeintliche Verschwinden der Männer in­ nerhalb der Laienvereinsbewegung: Waren Männer zwar nicht mehr die

125 IGM/Varia 373, 8. März 1930. 126 IGM/Varia 73, 14. Dezember 1930.

196 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) Hauptadressaten von Gesundheitswissen, sie blieben letztlich die Entschei­ dungsträger und Vermögensverwalter der Vereine. Nach der Kinder­ fand die Erwachsenenweihnachtsfeier statt, an deren Gestaltung im Falle Rohrackers auch der Hauptverein beteiligt war. Auch diese Weihnachtsfeier wartete mit mehreren humoristischen Darbietungen, einem Theaterstück („Der Glockenguß zu Breslau“) und sogar mit akrobati­ schen Übungen des eingeladenen Turnvereins auf.127 Die Pflege der Geselligkeit bestand im Wesentlichen in der Ausrichtung der genannten Kurs­, Stiftungs­ oder Weihnachtsfeierlichkeiten. Auffallend ist, dass sie von allen Vereinen, ungeachtet ihrer Größe, verstärkt ab der Mitte der 1920er angestrebt und ins Programm aufgenommen worden sind. Das lag zum einen sicherlich an der Verbreitung der Frauengruppen, die ja mit dieser Aufgabe betraut wurden, zum anderen aber auch am allgemein ausgeprägten Bedürfnis, bei geselligen Versammlungen für einen Moment dem Alltag zu entfliehen. Eine Herbstwanderung des Vereins in Stuttgart­Wangen endete da­ her auch nicht am morgendlichen Ausgangspunkt, sondern erst spät abends in einem Tanzlokal. Die Mitglieder bekundeten anschließend ihr Interesse an einer Wiederholung solcher Ausflüge.128 Auf die Beliebtheit der gesellig­un­ terhaltsamen Zusammenkünfte deutet ebenfalls deren vielfach bezeugter zahl­ reicher Besuch hin. Bei der oben erwähnten Weihnachtsfeier des Homöopa­ thischen Vereins Rohracker notierte der Schriftführer beispielsweise im Proto­ koll, dass der eigens angemietete Raum viel zu klein gewesen sei, um die zahlreich erschienenen Gäste zu fassen.129 Geht es um die Geselligkeit der homöopathischen Laienvereinsbewegung in der Weimarer Zeit, so dürfen zwei besondere, wenn auch einzigartige, Ver­ anstaltungen nicht ausgelassen werden. Die Rede ist von einem Kinderfest und einem mehrtägigen Ausflug, die beide vom Verein bzw. der Frauengruppe in Rohracker ausgerichtet wurden. Das Kinderfest fand am 11. August 1929 statt und wird an Umfang und Darbietung alles übertroffen haben, was von Seiten der Vereine bis dato aufgeboten worden war. Den Auftakt machte ein Festumzug durchs Dorf, der von drei Festwagen mit den Märchenfiguren Hänsel und Gretel, dem gestiefelten Kater und Rotkäppchen angeführt wurde. Ihnen folgten die mit Blumen geschmückten Kinder sowie etliche Ver­ einsmitglieder. Auf dem Festplatz vollführten die kleineren und größeren Kin­ der eigens einstudierte Tänze und Reigen, Springen, Klettern, „Wurstschnap­ pen und sonstige Belustigungen“. Auch zwei große Luftballons ließ man „un­ ter großer Heiterkeit“ steigen. Als es nach einer Ansprache des Bürgermeis­ ters allmählich dämmerte, händigte man den Kindern Lampions aus und brach zu einem von Musik begleiteten Fackelzug auf. Einen Abschluss fand das Kinderfest schließlich mit dem nächtlichen Feuerwerk, „welches den Kin­ dern und allen Anwesenden noch große Freude bereitete.“130 Obwohl die 127 128 129 130

IGM/Varia 73, 14. Dezember 1930. IGM/Varia 373, 11. Oktober 1931. IGM/Varia 73, 14. Dezember 1930. IGM/Varia 73, 11. August 1929.

4.4 Die Arbeit der Frauengruppen in der Praxis

197

Werbewirkung eines solchen Dorffests im Protokoll mit keinem Wort erwähnt wurde, ist doch davon auszugehen, dass es der Verein nicht allein aus altruis­ tischen Gründen ausrichtete. Die Frauengruppe als Hauptorganisator kam damit nicht nur ihrer Nebenaufgabe nach, „das Schöne und das Unterhal­ tende, Gesellige zu pflegen“ sowie die „Jugend hereinzuziehen“131, sondern machte zugleich aufmerksam auf die Sache des Vereins und damit auf die Homöopathie. Folgerichtig heißt es im Bericht der Frauengruppentagung von 1930 über die festlichen Versammlungen: „Solche Veranstaltungen haben da und dort auch Anlaß gegeben, das in Kursen Gelernte vorzuführen, seien es gymnastische Darbietungen, seien es Proben des in Verbandskursen Gelern­ ten. Hieran haben auch die Kinder da und dort teilnehmen können; auf sol­ che Weise zeigt man ihnen von früh an den Weg zu unseren Grundanschauun­ gen!“132 Die Feste konnten also je nach Perspektive unterschiedlichen Zwe­ cken dienen: Während es den Vereinen vornehmlich um die Erheiterung ihrer Mitglieder ging, schätzten die Verbandsfunktionäre gesellige Zusam­ menkünfte als probates Mittel der Agitation und um „gesundheitlich bedeu­ tungsvollen Gedanken zur Anerkennung und Einführung in das tägliche Familienleben der Vereinsmitglieder zu verhelfen“133. Das zweite besondere Ereignisse, das großes Aufsehen erregt haben dürfte, war der dreitägige Ausflug an den Vierwaldstädter See, den der Haupt­ verein Rohracker im Sommer 1930 veranstaltete.134 Der Verein reagierte da­ mit in besonderer Weise auf das in den Zwanzigern verstärkt aufkommende Bedürfnis nach dem „Komplementärerlebnis“ Freizeit. Wochenendausflüge in die Natur bzw. eine aktive Freizeitgestaltung dienten den Arbeitnehmer/ ­innen zur Rekreation und bildeten einen Gegenpol zum eintönigen Ar­ beitsalltag in Büros und Fabriken.135 Mit einem über ein Reiseunternehmen gebuchten Omnibus gelangten die insgesamt 47 – immerhin 23 % aller Mit­ glieder – Teilnehmer in die Schweiz, wo sie ein straffes und monatelang im Voraus geplantes Tagesprogramm erwartete. So brach der zweite Reisetag be­ reits um 4.30 Uhr in Luzern mit einer Dampferfahrt über den Vierwaldstäd­ tersee an, unterbrochen von einem kurzen Zwischenhalt an der Tellskapelle. Das Mittagessen nahm man in Luzern ein, hatte dann eine Stunde Zeit zur Stadtbesichtigung, fuhr nachmittags weiter nach Basel und beendete dort im Bayrischen Hof „mit gehobener Stimmung und sehr gutem Humor“136 den Tag. Am letzten Tag, wohlgemerkt einem Montag, ging die Reise mit Zwi­ schenhalten über Freiburg zurück nach Rohracker, wo die Teilnehmer zwar erst nach 23 Uhr eintrafen, sich ob der späten Stunde aber nicht davon abhal­ ten ließen, den Ausflug in einem Gasthaus ausklingen zu lassen. Dabei wurde 131 132 133 134

HM 52 (1927), B 62. HM 55 (1930), B 51. HM 55 (1930), B 51. Mehrtägige Reisen veranstalteten erst die Nationalsozialisten im Rahmen ihrer KdF­ Angebote: Dussel/Frese (1993), S. 95 ff. 135 Vgl. Schulz (2005), S. 36; Hoffmann (2012), S. 180 f. 136 IGM/Varia 72, 2.–4. August 1930.

198 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) von mehreren Seiten der Wunsch geäußert, „recht bald wieder einen solchen Ausflug machen zu können, und, daß es jedem gegönnt sein möge, daran teilzunehmen.“137 Letzteres konnte man, im Gegensatz zu einer Wiederho­ lung der Reise, nur schwerlich realisieren. Ganz abgesehen von den sicherlich nicht geringen Reisekosten standen einer Teilnahme die wenigen Urlaubstage entgegen. Bei einer regulären Sechstage­ oder 48­Stundenwoche mussten die Teilnehmer mindestens zwei Tage frei machen, was etwa einem Drittel des Jahresurlaubs, zumindest der Arbeiterschaft, entsprach.138 Andererseits waren solche, teils vom Verein subventionierte139, Kurzreisen für die meisten Mit­ glieder die einzige Möglichkeit, überhaupt einen „Urlaub“ im modernen Sinne zu verbringen; das galt vor allem in finanzieller Hinsicht. Die vom Verein organisierten Pauschalreisen bedeuteten, gemeinsam mit den außerhalb der Vereinslokale stattfindenden Festveranstaltungen, ein No­ vum. Nicht nur stärkten die homöopathischen Laienvereine damit geschickt den inneren Zusammenhalt und weckten das Interesse bei Außenstehenden, auch erweiterten sie beträchtlich ihr eigentliches Programm. Gerade die Ta­ gesreisen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung, stellen sie im Grunde doch den konsequenten Ausbau der geographisch eng begrenzten botanischen Wanderungen dar. Spätestens 1930 diente der Verein Rohracker längst nicht mehr dem 1895 in seinen Statuten festgeschriebenen Zweck, „den Mitgliedern, aber auch nur diesen bei eintretenden Krankheiten homöopathi­ sche Arzneimittel zu verabfolgen“140. Stattdessen bot er Koch­ und Gymnas­ tikkurse an, entlieh den Mitgliedern diverse medizinische Hilfsmittel wie Sitz­ ringe, Badewannen und „Wasserkissen“ (wohl Wärmflaschen) zur Körper­ und Krankenpflege141, brachte sie mit aufwendig gestalteten Feierlichkeiten zum Lachen, nahm sie mit auf ausgedehnte Reisen oder veranstaltete Lichtbilder­ vorträge, etwa über eine „Reise von Brüssel zu den Vogesen“142 oder „Reise­ erlebnisse in Italien“143. Abschließend könnte man daher sagen, der homöo­ pathischen Vereine mutierten, von Ort zu Ort unterschiedlich stark ausge­ prägt, in der Weimarer Republik zu einem Gesundheits­ und Kulturverein, 137 IGM/Varia 72, 2.–4. August 1930. 138 1925 hatten Arbeiter (in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer) Anspruch auf durchschnittlich 3–6 Tage Erholungsurlaub. Angestellten standen 12–18 Tage Urlaub zu. Vgl. Deutschmann/Dybowski­Johannson (1979), S. 319; Dussel/Frese (1993), S. 65 f.; zur Tarifpolitik in der Weimarer Republik siehe: Büttner (2008), S. 231 f.; Mai (2009), S. 67– 72. 139 Bei einer 1953 ebenfalls vom Verein Rohracker organisierten „Fahrt ins Blaue“, bei der die 94 teilnehmenden Mitglieder das Ziel erraten mussten, bestritt die Vereinskasse so­ gar die Hälfte des Ausflugsbeitrags (IGM/Varia 74, 18. Oktober 1953). 140 IGM/Varia 72, Januar 1895, Gründungsversammlung. 141 Vgl. IGM/Varia 72, Kassenbuch, Ausgaben 1912, 1923, 1926. 142 IGM/Varia 373, 20. Februar 1932. 143 IGM/Varia 373, 7. Februar 1931. Auffallend ist, dass diese beiden passabel besuchten Lichtbildervorträge (63/49 Zuhörer) den unterhaltsamen Teil der Generalversammlun­ gen bildeten. Da es bei solchen Versammlungen wegen der Beschlussfähigkeit auf einen möglichst zahlreichen Besuch ankam, waren entsprechende Vorträge mit Reiseeindrü­ cken geeignet, um etliche Mitglieder anzulocken.

4.5 Jugendgruppen

199

der sowohl einen präventiven als auch einen „rekreativen Freizeitstil“144 seiner Mitglieder nach Kräften förderte. 4.5 Jugendgruppen Nachdem sich Frauen als Träger von Gesundheitswissen bzw. Hausärztinnen in den Vereinen etablieren konnten, rückte vermehrt der Nachwuchs in den Fo­ kus der Laienbewegung. Auch das kam nicht von ungefähr, denn Jugendgrup­ pen und ­verbände erfuhren in der Weimarer Republik generell einen deutli­ chen Aufschwung.145 War die Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg noch überschaubar und größtenteils durch die Wandervögel repräsentiert, entstanden nach dem Krieg zahlreiche neue Jugendorganisationen und Bünde wie die Deutsche Freischar, die Sozialistische Arbeiter­Jugend oder konfessio­ nelle Verbände und Sportvereine, in der sich mehrere Millionen Jugendliche engagierten.146 Um die noch unentschlossenen Jugendbewegten für seine Sache zu gewinnen, gründete der Landesverband Homöopathischer Vereine Sachsens Mitte der Zwanziger eigens homöopathische Jugendgruppen.147 Im Grunde unterschieden sich die Jugendabteilungen von den Hauptvereinen und Frauengruppen lediglich in ihrer spezifischen Zielgruppe, nämlich Kin­ der und Jugendliche beiderlei Geschlechts unter 21 Jahren.148 In Anlehnung an die Wandervögel standen ihnen einige Jahre ältere Gruppenführer vor, die wiederum mit dem Stammverein in Verbindung und regem Austausch stan­ den. Ansonsten betraf das Jahresprogramm der Gruppen mit eigenen Ver­ sammlungen und Lichtbildervorträgen gesundheitsrelevante aber auch allge­ meine Inhalte, zahlreiche Wanderungen und Ausflüge, Fasnachts­ und Weih­ nachtsfeiern und sogar Sanitätskurse. Es war also mit regelmäßigen fachlichen und geselligen Veranstaltungen recht ähnlich gestaltet wie das Programm der Erwachsenenvereine. Herrschte über die Ausgestaltung der Fachvorträge und deren tieferen Sinn – die Anleitung der Jugend zu einer aufgeklärten, naturgemäßen Lebens­ und Heilweise auf Grundlage der homöopathischen Arzneimitteltherapie  – weitgehend Einigkeit, bestand bei der Vorstellung, wie eine Feier auszurichten sei, ein Dissens. Nicht selten sahen sich engagierte Befürworter der homöopa­ thischen Jugendbewegung genötigt, in Stellungnahmen vehement die „Enthal­ tung von den verderblichen Rauschgiften“149 zu fordern. Vorbildcharakter hatten hier vor allem die im Januarheft der Leipziger Populären Zeitschriften publizierten Richtlinien des Reichsjugendverbands der Vereine für Gesund­ 144 Hoffmann (2012), S. 198. 145 Conti (1984), S. 98. 146 Im Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände waren 1927 insgesamt rund 4 Millio­ nen Jugendliche zusammengeschlossen. Büttner (2008), S. 263 f.; Schulz (2005), S. 38. 147 Grubitzsch (1996), S. 63. 148 Grubitzsch (1996), S. 63. 149 LPZ 64 (1933), S. 136M, ebenso S. 35–35M.

200 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) heitspflege und Volksheilkunde, die mehrfach und konsequent die Ablehnung von Alkohol und Nikotin forderten, denn: „Unsere Vereine sind keine Ver­ eine zur Pflege der berühmten ‚Gemütlichkeit‘, die am folgenden Tage ‚Kat­ zenjammer‘ oder ‚ein Loch im Beutel‘ kennt.“150 Dass dieser Forderung längst nicht alle Jugendgruppen nachkamen, bezeugt am eindrücklichsten die Gruppe des Homöopathischen Vereins Dresden. Am 24. Oktober 1932 feierte sie ein Oktoberfest, wo bei „Tanz und etwas Bier, das bei Oktoberfesten nie fehlen darf“, die Stunden vergingen.151 Und im darauffolgenden Jahr stand ein im Februar veranstalteter „Faschingsrummel“ unter dem aussagekräftigen Motto: „Heute oder nie geht’s uns gut!“152 Offen lässt der Bericht, ob dabei auch Alkohol konsumiert wurde. Allerdings behauptet er auch nicht das Ge­ genteil, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass die älteren Jugendli­ chen durchaus in den Genuss des einen oder anderen Glases Bier gekommen sein könnten. Auffallend ist nun, dass homöopathische Jugendgruppen, die der Unter­ weisung von Heranwachsenden in Gesundheitsfragen und damit indirekt der Zukunftssicherung der Laienbewegung dienen sollten, zuerst und nahezu aus­ schließlich in Sachsen und Mitteldeutschland gegründet wurden. Darauf lässt jedenfalls der Vergleich des Jahrgangs 1933 der Homöopathischen Monatsblätter und Leipziger Populären Zeitschrift schließen. Während letztere der homöopa­ thischen Jugendbewegung in ihren Vereinsmitteilungen viel Raum schenkte, erwähnten die Beilagen der Monatsblätter nur in zwei Fällen bereits existie­ rende Jugendgruppen.153 Die Arbeit des Reichsjugendverbandes der Vereine für Gesundheitspflege und Volksheilkunde machten die Monatsblätter, zu­ mindest 1933, überhaupt nicht zum Thema, ganz im Gegensatz zu ihrem Leipziger Pendant. Auch der Grad der Organisation war in Sachsen wesent­ lich höher. In Süddeutschland steckte die Jugendbewegung dagegen sprich­ wörtlich in den Kinderschuhen. Dort entdeckten die Verbandsfunktionäre das Potenzial der gezielten Nachwuchsförderung und ­schulung erst, als es schon zu spät war: die Gleichschaltung der Vereine und der Universalanspruch der Hitlerjugend machten eine Aufrechterhaltung oder Gründung der Jugend­ gruppen und ­verbände nach sächsischem Vorbild ab dem Sommer 1933 zu­ nächst schwierig und schließlich unmöglich.154 Das dürfte erklären, warum Eberhard Wolff in seiner Fallstudie über den württembergischen Homöopa­ thischen Verein Heidenheim die Gründung von Jugendgruppen im Gegen­ satz zu den wesentlich aktiveren Frauengruppen nicht erwähnt. Auch Marion Baschin, die die Entwicklungen der homöopathischen Laienbewegung außer­ halb Württembergs berücksichtigt, klammert die Jugendgruppen wegen ihrer Kurzlebigkeit und marginalen Bedeutung aus. 150 151 152 153

LPZ 64 (1933), S. 31M. LPZ 64 (1933), S. 29M. LPZ 64 (1933), S. 29M. HM 58 (1933), S. B28, B53. Die Gruppen gehörten den homöopathischen Vereinen De­ gerloch und Möhringen an. 154 Mogge (1998), S. 188.

4.6 Der Anfang vom Ende?

201

4.6 Der Anfang vom Ende? Die homöopathische Laienbewegung am Vorabend der „Willkürherrschaft“155 An der Sozialstruktur der homöopathischen Laienbewegung änderte sich bis 1933 – abgesehen vom höheren Frauenanteil – indessen nicht viel. Die Ein­ schätzung Wolffs, der zufolge von einem sozialen Abstieg ins Proletariat und Kleinbürgertum gesprochen werden könne, lässt sich, wie gezeigt wurde, nicht ohne weiteres verallgemeinern. Denn der Anteil von Arbeitern, unselbständi­ gen Handwerkern, einfachen Angestellten und niederen Beamten unter den Vereinsmitgliedern dominierte von Anfang an; er schwankte zwischen 30 und 50 %, konnte mancherorts aber auch darüber liegen. Ausschlaggebend für die soziale Zusammensetzung der Laienvereine scheint mir vielmehr der Urbani­ sierungs­ und Industrialisierungsgrad der Stadt oder Region gewesen zu sein: Die Städte Ronsdorf (1877, 78 % Arbeiter/Handwerker), Möhringen (1929, 64 %; vgl. Diagr. 13), Radevormwald (1895, 57 %), Heidenheim (1932, 53 %156) und Laichingen (1944, 44 %) beispielsweise verfügten allesamt über einen oder mehrere florierende Wirtschafts­ und Industriezweige. Die Belegschaften der dort ansässigen textil­ und metallverarbeitenden Betriebe stellten die meisten Mitglieder; sie hatten ein existentielles Interesse am Erhalt der eigenen Ge­ sundheit und Erwerbsfähigkeit. In solchen Gemeinden und Kleinstädten hin­ gegen, in denen die Industrie im Vergleich zum Agrar­ oder Dienstleistungssek­ tor weniger wichtig war, waren bürgerlich­kleinbürgerliche Kreise stärker ver­ treten. Als Beispiel ließe sich die württembergische Kleinstadt Nagold anfüh­ ren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt war. Wie aus Diagramm 12 hervorgeht, waren 1919 im dortigen ho­ möopathischen Verein dementsprechend auch nur 15 Arbeiter und Handwer­ ker organisiert. Sie stellten damit nur rund 16 % der insgesamt 92 Mitglieder. Weit größer war der Gesamtanteil der Angestellten, Kaufleute, Beamten und vor allem der Selbständigen. Sie kamen auf zwölf, neun, 13 und 30 %. Zudem gehörten dem Verein sechs Lehrer an; ein Wert, den nur der Verein Laichingen mit sieben überbieten konnte, allerdings bei einer vierfach höheren Mitglieder­ zahl. Dies ist ein weiteres Indiz für die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hete­ rogene Sozialstruktur der homöopathischen Laienbewegung, in der Proletarier und Kleinbürger sowie Angehörige der Mittel­ und seltener der Oberschicht (Akademiker, Fabrikanten und Gutsbesitzer) organisiert sein konnten. Auch in Bezug auf die Zusammensetzung der Ausschüsse kann ein sozia­ ler Abstieg der Laienvereine im Sinne Wolffs nur bedingt konstatiert werden. An der Spitze des Möhringer Vereins stand 1929 zwar ein Schreiner, die übri­ gen Ausschussmitglieder übten den Beruf eines Mechanikers, Maschinenar­ beiters, Steuerinspektors, Zimmermeisters oder Gewerbeobersekretärs aus.157 Das Kleinbürgertum war demnach im Ausschuss zwar überrepräsentiert, doch war das beispielsweise auch schon 1877 im bergischen Ronsdorf der 155 IGM/Varia 69, 17. April 1955. 156 Vgl. Wolff (1989), S. 94. 157 StA LB/ F 303 III Bü 1019.

202 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) Fall. Dort setzte sich der Vorstand aus einem vorsitzenden Lehrer, einem wei­ teren Hauptlehrer, einem Schuster, zwei Textilwirkern und einem Kaufmann zusammen. Die Sozialstruktur der Laienbewegung und ihrer Funktionäre erwies sich damit, zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als persistent. In Anbetracht des Akkulturationsprozesses der homöopathischen Laienvereinsbewegung, der sich vor allem in der Weimarer Zeit beschleu­ nigte, kann umgekehrt eher von einer sozialen Aufwertung der Bewegung ge­ sprochen werden, da sie nicht länger ein Schattendasein innerhalb des örtli­ chen Vereinswesens spielen mussten. Zu ihren Veranstaltungen strömte die Einwohnerschaft teils zu Hunderten und an den Festen nahmen Gemeinde­ ratsvertreter und andere Honoratioren teil. 28

30 25 20 15

12

10 5

12

11 8

7 3

6 1

1

0

Diagr. 12: Sozialstruktur des Homöopathischen Vereins Nagold, Stand: 1919 (n=92). 50 39

40 30 20 10

13

10 5

4

4

4

5

1

0

Diagr. 13: Sozialstruktur des Homöopathischen Vereins Möhringen, Stand: 1929 (n=85).

4.6 Der Anfang vom Ende?

203

Als Adressaten der vereinsseitigen Wissensvermittlung kristallisierten sich  – parallel zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen – zwei Sozialgruppen heraus: Frauen und etwas später Kinder bzw. Jugendliche. Traten Frauen in­ nerhalb der Vereinsbewegung um die Jahrhundertwende noch als Zuhörerin­ nen und als Ehefrauen der überwiegend männlichen Vereinsmitglieder in Er­ scheinung, so gewannen sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sehr an Bedeutung. Unter den rund 600 Mitgliedern des Homöopathischen Vereins Radevormwald befand sich 1895 nur eine Handvoll Frauen, zumeist Witwen verstorbener Mitglieder, die deren Mitgliedschaft übernahmen. Die Mitglie­ derliste des Vereins Nagold führte 1919 hingegen schon elf Frauen (zwölf Pro­ zent aller Mitglieder), von denen immerhin acht einem Beruf nachgingen. Zehn Jahre später betrug der Anteil der berufstätigen und weiblichen Mitglie­ der im württembergischen Möhringen schon 20 %. Dieser Trend sollte sich auch in den 1930er Jahren fortsetzen: 1944 waren im Verein für Homöopa­ thie und Lebenspflege Laichingen bereits 93 Frauen (25 % aller Mitglieder) organisiert, von denen wiederum lediglich ein knappes Drittel (28) als Witwe keinem Beruf nachging. Der Anteil von Frauen konnte zwar von Verein zu Verein schwanken, insgesamt ist aber ein deutlicher Zuwachs weiblicher Mit­ glieder zu verzeichnen. Er wird bis zum Ende des 20. Jahrhunderts anhalten, das ursprüngliche Geschlechterverhältnis umkehren und somit die Laienbe­ wegung sozusagen feminisieren. Mitte der 1920er Jahre mündete die zuneh­ mende Einbindung, Präsenz und Aufwertung der Gesundheitskompetenz von Frauen in die Gründung eigener Gruppen, in denen sich mehr und mehr die Wissensvermittlung sowie das soziale Vereinsleben abzuspielen begannen. Die Leipziger Populäre Zeitschrift brachte ab 1927 zudem gesonderte Frauen­ seiten heraus.158 In den Ausschusssitzungen der Hauptvereine waren Frauen zusätzlich als Vertreterinnen ihrer Gruppe aktiv. Trotz ihres Bedeutungszu­ wachses blieb Frauen das Amt eines Vereinsvorstands oder ­vorsitzenden so­ wohl in Sachsen als auch in Württemberg verwehrt.159 Ingrid Maier­Regel sollte die erste und einzige Frau sein, die wohlgemerkt erst 1987, an die Spitze eines homöopathischen Hauptvereins gewählt wurde. Die homöopathische Laienbewegung durchlief in der Weimarer Zeit kei­ nen erheblichen, aber doch einen grundlegenden Veränderungsprozess. Als Mitglieder von Gesundheitsvereinen sahen sich die organisierten Laienho­ möopathen in besonderem Maße zur Bewältigung der Aus­ und Nachwirkun­ gen des Ersten Weltkriegs aufgerufen. Tauglich erschien den Wortführern das von konservativen Kreisen lancierte Konzept der „Pflicht zur Gesundheit“, das auf Prävention und Selbstverantwortung statt Sozialleistungen abzielte. Impulse bei der Umsetzung dieses neuen Gesundheitskonzepts, das die ho­ möopathische Krankheitsbehandlung als alleinigen Daseinszweck der Laien­ bewegung abzulösen begann, gingen von der Lebensreformbewegung aus. Vor allem die Ernährungsreformer mit ihrer Betonung einer vitaminreichen, naturbelassenen und vollwertigen Ernährungsweise übten großen Einfluss auf 158 Grubitzsch (1996), S. 63. 159 Grubitzsch (1996), S. 63.

204 4. Die homöopathische Laienbewegung in der Weimarer Republik (1919–1933) die homöopathische Laienbewegung aus, was in den zahlreichen ernährungs­ bezogenen Vorträgen und speziellen Kochkursen deutlich wird. Die Überzeu­ gung, dass der menschliche Körper nicht nur von innen gepflegt werden muss, um ihn gesund zu erhalten, drückte sich ferner in den vielerorts veranstalteten Gymnastikkursen für Frauen und Kinder aus. Es genügte nicht länger, im Krankheitsfall bestimmte homöopathische Mittel zu schlucken. Stattdessen sollte man dafür sorgen, dass es dieser Mittel erst gar nicht mehr bedurfte. Zur physischen Gesundheitsförderung gesellte sich schließlich die psychische: Nachdem sich die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ab 1924 all­ mählich stabilisierten, rückte auch die Pflege der Geselligkeit wieder vermehrt in den Fokus der Vereine. Manche Festlichkeiten sollten an Aufwand alles bisher Gebotene übersteigen, was sowohl der öffentlichen Inszenierung der Vereine als auch der Identitätsstiftung und Steigerung des Zusammengehörig­ keitsgefühls diente. Die Blütephase der homöopathischen Laienbewegung war indessen nur von kurzer Dauer. Der „Schwarze Freitag“ bzw. der New Yorker Börsencrash und seine globalen Folgen stürzten Deutschland erneut in eine tiefe wirt­ schafts­ und innenpolitische Krise.160 Die Industrieproduktion ging um mehr als 40 % zurück, was Massenentlassungen und damit eine mit 36 % extrem hohe Arbeitslosenquote nach sich zog. Gleichzeitig brach die Kaufkraft ein, wodurch sich die konjunkturelle Abwärtsspirale noch beschleunigte. Mas­ senelend und politische Radikalisierung waren die Folge.161 Die allgemeine Notlage spiegelte sich auch in den Protokollen der homöopathischen Laien­ vereine wieder, denen mehrheitlich die am schwersten betroffene Sozial­ gruppe (Arbeiter und Kleinbürger) angehörten. Im württembergischen Herbrechtingen beispielsweise lag die Arbeitslosenquote unter den Vereins­ mitgliedern 1932 bei rund 50 %162, im sächsischen Lößnitz 1933 sogar bei 80 %.163 Die Laienvereine konnten dieser Entwicklung zwar nichts entgegen­ setzen, versuchten aber, das Vereinsprogramm so normal wie möglich weiter­ zulaufen zu lassen bzw. das Interesse wachzuhalten. Letztlich blieb das jedoch ohne Erfolg: Reihenweise bekundeten die Mitglieder ihren Austritt, zumal von den Vereinen außer den mittlerweile zynisch anmutenden Ernährungs­ vorträgen und den markigen Durchhalteparolen keine Hilfe zu erwarten war – die Vereinsapotheken waren ja seit längerem verboten und Sach­ und Finanzleistungen wie im Ersten Weltkrieg blieben ebenfalls aus. Im bereits erwähnten Herbrechtingen ging der Mitgliederstand in den Krisenjahren von 93 auf 68 (27 %) zurück. Auch andere Vereine hatten mit einem mehr oder weniger hohen Mitgliederschwund zu kämpfen. Der Verein Reutlingen verlor zwischen 1929 und Anfang 1933 79 (24 %), der Verein Stuttgart­Wangen im selben Zeitraum 59 Mitglieder (16 %). In Gablenberg brach der Mitglieder­ 160 Zur Wirtschaftskrise und deren Folgen siehe: Büttner (2008), S.  402–405; Mai (2009), S. 106–114. 161 Vgl. Büttner (2008), S. 436–448. 162 IGM/Varia 518, 6. März 1932. 163 LPZ 64 (1933), S. 104M.

4.6 Der Anfang vom Ende?

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stand von 355 auf 292 (18 %) ein, in Heidenheim von 375 auf 324 (14 %) Auf­ grund der prekären wirtschaftlichen Lage muss man also einen mehr oder weniger hohen Mitgliederschwund feststellen. Er traf die homöopathische Laienbewegung just in dem Moment, als sie sich vom Einbruch der frühen 1920er einigermaßen erholt hatte.164 Spätestens 1932 häuften sich die Klagen über die drückenden wirtschaftlichen Verhältnisse, über Geldknappheit, Not­ verordnungen und die häufigen Regierungswechsel. Der Schriftführer des Vereins Hürben empfand die politischen Wirren wie einen „Sturm welcher ja wirklich die Menschen hin und her wirft wie ein Laub“165. Dass solche Refle­ xionen überhaupt ins sonst eher nüchtern und sachlich gehaltene Protokoll eingetragen worden sind, lässt auf das hohe Maß an Verunsicherung und Be­ drückung schließen, mit denen die Laienhomöopathen die Entwicklungen wahrnahmen.

164 Es gab allerdings auch hier Ausnahmen: Dem Verein Laichingen gelang, mittels eines vielfältigen Programms den drohenden Austritten vorzubeugen und trotz oder gerade wegen der neuerlichen Krisenzeit neue Mitglieder zu gewinnen. Zwischen Januar 1929 und Januar 1932 nahm er um 57 Mitglieder (33 %) zu. 165 IGM/Varia 518, 30. Oktober 1932.

5. „Gesundsein ist die sittliche Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk“1 – Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945) Die nachfolgenden Kapitel gehen auf die Frage ein, wie sich die homöopathi­ sche Laienbewegung nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im Januar 1933 veränderte. Im Mittelpunkt steht die Genese eines präventiven Selbst, die bereits in der Weimarer Republik begann und nach 1933, wie sich zeigen soll, unter anderen Vorzeichen fortgesetzt wurde. Die Propagierung einer naturgemäßen, leistungssteigernden Lebensweise zielte nicht länger auf Freiwilligkeit oder innere Überzeugung, sondern wurde von der NS­Gesund­ heitsführung vehement von außen eingefordert. Eberhard Wolff konnte be­ reits 1989 in seiner Fallstudie über den Verein Heidenheim zeigen, dass sich der Verein mit den Nationalsozialisten und der Beschränkung seiner Freihei­ ten weitestgehend arrangierte.2 Den Vorgaben der NS­Gesundheitsprogram­ matik wurde er aber nur dann gerecht, wenn sie unumgänglich waren.3 Von einer „Funktionalisierung durch die Nationalsozialisten via Gesundheits­ pflicht“4 könne daher nicht gesprochen werden, eher funktionalisierten oder „rückvereinnahmten“5 die Laienhomöopathen die nationalsozialistische Ge­ sundheitspflicht für die eigenen Interessen. Ob dieser Befund der Überprü­ fung an einem breiteren Quellenkorpus standhält und für die homöopathi­ sche Laienvereine im Allgemeinen zutrifft, wird im Folgenden ebenso zu überprüfen sein wie die Hypothese, dass die nationalsozialistische Gesund­ heitspolitik die Transformation des kurativen zum präventiven Selbst maßgeb­ lich vorantrieb. 5.1 Die „Bemächtigung“6 der homöopathischen Laienvereine durch die Nationalsozialisten: Ablauf, Reaktionen und Konsequenzen Nachdem das Weimarer Verfassungssystem im März 1933 mit dem „Ermäch­ tigungsgesetz“ endgültig außer Kraft gesetzt worden war7, begannen die Na­ tionalsozialisten umgehend mit der Gleichschaltung aller Ebenen des politi­ schen, gesellschaftlichen und privaten Lebens.8 Diejenigen Organisationen, Verbände und Institutionen, denen nicht unverzüglich die Existenzberechti­ gung abgesprochen werden konnte, wurden gezwungen, ihre demokratischen Strukturen abzuschaffen, jüdische und politisch missliebige Personen auszu­ 1 2 3 4 5 6 7 8

Zitiert nach: Haug (1989), S. C­673. Wolff (1989), S. 199. Wolff (1989), S. 207. Wolff (1989), S. 204. Vgl. Wolff (1992), S. 130. Vereinschronik Neu­Ulm (2003), S. 17. Vgl. Mai (2009), S. 123 f.; Wehler: Erster Weltkrieg (2010), S. 607 f. Zur Gleichschaltung siehe ausführlich: Wehler: Erster Weltkrieg (2010), S. 606–619.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

207

schließen und die vakanten Stellen mit zuverlässigen Parteigenossen und ­gän­ gern zu besetzen. Davon blieben auch die homöopathische Laienvereine und ­verbände nicht verschont. Für sie galten die „Richtlinien für die Organisatio­ nen für Gesundheits­Pflege“, die die Abteilung Volksgesundheit der NSDAP­ Reichsleitung am 18. April 1933 unter Leitung von Dr. Bernhard Hörmann (1898–1977) ausgab: Die verantwortliche Leitung der Bünde und aller ihrer einzelnen Teile muß so zusam­ mengesetzt sein, daß sie sichere Gewähr für die Arbeit in rein nationalsozialistischem Geist gibt. Die Vorstände (Ausschüsse) und ausführenden Organe sind demgemäß sofort so umzubilden, daß die nationale Richtung gewährleistet ist. […] Fehlanzeige oder Wi­ derstand gegen diese Anordnung hat die Auflösung des Vereins usw. zur Folge. Vereine oder Vereinsgruppen, die bisher der Hauptorganisation ihrer Richtung fernstanden, ha­ ben sich innerhalb von vier Wochen zu entscheiden, ob sie sich ihr anschließen oder sich auflösen wollen.9

Obwohl diese strikten Bestimmungen in aller Regel personelle Konsequenzen nach sich zogen und „die Umstellung zum 3. Reich an unserer Sache nicht ganz spurlos vorüber ging“10, führten sie in keinem der untersuchten Fälle zu einer Vereinsauflösung. Alle Vereine im Quellenkorpus, die 1933 noch aktiv waren11, nahmen die Richtlinien widerstandslos an. Auch in Heidenheim, Metzingen, Neu­Ulm, Steinheim und Winterbach ging die Vereinsarbeit nach der „Bemächtigung“12 weiter wie gehabt, wie aus den jeweiligen Vereinschro­ niken hervorgeht. Einzig die Homöopathischen Monatsblätter berichten 1933 da­ von, dass sich die Laienvereine in Eisingen, Singen, Heubach bei Gmünd und Söllingen aufgelöst hätten.13 Die näheren Gründe sind nur für Heubach be­ kannt; dort sei die Mitgliederzahl so gering gewesen, dass ein Weiterbestehen des Vereins keinen Sinn machte.14 Ob das auch auf die anderen Vereine zu­ trifft, erscheint fraglich. Möglich wäre auch, dass sie den neuen Richtlinien wegen der politischen Überzeugung ihrer Vorstände nicht entsprechen konn­ ten oder wollten. Doch das sind Einzelfälle. Gesamt gesehen überstanden nur wenige homöopathische Vereine die „völlige Umgestaltung aller Dinge“15 nicht. Die überwiegende Zahl versuchte, sich mit der neuen Situation zu ar­ rangieren und sich die „hohen Ideale der Homöopathie“16 vor Augen zu füh­ ren, um die Restriktionen erträglicher werden zu lassen.17 Wenn dennoch die Argumente ausgingen, konnte man das Schlechte immer noch ins Positive 9 Zitiert nach: Haug (1986), S. 232; Karrasch (1998), S. 128. 10 Mit dieser Untertreibung kommentierte der Vorsitzende in Reutlingen die Gleichschal­ tung seines Vereins: IGM/Varia 485, Jahresbericht 1933. 11 Bischheim, Fellbach, Hürben, Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen. 12 Vereinschronik Neu­Ulm (2003), S. 17. 13 Vgl. HM 58 (1933), S. B70. 14 HM 58 (1933), S. B70. 15 HM 65 (1937), S. 35M. 16 HM 65 (1937), S. 35M. 17 Dahingehend äußerte sich ein Delegierter der im Mai 1933 tagenden Verbandsversamm­ lung des Süddeutschen Landesverbands für Homöopathie und Lebenspflege. Vgl. Haug (1986), S. 231 f. Wolff und später auch Karrasch weisen darauf hin, dass solche Bemer­ kungen freilich nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurden und nicht an die

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

verkehren: Dank der neuen Regierung, so ein Delegierter aus Reutlingen bei der Süddeutschen Verbandsversammlung, sei die Zeit der „grossen Reden & Gegenreden“18 vorbei. Wie Bertram Karrasch in seiner Arbeit über die „Volkskundlichen Laien­ verbände im Dritten Reich“ gezeigt hat, nahmen die Verbandsfunktionäre und Wortführer der homöopathischen Laienbewegung die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit Zuversicht und die Gleichschaltung mit Op­ timismus auf.19 Immanuel Wolf fand für die Vereinsvorsitzenden und Ver­ bandsleiter, die „der Gleichschaltung zum Opfer fallen“20, immerhin Worte der Anerkennung. „Man trennte sich ungern von alten bewährten Vereinsvor­ ständen, die nicht aus Opportunismus der Partei beitreten wollten. Aber man beeilte sich doch, den Gleichschaltungsrichtlinien Genüge zu leisten.“21 An­ strengungen, die aus politischen Gründen zum Austritt gezwungenen Mitglie­ der wegen ihrer Verdienste zu halten, unternahmen Wolf und die übrigen Ausschussmitglieder des Reichsbunds und Süddeutschen Verbands hingegen nicht. Als 1933 ein Kassenrevisor festgenommen und mit ihm das Kassen­ buch beschlagnahmt wurde, ging es dem Verbandsausschuss in erster Linie um die Rückerstattung der geschäftswichtigen Bücher. Über das Schicksal des Revisors verlor man hingegen keine weiteren Worte, denn eine Parteinahme hätte die mit der politischen Überwachung beauftragte SS auf den Plan geru­ fen und den Verband in Erklärungsnöte bringen können. Das Treuegelöbnis gegenüber Hitler bzw. die Aussichten auf Anerkennung und Aufwertung der Homöopathie zeigten erstmals ihre Schattenseiten. Sie anstandslos in Kauf zu nehmen war man indessen auch auf der Vereinsebene bereit, wie sich im Fol­ genden zeigen wird. Die homöopathischen Laienvereine schalteten sich im Mai und Juni 1933 gleich.22 Von Seiten der Verbandsführungen ergingen eindringliche Mahnun­ gen an die Laienvereine, sie sollten entschlossen handeln. Abwägen und Ent­ rinnen könne es nicht geben, die nationale Regierung verlange Sauberkeit und Reichskommissar Hörmann23 habe Einsicht in die Bücher.24 Entspre­ chend schnell war in den meisten Fällen die Frage geklärt, ob man den An­ ordnungen der Partei Folge leisten wolle oder nicht. Mit der Annahme der Richtlinien waren die Vereine allerdings vor das Problem gestellt, diejenigen Vorsitzenden und Mitglieder auszuschließen, die bei „einer marxistischen

18 19 20 21 22 23 24

Öffentlichkeit dringen sollten. Vgl. Wolff (1989), S.  198; Karrasch (1998), S.  127, Anm. 393. IGM/Varia 485, Jahresbericht 1933. Vgl. Karrasch (1998), S. 127. Protokoll des Süddeutschen Landesverbands für Homöopathie und Lebenspflege 1933. Zitiert nach: Haug (1986), S. 232. Haug (1986), S. 232. Karrasch (1997), S. 174; Karrasch (1998), S. 131. Zu Bernhard Hörmann, Leiter der Abteilung Volksgesundheit der NSDAP, siehe: Kar­ rasch (1998), S. 23–25. LPZ 64 (1933), S, 199M. Gemeint sind die Protokoll­ und Kassenbücher der Laienver­ eine.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

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Organisation oder Partei tätig war[en]“25. Ferner dürfe im Ausschuss des Ver­ eins „niemand sein, der der S. P. D. usw. angehöre, oder angehört habe.“26 Ei­ nigen Vereinen bereitete die personelle Umstrukturierung offenbar keine grö­ ßeren Schwierigkeiten, denn der Ausschuss blieb auch nach vollzogener Gleichschaltung unverändert. Der Laichinger Verein verkündete, sein Aus­ schuss bestünde bereits zu mehr als der Hälfte aus Angehörigen der NSDAP, Deutschnationalen Front, NS­Kriegsopferversorgung, des NS­Kraftfahrerkorps, verschiedener Kriegervereinen, des Stahlhelms und nicht näher beschriebe­ nen Fachschaften.27 Entsprechend positiv fiel auch die die Stellungnahme des Vereinsvorsitzenden bezüglich des Regierungswechsels aus. Es sei zu begrü­ ßen, dass der Homöopathie nun „die Tore zur Entfaltung und Nutzbarma­ chung in weiten Volkskreisen geöffnet seien“28. Ohne Komplikationen ging das Einschlagen der nationalen Richtung auch im sächsischen Siebenlehn vonstatten, wo „verschiedene Mitglieder“ der NSDAP angehörten. Die Gleich­ schaltung des dortigen Homöopathischen Vereins vollzog der Ortsgruppenlei­ ter der Partei höchstpersönlich.29 Diese beiden Beispiele sind allerdings die Ausnahme. Bei der Mehrheit der untersuchten Vereine brachte die Gleich­ schaltung eine Umstrukturierung des Ausschusses30 und – das darf nicht über­ sehen werden – häufig einen eklatanten Mitgliederschwund mit sich.31 Offen­ sichtlich waren nicht alle Mitglieder mit dem nationalen Kurs einverstanden, den ihr Verein nun einschlug. Auf politische Gründe oder gar Zwangsaus­ schlüsse wurden die Austritte allerdings nicht zurückgeführt. Stattdessen ver­ unglimpfte man in den Protokollbüchern die Ausgetretenen, sie seien noch nicht wirklich im Dritten Reich angekommen, wenn sie sofort mit dem „Kampfmittel Austritt“ drohten, nur weil der Verein gezwungen sei, einige Personalfragen zu stellen.32 25 IGM/Varia 374, 10. Mai 1933. 26 IGM/Varia 69, 12. Juni 1933. 27 IGM/Varia 64, 27. Mai 1933. Der betreffende Protokolleintrag ging auf der Folgeseite noch weiter, wurde aber nachträglich mit dem belanglosen Bericht des Böhringer Stif­ tungsfests überklebt. Gut möglich, dass damit im Nachhinein kompromittierende Infor­ mationen vertuscht werden sollten. 28 IGM/Varia 64, 27. Mai 1933. 29 LPZ 64 (1933), S. 226M. 30 Etwa in Bischheim, wo fünf alte Ausschussmitglieder austreten mussten und durch Par­ teimitglieder ersetzt wurden: Grubitzsch (1996), S. 66. 31 In Reutlingen ging der Mitgliederstand des Homöopathischen Vereins nach der Macht­ übernahme von 253 (Ende 1932) auf 188 (Ende 1937, IGM/Varia 485, Jahresbericht 1937) zurück. Einen eklatanten Rückgang hatte auch der Verein Stuttgart­Wangen zu verzeichnen, dort traten zwischen Januar 1933 und Januar 1936 55 Mitglieder aus. 1938 wurde bei der Generalversammlung die Frage gestellt, warum der Verein nur noch 250 Mitglieder zähle. Die Ursache für den Schwund führte der Vereinsvorsitzende jedoch nicht auf die gleichschaltungsbedingten Veränderungen zurück, sondern darauf, dass die Mitglieder dem Verein nur wegen materiellen Vorteilen (billige Arzneimittel, Vergünsti­ gungen etc.) blieben. Heutzutage sei allerdings alles den Krankenkassen angegliedert, weswegen die Leute sich aus Bequemlichkeit von ihrer Mitgliedschaft lösten (IGM/Varia 374, 22. Januar 1938). Vgl. hierzu auch Baschin (2012), S. 222; Karrasch (1997), S. 174 f. 32 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1933.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Wo eine nationale Mehrheit im Sinne der NSDAP­Richtlinien nicht ge­ währleistet werden konnte, erfolgte die Gleichschaltung nach dem Führer­ prinzip. Der bis dahin amtierende Ausschuss legte mitsamt dem Vorsitzenden seine Arbeit nieder und gab die „Neuwahl“ in die Hände eines dazu Berufe­ nen. Das konnte, wie im sächsischen Siebenlehn oder Wurgwitz33, ein exter­ nes NSDAP­Mitglied sein oder, wie in Freital­Döhlen­Weißig34, ein mit der Gleichschaltung beauftragter Kommissar des Reichsbunds für Homöopathie und Lebenspflege. Der Vereinsbericht aus Freital bemerkt zum Schluss, dass die Versammlung unter der Überwachung eines Hilfspolizisten, also eines SA­, SS­ oder Stahlhelm­Angehörigen, gestanden habe. Auf die Vereine wurde also ganz bewusst Druck ausgeübt, damit sie keine „Fuchslistigkeiten“35 trie­ ben, wovor Immanuel Wolf eindringlich die süddeutschen Vereinsvorstände warnte. Der Ablauf der Gleichschaltung war in beiden Fällen der gleiche: Der Beauftragte hielt meist eine kurze Ansprache, in der abermals das Programm der Nationalsozialisten und die Notwendigkeit dieser Maßnahme dargelegt wurde. In Möhringen führte der Gauvorsitzende Flöchinger vor Vollzug der Gleichschaltung dahingehend aus, „daß die heutige Zeit verschiedene natio­ nal eingestellte Männer brauche um eine Arbeit im Sinne unseres Führers Adolf Hitler zu gewährleisten.36 Anschließend folgte die Ernennung eben sol­ cher Männer zu neuen Vorsitzenden und Ausschussmitgliedern. Formal abgeschlossen war die Gleichschaltung des jeweiligen Vereins mit der Unterzeichnung der sogenannten Verpflichtungsscheine, die anschließend an die Abteilung Volksgesundheit der NSDAP­Reichsleitung zurückgeschickt werden mussten. Offene Kritik über die erzwungene Umstellung der Vereins­ führung sowie den Rauswurf oder freiwilligen Austritt langjähriger Vereinska­ meraden wurde aus nachvollziehbaren Gründen nicht geäußert. Beanstandet wurde wie in Reutlingen allenfalls die übereilte Durchführung der Gleich­ schaltung.37 5.1.1 Konsequenzen der Gleichschaltung und Reaktion der Laienhomöopathen Im Rahmen einer ordentlichen oder außerordentlichen Mitgliederversamm­ lung die „Gleichschaltungsverhandlungen“38 zu vollziehen, war für viele Ver­ eine aufgrund der Neustrukturierung der Führungsebene zwar eine einschnei­ dende Maßnahme, blieb aber zunächst ohne Konsequenzen für die prakti­ sche Vereinsarbeit. Weitaus drastischer, weil das alltägliche Vereinsleben in seiner bisherigen Form betreffend, waren die mit der Gleichschaltung einher­ gehenden Auflagen. Der Vorsitzende des Vereins Laichingen Eugen Rinker 33 34 35 36 37 38

LPZ 64 (1933), S. 195M. LPZ 64 (1933), S. 195M. Zitiert nach: Haug (1986), S. 232. StA Ludwigsburg F 303 III Bü 1019. Vgl. IGM/Varia 485, Jahresbericht 1933. Grubitzsch (1996), S. 66.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

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beklagte im Dezember 1933 in einer Ausschusssitzung, dass sich die Lage der homöopathischen Laienbewegung im Laufe des Jahres weiter verschlechtert hätte und die Versorgung mit Homöopathika mittlerweile prekär sei. Rinker machte für diese negative Entwicklung vor allem die neuen Bestimmungen im Arzneimittelrecht verantwortlich.39 Seit Juli 1933 durften ausschließlich Apo­ theker mit Arzneien handeln, keine Vereinsapotheken mehr unterhalten und „Rabatte oder sonstige Vergünstigungen irgendwelcher Art auf Arzneien laut Beschluß […] weder direkt noch indirekt gewährt werden.“40 Das Verbot, mit Apothekern Sonderkonditionen auszuhandeln, habe laut Rinker zur Folge, „daß unsere ländlichen Vereine rasch nacheinander auffliegen würden“41. Of­ fensichtlich teilte man seine Bedenken auch auf der Verbandsebene, denn im Septemberheft der Homöopathischen Monatsblätter empfahl man den Lesern die Anschaffung und stetige Erweiterung einer eigenen Hausapotheke.42 Protes­ tieren wollte man gegen die Gesetzesreform allerdings nicht. Stattdessen be­ eilte man sich auch hier, die Restriktionen ins Positive umzukehren. Es sei prinzipiell schon ganz richtig, „mit Rücksicht sowohl auf die Volksgesundheit und die Volkswirtschaft als auch auf das rechtmäßige Apothekergewerbe“, dass der unkontrollierten Abgabe von Medikamenten ein Riegel vorgescho­ ben wird.43 Untersagt wurde den Laienvereinen zudem das Verfolgen von geschäftli­ chen Interessen, wovon auch die Werbevorträge betroffen waren.44 Der ho­ möopathische Verein in Reutlingen sah sich deshalb im Dezember 1933 ge­ zwungen, ein Vortragsangebot der Firma Willmar Schwabe abzulehnen.45 Bezogen auf den Heidenheimer Verein bemerkt Wolff allerdings, dass gerade dieses Verbot als nicht allzu hart empfunden worden sein musste, denn Vor­ 39 40 41 42 43 44

IGM/Varia 64, 15. Dezember 1934. LPZ 64 (1933), S. 189M. IGM/Varia 64, 15. Dezember 1934. HM 58 (1933), S. 135. IGM/Varia 64, 15. Dezember 1934. IGM/Varia 69, 21. November 1933; HM 59 (1934), S. B18. Ab den frühen 1920er Jahren publizierte die Firma Schwabe neben Pharmakopöen, Fachliteratur und Zeitschriften die Schriftenreihe „Vorträge für homöopathische Vereine“. Dabei handelte es sich um Vorträge über verschiedene Krankheitsbilder und deren Behandlung, die in Vereinen gehalten, für gut befunden und deshalb einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Ab 1926 bot auch die zwei Jahre zuvor in Radebeul gegründete Firma Madaus ihren Kunden eine „Medizinisch­biologische Schriftenreihe“ an, die ähnliche Themen behandelte. Obwohl die beiden Unternehmen aufgrund unterschiedlicher Absatzmärkte eigentlich keine direkten Konkurrenten waren, entbrannte im Laufe der Zwanziger Jahre ein erbitterter Konkurrenzkampf. Als Teil dieses Kampfes müssen die sogenannten Rednerdienste gesehen werden, die sowohl Schwabe als auch Madaus unterhielten. Am Beispiel des Homöopathischen Vereins Stuttgart­Wangen wird dies besonders deutlich: zwischen 1931 und 1933 hielten im Vereinslokal Vertreter beider Firmen mehrere Dia­ Vorträge zu populären Themen. Die Kundenaquise ging sogar soweit, dass Schwabe 1932 bei der Vereinsweihnachtsfeier den Gewinn der Tombola stiftete (IGM/Varia 373, 17.  Dezember 1932). Zur Geschichte der Unternehmen Schwabe und Madaus siehe: Dietrichkeit (1991); Jäger (1992); Willfahrt (1996). 45 IGM/Varia 485, 19. Dezember 1933.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

träge von pharmazeutischen Firmen waren ohnehin nicht üblich bzw. wurden den Vereinen erst seit kurzem angeboten.46 Zu den langfristig wirksamen Konsequenzen gehörte die Einbindung der erst seit wenigen Jahren bestehenden Jugendgruppen in die Hitlerjugend (HJ), die Reichsjugendführer Baldur von Schirach (1907–1974) ab April 1933 plan­ mäßig vorantrieb. Nach einer kurzen Übergangsphase durften die Vereine bald keine eigenen Jugendgruppen mehr unterhalten und Wanderungen nur noch in zivil und ohne Vereinsabzeichen unternehmen. Die Jugenderziehung sollte allein in Händen der HJ oder des Bundes Deutscher Mädel (BDM) lie­ gen. Dieses Gebot wurde von Seiten der Laienbewegung bitter beklagt, machte es doch die noch jungen Bemühungen zunichte, die Jugend für die Homöopathie zu gewinnen. Auch hier regte sich ansonsten kein Einspruch; die Gründung einer Jugendgruppe wurde als zwecklos hingenommen.47 Um die jugendlichen Laienhomöopathen dennoch in die Vereinsarbeit integrieren zu können, griff man zu unorthodoxen Methoden: In Düsseldorf setzte sich ein homöopathischer Verein gegen das Wanderverbot der Jugendgruppe da­ durch zur Wehr, dass er „kurzerhand einen eigenen botanischen Garten [er­ richtete], um die Kinder dort zu unterrichten.“48 Andere Vereine veranstalte­ ten Spaziergänge, bei denen die Eltern ihre Kinder mitnahmen. Die eigentli­ che Zielgruppe waren bei solchen Familienausflügen die Jugendlichen, die Eltern nur das Mittel zum Zweck. Im passiven Widerstand gegen die Abschaf­ fung der Jugendgruppen wird deutlich, dass die Laienvereine sich zwar hüte­ ten, aktiv gegen die neue Bestimmungen vorzugehen, andererseits aber keine Möglichkeit ungenutzt ließen, an ihrem bisherigen Programm festzuhalten.49 Eine Konsequenz, derer man sich ebenso mittels eines geschickten Kniffs zumindest in einem Fall entziehen konnte, war die parteipolitische Mobilisie­ rung der Vereine und ihrer Mitglieder: Der Verein Fellbach erhielt am 9. No­ vember 1933 von der Ortsgruppenleitung der NSDAP die Aufforderung, sich an der am 12. November stattfindenden Reichstagswahl zu beteiligen. Durch das geschlossene Auftreten sollte die nationale Einheit demonstriert werden.50 Die Vereinsleitung lehnte dieses Ansinnen nach reiflicher Überlegung jedoch mit der Begründung ab, dass die Mitglieder auch noch anderen Vereinen an­ gehören würden und sie besser dort abstimmen sollten. Andernfalls käme nur „eine Menge kleine und kleinste Häuflein“ zusammen, die „keinesfalls impo­ nieren und wirken könnten“ und stattdessen ein schlechtes Licht auf die nationalsozialistische Bewegung werfen würden.51 Die NSDAP­Ortsgruppen­ leitung akzeptierte diesen Einwand, da das ja „auch nicht so nach dem Buch­ staben zu machen sei“52. Aus dem entsprechenden Protokolleintrag geht nicht 46 47 48 49 50

Vgl. Wolff (1989), S. 208. LPZ 66 (1935), S. 41M. LPZ 66 (1935), S. 42M. Vgl. Wolff (1989), S. 201. Die gleiche Aufforderung erging vier Tage vorher auch an den Homöopathischen Verein in Laichingen: IGM/Varia 64, 5. November 1933. 51 IGM/Varia 69, 9. November 1933. 52 IGM/Varia 69, 9. November 1933.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

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hervor, ob die Ausrede des Vereins tatsächlich pragmatischer Natur war oder ob man sich schlicht und ergreifend nicht vor den Karren der Partei spannen lassen wollte. Erkennbar sind jedoch die oben angesprochen Beharrungs­ kräfte und der latente Willen zum Boykott der von den Nationalsozialisten an die Vereine herangetragenen Ansprüche und Forderungen. Personelle Umstrukturierungen, einschneidende Restriktionen, Verein­ nahmung: Bis zum Jahresende 1933 hat sich die einst facetten­ und debat­ tenreiche homöopathische Laienbewegung grundlegend verändert. Nicht nur wurde ihr das Recht auf Selbstbestimmung genommen, auch kehrten etli­ che Mitglieder der Bewegung aus Unzufriedenheit über die negativen Ver­ änderungen den Rücken. Andere wurden wiederum aufgrund ihrer politi­ schen Gesinnung oder Konfessionszugehörigkeit ausgeschlossen. Die „äußere Gleichschaltung“ hatte deutlich ihre Spuren hinterlassen. Eine andere Frage war jedoch die Gleichschaltung der Vereine im Innern. Schließlich ist es die „innere persönliche Einstellung“, so Immanuel Wolff im Juni 1933 anlässlich einer Führertagung im württembergischen Hohenheim, die gefordert werde. Man müsse sich mit den Zielen der NS­Gesundheitsführung „innerlich einig“ erklären.53 Wolf deutete damit an, dass mit den Reformen die endgültige An­ erkennung der Homöopathie durch den Staat noch nicht gewährleistet sei, sie erst durch eine im Sinne der Nationalsozialisten gestaltete Vereinsarbeit erreicht werden könne.54 5.1.2 Die Laienbewegung als Teil einer „Neuen Deutschen Heilkunde“ Dass die homöopathische Laienbewegung dem Nationalsozialismus weitge­ hend positiv bzw. nicht ablehnend gegenüberstand, hatte neben der berech­ tigten Angst vor einem Verbot55 einen weiteren wichtigen Grund: Die Aus­ sicht auf „Anerkennung und Gleichberechtigung“56. Das jedenfalls deutete Hitler bereits Ende März 1933 in seiner Rede in der Potsdamer Garnisonskir­ che an und darauf ließen auch die persönlichen Präferenzen der NS­Promi­ nenz schließen.57 Die Nationalsozialisten ließen durchblicken, dass sie beab­ sichtigten, die zahlreichen Volksheilverbände ins staatliche Gesundheitssys­ tem zu integrieren – sofern sie ihren politischen und rasseideologischen Auf­ fassungen nicht zuwiderliefen. Auf Seiten der Vertreter der verschiedenen Volksheilverbände führte diese Absichtsbekundung zur eiligen Abfassung ei­ ner anbiedernden Ergebenheitsadresse. Darin erklärten sie Hitler schriftlich, sie seien mit ihren 1.400 Vereinen im Reichsgebiet gewillt, „positiv an der Lösung aller Aufgaben zur Stählung der deutschen Volkskraft mitzuarbeiten.“58 53 54 55 56 57 58

HM 58 (1933), S. B78. HM 58 (1933), S. B78. Zur Auflösung unliebsamer Volksheilverbände siehe: Karrasch (1998), S. 34–36. HM (1934), S. 3. Wolff (1992), S. 116; Jütte (1996), S. 50; Bothe (1996), S. 82; Fritzen (2006), S. 227 f. BA Koblenz R 43 II 733, fol. 2. Zitiert nach: Karrasch (1998), S. 21.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Zur Kenntnis nehmen sollte Hitler ebenso die Bereitschaft der Verbände, „alle ihnen verfügbaren Kräfte in den Dienst des nationalen Aufbaues“ und unter seine Führung zu stellen.59 Tatsächlich sollten sich die Volksheilver­ bände nach ihrer Ergebenheitserklärung von den gesundheitsprogrammati­ schen Äußerungen und Vorgaben der NS­Führung nicht getäuscht, sondern in ihren Hoffnungen auf Anerkennung zunächst bestätigt sehen. Als die Nationalsozialisten Ende März 1933 mit Terror und erzwungener Unterstützung der bürgerlichen Parteien an die Macht kamen, war der seit Mitte der 1920er geführte Diskurs über die „Krise der Medizin“60 noch in vollem Gange. Die naturwissenschaftlich ausgerichtete Schulmedizin geriet in Verruf, da sie auf die gesundheitlichen Probleme ihrer Zeit keine adäquaten Lösungen liefern konnte.61 Zusätzlich entindividualisierte sie die Patienten zu einem vielgliedrigen, aus einzelnen Organen bestehenden, Objekt. Die ver­ schiedenen alternativmedizinischen, lebensreformerischen und esoterischen Strömungen bzw. Reformbewegungen waren dieser „als Einengung empfun­ denen Reduktion medizinischen Handelns und Denkens auf eine mechanisti­ sche Betrachtungsweise“62 diametral entgegengesetzt. Anders als die Schul­ medizin rückten sie die gesundheitlichen Bedürfnisse und individuelle Kon­ stitution63 in den Mittelpunkt ihrer Krankheitsbehandlungen. Dass ihre Ange­ bote auf Resonanz stießen und angenommen wurden, zeigt etwa der zahlen­ mäßige Anstieg der Laienheilkundigen64 und approbierten Ärzte, die sich von der klassischen Medizin und ihrem begrenzten Methodenspektrum dis­ tanzierten. Dementsprechend war der Gesundheitsmarkt in der Weimarer Re­ publik von Diversität und dem Pluralismus der Heilverfahren geprägt. Auch die homöopathische Laienbewegung konnte von der Krise profitieren und im Laufe der 1920er Jahre neue Mitglieder gewinnen, entgegen des Trends der rückläufigen Vereinsgründungen. Vereinte der Bund homöopathischer Ver­ eine 1914 beispielsweise rund 31.26065 Laienhomöopathen, so waren es nach eigenen Angaben des Reichsbunds 1930 immerhin 38.200 in 348 Vereinen.66 Die Krise der Medizin war demnach in erster Linie eine „Vertrauenskrise“67 der Patienten ins staatliche Gesundheitssystem.

59 60 61 62 63 64

BA Koblenz R 43 II 733, fol. 2. Zitiert nach: Karrasch (1998), S. 21. Vgl. Klasen (1984); Karrasch (1998), S. 6–18. Haug (1984), S. 120. Bothe (1996), S. 81. Zur Konstitutionslehre in der Homöopathie siehe: Czech (1996), insbesondere S. 47–57. Zwischen 1909 und 1927 stieg die Zahl der Heilkundigen um 63 %, die Zahl der Laien­ heilkundigen sogar um 167 % (4.414 auf 11.791). Vgl. Blessing (2010), S. 14. Haug geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl um ein mehrfaches höher lag. Einzelne Zahlen sprächen von 50.000 Heilpraktiker im Jahr 1934, was in etwa der Gesamtzahl der deut­ schen Ärzte entsprochen hätte. Vgl. Haug (1985), S. 31. Eine ausführliche Zahlenkritik liefert zudem: Faltin (2000), S. 241–250. 65 Vgl. Anm. 271. 66 Baschin (2012), S. 222. 67 Jütte (1996), S. 44.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

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Den zentralen Plänen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik wa­ ren diese Vertrauenskrise und die Abwanderung der Patienten zu nichtappro­ bierten Heilern jedoch alles andere als zuträglich, da die gesundheitspoliti­ schen Zielsetzungen – rassenideologische Durchdringung und Steigerung der Arbeits­ und Leistungsfähigkeit des Volkskörpers68 – letztlich von Ärzten ver­ mittelt werden sollten. Der medizinische Pluralismus und mehr noch die Gra­ benkämpfe der verschiedenen Heilmethoden standen der Erfüllung dieser Aufgabe im Weg. Die Lösung des Problems lag in einer Zusammenführung oder Synthese der einzelnen Heilmethoden zu einer einheitlichen, auf der nationalsozialistischen Weltanschauung „von den natürlichen, biologischen Grundgesetzen alles Geschehens“69 beruhenden „Neuen Deutschen Heilkun­ de“70. Gemäß des Führerprinzips sollte es künftig nur noch eine offizielle Heilkunde geben, von der sich das Volk als abstrakte Größe von Individuen mit divergierenden, teils aber auch konvergierenden schul­ und alternativme­ dizinischen Präferenzen repräsentiert sah. Mit anderen Worten: „Diese Patien­ tenschaft, die regelmäßig  – trotz Krankenversicherung  – nichtapprobierte Heilpraktiker auf eigene Rechnung frequentierte, sollte wieder mehr an die Ärzte zurückgeführt und so einer einheitlichen ‚Gesundheitsführung‘ unter­ stellt werden. Dazu müßten aber auch die Verfahren, die das Vertrauen des Volkes besäßen, mehr Repräsentanz in der offiziellen Medizin finden.“71 Erst­ mals in Worte fasste diese Synthesebestrebungen Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888–1939) im Oktober 1933. Im Deutschen Ärzteblatt72 rühmte er die Verdienste der Schulmedizin. Zugleich betonte er aber, dass auch jene Heil­ methoden, die nicht im Einklang mit der Schule stehen, Erfolge auszuweisen hätten. Die ärztlichen Vertreter dieser biologischen Heilmethoden seien des­ halb aufgerufen, sich unter seiner Führung zu einem noch nicht näher spezifi­ zierten „Ring“ zusammenzuschließen. Nur so könne gewährleistet werden, „daß alle diese Heilverfahren die Prüfung oder Anerkennung erfahren, die sie verdienen“73. Sein eigentliches Anliegen, die Vereinheitlichung des schwer zu kontrollierenden Methodenpluralismus, kaschierte Wagner indessen mit ei­ nem vermeintlichen Vorzug: „Solange jeder ärztliche Vertreter einer Außen­ seitermethode nur in seinem besonderen Einzelverband sitzt, besteht die Ge­ fahr der Zersplitterung und Sektierertum, während andererseits auch das Stu­ dium und die Nachprüfung der umstrittenen Methoden für den Fernstehen­ den schwer, ja fast unmöglich ist.“74 Die Zusammenlegung der einzelnen Heilverfahren und ­methoden müsse also im Interesse der Verbände sein, sei doch andernfalls die innere Kohäsion in Gefahr und die Aufnahme in den Fächerkanon der Universitäten ausgeschlossen. Wagners Strategie ging auf. 68 69 70 71 72

Haug (1984), S. 123. DÄB 65 (1935), S. 538. Zitiert nach: Haug (1984), S. 124. Zur „Neuen Deutschen Heilkunde“ siehe ausführlich: Kratz/Kratz (1985); Bothe (1991). Karrasch (1998), S. 30. Faksimile des am 7. Oktober 1933 erschienenen Aufrufs abgedruckt in: Bothe (1996), S. 81. 73 Zitiert nach: HM 58 (1933), S. 161. 74 Zitiert nach: HM 58 (1933), S. 161.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Nur acht Wochen später konnte er vermelden, dass die an ihn herangetrete­ nen biologischen Ärzte zu einer Reichsarbeitsgemeinschaft zusammengefasst werden.75 Doch der Erfolg trog: Partikularinteressen sowohl auf Seiten der Schulmediziner als auch der Naturärzte zogen die Gründung der „Reichsar­ beitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde“ in die Länge. Erst 1935 konnte sie im Rahmen der ersten großen Reichstagung der deutschen Volks­ heilbewegung in Nürnberg proklamiert werden. Der Arbeitsgemeinschaft ge­ hörten fortan Natur­ und Kneippärzte, homöopathische und anthroposophi­ sche Ärzte sowie ärztliche Vertreter der Bäderheilkunde und der Deutschen Psychotherapie an.76 Durch Zusammenarbeit untereinander sowie Verständi­ gung und Austausch mit der Schulmedizin sollte die Vertrauenskrise über­ wunden und dem Ärztestand erneut zu Ansehen und positiven Einfluss auf die Bevölkerung im Sinne des präventiv ausgerichteten NS­Gesundheitspro­ gramms verholfen werden. Diesem Anspruch wurde die Reichsarbeitsge­ meinschaft jedoch nur auf dem Papier gerecht, da sie sich als wenig hand­ lungsfähig erwies. Bereits 1936 wurde sie wieder aufgelöst. Haug weißt darauf hin, dass der offiziellen Begründung der Auflösung – das Inkrafttreten einer neuen Reichsärzteverordnung  – nicht allzu viel Glauben geschenkt werden darf.77 Vielmehr ist davon auszugehen, dass „die Zersplitterung und Monoma­ nie der Naturärzte einerseits und der Widerstand der Schulmedizin und der mit ihr liierten pharmazeutischen Großindustrie andererseits“78 das Scheitern der Arbeitsgemeinschaft verursacht haben. Hinzu kommt, dass die Schulme­ dizin durch den zeitgleich verabschiedeten Vierjahresplan, der ohne Natur­ wissenschaften und eine naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin nicht zu realisieren war, zusätzlichen Aufwind bekam und allmählich wieder die einstige Überhand gewann.79 Doch zurück ins Jahr 1933: Der Vorstoß Wagners, abgedruckt im Novem­ berheft der Homöopathischen Monatsblätter und in anderen „maßgeblichen Zeit­ schriften der Laienpresse“, stieß nicht nur bei den „außenseiterischen“ Ärzte­ verbänden auf breite Zustimmung.80 Auch die einzelnen Laienverbände und ihre Vertreter nahmen Wagners Bemühungen mit regem Interesse zur Kennt­ nis, machten sie doch Hoffnung auf die Anerkennung ihrer Heilmethode. Teilweise ließen sie sich sogar zu beschämenden Anpreisungen der eigenen Heilweise hinreißen.81 Immanuel Wolf, Wortführer der Laienhomöopathen, kommentierte den Aufruf an die biologischen Ärzte beispielsweise mit den Worten: „Vom Standpunkt unserer homöopathischen Volksbewegung aus ge­ sehen, ist es eine besondere Freude zu sehen, wie der Nationalsozialismus unter seinem genialen Führer Adolf Hitler, in unaufhörlichem Streben nach 75 Jütte (1996), S. 46; Karrasch (1998), S. 33. 76 Haug (1984), S. 122, besonders Anm. 29. 77 Von offizieller Seite wurde die Auflösung mit dem Inkrafttreten der neuen Reichsärzte­ ordnung begründet: Haug (1989), S. C­672. 78 Haug (1984), S. 125. 79 Haug (1984), S. 126. 80 Karrasch (1998), S. 32. 81 Jütte (1996), S. 46; Karrasch (1998), S. 33.

5.1 Die „Bemächtigung“ der homöopathischen Laienvereine

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wirklicher Volksgemeinschaft alle, die guten und ehrlichen Willens sind, und alle aufbauenden Kräfte in die gewaltige Arbeitsfront für die Schaffung eines starken, einigen und in sich gefestigten deutschen Volkstums sammelt und eingliedert.“82 Eine solche bejahende Reaktion kam den nationalsozialistischen Gesund­ heitspolitikern entgegen, da sie nicht nur die „biologische“ Ärzteschaft, son­ dern auch die Laienverbände als Sprachrohr und Multiplikatoren ihrer Vor­ stellung zu instrumentalisieren versuchten. Ähnlich den biologischen Ärzte­ verbände sollten auch die verschiedenen Laienverbände, sofern sie nach der Machtübernahme nicht zwangsweise aufgelöst wurden, zusammengeführt werden. Den Anfang machte die Gleichschaltung der einzelnen Laienver­ bände und ­vereine. Der zweite Schritt der Vereinheitlichung folgte dann 1934 mit der Ausgabe von verbindlichen Satzungen durch das Hauptamt für Volks­ gesundheit der NSDAP­Reichsleitung. Die Satzungen schrieben den Volks­ heilverbänden „das Führerprinzip und die Verantwortung der Verbände für die ‚Erziehung des einzelnen zur Selbsthilfe und zum Selbstschutz im Sinne der Aufgaben des nationalsozialistischen Staates‘“83 vor. Die Devise lautete fortan; „Gesundsein ist die sittliche Pflicht des einzelnen gegenüber seinem Volk“84. Was in der Weimarer Republik noch unterschwellig durch die Ver­ breitung einer „Gesundheitsethik“85 erreicht werden sollte, wurde von Seiten der nationalsozialistischen Regierung nun offen eingefordert. Der Hinterge­ danke blieb derselbe: die Ausbeutung aller Leistungsreserven bei gleichzeiti­ ger Minimierung der Sozialausgaben.86 Das Nachsehen hatten die chronisch Kranken und Schwachen, die der „sittlichen Pflicht“ nicht nachkommen und ihre Leistungsfähigkeit optimieren konnten. Sie wurden aus der „Leistungsge­ meinschaft“ ausgeschlossen, fielen aus dem Versorgungsnetz und schlimms­ tenfalls den Vernichtungsmaßnahmen zum Opfer.87 Zur Verbreitung und ge­ sellschaftlichen Festigung dieser inhumanen Gesundheitspolitik sollten die Verbände und Vereine fortan beitragen. Der Reichsbund für Homöopathie und Lebenspflege nahm die Einheitssatzungen des Hauptamts für Volksge­ sundheit in einer außenordentlichen Verbandsversammlung einstimmig an und verpflichtete sich dazu, „durch seine Mitglieder alle persönlichen Kräfte der gesundheitlichen Selbstverantwortlichkeit, des gesundheitlichen Selbst­ schutzes und der Selbsthilfe im Volk“88 zu wecken. Immanuel Wolf wurde in seiner Funktion als „Führer“ des Verbandes bestätigt und in den Sachverstän­ digenrat für Volksgesundheit aufgenommen.89 82 83 84 85 86

HM 58 (1933), S. 161. Haug (1986), S. 233. Zitiert nach: Haug (1989), S. C­673. Vgl. Wuttke­Groneberg: Medizinische Reformbewegung (1982), S. 283. Vgl. Kratz/Kratz (2004), S.  126; Wuttke­Groneberg: Medizinische Reformbewegung (1982), S. 283. 87 Kratz/Kratz (2004), S. 127. 88 Satzung des Reichsbunds für Homöopathie und Lebenspflege, beschlossen am 26.  Ja­ nuar 1936: StA Ludwigsburg F 260 II Bü 290. 89 Haug (1986), S. 233.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Ihren Abschluss fand die formale Gleichschaltung der Laienverbände schließlich mit der Gründung der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens­ und Heilweise“90. Konstituierende Mitglieder waren neben dem Reichsbund für Homöopathie und Gesundheitspflege der Bioche­ mische Bund Deutschlands, der Deutsche Bund der Vereine für naturgemäße Lebens­ und Heilweise, der Kneipp­Bund, der Bund der Felke­Vereine, die Deutsche Gesellschaft für Lebensreform sowie der Schüssler­Bund.91 Anders als der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde war die­ sem Zusammenschluss ein längeres Leben beschieden; er existierte faktisch bis 1941, als auch die Einzelverbände und ­vereine (und Verbandszeitschrif­ ten) aufgelöst und mitsamt ihrem Vermögen dem neugegründeten „Deut­ schen Volksgesundheitsbund“92 (DVB) einverleibt wurden.93 Bis dahin be­ stand der Sinn der Reichsarbeitsgemeinschaft zum einen darin, „die Laienbewegung[en] der ideologischen Führung einer nationalsozialistischen Ärzteschaft zu unterstellen“94. Zum anderen propagierte sie die Pflicht des Einzelnen zur Erhaltung und Steigerung seiner Leistungsfähigkeit, um lang­ fristig die Schaffung eines „wehrtüchtigen, wehrwilligen, schaffensfrohen, an Leib und Seele gesunden Volkes“95 zu erreichen. Der Leiter der Reichsar­ beitsgemeinschaft, Georg Gustav Wegener, fasste deren Daseinszweck deshalb wie folgt zusammen: Die Reichsarbeitsgemeinschaft dient dem gesundheitlichen Gemeinwohl des deutschen Volkes mit dem Ziel, alle auf dem Gebiete der naturgemäßen Lebenspflege und Heil­ weise im Deutschen Reich bestehenden Laienbünde unter einheitlicher Führung zur gemeinsamen Arbeit und gleichberechtigten Vertretung zusammenzufassen. Durch die zusammengeschlossenen Bünde sollen alle persönlichen Kräfte gesundheitlicher Selbst­ verantwortung und des gesundheitlichen Selbstschutzes geweckt und damit das Verständ­ nis für die biologischen Heilweisen, für die völkische Aufartung und Stählung der deut­ schen Volkskraft, eine naturgemäße, bodenständige Lebenspflege, vertieft und erweitert werden.96

5.2 Anpassung oder Verweigerung? Die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der NS-Gesundheitspolitik In diesem Kapitel wird untersucht, inwieweit die nationalsozialistische Ideolo­ gie von der homöopathischen Laienbewegung aufgegriffen und in Wort und Tat berücksichtigt wurde. Den Ausführungen liegt die Hypothese zugrunde, dass die Laienhomöopathen sich zwar des NS­Jargons bedienten, um die Be­ deutung ihrer Arbeit für die Volksgesundheit hervorzuheben. Im Vereinsalltag 90 91 92 93 94 95 96

Vgl. Karrasch (1998), S. 36–40; Kratz/Kratz (2004), S. 118–123. Karrasch (1998), S. 37, besonders Anm. 84. Zum DVB siehe: Kratz/Kratz (2004), S. 157–161. Bothe (1996); Jütte (1996), S. 51. Haug (1989), S. C­673. Zitiert nach: Haug (1989), S. C­673. Wegener (1935), S. 3, zitiert nach: Karrasch (1998), S. 40.

5.2 Anpassung oder Verweigerung?

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und in der Wissensvermittlung spielten Antisemitismus, Rassismus und der pervertierte Vorbeugungsgedanke hingegen keine oder nur eine marginale Rolle. 5.2.1 Verbreitung der NS­Ideologie durch die Laienhomöopathen Bertram Karrasch hat in seiner Arbeit über die „Volksheilkundliche[n] Laien­ verbände im Dritten Reich“ ausführlich dargestellt, wie die Funktionäre der homöopathischen Laienbewegung die nationalsozialistische Gesundheitspoli­ tik aufgenommen, multipliziert und für die eigenen Zwecke instrumentalisiert haben. Die Wortführer der Bewegung – allen voran Immanuel Wolf, Vorsit­ zender des Reichsbundes und Süddeutschen Verbandes für Homöopathie und Lebenspflege in Personalunion – bemühten sich, den Nationalsozialisten möglichst nach dem Mund zu reden und keinen Zweifel an ihrer vermeintli­ chen Gesinnung zu lassen. „In den Homöopathischen Monatsblättern wur­ den ‚zeitgemäßere Töne‘ angeschlagen, d. h. rassenideologische und nationa­ listisch­völkische Themen abgehandelt und mit der Homöopathie in Verbin­ dung gebracht. Auch die Mobilisierung des Einzelnen im Sinne der auf Ei­ genverantwortlichkeit, Vorbeugung und Leistungssteigerung ausgerichteten NS­Gesundheitspolitik fand Berücksichtigung in den Zeitschriften, teils sogar an unerwarteter Stelle. Als es beispielsweise im September 1933 in den Homöopathischen Monatsblättern um die bereits erwähnte Anschaffung einer Hausapotheke ging, wurde deren Benutzung explizit in den Kontext der Vor­ beugung und nicht der Therapie gestellt: Du bist selbst zuerst für Deine und Deinigen Gesundheit verantwortlich! Nicht der Staat ist es, nicht die Krankenkasse! Du selber mußt zuerst als Vater und Mutter wissen, wie man sich und die Kinder gesund erhält durch naturreine, einfache Lebensführung in Essen, Trinken, Schlaf, Kleidung, Arbeit, Ruhe, Bewegung in Licht, Luft, Sonne usw. usw. Du mußt es wissen und mußt Deine Kinder von klein auf so erziehen! […] V ‚ orbeugen ist besser als heilen!‘97

In der Leipziger Populären Zeitschrift wiederum gab ein Laienautor auf die Frage „Waren müssen wir Leibesübung treiben?“ folgende politisch korrekte Ant­ wort: Die Leibesübungen steigern in hohem Maße die Leistungsfähigkeit des einzelnen Indivi­ duums. Damit betreten wir nun schon das Gebiet des Erziehers, der vor allem die inne­ ren Werte des Menschen fördern will. Leibeszucht stärkt den Willen und die Tatkraft. Es ist eine alte Tatsache, daß nur der schwache Körper einen eigenen Willen zeigt, wohin­ gegen der stärkere den Befehlen gehorcht. Leibesübungen schärfen die Sinne; sie för­ dern Geistesgegenwart, Entschlußkraft und Schlagfertigkeit. Sie beeinflussen Charakter­ schwächen, wie Eitelkeit, Selbstsucht und Empfindlichkeit. Wir lernen, Unbilden des Lebens, Schmerz, Hunger und Durst leichter zu ertragen. Wir werden bedürfnisloser. Hierzu kommt noch das gewaltige Maß der Fröhlichkeit und des Frohsinns. […] Die

97 HM 58 (1933), S. 136.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945) Leibesübungen erziehen kräftige und frohgemute, mannhafte und wehrhafte Men­ schen.98

Wichtiger als diese Beispiele aus den gleichgeschalteten Zeitschriften erscheint mir hingegen die Frage, ob und inwieweit auch die einzelnen Laienvereine sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene den an sie herangetra­ genen präventivmedizinischen Anforderungen und Vorgaben der NS­Ge­ sundheitsführung nachkamen. Erste Antworteten liefert Eberhard Wolffs Stu­ die über das Verhalten des homöopathischen Laienvereins Heidenheim wäh­ rend des Nationalsozialismus. Wolff kommt darin zu dem Ergebnis, „daß sich der Verein in den meisten Fällen nur so weit für die NS­Politik funktionalisie­ ren ließ, wie dies keine besondere Veränderung der bisherigen Vereinsarbeit bedeutete.99 Die ihm übertragene Propaganda­ bzw. Sprachrohrfunktion habe der Verein überhaupt nicht übernommen, die staatlich verordnete Gesund­ heitspflicht demnach weder in Vorträgen noch in den Versammlungen und sonstigen Veranstaltungen thematisiert. Wenn der Terminus „Gesundheits­ pflicht“ verwendet wurde, was vor 1933 übrigens nicht vorgekommen sei, dann nur gemünzt auf die allgemeine Pflicht der Gesundheitsvereine, mit ih­ rer Arbeit dem Volkswohl zu dienen.100 Anhand des vereinsbezogenen Quel­ lenkorpus wird im Folgenden zu untersuchen sein, ob man die Aussagen von Wolff verallgemeinern kann und ob man tatsächlich von Weigerung der Ho­ möopathievereine ausgehen muss, sich funktionalisieren zu lassen, die genau dort begann, wo die Interessen der Nationalsozialisten eine substanzielle Ver­ änderung der Vereinsarbeit bedeuteten. Der Verpflichtung, eine gesunde und der Vorbeugung von Krankheit die­ nende Lebensweise zu propagieren, kamen die homöopathischen Laienver­ eine schon in der Weimarer Republik nach. Im Vordergrund stand der Ge­ danke, dass die Verhütung von Krankheiten durch Ernährung und Bewegung wichtiger sei als die akute Behandlung mit homöopathischen oder anderen Arzneimitteln. Eine Überhöhung der Individualhygiene im Sinne einer erb­ biologischen Aufwertung oder wehrpolitischen Leistungsoptimierung des Vol­ kes unterblieb allerdings völlig. Das sollte sich 1933 und danach schlagartig ändern. Die NS­Gesundheitsführung verlangte von der homöopathischen Laienbewegung die Propagierung einer individuellen Gesundheitspflicht, um den Gesundheitszustand und Leistungsstand des „Volkskörpers“ zu heben. Dass die Laienvereine die Neuinterpretation und nationalsozialistische Ver­ einnahmung ihres Tuns verinnerlicht haben, wird exemplarisch am Beispiel des Homöopathischen Vereins Reutlingen deutlich. 1934 erging von Seiten des Vorsitzenden Karl Walz folgender Aufruf an die Mitglieder: 98 LPZ 66 (1935), S. 93. 99 Vgl. Wolff (1989), S. 207. 100 Wolff (1989), S. 204. Angesichts der bisherigen Erkenntnisse, vor allem in Bezug auf die programmatischen Entwicklungen in den 1920er Jahren, muss dieser Befund relativiert werden. Denn sowohl die Zeitschriften als auch die Laienvereine selbst griffen nach dem Ersten Weltkrieg den Gedanken der Vorbeugung mittels einer bewegungsreichen Le­ bens­ und naturbelassenen Ernährungsweise auf.

5.2 Anpassung oder Verweigerung?

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Darum meine Mitglieder ist es eure Pflicht hier in Treue und Volksverbundenheit mitzu­ arbeiten und überall wo es gilt auf unsere Homöopathie hinweisen und zu werben zum Wohle des Einzelnen und des Volksganzen. Meine lieben Volksgenossen es ist jedem seine Pflicht das was besteht und zum Wohle des Volkes ist zu erhalten, dies verlangt unser Führer, darum fordere ich Euch alle auf kommt und erscheint in Massen wann der Ruf an Euch ergeht um die Schulung der Homöopathie zu folgen denkt in allem das es nur um das Eine geht alles für Deutschland.101

Solche und ähnliche Aufforderungen, die die Gesundheitspflicht des Einzel­ nen mit der moralisch­sittlichen Verpflichtung gegenüber dem ganzen Volk in Verbindung brachten, finden sich auch in Protokolleinträgen der anderen Laienvereine. Beispielsweise in Hürben, wo die Arbeit im Verein als „soziales und Nationales Streben“, als „Arbeiten zum Wohle der Volksgesundheit und liebe zu seinem nächsten“102 aufgefasst wurde. In Reutlingen durchzieht die Betonung der Gesundheitspflicht als erste Bürgerpflicht die Protokollführung der Vorkriegszeit und wiederholt sich mehrfach und nahezu wortwörtlich. Of­ fensichtlich aber nur mit mäßigem Erfolg, denn spätestens ab 1937 häufen sich die Klagen der Vereinsführung über das mangelnde Interesse der Mit­ glieder. Zwar hätte man alles geboten „was im Bereiche der Aufgaben des Vereines liegt“, um das Publikum über Volksgesundheit aufzuklären. Es wäre aber „erwünscht dass unsere Mitglieder [daran] mehr Interesse zeigen würden […] denn nur mit einem gesunden Menschen kann man einen Aufbau errei­ chen und somit sind wir im Verein berufen an diesem Aufbauwerk mit zu arbeiten“103. 1938 betonten die Appelle dann, dass die Pflicht zur Erhaltung der Gesundheit eine Voraussetzung dafür sei, „ein echter Gefolgsmann unse­ res Führers Adolf Hitler“104 zu werden. Damit wurde jedem Mitglied, das nicht die Vereinsveranstaltungen besuchte, indirekt Verrat an Volk und Führer vorgeworfen. Eine ähnliche Strategie verfolgte auch der Verein Stuttgart­Wan­ gen, um die Mitglieder zur Teilnahme an den Veranstaltungen zu animieren. Neben den Informationen bezüglich Thema, Zeit und Ort waren einer Vor­ tragseinladung der Hinweis zu entnehmen, dass ein Erscheinen für „Gesin­ nungsfreunde und deren Angehörige“ Ehrensache sei.105 Wiedergegeben wurde die Pflicht zur kollektiven Gesundheitserhaltung auch im Rahmen der Berichterstattung über die „Reichstagung der deutschen Naturärzte u. der deutschen Volksheilbewegung in Nürnberg. Sie fand im Pro­ tokoll des Vereins Stuttgart­Wangen großes Echo.106 Die Ansprache des frän­ 101 102 103 104 105 106

IGM/Varia 485, Jahresbericht 1934. IGM/Varia 519, 7. Oktober 1934. IGM/Varia 485, Jahresbericht 1937. IGM/Varia 485, Jahresbericht 1938. IGM/Varia 374, 28. Januar 1938. Viele homöopathische Laienvereine sandten kleinere Delegationen nach Nürnberg und zu den nachfolgenden Reichstagungen in Düsseldorf (1937), Stuttgart (1939) und Wei­ mar (1941), um möglichst zahlreich das Mitgehen der Laienhomöopathen zu demon­ strieren. An der Reichstagung in Nürnberg nahmen vier Mitglieder aus Stuttgart­Wangen teil, unter denen sich auch der Vereinsschriftführer befand (IGM/Varia 375, 25./26. Mai 1935).

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

kischen Gauleiters Julius Streicher (1885–1946), der sich sowohl als „rabia­ teste[r] Propagandist des Antisemitismus im Dritten Reich“ als auch als radi­ kaler Wortführer einer Deutschen Volksheilkunde hervortat107, zitierte der Vereinsschriftführer wie folgt: „Das höchste was ein Volk besitzen kann ist eine gesunde Bevölkung [sic], die aber nur gesund erhalten werden kann wenn sie eine natürliche Lebensweise führt. Nicht am kranken Körper soll die Be­ handlung einsetzen, Nein! Der Gesunde soll schon gegen Krankheit vorbeugen“108. Das öffentliche Einstehen eines hohen NS­Funktionärs für eine gesunde Lebensführung kam der Aufwertung der eigenen langjährigen Vereinsarbeit gleich. Der Schriftführer muss die Stellungnahme Streichers deshalb für derart bedeutungsvoll gehalten haben, dass er sie nachträglich als eine Art Reisebericht ins Protokollbuch eintrug. 5.2.2 Rassenhygiene Neben der kollektiv­präventiven „Gesundheitspflicht“ stellten die Nationalso­ zialisten vor allem eine radikale „Rassenhygiene“ in den Mittelpunkt ihrer Gesundheitspolitik. Im Oktober 1933 begann deshalb eine umfangreiche „Aufklärungsaktion über Bevölkerungspolitik und Erbbiologie“109. Auf der Ti­ telseite des Oktoberhefts druckte die Schriftleitung der Homöopathischen Monatsblätter einen zweiseitigen „Aufruf des Reichsministeriums für Volksauf­ klärung und Propaganda“, in dem mutmaßlich Goebbels auf die Verinnerli­ chung der „wissenschaftlichen Grundlagen des erbbiologischen Denkens“110 pochte. Dazu aufgerufen seien neben Rundfunk und Presse besonders die zahlreichen Organisationen, Verbände und Vereine im Deutschen Reich. Sie sollten sich zahlreich an der Aufklärungsaktion im September, Oktober und November beteiligen und dadurch „das erbbiologische Denken in die Ge­ hirne und Herzen aller Deutschen hineintragen“111. Dass die Laienhomöopa­ then dieser Aufforderung nachgekommen sind, wird nicht nur anhand der zahlreichen Artikel, Mitteilungen und Buchbesprechungen deutlich, die fortan in beiden Zeitschriften publiziert wurden. Im Oktober 1933 hielt der Vorsitzende des Vereins Laichingen Rinker im Rahmen der „Führertagung“ des Süddeutschen Verbands einen Vortrag über „Rassenpflege“112. Rinker setzte sich in seinem Vortragstext einleitend mit der Definition des Rassebe­ griffs auseinander, ging dann auf die Gesetze der Vererbung ein und wandte sich abschließend ausführlich der Rassenhygiene zu. Bedenken oder gar Kri­ tik an der erzwungenen Sterilisierung der vermeintlich „minderwertigen Ele­ 107 Zu Streichers Bemühungen um die Deutsche Volksheilkunde siehe: Karrasch (1998), S. 26–29. 108 IGM/Varia 375, 25./26. Mai 1935. 109 Frey (1940), S. 45. 110 HM 58 (1933), S. 145. 111 HM 58 (1933), S. 146. 112 HM 58 (1933), S. 163–165.

5.2 Anpassung oder Verweigerung?

223

mente in unserem Volkskörper“113 äußerte Rinker keine. Er befürwortete sie sogar ausdrücklich, da mit jenen „minderwertigen Elementen“ das Erbgut unseres Volkes verschlechtert wird, seine Leistungsfähigkeit sinkt, die wirt­ schaftliche Belastung durch Arbeitsunfähige aber dauernd steigt. Bei der heutigen schwe­ ren Lage unsres Volkes, dem harten Ringen um seine Existenz, ist es nicht zu verantwor­ ten, wenn der Staat für einen Geisteskranken täglich etwa 4 RM, für den Verbrecher 3,50 RM, für Krüppel und Taubstumme 5–6 RM ausgibt, der ungelernte Arbeiter aber etwa 2,40 RM, der Angestellte 3,60 RM, der untere Beamte täglich 4 RM zur Verfügung hat.114

Rinker kam daher nicht umhin, das bereits am 14. Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“115 gutzuheißen. Zwar räumte er ein, dass durch das Gesetz „dann und wann ein vielleicht wertvolles Leben nicht erweckt werden“ könne. Das fiele aber angesichts des bedeutsa­ men Fortschritts, den das Gesetz bringt, kaum ins Gewicht.116 Seine perfide Kosten­Nutzen­Rechnung, die in mehreren Fußnoten von der Schriftleitung erläutert und vertieft wird, lässt sich 1:1 auf die programmatischen Ausführun­ gen von Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877–1946) zurückführen. Frick brachte anlässlich der ersten Tagung des Sachverständigenbeirats für Bevölke­ rungs­ und Rassenpolitik am 28. Juni 1933 exakt dieselben Zahlenbeispiele, um die „von der Allgemeinheit zu tragenden außerordentlich hohen Lasten für erbbiologisch Minderwertige und Asoziale“117 zu belegen. Dass ein hoher NS­Beamter, der noch dazu maßgeblich am Aufbau des nationalsozialisti­ schen Staats beteiligt war118, für das im Juni noch in der Planung befindliche Verhütungsgesetz Werbung machte, überrascht kaum. Dass sich aber ein Laienhomöopath als Sprachrohr und Multiplikator der NS­Rassenideologie instrumentalisieren ließ, ist beachtenswert. Statt sich wie Frick eines abgeho­ benen und nüchternen Beamtendeutschs zu bedienen, warb er auf leicht ver­ ständliche und wohlmeinende Weise für die bevölkerungs­ und wirtschaftspo­ litische Notwendigkeit der Zwangssterilisation. Seine kritischen Untertöne könnten als Versuch gesehen werden, Skeptiker und Opponenten zu überzeu­ gen, indem ihre Einwände ernstgenommen wurden. Dafür spräche auch, dass Rinker auf ähnliche Gesetzgebungen in Amerika, Dänemark und auch in der Schweiz verwies.119 Die These, dass die Nationalsozialisten offenbar Schwierigkeiten hatten, die in diesen Dingen sensible Öffentlichkeit von der Notwendigkeit der Zwangssterilisationen zu überzeugen und deshalb die homöopathischen Ver­ eine dahingehend zu instrumentalisieren versuchten, lässt sich noch auf zwei weitere Beispiele stützen: Im Februar 1936 – wohlgemerkt knapp drei Jahre 113 HM 58 (1933), S. 164. 114 HM 58 (1933), S. 164. 115 Zu den „ausmerzenden Maßnahmen“ der NS­Gesundheitspolitik siehe: Labisch (1992), S. 234 ff.; Jütte: Medizin im Nationalsozialismus (2011), S. 203–206, S. 214–234. 116 HM 58 (1933), S. 165. 117 Vgl. LPZ 64 (1933), S. 163. 118 Zur Rolle Fricks im Nationalsozialismus siehe: Neliba (1992). 119 HM 58 (1933), S. 165.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

nach Inkrafttreten des Gesetzes – hielt ein Oberlehrer in der Frauengruppe Rohracker einen Vortrag „Über das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“120. In Anwesenheit des stellvertretenden NSDAP­Ortsgruppen­ leiters führte er aus, dass das Gesetz vom Ausland falsch verstanden und Deutschland deswegen angefeindet werden würde. Allerdings sei seine Aus­ führung für das deutsche Volk überlebenswichtig, denn „An Hand von Statis­ tiken wurde nachgewiesen, daß die Bevölkerungszunahme auf der Seite der Minderwertigen viel größer sei als auf der anderen und daß nach einer gewis­ sen Zeit die gesunden und vollwertigen Menschen nur noch einen prozentsatz [sic] ausmachen würden.“121 Um das Gesagte zu untermauern, zeigte der Leh­ rer auch Bilder von psychisch Kranken und vermeintlichen Asozialen. Sie sollten demonstrieren, „welches Elend durch solche Erbkrankheiten auf die Menschen übertragen werde, und wie viele Millionen Geld diese armen, elen­ den Geschöpfe das deutsche Volk jährlich kosten, wie viele gesunde Men­ schen nichts anderes zu thun haben als solche bedauernswerte Geschöpfe zu bewachen u. zu pflegen“122. Seinen Vortrag schloss er schließlich mit der Be­ merkung, dass „Schädlinge an der Menschheit“ im Dritten Reich nicht wie früher einfach nur bestraft, sondern „unschädlich gemacht“ werden würden. Unter den Anwesenden löste das großen Beifall aus.123 Das zweite Beispiel ist ähnlich, aufgrund des Datums aber ungleich be­ deutender. Am 10. Dezember 1938 und 7. Januar 1939 klärte Immanuel Wolf persönlich die Mitglieder des Vereins Fellbach über „Erbkrankheiten“ auf. Die Beteiligung sei, zumindest im Dezember, „ziemlich stark“124 gewesen. Wie Frick, Rinker und der eben zitierte Lehrer erläuterte auch Wolf in seinen Vorträgen, dass psychische Störungen wie Stumpfsinn und Geistesschwach­ heit weit verbreitet und die Versorgung der Betroffenen kostenintensiv seien. Verschiedene Typen von vermeintlich Geisteskranken visualisierte er eben­ falls anhand von Lichtbildern, „aus denen das ganze Elend dieser Erbkrank­ heit sprach“125. Wolf wird mit diesen Bildern beabsichtigt haben, den Anwe­ senden vor Augen zu führen, dass nur Erbgesunde heiraten und Nachwuchs zeugen sollten. Die zeitliche Nähe der Wolfschen Vorträge zum Beginn der Kinder­ und schließlich Erwachsenen­„Euthanasie“ im Frühsommer 1939126 mag Zufall oder ebenfalls Teil einer bewussten Desensibilisierungskam­ pagne127 gewesen sein. Mit anderen Worten: Da sich die Ermordung von Be­ hinderten und psychisch Kranken letztlich nicht geheim halten ließ und sich

120 121 122 123 124 125 126

IGM/Varia 73, 13. Februar 1936. IGM/Varia 73, 13. Februar 1936. IGM/Varia 73, 13. Februar 1936. IGM/Varia 73, 13. Februar 1936. IGM/Varia 69, 10. Dezember 1938. IGM/Varia 69, 7. Januar 1939. Zu „Euthanasie“ und Krankenmord siehe ausführlich: Jütte: Medizin im Nationalsozia­ lismus (2011), S. 214–234. 127 Vgl. Forsbach: Aspekte (2008), S. 140; Reiter (1995), S. 29.

5.2 Anpassung oder Verweigerung?

225

allmählich Widerstand formierte128, argumentierte man mit vermeintlich ra­ tionalen und humanistischen Aspekten der Rassenhygiene, um die Bevölke­ rung für die „Vernichtung unwerten Lebens“ zu gewinnen. Die Laienhomöopathen, namentlich Eugen Rinker, beteiligten sich mit ihren Vorträgen zum Thema Rassenhygiene also unmittelbar an der Rechtfer­ tigung der Krankenmorde. Ihr Engagement in dieser Sache hielt sich aber in Grenzen; die angeführten Beispiele sind beinahe die einzigen, die aus den Protokollbüchern der untersuchten Vereine hervorgehen. Nach der von Goeb­ bels befohlenen dreimonatigen Propagandaaktion zur Verinnerlichung der „wissenschaftlichen Grundlagen des erbbiologischen Denkens“ nimmt die Zahl der einschlägigen Vorträge schlagartig ab. In den Fokus rücken wieder die klassischen Themen Krankheit und ernährungsbasierte Gesundheitsvor­ sorge. Zu diesem Befund gelangte bereits Eberhard Wolff nach der Durch­ sicht der Protokollbücher des Vereins Heidenheim. Das Thema „Erbbiologie und Erbgesundheitspflege“ behandelte der dortige Vereinsvorsitzende im Rahmen von Vorträgen nur im Herbst 1933, danach nicht mehr.129 Wolff kommt daher zu dem nach wie gültigen Schluss, dass von einer Anpassung des Vereins an den nationalsozialistischen Rassismus und Biologismus nur sehr bedingt die Rede sein könne.130 5.2.3 Die Rolle weiblicher Laienhomöopathen im Dritten Reich Wenn es um die Umsetzung der Gesundheits­ oder Erbgesundheitspflicht ging, waren in erster Linie Frauen angesprochen. Das vermag umso weniger zu überraschen, als Frauen in der homöopathischen Laienbewegung zu Ge­ sundheitsbeauftragten der Familie stilisiert wurden. Während sich die männli­ chen Mitglieder in den 1920er Jahren vornehmlich um die Organisation des Vereinsalltags kümmerten, erhielten Frauen theoretischen wie praktischen Unterricht in Sachen Erste Hilfe, Kranken­ und Körperpflege, medikamen­ töse Selbsthilfe, naturgemäße Ernährungsweise, Krankheitsaufklärung oder Anatomie. An dieser Rollenverteilung sollte sich auch nach 1933 nichts än­ dern. Mit Ausnahme der Politisierung und ideologischen Vereinnahmung des weiblichen Körpers. Frauen hatten fortan nicht allein für die Gesundheit ihrer Ehemänner und Kindern zu sorgen, sondern durch die Aufzucht eines erbge­ sunden und rassereinen Nachwuchses dem gesamten Volk verpflichtet. „Den ersten, besten und ihr gemäßesten Platz“, so Joseph Goebbels 1933 anlässlich der Ausstellung „Die Frau“ in Berlin, „hat die Frau in der Familie und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Land und Volk

128 Zum öffentlichen Protest und Widerstand gegen die Aktion T4 siehe: Pfäfflin (1984), S. 34; Forsbach: Medizin im Nationalsozialismus (2008), S. 140–142; Jütte: Medizin im Nationalsozialismus (2011), S 229. 129 Vgl. Wolff (1989), S. 201. 130 Wolff (1989), S. 201.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Kinder zu schenken“131. Dieser Ansicht waren auch die Laienhomöopathen, allen voran ihr eifrigster Wortführer Immanuel Wolf. Dieser äußerte sich An­ fang 1937 im Rahmen eines Vortrags folgendermaßen über „Die Arbeit der Frau in unserer Gruppe oder die Frauen der Arbeit“ über die Rolle der Frau im Nationalsozialismus: Der Redner führte aus daß es Pflicht der Frau sei im Dienst an der Volksgesundheit zu arbeiten, u. das Kapital Volksgesundheit zu verwalten. Die Frau sei die Trägerin des Le­ bens u. der Familie. Die Tätigkeit in der Frauengruppe sei um unser selbst u. um unserer Kinder willen. […] Die Frau u. Mutter soll das Gut, das ihr anvertraut ist, in Treue ver­ walten, ebenso die Arbeit im Verein u. in der Gruppe. Sie soll das Gelernte mit heimneh­ men u. verwerten, etwaige Fehler einsehen u. falsches besser machen.132

Ferner solle sie auf ihre Gesundheit achten und den Kindern stets als Beispiel vorangehen und ihnen mit guten Ratschlägen zur Seite stehen. Auf der Frauen­ gruppentagung in Stuttgart adressierte man sinngemäß „Die Frau als Trägerin der Familie“133, in Reutlingen im Plural sogar als die „mitverantwortlichen Trägerinnen im 3. Reich“134. Ähnlicher Meinung war auch der approbierte Homöopath Erich Haehl (1901–1950). Einen Artikel über „Hygiene und Diä­ tetik der Frau“, in dem es um Erziehung von Mädchen sowie Förderung von deren Gebärfähigkeit geht, beginnt Haehl mit den Sätzen: „Die Frau als Trä­ gerin und Hüterin der menschlichen Fortpflanzung und Fortentwicklung ver­ langt besondere Maßnahmen und Richtlinien zur Pflege und Erhaltung ihres Körpers. Mit ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden steht und fällt das Werden und Wachsen der Menschheit und aller Völkerschaften.“135 Zumin­ dest in Reutlingen fühlten sich davon allerdings nur die wenigsten Frauen angesprochen, denn das fehlende Interesse an den Vereinsinhalten betraf nicht nur die männlichen Mitglieder. So musste der Vereinsvorsitzende in sei­ nem Jahresbericht 1934 ernüchtert feststellen, dass die Frauen­Vorträge zu we­ nig von jungen Frauen und Müttern besucht worden seien.136 5.3 Die „innere Gleichschaltung“: Berücksichtigung der NS-Gesundheitspolitik in der Vereinspraxis Deutlich wurde bisher, dass die homöopathische Laienbewegung auf die NS­ Gesundheitsprogrammatik in Wort und Schrift eingegangen ist. Die Ausfüh­ rungen über die rassenideologische Instrumentalisierung der Bewegung lie­ ßen darüber hinaus erkennen, dass die Erwartungen der Nationalsozialisten bis zu einem gewissen Grad auch auf der praktischen Ebene der Vereinsarbeit 131 Kuhn (1992), S. 477. 132 IGM/Varia 73, 28. Januar 1937. 133 So der Titel eines auf der Tagung gehaltenen Arztvortrags: IGM/Varia 64, 24. Februar 1937. 134 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1934. 135 LPZ 64 (1933), S. 166. 136 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1936.

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5.3 Die „innere Gleichschaltung“

erfüllt wurden. Wirklich aussagekräftig sind die auffallend wenigen rassenhy­ gienischen Vorträge jedoch nicht. Sie zeigen lediglich eine Tendenz auf, die der weiteren Überprüfung am vereinsbezogenen Quellenmaterial bedarf. Im Folgenden sollen daher die in der Vereinspraxis vermittelten Wissensbestände untersucht und dabei gefragt werden, ob der äußeren Gleichschaltung der Laienvereine auch, wie von Wolf gewünscht, eine innere folgte. Dass die vier homöopathischen Laienvereine Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen ihre Vereinsaktivitäten nicht nur rhetorisch an die vom Staat geforderte Propagierung einer Pflicht zur Gesundheit an­ passten, zeigt sich schon an der quantitativen Erhebung der zwischen 1933 und 1945 gegebenen, gesundheits­ und krankheitsbezogenen Erläuterungen. Wie aus Diagramm 14 hervorgeht, drehten sich mehr als ein Drittel der Arzt­ oder Laienvorträge um die Themenfelder „Gesundheitspflege und Ernäh­ rung“, „Vorbeugung“ und „Heilpflanzen“ (35 %). Insgesamt fällt allerdings auf, dass die Besprechung von einzelnen Krankheitsbildern und deren homöopa­ thisch­naturgemäße Behandlung nicht völlig aufgegeben wurde. Explizit um Krankheiten ging es in 51 Vorträgen (37 %). Die im Vergleich zur Weimarer Republik  – wo Vorträge über Gesundheitspflege, Ernährung und Heilpflan­ zen lediglich 18 % aller Vorträge ausmachten (vgl. Diagr. 14) – geringere Dif­ ferenz macht aber deutlich, dass zwischen 1933 und 1945 wesentlich mehr therapie­ und präventionsbezogene Vorträge veranstaltet wurden.137 Der vom 25 22 20 16

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Diagr. 14: Anzahl der themenspezifischen Erläuterungen in den homöopathischen Vereinen Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen zwischen 1933 und 1945 (n=137). 137 Zum Vergleich: Die quantitative Analyse der Vortragspraxis in Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen zwischen 1915 und 1932 ergab, dass 40 % der Vorträge Krankheiten und/oder körperimmanente Vorgänge beleuchteten, dagegen lediglich nur

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Staat geforderten Umstellung der Volksheilverbände auf Gesundheitsführung und ­pflicht verweigerten sich die Laienhomöopathen demnach nicht  – sie ließen aber auch nicht von einer umfassenden Aufklärung über Krankheiten ab. Die These, dass die homöopathischen Laienvereine Vorträge und Ab­ handlungen über Rassenhygiene nur widerwillig und gezwungenermaßen be­ rücksichtigten, findet ebenfalls in der Auswertung der einzelnen Vereinsproto­ kolle eine Bestätigung. Nur sieben von insgesamt 137 Vereinsvorträgen (5 %) behandelten die nationalsozialistische Erbgesundheitspflege im oben umrisse­ nen Sinne einer Selektion von psychisch Kranken und Behinderten. Antise­ mitische Äußerungen können im Einzelfall vorgekommen sein, die antisemi­ tischen Lehren waren jedoch soweit nachweisbar kein einziges Mal Gegen­ stand fach­ oder populärwissenschaftlicher Vorträge. Die Befürwortung der Verfolgung und Stigmatisierung von Juden und anderen Minoritäten, die nicht ins nationalsozialistische Rassen­ und Politikkonzept passten, taucht auch in keinem einzigen Protokolleintrag auf. Dieser Befund ist umso erstaun­ licher, wenn man sich einerseits die immer aggressivere und unverhohlenere Ausgrenzung und Entrechtung jüdischer Mitbürger und andererseits den di­ rekten Einfluss der NSDAP­Ortsgruppen auf die Vereine vergegenwärtigt. Subtil geäußerte Kritik, Empathiebekundungen oder gar Protest gegen die Ausschreitungen sucht man allerdings ebenso vergebens. Von einem „inne­ rem Exil“ der meisten Laienhomöopathen zu sprechen, dürfte hier zu weit gehen; ihre passive Haltung lässt jedoch darauf schließen, dass die Vereine versuchten, weder positiv mit internalisiertem Rassismus noch negativ mit oppositionellem Verhalten aufzufallen. Die Vorträge, in denen den Mitgliedern eine gesundheitsbewusste und ­fördernde Lebensweise nähergebracht werden sollte, unterschieden sich in­ haltlich kaum von jenen der Weimarer Zeit. So machten die Arzt­ und Laien­ referenten auch in den Dreißigern einen einseitigen, fleischlastigen, vitamin­ und ballaststoffarmen Speisezettel als Hauptursache vieler Erkrankungen aus. Zur Vorbeugung propagierten sie stattdessen auch nach 1933 eine überwie­ gend laktovegetabile Ernährung und nur mäßigen Fleisch­ und Alkoholkon­ sum. Eine gewisse Frau Dr. Bottenberg vertrat vor den Mitgliedern der Frauen­ gruppe Rohracker die Ansicht, dass siebenmal mehr Obst, Gemüse und Kar­ toffeln als Fleisch, Brot und Eier gegessen werden müsse. Krankheiten ent­ stünden bei dieser Ernährungsweise viel seltener. Ferner sei es ratsam, den Körper täglich mindestens zwei Stunden an der frischen Luft zu bewegen.138 In mehreren Vorträgen taucht zudem der schon in den 1920er Jahren gele­ gentlich gegebene Ratschlag auf, den Körper mittels Rohkost und einer funk­ tionierenden Verdauung („Der Tod sitzt im Darm“139) von schädlichen Stoff­

rund 18 % die Pflege und Erhaltung der Gesundheit sowie Heilpflanzen im weitesten Sinne thematisierten. 138 IGM/Varia 73, 14. November 1935. 139 IGM/Varia 73, 10. März 1940.

5.3 Die „innere Gleichschaltung“

229

wechselprodukten, sogenannten Schlacken, zu befreien.140 Der Entschlackung dienlich seien ferner Frühjahrskuren: Brennnessel­, Schlüsselblumen­, Holun­ derblüten­, Löwenzahn­, Nussbaum­ oder Birkenblättertee würden hierbei ganz hervorragende Dienste leisten.141 Dass die Adressaten solche und ähnli­ che Ratschläge rund um das Thema „gesundheitsbewusste Lebensführung“ im Laufe der vergangenen 15 Jahre wohl zur Genüge verinnerlicht hatten, verdeutlicht eine unscheinbare Bemerkung im Protokollbuch des Vereins Stuttgart­Wangen. Der Schriftführer kommentierte den Vortrag des ehemali­ gen Leiters der Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde Karl Kötschau (1892–1982) kurz und bündig mit den Worten: „Seine ganzen Ausführungen gingen immer wieder dahin hinaus, eine gesunde Lebensfüh­ rung komme nur durch Mäßigkeit im Essen u. Trinken.“142 Was man sich darunter vorzustellen hatte, wussten die Laienhomöopathen offensichtlich so genau, dass eine Zusammenfassung nicht nötig war. Ob sie im Alltag eine gesunde und genussmittelfreie Lebensweise berücksichtigten, ist eine andere Frage. Die bisherigen Befunde haben schließlich gezeigt, dass man gerade bei den Versammlungen und Festen nicht auf Fleischkonsum und den Genuss der „Volksfeinde“143 Alkohol und Tabak verzichten wollte. Daran änderte sich auch nach 1933 nichts: Um den zahlreichen Besuchern des Vereinsjubiläums in Laichingen etwas für ihr leibliches Wohl bieten zu können, beauftragte die Vereinsführung mehrere der örtlichen Gastronomen mit deren Bewirtung. Angeboten wurden neben alkoholischen Getränken auch „Rauchwaren“144, womit man die gesundheitspolitische Aussage der angeschlossenen Gesund­ heitsausstellung und auch Festreden letztlich ad absurdum führte. Verglichen mit der Weimarer Zeit waren die Vereinsaktivitäten während des Nationalsozialismus sowohl quantitativ als auch qualitativ rückläufig. Das zeigt sich bereits an der absoluten Zahl der Vorträge als zentraler Teil der Vereinsarbeit: Während zwischen 1915 und 1932 in den mitgliederstarken homöopathischen Laienvereinen Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen insgesamt 294 Erläuterungen verschiedenster Art gegeben wurden, waren es zwischen 1933 und 1945 nur 137.145 Was Krieg, Inflation und Wirtschaftskrise nicht geschafft haben, das bewirkten nun die Restriktio­ nen, die die Gleichschaltung mit sich brachte. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden umgehend die homöopathischen Ju­ gendgruppen aufgelöst. Ohne Angabe von Gründen verschwanden aus dem 140 IGM/Varia 72, 22. Februar 1936; IGM/Varia 73, 26. Januar 1936. 141 IGM/Varia 73, 26. Januar 1933. 142 IGM/Varia 374, 7. Februar 1939. Kötschau, ehemaliger Leiter der Reichsarbeitsgemein­ schaft für eine Neue Deutsche Heilkunde, referierte im Stuttgarter Gustav Siegle­Hause über „Unheil­Ernährung und Volksgesundheit“. Organisiert wurde der Vortrag von der Deutschen Volksgesundheitsbewegung 143 LPZ 64 (1933), S. 34M–35M. 144 IGM/Varia 64, 14. Juli 1935. 145 Dass beide Zeiträume nicht gleich lang sind, mag dazu beitragen, dass die Anzahl der Vorträge nicht identisch ist. Die Differenz von fünf Jahren erklärt aber nicht hinreichend den Rückgang um mehr als 50 Prozent.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Vereinsprogramm ebenso in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik die recht populären Kurse. So wurden beispielsweise in den Vereinen Rohracker und Stuttgart­Wangen zwar Wünsche laut, Ende 1933 wieder einen Erste Hilfe­Kurs abzuhalten.146 Dieser und ein Gymnastikkurs kamen in beiden Vereinen auch zustande und mündeten in Rohracker traditionsgemäß in eine Abschlussfeier, fanden in den Folgejahren aber keine Wiederholung mehr. Ähnlich erging es auch der Kurspraxis im Verein Laichingen. Anfang 1933 veranstaltete der Verein einen gut besuchten Krankenpflegekurs, der aber nicht wiederholt wurde. Kranke und Pflegebedürftige entsprachen schließlich nicht dem nationalsozialistischen Gesundheitsideal und sollten daher nicht länger Gegenstand der vereinsinternen Wissensvermittlung sein.147 Auch die Protokollbücher der anderen Vereine liefern keinen Hinweis auf durchge­ führte Kurse; einzig der Vereinsschriftführer in Fellbach notierte Anfang 1937 die Absicht ins Protokollbuch, in Bälde einen Kochkurs veranstalten zu wol­ len.148 Über eine Realisierung dieses Vorhabens schweigt er sich allerdings aus. Angesichts der volksgesundheitlichen Bedeutung, die die Nationalsozia­ listen einer richtigen Ernährung und abhärtenden Körperkultur beimaßen, ist das abrupte Verschwinden zumindest der Koch­ und Gymnastikkurse unver­ ständlich. Konkrete Gründe, die Aufschluss über diesen Widerspruch geben könnten, liegen hingegen nicht vor. Denkbar wäre allenfalls, dass die Laien­ vereine gesundheitsrelevantes Wissen wegen der besseren Kontrolle nur noch in theoretischen Vorträgen, nicht aber in praktischen Vorführungen vermit­ teln sollten. Vorträge mussten nämlich vorab polizeilich angemeldet werden, wodurch den NSDAP­Ortsgruppen deren Inhalt bekannt wurde. Bei Missfal­ len des Themas konnte der jeweilige Vortrag verboten werden. In den regulä­ ren Mitgliederversammlungen sorgte wiederum die Anwesenheit eines oder mehrerer Parteigenossen für die Einhaltung der politcal correctness. Jegliche vereinsinternen Zusatzprogramme (ausgenommen private Wanderungen und Ausflüge), bei denen die Überwachung erschwert war und denen kein prakti­ scher Propagandanutzen beigemessen werden konnte, wurden untersagt. Dafür, dass die Gestaltung des Vereinsprogramms kontrolliert und nichts dem Zufall überlassen werden sollte, sprechen auch die sogenannten Schu­ lungsabende, die beispielsweise der Homöopathische Verein Stuttgart­Wan­ gen zwischen 1936 und 1940 veranstaltete. Die Bestimmung der Themen ob­ lag dabei nicht der Vereinsführung bzw. den Wünschen der Mitglieder, son­ dern wurde zuvor und einheitlich von den Verbandsfunktionären beschlos­ sen.149 Die Schulungsabende verfolgten den Zweck, die Vereinsführungen gemäß des Führerprinzips „von oben“ zu instruieren bzw. zu indoktrinieren. Ihr ideologisiertes Wissen sollten die „Vereinsführer“ anschließend „nach un­ ten“ an die Mitglieder weitergeben. Um was es bei diesen Schulungen genau 146 IGM/Varia 72, 19. Oktober 1933; IGM/Varia 379, 11. Oktober 1933. 147 Vgl. Forsbach: Medizin im Nationalsozialismus (2008), S.  136 f.; Kratz/Kratz (2004), S. 124. 148 IGM/Varia 69, 13. Februar 1937. 149 Vgl. IGM/Varia 374, 14. Februar 1937.

5.3 Die „innere Gleichschaltung“

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ging, geht aus dem Protokollbuch des Vereins Stuttgart­Wangen hervor: Am 18. Januar 1937 gab ein Bezirksleiter Antworten auf die Frage: „Wozu ver­ pflichtet uns der 4 Jahresplan innerhalb unserer Bewegung?“150 Um den Vier­ jahresplan und „deutsche Teepflanzen u. Wildgemüse“ ging es erneut knapp acht Wochen später.151 Im Mai 1937 widmete sich ein namentlich nicht be­ kannter Redner an zwei Abenden den „Erbkrankheiten“152. Die Hochphase der Schulungsabende fiel ins erste Quartal 1938. Von Januar bis Ende März fanden Vorträge statt über „Heilmittel“, „Köperlehre“, „Atmungsorgane“, „Was geschieht mit den brauchbaren Stoffen“, „Rheuma, Gicht, Nerven, Krebs“ und „Verbandslehre“153. Auffallend ist, dass die Schulungsredner kein einziges Mal explizit die individuelle Pflicht zur Gesundheit und zur Leis­ tungssteigerung – neben der Erbgesundheit das Hauptelement der NS­Medi­ zin154 – thematisierten. Vielmehr handelten die Vorträge, wie auch schon vor 1933, von Erkrankungen, homöopathischen und naturgemäßen Heilmitteln, von Anatomie und in einem Fall auch von Gesundheits­ bzw. Körperpflege. Der Umstand, dass die Inhalte von der Bezirksversammlung bestimmt wur­ den, macht diesen Befund nur noch brisanter. Die Laienhomöopathen rede­ ten den Nationalsozialisten zwar nach dem Mund und gaben sich konform, sowohl auf Vereins­ als auch auf Verbandsebene waren sie hingegen nicht wirklich bereit, den Anforderungen der NS­Gesundheitspolitik konsequent nachzukommen. Die einzigen Zugeständnisse waren die unvermeidlichen Vorträge über den Vierjahresplan und die Erbkrankheiten. Ein Bereich der praktischen Vereinsarbeit, der zunächst auf tatsächliche statt vorgegebene Internalisierung der nationalsozialistischen Gesundheits­ ziele hindeutet, sind die von mehreren württembergischen Vereinen durchge­ führten Heilpflanzenausstellungen. Eine solche Ausstellung bot der Verein Rohracker seinen Mitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit im Som­ mer 1937. Unter dem Motto „Gesundes Volk ist unser Streben, Licht, Luft, Sonne bedeutet das Leben!“ konnten die Besucher Wissenswertes über ver­ schiedene Heilpflanzen und Beerenarten sowie gärungslose Früchteverwer­ tung lernen. Auf dem Festplatz fand zusätzlich eine Süßmostverköstigung statt.155 Den theoretischen Teil der Ausstellung bestritt erneut Immanuel Wolf mit einem Vortrag über „Heilkräuter und Kräuterheilkunde und Homöo­ pathie“156. Allerdings waren solche Ausstellungen keine Erfindung der 1930er Jahre; es gab sie in exakt gleicher Form (nur ohne Süßmost) bereits 1913 in Fellbach157 und während der Weimarer Republik beispielsweise in Unterhau­

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IGM/Varia 374, 29. Januar 1937. IGM/Varia 374, 14. Februar 1937. IGM/Varia 379, 7./19. Mai 1937. Vgl. IGM/Varia 379, Protokolle 12. Januar bis 23. März 1938. Vgl. Kratz/Kratz (2004), S. 124 f. IGM/Varia 73, 4. August 1935. IGM/Varia 72, 21. Juli 1935. IGM/Varia 68, 25. Mai 1913.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

sen158 oder in Stuttgart­Wangen.159 An die Pflanzenausstellungen vergangener Jahre ließ sich inhaltlich also wunderbar anknüpfen, nur die Rhetorik musste dem Nazi­Jargon angepasst werden. Vollkommen neuartig war allenfalls, dass man sich bei hohen Regierungsbeamten und ­behörden anbiederte, indem man ihnen eine Fotoaufnahme der Heilpflanzenausstellung sandte. Die Laien­ homöopathen in Rohracker schickten eine solche Grußkarte an den Präsiden­ ten der Reichsgesundheitsamts Hans Reiter sowie an Gauleiter Julius Strei­ cher, woraufhin der Schriftführer im Protokoll vermerkte, „daß beide Herren sich lobenswert ausgesprochen haben über unsere rege Tätigkeit u. über un­ sere klänzende [sic] Ausstellung“160. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass den von Immanuel Wolf ge­ wünschten Zustand der völligen „inneren Gleichschaltung“ weder die Ver­ bände noch die Vereine jemals erreicht haben. Die Homöopathischen Monats­ blätter und die Leipziger Populäre Zeitschrift griffen nach 1933 nationalistische und völkische Themen auf und setzten sie mit der Homöopathie in Bezug161, die Inhalte der Artikel veränderten sich langfristig hingegen kaum. Auch im Hinblick auf die Vereine erhärtet sich der Eindruck, dass alter Wein in neuen Schläuchen ausgeschenkt worden ist. Denn obwohl Wolf die Laienhomöopa­ then in vorderster Front für die Volksgesundheit kämpfen sah, ging das Leben in den Vereinen auch nach der Gleichschaltung weiter wie zuvor. Soweit es notwendig war, fuhren die Mitglieder auf die Reichstreffen der Volksheilbewe­ gung oder hörten sich programmatische Vorträge in ihren Heimatvereinen an. Außer dem Ausschluss politisch missliebiger Mitglieder und der Umbeset­ zung des Vereinsausschusses änderte sich sonst jedoch nicht viel.162 „Zwar tauchten in der Vereinsarbeit nun Vorträge zu Themen wie Rassenkunde und Eugenik auf, im wesentlichen blieb die Tätigkeit jedoch dieselbe.“163 Die quantitative Auswertung der zwischen 1933 und 1945 in vier württembergi­ schen Laienvereinen gehaltenen Vorträgen bestätigt diese Beobachtung: Refe­ rate zum Thema Erbgesundheitspflege wurden erstaunlich wenige gehalten, Vorträge über Krankheiten und ihre homöopathische Behandlung fanden in gleichem Maße statt wie solche über ernährungsbasierte Gesundheitspflege. Die Vereine kamen den Ansprüchen der NS­Gesundheitsführung, als „Stoß­ trupps für die Verbreitung der Leitziele ‚Leistungswillen‘ und ‚Gesundheits­ pflicht‘“164 zu fungieren, demnach nur insoweit nach, wie es ihren eigenen Interessen entsprach. Eberhard Wolff bezeichnet diese Reaktion als „Rückver­ einnahmung“ nationalsozialistischer Vorgaben in die Vereinsarbeit.165 Antise­

158 159 160 161 162 163 164 165

IGM/Varia 484, 17./18. April 1927. IGM/Varia 373, 8. Juli 1928. IGM/Varia 72, 22. Februar 1935. Karrasch (1998), S. 146. Karrasch (1998), S. 147. Bothe (1996), S. 88. Haug (1986), S. 231. Wolff (1992), S. 130.

5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“

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mitisch gesinnt waren die Laienhomöopathen soweit erkennbar gar nicht166, nationalistisch­völkisch nur auf dem Papier der Zeitschriften, Protokollbücher und Lokalzeitungen oder anlässlich öffentlicher Festakte. Dort also, wo man mit der politisierten Außenwelt in Kontakt kam. Hinter den verschlossenen Türen der Vereinslokale ging es hingegen weit weniger ideologisch aufgeladen zu. Die Indienststellung der therapeutisch­prophylaktischen Vereinsarbeit für Homöopathie und Vaterland war sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner, der den Fortbestand der homöopathischen Laienbewegung garantierte. Zu diesem Schluss kommt auch Wolff in seiner Studie über den Verein Heiden­ heim. Dort hätten alle Vereinsmitglieder mit vereinten Kräften zusammenge­ arbeitet: „überzeugte Nationalsozialisten wie eher kommunistisch oder poli­ tisch neutral orientierte Mitglieder. Hier stand einzig die Sache der Homöo­ pathie im Vordergrund.“167 Detlef Bothe hat jedoch ganz richtig darauf hinge­ wiesen, dass sowohl die homöopathischen Laienverbände als auch die zahlrei­ chen Ortsvereine mit ihrer unkritisch­naiven Haltung und ihrer „Appease­ ment­Politik“ bis zum Schluss mitgeholfen und dazu beigetragen haben, das menschenverachtende System von Heilen und Vernichten im Nationalsozia­ lismus zu festigen.168 5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“169 Die homöopathische Laienbewegung im Zweiten Weltkrieg 5.4.1 Das Ende der Reichsarbeitsgemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens­ und Heilweise und seine Auswirkungen auf die Laienbewegung Das Jahr 1939 bedeutete für die Volksheilverbände nicht nur wegen des Kriegsausbruchs eine Zäsur. Durch den frühen Krebstod von Reichsärztefüh­ rer Gerhard Wagner (1888–1939) im März verloren sie einen ihrer „entschei­ denden Protagonisten“170 und Fürsprecher. Sein Nachfolger Leonardo Conti (1900–1946) gab die von Wagner mit Nachdruck betriebene Synthese von naturwissenschaftlicher Schul­ und biologischer Alternativmedizin auf, nach­ dem das Gewicht mit Einsetzen des Vierjahresplans Ende 1936 ohnehin zu Gunsten der naturwissenschaftlich­exakten Medizin ausgefallen war.171 Durch 166 Vgl. Wolff (1989), S. 207. Der Schriftführer des Vereins Stuttgart­Wangen kolportierte das gängige Stereotyp, demzufolge sich die Juden in „höchste und führende Stellen“ einge­ schlichen hätten und den Untergang des deutschen Volkes vorantreiben würden. Diese Bemerkung ist allerdings die Paraphrase eines Vortrags auf der Nürnberger Volksheilta­ gung gehaltenen Vortrags und nicht seine eigene Meinung (IGM/Varia 374, 25./26. Mai 1935). 167 Wolff (1992), S. 124. 168 Bothe (1996), S. 90. 169 HM 64 (1939), S. 145. 170 Haug (1984), S. 127. Zur „Neuen Deutschen Heilkunde“ unter Conti siehe auch: Kratz/ Kratz (2004), S. 145–148. 171 Jütte (1996), S. 52.

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den neuerlichen Bedeutungszuwachs gelang es der Schulmedizin bzw. ihren Vertretern, ihre bislang defensive Haltung, „in die sie die Attacken des Natio­ nalsozialismus gegen ‚Krankenkassen­Materialismus‘ und ‚Organmedizin‘ ge­ bracht hatten“172, aufzugeben und künftig wieder verstärkt ihre eigenen Inte­ ressen durchzusetzen. Das wird vor allem 1939 an der Verabschiedung des Heilpraktikergesetzes deutlich, wodurch den Heilpraktikern die Ausbildung von Nachwuchs verboten, der Ärzteschaft damit tendenziell das Monopol auf die Heilbehandlung eingeräumt wurde.173 Faktisch war damit die Kurierfrei­ heit aufgehoben174; ein Erfolg, den ganze Ärztegenerationen in den Jahrzehn­ ten zuvor nicht erzielen konnten. Angesichts dieser Entwicklung konnte es sich der renommierte Berliner Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) leisten, Alfred Brauchle (1898–1964), den Vertreter der Naturheilkunde am prestigeträchtigen Rudolf­Heß­Krankenhaus in Dresden, als Vortragsredner der im September 1939 einberufenen 94. Versammlung der deutschen Natur­ forscher und Ärzte wieder auszuladen. Das war ein nicht nur in Fachkreisen weithin sichtbares Zeichen, dass man seitens der schulmedizinischen Ärzte­ schaft an einer wirklichen Synthese naturwissenschaftlicher und biologischer Heilverfahren nicht (mehr) interessiert war. Gerieten die „Außenseiter“­Ärzte und die verschiedenen Volksheilver­ bände durch das Erstarken der Schulmedizin zunehmend ins Hintertreffen, hatte die homöopathische Heilmethode in doppelter Hinsicht das Nachse­ hen: 1939 veröffentlichte der Bonner Schulmediziner Paul Martini die negativ ausgefallenen Ergebnisse seiner homöopathischen Arzneimittelprüfung an gesunden Versuchspersonen. Martini kam darin zu dem Schluss, dass bei den Probanden nicht die typischen Krankheitsbilder zum Vorschein gekommen wären, d. h. die „Arzneimittelprüfungen der Homöopathie den Ansprüchen der Wissenschaft nicht genügen könnten und die bei solchen Prüfungen auf­ tretenden Symptome in erster Linie Ausdruck der besonderen Suggestion seien, der der einzelne Prüfer unterliege, nicht aber Eigenschaft des geprüften Mittels.“175 Ähnlich verheerend fielen auch die im Auftrag des Reichsgesund­ heitsamts zwischen 1936 und 1939 durchgeführten Untersuchungen aus. Fritz Donner, Leiter der homöopathischen Abteilung am Berliner Rudolf Virchow­ Krankenhaus, bezeichnete ihren Ausgang gar als Fiasko für die Homöopa­ thie.176 Es habe sich herausgestellt, dass viele homöopathische Arzneimittel noch gar nicht richtig überprüft worden und manche vermeintlichen Erfolge eher dem Placeboeffekt als einer tatsächlichen Wirksamkeit zuzuschreiben seien.177 Innerhalb des homöopathischen Lagers führten diese Ergebnisse zu kontroversen Debatten über Dogmatismus oder notwendige Reform der Hahnemannschen Lehre, außerhalb zur Gewissheit, dass die Homöopathie 172 173 174 175 176 177

Haug (1984), S. 126. Haug (1984), S. 127; Karrasch (1998), S. 31. Haug (1989), S. C­674. Martini (1939), S. 724. Zitiert nach: Bothe (1996), S. 85 f. Bothe (1996), S. 86. Bothe (1996), S. 86.

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als Pharmakotherapie – und mit ihr auch die anderen biologischen Verbände und Vereine – nicht den an sie gestellten Ansprüchen und Bedürfnissen genü­ gen könne.178 Die unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Natio­ nalsozialisten aufkeimenden Hoffnungen auf Anerkennung der Homöopathie als gleichberechtigte Heilmethode zerschlugen sich also spätestens 1939. Der Kriegsausbruch erschwerte eine Rehabilitierung der Homöopathie zusätzlich, weil es der NS­Gesundheitsführung weiterhin nicht mehr um die Berücksich­ tigung partikularer Einzelinteressen, sondern nur noch um die „Propagierung einer gesunden Lebensführung und die Verbreitung einer allgemeingültigen Gesundheitslehre“179 ging. Diese Zielsetzung wirkte sich auch auf die Volksheilverbände aus. „Auf Anordnung von Reichsärzteführer Conti wurden die in der Reichsarbeits­ gemeinschaft der Verbände für naturgemäße Lebens­ und Heilweise zusam­ mengefaßten Bünde durch Gustav Georg Wegener mit Rundschreiben vom 5.  März 1940 zwecks stärkerer Konzentration der Arbeit in drei Blöcke zusammengefaßt.“180 Der Reichsbund für Homöopathie und Gesundheits­ pflege gehörte gemeinsam mit dem Bund der Felke­Vereine und dem Bund für Biologische Heilweise dem dritten Block an, zu dessen Geschäftsführer Wegener den früheren Bundesleiter der Felke­Vereine Arthur Dhonau be­ stimmte. Seine Aufgaben waren: „Organisation, Propaganda und Redner­ vermittlung.“181 Wegener selbst übernahm den Vorsitz der einzelnen Verbände in Personalunion.182 Die Geschäftsstelle aller Verbände der Reichsarbeitsge­ meinschaft befand sich fortan im Münchner „Haus der Volkgesundheitsbün­ de“183. Obwohl Wegener in seiner Bekanntmachung vom 19. März 1940 be­ teuerte, das „Eigenleben der Untergliederung eines jeden Bundes, so z. B. das der Ortsvereine […] in keiner Weise eingeengt oder geschmälert“ und „Zu­ sammenlegung der Vereine“184 nicht erfolgen würde, trat genau dies bereits ein Jahr später ein. Conti ließ 1941 alle Verbände und ihre Zeitschriften auflö­ sen und die einzelnen Zweigvereine dem DVB eingliedern und damit direkt der NSDAP unterstellen. Ferner hatten nun alle Vereinsvorsitzenden in die Partei einzutreten185; die bloße Gewährleistung der „nationalen Richtung“ reichte nicht mehr aus. Doch damit nicht genug: statt sich weiterhin der „Sek­ 178 179 180 181 182 183 184 185

Bothe (1996), S. 88. Schenck (1943), S. 219. Zitiert nach: Jütte (1996), S. 51. Karrasch (1998), S. 143; Kratz/Kratz (2004), S. 122. HM 65 (1940), S. 33. Karrasch (1998), S. 144, besonders Anm. 486. Karrasch (1998), S. 144. HM 65 (1940), S. 33. Vereinschronik Neu­Ulm (2003), S.  18. Im Staatsarchiv Ludwigsburg sind vereinzelt Spruchkammerakten von Vereinsvorsitzenden überliefert. Aus der Akte des Vereinsvor­ sitzenden in Stuttgart­Wangen geht hervor, dass er schon 1940 „aus geschäftlichen Grün­ den“ in die NSDAP eingetreten ist. Bis zum Militärdienst diente er bei der Luftschutzpo­ lizei als „Sanitätsmann“. Die Juristen der Spruchkammer stuften ihn als Mitläufer ein und erlegten ihm eine Geldstrafe in Höhe von 450 Reichsmark auf. Ab Mai 1946 durfte er wieder seiner Arbeit als Tapeziermeister nachgehen (vgl. StA Ludwigsburg EL 902/20 Bü 52026).

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tierei“ und der „Halbmedizinerei mit einzelnen Methoden“ hinzugeben, so Conti, seien die Vereine aufgerufen, „zu einer Gesundheitserziehung im vor­ beugenden Sinne fortzuschreiten.“186 „Das Ziel der Bundesvereine ist die Auf­ klärung des Volkes und die Weckung des Verständnisses für eine naturgemäße Lebens­ und Heilweise“, wie der Schriftführer des Vereins Reutlingen im No­ vember 1941 im Protokollbuch vermerkte.187 Das bedeutete nicht zuletzt, dass die Gesundheitsvereine, sofern es mehrere in einem Ort gab, künftig zu­ sammengelegt werden mussten. Umgesetzt wurde diese Bestimmung in An­ sätzen aber lediglich vom Homöopathischen Verein Reutlingen. Er veranstal­ tete 1942 gemeinsam mit dem Kneipp­Verein einen (sehr schlecht besuchten) Vortrag über „Naturgemäße Lebens­ und Heilweise“188 und einige Monate später eine Heilkräuterwanderung.189 Die Protokollbücher der anderen Laienvereine erwähnen hingegen keine derartige Kooperation. Sie werden es wie der Verein Heidenheim gehalten haben: „Der Homöopathische und der Kneippverein torpedierten das Vorhaben des DVB, die einzelnen Bewegun­ gen auch lokal zusammenzuschweißen, dadurch vollständig, daß sie ihr ge­ samtes Vereinsleben weiterhin getrennt durchführten.“190 Damit wäre im Gro­ ben die Situation umrissen, mit der die homöopathische Laienbewegung nach 1939 konfrontiert war. Ob sich die Laienvereine nach Ausbruch des Krieges wie gefordert als Gesundheitserzieher betätigten oder sich – wie im Falle der Vereinszusammenlegungen  – der völligen Vereinnahmung durch die Natio­ nalsozialisten versagten, soll im Folgenden untersucht werden. 5.4.2 Vereinsleben während des Zweiten Weltkriegs Was der Kriegsausbruch konkret für die homöopathische Laienbewegung be­ deutete, brachte Immanuel Wolf im August 1940 auf den Punkt. In einem an die Laienhomöopathen adressierten Artikel schrieb er in den Homöopathischen Monatsblättern: Aber die Schicksalsgemeinschaft, die uns alle umschließt, stellt gerade jetzt in der Zeit, da alles zur letzten unwiderruflichen Entscheidung heranreifen muß, vor jeden Volksge­ nossen aufs neue und dringender denn je das sittliche Gebot, sich durch sein eigenes, persönliches Verhalten des Führers und unserer Kämpfer vor dem Feind würdig zu er­ weisen. Auch wir in der Heimat müssen uns als notwendige Mitkämpfer in diesem größ­ ten geschichtlichen Ringen unseres Volkes erweisen und bewähren! Es kann auch für uns als Kämpfer in der Heimatfront nichts anderes geben, als alle Gedanken, alles Tun ganz und gar auf das Schicksal der Volksgemeinschaft zu vereinigen und auf das, was dazu jetzt notwendig ist.191

186 187 188 189 190 191

Conti (1942). Zitiert nach: Bothe (1996), S. 88. IGM/Varia 485, 23. November 1941. IGM/Varia 485, 14. April 1942. IGM/Varia 485, 19. Juli 1942. Wolff (1989), S. 210. HM 65 (1940), S. 53.

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Notwendig war vor allem und noch immer, den Volkskörper gesund und leis­ tungsfähig zu halten, konnte doch die medizinische Versorgung der Bevölke­ rung aufgrund des Militärdienstes vieler Ärzte nicht mehr umfassend gewähr­ leistet werden. Im Vordergrund des Kampfes an der Heimatfront hatte des­ halb künftig mehr denn je die Selbsthilfe zu stehen. Neben Kenntnissen über eine homöopathische Behandlung umfasste sie wie schon 1914 hauptsächlich die Ernährung bzw. die „Erschließung neuer Nahrungsquellen in der heimi­ schen Natur“192. Getreu dem Motto: „Gesundsein ist nationale Pflicht“193 widmeten sich beide homöopathischen Zeitschriften in mehreren Artikeln ausführlich194 „Unsere[r] Kriegsernährung“ oder propagierten den Konsum von Vollkornbrot als „eine lebensgesetzliche Notwendigkeit“195. Allen diesen und anderen verwandten Artikeln war gemein, dass sie eine einfache, mäßige und zugleich vollwertige Ernährungsweise sowie den Verzicht auf Genussmit­ tel wie Alkohol und Nikotin propagierten. Wie schon während des Ersten Weltkriegs ging es daher verstärkt um eine vitamin­ und rohkostreiche, lakto­ vegetabile Ernährung: Fleisch sei nur dann förderlich, wenn es in „mäßiger Menge und nicht täglich gegessen wird“196. Billigere und gesündere Eiweiß­ quellen seien stattdessen Mager­ und Buttermilch, aber auch Käse, Milch und Quark. Weit wichtiger als das tierische sei indessen das pflanzliche Eiweiß, gewonnen aus Gemüse, Kartoffeln oder Vollkornbrot. Es könne vom Körper besser aufgenommen bzw. abgebaut werden und belaste den Stoffwechsel nicht mit „Säureschlacken“197. Neben der Art der konsumierten Nahrungs­ mittel komme es aber auch auf deren richtige Zubereitung an. Beim Kochen gelte daher, die wertvollen Nährsalze und Vitamine durch kurzes Dünsten zu erhalten.198 Naturgemäß und vorbeugend zu leben bedeutete aber längst nicht nur, seinem Körper unbehandeltes oder schonend zubereitetes Obst und Gemüse zuzuführen und ihn damit sozusagen von innen zu stärken. Eine wesentliche Rolle spielte darüber hinaus die Abhärtung, die den Körper „stählen“, also die Widerstandsfähigkeit gegen Witterungseinflüsse und Erkäl­ tungen erhöhen sollte. Geeignete Praktiken seien neben kalten Teil­ oder Ganzwaschungen auch „Trockenbürstungen“, Barfußgehen oder das Luft­, Sonnen­ sowie Schwimmbaden.199 Auch homöopathische Medikamente bö­ ten sich an, um „erkältliche Menschen“ innerlich abzuhärten.200 Wenn es um die Umsetzung dieser Ratschlägen ging, standen in erster Linie Frauen in der Pflicht. Erneut wurde ihnen vermittelt, dass Küche und 192 193 194 195 196 197 198 199 200

Karrasch (1998), S. 143. LPZ 71 (1940), S. 99 u. 131. Vgl. Karrasch (1998), S. 143. HM 65 (1940), S. 25 (mehrteilige Serie); LPZ 71 (1940), S. 25, 80. Zur „Vollkornpolitik“ der Nationalsozialisten siehe auch: Spiekermann (2001); Melzer (2003), insbesondere S. 207–256; Hirschfeld (2005), S. 227; Madarász (2010), S. 157 ff. HM 65 (1940), S. 2 HM 65 (1940), S. 2. HM 65 (1940), S. 3 HM 65 (1940), S. 75 f. HM 65 (1940), S. 84.

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Keller ebenfalls „Frontabschnitte“ und dass Kochen und „Wirtschaften­ können“201 ihre Waffen gegen den Feind seien. „Mit Köpfchen kochen!“ laute daher die Losung für die Frauen.202 Um sie in dieser Aufgabe zu unterstützen, brachten die Monatsblätter 1940 eine Artikelreihe mit dem Titel „Überlegte Küchenführung“. In ihr ging es, unter Berücksichtigung einer naturgemäßen Lebens­ und Ernährungsweise im oben umrissenen Sinne, um die „Zusam­ menstellung gesunder Mahlzeiten“ bzw. um die abwechslungsreiche Gestal­ tung eines wöchentlichen Speisezettels.203 Die von den Nationalsozialisten betriebene „Ernährungsumlenkung“204 betraf indessen nicht nur die Ernährungsweise der Bevölkerung. „Mit dem Ziel der Entlastung der chemisch­pharmazeutisch Industrie und der nationa­ len Autarkie propagierte der NS­Staat […] besonders die Selbstversorgung mit Heil­ und Gewürzmitteln in Form von eigenem Anbau oder dem Sammeln von wildwachsenden Heilkräutern.“205 Die Leipziger Populäre Zeitschrift rief zwar nicht direkt dazu auf, kam den von vielen Laienvereinen durchgeführten botanischen Exkursionen aber dadurch entgegen, dass sie in den Monatshef­ ten „Beiträge zur Heilpflanzenkunde unter der besonderer Berücksichtigung der Homöopathie“ publizierten. Der 71. Jahrgang befasste sich beispielsweise eingehend mit Belladonna (Tollkirsche), Daphne mezereum (Seidelbast, Kel­ lerhals), Arum triphyllum (Zehrwurzel), Solidago virga aurea, (Goldrute), Ruta graveolens (Weinraute, Gartenraute), Aethusa Cynapium (Hundspetersi­ lie), Matriearia Chamonilla (Echte Kamille), Conium maeculatum (Gefleckter Schierling), Echinacea angustifolia (Schmalblättrige Kegelblume). Die aus­ führlichen Beschreibungen wurden am Heftende um kolorierte Zeichnungen ergänzt, die die Pflanze als Ganzes sowie die Blüten im Detail zeigten. Das erleichterte ihre Identifizierung ungemein, nachdem im zugehörigen Text schon der jeweilige Fundort genannt wurde. Dem Text war ebenso zu entneh­ men, zu welchen Heilmitteln die jeweilige Pflanze weiterverarbeitet und bei welchen Beschwerden sie angewendet werden könne. Daneben enthielten die Mai­ und Juniausgabe ein alphabetisches Verzeichnis mit 45 Heil­ und 25 Ge­ würzpflanzen, den aus ihnen gewonnenen homöopathischen Arzneimitteln sowie Anwendungsgebieten. Die Homöopathischen Monatsblätter brachten eben­ falls Erläuterungen zu verschiedenen homöopathischen Heilmitteln und ­pflanzen, allerdings in geringerem Umfang als ihr sächsisches Pendant. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die program­ matischen Vorgaben des NS­Staats zumindest auf theoretischer Ebene aufge­ griffen und von den homöopathischen Zeitschriften an die Laienhomöopa­ then weitergegeben worden sind. Der Kriegsausbruch wurde mit euphori­ schen und markigen Stellungnahmen begleitet, die Aktivitäten der Laienbe­ wegung voll und ganz in den Dienst des Staates und des Volkes gestellt und 201 202 203 204 205

HM 65 (1940), S. 17. HM 65 (1940), S. 17. HM 65 (1940), S. 49 f. Vgl. Wolff (1989), S. 205. Wolff (1989), S. 205.

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der eine oder andere Homöopath träumte sogar vom endgültigen Durchbruch seiner Heilmethode.206 In den homöopathischen Vereinen war die Stimmung bei Kriegsbeginn indessen nicht weniger schlecht, wie beispielsweise aus den Protokollen des Vereins Reutlingen hervorgeht. Dessen Vorsitzender Karl Walz sprach den Mitgliedern am Jahresende 1939 ins Gewissen: Meine lieben Volksgenossen schon im Anfang habe ich von unseren Feinden aufgezwun­ genen [sic] Krieg gesprochen und gerade jetzt braucht unser Führer ein gesundes Volk und darum hat der Ausschuss beschlossen weiter zu arbeiten um das Volk in der Ge­ sundheitsfrage aufzuklären und darum muss ein jeder Volksgenosse mitarbeiten und den zur Seite stehenden aufrütteln die Vorträge und Versammlungen zu besuchen.207

Ein Jahr später wiederholte Walz seinen Appell und präzisierte den Sinn und Zweck der Vereinsarbeit während des Kriegs: Unsere Vorträge & Zusammenkünfte sollen dazu beitragen, dass ein jeder der es mit unserer Sache ernst nimmt jeder an ihn herantretende Krankheit entgegentritt, aber noch besser ist es wann ein jeder es versteht einer Krankheit vorzubeugen welches besser ist als zu heilen. […] Die heutige Zeit erfordert es noch mehr denn je wo es um ein Rin­ gen geht um sein oder Nichtsein, wir brauchen ein starkes gesundes Volk, wir müssen geschlossen hinter unserem Führer stehen und ihm den Endsieg erleichtern.208

Walz multiplizierte die NS­Propaganda demnach im doppelten Sinne. Einer­ seits stimmte er die Mitglieder auf den gewaltsamen Kampf ums Dasein ein, andererseits erinnerte er die Anwesenden eindringlich daran, dass mehr denn je eine vorbeugende Lebensweise gefordert sei. Indem der Verein seine Mit­ glieder sowie die Öffentlichkeit aufzuklären gewillt war, betätigte er sich, wie kurze Zeit später von Reichsärzteführer Conti gefordert, als „Gesundheits­ erzieher“209. Zumindest theoretisch, denn noch ist nicht klar geworden, ob und in welchem Maße der Laienverein Reutlingen oder die anderen homöo­ pathischen Vereine in Württemberg210 diesem eigenen Anspruch auch nach­ gekommen sind. 206 So etwa der homöopathische Arzt Alfred Pfleiderer in den Homöopathischen Monatsblättern: „Man stelle sich vor, daß es unserer Reichsregierung, die in den führenden Männern Adolf Hitler, Rudolf Heß, Julius Streicher, Staatssekretär und Reichsärzteführer Dr. Conti u. a. so viel Verständnis für die Lebens­ und Heilreform besitzt, mit Hilfe unserer Volksbewegung gelingen würde, in kurzer Zeit das ganze deutsche Volk für die Lebens­ erneuerung und für die homöopathisch durchgeistigte Naturheilbewegung im vollen und weiten Sinn des Wortes zu gewinnen! Dann könnte der gegenwärtige Krieg 30 Jahre dauern und die Hoffnung des Welt­Tyrannen England, das deutsche Volk werde durch seine Blockade und den daraus erhofften Mangel zum Kapitulieren gezwungen, würde auch dann noch nicht in Erfüllung gehen“ (HM 65 (1940), S. 22). 207 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1939. 208 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1940. 209 Vgl. Conti (1942). 210 Es sind keine Protokollbücher überliefert, die über die Geschehnisse außerhalb Würt­ tembergs Aufschluss geben könnten. Der Verein Radevormwald löste sich bereits 1936 offiziell auf, da „faßt alle mit Ihren angehörn [sic] der Krankenkasse angeschlossen sind, und auch die Homöpath. Medikamente in der hiesigen Apotheke zu haben sind“ (StA Radevormwald Kasten 6 / Akte 1, 23. April 1936, zu den Apotheken in Radevormwald siehe: Motte (2007)). Die Vereinsaktivitäten lagen indessen schon seit 1922 brach. Da­

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Wie eine adäquate Verhaltensweise während des Kriegs genau auszusehen habe, darüber klärte beispielsweise Immanuel Wolf im Dezember 1939 die Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen auf. Wolf zufolge sollten die Mitglie­ der in erster Linie ganz besonders an der Homöopathie festhalten und haupt­ sächlich ihre Ernährung auf eine andere, obst­ und gemüsereiche Grundlage stellen. Den Fleischkonsum gelte es hingegen stark einzuschränken.211 Denk­ bar, dass es am selben Tag im Verein Laichingen um die gleichen Ratschläge ging, schließlich drehte sich das an diesem Abend vorgetragene Thema um „Die Kriegsaufgaben der homöopathischen Vereine“212. Etwa ein dreiviertel Jahr später wurden die Laichinger Vereinsmitglieder zudem ausführlich über „Unsere Vitamin C­Spender“ aufgeklärt. Im thematischen Anschluss an den Vortrag stellte ein Mitglied die Handhabung und den Nutzen eines Entsafters vor.213 Mit seiner Hilfe konnten die im Herbst gesammelten Früchte zu alko­ holfreiem und vitaminreichen Süßmost verarbeitet werden. Auch die anderen homöopathischen Laienvereine rückten eine naturgemäß­gesunde Ernäh­ rungsweise nach 1939 verstärkt in den Vordergrund. Anfang November 1939 gab der Vorsitzende des Vereins Rohracker Ohnmeiß Antworten auf allerlei „Ernährungsfragen“214, im Januar 1942 behandelte Lilly Kober in Reutlingen die „Ernährungsfrage und Bekleidung im Winter“215, und in Hürben ging es im März 1942 in einer Vorlesung um „Naturgemäße Ernährung“216. Dass da­ nach keine ernährungsbezogenen Vorträge mehr stattfanden, liegt im Wesent­ lichen daran, dass die meisten Vereine ihre Aktivitäten infolge der totalen Mobilisierung der Bevölkerung sowie der weiteren Kriegsauswirkungen ein­ stellen mussten. Signifikant angestiegen ist nach Kriegsbeginn nicht nur die Zahl der Vor­ träge über eine vorbeugende Ernährungsweise. Der Vorsatz, „daß wir unseren Körper gesund erhalten, damit wir den Anforderungen gerecht werden, wel­ che der Führer an uns stellt“, bezog sich, wie bereits bekannt wurde, auf das Sammeln von Heilpflanzen. Ein Mitglied des Vereins Reutlingen forderte da­ hingehend Anfang 1940, Naturheilverfahren und vor allem Heilpflanzen stär­ ker zu thematisieren, „da verschiedene Arzneien nicht mehr vorhanden sind“217. Der gleichen Meinung werden auch die übrigen Laienvereine im Quellenkorpus gewesen sein, da ausnahmslos alle in den Sommermonaten botanische Wanderungen und Ausflüge durch die heimische Flora oder zu benachbarten Vereinen mit Kräutergärten organisierten. Letzteres war bei­ spielsweise dreimal in Hürben der Fall; die dortige Vereinsleitung organisierte

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rauf, dass der sächsische Verein Bischheim auch nach 1937 noch existiert haben muss, lässt das unvermittelt endende Protokollbuch schließen. IGM/Varia 374, 10. Dezember 1939. IGM/Varia 64, 10. Dezember 1939. IGM/Varia 64, 3. August 1940. Ein solcher „Saft­Fix“ wurde auch vom Verein Fellbach angeschafft (IGM/Varia 69, 19. Januar 1941). IGM/Varia 73, 5. November 1939. IGM/Varia 485, 25. Januar 1942. IGM/Varia 519, 29. März 1942. IGM/Varia 485, 20. Januar 1940.

5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“

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im 1940 und 1943 eine Wanderung ins rund fünf Kilometer entfernte Herbrechtingen.218 Der dortige Verein unterhielt als einer der wenigen ho­ möopathischen Vereine einen eigenen botanischen Garten, dessen Heilpflan­ zen Gelegenheit gaben zur ausführlichen Erklärung der jeweiligen Zuberei­ tungsweisen und Anwendungsbereiche. 1941 wanderten sechs Laienhomöo­ pathen aus Hürben nach Bolheim, wo sie einkehrten und sich gemeinsam mit den dortigen Vereinsmitgliedern über den Heilwert von 30 Pflanzen des Mer­ gelstettener Kräutergartens austauschten.219 Von „Heilpflanzenbesichtigun­ gen“ berichtet auch der Vereinsschriftführer in Reutlingen.220 Der Laienver­ ein Stuttgart­Wangen veranstaltete im Februar 1942, wohl in Vorbereitung auf die bald beginnende Blütezeit, einen Lichtbildervortrag über „Unsere Heil­ pflanzen“. Anhand von ca. 80 farbigen Lichtbildern erläuterte der Redner den 72 Zuhörern die einzelnen Pflanzen, ihre Zubereitung und ihre Verwen­ dung.221 Gleiches geschah auch in Reutlingen222 oder Hürben, wo der Her­ brechtinger Vereinsleiter im Rahmen einer Weihnachtsfeier über „Heilpflan­ zen“ sprach.223 Auffallend ist, dass sich die Laienvereine zwar mit Hingabe (und den Besucherzahlen nach zu urteilen auch mit großem Interesse) der Heilpflanzenkunde widmeten, die Anlage von eigenen botanischen Gärten hingegen von keinem der untersuchten Vereine geplant, geschweige denn um­ gesetzt worden ist. Die gesammelten Pflanzen wurden zudem nicht – wie von der eigens eingerichteten „Reichsarbeitsgemeinschaft für Heilpflanzenkunde und Heilpflanzenbeschaffung“224 gefordert  – bei den entsprechenden Sam­ melstellen abgeliefert, sondern dienten in erster Linie als Anschauungsmate­ rial für den Botanikunterricht. Aus den Protokollbüchern geht jedenfalls nicht hervor, dass sie zu einem anderen Zweck als dem Eigenbedarf gepflückt, auf­ bewahrt oder abgegeben worden wären. Wie bereits Eberhard Wolff in Bezug auf den Verein Heidenheim festgestellt hat, sind die politischen Dimensionen der Sammelaktionen also nur marginal ins Bewusstsein der Mitglieder ge­ drungen.225 Das bisher Geschilderte soll hingegen nicht den Eindruck vermitteln, die Vereinspraktiken hätten nach 1939 nur noch aus Ernährungs­ und Heilpflan­ zenvorträgen bestanden. Die Aufklärung über verschiedene Krankheitsbilder, etwa „Herz­Kreislaufstörungen“226 oder „Erkrankungsursachen der Atmungs­ organe“227, und deren homöopathisch­naturgemäße Behandlung fand wie ge­ 218 IGM/Varia 519, 19. Mai 1940. Derselbe Ausflug wurde am 26. Juli 1943 erneut unter­ nommen. 219 IGM/Varia 519, 25. Mai 1941. Zum Heilkräutergarten in Mergelstetten siehe auch: Wolff (1989), S. 206. 220 IGM/Varia 485, 18. Juli und 18. August 1941. 221 IGM/Varia 374, 21. Februar 1942. 222 IGM/Varia 485, 27. April 1941. 223 IGM/Varia 519, 13. Dezember 1942. 224 Vgl. Kratz/Kratz (2004), S. 143. 225 Wolff (1989), S. 206. 226 IGM/Varia 519, 22. November 1942. 227 IGM/Varia 485, 26. Januar 1941.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

habt statt – gelegentlich auch unter Zuhilfenahme anatomischer Modelle. Die homöopathischen Vereine schwörten der „Halbmedizinerei“, wie Conti sie abwertend nannte, also nicht ab. Darin einen bewussten Verstoß gegen das NS­Gesundheitsprogramm zu sehen, ginge indessen zu weit. Als Beispiel ließe sich ein im Mai 1942 in Laichingen gehaltener Vortrag über „Aufbau und Verrichtung des Darmkanals“ anführen.228 Die Referentin erklärte den Zuhö­ rern darin ausführlich die Funktionsweise der menschlichen Verdauung und das Zustandekommen von Darmträgheit. Die Ursachen seien vor allem in ei­ nem Mangel an Bewegung, fehlerhafter Ernährung, Stauungserscheinungen nach Unterleibsoperationen und in den Folgeerscheinungen von Kummer zu suchen. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie der vorbeugenden Wirkung einer richtigen Ernährungsweise: Jede Form der Verstopfung aber spricht auf eine Ernährungsumstellung an. Weißbrot und Gebäck aus feinem Weizenmehl wirken verstopfend, ebenso Fleisch. Vollkornbrot, Rohkost, Gemüse und obstreiche Kost sind zu bevorzugen. Das im Vollkornbrot befind­ liche Vitamin B, das wir auch in der Kartoffel finden, löst die krampfhafte Spannung der Darmmuskeln. […] Zuletzt zeigte die Vortragende selbst einige gymnastische Uebungen zur Bekämpfung der Darmträgheit und bei Hämorrhoiden, sowie Tiefatmungen.229

Die Vortragende, bei der es sich um eine Beauftragte des Münchner DVB handelt, repetierte zwar die altbekannten Ernährungsratschläge, klärte aber auch über spezifische Erkrankungen des Verdauungsapparats auf. Die vom Reichsärzteführer angeordnete volksgesundheitliche Aufklärungsarbeit er­ streckte sich also auch auf Krankheiten. Wichtig war wohl lediglich, dass sie eine Verbindung zu Prävention und risikoaversen Verhaltensweisen herstell­ ten. Folgerichtig klammerte Blum die Behandlung von Obstipation und Hä­ morrhoiden mit homöopathischen Medikamenten aus. Der Vereinsvorsit­ zende Rinker holte dieses Versäumnis im Dezember nach, indem er „einen fortsetzenden Vortrag von Fräulein Blums Ausführungen unter besonderer Berücksichtigung unserer so einfach anwendbaren homöopathischen Arznei­ mittel bei Darm Unterleibs oder anderer ähnlicher [sic] Störungen im Körper­ haushalt“ hielt.230 Dem Verein gelang dadurch der Spagat zwischen Funktio­ nalisierung seiner Praktiken im Sinne der NS­Gesundheitsführung und Wah­ rung seiner eigenen Identität. An diesem Beispiel wird zudem deutlich, dass die Vereine „den Spieß umgedreht hatte[n] und aus der eigenen Funktionali­ sierung durch die Nationalsozialisten via Gesundheitspflicht die Funktionali­ sierung der Gesundheitspflicht für die eigenen Interessen gemacht hatte[n].“231 Soweit zur Umsetzung der gesundheitspolitischen Vorgaben nach 1939. Ganz abgesehen von der alle Bereiche des privaten wie öffentlichen Lebens durchdringenden nationalsozialistischen Ideologie war das Alltagsleben ge­ prägt vom Krieg. Wurde vielerorts versucht, das Vereinsleben in den ersten drei Kriegsjahren unverändert weiterlaufen zu lassen, nimmt die Ausführlich­ 228 229 230 231

IGM/Varia 64, 3. Mai 1942. IGM/Varia 64, 3. Mai 1942. IGM/Varia 64, 6. Dezember 1942. Wolff (1989), S. 204.

5.4 „Der Führer hat gerufen – wir folgen!“

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keit der Protokollführung im Laufe des Jahres 1942 allmählich ab. Nach 1943 wurden keine Einträge mehr angefertigt. Auch die Durchhalteparolen des Vereinsvorsitzenden in Reutlingen lassen ab 1942 spürbar nach; die Protokoll­ einträge fallen deutlich verhaltener und unpolitischer aus als in den Vorjah­ ren. An die Mitglieder erging nur noch der floskelhafte Hinweis, dass sie sich rüsten und die Veranstaltungen zahlreicher besuchen sollten, denn die Kriegs­ zeit erfordere ein gesundes Volk.232 Neben einer Verschlechterung der Versor­ gungslage bedeutete der Krieg in erster Linie den dauerhaften Verlust Dut­ zender Mitglieder, die an die Front geschickt wurden. Frauen mussten spätes­ tens ab 1941 in der Industrie arbeiten, getreu dem Motto: „Auf allen Lebens­ gebieten, wo es an Männern fehlt, hat die Frau den Mann zu vertreten. Hinter dem Pflug und in der Rüstungsindustrie, in der Eisenbahn und am Postschal­ ter, an ungezählten Orten, wo wir ihr nicht oder doch nicht in gleich schwerer Tätigkeit zu begegnen pflegten, füllt nun die Frau die Lücken, die der Krieg an der Front der Arbeit gerissen hat.“233 Obwohl in den Protokollen keine entsprechenden Hinweise zu finden sind, ist davon auszugehen, dass auch die weiblichen Vereinsmitglieder als „Lückenfüller“ einspringen mussten. Über­ haupt fällt auf, dass die Vereinsschriftführer in den Protokollen erstaunlich wenige Informationen notierten, die sich konkret auf den Kriegsverlauf bezo­ gen. Über die genaue Höhe der einberufenen Mitglieder liegen beispielsweise nur in einem einzigen Fall Angaben234 vor, über die Höhe der Gefallenen und Vermissten hingegen gar keine. Die Verlustzahlen dürften jedoch höher gewe­ sen sein als im Ersten Weltkrieg, da im Zweiten auch über 45jährige Mitglie­ der eingezogen wurden. Hinzu kommen die zivilen Opfer, die die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte forderten. Dass davon auch die homöopathi­ schen Laienvereine betroffen waren, deutet der Schriftführer des Verein Stutt­ gart­Wangen an. Er begründet den Abbruch der Protokollführung im Mai 1942 damit, dass die Fliegerangriffe immer zahlreicher wurden und dabei so­ gar „unser Vereinslokal belegt wurde“235. Ob nun Vereinheitlichung im Volksgesundheitsbund, Rednermangel, „an­ derweitige Verpflichtungen“236 (euphemistisch für: Einsatz in der Rüstungsin­ dustrie oder im Volkssturm), Militärdienst oder Luftangriffe der Grund wa­ ren – sicher ist nur, dass die meisten homöopathischen Laienvereine Anfang der 1940er in einen „Dornröschenschlaf“237 fielen, aus dem nur wenige wie­ der erwachen sollten. Zwar gelang es Immanuel Wolf, die schon im Sommer 1940 per Mitgliederbeschluss aufgelöste Hahnemannia238 als Süddeutscher 232 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1942. 233 „Bilddokument zum Einsatz unser Frauen und Mütter“ aus dem Jahr 1941. Zitiert nach: Benz (2007), S. 231. 234 In Laichingen mussten am 1. September 1939 50 Mitglieder einrücken (IGM/Varia 64, Datum wie angegeben). 235 IGM/Varia 374, Jahresbericht 1943. Getroffen wurde auch das Vereinslokal in Fellbach (IGM/Varia 69, 1. Februar 1948). 236 IGM/Varia 374, Jahresbericht 1943. 237 IGM/Varia 374, Jahresbericht 1943. 238 StA Ludwigsburg F 303 III Bü 23.

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5. Die homöopathische Laienbewegung im Nationalsozialismus (1933–1945)

Verband für Homöopathie und Lebenspflege 1951 wieder aus der Taufe zu heben und bis 1958 Laienhomöopathen in 54 Vereinen zusammenzuschlie­ ßen.239 Diese Vereine gliederten sich wiederum in insgesamt sieben Bezirke (Achalm, Alb, Baden, Brenz, Hohenstaufen, Kernen, Stuttgart­Filder).240 An ihre einstige Größe „und Rolle als bedeutende medizinkritische Gesund­ heitsbewegung“241 kam die homöopathische Laienbewegung nach dem Zwei­ ten Weltkrieg jedoch nicht wieder heran. Bis 1965 erhöhte sich die Zahl der württembergischen Zweigvereine lediglich auf 63, diejenige der Mitglieder auf insgesamt 5.200.242 Damit war der quantitative – und wie wir sehen wer­ den auch qualitative – Höchststand der Laienbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht.

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Baschin (2012), S. 223. HM 85 (1960), S. 110. Baschin (2012), S. 223. Baschin (2012), S. 223.

6. „Keine Sklaven der Zivilisation!“1 – Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Eberhard Wolffs Studie über den Homöopathischen Verein Heidenheim en­ det mit der Analyse der Vereinsarbeit zwischen 1933 und 1945. Ein Ergebnis ist, dass die veränderten Rahmenbedingungen den Laienvereinen im Natio­ nalsozialismus die Chance boten, die politische Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit zu erkennen.2 In Anbetracht der Entwicklung nach 1933 ver­ mutete er, dass sich im Bewusstsein des Vereins jedoch keine wirklichen Ver­ änderungen ergeben haben. Auch damals sei von verschiedener Seite konsta­ tiert worden, „daß die politischen Geschehnisse auch am Verein nicht spurlos vorübergehen und daß man sich darein fügen müsse.“3 Dass der Verein genau das nicht tat, die Politisierung von Krankheit und Gesundheit weder adap­ tierte noch gegen sie opponierte, konnte Wolff plausibel belegen. In diesem Kapitel wird an Wolffs Hypothese angeknüpft und einerseits geklärt, ob die homöopathische Laienbewegung tatsächlich unbeeinflusst blieb von den „politischen Geschehnissen“ der Nachkriegszeit. Andererseits wird nach den „Beharrungskräften“ gefragt, die die Laienvereine dieses Mal nicht an ihrer bisher gewohnten Arbeit, sondern an den Zielen der Nationalsozialisten fest­ halten ließen. Dieser Frage liegt die Annahme zugrunde, dass die massive NS­Propaganda und die Stilisierung der Laienhomöopathen zu „politische[n] Soldaten der Gesundheitsführung“4 nicht ohne Folge bleiben und nach 1945 nicht ohne weiteres abgelegt werden konnte. „Das NS­Regime und der ‚Füh­ rer‘ mochten als abgewirtschaftet angesehen worden sein, aber deshalb hatte sich noch längst kein tiefgreifender Wertewandel vollzogen.“5 Die vehement eingeforderte unbedingte Pflicht zur Gesundheit, die nationalsozialistische Leistungsethik und Präventionspolitik, die zivilisationskritischen „Zurück zur Natur!“­Rufe6 müssen, so die Vermutung, trotz unpolitischer Grundhaltung in irgendeiner Form nachgeklungen haben. Diese Überbleibsel der NS­Zeit auf­ zuspüren oder ihre Existenz zu widerlegen, ist Anliegen der nachfolgenden Ausführungen.

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IGM/Varia 74, 29. Mai 1965. Mit diesem Imperativ ist der Zeitungsartikel betitelt, der über das 70. Jubiläum des Homöopathischen Vereins Rohracker berichtet. Wolff (1989), S. 215. Wolff (1989), S. 216. Schenck (1941), S. 2. Zitiert nach: Wolff (1992), S. 118. Schildt/Siegfried (2009), S. 46. Etwa vom Gauleiter Frankens Julius Streicher im Rahmen der Nürnberger Reichstagung der Volksheilbewegung: „Mit dem Moto [sic] zurück zur Natur hat der Frankenführer alle ermahnt mitzuhelfen an der Förderung der natürlichen Heilweisen um zur erhaltung [sic] der Volksgesundheit mitzuwirken“ (IGMVaria 72, 15. Juni 1935). Zu Streichers ge­ sundheitspolitischer Rolle siehe: Karrasch (1998), S. 26–29.

246 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) 6.1 Wiederaufnahme der Vereinsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg „Der Krieg“, so schreibt Immanuel Wolf rückblickend, „sein unglückliches Ende, der völlige Zusammenbruch und Umsturz im deutschen Vaterland, hat auch das einst so rege Leben in den homöopathischen Vereinen aufs tiefste erschüttert“7. Sein Verdikt war zutreffend, denn die große Mehrheit der Laienvereine überstand die Vereinheitlichung bzw. Zusammenfassung der einzelnen Volksgesundheitsbünde und den Zweiten Weltkrieg nicht. Wie die Vereine in Rohracker oder Möhringen lösten sie sich Anfang der 1940er Jahre entweder selbst auf oder verloren kriegsbedingt ihr Vereinslokal und viele Mitglieder. Auch hielten die desolate Versorgungslage unmittelbar nach Kriegsende und mehr noch das von den alliierten Militärregierungen erlas­ sene Vereinsverbot die Bestrebungen der Laienhomöopathen in engen Gren­ zen, ihren Ortsverein aus dem „Dornröschenschlaf“8 zu holen. Zu groß und einnehmend waren überdies die Anstrengungen, im Nachkriegschaos am Le­ ben zu bleiben und angesichts des völligen Zusammenbruchs eine neue Per­ spektive zu finden.9 Dennoch kamen in einigen wenigen (württembergi­ schen10) Ortschaften die noch lebenden Vereinsmitglieder, zum Teil direkt nach Kriegsende11, zusammen, um die Vereinsarbeit wiederaufzunehmen. Mit welchen organisatorischen Hindernissen die Laienhomöopathen zu kämpfen hatten, geht aus der Chronik des Homöopathischen Vereins Metzin­ gen hervor. So musste seine Leitung beim französischen „Chef de bataillon“ wegen der Wiederzulassung des Vereins vorsprechen und anschließend je fünf Kopien des eigentlichen Gesuchs, der Vereinssatzungen und der Liste der Gründungsmitglieder in deutscher und französischer Sprache einreichen. Für die Übersetzung dieser Schriftstücke verlangte der Übersetzer 25 Mark, was die Vereinsleitung zähneknirschend hinnahm.12 Unumgänglich war ebenso

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HM 85 (1960), S. 130. IGM/Varia 374, Jahresbericht 1943. Zur unmittelbaren Nachkriegszeit siehe ausführlich: Schulze­Hageleit (1996), S.  33 ff.; Schulz (2005), S. 41 ff.; Schildt/Siegfried (2009), S. 21–42. 10 Das Quellenkorpus gibt ausschließlich Aufschluss über die Wiedergründung von ho­ möopathischen Vereinen in Württemberg. Zeugnisse von Vereinen außerhalb Württem­ bergs konnten nicht ermittelt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch in den anderen amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen Laienvereine ihre Arbeit wieder aufgenommen haben, spätestens aber 1949 nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Aufhebung des Vereinsverbots. Lediglich in der SBZ und der aus hier hervorgehenden DDR wurden Vereine nicht zugelassen, weswegen die homöopathische Laienbewegung nach 1945 dort ein jähes Ende nahm. Anne Nierade geht in ihrer Arbeit über die „Homöopathie in der DDR“ deswegen nur margi­ nal auf die Inanspruchnahme der Homöopathie durch Laien ein. Vgl. Nierade (2012). 11 Etwa in Hürben und Fellbach, wo die homöopathischen Vereine bereits 1946 wiederge­ gründet werden konnten: IGM/Varia 519, 1. März 1946; IGM/Varia V69, 20. Oktober 1946. 12 Vereinschronik Metzingen (1992), unpaginiert.

6.1 Wiederaufnahme der Vereinsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg

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das mehrheitlich abgelehnte Entnazifizierungsverfahren13, dem sich die künf­ tigen Vereinsmitglieder vor der Wiedergründung zu unterziehen hatten. Es beschränkte sich jedoch nicht allein auf das Ausfüllen eines „politischen Fra­ gebogens“ über die jeweilige Gesinnung bzw. NS­Vergangenheit der Mitglie­ der. Zusätzlich zum Fragebogen mussten noch Bürgen beigebracht werden, die eidesstattlich und persönlich die politische Zuverlässigkeit des Betreffen­ den zu bezeugen hatten.14 Davon, dass alles seine Richtigkeit hatte und die Angaben und Bezeugungen der Wahrheit entsprachen, überzeugten sich die Behörden schließlich selbst: Bei der am 27. April 1947 erfolgten Wiedergrün­ dung des Vereins kontrollierte eine französische Patrouille, dass tatsächlich keine politische Veranstaltung abgehalten wurde. In Reutlingen, das ebenfalls unter französischer Verwaltung stand, erfüllte (mindestens) ein sogenannter „Persilschein“ die Funktion eines Zeugen. Bevor der dortige homöopathische Verein 1951 wiedergegründet werden konnte, musste dem künftigen Vereinsvorsitzenden Emil Schwille in einem maschi­ nenschriftlichen Schreiben politische Unbedenklichkeit attestiert werden. Wilhelm Brucklacher, der 1933 gleichschaltungsbedingt aus dem Vereinsvor­ stand austreten musste15, bekräftigte darin: Als Vorstandsmitglied des Homöopathischen Vereins e. V. Reutlingen bescheinige ich dem Herrn Emil Schwille, geb. 15.9.82, dass sein Eintritt in die NSDAP im Jahre 1933 auf Veranlassung im Einverständnis des Homöopathischen Vereins erfolgte. Sch. war sr. Zt. zweiter Vorsitzender des Vereins und auf Anordnung der NSDAP musste auch dieser Verein in seinem Vorstand ein Parteimitglied haben. Um dem Verein seine bewährte Leitung zu erhalten, wurde Sch. bewogen der Partei beizutreten. Ich möchte weiterhin bescheinigen, dass Sch. vor 1933 kein Anhänger der NSDAP war und auch nach seinem Eintritt in die Partei betrieb er keinerlei Nazipropaganda, son­ dern liess jedem seine eigene Meinung. Ich bin jederzeit bereit diese Aussagen mit meinem Eid zu bekräftigen weiterhin möchte ich bemerken, dass ich nie Parteimitglied war.16

Dazu muss gesagt werden, dass besagter Emil Schwille im „Dritten Reich“ das Amt des Vereinsschriftführers bekleidete. Insofern ist die Aussage, er habe „keinerlei Nazipropaganda“ betrieben zumindest zu relativieren. In keinem anderen Protokollbuch finden sich derart viele Anbiederungen und Lobprei­ sungen des NS­Regimes, die allesamt zunächst aus dem Mund des ehemali­ gen Vorsitzenden Karl Walz und schließlich der Feder von Schriftführer Emil Schwille stammten.17 13 Schildt/Siegfried (2009), S. 46 f.; vgl. ebenso Vollnhals (1991); Niethammer (1982). Die Laienhomöopathen empfanden das Entnazifizierungsverfahren als „himmelschreiende Ungerechtigkeit gegen den wohlmeinenden Teil der Bevölkerung“ (HM 78 (1953), S. 25). 14 Vgl. Grosse/Otte/Perels (2003), S. 101. 15 IGM/Varia 485, Jahresbericht 1933. 16 IGM/Varia 87. 17 Als Beispiel mag der Jahresrückblick 1938 angeführt werden. Walz richtete folgende Worte an die Vereinsmitglieder: „Wie sie aus dem Berichte ersehen hat die Vereinsleitung alles getan was zum Nutzen jeden einzelnen war und für das Volksganze, darum richte

248 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Es dürfte daher Kalkül gewesen sein, dass die – in den Augen der Natio­ nalsozialisten – Persona non grata Brucklacher das Schreiben beim zuständi­ gen Kreisuntersuchungsausschuss für die polizeiliche Säuberung einreichte, das Manuskript aber von Walz stammte. Denn die Glaubwürdigkeit des Per­ silscheins und damit auch Schwilles hätte wohl ziemlich gelitten, hätte der Nazi­Sympathisant Walz das Schreiben bei den Behörden eingereicht. Ebenso wie in Metzingen oder Fellbach gelangte man auch in Reutlingen zum Ziel; der Homöopathische Verein konnte von denselben oder zumindest einigen alten Laienhomöopathen wieder ins Leben gerufen werden. Es kann und muss deshalb von Personalkontinuität ausgegangen werden, die erklärt, wa­ rum sich weder die Organisationsstruktur noch die Vereinsinhalte und ­prak­ tiken grundlegend änderten. Die homöopathische Laienvereinsbewegung er­ fand sich nach dem Zweiten Weltkrieg also nicht neu, sondern knüpfte sowohl personal als auch formal an die Zeit vor 1945 bzw. 1933 an. Vom Nationalso­ zialismus distanzierte man sich, indem man ihn einhellig als „Willkürherr­ schaft“18 wertete, die der Bewegung schwersten Schaden zufügte: „Wir den­ ken“, so der Vorsitzende Emil Ohnmeiß bei der Wiedergründung des Vereins Rohracker im Juli 1949, „auch an die Zeit seid [sic] 1933 wo wir dauernd un­ ter Aufsicht standen und dauernd bespitzelt wurden. Unsere Vorträge wurden uns vorgeschrieben, und wir haben uns im Interesse des Vereins diesen Vor­ schriften unterworfen.“19 Mit diesen apologetischen Worten war die Aufarbei­ tung der Vereinsaktivitäten während des Nationalsozialismus allerdings auch schon abgeschlossen. Soweit bekannt und an den Quellen überprüfbar, hat sich – wohlgemerkt bis heute – kein einziger homöopathischer Verein kritisch mit seiner NS­Vergangenheit auseinandergesetzt. Liest man die nach 1945 ent­ standenen Protokolleinträge, so erfährt man anlässlich des einen oder ande­ ren Vereinsjubiläums lediglich, dass es in der Vereinsgeschichte eine Zeit gab, zu der „die freie Entfaltung des Vereins­ und Verbandslebens durch staatliche Lenkung stark gehemmt wurde“20. Dass die homöopathischen Vereine und Verbände als Teil der Volks­ und Naturheilkunde, wie Wuttke­Groneberg be­ merkt, zumindest am Anfang „das Bündnis mit dem Faschismus gesucht haben“21, dass sie politisch inopportune und/oder jüdische Mitglieder aus­ schließen mussten, dass sie die verbrecherischen Implikationen der NS­Ge­ sundheitspolitik verkannten, dass sie sich willentlich in den Dienst des Natio­ nalsozialismus stellten und das inhumane Gesundheitssystem mitgetragen haben, das verschwiegen die Vereins­ und Verbandsvorsitzenden geflissent­ lich. Stattdessen versuchten sie, nach dem Niedergang des NS­Regimes „in der Pose des Opfers ihre wahre Rolle als betrogene Betrüger vergessen [zu]

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ich den Apell [sic] an alle im kommenden Jahr mehr zur Sache zu halten und die noch nicht begriffen haben was ihre Pflicht ist aufzurütteln und dem Verein zu zuführen damit wir ein fester und gesicherten Block darstellen und damit ein unentbehrliches Glied im Reiche unseres Führers Adolf Hitler werden“ (IGM/Varia 485 Jahresbericht 1938). IGM/Varia 69, 17. April 1955. IGM/Varia 74, 30. Juli 1949. IGM/Varia 375, 16. Juni 1962. Wuttke­Groneberg: Medizin im Nationalsozialismus (1982), S. 130.

6.1 Wiederaufnahme der Vereinsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg

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machen“22 und flüchteten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in die „Geborgenheit“23 der Vereinsfamilie und in die Aufbauarbeit. Die Laienbewe­ gung orientierte sich damit am gängigen Opfermythos, demzufolge „die Ver­ eine und Verbände in ihrer rückblickenden Selbstbeschreibung […] repressi­ ves Verhalten pauschal den Nationalsozialisten zuschreiben, resistentes Ver­ halten dagegen der Bevölkerung, mithin also der eigenen Klientel.“24 Dadurch verpasste sie die Chance der kritischen Aufarbeitung und Auseinanderset­ zung, die bis heute ein Desiderat bleibt.25 Auffallend ist, dass die nach Kriegsende oder spätestens Anfang der Fünf­ ziger wiedergegründeten homöopathischen Laienvereine einen regen und konstanten Zulauf verzeichnen konnten. Der Verein Fellbach beispielsweise feierte Ende Oktober 1946 die Wiederaufnahme der Vereinsarbeit und zu­ gleich den Beitritt etlicher Interessierter.26 Bereits zwei Jahre später gehörten ihm immerhin 120 Laienhomöopathen an (von einst über 50027). Dem Verein Stuttgart­Wangen gelang es, seine Mitgliederzahl binnen zweier Jahre zu ver­ doppeln; zählte der Verein bei seiner Wiedergründung 1950 noch 62 Mitglie­ der, so waren es 1952 bereits 157.28 Die Teilnehmerzahlen der verschiedenen Veranstaltungen überstiegen – trotz der teils extrem langen Arbeitszeiten bis Mitte der fünfziger Jahre29 – mitunter die Mitgliederzahl, was ebenfalls auf ein gewisses Interesse an den gesundheitsorientierten Vereinsangeboten bzw. auf eine entsprechende Bedürfnislage der Bevölkerung schließen lässt. Die Gründe für die hohe Akzeptanz und Nachfrage dieser Angebote liegen im Unklaren, könnten aber, zumindest vor Beginn der allgemeinen Wohlstands­ entwicklung in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, auf die prekäre medizi­ 22 Wuttke­Groneberg: Medizin im Nationalsozialismus (1982), S. 130. 23 Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S.  98 ff. Beispielhaft für die Sehnsucht vieler Deutschen nach einer heilen, unzerstörten Natur und Vergangenheit kann ein Vortrag gelten, der 1953 anlässlich des 60. Jubiläums des Homöopathischen Vereins Reutlingen gehalten wurde: „Anschließend brachten Mitglieder des Reutlinger Zithervereins heimatliche Klänge zu Gehör, und leiteten damit den einmalig­schönen Lichtbilder Vortrag ‚Schwä­ bische Heimat  – schwäbische Leut‘ des Herrn Karl Lachenmann ein. Was hier Herr Lachenmann an Farbaufnahmen mit dem [unleserlich] auf die Leinwand zauberte, war von einzigartiger Schönheit. Schwäbische Landschaft, Schlösser, Burgen, barocke Kir­ chen, Volksfeste, Trachtengruppen, stille Dorfwinkel in den Stimmungen eines Spitzweg und Rembrandt, Wildbäche des Schwarzwaldes, stille Weiher und vieles andere mehr. Aber auch der heimatlichen Flora gedachte der Vortragende in selten schönen Aufnah­ men“ (IGM/Varia 486, November 1953). 24 Borggräfe (2012). Zu den „Politischen Mythen in der Bundesrepublik“ siehe: Münkler (2009), S. 455–476. 25 Vgl. Jütte (2013), S. 7 f. Der Verdrängungsmechanismus hinderte die Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen noch 1967 daran, sich anlässlich des Volkstrauertags der Gefallenen und Opfer des Zweiten Weltkriegs zu erinnern. Stattdessen wurden bei einem Lichtbil­ dervortrag Aufnahmen aus Flandern und Verdun gezeigt, also nur der Toten des Ersten Weltkriegs gedacht (IGM/375, 12. November 1967). 26 IGM/Varia 69, 20. Oktober 1946. 27 IGM/Varia 69, 20. April 1947. Diesen Spitzenwert erreichte der Verein 1914. 28 IGM/Varia 374, 12. Januar 1952. 29 Vgl. Dussel/Frese (1993), S. 66 ff.

250 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) nische Versorgungslage einerseits und den allgemein schlechten Gesundheits­ zustand andererseits zurückgeführt werden. Eine Arztbehandlung war, sofern überhaupt verfügbar, teuer und das Versicherungswesen lag brach oder be­ fand sich noch im Wiederaufbau.30 Die Selbsthilfe mittels homöopathischer Medikamente erfreute sich daher großer Beliebtheit. Die einzelnen Vereins­ leitungen trugen diesem Bedürfnis nicht ganz uneigennützig dadurch Rech­ nung, dass sie – wie auch schon nach dem Ersten Weltkrieg – in der unmittel­ baren Nachkriegszeit mehrere Vorträge „Über Homöopathie“31 veranstalte­ ten. Der Heidenheimer Laienverein behandelte das Thema „Einführung in die Homöopathie“32 1953 sogar im Rahmen eines mehrteiligen Kurses. Da­ neben hielten Arzt­ und Laienredner auch zahlreiche Vorträge, die sich der Gesundheit und ihrer Erhaltung im Allgemeinen und einzelnen Erkrankun­ gen wie Kinderkrankheiten oder Erkältung im Besonderen annahmen. Für die Attraktivität eines Homöopathischen Vereins spielten, wie auch schon in früheren Zeiten, versierte und erfahrene Laienpraktiker eine große Rolle: Als 1949 der Heilpraktiker Deutsch dem Verein Fellbach beitrat und sich darüber hinaus bereit erklärte, die Vereinsmitglieder in seiner Praxis vergünstigt zu behandeln, stiegen die Teilnehmerzahlen bei Vorträgen sprunghaft auf durch­ schnittlich etwa 100 an. Teilweise mussten Interessierte sogar abgewiesen wer­ den, da die Raumkapazitäten nicht ausreichten.33 Positiv auf die Mitgliederbe­ wegung wirkte sich nicht zuletzt die Tatsache aus, dass viele Vereine, auch nach der Währungsreform von 1948, die Beiträge nicht spürbar erhöht ha­ ben.34 Zu groß war die Sorge, dass die finanziell ohnehin schon belasteten Mitglieder wieder abspringen und dadurch den noch nicht gefestigten Wie­ deraufbau gefährden könnten. Der Laienverein Fellbach ging sogar noch ei­ nen Schritt weiter und gewährte seinen Mitgliedern eine Ermäßigung, sollten sie nicht in der Lage sein, den fälligen Jahresbeitrag in Höhe von 3 Mark zu bezahlen. Ehrenmitgliedern wurde die Entrichtung des Beitrags gänzlich frei­ gestellt.35 Neben diesen materiellen Motiven dürfen auch die ideellen Gründe nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. In der von Verlusterfahrung, Existenz­ angst und sozioökonomischen wie ­kulturellen Umbrüchen geprägten „Zu­ 30 Zur institutionellen Entwicklung des Gesundheitswesen in der BRD siehe: Forsbach: Aspekte (2008). 31 IGM/Varia 69, 19. Oktober 1947 (Fellbach); IGM/Varia 519, 2. Februar 1947 (Natt­ heim); IGM/Varia 519, 14. Dezember 1947 (Nattheim); IGM/Varia 374, 7. Oktober 1950 (Stuttgart­Wangen); IGM/Varia 374, 24. Februar 1951 (Stuttgart­Wangen). 32 IGM/Varia 486, 18. Mai 1953. 33 IGM/Varia 69, 1. Dezember 1950. Deutsch war sich seiner Beliebtheit offenbar bewusst, schließlich gründete er 1951 seinen eigenen Naturheilverein, dem sogleich 70 Mitglieder beitraten. Die Laienhomöopathen machten gute Miene zum bösen Spiel, denn sie woll­ ten ihr Zugpferd Deutsch auf keinen Fall verlieren. Auch redete man sich ein, dass die Schuld an der neuen Situation „ja auch mit auf unserer Seite liege“ (IGM/Varia 69, 21. Januar 1951). 34 Etwa der Verein Fellbach: IGM/Varia 69, Protokoll 1948. 35 IGM/Varia 69, 23. Januar 1949.

6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955

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sammenbruchsgesellschaft“36 dürfte für viele Menschen der Wunsch nach Zugehörigkeit und Halt ausschlaggebend gewesen sein, sich einer egalitären „Vereinsfamilie“ anzuschließen. Dieses Bedürfnis nach persönlichem Kontakt, Wertschätzung des Einzelnen und Sinnstiftung bedienten die Vereine deshalb ganz gezielt, um neue Mitglieder zu werben. Über die Aufgaben eines Beisit­ zers heißt es im Protokollbuch des Vereins Reutlingen beispielsweise: „Dienst am Vereinsmitglied und werdenden Mitglied und Gönner und Freunden der Homöopathie durch Platzanweisung und Handschlag beweisen dass wir eine große mit Idealen dienende Vereinsgemeinschaft sind und Arm und Reich gleichviel bei uns Willkommen heißen.“37 Obwohl der Schwerpunkt der Wissensvermittlung in der Nachkriegszeit therapiezentriert war, verloren die homöopathischen Vereine nicht ihren ei­ gentlichen Auftrag, „zu Nutz und Frommen für die Volksgesundheit“38 zu wir­ ken, aus den Augen. Nach wie vor war man der tiefen, durch das nationalso­ zialistische Gesundheitsleitbild weiter gefestigten, Überzeugung, dass Vorbeu­ gung besser als heilen sei, worauf in den einzelnen Vorträgen immer wieder hingewiesen wurde. Den Gedanken einer präventiven Lebensweise als erstes und bestes Mittel zur Selbsthilfe schienen auch die Vereinsmitglieder, zumin­ dest in Fellbach, verinnerlicht zu haben. Befragt, über welches Thema als nächstes referiert werden soll, gaben sie im April 1949 einstimmig an: „Vor­ beugen ist besser als Heilen“39. Gehalten wurde dieser von 80 Interessierten besuchte Vortrag dann einige Wochen später. Von einem tiefgreifendem Wer­ tewandel kann daher nicht gesprochen werden, was sich im Übrigen auch an der tendenziösen Rhetorik zeigt. Laut Immanuel Wolf befanden sich die Laienhomöopathen auch noch 1950 im „unerbittlich harten Daseinskampf“, den der Einzelne nur bestehen könne, wenn er gesund und vor allem bestrebt sei, auch fernerhin „möglichst gesund“ zu bleiben.40 An die nationalsozialisti­ sche Leistungsethik erinnert auch die folgende Sentenz, die der Schriftführer des Vereins Nattheim noch 1961 ins Protokollbuch schrieb: „Das Leben ist ein Kampf! Die Gesundheit will täglich erobert sein. Dies ist eine ganz kleine Mühe, aber sie hebt die Lebensfreude und die Arbeits­ und Widerstandskraft und lohnt sich deswegen wirklich.“41 6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955 Bevor im nächsten Kapitel den lebensreformerischen Einflüssen bzw. dem präventiven Gesundheitskonzept der homöopathischen Laienbewegung nach­ 36 Vgl. Schulz (2005), S. 40 ff. 37 IGM/Varia 486, 4. Februar 1964. Man beachte die Anklänge an die von den Nationalso­ zialisten geprägte Volksgemeinschaft. 38 IGM/Varia 69, 17. November 1946. 39 IGM/Varia 69, 23. April 1949. Welche anderen Themen zur Auswahl standen, geht aus dem Protokolleintrag nicht hervor. 40 HM 85 (1960), S. 130. 41 IGM/Varia 528, 10. März 1961.

252 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) gegangen wird, sollen an dieser Stelle ausführlicher die konkreten fachlichen wie geselligen Praktiken behandelt werden, die man in der Nachkriegszeit ins Vereinsprogramm aufnahm. Durch einen Vergleich mit den Vereinsangebo­ ten früherer Zeiten können Rückschlüsse gezogen werden, wie sich die Bewe­ gung in den vergangenen 50 Jahren auf organisatorischer Ebene weiterentwi­ ckelte, welche Praktiken als charakteristisch zu gelten und welche im Laufe der Jahrzehnte an Bedeutung verloren haben. Aufgrund der Bedeutung für das Vereinsleben einerseits und die Verbrei­ tung der Homöopathie andererseits steht an erster Stelle das Kernelement der homöopathischen Laienbewegung und ihrer Wissensvermittlung: die Vortrags­ praxis. Sie hatte sich in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlich gewandelt und entwickelte sich von einfachen, laienhaften Belehrungen zu professionel­ len, mediengestützten Referaten, an die sich meist ausführliche Diskussions­ bzw. Fragerunden anschlossen. Durch diese Veränderung verlagerten die ho­ möopathischen Laienvereine ihren Schwerpunkt bewusst oder unbewusst weg von der auf Erfahrung und Austausch beruhenden Selbsthilfe hin zum einsei­ tigen Informationsangebot.42 Der Verein selbst übernahm dabei Vermittler­ und Filterfunktion: Als eine Art analoges Gesundheitsforum brachte er Ex­ perten bzw. Ärzte und Laien zusammen. Die Redner gaben seriöses medizini­ sches Fachwissen in leichtverständlicher Form an die zuhörenden Vereinsmit­ glieder oder Dorf­ bzw. Stadtbewohner weiter. Diese Praxis erwies sich als ungemein erfolgreich und öffentlichkeitswirksam und war deshalb persistent, ungeachtet der bewegungsinternen oder konzeptuellen Veränderungen. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Veranstaltung von Fachvorträgen – ge­ halten von Laien wie Ärzten – über Homöopathie und verschiedene Krank­ heiten von allen wiedergegründeten Vereinen durchgeführt worden ist. Ver­ wendung fanden dabei neben Dia­ bzw. Lichtbildprojektoren auch die altbe­ kannten Körpermodelle und anatomischen Tafeln, die sich noch oder wieder im Besitz einiger weniger Laienvereine befanden43 und die bei den Mitglie­ dern nach wie vor recht beliebt waren. Einige Laienvereine griffen zudem die vor dem Ersten Weltkrieg verbrei­ tete Praktik des Diskussions­ oder Erörterungsabends auf. Sie firmierten fortan zwar unter dem Namen „Aussprache­Abend“ (Fellbach, Reutlingen) oder „Sprechabend“ (Hürben), verfolgten aber denselben Zweck wie ihre Vorläufer aus wilhelminischer Zeit. Es ging primär um den gegenseitigen Austausch „über Krankheiten bei Mensch und Tier und über viele Vorbeugungsmittel, die auch der Laie bei einiger Sachkenntnis mit Nutzen anwenden kann“44. 42 Vgl. Wolff (1989), S. 107. 43 HM 85 (1960), S. 111. Anatomische Tafeln besaßen 1960 die Vereine Giengen, Königs­ bronn, Neuffen, ein Modell des menschlichen Körpers hingegen nur der Homöopathi­ sche Verein Metzingen. Erläuterungen „anhand eines Modells des menschlichen Kör­ pers“ sollten im Herbst 1964 in Hürben gegeben werden (IGM/Varia 522, 29. August 1964). Ein handliches Herzmodell kam 1952 im Verein Rohracker zum Einsatz als über „Hoher Blutdruck, Arterienverkalkung, Herz­ und Blutkreislaufstörungen“ gesprochen wurde (IGM/Varia 74, 19. Januar 1952). 44 IGM/Varia 69, 23. Oktober 1951.

6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955

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Mit anderen Worten: Die angeregte Aussprache sollte unmittelbar an die aus den Vorträgen oder Erfahrung gewonnenen Kenntnisse anschließen, letztere wiederholen und festigen und die Mitglieder zur Selbstmedikation befähigen. „Es zeigt sich immer wieder, daß in der gegenseitigen Unterhaltung eine rei­ che Erfahrung zutage kommt, bei der jeder Besucher nur gewinnen kann.“45 Die Ausspracheabende waren in aller Regel gut besucht und sind „nachge­ rade zu einem Bedürfnis geworden“46, wozu gerade auch die Möglichkeit der „gemütliche[n] Unterhaltung von Mitglied zu Mitglied“47 beigetragen haben mag. Neben den regelmäßigen Vorträgen und Ausspracheabenden hielten manche Laienvereine auch wieder Kursabende zu bestimmten Themen ab. So planten beispielsweise die Laienhomöopathen in Rohracker schon 1950, in Bälde einen Diätkochkurs zu veranstalten.48 Über dessen tatsächliche Durchführung geht aus dem weiteren Verlauf des Protokollbuchs zwar nichts hervor, umso mehr aber über einen im Herbst desselben Jahres angebotenen Verbandskurs.49 Dieser richtete sich hauptsächlich an Jugendliche, Turner und Radfahrer, die gezielt zur Kursteilnahme eingeladen waren. Offensicht­ lich versuchte der Verein, neue Zielgruppen anzusprechen. Neben Jugendli­ chen waren das vor allem Sportler, die einem hohen Verletzungsrisiko ausge­ setzt und ohnehin auf die Erhaltung ihrer Gesundheit und Leistungsfähigkeit bedacht waren. Den Kursteilnehmern wurden dementsprechend Kenntnisse über das korrekte Versorgen von Verletzungen und Anlegen verschiedener Verbände sowie Wissenswertes über Krankenpflege und die homöopathische Wundbehandlung vermittelt. Zeitgleich mit dem Verbandskurs fand ein Heil­ gymnastikkurs statt, an dem 84 Kinder und Jugendliche teilnahmen. 1955 fand erneut ein Gymnastikkurs statt, der aber auf vergleichsweise wenig Zu­ spruch stieß. Ohnmeiß musste die Mitglieder sogar mit der Ausrichtung eines kurzweiligen Abschlussabends nach dem Vorbild der bunten Schlussfeiern in den Zwanzigern locken, um sie zu einer Teilnahme zu bewegen. Gründe für das mangelnde Interesse sind indessen nicht bekannt. Denkbar ist allenfalls, dass der Verein mittlerweile spürbare Konkurrenz von Sport­ und Turnverei­ nen bekommen hatte, die das Bedürfnis nach Bewegung ebenso oder besser bedienten.50 Über spärliche Teilnehmerzahlen der seit 1950 regelmäßig durchgeführten Gymnastikkurse klagten Mitte der 1950er Jahre jedenfalls noch andere homöopathische Laienvereine, etwa derjenige in Stuttgart­Wan­ gen. Im Jahr 1951 notierte der Schriftführer noch, die Kurse der ebenfalls wiedergegründeten Frauengruppe seien unter den Mitgliedern sehr beliebt51 und würden wesentlich zum rasanten Aufschwung des Vereins beitragen (Ver­ 45 46 47 48 49 50 51

IGM/Varia 69, 8. November 1952. IGM/Varia 69, 7. Februar 1953. IGM/Varia 69, 23. Februar 1952. IGM/Varia 74, 5. Februar 1950. IGM/Varia 74, 23. Oktober 1950. IGM/Varia 74, 14. Januar 1956. IGM/Varia 374, 20. Januar 1951.

254 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) dopplung der Mitgliederzahl innerhalb zweier Jahre).52 Nur vier Jahre später waren die Gymnastikabende dann so schlecht besucht, dass der Verein sich gezwungen sah, stattdessen Strick­ und Vorleseabende zu veranstalten, um die Mitglieder bei Laune zu halten.53 Der Wunsch nach Geselligkeit bzw. geselli­ gem Beisammensein, den die homöopathischen Vereine aufgrund ihres facet­ tenreichen Vereinsprogramms eher erfüllen konnten als andere Vereinigun­ gen, war offensichtlich stärker als der Drang nach Bewegung oder Pflege der Körperkultur. Auffallend ist, dass sich nicht nur Gymnastikkurse oder Strick­ und Vorle­ seabende explizit an Frauen richteten, sondern auch die Vorträge. Ihnen legte die Vereinsleitung die Wahrnehmung des Vereinsangebots ganz besonders an Herz, da „ja immer von der Mutter die erste Hilfe verlangt“ werde.54 Aus die­ sem Grund standen auch die Wiedergründungen der Frauengruppen allge­ mein hoch im Kurs, die bis 1953 aber nur in Metzingen, Heidenheim und Stuttgart­Wangen realisiert werden konnten.55 Spezielle und äquivalente An­ gebote für Männer – etwa Vorträge über Männergesundheit, sportlich­gesel­ lige Angebote oder Stammtischrunden – gab es hingegen nicht. Ganz im Ge­ genteil: Als 1954 in Fellbach wiederholt ein Vortrag über die „Krisenzeiten im Leben der Frau“ gehalten wurde, waren explizit Männer eingeladen und auf­ gerufen, ihren Ehefrauen während des Klimakteriums eine „schonende Be­ handlung angedeihen [zu] lassen“56. Das ist insofern erstaunlich, als Männern früher wegen moralischer Bedenken der Zutritt zu Vorträgen mit derart deli­ katen Themen strikt verwehrt war. Aus der Teilhabe der Männer an den ge­ sundheitlichen aber intimen Belangen ihrer Ehefrauen, die im Übrigen zeit­ gleich auch von Seiten der Schulmedizin forciert wurde, auf eine liberalere Sexualmoral zu schließen, geht indessen zu weit. In den 1950er und 1960er Jahren hat sich noch nichts an der asexuellen Prüderie geändert, was vor al­ lem an den zahlreichen Anzeigen von Sittenwächtern gegen den auf Antikon­ zeptiva und Sexualaufklärungsschriften spezialisierten Versandhandel Beate Uhse deutlich wird.57 Die Einladung von Männern zu Frauenvorträgen deckt sich allerdings mit der Einschätzung von Jürgen Martschukat und Olaf Stieg­ litz, die von einer „Remaskulinisierung“ der nachkriegsgesellschaftlichen Ge­ schlechterordnung sprechen, also von einer „Transformation des nationalsozi­ alistischen Kriegers in den zivilen Ehemann“58. Die ehemaligen Soldaten sollten, um die Gesellschaft „sexuell, moralisch, sozial und ideologisch zu sta­ bilisieren“, wieder „familienfähig“ gemacht werden.59 Verfestigt wurden da­ mit aber auch die bestehenden Differenzkonzepte von biologischem und sozia­ 52 53 54 55 56 57

IGM/Varia 374, 20. Januar 1951; 12. Januar 1952. IGM/Varia 375, 21. September 1955. IGM/Varia 519, 22. Dezember 1946. IGM/Varia 486, 18. Mai 1953. IGM/Varia 69, 24. März 1953, 14. Dezember 1954. Vgl. Schildt/Siegfried (2009), S. 104. Zur Sexualmoral in den 1950er Jahren siehe: Her­ zog (2005), S. 83 ff. 58 Martschukat/Stieglitz (2008), S. 100. 59 Martschukat/Stieglitz (2008), S. 100.

6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955

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lem Geschlecht sowie das tradierte, bürgerliche Familienbild: Die Frau galt – trotz ihres Standhaltens angesichts der mannigfachen Belastungen des Wie­ deraufbaus und des damit verbundenen Emanzipationsprozesses60 – sozusa­ gen als krisengeschütteltes, schwaches Wesen, mit dem der Mann als das stärkere Geschlecht Nachsicht haben müsse. Dass die stereotype Dichotomie von starkem, maskulinem und schwachem, weiblichem Geschlecht bisweilen an der Realität vorbeiging, zeigt sich daran, dass es vielen traumatisierten Männern schwerfiel, sich nach Krieg und Gefangenschaft in die bundesrepu­ blikanische und faktisch von Frauen stabilisierte Gesellschaft einzugliedern.61 Wenngleich die Kurse an Attraktivität verloren, so ist doch mit Blick auf die Frauengruppen unverkennbar, dass die Laienvereine in der frühen Nach­ kriegszeit vornehmlich auf Altbewährtes setzten, um das Vereinsleben wieder in Schwung zu bringen. Erfolgversprechend waren neben Fach­ und Laienvor­ trägen rund um das Thema Homöopathie und Selbsthilfe in Krankheitsfällen und Gymnastikkursen für Frauen auch die traditionellen botanischen Wande­ rungen durch die heimische Flora. Wie in den Jahrzehnten zuvor dienten sie in erster Linie der Wissensvermittlung in Sachen Heilpflanzen und deren Ver­ wendung. An der Durchführung änderte sich deshalb nichts, die Teilnehmer sammelten wie gehabt unter Anleitung eines Fachmanns verschiedene Pflan­ zen, die anschließend in einem Vortrag erläutert wurden. Stärkere Betonung erfuhr nun aber die gesellige Zusammenkunft, zu der die Wanderungen selbst und anschließend Anlass boten. Hervorgehoben wurde, dass die „Kräuter­ wanderungen“ eine Möglichkeit darstellten, dem hektischen Treiben des Stadt­ und Alltagslebens zu entkommen. Der Schriftführer des Vereins Reut­ lingen notierte über eine im Juni 1957 veranstaltete botanische Exkursion: „Tief eingeatmet wurde die frische würzige Waldluft u. man war froh, dem Motorenlärm u. dem Benzingestank mal für einige Stunden entkommen zu sein. Unterwegs wurden Pflanzen gesammelt, um sie dann bei der Rast im Naturtheater zu besprechen.“62 Beibehalten oder wiederaufgebaut haben viele Vereine zudem ihre mitun­ ter jahrzehntealten, unter den Nationalsozialisten ausgedünnten Bibliothe­ ken63; 1953 (1958) besaßen immerhin 21 (3264) Vereine eine Sammlung ent­ 60 61 62 63

Vgl. Kuhn (1994). Zur Wiedereingliederung deutscher Soldaten siehe ausführlich: Goltermann (2009). IGM/Varia 486, 2. Juni 1957. Vgl. Wolff (1989), S.  209. Ende 1935 verlangte die Reichsschrifttumskammer ein Ver­ zeichnis der Vereinsbibliothek in Heidenheim, um sich zu vergewissern, dass die Schrif­ ten sozialdemokratischer, kommunistischer oder anderweitig missliebiger Autoren tat­ sächlich ausgesondert worden waren. Der Vereinsschriftführer notierte daraufhin pflicht­ gemäß, dass die betreffenden Bücher bereits „vor längerer Zeit vernichtet“ wurden. Eberhard Wolff konnte nachweisen, dass es sich dabei um eine Falschaussage handelte. Die Originalexemplare beispielsweise des emigrierten sozialistischen Arztes Friedrich Wolf sind nämlich noch immer vorhanden (heute in der Bibliothek des IGM). Sie wur­ den also nur ausgesondert und nach 1933 sozusagen unter der Hand an die Mitglieder entliehen. 64 HM 85 (1960), S. 111.

256 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) sprechender Fachliteratur, die den Angaben in den Protokollbüchern zufolge mehrheitlich nur wenig in Anspruch genommen wurden.65 Einzig in Hürben machten die Vereinsmitglieder von der Bibliothek regen Gebrauch. So wur­ den beispielsweise 1955 24 der insgesamt 28 Bücher ausgeliehen (wobei auch Mehrfachausleihungen möglich sind). Das mag daran gelegen haben, dass der Verein um diese Zeit nur 26 Mitglieder zählte, es aufgrund des überschau­ baren Publikums also vergleichsweise schwierig war, externe Redner zu ge­ winnen. Kompensieren konnte man diesen Mangel indessen nicht, denn kein Mitglied befand sich in der Lage, Fachvorträge zu halten. So fanden 1955 keine Vorträge statt, weswegen man sich autodidaktisch bilden und mit ange­ lesenem Bücherwissen behelfen musste.66 In Vereinen hingegen, in denen re­ gelmäßig Vorträge und sonstige Belehrungen rund um den Themenkomplex Gesundheit und Krankheit zu hören waren, lag der Anreiz zum eigenverant­ wortlichen Selbststudium ungleich niedriger. Eine einst wesentliche Praxis, die nach 1945 endgültig aus dem Vereinsan­ gebot verschwand, war die Abgabe von Medikamenten aus einer eigenen Ver­ einsapotheke. Der Hauptgrund dürfte die gestiegene Apothekendichte und damit leichte Verfügbarkeit homöopathischer Medikamente gewesen sein, die den kollektiven Bezug von Homöopathika obsolet machte. Eine entspre­ chende Weisung erließ der Süddeutsche Verband für Homöopathie und Le­ benspflege schon bei seiner ersten, konstituierenden Tagung im September 1950. Die Selbstbeschaffung von homöopathischen Arzneimitteln durch die einzelnen Vereine sei demnach nicht zu empfehlen oder vorgesehen, stattdes­ sen solle darauf gedrängt werden, dass die Apotheken die Rezepte ordnungs­ gemäß bedienten.67 Gelegentlich angeraten wurde auch die private Anschaf­ fung einer homöopathischen Hausapotheke. Etwa von Eugen Rinker, noch immer amtierender Vorsitzender des Homöopathischen Vereins in Laichin­ gen, der in einem 1953 publizierten Artikel in den Homöopathischen Monats­ blättern konstatiert: „Zur Lebensführung des Homöopathen gehört die Haus­ apotheke. Unsere Vereinsarbeit erfüllt erst dann ihren Zweck voll, wenn die homöopathischen Arzneimittel zu jeder Tages­ und Nachtzeit griffbereit zur Hand sind.“68 Immer wieder betont wurde indessen, dass die Selbstmedika­ tion nur bei leichten Beschwerden zur Anwendung gebracht werden darf, die Therapie ansonsten alleinige Sache des Arztes sei. Manchen Vereinen gelang zudem die Aushandlung eines zehnprozentigen Sonderrabatts mit den örtli­ chen Apothekern69, wodurch auch in diesem Bereich der Vereinsarbeit der Ist­Zustand der späten 1920er Jahre wiederhergestellt wurde. Schon in der Nachkriegszeit nahmen manche Vereine die seit der End­ phase der Weimarer Republik veranstalteten Jahres­ oder Sommerausflüge in ihr Programm auf, waren sie doch wie die botanischen Wanderungen geeig­ 65 66 67 68 69

IGM/Varia 486, 18. Mai 1953. IGM/Varia 522, 19. Februar 1956. IGM/Varia 374, 3. September 1950. HM 78 (1953), S. 139. IGM/Varia 486, 18. Mai 1953.

6.2 Der Wiederaufbau der homöopathischen Laienbewegung bis 1955

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net, um der von politischer Instabilität, Unsicherheit und materiellen Exis­ tenzängsten geprägten Atmosphäre der Nachkriegszeit zu entkommen. In Fellbach betrachteten die Laienhomöopathen die Ausflüge dementsprechend als „Abwechslung des täglichen Lebens“ und wünschten, „daß jedes Jahr we­ nigstens ein derartiger Ausflug ausgeführt wird.“70 Beispiele solcher Ausflüge gibt es zur Genüge, ein besonders aufschlussreiches liefert wiederum der Ver­ ein in Rohracker: 1953 organisierte der Verein eine „Fahrt ins Blaue“, bei der die 94 teilnehmenden Mitglieder das Ziel erraten mussten. Um möglichst vie­ len Vereinsmitglieder die Teilnahme zu ermöglichen, bestritt die Vereinskasse die Hälfte des Ausflugsbeitrags.71 Nicht ganz uneigennützig, denn ein solches Unternehmen war gerade zu dieser Zeit etwas ganz besonderes und deshalb für den Verein eine Art Aushängeschild. Insofern verwundert es nicht, dass auch andere (nichthomöopathische72) Vereine bereits in den 1950ern zum Teil mehrtägige Jahresausflüge anboten, etwa an den Bodensee und ins All­ gäu.73 Die Vereinsausflüge selbst waren zwar ein einmaliges Ereignis. Daran konnten oder wollten trotz finanziellem Zuschuss längst nicht alle Vereinsmit­ glieder partizipieren. Dennoch war es den Daheimgebliebenen im Nachhi­ nein möglich, im Rahmen von Dia­ oder Lichtbildervorträgen Impressionen der Reisen zu bekommen. Solche Dias wurden vornehmlich im Anschluss an Generalversammlungen gezeigt, da sie als Publikumsmagnet fungierten und gerade bei diesem Termin, an dem das vergangene und vorausliegende Ver­ einsjahr besprochen wurde, möglichst viele Mitglieder erreicht werden soll­ ten. Überhaupt fanden Diavorträge über Reiseerlebnisse einzelner Mitglieder oder engagierter Redner großen Anklang, konnten doch die Mitglieder, de­ nen in den 1950er Jahre Privatreisen noch nicht möglich waren, dadurch ihr Fernweh stillen. Der Schriftführer des Vereins Nattheim hob 1963 den ökono­ mischen Aspekt eines derartigen Vortrags treffend hervor: „Besonders möch­ ten wir Herr M. Maier Dank sagen für seine Farblichtbilder es ist halt imer so ein gemütliches verreisen ohne Geld. So Billig kommt die Rosa nicht ins Ge­ birge wie alle Jahr bei der Homöopathische Generalversammlung.“74 Die ho­ möopathischen Vereine positionierten sich also auch nach dem Zweiten Welt­ krieg sowohl als lokaler Gesundheits­ als auch Kulturverein, der die körperli­ chen, sozialen und intellektuellen Bedürfnisse der Mitglieder auf mehreren Ebenen zu bedienen und mit vielfältigen Gemeinschaftsveranstaltungen „die Kameradschaftskette unter den Mitgliedern fest zu schließen“75 vermochte. Geselligkeit – eines dieser Bedürfnisse, um dessen Befriedigung es bei den Ausflügen, Reisen und Wanderungen ging – stand in enger Verbindung mit Genuss. Obwohl sich die homöopathischen Vereine gegen die mit dem ge­ 70 71 72 73 74 75

IGM/Varia 69, 16. Juni 1948. IGM/Varia 74, 18. Oktober 1953. Vgl. Dussel/Frese (1993), S. 97 f. IGM/Varia 374, 28. Juni 1953. IGM/Varia 528, 11. Januar 1963. IGM/Varia 522, 4. Januar 1953.

258 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) wandelten Konsumverhalten der Nachkriegsgesellschaft einhergehenden „Freßwelle“ wandten, sprach man bei Feierlichkeiten und Ausflügen doch gerne dem Alkohol und reichhaltigen Mahlzeiten zu. Was auf den ersten Blick etwas paradox war, musste dem zeitgenössischen Verständnis nach nicht zwingend eines sein, schon gar nicht unmittelbar nach Kriegsende. Das belegt anschaulich ein im November 1949 absolvierter Spaziergang der Laienho­ möopathen in Rohracker. Ihm angeschlossen war zwar ein Vortrag über „Ab­ nehmen“, in dem der Vereinsvorsitzende die diesbezügliche Bedeutung von Schwitzkuren pries. Das „Ausgeschwitzte“, so der Referent, könne man nach einer solchen Kur „mit einem guten Vesper und einigen Glas Bier wieder schnell ersetzen“76. Dass dieses „Vesper“ nicht aus Vollkornbrot, Rohkost und Obst bestand, dürfte sich von selbst erklären. Der Ansicht, dass der Verlust von Energie durch feste und flüssige Nahrung substituiert werden müsse, wa­ ren offensichtlich auch die Laienhomöopathen in anderen Orten. Im würt­ tembergischen Hürben etwa kehrte man nach botanischen Ausflügen wieder­ holt in Gastwirtschaften ein und sprach dort dem gemütlichen „Schoppen“ zu oder stärkte den ermatteten Körper bei einem Mittagessen.77 Bei dem 1952 ebenfalls in Hürben abgehaltenen Bezirkstreffen trennte man „sich bei eini­ gen Stehmaß Bier, in der Hoffnung auf baldiges Widersehen [sic]“78. Und bei einer Anfang 1953 veranstalteten Familienfeier wurde den dortigen Laienho­ möopathen gutes und reichhaltiges Essen (vielleicht wieder einen Braten wie bei der Familienfeier Ende 194979) und sicherlich auch Wein oder Bier ser­ viert.80 Jedenfalls gehörten Alkohol und Kaffee nach wie vor zur Pflege der Vereinsgeselligkeit, damit auch „der äusere [sic] Mensch“ zu seinem Recht komme.81 Gesünder, vitaler lebte man in den regulären Fachveranstaltungen des Vereins und bestenfalls im häuslich­privaten Alltag, bei Feierlichkeiten ließ man es sich noch immer gut gehen und die sonst straffen Zügel der naturge­ mäßen Lebensführung wenigstens etwas locker. Denkbar auch, dass nach wie vor Zigarren und Zigaretten dem Wohlbefinden des „äußeren Menschen“ dienlich waren und die Vereinslokale bzw. Säle der Gastwirtschaften in dicke Rauchwolken gehüllt waren. Darauf jedenfalls lässt die vom Schriftführer des Vereins Rohracker kolportierte Kritik eines weiblichen Ausschussmitglieds schließen: „Berta Klein bemängelte das Rauchen während eines Vortrages und bittet dies zu unterlassen, was man zur Kenntnis nahm.“82 Ob sich lang­ fristig etwas änderte, darf bezweifelt werden. Immerhin tauchte ein entspre­ chender Vermerk nicht mehr im Protokollbuch auf.

76 77 78 79 80 81 82

IGM/Varia 74, 13. November 1949. IGM/Varia 522, 2. Juni 1952; 6. Juli 1952. IGM/Varia 522, 21. September 1952. IGM/Varia 519, 11. Dezember 1949. IGM/Varia 522, 4. Januar 1953. IGM/Varia 69, 17. Dezember 1949. IGM/Varia 74, 22. März 1957.

6.3 Entgiftung und Diätetik

259

Insgesamt betrachtet lässt sich sagen, dass die wiedergegründeten homöo­ pathischen Laienvereine – soweit ersichtlich – auf praktischer Ebene alles da­ ran setzten, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vereins­ struktur und ­arbeit auf den Stand von Ende der 1920er Jahre zurückzusetzen. Dazu gehörte die zensurlose Wiederaufnahme der Vortrags­ und Aussprache­ praxis ebenso wie die ungestörte Pflege der Geselligkeit in Form von Ausflü­ gen und teils ausladenden Feierlichkeiten, in die wie in Rohracker das ganze Dorf eingebunden sein konnte.83 Auffallend ist, dass die seit Jahrzehnten und vor allem während der NS­Zeit gebetsmühlenartig wiederholten Mahnungen zu einer gesunden, maßvollen und genussgiftfreien Lebensweise bei den Ver­ einsversammlungen und ­feierlichkeiten nicht eingehalten wurden. Zu groß war das Bedürfnis auch unter den Laienhomöopathen, es sich nach den ent­ behrungsreichen Nachkriegsjahren wieder uneingeschränkt gut gehen zu las­ sen.84 Dazu gehörte ein „reichhaltiges Essen“ ebenso wie Alkohol­ und Tabak­ konsum. 6.3 Entgiftung und Diätetik: Das handlungsleitende Gesundheitskonzept der Laienbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Arbeit der homöopathischen Laienvereine war zwischen Inflationszeit und Wirtschaftskrise vielerorts ungemein erfolgreich. Wichtige Impulse gin­ gen damals von der Lebensreformbewegung aus, an deren Leitgedanken und Forderungen man sich wesentlich stärker als zuvor orientierte. Krankheiten sollten fortan durch eine naturgemäße, bewegungsreiche, kurz: „vitale“ Le­ bensweise am Entstehen gehindert werden, statt sie nach Ausbruch mit ho­ möopathischen oder anderen Arzneimitteln zu therapieren. Die Nationalso­ zialisten hatten an dieser konzeptuellen Neuausrichtung nichts auszusetzen, da „das Tätigkeitsspektrum der Laienvereine mit ihren Zielen der individuel­ len Prophylaxe, Eigenverantwortlichkeit und Selbsthilfe dem Konzept der NS­Medizin, staatliche Sozialausgaben auf Kosten der Patienten nach Mög­ lichkeit zu minimieren und mit dieser Billigmedizin dann den Expansionis­ mus zu unterstützen, weitgehend entgegenkam oder zumindest funktionali­ sierbar war.“85 Wie gezeigt wurde, kamen die Laienvereine der ihnen von den Nationalsozialisten zugedachten Rolle jedoch nur zur Hälfte entgegen, denn Krankheitsaufklärung und (homöopathische) Selbsthilfe bei Erkrankungen 83 Die Laienhomöopathen in Rohracker feierten 1953 ein Kinderfest, das an die Vorläufer von 1928 und 1934 anknüpfte, sie an Umfang aber noch übertraf. So marschierte ein Festzug, bestehend aus mit Blumen geschmückten oder als homöopathische Arzneifläsch­ chen verkleideten Kindern und einer Musikkappelle, durch den Ort und anschließend zur Festhalle, wo Musik und Verpflegung auf die Teilnehmer und Zuschauer warteten. An der Ausrichtung des Kinderfests beteiligten sich auch die örtliche Schule sowie die Sport­ und Kulturvereine (IGM/Varia 74, 17. Mai 1953). 84 Vgl. Wildt (1994), S. 76 ff.; Andersen (1997), S. 34–89. 85 Wolff (1989), S. 197.

260 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) blieben auch in den dreißiger Jahren zentrale Themen der Vortragspraxis. Das fortwährende Politisieren der Gesundheitsvorsorge führte aber dazu, dass die Laienvereine ihre Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Motto: „Vorbeugen ist besser als heilen“86 wiederaufnahmen und auch weiterhin „Im Dienste der Volksgesundheit“87 agierten. Allerdings verbot sich eine direkte Übernahme des im Nationalsozialis­ mus pervertierten „Pflicht zur Gesundheit“­Gebots sowohl rhetorisch als auch inhaltlich, da es auf Leistungssteigerung ausgelegt war und den Körper auf Blut und Rasse reduzierte. „Körperliches erschien nach 1945, wenn auch weit­ gehend unausgesprochen, als desavouiert.“88 Die Laienhomöopathen konn­ ten schlechterdings so weitermachen wie bisher, wollten sie den Eindruck ver­ meiden, an die inhumanen Zielsetzungen der NS­Gesundheitspolitik anzu­ knüpfen. Statt wie in den Zwanzigern und Dreißigern einzig die „innere Na­ tur“ zu fokussieren, die der Mensch mit seinem Körper, seiner Seele und sei­ nem Geist verkörperte, musste das Vorsorgeprinzip folglich inhaltlich wie rhetorisch umgestaltet werden. Impulse gingen erneut von der Lebensreform­ bewegung aus, die sich nach 1945 aus den genannten Gründen vom Körper als Objekt und eigentlicher Adressat jeglicher Präventionsmaßnahmen ab­ und der ihn umgebenden, „äußeren“ Natur zuwandte.89 Die Lebensreformer projizierten insofern „ihre Sorge um die Gesundheit der Körper, wie sie in der Weimarer Republik und dann, pervertiert, auch im ‚Dritten Reich‘ im Vorder­ grund gestanden hatte, nach außen.“90 Diesen Perspektivenwechsel ermög­ lichte jedoch nicht nur die unmögliche Übernahme des durch die Nationalso­ zialisten vorbelasteten Körper­ bzw. Vorbeugungsbegriffs. Die plötzliche Hin­ wendung zur äußeren Natur, die man fortan als anthropozentrierte „Umwelt“ begriff, ging aus den tiefgreifenden und katastrophalen Erfahrungen der ver­ gangenen Jahrzehnten hervor. Obwohl Kulturkritiker die zerstörerischen Ein­ griffe des Menschen schon um die Jahrhundertwende angeprangert hatten, rückte das Wissen um die Fragilität und Verletzbarkeit der Natur erst jetzt ins Bewusstsein vieler Zeitgenossen. Es zeichnete sich um 1950 ein „radikaler Paradigmenwechsel“ ab, der laut Heinrich Schipperges charakterisiert sei „durch ein wachsendes Misstrauen gegenüber den technischen Fortschritten, durch eine Resignation angesichts der technischen und sozialen Zerstörungen im Zeitraum zweier Weltkriege, durch einen grundsätzlichen Zweifel an der Wirksamkeit der mechanistisch­ökonomischen Modelle.“91 Eng verbunden mit diesem Paradigmenwechsel war auch die Vorstellung, dass der Mensch von der Natur abhängig sei und mit ihr in einem symbiotischen Verhältnis stünde. Körperliche und auch geistige Gesundheit könne demnach nur eine 86 So der Titel eines im Mai 1949 in Fellbach gehaltenen Vortrags (IGM/Varia 69, 23. April 1949). 87 IGM/Varia 374, 13. Februar 1953. 88 Fritzen (2006), S. 253. 89 Fritzen (2006), S. 253. 90 Fritzen (2006), S. 255. 91 Schipperges (1991), S. 62. Zur Naturschutzbewegung und ihrer Chronologie siehe: Brüg­ gemeier (1987); Radkau (2011); Franke (2014).

6.3 Entgiftung und Diätetik

261

gesunde Natur oder Umwelt garantieren.92 Daraus leitete sich die aktualisierte Zielsetzung der Lebensreformer ab, nämlich „in harmonischer Wechselbezie­ hung mit der Außenwelt und allen anderen Lebewesen und, darüber hinaus, umweltbewußter und verantwortungsbewußter zu leben.“93 Die homöopathi­ sche Laienbewegung griff diese Sichtweise auf und stellte nicht länger den Körper in den Mittelpunkt ihres neuerdings zivilisations­ und kulturkritischen Gesundheitskonzepts, sondern die gesundheits­ und krankheitsstiftende Um­ und Lebenswelt. In diesem Zusammenhang gewann auch innerhalb der Laienbewegung die von den Lebensreformern empfundene „toxische Ge­ samtsituation“ an Bedeutung – also die Wahrnehmung der Umwelt „als vergif­ tet oder wenigstens als von den Giften der Zivilisation ernsthaft bedroht“94. Mit einem Unterschied: Den Laienhomöopathen ging es, anders als den Le­ bensreformern, dabei nicht um eine tatsächliche Reform der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zustände. Die Umwelt oder besser gesagt: das Konzept „ökologischer leben“95 diente ihnen lediglich als Möglichkeit, die bisherigen Ratschläge bezüglich einer vorbeugenden naturgemäßen Lebens­ weise in einen lebensweltlichen Kontext zu stellen. Trotz ihrer Kritik an den Folgen der technisierten und überkultivierten Moderne für die Gesundheit der Menschen formulierten sie nur in geringem Maße gesellschaftsreforme­ rische Forderungen. Gegen die Umweltpolitik der Bundesregierung wurde zwar gelegentlich Stellung bezogen, entsprechende Petitionen oder gar der öffentliche Protest blieben hingegen aus. Ebenso wenig erwuchs dem Einzel­ nen aus den gegenwärtigen Missständen keine Verantwortung für Natur und Umwelt; er sollte lediglich auf die potenziell pathogenen Umwelteinflüsse auf­ merksam gemacht und in die Lage versetzt werden, im Alltag entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Bevor nun näher auf diese vermeidenden oder kompensatorischen Maß­ nahmen eingegangen wird, soll es im Folgenden zunächst um die „äußere“ Natur gehen und wie sie sowohl von den Laienhomöopathen als auch von den homöopathischen Ärzten wahrgenommen, reflektiert und zur beständi­ gen Grundlage der gesundheitspraktischen Ratschläge gemacht worden ist. 6.3.1 Die Umwelt in der Wahrnehmung der Laienhomöopathen Im zeitgenössischen medizin­ und sozialpolitischen Diskurs, der innerhalb der homöopathischen Laienbewegung geführt wurde, fanden zivilisations­ und kulturkritische Stellungnahmen erst nach 1945 größere Berücksichtigung. In den Jahren zuvor tauchen sie nur sporadisch in den Protokollbüchern und Zeitschriftenartikeln auf. Es ging den Homöopathen nicht um die Außen­, sondern primär um die Innenwelt des menschlichen Körpers. Nach dem 92 93 94 95

Fritzen (2006), S. 257. Fritzen (2006), S. 253. Fritzen (2006), S. 260. Fritzen (2006), S. 253.

262 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Zweiten Weltkrieg verbreitete sich unter den Laienhomöopathen – analog zur Gesamtgesellschaft – die Wahrnehmung der zivilisierten Umwelt als degene­ riert, vergiftet und krankmachend. Die Sehnsucht nach einer unversehrten, von menschlicher Zerstörungskraft unberührten Natur wurde nun sowohl in Artikeln der Homöopathischen Monatsblätter (die am 1. Januar 1953 mit der Leipziger Populären Zeitschrift fusionierten96) als auch in den einzelnen Laien­ vereinen in Kontrast gesetzt mit der „vorwärtsstürmende[n] Hast des moder­ nen Lebens und Treibens“97. Zivilisation, technischer und medizinischer Fort­ schritt, Motorisierung, Technisierung der Arbeit sowie des Privaten bzw. die „steigende Beschleunigung der Bewegung und der Arbeitsleistung“, ja sogar das Entnazifizierungsverfahren98 empfand man nicht als Segnung, sondern als physisch­psychische Belastung, als harten „Daseinskampf“99. Der Einzelne könne sich ihm nicht entziehen und folglich auch nicht zur Ruhe und zu sich kommen.100 Die von anhaltender Ökonomisierung und Technisierung be­ herrschte Industrie­ und Dienstleistungsgesellschaft stelle demnach nur schwer zu erfüllende und letztlich gesundheitsgefährdende Anforderungen an das biologisch nicht angepasste, weil von Natur aus träge Individuum. Von „mo­ derner Sklaverei in Fabriken u. Büros“101 war ebenso die Rede wie von „Ak­ kord und Arbeitstempo“102, die den Arbeitnehmer daran hindern würden, die „unbedingte gesundheitserhaltende Notdurft“103 rechtzeitig zu verrichten. Auch seien „Die Seelen­ und Geisteskräfte des Großstadtmenschen […] durch das nervenaufreibende Tempo vielfach der Verkümmerung preisgegeben“104, wodurch das Leben „teilweise seinen Daseinsinhalt“105 verliere. Problema­ tisch seien darüber hinaus der hastige Straßenverkehr mit seinen rasenden und lauten Autos, das allabendliche stundenlange Sitzen vor dem Fernsehap­ parat oder die luxuriösen aber eigentlich entbehrlichen „Neuanschaffungen in der Wohnung“106. Um letztere erwerben zu können, machen sich viele 96 Vgl. HM 78 (1953), S. 1: „Im Juliheft der ‚Populären Zeitschrift für Homöopathie‘ und des ‚Monatsblatts für Homöopathie und Lebenspflege‘ (Nr. 7/1952) haben der Paracel­ sus­Verlag und die Schriftleitung ihren Lesern mitgeteilt, daß in Zukunft beide Zeitschrif­ ten als einheitliche volkstümliche homöopathische Monatsschrift erscheinen sollen, daß beide gleichlautenden Inhalt haben werden und aus wirtschaftlichen Gründen im Klein­ format des ‚Monatsblatts‘ erscheinen sollen, bis auf weiteres aber jede ihren bisherigen Namen beibehalte.“ 97 HM 78 (1953), S. 92. 98 Vgl. HM 78 (1953), S. 25: „Eine sehr schädliche Rolle [bei der Entstehung von Nerven­ krankheiten] konnte bei uns z. B. die Entnazifizierung spielen, die ja weiter nichts war als eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegen den wohlmeinenden Teil der Bevölke­ rung.“ 99 IGM/Varia 69, 16. März 1954. 100 IGM/Varia 375, 16. Februar 1957. 101 IGM/Varia 74, 19. August 1950. 102 IGM/Varia 74, 19. August 1950. 103 IGM/Varia 74, 19. August 1950. 104 IGM/Varia 375, 5. Februar 1955. 105 IGM/Varia 375, 5. Februar 1955. 106 IGM/Varia 74, 22. März 1958.

6.3 Entgiftung und Diätetik

263

Zeitgenossen – blindlings ihrem materialistischen Denken gehorchend – auf die „Jagd nach dem Gelde“, die überhaupt erst schuld sei an der „immerwährende[n] Hetze“ der Nachkriegszeit.107 Um trotz der Disparität von natürlichem Grundbedürfnis und widernatürlichen Anforderungen fit bleiben zu können, greife der moderne zivilisierte Mensch nicht auf naturge­ mäße Mittel, sondern auf „das künstliche (naturfremde) Erzeugnis der Droge, des Pflanzenalkaloids, des Giftes, d. h. auf Präparate [zurück], die wohl für den Augenblick die Arbeitskraft erhöhen, augenblicklich Lebensbejahung erzeu­ gen, die Umwelt in rosigem Licht erscheinen lassen, und für eine Zeit die verhaßt nachtdunkle Zukunft in Nichts versinken machen.“108 Dem Wunsch nach heiler Welt und Hoffnung auf eine bessere Zeit verfielen allerdings auch die Laienhomöopathen. Nur war ihr Fluchtmittel nicht das Rauschgift, son­ dern die romantische Verklärung des vermeintlich hellen 19. Jahrhunderts, als „den Menschen […] noch ein geruhsames Leben beschieden“109 war. Auch deshalb wird der Verein Reutlingen im November 1953 anlässlich seines 70. Jubiläums einen Diavortrag über die Natur­ und architektonischen Schön­ heiten der schwäbischen Heimat gezeigt haben: Rückbesinnung auf Vergan­ genes, vermeintlich Heiles und Unbelastetes war Daseinsbewältigung und Daseinsflucht in einem. Der Konservatismus der homöopathischen Laienbewegung begrenzte sich indessen nicht allein auf die kritische Bewertung sozioökonomischer Mo­ dernisierungsprozesse. Mit dem Wunsch nach Rückkehr in die bürgerliche „Normalität“ ging auch das Bedürfnis nach Komplettierung der zerrütteten Familien und Wiederherstellung sicherer Lebensverhältnisse einher.110 Die bürgerlichen Parteien schrieben in ihren Programmen das Festhalten am tra­ ditionellen Familien­ bzw. Rollenbild fest, demzufolge Männer die Hauptver­ diener sein sollten, Frauen hingegen den Haushalt zu führen hatten.111 An dieser Rollenverteilung orientierten sich auch die Laienhomöopathen: Weib­ licher Erwerbsarbeit stand man in den 1950er und 1960er Jahren ablehnend gegenüber, erblickte man doch darin eine wesentliche Gefahr für die seelisch­ geistige Entwicklung des Kindes. Es gebe Frauen, so ein homöopathischer Arzt bei einem Vortrag in Stuttgart, „die ihre Kinder zur täglichen Betreuung an Fremde geben, nur um einem über den Rahmen ihres Lebensniveaus hinausgehenden Aufwand oder nicht zu verantwortenden Luxus frönen zu können. Das muß sich an den Kindern vielfältig und nachhaltig in früher Jugend und später bitter rächen.“112 Die Berufstätigkeit von Müttern (deren 107 108 109 110 111

IGM/Varia 74, 22. März 1958. HM 78 (1953), S. 92 f. IGM/Varia 375, 16. Juni 1962. Schulz (2005), S. 42. Schulz (2005), S. 43; Biermann (2009), S. 100 ff.; Schildt/Siegfried (2009), S. 103 ff. Damit unterschied sich die westdeutsche von der ostdeutschen Frauenpolitik. In der DDR der fünfziger Jahre hing die Integration der Frau in die Gesellschaft von ihrer Erwerbstätig­ keit ab. Vgl. hierzu: Madarász­Lebenhagen (2015), S. 74 ff.; differenzierter: Dinges: Män­ ner und Männlichkeit (2013). 112 IGM/Varia 375, 13. Februar 1960.

264 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) existenzielle Notwendigkeit der Arzt überhaupt nicht in Betracht zog und die von ihm stattdessen als profaner Luxus abgetan wurde) und der Zeitmangel der Väter sorge für eine Destabilisierung der Familienstruktur, das dem Kind das lebensnotwendige Heim­ und Geborgenheitsgefühl innerhalb der häusli­ chen Gemeinschaft entziehe. Die Konsequenzen seien „Konzentrationsverfla­ chung, Flatterhaftigkeit und Weitschweifigkeit“113. Ins gleiche Horn blies zwei Jahre später ein in den Homöopathischen Monatsblättern publizierter Artikel, der denn stark moralisierenden Titel „Mutti, wir warten auf dich!“114 trug. Frauen bzw. Müttern wurde darin nahegelegt, einen mäßigen Lebensstandard zu pfle­ gen, damit sie nicht oder nur wenig arbeiten müssen und sich stattdessen in gebührendem Maße ihrer familiären Verpflichtungen wie Kochen, Kinderer­ ziehung und Haushaltspflege annehmen können. An dieser Haltung sollte sich in den folgenden Jahren nichts Grundlegendes ändern; sowohl Politiker, Kirchen­ und Gewerkschaftsvertreter als auch die Laienhomöopathen standen auf dem Standpunkt, dass das bürgerliche Familienideal aufrechtzuerhalten sei. Und das obwohl „mittelständische verheiratete Frauen und Mütter, an die sich dieser Appell speziell richtete, schon seit Mitte der 1950er Jahre zuneh­ mend eine Erwerbstätigkeit auf[nahmen]“115, die weiblichen Lebensentwürfe also in zunehmendem Maße dem idealisierten Frauenbild widersprachen.116 Noch im Juni 1970 propagierten die Homöopathischen Monatsblätter ein stereo­ types Frauenbild, demzufolge den Frauen die Aufgabe zukäme, die Familie zusammenzuhalten: „Wenn es ihr gelingt, immer wieder anregende, ja festli­ che Höhepunkte im Familienleben zu schaffen, ist schon viel gewonnen. Das kann bereits am Morgen, vor allem auch an den Sonn­ und Festtagen, gesche­ hen. Ein liebevoll gedeckter Frühstückstisch mit verschiedenartigen Brot­ und Gebäcksorten, einem schönen Topfkuchen, Butter, goldgelbem Bienenhonig, gekochten Eiern und einem fröhlichen Blumenstrauß schafft schon am An­ fang des Tages eine beschwingte Atmosphäre.“117 Und in der kurz darauf er­ scheinenden Augustausgabe fühlte sich der Verbandsvorsitzende Georg Nagel bemüßigt, abermals Kritik an der berufstätigen Mutter zu üben, die ihre Kin­ der in die Obhut der Großeltern gebe, um ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.118 Ob die einzelnen Vereinsmitglieder die weibliche Erwerbsar­ beit ebenfalls ablehnten oder liberaler eingestellt waren, kann anhand des Quellenmaterials allerdings ebenso wenig überprüft werden wie die Frage nach ihrem konkreten Gesundheits­ und Krankheitsverhalten. Eng verbunden mit der Verteidigung der überkommenen bürgerlich­fami­ liären Wertvorstellungen war die Verteufelung der „Jagd nach dem Geld“119, von der auch noch 1970 eine zentrale Gefahr für die individuelle Gesundheit 113 114 115 116 117 118 119

IGM/Varia 375, 13. Februar 1960. HM 85 (1960), S. 95. Madarász­Lebenhagen (2015), S. 75. Vgl. Oertzen (1999). HM 95 (1970), S. 140. HM 95 (1970), S. 180. IGM/Varia 74, 22. März 1958.

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und, gemünzt auf Frauen, das Familienglück ausging. Ihren Höhepunkt er­ reichte die Kritik an der vermeintlichen Geldgier vieler Eltern schließlich in den Siebzigern, als der Drogenkonsum zum Bestandteil von Jugendkulturen wurde.120 In einem Vortrag über „Rauschgiftsucht und Drogenabhängigkeit“, gehalten im Homöopathischen Verein Rohracker, brachte der Heilpraktiker Reinhold Paduch folgende Ansichten zur Sprache: „Beide sind berufstätig, ein Anlaß die Kinder auf die schiefe Bahn zu bringen und in die Verlockung anderer geraten [sic] und einfach diesen lebensgefährlichen Suchtmitteln nicht mehr loskommen. […] Söhne und Töchter oft aus besten Kreisen in den Sog der Drogensucht hineinschliddern und zu Allem wie Mord und weitere Untaten unerschrocken bereit sind.“121 Durch das Aufbrechen der tradierten Familienstrukturen – was gleichbedeutend ist mit der eigennützigen Berufstä­ tigkeit der Mütter, denn die Väter arbeiteten ihrer Rolle als Ernährer entspre­ chend schon immer  – müssten die Kinder zwangsläufig in die Kriminalität abrutschen. Bemerkenswert an diesen Äußerungen von Paduch ist, dass sie bewusst die Verbindung zwischen Wertverlust und der öffentlich diskutierten Zunahme des Drogenkonsums herstellten. Der seit Jahrzehnten betriebene Kulturpessimismus gewann dadurch an gesellschaftspolitischer Bedeutung; die Aufforderung, zu einer vermeintlich hellen und heilen Vergangenheit zu­ rückzukehren, an Aktualität. In der Wahrnehmung vieler approbierter und Laienhomöopathen be­ stimmten Tempo, Hektik, Schnelllebigkeit, Reizüberflutung und soziales wie materielles Geltungsstreben die Lebenswirklichkeit des modernen überkulti­ vierten Menschen. Diese vermeintlich unveränderlichen Determinanten der Moderne beeinflussten seine ökonomische Um­ oder Außenwelt und wirkten sich mittelbar, langfristig und, wie noch zu zeigen sein wird, ungünstig auf den Körper und vornehmlich dessen Herzkreislaufsystem aus. Durch die Entfrem­ dung der zivilisierten, kultivierten und damit künstlichen Umwelt von ihrem natürlichen Urzustand drohten dem Menschen aber noch weitere, unmittel­ barere Gesundheitsgefahren: Die Rede ist von der offensichtlichen Ver­ schmutzung der Umwelt, vor allem durch Luft und Gewässer gefährdende Emissionen der Industriebetriebe. Die sich in letzter Konsequenz auf die Nah­ rungsmittel auswirken, sie vergiften und über die Ernährung schließlich in den menschlichen Körper gelangen müssen. Eine bewegungsreiche Lebens­ und naturgemäße Ernährungsweise garantierten nach dem Zweiten Weltkrieg längst nicht mehr die Verhütung von Krankheiten, war die Unversehrtheit des Körpers doch zusätzlich zu Hast und Tempo äußerlich von verpesteter Luft und innerlich von vergifteten Nahrungsmitteln bedroht. Innerhalb der ho­ möopathischen Laienbewegung wurde diese „toxische Gesamtsituation“122 erstmals im Laienverein Stuttgart­Wangen zur Sprache gebracht. Im Februar 1955 referierte der Gartenbaumeister Rudolph im Vereinslokal über den „Sinn und Zweck der biologischen Düngungsmethoden“, wobei er den Kon­ 120 Vgl. Weinhauer (2005), S. 89. 121 IGM/Varia 75, 12. März 1977. 122 Fritzen (2006), S. 260.

266 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) nex: „gesunder Boden, gesunde Ernährung, gesundes Leben“ besonders her­ vorhob. Chemisch­synthetische Düngungsmittel würden diesen Konnex und damit das Gleichgewicht der Natur stören, den Menschen immer weiter von einer natürlichen Lebensweise entfernen und nicht zuletzt die Qualität der Ernte mindern. Darüber hinaus verseuchen nicht natürliche Düngemittel Flüsse und Ströme bzw. die Gewässer im Allgemeinen, verschmutzen also zusätzlich die ohnehin schon stark belastete Umwelt.123 Ähnlicher Ansicht war im selben Jahr auch der homöopathische Arzt Dr. Mayer. Er hielt den 250 anwesenden Laienhomöopathen und Interessierten in Fellbach einen Vortrag über „Leber­ und Gallekrankheiten“, wobei er die zunehmende Um­ weltverschmutzung durch „Chemisierung und Industrialisierung“ beklagte, die die Pflanzen und Nahrungsmittel vergifte.124 Im Jahre 1958 warnten wie­ derum zwei Standeskollegen von Mayer die Mitglieder des Vereins Stuttgart­ Wangen vor Atom­ und Conterganschäden125 und schließlich vor „Gift in der Nahrung“126. Um dieser Gefahr Herr zu werden, auf die die Öffentlichkeit spätestens Anfang des Jahres durch den medienwirksamen „Nitrit­Skandal“127 aufmerksam wurde, seien vor allem die staatliche Überwachung der Nah­ rungsmittelherstellung sowie ein strengeres Lebensmittelgesetz (das letztmals 1927 geändert wurde) gefordert.128 Dieses Anliegen fand noch im selben Jahr Gehör; bereits am 23. Dezember 1958 wurde das neue Lebensmittelgesetz im Bundesgesetzblatt verkündet. Der Gesetzgeber bestimmte, dass binnen eines Jahres Lebensmittel keine Fremdstoffe mehr enthalten durften, deren Un­ schädlichkeit nicht bewiesen war. Konnte die Unschädlichkeit erbracht wer­ den, so durften diese Stoffe zwar verwendet, mussten aber in jedem Fall ge­ kennzeichnet werden. Dadurch war dem Verbraucher die Möglichkeit gege­ ben, zwischen „reinen“, „natürlichen“ bzw. „diätetisch wertvollen“ Produkten und mit chemischen Zusatz­, Farb­ oder Konservierungsstoffen behandelten zu unterscheiden.129 Über die Gesetzesnovelle berichtete in den Homöopa­ thischen Monatsblättern von 1960 ausführlich und durchaus kritisch der dama­ lige Vorsitzende des Süddeutschen Verbands für Homöopathie und Lebens­ pflege Karl Fischle. Er warf der Regierung und der beteiligten Wirtschaft vor, die neue Regelung nicht konsequent genug umzusetzen und hielt seine Leser­ schaft zur strengen Beobachtung der weiteren Entwicklung an.130 Auch be­ tonte er, dass es mit der strengeren Kontrolle der Lebensmittel noch lange nicht getan sei: So ist ein Gesetz, daß die Reinhaltung der Luft von Rauch, Ruß, schädlichen Abgasen usw. gewährleistet, ebenfalls wichtig und lebensnotwendig. […] Weiter ist ebenso wichtig 123 124 125 126 127

IGM/Varia 375, 5. Februar 1955. IGM/Varia 69, 12. Dezember 1955. IGM/Varia 375, 20. Oktober 1958. IGM/Varia 375, 15. März 1958. Zur Wissenschaftsgeschichte der Fremdstoffe in der Nahrung siehe ausführlich: Stoff (2015). 128 Etwa in: HM 83 (1958), U3. 129 HM 85 (1960), S. 1 ff. 130 HM 85 (1960), S. 3.

6.3 Entgiftung und Diätetik

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ein Gesetz, das für eine Reinhaltung unserer Gewässer sorgt und sie wieder rein und sauber macht, das die Gefahr der radioaktiven Schädigung durch und [sic] in der Luft und im Wasser, auch bei der nur friedlichen Anwendung der Kernenergie, bannt, denn radioaktiv verschmutzte Luft und Wasser schädigen ganz besonders auch Lebensmittel […]. Und nicht zuletzt ist es notwendig, den Menschen und seine Gesundheit vor über­ großem Lärm zu schützen.131

Fischles Forderung nach einem ganzheitlichen, gesetzlich verankerten Um­ weltschutz bzw. die darin formulierte Vorstellung einer potenziell vergifteten und deshalb gesundheitsschädlichen Umwelt sollte fortan die Wahrnehmung zumindest der ärztlichen und Laienredner bestimmen, die in den einzelnen homöopathischen Vereinen Vorträge hielten oder Zeitschriftenartikel verfass­ ten. „Toxine verändern den Menschen!“132 war nicht nur der Titel eines 1967 im Verein Nattheim gehaltenen Vortrags, sondern gleichsam ein Weckruf, das Ausmaß der Umweltzerstörung einzudämmen. In der Dezemberausgabe der Monatsblätter zählte der Geislinger Homöopath Dr. Emil Rehm 1960 die Schäden auf, „die unserer Gesundheit zugefügt werden oder gegen sie auf der Lauer liegen“. Darunter fielen vor allem „Autogase, chemische Stoffe der ver­ schiedensten Art in der Luft, Nahrung und Wasser, Ruß, zusätzliche Chlorie­ rung des Wassers, Denaturierung der Milch, Bleichung des Mehls“133, aber auch die Genussgifte Alkohol, Nikotin und Koffein. Solche Aufzählungen, die den Lesern (und Hörern) den prekären Zustand der Umwelt vor Augen führ­ ten, fanden sich in den kommenden Jahren – vor allem ab 1970, als sich eine Umweltbewegung zu formieren begann – immer wieder in den Zeitschriften und Protokollbüchern. Die Vortragenden zielten nun auf die altbekannte „Hast des unabänderlichen Wirtschaftslebens“134 einerseits, andererseits auf die „Schädigende[n] Einflüsse auf unsere Gesundheit aus der Umwelt“135 ab. Auffallend ist allerdings, dass sich daraus keine lebens­ und damit gesell­ schaftsreformerischen Implikationen ableiteten. Die Artikelschreiber und Vortragsredner konstatierten lediglich einen beklagenswerten Ist­Zustand, gleichsam einer Inventur des gegenwärtigen Zivilisationszustands. Sie riefen ihre Adressaten aber nicht deswegen zu einer generellen Verhaltensänderung bzw. anpassung auf, um die Umwelt zu retten, sondern ihre persönliche Ge­ sundheit. Anders als den Lebensreformern ging es ihnen um die Genese eines präventiven Selbst, nicht um ein ökologisches Selbst, das mit seiner Lebens­ weise zum Schutz der Umwelt beitragen soll. Im Kern blieben die gesundheitsschädigenden Umwelteinflüsse diesel­ ben, wurden im Laufe der Zeit jedoch aktualisiert und an die sich wandelnde Konsumgüter­ und Gefahrenpalette angepasst. So warnten im württembergi­ schen Nattheim Anfang der 1970er Jahre gleich zwei Redner die Vereinsmit­

131 132 133 134 135

HM 85 (1960), S. 3 f. IGM/Varia 528, 29. September 1967. HM 85 (1960), S. 181. IGM/Varia 375, 18. April 1964. IGM/Varia 529, 25. September 1970.

268 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) glieder in ihren Vorträgen vor altbekannten äußeren Risikofaktoren136 wie Auto­ und Industrieabgase, Atommüll und verunreinigtes Grundwasser. Neu war hingegen der Aufruf, auf die Verwendung von Pflanzenschutzmittel und Pestiziden sowie Insekten­ und desodorierenden Sprays zu verzichten, da von ihnen ebenfalls eine Gefahr für die Gesundheit ausgehe.137 Der Mensch nehme diese synthetischen und damit nicht natürlichen Giftstoffe durch die Ernährung und Atmung in den Körper auf, wo sie nicht schnell genug abge­ baut und ausgeschieden werden können. Die Folge seien Erkrankungen ver­ schiedenster Art sowie die über Generationen weitervererbte Degeneration der physisch wie psychischen Leistungsfähigkeit.138 Die oben angeführten Zitate und Stellungnahmen aus den Jahren zwi­ schen 1953 und 1972 stehen exemplarisch für ähnliche Äußerungen und zei­ gen, dass Kulturpessimismus in der homöopathischen Laienbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Kontinuität hatte. Wie schon die Lebensre­ former Ende des 19. Jahrhunderts erkannten nun auch die Laienhomöopa­ then in der Entfremdung des Menschen von einer naturorientierten Lebens­ weise die eigentliche Ursache vieler Krankheiten. Dezidiert zur Sprache brachte das der homöopathische Arzt Victor Mayer in einem Vortrag, den er am 18. Februar 1972 im Homöopathischen Verein Stuttgart­Wangen hielt. Mayer führte darin aus: Früher hat die Natur uns beherrscht, heute stehen wir vor der Tatsache, daß der Mensch versucht, die Natur zu beherrschen. Alte Weisheiten, welche Bestand hatten, werden von Erkenntnissen der Neuzeit verdrängt. Niemand ist in der Lage, diesen Zustand zu über­ sehen, man versuchte vielmehr, mit technischen und wissenschaftlichen Mitteln sich selbst wieder in den Griff zu bekommen.139

Ökonomisierung und Technisierung definierten demnach einen Prozess, durch dessen Dynamik der Mensch – im Rousseauschen Sinne – immer wei­ ter von seinem „Naturzustand“ entfernt und letztlich, durch Hektik und Stress und nicht zuletzt aufgrund der „Verkümmerung“ seiner „Seelen­ und Geistes­ kräfte“, (chronisch) krank werde. „Zurück zur Natur“ lautete daher die Losung der Laienhomöopathen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zurück in eine besinnliche Vergan­ genheit, als man „im Winter und an stillen Abenden sich gemeinsam um den Tisch gesetzt“140 und die Mutter ein Märchen oder die Großmutter aus der Bibel erzählt habe. Das war jedoch leichter gesagt als getan. Eine derartig antimoderne und nicht „einseitig auf Leistung und Konsum ausgerichtete Lebensweise“141 muss angesichts des hektischen Zeitalters nur bedingt um­ setzbar gewesen sein. Denn: „Zurück zur Natur“ konnte schwerlich bedeuten, 136 Zur Risikofaktoren­Diskurs zwischen 1950 und 1980 siehe ausführlich: Abholz (1982), Rothstein (2003); Timmermann (2010). 137 IGM/Varia 529, 29. September 1970; IGM/Varia 529, 5. November 1971. 138 IGM/Varia 376, 18. Februar 1972. Ähnlich auch: IGM/Varia 528, 29. September 1967. 139 IGM/Varia 376, 18. Februar 1972. 140 HM 85 (1960), S. 181. 141 Kury (2012), S. 146.

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sich diesem „hektischen Zeitalter“ und den Gesetzen der Industriegesellschaft gänzlich zu entziehen. Die konsequente Realisierung dieses Postulats wäre ei­ nem Dasein als Selbstversorger in der Abgeschiedenheit gleichgekommen, was angesichts der mittelständischen Vereinsstruktur sicher nicht im Sinne der meisten Mitglieder gewesen sein dürfte und auch nicht dem Selbstbild der Laienhomöopathen entsprach. Ihnen ging es, hierin wiederum ganz im Ein­ klang mit den Zielen der Lebensreformbewegung, eben „nicht [um] eine Revolution, sondern [um] eine Reform, eine Anpassung an gesellschaftliche Realitäten, nicht [um] ein[en] Bruch mit diesen.“142 Die Partizipation am öf­ fentlichen Leben, das Profitieren von zivilisatorischen Errungenschaften, das bürgerliche Ideal eines Eigenheims vor dem ein eigenes Auto steht143, all das sollte auch möglich sein, ohne seine körperliche wie seelische Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Der Unterschied zwischen gesund und krank manifes­ tierte sich also in dem kleinen, aber entscheidenden Wort „einseitig“: Eine praktikable und erfolgversprechende Lösung dieses offensichtlichen Wider­ spruchs schien die Kompensation potenziell pathogener Faktoren bzw. die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen gesunder Natur und krankma­ chender Moderne zu sein. Folgerichtig bürgerte sich der Begriff der „Vorbeu­ gungsmaßregeln“ ein, durch die „bei entsprechender Beachtung […] der Ge­ sundheit ein nicht zu unterschätzender Dienst erwiesen werden“144 könne. Damit ist gleichsam auch das grundlegende gesundheitsfördernde Konzept umrissen, an dem sich die homöopathische Laienbewegung im Allgemeinen und die homöopathischen Laienvereine im Besonderen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientieren sollten. Diesem Konzept und seiner prakti­ schen Umsetzung wird nun in den folgenden beiden Kapiteln nachgegangen. 6.3.2 Die „neuzeitlichen Erkrankungen“145: Auswirkungen der vergifteten Umwelt auf Körper und Geist Bevor auf das gesundheitsfördernde Konzept, mit dem die Laienhomöopa­ then der omnipräsenten Toxizität ihrer Umwelt begegnen wollten, näher ein­ gegangen werden kann, muss zunächst in einigen Sätzen die grundlegende Frage beantwortet werden, welchen Beschwerden überhaupt vorgebeugt wer­ den sollte. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahrzehnten, in denen meist einzelne Störungen der Verdauung, des Stoffwechsels oder von Organ­ funktionen, ihre Verhütung und nicht zuletzt homöopathische Behandlung thematisiert wurden, ging es den Laienhomöopathen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im ganzheitlichen Sinne um „moderne Krankheiten“146, 142 Fritzen (2006), S. 315. 143 Zur Kulturgeschichte der Konsumgesellschaft im Untersuchungszeitraum siehe: Schildt/ Siegfried (2009), S. 98–331. 144 IGM/Varia 376, 13 April 1973. 145 IGM/Varia 375, 2. November 1968. 146 IGM/Varia 522, 19. Februar 1956.

270 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) „neuzeitliche Erkrankungen“147 oder „Zivilisationskrankheiten“148. Ihr Inte­ resse galt den somatischen Dysfunktionen des Körpers, die in direktem oder besser gesagt: kausalem Zusammenhang mit der Moderne stehen sollten. Krankheitserscheinungen und ihre Erreger könnten, so ein Laienredner bei einem Vortrag über „Krankheitserkennung“, kaum von naturgebundenen Mitteln kommen, sondern hätten „ihren Ursprung fast ausnahmslos auf der Seite unseres hektischen Zeitalters und der beeinflussenden Umgebung unse­ rer wirtschaftlichen Industrialisierung“149. In den 1950er Jahren, als die Be­ schleunigung des Alltags infolge des gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruchs am spürbarsten wahrgenommen wurde, brachten die Vortragsred­ ner deshalb immer wieder und weit häufiger als zu Weimarer Zeiten die „Kul­ turkrankheit“ Nervosität bzw. Nervenleiden zur Sprache. Sie blieben dabei zunächst ganz dem bereits um die Jahrhundertwende geführten Neurasthenie­ Diskurs150 verpflichtet. So hieß es in einem 1954 in Fellbach gehaltenen Vor­ trag: „Die Neurasthenie, meist ausgelöst durch den harten Daseinskampf mit seiner Hast, oder durch falsche Betriebsamkeit (man gönnt sich keine Ruhe, rennt allen Vergnügungen nach), oft begünstigt durch erbliche Veranlagung, kann sich bis zur vollständigen Zerrüttung des Nervensystems und damit der körperlichen Gesundheit steigern.“151 „Nervositätskrankheiten der Gegen­ wart“, wusste 1953 auch der am Robert Bosch Krankenhaus angestellte ho­ möopathische Arzt Dr. Muth den Laienhomöopathen in Rohracker zu berich­ ten, „seien darauf zurückzuführen, dass sich der Mensch von seiner Lebens­ weise weit entfernt habe.“152 Die Annahme aber, dass die tägliche „Hast des modernen Lebens und Treibens“153 lediglich dem menschlichen Nervensys­ tem schaden und psychische Störungen hervorrufen würde, war jedoch nicht mehr zeitgemäß. Schon 1953 wies ein einschlägiger Artikel in den Homöopa­ thischen Monatsblättern auf den Zusammenhang zwischen nervösen, d. h. seeli­ schen Leiden einerseits und manifesten körperlichen Beschwerden anderer­ seits hin. Sein Autor, der bereits bekannte Stuttgarter Homöopath Dr. Lumpp, war der Ansicht, dass jede seelische Erregung „etwas Körperliches“ begleitet: „die meisten kennen es etwa als Herzklopfen und Zittern. Die Nebenniere hat unter der Wirkung des erregenden Reizes ihr Sekret ausgeschüttet, das den Sympathikus erregt, Herz und Blutdruck antreibt, d. h. sofort Kräfte zum Handeln, zur Gegenwirkung auf den Erregungsreiz bereitstellt.“154 Die äu­ ßere Erregung  – etwa durch „Persönlichkeitsentwertung“, „Ungerechtigkei­ ten“ oder den „Kampf aller gegen alle“155 – wirkt sich demnach sowohl auf 147 148 149 150 151 152 153 154 155

IGM/Varia 375, 2. November 1968. IGM/Varia 528, 14. Dezember 1962. IGM/Varia 375, 16. April 1966. Zum Neurasthenie­Diskurs der Jahrhundertwende siehe ausführlich: Radkau (2000); Sa­ rasin (2001), S. 417–432; Kury (2012), S. 44–54. IGM/Varia 69, 16. März 1954. IGM/Varia 74, 21. Februar 1953. HM 78 (1953), S. 92. HM 78 (1953), S. 24. HM 78 (1953), S. 24.

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das geistige als auch das körperliche Wohlbefinden des Menschen aus. Damit war thematisch die Nähe hergestellt zu einer Erkrankung, die zur selben Zeit die medizinische Fachwelt und damit auch die homöopathischen Ärzte als Wissensvermittler156 und Laienhomöopathen als deren Adressaten beschäf­ tigte. Die Rede ist vom „Burnout avant la lettre“157, der „Manager­Krankheit“. Anfang der Fünfziger entwickelte sich wieder die Vorstellung, dass die wirt­ schaftlichen, geistigen und politischen Eliten, also Männer in Führungsposi­ tionen, durch die enormen Anstrengungen des wirtschaftlichen Aufstiegs da­ hingerafft werden würden. Anlass zu dieser Annahme gab die Beobachtung, dass seit der Währungsreform auffallend viele Manager und Bundestagsabge­ ordnete einen frühen Herztod erlitten.158 Obwohl die dieser These zugrunde liegende empirische Datenbasis äußerst schmal war159, stellten einige Medizi­ ner die Verbindung her zwischen der körperlichen Überanstrengung von Männern in leitenden Positionen und dem frühzeitigen Ausbruch letaler Herz­Kreislauf­Erkrankungen.160 Dieses auf eine bestimmte soziale Gruppe fixierte Erklärungsmuster wurde jedoch bald in Zweifel gezogen. Der Medi­ zinprofessor Friedrich Dittmar, der 1954 mit der Manager­Krankheit das Prin­ zip der vegetativen Dystonie in Verbindung brachte161, sprach sich noch im selben Jahr auf einer Fachtagung in Linz gegen die Einschätzung seiner Kolle­ gen aus, dass von der Manager­Krankheit nur die Eliten oder Personen in ge­ sicherten Verhältnissen betroffen seien: „Die Managerkrankheit betrifft nicht allein die Manager, sondern sie geht uns alle an. Es soll nicht abgestritten werden, daß sie innerhalb der Gruppe der Wirtschaftsführer in einer beson­ ders hohen Frequenz auftritt und auch mit besonders eklatanten Symptomen einhergehen kann. Sie erfasst aber alle Menschen in schwierigen psychologi­ schen, arbeitsmäßigen und wirtschaftlichen Verhältnissen.“162 Unterstützung erfuhr Dittmaier vom Frankfurter Arbeitsmediziner Herbert Warning, der sich zeitgleich gegen die Vorstellung wandte, die Manager­Krankheit sei ein reines Elitenphänomen.163Die Zunahme von Herz­Kreislaufleiden, Erkran­ kungen des zentralen und vegetativen Nervensystems oder des Magen­Darm­ Trakts sei stattdessen ein gesamtgesellschaftliches Problem und auf das mo­ derne „Arbeitsleben und die […] technisierte Umwelt“164 zurückführen. „Ob­ wohl die von Warning verwendeten Topoi der ‚Belastungen des Nervensys­ tems‘ und der ‚technisierte[n] Umwelt‘ an den Belastungsdiskurs der Neuras­ 156 Dass die homöopathischen Ärzte die Debatte über die Manager­Krankheit in die Ver­ eine trugen lässt sich exemplarisch anhand eines Arztvortrags in Rohracker belegen. Im März 1957 hielt dort Frau Dr. Maier einen Vortrag über „Managerkrankheit und vegeta­ tive Distonie“ (IGM/Varia 74, 9. März 1957). 157 Kury (2012), S. 125. 158 Vgl. Kury (2012), S. 118 f. 159 Kury (2012), S. 119, 130. 160 Kury (2012), S. 115. 161 Kury (2012), S. 115 f. 162 Dittmar (1954), S. 420. 163 Vgl. Kury (2012), S. 122. 164 Warning (1954), S. 724.

272 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) thenie erinnern, erwähnte er die Neurasthenie nicht.“165 Die zeitgenössischen Krankheitssymptome, die Warning bei den „arbeitenden Massen“166 beob­ achtete, führte er vielmehr auf die Manager­Krankheit zurück. Dittmaiers und Warnings Einschätzung schlossen sich in der Folge zahlreiche weitere Medizi­ ner an, die den Anstieg von Herz­Kreislauf­Erkrankungen mit dem alle Be­ rufsgruppen erfassenden Wiederaufbau und wirtschaftlichem Wachstum in Verbindung brachten.167 Der Übergang von der Mangelwirtschaft der Nach­ kriegsjahre zum Kapitalismus und Überfluss der Konsumgesellschaft hätte nicht nur eine Beschleunigung des Alltags und höhere Arbeitsbelastung mit sich gebracht168, sondern auch einen Wandel der Konsum­ und Ernährungs­ gewohnheiten.169 Der Unterernährung der Nachkriegszeit folgte die Überer­ nährung, was wiederum die Entstehung von Zivilisationsschäden begünstigen und sich nicht zuletzt in Herz­Kreislauf­Beschwerden manifestieren würde. Am populären Diskurs über die „Manager­Krankheit“ beteiligten sich auch die Laienhomöopathen. Im Jahr 1953 – just als das Dortmunder Max­ Planck­Institut für Arbeitsphysiologie eine quantitative empirische Studie über die Krankheit veröffentlichte170  – griffen zunächst die Monatsblätter die Krankheit bzw. das Krankheitsbild auf; 1956 und 1957 wurde die Manager­ Krankheit dann auch in den homöopathischen Laienvereinen thematisiert.171 Sie stieß dort auf reges Interesse, so z. B. bei den Mitgliedern des Vereins Reutlingen: Als die Vereinsleitung im April 1956 drei Vortragsthemen zur Wahl stellte, entschieden sich die Mitglieder für „Die Homöopathie und die Krankheiten unserer Zeit“, da es darin vor allem um Kreislaufstörungen und die Managerkrankheit gehen sollte. Die anderen beiden Themen, „Homöo­ pathie und Allopathie – 2 feindliche Brüder“ und „Die homöopathische Be­ handlung von Kreislaufstörungen“, konnten dagegen weniger begeistern.172 Bei der Besprechung der Managerkrankheit innerhalb der Laienbewegung ist nun zweierlei auffallend. Zum einen spiegelt sich die soziale und geschlechts­ spezifische Zuschreibung dieser Erkrankung in den Texten und Vorträgen wi­ der. So definieren beispielsweise die Homöopathischen Monatsblätter in dem 1953 publizierten Artikel die „Manager­Krankheit“ als „plötzliche Erkran­ kung der Männer, die in leitenden Stellen in der Wirtschaft stehen und sich

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Kury (2012), S. 124. Warning (1954), S. 724. Kury (2012), S. 126 f. Die Wochenarbeitszeit betrug zu Beginn der Fünfziger häufig noch 49 Stunden, auch samstags wurde regulär gearbeitet. Die Gewerkschaften erreichten erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die Einführung der 5­Tage­Woche sowie die Reduzierung der Arbeitszeit auf 45 Stunden. Vgl. hierzu: Dussel/Frese (1993), S. 66; Wehler: Bundesrepu­ blik (2010), S. 73–76; Kury (2012), S. 126. Kury (2012), S. 126. Die Studie mit dem Titel Die Krankheit der Verantwortlichen. Manager­Krankheit stammte von dem Arbeitsmediziner Otto Graf. Vgl. Kury (2012), S. 119. IGM/Varia 522, 19. Februar 1956; IGM/Varia 74, 9. März 1957. IGM/Varia 486, 8. April 1956.

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eigentlich im besten Alter befinden.“173 Die Entstehung der Erkrankung wurde in erster Linie auf das „Tempo des modernen Lebens“ und die „Über­ forderung einzelner an den Brennpunkten des Betriebs stehender, äußerst tüchtiger und energischer Männer“174 zurückgeführt. Die anderen, nachge­ nannten Risikofaktoren: „Hast und Eile, Telefon, Maschinen, Auto, Ausgleich durch Alkohol und Nikotin“ bezogen sich in besagtem Artikel ebenso auf eine von Männern dominierte Berufsgruppe. Zum anderen fällt auf, dass die Manager­Krankheit zwar zum zentralen Thema von Zeitschriftenartikeln und Vorträgen gemacht wurde, trotz des öf­ fentliches Interesses allerdings nur für kurze Zeit. Während sich der Topos der vergifteten, hektischen Umwelt über Jahrzehnte hinweg durch Dutzende Arti­ kel und Veranstaltungen zieht, beschränkte sich die eigenständige Bespre­ chung der Manager­Krankheit (zumindest in den untersuchten Vereinen) auf die wenigen genannten Beispiele. Die Gründe liegen im Unklaren, könnten jedoch mit der weiteren Entwicklung des Fachdiskurses zusammenhängen. Wie Dittmaier oder Warning gelangten demnach auch die Laienhomöopa­ then bzw. homöopathischen Ärzte zu der Überzeugung, dass die Krankheit den somatischen Begleiterscheinungen des modernen, temporeichen und da­ mit prinzipiell pathogenen Lebens einen Namen gebe, ihre Symptome wie Herz­Kreislaufstörungen, Schlaflosigkeit, Magenprobleme, Konzentrations­ schwäche und Erschöpfungszustände175 sich aber nicht auf ein bestimmtes Geschlecht oder eine Berufsgruppe beschränken lassen. Eine solche Reduk­ tion musste zwangsläufig an der konkreten Berufs­ bzw. Familiensituation vie­ ler Vereinsmitglieder vorbeigehen. In den homöopathischen Laienvereinen gab es weder Männer in Führungspositionen (höchstens vereinzelt) noch wa­ ren die Laienhomöopathen ausschließlich männlich. Die Manager­Krankheit in ihrer ursprünglichen Auslegung taugte also nicht, um die somatischen Aus­ wirkungen der hektischen Moderne – „Kulturkrankheiten“ Nervenleiden und Kreislaufstörungen176  – zu erklären. An ihnen konnten beide Geschlechter erkranken, da sowohl Männer als auch Frauen zivilisiert und damit einer „Überkultivierung“ ausgesetzt waren. Folgerichtig beschrieb der Homöopath Dr. Lewitscharoff Herzkreislaufbeschwerden und nervös bedingte Schlaflosig­ keit nicht als klassische Symptome einer geschlechtsspezifischen Manager­ oder Männerkrankheit. Stattdessen berichtete er über deren Ursachen, näm­ lich „Überbeanspruchung bei der Arbeit, im hastigen Verkehr, […] Rasen im Auto“, ganz allgemein als „Alltägliches aus der Sprechstunde“177. Die oben aufgezählten omnipräsenten Risikofaktoren Hektik, Überforde­ rung im Beruf, Geltungsstreben, verfeinerte und einseitig­bewegungsarme Le­ bensweise, Umwelt­ und Genussgifte beeinflussten jedoch nicht allein das 173 174 175 176

HM 78 (1953), S. 183. HM 78 (1953), S. 183. Vgl. Kury (2012), S. 133 IGM/Varia 69, 16. Dezember 1952; IGM/Varia 374, 2.  April 1954; IGM/Varia 375, 30. Mai 1958. 177 IGM/Varia 74, 22. März 1958.

274 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Herzkreislaufsystem178 eines Menschen, seine Nerven bzw. Psyche179 oder sein Schlafverhalten.180 Die fehlende Zeit zur Entspannung und Erholung, Hast und Hetze sowie Zukunftsängste und Geldsorgen wiederum würden ebenso Schlaganfälle181 und Krebserkrankungen begünstigen. Die sich bald nach dem Krieg einstellende „Fülle des Überflusses“182, die „Eß­ und Freß­ welle“ und später die „Feinschmeckerwelle“183 sowie die „Bequemlichkeits­ welle“184 der 1970er Jahre störten die Ernährung, Übergewicht sei die Folge. Zusätzlich zögen die chemischen Zusätze und toxischen Stoffe in den Nah­ rungsmitteln die Leber in Mitleidenschaft und langfristig Organschäden nach sich.185 Eng verbunden mit dieser Leitphrase der Nachkriegszeit, dem Topos vom „Gift in der Nahrung“186, war auch der in Fachkreisen seit Anfang des 20. Jahr­ hunderts geführte Krebsdiskurs.187 Ihm lag die Erkenntnis zugrunde, dass Le­ bensmittelzusatzstoffe als unnatürliche Fremdstoffe die optimale Funktion des menschlichen Körpers stören und karzinogen wirken würden.188 Der Natur­ körper, so die Forderung der Mediziner und Lebensreformer, müsse von che­ mischen und technischen Kontaminatoren freigehalten werden, um seine Ge­ sundheit nicht zu gefährden. Die Laienhomöopathen beteiligten sich an die­ sem Diskurs, da er zu der von ihnen verbreiteten Angst vor krankmachenden Giftstoffen in der Umwelt passte. Krebs wurde fortan als „eine Volksseuche im wahrsten Sinne des Wortes“189 und „Zivilisationskrankheit ersten Ran­ ges“190 tituliert und im Laufe der Nachkriegsjahre immer häufiger zum Thema zahlreicher Laien­ wie Arztvorträge bestimmt. Der Heidelberger Arzt Ferdi­ nand Schmidt etwa, von dem die Artikelreihe „Ist Krebs heilbar?“ in den Monatsblättern stammte, schreibt über die möglichen Ursachen der Krebs­ krankheit: Wir führen unserem Körper mit Genußmitteln, die man früher vielfach überhaupt noch nicht kannte, alle möglichen Gifte zu. Wir verändern die Speisen in ihrer natürlichen Zusammensetzung durch alle möglichen Zusätze, wir denaturieren viele Nahrungsmittel durch Kochen, Braten, Räuchern, Grillen, Rösten und die verschiedensten Konservie­ 178 „Herzinfarkt, die Zeitkrankheit des 20. Jahrhunderts“ lautete etwa ein in Rohracker ge­ haltener Vortrag des Heilpraktikers Paduch (IGM/Varia 75, 5. Mai 1973); IGM/Varia 375, 18. April 1964. 179 IGM/Varia 528, 2. Dezember 1960; IGM/Varia 75, 9. Oktober 1971; IGM/Varia 75, 11. Mai 1974. 180 IGM/Varia 74, 14. Mai 1958; IGM/Varia 528, 3. Juni 1960. 181 IGM/Varia 69, 6. November 1955. 182 IGM/Varia 74, 22. März 1958. 183 IGM/Varia 75, 5. Mai 1973. 184 IGM/Varia 75, 6. November 1971. 185 IGM/Varia 69, 12. Dezember 1955; IGM/Varia 528, 17. April 1964; IGM/Varia 528, 29. September 1967; IGM/Varia 75, 24. April 1971. 186 Stoff (2015), S. 9. 187 Zur Geschichte des Krebsdiskurses siehe ausführlich: Stoff (2015), S. 47–58. 188 Stoff (2015), S. 9. 189 IGM/Varia 69, 20. November 1952. 190 IGM/Varia 375, 26. Januar 1966.

6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis

275

rungsmethoden. Wir bekämpfen Pflanzenschädlinge mit immer neuen giftigen Insektizi­ den […], die in mehr oder weniger starker Konzentration unweigerlich auch mit der Nahrung aufgenommen werden, obwohl die möglichen Schädigungen bei weitem nicht ausreichend untersucht wurden. Viele von uns bemühen sich in Freizeit und Beruf durch Zigarettenrauch noch zusätzlich ihre Lungen zu verräuchern, die ohnehin durch Abgase von Industrie und Autos genug traktiert werden.191

Der Krebs als Sammelbegriff unterschiedlicher Tumorerkrankungen ver­ drängte sogar die Nervosität als die typische Erkrankung der mechanistisch­ materialistischen Moderne.192 Infolge der Popularisierung des Stress­Diskur­ ses193 Mitte der 1970er Jahre wurde die krankhafte bzw. chronische Störun­ gen des Nervensystems innerhalb der homöopathischen Laienbewegung zwar weiterhin breit diskutiert. Allerdings konnten mit diesem Krankheitsbild le­ diglich psychosoziale Stressfaktoren erfasst werden, nicht aber die gesund­ heitsschädigenden toxischen Umweltbedingungen. Das Krankheitsbild Krebs überführte die latente Angst vor „Toxinen“ in Luft und Nahrung in eine nach­ vollziehbare Erkrankung. Krebsangst und Zivilisationskritik wurden dadurch auch innerhalb der homöopathischen Laienbewegung eins. 6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis: Vorbeugung durch Kompensation der Risikofaktoren „Leider“, so ein Laienredner bei einem 1969 gehaltenen Vortrag in Nattheim, „sei der heutige Mensch es gewohnt, seinen Körper nach gewisser Zeit in eine Reparaturwerkstätte zu bringen, doch dort könne man auch nicht mehr alle Schäden beheben. Viel wichtiger ist es daher, daß man sich um eine gesunde, vernünftige u. naturgemäße Lebensweise bemüht.“194 Der Aspekt der Vorbeu­ gung  – aufgrund der belasteten Terminologie neuerdings nicht mehr gefor­ derte „Pflicht“ sondern geförderter „Wille zur Gesundheit“195 genannt – spielte demnach auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle innerhalb der homöopathischen Laienbewegung. In Vorträgen und anderen 191 192 193 194

HM 95 (1970), S. 152. Siehe hierzu ausführlich: Sontag (1981); Herzlich/Pierret (1991). Vgl. Kury (2012), S. 223 ff. IGM/Varia 528, 28. März 1969. Der Maschinenmetapher bedienten sich – entgegen des eigentlich eher vitalistischen Körperverständnisses – auch noch andere Redner, um die Gebundenheit der Gesundheit an äußere Faktoren zu unterstreichen. So müsse der Kör­ per wie eine Maschine gewartet und gepflegt werden, soll seine Funktionsfähigkeit erhal­ ten bleiben (IGM/Varia 528, 2. Juli 1959). In mindestens einem Fall wurde an das popu­ läre Plakat „Der Mensch als Industriepalast“ von Fritz Kahn (1888–1968) erinnert, als es um die Erläuterung der „Verdauungsorgane“ ging (IGM/Varia 74, 7. Oktober 1950). Der kritisierten materialistisch­mechanistischen Denkweise der Moderne konnten sich die Laienhomöopathen also nicht gänzlich entziehen. Zur Maschinenmetapher siehe: Rabin­ bach (2001); Stiegler (2016). 195 So jedenfalls der Titel eines Artikels in den Homöopathischen Monatsblättern, demzufolge der Einzelne dazu verpflichtet sei, seinen Willen zu „stählen“. Der Wille wiederum sei die grundlegende Voraussetzung für Gesundheit: HM 78 (1953), S. 3 ff.

276 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Veranstaltungen wurden die Vereinsmitglieder immer wieder eindringlich er­ mahnt, „keinesfalls der Lauheit, erst in kranken Tagen an Heilung zu denken, zu verfallen, sondern in gesunden Tagen schon Vorsorge zu treffen.“196 Schließlich sei die Gesundheit durch „täglich wiederkehrende Beeinflussun­ gen ernstlich gefährdet“197. Es verwundert nicht, dass auch der eingangs zi­ tierte Laienredner wie viele seiner Zeitgenossen die Ursachen etlicher Leiden in eben solchen schädlichen Beeinflussungen sah, die seinem ätiologischen Verständnis nach „die Harmonie zwischen Körper u. Geist“ stören würden.198 Unerlässlich sei es deshalb, „zur Gesundung das innere Gleichgewicht wieder herzustellen.“199 Ein praktikables Gesundheits­ bzw. Vorbeugungskonzept musste also, wie oben bereits angedeutet, auf Vermeidung oder wenigstens auf einen positiven Ausgleich bedacht sein, wollte es jene „gestörte Harmonie des Körpers“ und Geistes200 verhüten. Und der Schädlichkeit von gesundheitsge­ fährdenden Umwelteinflüssen im Allgemeinen und den im vorigen Kapitel aufgezählten Erkrankungen im Besonderen wirksam entgegentreten. Der Mensch müsse dabei „immer als ganzes behandelt werden, denn jedes ein­ zelne Organ ist abgestimmt zum anderen und jede Disharmonie führt zu Stö­ rungen des gesamten Organismuß [sic].“201 Die sich daraus ableitenden „Vor­ beugungsmaßregeln“ einer naturgemäßen Lebensweise umfassten deshalb sowohl das Körperinnere als auch ­äußere und drehten sich im Wesentlichen um die beiden Axiome Ernährung und Kompensation der Risikofaktoren: Während das erste das Körperinnere mittels einer natürlichen, unbehandelten und schad­ und giftstofffreien Ernährung rein und gesund halten sollte, sorgte das andere für die Einhaltung eines äußeren Gleichgewichts. Psychosozialem Stress oder verschmutzter Luft, die sich beide direkt oder indirekt auf den Körper und das seelische Wohlbefinden auswirkten, sollten kompensatorische Maßnahmen wie (abendliche) Spaziergänge in sauerstoffreicher Luft entge­ genwirken. 6.4.1 Ernährung „Wenn wir schon gegen die Industrie nicht aufkommen, sollten wir ihre umge­ formte [sic] an Wert verringerten Nahrungsmittel meiden.“202 Der wiederge­ wählte Vorsitzende des Süddeutschen Verbands für Homöopathie und Le­ benspflege Immanuel Wolf fasste mit dieser trotzig­resignierten Losung gleich­ sam die zentrale Forderung des vorbeugungszentrierten Gesundheitskonzepts in Worte, das die Protagonisten der Laienbewegung ihren Anhängern auch 196 197 198 199 200 201 202

IGM/Varia 374, 17. Oktober 1953. IGM/Varia 375, 30. Mai 1958. IGM/Varia 528, 28. März 1969. IGM/Varia 528, 28. März 1969. IGM/Varia 69, 25. Januar 1955. IGM/Varia 528, 7. November 1958. IGM/Varia 74, 6. Februar 1954.

6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis

277

nach dem Zweiten Weltkrieg zu vermitteln versuchten. Wie schon in den 1920er Jahren machte die richtige und neuerdings fremdstofffreie Ernährung den qualitativ wie quantitativ wichtigsten Teil einer naturgemäßen Lebens­ weise aus, sie wurde in zahlreichen Vorträgen stets an erster Stelle genannt, wenn es um die Vermeidung von Krankheiten verschiedenster Art ging. Ein 1953 in den Homöopathischen Monatsblättern publizierter Artikel des Vereins­ vorsitzenden in Laichingen, Rinker, gibt Aufschluss, welchen konkreten In­ halts diese auf Vermeidung und „Zurück zur Natur“­Rufen203 abzielenden Ernährungsratschläge waren. Unter der titelgebenden Frage „Ist unsere Le­ bensführung richtig?“ fasste Rinker die „Teilergebnisse“ der Vortragsarbeit in den einzelnen Vereinen im Winter 1952/53 zusammen. Über die Ernährung wusste er zuallererst zu berichten, dass sie die „Beherrscherin des Lebens und Gesundheit“204 sei, wobei er sich auf Bircher­Benner bezog, aus dessen Bü­ chern er dieses Diktum entlehnte. Es verwundert daher wenig, dass die einzel­ nen ernährungsbezogenen Ratschläge, die in den Vereinen 1953 (und auch noch lange danach) zu vernehmen waren, gegenüber den 1920er Jahren nicht viel Neues boten. Im Mittelpunkt der propagierten Ernährungslehre stand auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vollwertige, vitaminrei­ che, lakto­vegetabile und damit fleischarme Kost. „Wir ermuntern“, so Rinker, „deshalb bei jeder Gelegenheit unsere Hörer und Vereinsmitglieder, sich weit­ gehend an Rohkost zu halten.“ In der Praxis sähe das folgendermaßen aus: Eines vor allem könnte in jedem Haushalt täglich geschehen: vor jeder Mittagsmahlzeit sollte und könnte als V ‚ orspeise‘ etwas aus dem Pflanzenreich roh gegessen werden: grüne Salate, Kresse, Schnittlauch, Spinat, Gelbe Rüben, Rettiche, Erdbeeren, Prestlinge [Erdbeeren], Kirschen, rote und schwarze Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Äpfel oder Apfelsinen, Pflaumen, Zwetschgen, Trauben  – wie es eben die Jahreszeit gibt – auch Bananen, wenn man das Geld dazu hat, oder auch Rohsäfte aus Gemüsen und Obst. Durch eine solche Vorspeise bekommt der Verdauungsapparat eine ganz an­ dere Einstellung als durch Suppe und die übliche Speisefolge.205

Ähnliche, allerdings weniger rohkostlastige Tipps konnten sich auch die Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen bei entsprechenden Vorträgen in ihre Notizhefte schreiben. So seien Vollkornprodukte wie Brot, Zwieback oder Haferflocken „dem rein weiß ausgebleichten Mehl“206 in jedem Fall vorzuzie­ hen, da sie genügend Nährstoffe enthalten und verdauungsfördernd seien.207 Mehrfach empfohlen wurde den Zuhörern zudem der Genuss von frischen, ungekochten und sonnengereiften208 Obst­ und Gemüsesorten, Bienenhonig (vorbeugend vor allem für Kinder209), Obstsäften und eiweißhaltigen Nah­ rungsmitteln wie Quark, Käse, Fisch und Fleisch. Auf den Teller sollten nach Möglichkeit auch fett­ und mineralienreiche Nüsse, Mandeln, Sonnenblu­ 203 204 205 206 207 208 209

IGM/Varia 375, 2. November 1968. HM 78 (1953), S. 138. HM 78 (1953), S. 138. Ähnlich auch: IGM/Varia 74, 6. Februar 1954. IGM/Varia 375, 21. November 1964. MLNH 105 (1980), S. 222. IGM/Varia 375, 2. November 1968. HM 95 (1970), S. 69.

278 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) menkerne oder Oliven kommen.210 Über die Häufigkeit von fleischreichen Mahlzeiten wurden den Mitgliedern und Lesern zwar keine strikten Vorschrif­ ten gemacht und gar gänzlicher Verzicht gefordert, allerdings sollten sie täg­ lich nicht mehr als 150 Gramm Fleisch verzehren211, beim Kochen auf tieri­ sche Fette verzichtet212 und im Hinblick auf Herz­ und Kreislaufkrankheiten die Höchstmenge von „75 g Gesamtfett am Tage“213 eingehalten. „Gesund­ heitliche Nachteile“ seien darüber hinaus von scharfen Gewürzen, zu viel Salz sowie von weißem Zucker zu erwarten. Besser geeignet zum Süßen von Spei­ sen und Getränken sei der Roh­ oder Traubenzucker oder Bienenhonig.214 Die Überzeugung, dass nicht natürliche Stoffe krankheits­ und krebserre­ gend wirken können, schlug sich darin nieder, dass vor allem „chemisch bear­ beitete Nahrungsmittel“ gemieden werden mussten, „desgleichen Obst, wel­ ches 20­ bis 30mal bespritzt wurde, um der Frucht ein elegantes Aussehen zu geben“215. Auch riet man vom Gebrauch starker synthetischer Abführmittel ab und stattdessen zu Weizenkeimen, Leinsamen und genügend Flüssigkeit, um die Darmfunktion und damit die Entleerung des Körpers von überschüs­ sigen Stoffwechselprodukten anzuregen. Der oben zitierte Vereinsvorsitzende Rinker empfahl seinen Lesern gegen Verstopfung, „morgens ein Glas Wasser [zu trinken], am besten heiß mit einem Kaffeelöffel voll reinen Bienenhonig, mit Leinsamen oder mit Linusit, dem gemahlenen Leinsamen“216. Überhaupt spielte der auf Otto Buchinger (1878–1966) zurückgehende Begriff der „Ent­ schlackung“ innerhalb der von den Laienhomöopathen vermittelten Ernäh­ rungsweise eine weit größere Rolle als noch in den 1920er Jahren. Gänzlich neu war er den Laienhomöopathen indessen nicht, tauchte in den Protokoll­ büchern vor 1945 aber vergleichsweise selten auf. Dass die Ausleitung von Stoffwechselschlacken in der zweiten Jahrhunderthälfte dann weit häufiger thematisiert worden ist, hängt vor allem mit der nun weit verbreiteten Vorstel­ lung zusammen, dass der Körper über Luft und Nahrung ein Übermaß an toxischen Stoffen aufnehme, die er aber nicht vollständig abbauen könne und sich summieren.217 Darm und Nieren mussten deshalb zusätzlich zu ihrer normalen Funktion angeregt werden, um die anfallenden Schlacken aus dem Körper bzw. dem Blutkreislauf auszuscheiden. Ein probate und entsprechend häufig genannte Praktik waren sogenannte Blutreinigungs­ und Entschlackungs­ kuren, durchgeführt beispielsweise mittels abwechselnder Tee­ (Löwenzahn, Brennnessel, Schafgarbe, Karotten) oder Saft­ (Rote­Rüben­Saft218) oder Trau­

210 211 212 213 214 215 216 217

IGM/Varia 74, 6. Dezember 1952. IGM/Varia 542, 10. November 1951. IGM/Varia 375, 21. November 1964. HM 85 (1960), S. 15. IGM/Varia 375, 18.2.1961; IGM/Varia 75, 10. Februar 1968. IGM/Varia, 375, 21. November 1964; IGM/Varia 74, 6. Februar 1954. HM 78 (1953), S. 138. Zur „Gefahr der Summierung“ giftiger und karzinogener Fremdstoffe in der Nahrung siehe: Stoff (2015), S. 65 f.; ausführlicher: Stoff (2012). 218 IGM/Varia 75, 10. April 1965; HM 85 (1960), S. 42.

6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis

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benkuren.219 Abhilfe bei „verschlacktem Blut“ und angesammelten Körper­ und Umweltgiften sollten auch Fasten­ und Schwitzkuren220, Sitz­ und Schlenz­ bäder221, Wacholderbeeren, das genannte Leinsamenpräparat Linusit oder ein spezielles „Elixier­Antidyskratikum“ leisten.222 Darüber hinaus legten die Redner und Autoren ihrem Laienpublikum im Allgemeinen nahe, für eine geregelte Nahrungsaufnahme zu sorgen, die sich wiederum an dem eindrücklichen Merksatz: „Morgens wie ein König, mittags wie ein Bürger und abends wie ein Bettler“223 zu orientieren hatte. Speisen gleich welcher Art sollten nicht im Übermaß224 und in Eile, sondern mit ge­ nügend Zeit und Ruhe eingenommen sowie ausreichend vorgekaut werden, um Magenbeschwerden zu verhindern. Für die Umsetzung dieser griffigen Essensregeln zeichnete, so ein homöopathischer Arzt bei einem Vortrag in Rohracker, im Übrigen noch immer die Mutter verantwortlich, da schließlich sie „das Wohl und die Gesundheit ihrer Familie in der Hand habe.“225 6.4.2 Ausgleich in der Freizeit und zwischenmenschliche Harmonie „Was haben wir noch für Möglichkeiten, um aus dem Krankheitschaos heraus­ zukommen? Welchen Platz nimmt die Homöopathie im Krankheitsgesche­ hen ein? Ist die Ernährung wirklich der Faktor, auf den es allein ankommt?“ Diese rhetorisch und durchaus kritisch gemeinten Fragen richtete der Heildiä­ tetiker Wystron im April 1953 an sein Publikum in Reutlingen.226 In ihnen schwingt eine spürbare Unsicherheit mit, wie auf die nach dem Zweiten Welt­ krieg grundlegend veränderten sozioökonomischen und ­kulturellen Bedin­ gungen und vor allem auf das gewandelte Krankheitspanorama adäquat zu reagieren sei. Auffallend und regelrecht zeittypisch ist, dass Wystron in sei­ nem Vortrag die Bedeutung der Ernährungsweise, der in den 1920er und 1930er Jahren ja noch der Hauptanteil bei der Entstehung von Gesundheit oder Krankheit zugeschrieben wurde – Stichwort „vitales Leben“ (Fritzen) – in Frage stellte. Nicht sicher war er sich, ob eine naturgemäße Lebensweise ausreiche, um der negativen exogenen Einflüsse der modernen Lebensge­ wohnheiten Herr zu werden. Wystron beantwortete seine eingangs gestellte 219 HM 85 (1960), S. 165. 220 IGM/Varia 376, 13. April 1973. 221 Ein Schlenzbad ist ein Vollbad, bei dem die Wassertemperatur anfangs der Körpertem­ peratur des Fieberkranken bzw. Badenden entspricht. In den folgenden 20 bis 40 Minu­ ten wird stetig heißes Wasser hinzugegossen, so dass sich die Temperatur des Wassers auf 40 bis 42 Grad Celsius erhöht. Durch die ebenfalls steigende Körpertemperatur sollen Selbstheilungskräfte aktiviert, Tumorzellen zerstört und Gewebeschlacken verbrannt werden. Vgl. Vogel (1991), S. 542 ff. 222 IGM/Varia 529, 27. Februar 1970. 223 IGM/Varia 375, 10. Oktober 1963. 224 HM 85 (1960), S. 89 f. 225 IGM/Varia 75, 10. Februar 1968. 226 IGM/Varia 486, 21. April 1953.

280 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) Frage dahingehend, dass eine naturgemäße, vitamin­ und rohkostreiche Er­ nährung im oben umrissenen Sinne zwar wichtig sei, es aber in gleichem Maße auf einen geregelten „Tages­ und Nacht Ausgleich“, die „richtige At­ mung sowie „den Aufenthalt in der freien Natur“ ankäme, wenn Erkrankun­ gen effektiv vorgebeugt werden sollten.227 Dieser Ansicht, waren auch viele andere Redner, Ärzte wie Laien, die in den einzelnen homöopathischen Laienvereinen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Vorträge hielten oder in den Homöopathischen Monatsblättern einschlägige Artikel publizierten. Wie andere prominente Fürsprecher, etwa die Deutsche Olympische Gesell­ schaft („Goldener Plan“ von 1959228) oder später der Deutsche Sportbund („Trimm­Dich­Bewegung“ ab 1970229), beklagten sie zum einen den allgemei­ nen Bewegungsmangel, der typisch sei für die gegenwärtige übertechnisierte Gesellschaft: Das lange Sitzen oder Stehen am Arbeitsplatz sowie die zuneh­ mende Motorisierung des alltäglichen Lebens führen aufgrund der einseitigen Beanspruchung des Muskel­ und Bewegungsapparates zu Haltungsschäden, denen es durch Sport oder Gymnastik „entgegenzuarbeiten“230 gelte, denn: „Bewegung ist Gesundheit“231. Den Mitgliedern wurden folglich als „sehr gute vorbeugende Heilungsmittel im Anfälligkeitsfalle […] Spaziergänge und ausgedehnte Wanderungen“232 nahegelegt sowie ganz allgemein leichte Betä­ tigungen (wie Schwimmen, Radfahren, Langlauf, maßvolle Gartenarbeit233) in sauerstoffreicher Umgebung. Auch organisierten manche Laienvereine regel­ mäßig Gymnastikkurse für Frauen234 und botanische Wanderungen, die beide ebenfalls der körperlichen Betätigung dienten. Später, als die Anschaffung ei­ nes Automobils auch der Mittel­ und Unterschicht möglich war, kam der Rat hinzu, im Alltag nach Möglichkeit auf dessen Gebrauch als alleiniges Fortbe­ wegungsmittel zu verzichten. Denn: „Viel Bewegung ist dringend notwendig. Man solle es sich zum Grundsatz machen, jeden Weg, den wir zu Fuß gehen können, nicht zu fahren, auch in der Freizeit ausgedehnte Spaziergänge [zu] unternehmen.“235 Im Rahmen einer vielseitigen Bewegungstherapie empfahlen die Redner bzw. Autoren ihrem Laienpublikum zum anderen das möglichst häufige Ver­ weilen in einer sauerstoffreichen Umgebung. Der wesentliche Zweck dieses Ratschlags lag zwar vornehmlich in der Flucht vor der mit Auto­ und Indus­ trieabgasen verpesteten Stadtluft, die man – in Verbindung mit dem Lärm der „Baumaschinen“ und dem „nervenschädigende[n] Krach der Mopeds“236  – 227 228 229 230 231 232 233

IGM/Varia 486, 21. April 1953. Balbier (2007), S. 64. Zur Trimm­Dich­Bewegung siehe ausführlich: Dilger (2008). MLNH 105 (1980), S. 217; MNLH 105 (1980), S. 24. IGM/Varia 375, 18. April 1959. IGM/Varia 375, 18. April, 1964. IGM/Varia 375, 15. November 1958; IGM/Varia 376; IGM/Varia 528, 26. April 1964; IGM/Varia 376, 15. Mai 1971; IGM/Varia 529, 7. Dezember 1979. 234 IGM/Varia 374, 25. November 1950. 235 IGM/Varia 528, 9. Mai 1969; ähnlich: IGM/Varia 75, 5. Mai 1973. 236 IGM/Varia 376, 18. November 1972.

6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis

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als hochgradig gesundheitsschädigend einstufte. Neben dem Aufsuchen einer ruhigen, frischluftreichen Umgebung, das für sich genommen schon eine prä­ ventive Praktik war, spielte hierbei auch die bewusste Aufnahme von Sauer­ stoff – die „richtige Atmung“ – eine wichtige Rolle. Gerade im Winter käme es durch den Mangel an Bewegung an der frischen Luft zur Ablagerung von Stoffwechselschlacken in den Geweben, „wodurch Katarrh, Rheumatismus und Entzündungen entstehen können“237. Solchen Krankheiten gelte es durch „einen vernünftigen Einsatz der Luft­Heilkräfte“238, also durch tiefes Aus­ und Einatmen, vorzubeugen. Auch entledige sich der Körper darüber der Stoff­ wechselgifte, die im Blut als Gase zirkulieren und die Entstehung der eben genannten Krankheiten begünstigen würden (Summierung). Das bewusste und reinigende Atmen sei damit also „ein natürliches Mittel gegen vielerlei Erkrankungen“239. Darüber hinaus wurde zu täglichen Atemübungen, wie etwa durch die Nase ein­ und anschließend lange durch den Mund ausatmen, geraten, um das „unregelmäßige, oberflächliche und verkrampfte Atmen des Alltags [zu] vermeiden“240. Mehrfache Erwähnung fand zudem die Bedeutung der Psyche für das in­ dividuelle Wohlbefinden: Der moderne Mensch sähe sich von hektischen Zeiterscheinungen, von Schnelllebigkeit und Entfremdung bedroht, die alle­ samt sowohl die körperliche als auch die seelische Einheit in ihrer Ausgewo­ genheit gefährdeten. Zu solchen negativen Einwirkungen zählten die profes­ sionellen wie Laienredner vor allem allgegenwärtige soziokulturelle und psy­ chosoziale Einflüsse wie etwa berufliche Überlastung241, nervliche Gereiztheit durch Verkehrsbelastung und „persönliche Nöte allgemeiner Art“242, „das durchlebte Zeitgeschehen“243, Angst vor Kriegs­ und Atomgefahr244, unverar­ beitete Kindheitstraumata245 oder belastende zwischenmenschliche Beziehun­ gen.246 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die schon zitierte Klage eines Laienreferenten, nach der „die Seelen­ und Geisteskräfte des Großstadtmenschen […] durch das nervenaufreibende Tempo vielfach der Verkümmerung preisgegeben“247 würden. Die an die Vereinsmitglieder herangetragenen und gegen psychische Be­ lastungen gerichteten Praktiken fielen recht vielfältig aus und setzten primär auf genügend Erholung, Ruhephasen und Entspannung. Um Nervosität, Über­ belastung und der „Kulturkrankheit“ Kreislaufstörungen vorzubeugen, rieten

237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247

HM 78 (1955), S. 28. HM 78 (1955), S. 29. MLNH 105 (1980), S. 95. MLNH 105 (1980), S. 95. IGM/Varia 377, 18. Oktober 1985. IGM/Varia 376, 23. Oktober 1971. IGM/Varia 374, 19. April 1952. IGM/Varia 375, 2. November 1968. IGM/Varia 377, 27. Februar 1981; IGM/Varia 529, 5. Dezember 1978. IGM/Varia 376, 21. April 1978. IGM/Varia 375, 5. Februar 1955.

282 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) die Experten ihrem Publikum zu Selbsterkenntnis und Zuversicht.248 Ebenso sollten sie einem „übertriebenem Wohlleben“249 entsagen sowie auf die „Scho­ nung vor allen nervenbelastenden Einwirkungen“250 (starke Genussmittel wie Tabak und Alkohol251, berufliche Überbeanspruchung etc.) bedacht sein. Be­ sonders Herzkranken wurde nahegelegt, sich vor „Ärger, Angst und übermäßi­ gen Anstrengungen“252 zu hüten. Als allgemein förderlich könne darüber hin­ aus die „leichte körperliche Beschäftigung gelten, welche zum Nachdenken Anreiz gibt“, ebenso die „Vermeidung von Spannungen zwischen jung und alt“ sowie das Fernhalten „von Einflüssen schlechter Kameraden und Gesell­ schaft“253. Weitere „sehr gute vorbeugende Heilungsmittel sind […] Zerstreu­ ung durch zweckentsprechende Freizeitgestaltung, weg von turbulenten Belus­ tigungen, und Entspannung der belasteten Nerven“254. Ausgedehnte abend­ liche Spaziergänge schüfen Abhilfe bei stressbedingten Schlafstörungen, die Körper und Geist die so dringend benötigte Zeit zur Regeneration raubten. Auch sei es zur Steigerung des seelischen wie körperlichen Wohlbefindens rat­ sam, sich eine positive, lebensbejahende, gleichsam „salutogenetische“ Grund­ einstellung anzueignen, die krankheitsbedingte Beschwerden als Erfahrungszu­ wachs, als Signal zur Vorbeugung oder gar als „Freund“ begreife.255 Kritisch stand man, wie oben ausgeführt, dem Streben nach finanzieller Absicherung und gesellschaftlichem Ansehen gegenüber, das den Alltag vie­ ler Familien präge und generationsübergreifenden Schaden anrichte: Indem beide Elternteile voll berufstätig seien und keine Zeit mehr für Heim und Fa­ milie hätten, käme das häusliche Geborgenheitsgefühl abhanden, das für ein Aufwachsen unter normalen, gesunden Umständen so wichtig sei.256 Ein Heilpraktiker, der in Stuttgart­Wangen einen Vortrag hielt, leitete gar die Dro­ genabhängigkeit von Jugendlichen von der Berufstätigkeit der Eltern ab.257 Ebenso wichtig, so hörte bzw. las man zwischen den Zeilen, sei dieses Gebor­ genheitsgefühl aber auch für die Erwachsenen selbst, denen durch Stress, Hektik und Anonymität („keiner kennt mehr den anderen“258) im Alltag die 248 249 250 251 252 253 254 255

IGM/Varia 75, 11. Mai 1974. IGM/Varia 375, 15. November 1958. IGM/Varia 375, 2. April 1955. IGM/Varia 528, 17. April 1964. IGM/Varia 375, 30. Mai 1959. IGM/Varia 376, 11. Oktober 1974. IGM/Varia 375, 18. April 1964. IGM/Varia 528, 19. Februar 1965. Das Konzept der Salutogenese geht auf den israe­ lisch­amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovskys zurück. Antonovsky ging der Frage nach, welche Bedingungen erfüllt sein müssen damit Gesundheit entstehen kann. Im Mittelpunkt seines Konzepts steht das sogenannte Kohärenzgefühl, das einen Menschen befähigt, auf erlittene Leiden zu reagieren, sie zu verstehen und zu deuten, sie zu bewältigen und ihnen schließlich einen tieferen Sinn beizumessen bzw. sie ins Positive umzukehren. Zur Salutogenese siehe ausführlich: Stein (2011); Brunnett (2009), S. 84 ff.; Kickbusch/Hartung (2014), S. 216 ff. 256 IGM/Varia 375, 13. Februar 1960. 257 IGM/Varia Rohracker, 12. März 1977. 258 IGM/Varia 529, 27. September 1977.

6.4 Das Gesundheitskonzept in der Praxis

283

Zeit der Erholung und Entspannung sowie die soziale Bindung verloren ginge. Der Verein versuchte daher auch hier bewusst, durch zahlreiche und regelmä­ ßige gesellige Veranstaltungen diesen vermeintlichen Missstand zu kompen­ sieren oder wenigstens abzumildern. Neben den Jubiläen, Dia­ und Heimat­ vorträgen sind vor allem die alljährlichen Weihnachtsfeiern hervorzuheben, die lange Jahre unter dem bezeichnenden Namen „Familienabend“ firmierten und meist in der zweiten Dezemberwoche veranstaltet wurden. Um zu ver­ deutlichen, welche durchaus als vorbeugend zu wertende Bedeutung die Ver­ einsleitung und indirekt auch die Mitglieder diesen Abenden beimaßen, sei kurz aus einem Zeitungsbericht über das „Familienweihnachtsfest“ von 1973 zitiert: „Zwischen den einzelnen Darbietungen war erfreulich zu sehen, wie an den Tischen freundschaftliche Bande wieder erneuert oder neu geknüpft wurden, was das harmonische Zusammengehörigkeitsgefühl der großen Ver­ einsfamilie bestätigte.“259 Der tiefere Sinn einer solchen Veranstaltung er­ schöpfte sich also nicht allein in Zeitvertreib und Unterhaltung. Eine derartig vereinfachende und reduktionistische Sichtweise würde dem sinn­ und identi­ tätsstiftenden Charakter, der von den geselligen Veranstaltungen ausging, nicht gerecht werden. Durch ihre Teilnahme an solchen kurzweiligen Aktivi­ täten hielten die Mitglieder für einige Stunden inne260, entflohen der Anony­ mität des Alltags, knüpften oder stärkten Freundschaften, fühlten sich gebor­ gen und konnten ihre Kräfte regenerieren, derer sie der schnelllebige Alltag beraubte. Mit anderen Worten: Geselligkeit bewirkte „seelischen Ausgleich“ und evozierte positive Gemütsbewegungen, was wiederum die Nerven schone und die Gesundheit fördere.261 Möchte man dem oben umrissenen, zweischichtigen kompensatorischen Gesundheitskonzept, mit dem die Laienhomöopathen theoretisch wie prak­ tisch den pathogenen Faktoren der Moderne widerstehen und die „gestörte Harmonie des Körpers“ wiederherstellen wollten, einen Namen geben, so böte sich der Begriff der klassisch­antiken Diätetik an. Obwohl er innerhalb der homöopathischen Laienbewegung nicht verwendet und zwischen 1950 und 1980 auf Hippokrates bzw. die griechische Antike als Ursprungszeit einer gesundheitsorientierten Lebensweise nur einziges Mal verwiesen wurde262, er­ innern die einzelnen und ständig wiederholten „Vorbeugungsmaßregeln“ in ihrer Gesamtheit stark an die (erst im Mittelalter so genannten) „sex res non naturales“, die Galens pathophysiologischen Vorstellungen zufolge Einfluss nehmen auf die Körpersäfte und damit Gesundheit des Menschen.263 Diese sechs unnatürlichen Dinge – Qualität der Luft und Nahrung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Körperausscheidungen sowie Gemütsbewegun­ gen (förderliche oder schädliche Affekte Zorn, Freude, Angst, Furcht, Traurig­ 259 IGM/Varia 376, 15. Dezember 1973. 260 IGM/Varia 377, 26. Juli 1986; IGM/Varia 528, 26. November 1966; IGM/Varia 376, 21. Oktober 1972. 261 IGM/Varia 375, 18. April 1964. 262 IGM/Varia 375, 21. November 1964. 263 Zur Entstehungs­ und Rezeptionsgeschichte der Diätetik siehe: Melzer (2003), S. 15–44.

284 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) keit, Scham) – müssen in einem ausgewogenen Gleichgewicht zueinander ste­ hen, damit sie gesundheitsförderlich wirken können. Darauf zielten auch die professionellen und Laienredner ab, die in den homöopathischen Vereinen Vorträge hielten und darin nicht, wie oben zur besseren Übersicht dargestellt, einzelne vorbeugende Praktiken wie Ernährung oder kontemplativ wirkende Hobbies herausgriffen, sondern meist auf mehrere Maßregeln gleichzeitig und unabhängig vom eigentlichen Thema eingingen. Als Beispiel mögen zwei Laienvorträge über die Verhütung von Kreislaufstörungen sowie Lebenspflege und Homöopathie genannt werden, die im März und April 1970 im Verein Stuttgart­Wangen gehalten wurden. In ihnen legten die Redner den Vereins­ mitglieder nahe, auf eine mäßige und genussgiftfreie Ernährung und genügend Schlaf zu achten, sich der Sonne auszusetzen und ihren Körper an der frischen Luft zu bewegen, sich zweckmäßig und entsprechend der Witterung zu kleiden und Sport zu treiben als Gegengewicht zur einseitig belastenden Arbeit.264 6.5 Vom Selbsthilfe- zum bloßen Informationsverein? Die Arzneimittellehre als Kernkompetenz des präventiven homöopathischen Selbst Man könnte – angesichts der vielfältigen diätetischen Ratschläge – an dieser Stelle leicht den Eindruck gewinnen, dass sich die homöopathischen Laien­ vereine spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollends vom therapiezentrierten Selbsthilfe­ zum rein präventivmedizinischen Informations­ verein entwickelt haben, denen die Homöopathie nur noch als Namensgeber diente. Ganz von der Hand weisen lässt sich dieser Wandel zwar nicht, dessen Anfänge in die frühen 1920er Jahre zurückreichen, als auch den Laienhomöo­ pathen, inspiriert von den Lebensreformern, allmählich bewusst wurde, dass vorbeugen letztlich effektiver oder „besser“ als heilen sei. Die Verhütung von Krankheiten durch eine richtige, weil naturgemäße Lebensweise wurde breit thematisiert und in Form von Kursen auch praktisch vermittelt, konnte sich aber zu keinem Zeitpunkt, auch nicht während des Nationalsozialismus, durchsetzen. Sie trat der homöopathischen Behandlung von Krankheiten le­ diglich gleichberechtigt an die Seite und erweiterte den therapeutischen An­ satz um primärpräventive Aspekte. Die Annahme, die homöopathische Phar­ makotherapie sei mit der Transformation des Gesundheitskonzeptes und der verbesserten Infrastruktur (Apotheken, Ärzte) zu einer Randerscheinung ge­ worden, greift demnach zu weit und wird der Vereinsrealität nicht gerecht. Dass die Vereinsleitungen und Laienredner an den therapeutischen ho­ möopathischen Elementen ihres multidimensionalen Gesundheitskonzepts festhielten, ist beispielsweise daran zu erkennen, dass in allen näher unter­ suchten Vereinen bei Vorträgen in Frage kommende homöopathische Arznei­ mittel angegeben wurden. Selten kam die Besprechung von körperlichen oder seelischen Befindlichkeitsstörungen ohne Therapievorschläge aus. Der 264 Vgl. IGM/Varia 376, 21. März u. 11. April 1970.

6.5 Vom Selbsthilfe­ zum bloßen Informationsverein?

285

Aufbau der Vorträge war dabei stets dreigeteilt: Wie eh und je thematisierten die Redner zunächst das jeweilige Krankheitsbild, gingen dabei auf deren Ur­ sachen und Symptome ein und widmeten sich anschließend der Vorbeugung mittels naturgemäßer bzw. diätetischer Lebensweise im oben geschilderten Sinne. Abschließend nannten sie mehrere Mittel, die gegen die in Rede ste­ hende Erkrankung eingenommen werden konnten. In manchen homöopathi­ schen Vereinen verlangten die Vereinsmitglieder von der Vereinsführung so­ gar explizit Aufklärung über Verhaltensweisen und angezeigte homöopathi­ sche Medikamente bei bestimmten Krankheiten, etwa einer Grippe. Die ge­ gebenen Ratschläge wurden von denselben dann „eifrig notiert“265 und im Bedarfsfall mit großer Wahrscheinlichkeit auch angewendet. In anderen Laienvereinen nahm man einzelne Vorträge, etwa über „Kinderkrankheiten und spezielle Berücksichtigung der Mittel: Aconit, Belladonna, Camonilla“, zum Anlass, um das darin Gesprochene und Gelehrte zu vervielfältigen und unter den Vereinsmitgliedern zu verteilen.266 Und in Rohracker wünschten sich die Vereinsmitglieder 1957 für den Hausgebrauch ein Verzeichnis der zwölf wichtigsten homöopathischen Arzneimittel, die zuvor in einem Laien­ vortrag über „Erkältungskrankheiten“ aufgeführt wurden.267 Das ist umso auf­ schlussreicher, als im selben Vortrag auch vielfältige Hinweise bezüglich einer vorbeugenden Lebensweise (Kleidung, Ernährung, Gleichgewicht zwischen Arbeit, Ruhe und Schlaf, Schwitzkuren, Tees, Bewegung, Sport) gegeben wur­ den. Sie ebenfalls in einer Broschüre zusammenzufassen und unter den Mit­ gliedern zu verteilen, war offensichtlich nicht nötig. Der Bedarf an gebündel­ ten Informationen zum Thema Selbsthilfe im Krankheitsfall, den früher die Arzneimittelhersteller Schwabe und Madaus mit ihren Vortragstexten deck­ ten, bestand also noch immer. Erst der in den Siebzigern einsetzende Boom der Gesundheitsratgeber und später das Internet machten das Verteilen von Infobroschüren überflüssig.268 Dass die Vereine und besonders ihre Mitglieder der homöopathischen Selbstmedikation noch immer wesentliche Bedeutung beimaßen, wenn es um die Bewältigung drohender oder bereits ausgebrochener Erkrankungen ging, wird aber noch anderweitig deutlich: Um seine Mitglieder theoretisch in Sa­ chen homöopathischer Arzneimitteltherapie zu schulen und zu bilden, veran­ staltete der Homöopathische Verein Nattheim 1960 und nochmals 1968 einen durchschnittlich von 30 Mitgliedern besuchten Kurs, der einmal zehn, das andere Mal sechs Abende umfasste. Auf Grundlage von Emil Rehms Homöo­ pathischem Laienbrevier wurden an jedem Abend jeweils zwei der homöopathi­ schen Mittel Aconit, Belladonna, Calcium, Kalium, Bryonia, Nux vomica und Lycopodium besprochen. Am letzten Abend fand dann ein Repetitorium statt, das den Mitgliedern die Möglichkeit gab, das Gelernte zu rekapitulieren 265 266 267 268

IGM/Varia 74, 5. März 1955; IGM/Varia 27. Oktober 1957. IGM/Varia 522, 4. Dezember 1960. IGM/Varia 74, 26. Januar 1957. Zu den Vortragstexten und Rednerdiensten beider Firmen siehe S.  202, insbesondere Anm. 901.

286 6. Die homöopathische Laienbewegung im Dienste der Volksgesundheit (1950–1970) und zu festigen. Mit der homöopathischen Pharmakotherapie machte auch der Verein Rohracker seine Mitglieder vertraut, allerdings auf andere Art und Weise: 1959 führte die Vereinsleitung eine von den Homöopathen Dr. Block und Dr. Unseld geleitete achtwöchige Arzneimittelprüfung durch, an der 14 Männer (44–66 Jahre) und vier Frauen (40–60 Jahre) teilnahmen. Die Pro­ banden bekamen von Dr. Unseld Sulfur D3 verabreicht und zusätzlich den Auftrag, während der Untersuchungszeit jeden Tag einen Bericht über ihre Befindlichkeit anzufertigen. Die Arzneimittelprüfung hatte den tieferen Zweck, die Laienhomöopathen darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht wie bei der noch immer äußerst kritisch beäugten allopathischen Symptom­ behandlung einfach nur darum gehe, sich irgendwelche giftigen Tabletten ein­ zuwerfen. Homöopathisch heilen bedeutet stattdessen, so die Botschaft, inne­ zuhalten, sich selbst und seine Beschwerden zu erkennen, sich intensiv mit den individuellen körperlichen Beschwerden auseinanderzusetzen und auf Grundlage der Erkenntnisse die entsprechenden Mittel auszuwählen. Damit wurde das Prinzip des gesundheitsstiftenden äußeren Gleichgewichts, der diä­ tetischen Lebensführung in gewisser Weise auf das Körperinnere übertragen: Auch der erkrankte Körper musste in seiner fragilen Gesamtheit (Umwelt) berücksichtigt, seine inneren Leiden erkannt und in ihrer Diversität (patho­ gene Faktoren) verstanden werden, um entsprechend reagieren und die Be­ wältigung von Krankheit (auf das Gegenteil, nämlich Gesundheit, abzielende Maßnahmen) einleiten zu können. Während die Schulmedizin Krankheiten nur bekämpfe, begreife die Homöopathie physisch­psychische Befindlich­ keitsstörungen als Versuch des Körpers, die gestörte Harmonie bzw. das verlo­ rene Gleichgewicht wiederherzustellen.269 Homöopathie war damit mehr als eine bloße Pharmakotherapie. In Erweiterung um Diätetik und Vorbeugung entwickelte sie sich spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Art Lebensphilosophie270, die den Homöopathen zu einer bewussteren Körperwahrnehmung befähigt. Die Wertschätzung der homöopathischen Arzneimitteltherapie im Krank­ heitsfall bedeutete gleichwohl nicht, dass schulmedizinische Maßnahmen kei­ nesfalls in Anspruch genommen werden sollten. Im Gegenteil, der Allopathie solle nicht gänzlich entsagt werden, wird sie doch vor allem wegen ihrer dia­ gnostischen und technischen Möglichkeiten gebraucht. Deshalb wird „Der echte Homöopath […] einen gebrochenen Knochen durch den Chirurgen einrichten, er wird einen eingedrungenen Fremdkörper entfernen lassen, er wird aber die Knochen­ u. Wundbehandlung durch Arzneimittel wie Sym­ phytum, Arnica, Silicea usw. unterstützen“271. Einen „echten Homöopathen“ zeichnet statt starrem Dogmatismus die Fähigkeit aus, situationsabhängig die jeweils richtige Therapieform auszuwählen. In akuten Fällen konnte das durchaus ein chirurgischer bzw. intensivmedizinischer Eingriff sein, lediglich die medikamentöse Langzeitbehandlung sollte nicht der materialistischen 269 IGM/Varia 529, 16. März 1990. 270 Vgl. Jeserich (2010). 271 IGM/Varia 529, 5. November 1974; IGM/Varia 529, 13. Februar 1976.

6.5 Vom Selbsthilfe­ zum bloßen Informationsverein?

287

„Laboratoriums­ und Ratten­Medizin“272 und ihren chemisch­synthetischen, nebenwirkungsreichen Arzneimitteln überlassen bleiben. Denn die „homöo­ pathische Medizin […] unterstützt die Selbstregulation des Körpers, es kommt zum Aufbau einer wirksamen körpereigenen Abwehr.“273 Das sei ihr eigentli­ cher Mehrwert gegenüber der Schulmedizin oder Allopathie, die ja dem Na­ men nach nur gegen das singuläre Symptom, nicht aber im ganzheitlichen Sinne gegen die mannigfachen Disharmonien im Körper gerichtet ist. Dass man die Schulmedizin und ihre Methoden nicht grundsätzlich ab­ lehnte, zeigt sich auch an der veränderten Haltung gegenüber dem heiklen Thema Impfen: Auffallend ist, dass in Vorträgen, in denen es um „Impfgesetz­ gebung und Impffragen“ oder „Pockenschutz­ und Diphtherieschutzimpfung“ ging, immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass gegen das Impfgesetz nicht angegangen werde274 oder man niemals jemanden dazu auffordern würde, sich nicht impfen zu lassen.275 Die Vereinsmitglieder und interessier­ ten Zuhörer wurden „in keiner Weise zum Ungehorsam gegen die bestehen­ den Gesetze aufgefordert“, was „besonders zu vermerken“ sei.276 Zwar berich­ teten die Vortragenden durchaus kritisch über die „Gefährlichkeit und Schäd­ lichkeit der Impfungen“, schließlich lebe der Mensch nur einmal auf Erden277, öffentlich gegen die bis 1975 noch immer verpflichtende Pockenschutzimp­ fung oder gegen Impfungen im Allgemeinen protestieren (und so den Unwil­ len der Gesundheitsbehörden auf sich ziehen) wollte man aber doch nicht. Weder in Fellbach, wo von Impfungen als „Dummheit und ein Verbrechen deren Gefahren man nicht kennt“278 gesprochen wurde, noch in Reutlingen, wo man sich 1957 dezidiert gegen die Polioimpfung aussprach und „voll­ kommen“279 ablehnte, da der Impfstoff noch nicht erprobt und die Impfung demnach risikobehaftet sei. So könnten Kinder nach dem Impfen beispiels­ weise „einen auffallenden Knick in der geistigen Entwicklung“ erleiden.280 Ein generelles Impfverbot erging vom Verein Reutlingen jedoch keines: Die Eltern der in Frage kommenden Kinder sollten sich lediglich gut überlegen, „was sie tun wollen“281. Die homöopathischen Vereine agierten also auch hier als Aufklärer „im Dienste der Volksgesundheit“, der die prinzipielle Mündig­ keit der Vereinsmitglieder betonte und seine primäre Aufgabe darin sah, sie über gesundheitsschädliche Einflüsse und entsprechende Gegenmaßnahmen in Kenntnis zu setzen.

272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

IGM/Varia 528, 8. Februar 1963. IGM/Varia 529, 13. Februar 1976. IGM/Varia 522, 29. Juli 1961. IGM/Varia 528, 8. Januar 1959. IGM/Varia 522, 5. November 1960. IGM/Varia 528, 8. Januar 1959. IGM/Varia 69, 15. Januar 1960. IGM/Varia 486, 20. Mai 1957. IGM/Varia 528, 5. Mai 1961. IGM/Varia 486, 15. Mai 1957.

7. „Homöopathie in unserer modernen Zeit“1 – Die homöopathische Laienbewegung auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit (1970–2008) Um 1970 ist die Transformation des von den Laienhomöopathen vermittelten Gesundheitskonzepts, die in den Zwanzigern begann, weitgehend abgeschlos­ sen; das kurative Selbst ist zu Gunsten des präventiven Selbst in den Hinter­ grund getreten: Ging es in den homöopathischen Vereinen und Zeitschriften bis 1914 hauptsächlich um Aufklärung und um die Behandlung von verschie­ denen Krankheiten mit homöopathischen Medikamenten, also um Krank­ heitsbewältigung, verschob sich der Schwerpunkt nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend in Richtung Krankheitsvorsorge. Die homöopathische Pharma­ kotherapie spielte in Vorträgen und Zeitschriftenartikeln zwar noch immer eine große Rolle. Wichtiger als die Wiederherstellung von Gesundheit war aber fortan die prinzipielle Verhütung von Krankheiten. Die in den 1920er und 1930er Jahren von Staat und Wirtschaft gleichermaßen geforderte „Pflicht zur Gesundheit“ wurde auch von den Laienhomöopathen aufgegriffen und in zahlreichen Vorträgen und Kursen propagiert, einerseits um den immer deut­ licher hervortretenden Zivilisationskrankheiten zu begegnen und andererseits um den vermeintlich siechen Volkskörper zu heilen. Im Zentrum dieser neuen Vorbeugungslehre standen eine fleischarme und stattdessen vollwertige ge­ müse­, obst­ bzw. vitaminreiche Ernährung sowie gymnastische Übungen. Während des Nationalsozialismus änderte sich an diesen Ratschlägen nichts Grundlegendes, fügten sie sich doch nahtlos in die auf Erhaltung und Steige­ rung der Arbeitskraft ausgerichtete NS­Gesundheitspolitik ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr der Gedanke der vorbeugenden Lebensweise dann eine substanzielle Erweiterung: die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch (chronisch) krank wird, hing nicht mehr allein von seiner Ernährungsweise, sondern zusätzlich vom Zustand der ihn umgebenden Umwelt ab. Und die war, nicht nur in der zivilisations­ und kulturkritischen Wahrnehmung der Laienhomöopathen, per se gesundheitsgefährdend. So seien Luft, Gewässer und Nahrungsmittel von Industrie­ und Autoabgasen, chemischer Düngung und synthetischen Zusatzstoffen erheblich belastet, gesundheitsschädlich und krebserregend. Hinzu kämen die Schnelllebigkeit der Moderne, mangelnde Bewegung aufgrund der Motorisierung und Technisierung der Produktions­ und Arbeitsabläufe, der alltägliche Stress in Beruf und Freizeit. Alle diese Faktoren würden die „Harmonie des Körpers“ und der Seele stören, sie aus ihrem natürlichen Gleichgewicht bringen und letztlich die Entstehung von somatischen und psychosomatischen Krankheiten begünstigen. Als Gegen­ maßnahme setzten die Laienhomöopathen auf eine diätetische Lebensweise, mit der die schädlichen Einflüsse kompensiert und das Gleichgewicht wieder­ hergestellt werden sollte. An die Seite von vitamin­ und rohkostreicher Ernäh­ rung und Gymnastik, um die sich zwischen 1925 und 1945 die präventiven 1

IGM/Varia 529, 25. April 1974.

7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

289

Ratschläge im Wesentlichen drehten, traten Ausleitung der Giftstoffe durch Entschlackung, Aufenthalt in sauerstoffreicher Umgebung, Ausgleich und eine anregende Freizeitgestaltung, genügend Schlaf und Harmonisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Gebetsmühlenartig wiederholten die Redner, Laien ebenso wie Heilpraktiker oder Ärzte, diese Selbsttechniken und festigten dadurch das präventive Selbst ihrer Zuhörer. Hinzu kam die obligatorische Angabe von homöopathischen Arzneimitteln, die beim jeweili­ gen Krankheitsbild eingenommen werden konnten und die sich an das kura­ tive Selbst der Vereinsmitglieder richtete. Daran sollte sich, zumindest inhalt­ lich, bis heute nichts ändern; die ganzheitliche Wahrnehmung, Gesunderhal­ tung und Behandlung des Körpers steht auch gegenwärtig im Vordergrund der Vorträge und informativen Veranstaltungen. Was sich jedoch um 1970 geändert hat, sind die Rahmenbedingungen, unter denen die kurativen wie präventiven Selbsttechniken sowohl in den Vereinen als auch innerhalb der Gesellschaft vermittelt und angenommen wurden – und noch immer werden. Diesem Wandel soll in den folgenden beiden Kapitel ausführlich nachgegan­ gen und dabei überprüft werden, inwieweit die homöopathische Laien­ als alternativmedizinische Bewegung in der gegenwärtigen Gesundheitsgesell­ schaft aufgegangen ist. 7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihre quantitativen Auswirkungen auf die Laienbewegung Auffallend ist, dass fast alle Schriftführer in den Protokollbüchern der näher untersuchten Vereine nach 1970 rückläufige Mitgliederzahlen und ein man­ gelndes Interesse2 unter den (noch) nicht ausgetretenen Laienhomöopathen konstatierten. In Stuttgart­Wangen beklagte man beispielsweise, dass die jün­ gere Generation im Verein ausblieb.3 Ähnlich äußerte sich auch der Schrift­ führer in Rohracker. Er brachte die Sorge um das fehlende „Mittelalter“4 so­ gar auf lyrische Weise zum Ausdruck: „Doch um den Fortbestand sich nie­ mand kümmert, was sich von Jahr zu Jahr verschlimmert. Die Jugend wir zu sehr vermissen, sie will von uns einfach nichts wissen.“5 Ähnlich, wenngleich nüchterner, lesen sich die Klagen auch in den anderen Vereinsprotokollen. Der Tenor bleibt dabei derselbe und erweckt den Eindruck, dass die homöo­ pathische Laienbewegung, nachdem sie 1965 mit rund 5.200 Mitgliedern und 63 Vereinen6 ihren vorläufigen quantitativen Höhepunkt erreichte, mit einem dauerhaften Bedeutungsverlust zu kämpfen hatte. Ein Blick in die Verbands­ statistiken bestätigt diesen Verdacht: Am 31. Dezember 1983 waren in den 2 3 4 5 6

So etwa der Verein Hürben, dessen Schriftführer monierte, dass das Interesse „leider in den meisten Vereinen zu wünschen übrig“ lasse (IGM/Varia 523, 20. Januar 1973). IGM/Varia 376, 30. Januar 1971. IGM/Varia 376, 4. Oktober 1978. IGM/Varia Varia 75, 13. Januar 1973. Baschin (2012), S. 223. Baschin bezieht sich auf: HM 91 (1966).

290

7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

42 Zweigvereinen der Hahnemannia insgesamt nur noch 3.902 Laienhomöo­ pathen organisiert. Die absolute Mitgliederzahl brach demnach um 25 % ein, wohingegen die Zahl der homöopathischen Vereine um ein Drittel zurück­ ging.7 Die meisten von ihnen lösten sich auf oder fusionierten, wie der Verein Hürben, mit einem anderen, nahegelegenen Laienverein.8 Um den Abwärts­ trend aufzuhalten war man sich zwar einig darüber, „daß eine Wende herbei­ geführt werden“9 und verstärkt Werbung betrieben werden, die Frauengrup­ pen wiederbelebt10 oder die ungebrochen populäre Naturheilkunde berück­ sichtigt werden müsse.11 An der konsequenten Umsetzung oder dem Erfolg dieser Vorhaben haperte es aber vielerorts. Den sukzessiven Rückgang der absoluten Mitglieder­ und Vereinszahl konnten die Maßnahmen jedenfalls nicht abwenden. Angesichts dieser negativen Entwicklung stellt sich nun die Frage nach den genauen Gründen des Mitglieder­ und Vereinsschwunds. Zu berücksichti­ gen ist die Tatsache, dass viele langjährige Mitglieder aus Altersgründen aus den Vereinen schieden oder gestorben sind. Damit allein kann der Abwärts­ trend aber nicht erklärt werden, denn diese Austritte waren „natürlich“, sie gab es zu allen Zeiten. Nach 1970 konnten die vakanten Plätze jedoch nicht mehr durch neu eintretende Mitglieder ausgeglichen wurden. Und das ob­ wohl sich an der grundlegenden Problematik krankmachender Umweltein­ flüsse und überall lauernder Gesundheitsgefahren, die nach einer ganzheit­ lich­vorbeugenden Lebensweise verlangen, nichts geändert hatte. Geändert hatte sich um 1970 allerdings das politische Selbstbewusstsein bzw. die politi­ sche Mobilisierung vieler Bundesbürger, was indirekt dazu beitrug, dass die homöopathischen Laienvereine an Attraktivität und Daseinsberechtigung ver­ loren. Bereits in den Sechzigern und vollends in den Siebzigern prägte sich eine „politische Kultur der Teilhabe“12 aus: der Einzelne beteiligte sich an der In­ nen­, Außen­ und Kommunalpolitik nicht mehr nur durch Abgabe seiner Wählerstimme, sondern ging auf die Straße, demonstrierte öffentlich gegen das globale nukleare Wettrüsten und für Pazifismus, engagierte sich für Nach­ haltigkeit und Umweltschutz, für die Gleichberechtigung von Frauen, Schwu­ len und Lesben, besetzte als einfacher Bürger oder Freiburger Student wie im südbadischen Whyl das Baugelände eines geplanten Atomkraftwerks13 oder

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IGM/Varia 350, Mitgliederstand vom 31.12.1983. Die Laienhomöopathen in Hürben, 1970 nur mehr 22 an der Zahl, traten im Mai 1974 geschlossen dem fünf Kilometer entfernten Verein Giengen an der Brenz bei, der zur selben Zeit etwa 100 Mitglieder zählte. Dabei wurde vereinbart, dass die Laienhomöopa­ then aus Hürben ihre Bibliothek behalten durfte und der Verein Giengen einmal pro Jahr einen Vortrag in Hürben halten musste (IGM/Varia 523, 26. April 1974). IGM/Varia 523, 21. März 1970. IGM/Varia 376, 10. Januar 1975. IGM/Varia 523, 21. März 1970. Schildt (2009), S. 365. Conti (1984), S. 162 f.

7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

291

als radikaler Autonomer Häuser in Berlin und Hamburg.14 Aus diesen neuar­ tigen Protest­ und Partizipationsformen gingen Neue Soziale Bewegungen15, alternative Milieus und Akteure hervor, deren „Meinungen, Einstellungen und Werte sich in prononciert eigenen sozialen Formen zur Geltung brachten und auf die Gesellschaft als Ganzes einwirkten.“16 Christoph Conti beschreibt das Resultat dieses Prozesses folgendermaßen: Ein ‚ökologisches Bewußtsein‘ verbreitete sich: die Überzeugung, daß weiterer Raubbau an der Natur die Zukunft der Menschen selbst gefährden [sic]; daß man zurückkehren müsse zu einer Produktions­ und Konsumweise, die sich an den Naturkreisläufen orien­ tiert. Die Überzeugung wirkte auch auf die Lebensgewohnheiten vieler Sympathisanten der Umweltschutzbewegung zurück: man bemühte sich um eine gesunde Ernährung, entwickelte Ansätze eines ‚biologischen‘ Bauens und Wohnens, veränderte Konsumge­ wohnheiten im Sinne eines ‚einfacheren Lebensstils‘, ging weniger verschwenderisch mit den Dingen um.17

In die öffentliche Diskussion um politische, soziale und ökologische18 Alter­ nativen mischte sich zudem die Kritik an einer zunehmend technisierten und chemisch­synthetischen Medizin19  – stellvertretend für zahlreiche ähnliche Abhandlungen sei an Ivans Illichs mehrfach aufgelegte „Nemesis der Medi­ zin“ (1975), Kurt Langbeins „Bittere Pillen“ (1983) oder Fritjof Capras „Wen­ dezeit“ (1983) erinnert. In deren Gefolge suchten viele Menschen nach alter­ nativen, sanften und ganzheitlichen Heilmethoden. Die Laienhomöopathen mit ihrer vehementen Zivilisationskritik und langjährigen Bemühungen um eine mäßige, naturgemäße und Lebens­ und Heilweise konnten hieran an­ knüpfen. Nicht nur traten sie bereits seit den 1950er Jahren für ein „ökologi­ sches Bewußtsein“ und den Schutz der Umwelt ein. Sie propagierten ebenso in unzähligen Vorträgen und ähnlichen Veranstaltungen den Verzehr möglichst unbehandelter und frischer Nahrungsmittel, den Aufenthalt in sauerstoffrei­ cher Natur fernab des Großstadttrubels und ganz allgemein die Berücksichti­ gung gesundheitsfördernder Lebensgewohnheiten. Die Schnittmenge zwi­ schen homöopathischer Laien­ und neuer Alternativbewegung war also be­ sonders groß. Genau darin lag aber das Problem, denn ökologisch denken, bewusst leben und natürlich heilen waren fortan keine Alleinstellungsmerk­ male einer sozialen Minderheit mehr, sondern wurden langsam Allgemein­ gut.20 Wer sich für derartige Themen interessierte, ähnliche Positionen vertrat oder entschlossen war, sich auch öffentlich sichtbar vom unreflektierten Main­ stream zu distanzieren, der musste nicht mehr zwingend in einen homöopa­ 14 15 16 17 18

Vgl. Schildt (2009), S. 365–374. Vgl. Brand/Büsser/Rucht (1983); Ahlemeyer (1989); Klein/Legrand/Leif (1999). Schildt (2009), S. 365. Conti (1984), S. 163. Zur noch jungen Historiographie der Umweltbewegungen siehe: Düselder (2014); Herr­ mann (2013); Radkau (2002, 2011); Uekötter (2007, 2012); Winiwarter/Bork (2014). 19 Siehe hierzu ausführlich: Porter (2000), S. 686–708. 20 Vgl. Fritzen (2006), S. 337. Fritzen spricht in diesem Zusammenhang von „Allgemein­ gut“ und meint damit, dass die Lebensreform mit ihren Zielen und Forderungen in der Mitte der Gesellschaft angekommen und damit überflüssig geworden sei.

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7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

thischen oder anderen Gesundheitsverein eintreten. Um dort bei „flotter“21 oder „pikanter“22 Tonbandmusik spießigen Familienabenden beizuwohnen oder sich bei Fachvorträgen gesellschafts­ und medizinkritische bzw. alterna­ tivmedizinische Informationen einzuholen, die mittlerweile entweder allge­ mein bekannt oder auch anderswo abrufbar waren. Es sei noch einmal Conti zitiert, um zu unterstreichen, wie stark die lebensreformerischen und alter­ nativ(medizinisch)en Überzeugungen und Forderungen der Laienhomöopa­ then bereits in den 1980er Jahren in der Mitte der Gesellschaft Verbreitung gefunden haben: Die Großindustrie entzieht […] den Menschen die Lebensgrundlagen. Erde, Luft, Was­ ser sind chemisch verseucht, Nahrungsmittel werden gesundheitsschädlich, körperfeind­ liche Arbeits­ und Lebensbedingungen gefährden die Gesundheit. […] Biologisch ange­ baute Nahrungsmittel, natürliche Heilmethoden, Kräutertees und Müsli sollen den alter­ nativen Menschen helfen, sich so gesund wie möglich zu erhalten. Jede mittlere Stadt hat inzwischen [1984] ihre alternativen Bioläden, kaum eine Landkommune greift zu Kunst­ dünger und chemischen Pflanzenschutzmitteln. Die Adressen homöopathischer Ärzte kursieren in der Szene, das Vertrauen in die Schulmedizin schwindet mehr und mehr. Natur stellt in der ökologisch beeinflußten Alternativkultur der letzten Jahre wieder ei­ nen Eigenwert da [sic], die Körper sollen ‚naturgemäß‘ leben.23

In den 1970er Jahren aus Bürgerinitiativen und politischer Protestkultur her­ vorgegangenen Alternativbewegungen, deren Akteure sowohl für eine natur­ gemäße Lebens­ als auch Heilweise einstanden, wird demnach die Hauptursa­ che zu suchen sein, weswegen die homöopathischen Laienbewegung nach 1970 zusehends an Mitgliedern verlor. An den regelmäßigen Vereinsver­ sammlungen und ­veranstaltungen nahm nach wie vor ohnehin nur ein relativ niedriger Prozentsatz teil, in Stuttgart­Wangen waren es zwischen 1950 und 2000 etwa 40 % der im Verein organisierten Laienhomöopathen. Warum also sollten, überspitzt gefragt, die restlichen 60 %, die das Vereinsangebot sowieso nicht wahrnahmen, weiterhin Beiträge bezahlen, wenn sie auch außerhalb des Vereinslokals dessen Inhalte beziehen konnten? Materielle Vorzüge wie Ra­ batte, den Bezug von Arzneimitteln oder medizinischer Utensilien hatte eine Mitgliedschaft schließlich nicht mehr. Die Abwanderung der pragmatisch ein­ gestellten Laienhomöopathen und das Ausbleiben von Nachwuchs infolge mangelnder Attraktivität bzw. Exklusivität waren die Folge. Konkurrenz erwuchs den homöopathischen Laienvereinen darüber hin­ aus noch von ganz anderer Seite. Setzte schon in den 1950er Jahren der als „Familiarisierung“ charakterisierte Rückzug ins modernisierte Private und Häusliche24 ein, so wurde dieser neue „Strukturwandel der Öffentlichkeit“25 (Wehler) mit der raschen Verbreitung des Massenmediums Fernsehen einge­ leitet bzw. beschleunigt: „Der Aufstieg des neuen audiovisuellen Mediums schuf eine neue Erlebnisdimension, eine gewaltige Vermehrung fiktionaler fil­ 21 22 23 24 25

IGM/Varia 376, 13. Januar 1973. IGM/Varia 376, 8. Januar 1972. Conti (1984), S. 182. Schulz (2005), S. 42 f.; Schildt (2009), S. 189 ff. Wehler: Bundesrepublik (2010), S. 397.

7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

293

mischer Angebote und der Möglichkeiten, sich über ferne und nahe Welten nicht nur informieren, sondern gleichzeitig zugehörige Bilder auf sich wirken zu lassen.“26 Doch gerade das Audiovisuelle der Fach­ und Kulturvorträge war einer der Hauptgründe, weswegen die Mitglieder bisher in die Vereinslokale strömten. Die Untermalung des Vorgetragenen mit farbigen Wandtafeln, fili­ granen anatomischen Modellen oder später auch das Vorführen von Impres­ sionen der Jahresausflüge waren besonders beliebt. Vergleichbares bot sich den Laienhomöopathen im Alltag bislang nicht oder nur sehr selten. Das än­ derte sich mit der von Axel Schildt als „kulturelle Revolution im Frieden“27 bezeichneten Transformation der Rundfunk­ zur Fernsehgesellschaft. Sie wurde, wie die zunehmende Motorisierung der Familie, ermöglicht durch Verbilligung und Ratenfinanzierung. Waren 1957 bei der Bundespost gerade einmal eine Million Fernsehapparate angemeldet, verfünfzehnfachte sich diese Zahl innerhalb der nächsten 13 Jahre.28 Unterhaltsame und informie­ rende Berichte über verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens standen nun auch innerhalb der eigenen vier Wände zur Verfügung. Der Fernseher stellte bald den Mittelpunkt des familiären Lebens dar, um ihn gruppierten sich allabendlich die Familienmitglieder; er eröffnete den Blick in ferne Län­ der und Kulturen, so wie es noch einige Jahre und Jahrzehnte zuvor die ver­ einsinternen Lichtbildervorträge taten. Dass sich diese Entwicklung nun auch auf die homöopathischen Laienvereine und die Inanspruchnahme von deren Angeboten auswirkte, geht aus Vereinsregistern sowohl unmittel­ als auch mit­ telbar hervor. Der Schriftführer des Vereins Nattheim bemerkte beispiels­ weise, der Teilnehmer eines Familienabends hätte sein „Kommen bzw. den entgangenen Fernsehabend“ nicht bereuen müssen, schließlich sei ihm „wirk­ lich Kurzweiliges, Sehens­ und Hörenswertes“ geboten worden.29 Konkret meinte er damit die Musikbeiträge des hiesigen Zitherbunds, des Jugendor­ chesters, der „Schrammelgruppe“, mehrere humorvolle Vorträge, den Lose­ verkauf und die Aufführung des Theaterstücks „Der tote Mann“ von Hans Sachs. Mittelbar lässt sich die nachlassende Zugkraft audiovisueller Kulturvor­ träge wiederum anhand der langfristigen Entwicklung der Besucherzahlen in Stuttgart­Wangen festmachen. Zwar erfreuten sich Bild­ und Tonbildvorfüh­ rungen bis weit in die Achtziger hinein großer Beliebtheit, Besucherzahlen über 300 und überfüllte Vereinssäle waren keine Seltenheit. 1983 schaffte der Verein deswegen sogar einen neuen Projektor an, der dem Stand der Technik entsprach.30 Nach und nach ebbte das Interesse an derartigen Darbietungen aber ab. In den Neunzigern erschienen nur noch wenige Dutzende Mitglieder zu Diavorträgen über Reiseerlebnisse oder ferne Länder, obgleich 1990 noch

26 Schildt (2009), S. 199; vgl. auch: Wehler: Bundesrepublik (2010), S. 394–399. 27 Schildt (2009), S.  197. Ausführlicher zur Geschichte des deutschen Fernsehens siehe: Hickethier (1998). 28 Schildt (2009), S. 197. 29 IGM/Varia 529, 18. November 1978. 30 IGM/Varia 376, 4. Januar 1983.

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7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

allgemein beklagt wurde, es werde zu wenig Unterhaltendes geboten.31 Diese Kritik ist insofern von einiger Aussagekraft als sie verdeutlicht, dass die Mit­ glieder von ihrem Verein offensichtlich immer genau das erwarteten, was ih­ nen außerhalb des Vereins nicht geboten wurde. Reagierten die Vereine nicht oder nur unzulänglich auf die Bedürfnisse, so konnte dies die Abwanderung der Mitglieder zur Folge haben. Der Rückgang der absoluten Mitgliederzahlen nach 1965 war indessen nicht dauerhaft. Während die homöopathische Laienbewegung 1975 mit etwa 4.000 Mitgliedern ihren quantitativen Tiefpunkt erreichte, entspannte sich die Situation in den folgenden fünfzehn Jahren zwar, blieb aber weitgehend un­ verändert. Immerhin konnten in dieser Zeit die Mitgliederverluste durch Aus­ tritt oder Tod ausgeglichen werden. Ein nennenswerter Anstieg der Mitglie­ derzahlen setzte allerdings erst Anfang der 1990er Jahre ein.32 Bis 2008 er­ reichte die Laienbewegung mit 5.300 den höchsten Mitgliederstand seit Ende des Zweiten Weltkriegs.33 Da sich die näheren Gründe dieses Anstiegs nur bedingt aus den Vereinsregistern erschließen lassen, muss abermals der gesell­ schaftliche Kontext erörtert werden, um nachvollziehen zu können, warum nach 1992 den homöopathischen Laienvereinen wieder größere Aufmerk­ samkeit entgegengebracht wurde. In den Siebzigern entstand den Laienhomöopathen mit der Ökologie­ und Alternativbewegung insofern ein Konkurrent, als die Akteure dieser Be­ wegung ganz ähnliche Inhalte und Ziele propagierten. Der Unterschied war, dass von jenen Akteuren eine weit größere Breitenwirkung ausging. Es gelang ihnen, breite Kreise der Bevölkerung anzusprechen, während von der Arbeit der homöopathischen Laienvereine meist nur wenige Interessierte und Leser der Monatsblätter oder Lokalzeitungen, sofern sie darüber berichteten, Notiz nahmen. Die Folge war, dass eine Mitgliedschaft in einem Homöopathiever­ ein, gerade für jüngere Menschen, im gleichen Maße unattraktiv wurde, wie Gesundheits­ und Umweltbewusstsein gesellschaftliches „Allgemeingut“34 wurden. Bergauf ging es erst wieder, als der ideologisch aufgeladene Gedanke eines ökologisch bewussten Lebens in den 1990er Jahren zunehmend an Be­ deutung verlor.35 Stärker in den Mittelpunkt rückte fortan der individuelle Körper, den es nicht nur im Einklang mit der Natur gesund zu erhalten, son­ dern mittels Fitness, Wellness und einer gesundheitsorientierten Lebensfüh­ rung zu verbessern und zu optimieren galt.36 Der Vorsatz, gesund zu leben, löste den ökologisch­alternativen Lebensstil allmählich ab und entwickelte sich zu einer Art modernem Lifestyle, mit dem man sich vom Mainstream 31 IGM/Varia 377, 20. Januar 1990. 32 Vgl. IGM/Varia 350. Gesamtmitgliederstand Ende 1992: 4.382, organisiert in 48 Zweig­ vereinen. 33 Über die Mitgliederbewegung seit 2000 erhielt ich Auskunft von der Präsidentin der Hahnemannia Ingrid Maier­Regel. Nach einer entsprechenden Anfrage übermittelte sie mir die unveröffentlichten Zahlen per E­Mail. 34 Fritzen (2006), S. 397. 35 Vgl. Fritzen (2006), S. 329 ff. 36 Wolff (2010), S. 178.

7.1 Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

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abgrenzen konnte.37 Besonderer Beliebtheit erfreuten sich daher all jene An­ gebote, die das Bedürfnis nach Wellness und Fitness bedienten. Immer mehr Anbieter von alternativen Gesundheitsprodukten und ­dienstleistungen dräng­ ten auf den sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesundheitsmarkt.38 Al­ ternativmedizin war plötzlich gefragt wie nie zuvor39, wovon – wenn auch nur in bescheidenem Maße – auch die homöopathische Laienbewegung profitie­ ren konnte. Mit dem Eintritt in einen Laienverein konnte das Interesse an al­ ternativen Heilmethoden befriedigt und zugleich ausgedrückt werden, dass man ein gesundheitsbewusstes Leben führt, achtsam mit seinem Körper um­ geht, alternativmedizinischen Heilverfahren offen und der Schulmedizin zu­ mindest kritisch gegenüber steht. Insofern änderten sich auch die Ansprüche an das Vereinsprogramm, das sich – wie wir im nachfolgenden Kapitel sehen werden – nun stärker als zuvor an den vielfältigen ganzheitlichen Interessen der Mitglieder und weniger an Vorbeugung und Zivilisationskritik orientierte. Doch auch dieser Erfolg war zeitlich begrenzt: seit 2008 verliert der Dach­ verband homöopathischer Vereine erneut Mitglieder, was sowohl am man­ gelnden Nachwuchs und an der Überalterung der Mitgliederstruktur als auch an der Auflösung einzelner Vereine liegt.40 Innerhalb von nur sieben Jahren sank die absolute Mitgliederzahl auf knapp 4.100; ein Wert, der zuvor in den späten 1950er41 und dann wieder in den frühen 1980er Jahren erreicht wurde. Die Gründe für den jüngsten Mitglieder­ und zugleich Bedeutungsverlust sind jedoch nicht in gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auszumachen, son­ dern in der Bewegung selbst zu suchen. Glaubt man Studien und Befragun­ gen, die der Alternativmedizin im Allgemeinen und Homöopathie im Beson­ deren ungebrochene Popularität bescheinigen42, so fällt auf, dass die Laienho­ möopathen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Die Tendenz der Über­ alterung kann nicht mit dem Zugewinn jüngerer Mitglieder ausgeglichen werden, wofür im Wesentlichen eine verfehlte Öffentlichkeitsarbeit verant­ wortlich gemacht werden muss. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Bewegung just in dem Moment sukzessive an Mitgliedern verliert, als soziale Medien und die digitale, multimediale Massenkommunikation ihren Siegeszug antra­ ten. Das starre und auf klassische Formen der Wissensvermittlung setzende Vereinsmodell geht seither nicht mehr mit den Lifestyleansprüchen der jünge­ 37 38 39 40

Günter/Römermann (2002), S. 283; Fritzen (2006), S. 330. Vgl. Schnürer (2002), S. 93; Treiber (2004); Wolff (2010), S. 181. Schnürer (2002), S. 129. Laut der Auskunft der ehemaligen Hahnemannia­Präsidentin Ingrid Maier­Regel lösten sich zwischen 2008 und 2014 neun homöopathische Laienvereine auf. Drei weitere kün­ digten ihre Mitgliedschaft. Als Beispiel für den damit verbundenen Mitgliederverlust sei der Homöopathische Verein Stuttgart­Wangen genannt, dem zum Zeitpunkt seiner Auf­ lösung (Ende 2008) noch knapp 80 Mitglieder angehörten. Ihr Durchschnittsalter betrug ca. 80 Jahre, an eine Fortführung der Vereinsgeschäfte war aufgrund der mangelnden Beteiligung und des nachlassenden Interesses an den Angeboten nicht mehr zu denken (IGM/Varia 378, 5. Dezember 2008). 41 Baschin (2012), S. 223. 42 Etwa: Identity Foundation (2000), S. 18 f.; Sombre (2014).

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7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

ren Homöopathienutzer konform, weswegen die Vereine trotz ungebrochener Beliebtheit der homöopathischen und anderen alternativen Heilmethoden erneut mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben. 7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen Die Mitgliederbewegung der homöopathischen Laienbewegung verlief in zyk­ lischen Bahnen. Dem raschen Aufstieg in der Nachkriegszeit  – die Hahne­ mannia konnte ihre Mitgliederzahl in knapp 15 Jahren von 2.500 auf mehr als 5.000 Laienhomöopathen verdoppeln  – folgte nach 1970, als die zentralen Themen und Anliegen in die Gesamtgesellschaft diffundierten, ein Mitglie­ dereinbruch. Erst der sich in den 1990er Jahren abzeichnende „Gesundheits­ boom“, der die Nachfrage nach alternativen und gesundheitssteigernden Pro­ dukten begünstigte, bescherte manchen homöopathischen Laienvereinen ei­ nen neuerlichen Anstieg ihrer Mitgliederzahlen. Absolut gesehen erreichte die Zahl der Laienhomöopathen, die über ihren Verein der Hahnemannia angehörten, im Jahr 2008 den höchsten Stand seit Ende des Zweiten Welt­ kriegs. Seither verliert der Dachverband wieder sukzessive an Mitgliedern. Soweit die Rekapitulation der quantitativen und an die gesamtgesellschaft­ lichen Rahmenbedingungen rückgebundene Entwicklung der homöopathi­ schen Laienbewegung seit 1970. Es stellt sich nun die Frage, wie die Bewe­ gung intern auf diese quantitativen Schwankungen und sozio­ wie medikalkul­ turellen Akzentverschiebungen reagierte und ob und inwieweit sie sich ihnen anpasste. Angesichts der noch immer starken Tendenz zur Kontinuität liegt die Vermutung nahe, dass ihre Anpassungsfähigkeit nicht sonderlich ausge­ prägt war. 7.2.1 Individuelle Gesundheitsförderung statt kollektiver Krankheitsverhütung: Die Weiterentwicklung des laienhomöopathischen Gesundheitskonzepts Wegen der hohen Anschlussfähigkeit an zeitgenössische Strömungen behiel­ ten die Laienhomöopathen nach 1970 ihr diätetisches Kompensationskonzept bei. Es fällt jedoch auf, dass sowohl aus den Veranstaltungs­ und Vortragspro­ tokollen als auch aus den homöopathischen Monatsheften der bislang gebets­ mühlenartig wiederholte zivilisationskritische Impetus verschwand oder zu­ mindest stark zurückging. Nur noch vereinzelt und hauptsächlich von Heil­ praktikern wird darauf hingewiesen, dass man nicht zum Sklaven „von Auto, Fernseher, Genußgiften wie Alkohol, Tabak und Schlaf­ wie Beruhigungs­ tabletten“43 werden solle oder dass Hetze das Leben vergifte.44 Das bedeutet wiederum nicht, dass ökologische oder sozioökonomische und ­kulturelle 43 IGM/Varia 529, 8. Mai 1981. 44 IGM/Varia 529, 5. Juni 1987; IGM/Varia 376, 18. April 1980.

7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen

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Missstände überhaupt nicht mehr im Zusammenhang mit den zu ergreifen­ den Ratschlägen und Gesundheitspraktiken thematisiert worden wären. Es fehlte allerdings die fortwährende Betonung der omnipräsenten Risiken für die physische und psychische Unversehrtheit, die der Alltag in einer beschleu­ nigten, motorisierten, technisierten und anonymisierten Lebenswelt mit sich bringt. Auch das Paradigma der schleichenden Intoxikation durch Umwelt­ gifte und die deshalb notwendige Entschlackung des Körpers verloren an Be­ deutung und fanden nur noch gelegentlich Erwähnung. Nach einer Phase der Auf­ und Ablehnung haben sich die Laienhomöopathen bis zu einem gewis­ sen Grad mit der Pathogenität der Moderne, die den Arzt­ und Laienrednern zufolge die Harmonie des Körpers und der Seele störe, offenbar abgefunden. Statt wie in den beiden Jahrzehnten zuvor ständig aufs Neue die gesundheits­ gefährdende „toxische Gesamtsituation“ zu beschwören und anzuklagen, fo­ kussierten sie verstärkt die bewährten diätetischen und naturgemäßen Selbst­ techniken und Praktiken der Krankheitsverhütung. So konzentrierte sich bei­ spielsweise ein Laienredner in seinem 1989 gehaltenen Vortrag über „Nerven­ schwäche“ in alter Manier auf die Erklärung der physiologisch­anatomischen Grundlagen sowie der entsprechenden medizinischen Termini und gelangte daran anknüpfend zur Feststellung, dass überreizte Nerven schuld seien an neurologischen und organischen Funktionsstörungen. Im zweiten Teil seines Vortrags widmete er sich daran anknüpfend ausführlich der diätetischen Vor­ beugung solcher Störungen mittels gesunder und mäßiger Ernährung, Bewe­ gung an der frischen Luft und eines ausreichenden Schlafpensums. Ferner wies er auf die Bedeutung der Einhaltung eines geregelten Tagesablaufs hin, mahnte Freundlichkeit im Umgang mit den Mitmenschen und eine optimisti­ sche Grundhaltung im Hinblick auf Zukunftsangelegenheiten an. Abschlie­ ßend nannte er noch einige homöopathische Arzneimittel und Entspannungs­ übungen wie Autogenes Training oder Meditation.45 Kritik am überkultivier­ ten Habitus der modernen Gesellschaft, die zwischen 1950 und 1970 fester Bestandteil solcher Vorträge war, übte er hingegen gar keine. Es ist kein Zufall, dass das Verblassen (nicht gänzliche Verschwinden) der Thematisierung von zivilisations­ oder umweltbedingten Risikofaktoren mit dem Aufstieg der Ökologie­ und Neuen Sozialen Bewegungen zusammenfällt. Zivilisations­ und Kulturkritik und die Notwendigkeit von Alternativen wurde in den 1970er und 1980er Jahren öffentlichkeitswirksam von den sich etablie­ renden ökologischen und alternativmedizinischen Strömungen geäußert und dadurch allmählich im kollektiven Bewusstsein verankert. Der homöopathi­ schen Laienbewegung war dadurch eines ihrer Hauptthemen der vergange­ nen zwei Jahrzehnte genommen. Um sich gegen die „Konkurrenz“ behaupten zu können, erweiterte die Laienbewegung ihr bislang auf Krankheitsbewälti­ gung ausgerichtetes Spektrum um Aspekte der gezielten Gesundheitsförde­ rung. Sie reagierte damit auf ein sich wandelndes „Mensch­Umwelt­Verhält­ nis“, das persönliche Gesundheit und Entwicklung, genügend Freizeit und die Möglichkeit der kulturellen Entfaltung gegenüber den materiellen Statussym­ 45 IGM/Varia 529, 17. Februar 1989.

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7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

bolen der Nachkriegszeit aufwertete.46 Im Mittelpunkt der Vortragspraxis sollte fortan nicht länger die Kompensation von unvermeidlichen, allseits be­ kannten und noch von anderen Akteuren thematisierten Risiken einer (chro­ nischen) Erkrankung stehen, sondern die Erhaltung und Steigerung des indi­ viduellen Wohlbefindens. In einen Jahresbericht des Vereins Stuttgart­Wangen heißt es dementsprechend, der Verein habe 1981 den Mitgliedern eine reiche Palette von Möglichkeiten geboten, „um sich Kenntnisse über die Gesunder­ haltung anzueignen.“47 Ein 1979 in Nattheim gehaltener und gut besuchter Arztvortrag mit dem aussagekräftigen Titel „Fit bleiben, in jedem Lebensalter – durch richtige Le­ bensführung, Ernährung und Geistespflege“ vermittelt wiederum einen Ein­ druck, aus welchen Elementen diese Palette bestand: In besagtem Vortrag ging es in ganzheitlichem Sinne um den Gleichklang von Körper, Geist und Seele, der Grundvoraussetzung von Gesundheit und Fitness sei. Erreicht wer­ den könne dieser Zustand etwa durch Kneippsche Wasseranwendungen, Fuß­ und Armwechselbäder, kalte Waschungen, durch vielfältige Formen der Be­ wegung und des regen Sauerstoffaustauschs wie Spazierengehen, Wandern, Radfahren, Langlauf und durch ausreichend Ruhe und Schlaf. Ebenso sei, so die Rednerin weiter, auf eine einfache rohkostreiche und fleischarme Ernäh­ rung und eine positive Lebenseinstellung zu achten, um Körper und Geist gesund und leistungsfähig zu erhalten.48 Ganz ähnlich fielen auch die „Anre­ gungen und Ratschläge für unsere Gesundheit“ aus, die den Laienhomöopa­ then in Nattheim im Mai 1981 im Rahmen eines Lichtbildervortrags über Gesundheitspflege mitgeteilt worden sind. Auch hier bildete eine gesundheits­ fördernde, natürliche und ausgeglichene Lebensweise den Tenor.49 Diätetik diente also nicht länger nur der Vorbeugung von Erkrankungen, sondern der gezielten Steigerung des physischen wie psychischen Wohlbefindens und als Anregung für eine aktive und abwechslungsreiche Freizeitgestaltung, die sportliche Betätigung mit dem Aufenthalt in der freien Natur verband. Ein knappes Jahr später wiederholte die Arztrednerin ihren leicht abgewandelten, ebenfalls gut besuchten und intensiv diskutierten Vortrag, wobei sie den „Weg zu gesunder Nervenkraft durch Kneipp und Atem­Therapie mit praktischen Atemübungen“50 in den Mittelpunkt stellte. Dabei erläuterte sie ausführlich die fünf Säulen der Kneipp­Therapie, kam also auf die unterschiedlichen Ar­ ten der sonnen­ und luftgestützten Wasseranwendungen zu sprechen, erläu­ terte die gesundheitsfördernde Verwendung von Heilkräutern wie Melisse, Lavendel, Johanniskraut, Fenchel, Anis und Hopfen und gab zahlreiche Er­ nährungsratschläge. Nicht zu kurz kam die Stärkung der Körperkräfte mittels lockerer Gymnastik, entspannender Gartenarbeit, Schwimmen oder Radfah­ ren. Wie in ihrem Vorjahresvortrag betonte sie zudem die ordnungstherapeu­ 46 47 48 49 50

Kury (2010), S. 245. IGM/Varia 377, 20. Januar 1982. IGM/Varia 529, 7. Dezember 1979. IGM/Varia 529, 8. Mai 1981. IGM/Varia 529, 10. Oktober 1980.

7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen

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tische Bedeutung der Einheit von Körper, Geist und Seele, die am ehesten durch eine positive Lebenseinstellung und das Vermeiden von Neid, Ärger und Streit garantiert bzw. gewahrt werden könne.51 An diesen gesundheitsför­ dernden Praktiken und Selbsttechniken, die sich insgesamt gesehen weniger an Kneipp und mehr an einer diätetischen Lebensführung orientierten, sollte sich bis heute nichts Grundlegendes ändern. In den nachfolgenden Jahrzehn­ ten wurden in den homöopathischen Vereinen ähnliche Vorträge gehalten und in den Monatsheften der Verbandszeitschrift entsprechende Artikel pub­ liziert, denen die Zuhörer und Leser Tipps zur Erhaltung und Steigerung der Gesundheit durch eine ganzheitliche, gesundheitsbewusste und bewegungs­, schlaf­ und harmoniereiche Lebensgestaltung entnehmen konnten. Im Kontext der Gesunderhaltung und ­förderung sind auch diejenigen Angebote zu sehen, die nicht primär der körperbezogenen Wissensvermitt­ lung dienten, dennoch für das seelisch­geistige Wohlbefinden der Vereinsmit­ glieder eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Obwohl an den traditionellen geselligen Veranstaltungen wie Ausflügen, Wanderungen sowie stets zahlreich besuchten Familien­ und Weihnachtsfeiern festgehalten wurde, veränderte sich nach 1970 deren Funktion. Stärker als zuvor rückte sowohl die Bedeu­ tung sozialer Bindungen als auch der Aspekt der Zerstreuung in den Mittel­ punkt der geselligen Veranstaltungen, was wiederum als Versuch gewertet kann, die zunehmende Anonymisierung im zwischenmenschlichen Bereich wenigstens kurzzeitig zu kompensieren. Darauf deuten jedenfalls einige Ein­ träge in den Protokollbüchern hin, beispielsweise die Bemerkung der Laien­ homöopathen in Stuttgart­Wangen, dass bei Vorträgen nur Stühle aufgestellt seien und deshalb die Unterhaltung zu kurz käme.52 Oder die Beliebtheit der „Gartenhocks“53 bzw. Sommerfeste, bei denen man alte Bekannte treffen, Er­ innerungen austauschen und für einen Nachmittag den Alltag vergessen kön­ ne.54 Auch kurzweilige Filmvorträge böten den Mitgliedern die Möglichkeit, neue Impulse und einen Lichtblick im grauen Alltag zu erhaschen.55 Das un­ gebrochen große Interesse an Vergangenem und Traditionellem  – in Form von Heimatkundevorträgen56 oder gemeinsam mit dem Trachtenverein veran­ stalteten Familienabenden57 – spricht ebenso dafür, dass sich die Mitglieder in ihrer Freizeit nicht mit dem gegenwärtigen Alltag beschäftigen wollten. Dem hektischen und lauten Treiben außerhalb des Vereinslokals setzen sie stim­ mungsvolle Zithermusik58, züchtige Theateraufführungen59 und „Volkslieder­ 51 52 53 54 55 56

IGM/Varia 529, 10. Oktober 1980. IGM/Varia 376, 17. Januar 1975. IGM/Varia 529, 7. August 1994. IGM/Varia 376, 9. August 1980; IGM/Varia 377, 26. Juli 1986. IGM/Varia 376, 21. Oktober 1972. IGM/Varia 376, 30. November 1979; IGM/Varia 376, 16. Januar 1980; IGM/Varia 377, 19. November 1982; IGM/Varia 377, 27. Januar 1995. 57 IGM/Varia 529, 15. November 1980; IGM/Varia 529, 15. November 1986. 58 IGM/Varia 529, 7. Dezember 1997. 59 IGM/Varia 377, 30. Januar 1988. Das unbekannte Theaterstück fiel bei den Mitgliedern durch. Es sei zu obszön gewesen.

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singen“60 entgegen. Die nach wie vor regelmäßig veranstalteten Ausflüge61 und selbst die botanischen Wanderungen dienten ebenso dem „Tapetenwech­ sel“ sowie der Regeneration und Pflege sozialer Kontakte. Und damit letztlich der Wahrung des körperlich­seelischen Gleichgewichts, das ja fortwährend von den alltäglichen psychosozialen und sozioökonomischen Belastungen be­ droht sei.62 Nicht unerwähnt soll bleiben, dass man bei geselligen Anlässen in der Tat nicht die Kost verachtete und stattdessen auch dem leiblichen Wohl zusprach. Bei Wanderung und Zusammenkünften mit anderen Vereinen ver­ zehrten die Laienhomöopathen Bier, Gegrilltes, Landjäger sowie Kaffee und Kuchen.63 Lebensgenuss und Gesundheitsbewusstsein standen also auch nach 1970 nicht in Widerspruch. Der Fokus auf Gesundheitsförderung, Selbstreflexion und Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und anderen sowie die 1974 erfolgte Umbenennung der Verbandszeitschrift in Modernes Leben, natürliches Heilen (MLNH) können als Reaktion auf einen „Trend zum Natürlichen“64 und ein „erhöhtes Gesund­ heitsbewusstsein“65 verstanden werden. Der Materialismus der Nachkriegs­ und Konsumgesellschaft geriet zunehmend ins Hintertreffen, Gesundheit und Freizeit avancierten zu den neuen Statussymbolen einer naturbewussten Zivil­ gesellschaft. Mit dezidiert naturheilkundlichen Vorträgen, in denen die Ho­ möopathie eine nur noch nebensächliche Rolle spielte, versuchten die Laien­ homöopathen von dieser Trendwende zu profitieren und dadurch einem wei­ teren Rückgang der Mitgliederzahlen entgegenzusteuern. Ihre Bemühungen waren jedoch nur mäßig erfolgreich, denn wie gezeigt wurde konnte die Laienbewegung den um 1970 erlittenen Mitgliedereinbruch allenfalls aufhal­ ten und weitere Verluste durch Tod oder Abwanderung ausgleichen. Erst in den 1990er Jahren, als alternativmedizinische Heilverfahren und der damit verbundene ganzheitlich­alternative Lifestyle einen regelrechten Boom erleb­ ten, erreichten die Mitgliederzahlen für kurze Zeit erneut das Niveau von 1965. Das bedarf der Erklärung, denn aus dem bisher Gesagten erschließt sich nicht unmittelbar, warum die Laienbewegung aus dem um 1990 einset­ zenden regen Interesse an Homöopathie und anderen alternativen Heilver­ fahren Nutzen ziehen konnte.

60 IGM/Varia 529, 9. November 1985. 61 Dabei war man nicht mehr zwingend auf ein Busunternehmen angewiesen, sondern konnte Ausflüge mehrmals im Jahr und relativ spontan als „Autowanderung“ mit dem eigenen PKW veranstalten (IGM/Varia 529, 28. Juni 1986). 62 IGM/Varia 376, 18. März 1978. 63 IGM/Varia 529, 17. Juni 1984; IGM/Varia 529, 6. September 1987; IGM/Varia 529, 19. Juni 1988. 64 IGM/Varia 529, 23. April 1982. Schon ein knappes Jahr zuvor notierte der Vereins­ schriftführer ins Protokollbuch, dass man spüre, „daß natürliche Lebens­ und Heilweisen langsam wieder Fuß fassen“ (IGM/Varia 529, 30. Januar 1981). 65 IGM/Varia 377, 18. Oktober 1987.

7.2 Vereinsinterne, inhaltliche Entwicklungen und qualitative Veränderungen

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7.2.2 Heilpraktiker als Vortragsredner: Notwendiges Übel oder Bereicherung? Der Rückgang der Mitgliederzahlen in den 1970er und 1980er Jahren hatte sinkende Zuhörerzahlen bei Vorträgen zur Folge, weswegen sich immer weni­ ger professionelle Redner in den Vereinslokalen einfanden. Zudem gestaltete sich die Finanzierung von Vorträgen schwierig, da mit den sinkenden Beiträ­ gen auch weniger Geld zur Verfügung stand. Um die Vortragspraxis als Haupt­ instrument der vereinsinternen Wissensvermittlung dennoch aufrechterhalten zu können, war man stärker als zuvor auf das Engagieren von Heilpraktikern angewiesen. Diese trugen, wie weiter oben bereits angedeutet, in besonderem Maße alternative und bisweilen auch parawissenschaftliche Heilpraktiken in die Vereine. Das führte wiederum zu einem regelrechten Tabubruch, denn bislang wurde in Vorträgen und Zeitschriftenartikeln neben Homöopathie lediglich die Naturheilkunde und gelegentlich die Biochemie besprochen. Einige Beispiele sollen genügen, um die Verwässerung der Laienhomöopathie mit derartigen Praktiken zu veranschaulichen, denen die homöopathischen Laienvereine in früheren Zeiten aus Furcht vor Verunglimpfung und negativer Berichterstattung wohl kaum ein Podium geboten hätten. Mit der „Akupunktur als Ordnungstherapie“66 machte der Heilpraktiker Schlotterer die Laienhomöopathen in Stuttgart­Wangen bereits im November 1974 vertraut. In seinem Vortrag gab er zunächst einen Überblick über die Traditionelle Chinesische Medizin und erläuterte anschließend die Bedeu­ tung von deren beiden Prinzipien Yin und Yang. Das übergeordnete Ziel der chinesischen Medizin – und wohl auch der Grund, warum er überhaupt da­ rüber berichtetete – sei die Herstellung oder Wiederherstellung eines seelisch­ körperlichen Gleichgewichts. 1987 war die Akupunktur in abgewandelter Form erneut Thema in Stuttgart­Wangen. Eine Heilpraktikerin referierte über die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem Laien entwi­ ckelte „Akupunktur des Westens“, die nach ihrem Erfinder benannte Baun­ scheidttherapie. Bei diesem Verfahren wird die Haut mit Nadelstichen ge­ reizt, anschließend mit Öl eingerieben und abgestrichen, wodurch eine Ent­ giftung des Körpers erreicht werden solle.67 Während sich die Akupunktur im Laufe der Jahrzehnte allmählich etab­ lieren und verbreiten konnte und den Weg in den Leistungskatalog etlicher Krankenkassen fand, fristen die Baunscheidttherapie und andere alternative Heilverfahren auch heute noch ein Schattendasein. So etwa die als nebenwir­ kungsfrei angepriesene „Ozon­Therapie“68, die Frisch­ und Trockenzellenkur oder die Regenerations­ bzw. Serumtherapien nach Wiedemann und Asan Aslan, mit denen der bereits erwähnte Heilpraktiker Schlotterer die Vereins­ mitglieder in Stuttgart­Wangen im März 1984 in Berührung brachte. Die letz­ ten drei alternativmedizinischen Praktiken waren eingebettet in das überge­ ordnete Thema „Älter werden ohne sich alt zu fühlen“. Ein ausgebildeter 66 IGM/Varia 376, 15. November 1974. 67 IGM/Varia 377, 27. November 1987. 68 IGM/Varia 376, 24. Oktober 1980.

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Rutengänger hielt 1986 in Nattheim einen Vortrag, worin er den Gebrauch verschiedener Wünschelruten erläuterte69 und dabei auf die nachweisliche Schädlichkeit von Wasseradern zu sprechen kam.70 Als hauptberuflicher Elek­ tromeister klagte er überdies die zunehmende Technisierung und den damit einhergehenden unentrinnbaren Elektrosmog an, dem man in Ruhe­ und Er­ holungsphasen durch Abschalten der Netzteile entgehen solle.71 Solchen „Störfeldern“72 widmete sich ein Jahr später auch der Heilpraktiker Lange­ Schönbeck in Stuttgart­Wangen. Seiner Argumentation zufolge werde die Wir­ kung homöopathischer Arzneimittel durch Impfungen, Infektionskrankhei­ ten, allopathische Medikamente, unnatürliche Ernährung, Hormonbehand­ lungen, Psychopharmaka und Narkosemittel, die Spuren im Nervensystem hinterlassen, gemindert. Ebenso schädlich seien eine unregelmäßige Verdau­ ung, Abgase, Blei, Insektizide, der Gebrauch von Spraydosen und Spülmit­ teln73 und belastende zwischenmenschliche Beziehungen. Lange­Schönbeck führte in seinem Vortrag das Paradigma der überall lauernden Umweltgifte fort und steigerte es im Vergleich zu früher noch einmal dadurch, dass er in ihnen nicht nur eine Gefahr für die Gesundheit, sondern ebenso eine Minde­ rung der Chancen auf Heilung sah.74 Die Heilpraktiker selbst nahmen die Vortragsanfragen – so lassen jeden­ falls ihre zahlreichen und über Jahre hinweg gehaltenen Vorträge in Nattheim und Stuttgart­Wangen vermuten – nur allzu bereitwillig entgegen, bot sich ih­ nen doch dadurch ein Forum zur Verbreitung ihrer teils recht eigensinnigen Ansichten und Überzeugungen und zur Patientenwerbung. Bei den Mitglie­ dern der einzelnen homöopathischen Vereine kamen die Heilpraktiker unter­ schiedlich gut an. Sie konnten sich entweder großer Beliebtheit und Zuhörer­ schaft erfreuen und von den Verantwortlichen als „Zugnummer“75 in Ehren gehalten werden, obwohl sie ihre Vorträge in erster Linie dazu nutzten, um Werbung76 für bestimmte Arzneimittel oder ­produkte zu machen. In anderen Vereinen wurde gerade das, nämlich die „Werbung in eigener Sache“, heftig

69 IGM/Varia 529, 13. Juni 1986. 70 Über Wasseradern und die von ihnen ausgehende potenzielle Gefahr für den menschli­ chen Organismus sprach ein Heilpraktiker in Rohracker bereits 1977. Er empfahl den nicht näher erläuterten Einsatz von Aluminiumfolie zur Abschirmung (IGM/Varia 75, 15. Oktober 1977). 71 IGM/Varia 529, 13. Juni 1986. Zu parawissenschaftlichen Phänomenen wie Wasser­ adern und Elektrosmog siehe: Betz (1990); Leitgeb (1990). 72 IGM/Varia 376, 21. April 1978. 73 Mit dem Thema „Chemie im Haushalt und die Möglichkeiten einer bewußten Schutz­ haltung“ beschäftigte sich ein Jahr zuvor schon ein Laienredner (IGM/Varia 377, 25. Ap­ ril 1986). 74 IGM/Varia 377, 21. April 1987. 75 IGM/Varia 75, 26. Februar 1966. 76 Etwa in Rohracker für spagyrische Arzneimittel von Walter Strathmeyer (IGM/Varia 75, 14. November 1964) oder in Stuttgart­Wangen für eine „Bioptron­Lampe“, mit deren Hilfe Funktionsstörungen im Körper therapiert werden können (IGM/Varia 378, 22. No­ vember 2002).

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kritisiert.77 Die Heilpraktiker gerieten aber auch wegen ihrer oft wenig wissen­ schaftlichen Ausführungen und Versprechungen ins Gerede: Als die oben er­ wähnte Heilpraktikerin im November 1987 über die Baunscheidttherapie sprach, befand sich unter den Gästen auch ein am Stuttgarter Robert Bosch Krankenhaus beschäftigter Allgemeinmediziner. Auf die Frage, was er denn von diesem Heilverfahren halte, entgegnete er dem Publikum: „Wer hilft hat recht“. Im privaten Kreis ließ er allerdings verlauten, dass man mit solchen Vorträgen die Homöopathie kaputt mache.78 Auch andernorts nahm man die Ausführungen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern mit Skepsis auf und stellte sie sogar in Frage, wenn sie den neusten wissenschaftlichen Er­ kenntnissen zuwiderliefen. Das war der Fall in Nattheim, wo ein Heilpraktiker im September 1992 seine Zuhörer anlässlich eines Vortrags über „Metalle als Heilmittel“ darüber aufklärte, dass Aluminium ungiftig sei. Die Schriftführe­ rin beanstandete diese Ansicht und verwies auf Untersuchungen, die im Ge­ hirn von Alzheimererkrankten hohe Aluminiumkonzentrationen nachweisen konnten.79 Losgelöst vom Kontext kann dieser Einwand überdies als Hinweis verstanden werden, dass die Vereinsmitglieder, zumindest teilweise, als ge­ sundheitskompetente Bürger ihr Wissen über den Körper und seine Funktions­ weise auch aus anderen Quellen schöpften und sich nicht allein auf die mitun­ ter fragwürdigen Ausführungen der Redner verließen. Ähnlich äußerte sich auch der ehemalige Vorsitzende des Laienvereins Stuttgart­Wangen Manfred Glemser in einem Anfang 2014 geführten Zeitzeugeninterview. Glemser äu­ ßerte sich mir gegenüber dahingehend, dass sein Verein mit vortragenden Heilpraktikern nicht sonderlich glücklich gewesen und man ihnen ausgewi­ chen sei. Sie hätten ihre Dienste oft aus Profitgier angeboten und zudem nur über dürftiges Wissen verfügt. Aus Mangel an Alternativen sei man letztlich aber gezwungen gewesen, sie dennoch als Redner zu engagieren, um weiter­ hin Vorträge organisieren zu können. Auf Verbandsebene war man sich dieses Dilemmas ebenso bewusst und versuchte daher, versierte und verlässliche Redner in Eigenregie auszubilden, um sich weniger in Abhängigkeit von Ärzten und Heilpraktikern zu begeben. Eigens zu diesem Zweck wurden von den einzelnen Bezirken Arzneimittel­ kurse80 und sogenannte Mitgliederschulungen oder Fortbildungsseminare in verschiedenen Städten organisiert, letztere nachweislich ab 1985.81 Um die Teilnahme an diesen mehrtägigen und mitunter weit entfernten Aus­ und Wei­ terbildungskursen zu fördern, gewährten manche Vereine ihren Mitgliedern 77 78 79 80 81

IGM/Varia 377, 30. November 1984 IGM/Varia 377, 27. November 1987. IGM/Varia 529, 20. September 1992. IGM/Varia 529, 13. März 1981. IGM/Varia 529, 11. Januar 1985. Die Mitgliederschulungen und Seminare waren aller­ dings keine Neuerfindung, sondern wurden in ähnlicher Form und mit Inhalten schon in den 1930er Jahren, beispielsweise in Stuttgart­Wangen, angeboten. In einem Bericht über eine im Februar 1937 abgehaltene Tagung des Bezirks Groß­Stuttgart heißt es: „Die Teil­ nehmer der Schulungsabende sollen das Gehörte in den Mitgliederversammlungen wei­ tergeben“ (IGM/Varia 374, 14. Februar 1937).

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einen Zuschuss.82 Im April 1990 fand eine solche Schulung in Laichingen statt, bei der ein homöopathischer Arzt an zwei Tagen verschiedene Krank­ heitsbilder (darunter Grippe, Schnupfen, Kopfweh, Mandelentzündung, Hus­ ten, Fieber, Durchblutungsstörungen, Krampfandern und Rheuma) erläuterte und die teilnehmenden Vereinsmitglieder darüber aufklärte, wie sich der Laie mit Hilfe der Homöopathie selbst helfen könne. Die einzelnen Abhandlun­ gen wurden vom anwesenden Vorsitzenden des Vereins für Homöopathie und Lebenspflege Dettingen per Tonbandgerät aufgenommen und Interessierten anschließend zum Selbstkostenpreis zur Verfügung gestellt.83 Weitere Mitglie­ derschulungen wurden 1992 ebenfalls in Laichingen84 und 1995 sogar in Konstanz85 abgehalten, wobei aufgrund der dürftigen Überlieferung offenblei­ ben muss, ob die Teilnehmer tatsächlich die heimischen Vereinsmitglieder an ihrem erlernten Wissen teilhaben ließen. Dass die Skepsis gegenüber Heilpraktikern nicht in jedem Fall berechtigt war, deren Engagement für die Vereine sogar von Vorteil sein konnte, wird in doppelter Hinsicht am Beispiel des Vereins Nattheim deutlich: Ende Novem­ ber 1986 berichtete die Heilpraktikerin und spätere Präsidentin des Deutschen Verbands für Homöopathie und Lebenspflege „Hahnemannia“ Ingrid Maier­ Regel den dortigen Laienhomöopathen von ihrem Praxisalltag. Weitere The­ men waren sowohl Hahnemanns Organon und die Kent­Methode als auch Phytotherapie, Reflexzonenmassage, Schröpfkuren, Blutegel und Eigenblutbe­ handlungen. Wie ihre oben aufgeführten Kollegen vermischte Maier­Regel Homöopathie und andere, mehr oder weniger bekannte, alternativmedizini­ sche Verfahren.86 Bei den Mitgliedern muss der Vortrag offenbar derart gut angekommen sein, dass sie die Referentin bereits ein Jahr später einstimmig zur neuen Vorsitzenden wählten.87 Unter dem Vorsitz der Heilpraktikerin Maier­Regel blühte der Verein in den Folgejahren auf. Nicht nur hielt sie selbst etliche gut besuchte Vorträge rund um die Themenkomplexe Krankheitsver­ hütung und Gesundheitsförderung, in denen sie verschiedene alternativmedi­ zinische Verfahren und den Gebrauch diverser Hausmittel erklärte88, sondern sie initiierte darüber hinaus die Wiedergründung einer Frauengruppe89, die 82 IGM/Varia 529, 24. Januar 1986. 83 MLNH 115 (1990), S. 238 f. 84 Vgl. IGM/529, 10. Januar 1992. Walter Hess sprach dieses Mal hauptsächlich über „Er­ nährungsfragen“. 85 IGM/Varia 529, 27. Januar 1995. 86 IGM/Varia 529, 28. November 1986. 87 IGM/Varia 529, 2. Oktober 1987. 88 Etwa: „Hilfe bei Erkältungskrankheiten mit Haus­ und homöopathischen Mitteln“, ge­ halten am 27. Januar 1995 (IGM/Varia 529, Datum wie angeben). 89 IGM/Varia 529, 7. Dezember 1988. Der Zweck, den die Frauengruppe verfolgen sollte, war dabei derselbe wie in den 1920er Jahren: „Es soll Gelegenheit sein, sich näher ken­ nenzulernen, Erfahrungen auszutauschen, über Gesundheitsthemen sprechen. Über voll­ wertige Ernährung mehr erfahren auch Verwendung u. Zubereitung.“ Die Frauen über­ nahmen, wie in früheren Jahrzehnten, zudem den Besuch von Kranken. Offenbar wan­ delte sich im Laufe der Zeit jedoch die Funktion dieser Krankenbesuche. 1970 notierte der Schriftführer des Vereins Stuttgart­Wangen noch ins Protokollbuch: „Die Tätigkeit

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Veranstaltung von Krankenpflege­90, Fasten­91 und Entoniekursen.92 Das viel­ fältige und rege Vereinsprogramm bescherte dem Verein in den Folgejahren konstant steigende Mitgliederzahlen. Maier­Regel führte den Vereinsvorsitz mit kurzer Unterbrechung rund 25 Jahre lang, ihr Nachfolger wurde Anfang 2013 Mario Hopp, ebenfalls hauptberuflicher Heilpraktiker. Dass die Laien­ homöopathen die Ablehnung der Heilpraktiker allmählich aufgeben und in ihnen einen kompetenten Partner gefunden haben, zeigt sich indessen auch daran, dass sie heutzutage von vielen Vereinen ganz selbstverständlich als Redner engagiert werden. Insofern muss die kapitelgebende Frage mit „Berei­ cherung“ beantwortet, denn es ist davon auszugehen, dass die homöopathi­ sche Laienbewegung nach 1970 noch weit mehr Mitglieder verloren hätte, hätte sie infolge des Rednermangels die Vortragspraxis einschränken oder aufgeben müssen. 7.2.3 Die Laienbewegung auf dem Weg in die postmoderne Gesundheitsgesellschaft: Medizinischer Eklektizismus statt Homöopathie? Die von allen näher untersuchten Vereinen engagierten Heilpraktiker trugen mit ihren Vorträgen wesentlich zur Öffnung der homöopathischen Laienbe­ wegung gegenüber anderen alternativmedizinischen Verfahren bei, zum Teil schon vor 1970. Bis dahin behandelten die Redner auf kurativer Ebene im Wesentlichen die homöopathische und naturheilkundliche Heilmethode, auf präventiver Ebene orientierten sie sich an den zentralen Inhalten der Lebens­ reform (Ernährung und Körperkultur), in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts dann an den einzelnen Aspekten einer ganzheitlich ausgerichteten Diä­ tetik. In Vorträgen und Zeitschriftenartikeln ging es vielfach um die Identifika­ tion und Kompensation der omnipräsenten gesundheitsschädlichen Einflüsse, denen der moderne Mensch nahezu schutzlos ausgesetzt sei. Als nach 1970 im Zuge der Ökologiebewegung dieses Thema gesamtgesellschaftlich disku­ tiert wurde und zugleich das öffentliche Interesse an Alternativen zu Materia­ lismus, Technizismus und Szientismus wuchs, versuchten die Laienhomöopa­ then diesen Paradigmenwechsel zu ihren Gunsten zu nutzen. Das Klagelied über die Pathogenität der Moderne verstummte allmählich und sollte, wenn der Frauengruppe war still und bescheiden, aber durch aufopfernde Sorge um Kranke, Alte, und Ehrenmitglieder trug sie viel dazu bei, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Vereinsfamilie wesentlich zu stärken“ (IGM/Varia 376, 17. Januar 1970). Davon ist später keine Rede mehr. Karitative bzw. pflegerische Leistungen wurden spätestens in den 1990er Jahren dem Pflegedienst überlassen, die Krankenbesuche dienten in aller Regel nur noch der Anteilnahme am Schicksal des erkrankten Mitglieds. 90 IGM/Varia 529, 5. Januar 1989. An insgesamt fünf Abenden wurden folgende Themen durchgenommen: Umgang mit Kranken, Umgebung und Lagerung, Ernährung, Heben und Höherlegen, Wäschewechsel, Waschen, Hygienemaßnahmen, Verhütung von Se­ kundärerkrankungen aufgrund von Immobilität. Im Winter folgte dann ein Aufbaukurs. 91 IGM/Varia 529, 16. Februar 1993. 92 IGM/Varia 529, 19. April 1991; IGM/Varia, 3. Februar 1995.

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überhaupt, nur noch gelegentlich von den Heilpraktikern angestimmt wer­ den. Mit dem Ausblenden der Ursachen veränderte sich auch die Intention der Wissensvermittlung: Es ging nicht länger um Krankheitsverhütung, son­ dern um Gesundheitsförderung. Auf die aktuellen ökologischen und gesund­ heitlichen Probleme machten mittlerweile andere aufmerksam, hier ließen sich wegen der Konkurrenzsituation keine Mitglieder halten oder werben, was ja gerade in den sinkenden Verbandszahlen offensichtlich wurde. Um den Abwärtstrend aufzuhalten, ging man also dazu über, dem spürbaren „Trend zum Natürlichen“ mit entsprechenden und vielfältigen Angeboten und Inhalten entgegenzukommen. So fasste der Schriftführer des Vereins Stuttgart­Wangen die Generalversammlung von 1984 mit den Worten zusam­ men: „Es war eine gelungene Hauptversammlung […] geprägt vom Willen einer traditionsreichen Vereinsgemeinde die Probleme der Zeit zu erkennen und in ihrem Rahmen darauf einzugehen, das entsprechende Wissen zu vermitteln.“93 Die Heilpraktiker waren, wenn auch nicht ganz freiwillig, ein Teil dieser angepassten Wissensvermittlung und Werbekampagne. Sie bedien­ ten das allgemein gestiegene Bedürfnis nach alternativmedizinischen Heilver­ fahren abseits der Homöopathie und Naturheilkunde, das angesichts der ho­ hen Besucherzahlen und den lebhaft geführten Diskussionen recht groß gewe­ sen sein musste. Die Heilpraktiker waren jedoch nicht die einzigen, die den medizinischen Pluralismus innerhalb der homöopathischen Laienbewegung bzw. Laienvereine vorangetragen haben. An erster Stelle sei an die bereits 1974 erfolgte Umbenennung der Verbandszeitschrift von Homöopathische Monatsblätter in Modernes Leben, natürliches Heilen erinnert. Mit der Umbenen­ nung ging auch eine Erweiterung des Themenspektrums einher, was bereits durch den programmatischen Titel angezeigt wurde. Es ging eben nicht mehr nur um homöopathisches, sondern um „natürliches Heilen“ im Allgemeinen. 1996 ging die homöopathische Verbandszeitschrift schließlich in der seit 1986 ebenfalls monatlich erscheinenden Zeitschrift Natur & Heilen auf, die den Fo­ kus noch stärker auf ganzheitliche, natürliche und mitunter exotische Heilver­ fahren legt, bei Bedarf aber auch schulmedizinische Ansätze miteinbezieht.94 Die Homöopathie spielt hingegen nur noch eine marginale Rolle, die Zeit­ schrift Natur & Heilen versteht sich vielmehr als eine „Monatszeitschrift für gesundes Leben“, nicht für eine bestimmte Heilmethode. Damit ist der medi­ zinische Pluralismus spätestens Ende der 1990er Jahre vollends in der homöo­

93 IGM/Varia 377, 4. Januar 1984. 94 Vgl. NH 77 (2000), S. IV–V. Dem Jahresverzeichnis ist u. a. die Thematisierung folgender Heilverfahren und ­praktiken zu entnehmen: Arnika­Öl, Bewegungs­ und Klangtherapie, Brunnenkresse­Saft, Bockshornklee für Zellfunktion, Entstörungsgeräte gegen Elektro­ smog, Frischkost­Sauerkraut zur Krebsvorbeugung, Fumarsäure gegen Schuppenflechte, Gemüse­Kraft gegen Grippe, Gesundheitskost, Holunder, Indianische Frauenwurzel für Wechseljahre, Johanniskraut, Kalium, Kupfer bei Blutarmut, Magnetfelder bei Arthrose, Meditation bei psychosomatischen Beschwerden, Nasenspülung, Orgon, Papaya, Pfeffer­ minzöl beim Reizkolon, Roggen­Vollkorn gegen Cholesterin, Schwarzrettich für Leber und Galle, Vitamin C bei Krebstherapie.

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pathischen Laienbewegung angekommen, just zu einem Zeitpunkt, als die einzelnen Vereinen wieder einen nennenswerter Zuwachs erfuhren. In den homöopathischen Laienvereinen machte sich Pluralismus indessen nicht nur in Gestalt der referierenden Heilpraktiker oder durch das formal erweiterte Themenspektrum der Verbandszeitschrift bemerkbar. An einem prägnanten Beispiel soll erläutert werden, wie die Grenzen zwischen Homöo­ pathie, Naturheilkunde, Schulmedizin und anderen alternativmedizinischen Verfahren allmählich aufgehoben und die medikale Kultur der homöopathi­ schen Laienbewegung dadurch immer heterogener wurde. Im Frühjahr 1982 widmete sich der Laienverein Stuttgart­Wangen in Zu­ sammenarbeit mit dem Verein Rohracker und den Krankenpflegevereinen Hedelfingen, Obertürkheim, Rohracker, Wangen sowie der Evangelischen Kirchengemeinde Rohracker intensiv dem ungebrochen populären Thema Krebs. Den Anfang der Themenreihe „Krebs. Diagnose und Heilung“ bestritt ein Heilpraktiker. Er referierte über „Chemotherapie und Antibiotika“, wobei er sich zunächst auf die Entwicklung und Fortschritte der Bakteriologie kon­ zentrierte und das Antibiotikum als „Segen für die Menschheit“ wertschätz­ te.95 Bei übermäßigem Gebrauch verliere es allerdings seine Wirkung, da die Viren resistent werden. Im Anfangsstadium sei daher nicht sofort auf die stärksten Medikamente, sondern auf Hausmittel wie Wadenwickel zurückzu­ greifen. Bei Krebs, so der Redner, seien Antibiotika hingegen unverzichtbar.96 Den nächsten Vortrag über „Alternative biologische Krebstherapie“ hielt eine promovierte Naturwissenschaftlerin, die im Wesentlichen die günstige Beein­ flussung der körperlichen Vorgänge durch eine Leinöl­Diät betonte. Von Sei­ ten des Vereins wurde ihr allerdings vorgeworfen, dass sie die „Arbeit der Mediziner gänzlich verurteilt, anstatt mit ihnen zusammenzuarbeiten“97. Dass man die Verdienste der Schulmedizin auch auf dem Gebiet der Krebstherapie durchaus zu schätzen wusste, brachte die Vereinsleitung dadurch zum Aus­ druck, dass bereits 14 Tage später „Das Krebsproblem aus schulmedizinischer Sicht“ behandelt wurde. Ein Onkologe unterrichtete die Vereinsmitglieder über die einzelnen Therapie­ und Nachsorgemöglichkeiten und ging dabei der Frage nach, inwieweit Umwelteinflüsse und falsche Lebensgewohnheiten die Entstehung von Krebs begünstigen.98 Ihren Abschluss fand die Themen­ reihe mit dem Vortrag eines homöopathischen Arztes, der weniger die medi­ zinischen als vielmehr die psychologischen Aspekte einer Krebserkrankung und ­therapie beleuchtete und damit die Vortragsreihe aus ganzheitlicher Perspektive abrundete.99 Die eigentliche Besonderheit dieser Vortragsreihe ist nun nicht das ge­ wählte Thema, auch nicht die Kooperation zweier homöopathischer Vereine und mehrerer Krankenpflegevereine. Das ist zwar bemerkenswert, gerade vor 95 96 97 98 99

IGM/Varia 377, 26. Februar 1982. IGM/Varia 377, 26. Februar 1982. IGM/Varia 377, 10. März 1982. IGM/Varia 377, 24. März 1982. IGM/Varia 377, 2. April 1982.

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7. Die homöopathische Laienbewegung (1970–2008)

dem Hintergrund der sich in dieser Zeit etablierenden Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen.100 Für die Frage nach der spezifischen medika­ len Kultur der homöopathischen Laienbewegung ist vielmehr die Heterogeni­ tät der medizinischen Zugänge zum Thema Krebs von Bedeutung. Die Orga­ nisatoren der Themenreihe beschränkten sich nicht allein auf die Ausführun­ gen eines Homöopathen, sondern engagierten sowohl eine Naturwissenschaft­ lerin als auch einen Schulmediziner und einen Heilpraktiker, um den Mitglie­ dern und Zuhörern ein möglichst breitgefächertes Wissen über Krebs im All­ gemeinen zu vermitteln.101 Verbunden mit den bisherigen Aussagen ergibt sich daraus folgendes facettenreiches Bild: Die homöopathische Laienbewe­ gung begegnete der Konkurrenz, die ihr nach 1970 durch die Ökologie­ und Alternativbewegung erwuchs, wenn auch nicht ganz freiwillig (Heilpraktiker wegen Rednermangel) mit Erweiterung ihres Therapiespektrums. Während die diätetischen Ratschlägen inhaltlich weitgehend gleichgeblieben und fortan unter dem Aspekt der Gesundheitsförderung bzw. Salutogenese erteilt wor­ den sind, wurden die Techniken des kurativen Selbst um diverse alternativme­ dizinische Verfahren ausgebaut. Hinzu kommt, dass auch der Verbandszeit­ schrift Modernes Leben, natürliches Heilen ein zeitgemäßerer Anstrich verpasst wurde. Anders als zuvor behandelten sie nun in jeweils eigenen Rubriken Natur­ und Pflanzenheilkunde, Ernährung sowie alternativmedizinische und psychosoziale Themen. Die Homöopathie bzw. die Anleitung zur homöopa­ thischen Selbstmedikation hatte als Charakteristikum der homöopathischen Laienbewegung sank hingegen mehr und mehr zu einer Methode unter vielen ab. Aber gerade diese Verwässerung mit anderen alternativmedizinischen und ganzheitlichen Heilverfahren war ausschlaggebend dafür, dass die Bewe­ gung in den 1990er Jahren, als das Interesse an Alternativmedizin abermals stieg102 und sich alternativ Leben und Heilen im Zuge der Individualisierung der Gesundheit zu einem Lifestyle entwickelte, zahlreiche neue Mitglieder gewinnen konnte. Denn die Bewegung und ihre Zweigvereine boten mittler­ weile weit mehr an als nur pragmatische Selbsthilfe und Ratschläge zur Krankheitsverhütung. Das Vereinsprogramm war vielmehr ein Abbild der in­ dividuellen Lebensführung und Überzeugung: prinzipiell kritisch eingestellt befasste sich der moderne Laienhomöopath intensiv und ganzheitlich mit dem eigenen Körper und seiner Gesunderhaltung, hinterfragte das Leistungs­ und Heilungsvermögen der Schulmedizin, konsumierte biologisch erzeugte Nahrungsmittel, stieß sich an der zunehmenden Umweltverschmutzung und suchte fortwährend nach sanften Heil­ und wirksamen Entspannungsmetho­ den. Gleichzeitig schreckte er nicht davor zurück, komplementär zur alterna­

100 Zur Entstehung der Selbsthilfegruppe siehe: Dornheim (1987); zum Umgang mit Krebs im dörflichen Alltag: Dornheim (1983). 101 Leider geht aus dem Vereinsregister nicht hervor, wie gut oder schlecht die einzelnen Vorträge besucht waren bzw. welcher Ansatz am meisten Zuspruch fand. 102 Zur steigenden Popularität der Alternativmedizin seit den 1990er Jahren siehe: Marstedt (2002); Dinges (2014), S. 7 ff.

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tivmedizinischen Selbst­ und Fremdbehandlung „im Zweifel“103 den Rat und die Hilfe eines Schulmediziners in Anspruch zu nehmen, getreu der von einem Laien geäußerten Definition eines „echten Homöopathen“: Er „wird einen gebrochenen Knochen durch den Chirurgen einrichten, er wird einen eingedrungenen Fremdkörper entfernen lassen, er wird aber die Knochen­ u. Wundbehandlung durch Arzneimittel wie Symphytum, Arnica, Silicea usw. unterstützen.“104 Die Motive einer Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein haben sich demnach im Laufe der vergangenen 100 Jahre ins Gegen­ teil verkehrt: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem pragmati­ sche materielle Motive wie die mangelnde medizinische Versorgung auf dem Land und die existentielle Sorge um die Gesundheit, die die Mitglieder in die Vereine trieben. Diese Motive wurden mit der Verbesserung der medizini­ schen Infrastruktur, einem immer dichteren Apothekennetz und letztlich mit der Stärkung der Patientenrechte als eine Folge der „politischen Kultur der Teilhabe“ und Mitsprache allmählich unwichtiger. Spätestens in den 1990er Jahren wurden sie von einem breiten Spektrum persönlicher, hedonistischer Neigungen und Überzeugungen ersetzt. Der Eintritt in einen homöopathi­ schen Verein beruhte auf Freiwilligkeit und war nun Ausdruck von Individua­ lität. Einem homöopathischen Verein musste sich also niemand anschließen, weil es ihm Ende des 20. Jahrhunderts an Alternativen zur Krankheitsbehand­ lung oder Gesunderhaltung mangelte. Wer eintrat, der tat das gerade wegen der Homöopathie und anderer Alternativen, um damit einer ganzheitlichen, kritischen und refklektierten Lebensführung und Körperwahrnehmung Aus­ druck zu verleihen und sie mit entsprechendem Wissen zu festigen.

103 IGM/Varia 377, 27. November 1987. 104 IGM/Varia 529, 5. November 1977.

8. „Info ist alles, sonst läuft nichts“ – Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen An mehreren Stellen der Arbeit wurde die Einseitigkeit der Quellenlage be­ mängelt. Die Protokollbücher und homöopathischen Zeitschriften geben le­ diglich Aufschluss über Inhalt und Form der Wissensvermittlung innerhalb der homöopathischen Laienbewegung. Die Mitglieder als eigentliche Adressa­ ten dieser Wissensvermittlung treten in den Quellen hingegen nur als ab­ strakte Größe in Erscheinung. Wie sie über die Ratschläge dachten, ob sie sie im Alltag berücksichtigten, kann anhand einzelner Belege lediglich gemut­ maßt werden. Der Umstand, dass die Laienbewegung keine rein historische ist, sondern noch immer existiert, macht es möglich, dieses Manko wenigs­ tens für die Gegenwart und jüngere Vergangenheit wettzumachen. Statt eines aufwendigen Oral History­Projekts bot sich eine Befragung von Mitgliedern der „Hahnemannia“­Zweigvereine an. Der Fragebogen wurde in Zusammen­ arbeit mit Sandra Dölker, Archivarin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, erarbeitet und über Ingrid Meier­Re­ gel, damalige Präsidentin der „Hahnemannia“, im Herbst 2013 per Mail an alle Vereinsvorsitzenden weitergeleitet. Zusätzlich wurde der Fragebogen in gedruckter Form dem Verbandsorgan Natur & Heilen beigelegt, um möglichst viele der damals etwa 4.300 Mitglieder zu erreichen. Ausgewertet werden konnten schließlich 238 Fragenbögen, die Rücklaufquote betrug damit ledig­ lich 5,3 %, war also niedrig. Der Fragebogen kombiniert insgesamt fünf Multiple Choice­Fragen mit mehreren geschlossenen und offenen Ergänzungsoptionen. Erfragt werden sollte zunächst, über welche Personenkreise oder Informationswege die Teil­ nehmer auf die homöopathische Heilmethode aufmerksam geworden sind (Frage 1). Von besonderem Interesse sind weiterhin die Fragen, seit wann und in welchen spezifischen Situationen (chronisch, akut/grippal, präventiv, bei Verletzung) sie homöopathische Medikamente anwenden (Frage 2) und aus welchen Gründen (Frage 3). Der von der jüngeren medizinhistorischen wie kulturwissenschaftlichen Forschung vertretenen Meinung, dass das Ge­ sundheits­ und Krankheitsverhalten von Laien heterogen ist und sowohl Ele­ mente der alternativen wie akademischen Medizin umfasst1, ist die Frage nach den übrigen Behandlungsmethoden geschuldet, die von den Befragten neben der Homöopathie in Anspruch genommen werden (Frage 4). Mit Hilfe des Fragebogens sollte zudem herausgefunden werden, welche spezifi­ schen Motive die Mitglieder veranlasst haben, einem homöopathischen Laienverein beizutreten (Frage 5), wie häufig (Frage 6) und warum (Frage 7) sie dessen Veranstaltungen besuchen. Die Antworten auf die Fragen sowohl nach dem höchsten erreichten Bildungsabschluss (Frage 8) als auch nach Ge­

1

Vgl. Roelcke (1998), S.  57 f.; Wolff (2001), S.  630 f.; Wolff (2008), S.  31–35; Hoffmann (2012), S. 396; Schwamm (2015), S. 109 f.

8.1 Zum soziologischen Profil

311

schlecht, Geburtsjahr und Beruf sollen Rückschlüsse über die Sozial­ und Al­ tersstruktur der Teilnehmer ermöglichen. Aus den einzelnen Fragen leitet sich das übergeordnete Erkenntnisinte­ resse der Fragebogenaktion ab: Wer tritt heute bzw. trat in der jüngeren Ver­ gangenheit aus welchen Gründen in einen homöopathischen Verein ein, wann und warum benutzt er homöopathische Medikamente und wie offen ist er der Schulmedizin und anderen alternativmedizinischen Methoden gegenüber eingestellt? Die Befunde können anschließend zu den Ergebnissen der Arbeit in Bezug gesetzt und mit den Charakteristiken der gegenwärtigen Gesund­ heitsgesellschaft verglichen werden. Beides ermöglicht wiederum Antworten auf die zentralen Fragestellungen: Überwiegt in der homöopathischen Laien­ bewegung zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Präventionsgedanke und kann die Bewegung historisch als Vorläufer und zeitgenössisch als Teil der Gesund­ heitsgesellschaft gewertet werden? 8.1 Zum soziologischen Profil In diesem Teilkapitel geht es um die Sozial­ und Altersstruktur der befragten Laienhomöopathen. Angesichts der Befunde der Arbeit und der stereotypen Geschlechterrollen ist zu erwarten, dass die Mehrheit der Befragten weiblich, in einem fortgeschrittenen Alter und in Bezug auf Homöopathie bzw. das in­ dividuelle Gesundheits­ Krankheitsverhalten eher pragmatisch als dogmatisch eingestellt ist. Martin Dinges’ zusammenfassende Feststellung aus Befragun­ gen von Patienten homöopathischer Ärzte, dass Homöopathienutzer ganz all­ gemein „der wohlhabendere, besser ausgebildete und jüngere Teil der Bevöl­ kerung“ seien2, lassen darüber hinaus ein hohes Bildungsniveau der Teilneh­ mer vermuten – wenn die Teilnehmer repräsentativ für die Nutzer wären. Angaben über ihr Geschlecht machten 231 von insgesamt 238 Laienho­ möopathen. 189 (82 %) von ihnen sind weiblich, die restlichen 42 (18 %) männlich. Eine Anfrage bei der „Hahnemannia“ ergab, dass das Geschlech­ terverhältnis der Fragebogenteilnehmer kein Zufall, sondern durchaus reprä­ sentativ ist: Anfang 2016 sind 2.225 (79 %) Mitglieder der insgesamt 40 Zweig­ vereine weiblich, nur 596 (21 %) dagegen männlich. Die hohe Anzahl an Frauen ist auffallend, relativiert sich aber angesichts der Tatsache, dass „be­ kanntlich zu den Nutzern und Interessenten alternativmedizinischer Ange­ bote mehrheitlich Frauen gehören. Vertreter des weiblichen Geschlechts sind nachweislich offener für und interessierter an gesundheitsbezogenen Themen.“3 Das zeigt sich vor allem daran, dass Frauen aktiver als Männer medizinische Selbstvorsorge betreiben, häufiger den Kontakt zum medizini­ schen System suchen und weit eher Präventions­ und Früherkennungsange­

2 3

Dinges (2012), S. 142. Eisele (2015), S. 176; vgl. hierzu auch: Marstedt (2002), S. 135; Dinges (2007), S. 298; Hoefert: Patienten (2011), S. 220.

312 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen bote wahrnehmen.4 Dass Gesundheitsverhaltensstile geschlechtsspezifisch sind und voneinander abweichen, erklärt die gesundheitswissenschaftliche Forschung u. a. mit der Pathologisierung und Medikalisierung des weiblichen Körpers.5 Frauen kommen bereits in jungen Jahren aufgrund ihrer Regelblu­ tung, später im Zusammenhang mit Verhütung, Schwangerschaft, Kinder­ wunsch und Klimakterium in Kontakt mit medikalen Praktiken.6 Hinzu komme, so Pfütsch, die Rolle der Hausfrauen und Mütter, die den Frauen die Aufgabe der Familiengesundheitsbeauftragten zuschreibt.7 Männer werden hingegen weder frühzeitig ins medizinische Gesundheitssystem eingebunden noch erfahren sie wie Frauen eine Sozialisation hin zu einem gesundheitssen­ siblen und gesundheitszuträglichen Verhalten.8 Stattdessen wird ihnen ein funktionales Gesundheitsverständnis anerzogen, das Gesundheit mit körperli­ cher Arbeits­ und Leistungsfähigkeit gleichsetzt. Diesem Verständnis nach ist die Beschäftigung mit der persönlichen Gesundheit erst dann möglich und legitim, wenn der Körper nicht mehr funktioniert wie er sollte.9 In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters der befragten Laienhomöopathen kann davon ausgegangen werden, dass sie noch ganz im Geiste des fürsorglichen Frauen­ und leistungsorientierten Männerbilds sozialisiert wurden. Eine Aufweichung der geschlechtsspezifischen Zuschreibungen ist in der Generation der zwi­ schen 1970 und 1989 Geborenen zu beobachten.10 Dieser Alterskohorte ge­ hören aber nur zehn Fragebogenteilnehmer an. Sowohl der hohe Anteil an weiblichen Vereinsmitglieder als auch die bei Männern und Frauen unterschiedlich stark ausgeprägte Gesundheitsorientie­ rung spiegelt sich im Übrigen in der diachronen Entwicklung der Laienbewe­ gung wider: Anfang des 20. Jahrhunderts begannen die Vereinsleitungen, ge­ zielt Frauen als Adressaten der Wissensvermittlung anzusprechen, da „ihre Pflicht als Mutter ihnen so häufig Gelegenheit bietet, derartige Kenntnisse bei Erkrankung eines ihres Kinder zur praktischen Anwendung zu bringen“11. Die Gründung von Frauengruppen in den 1920er Jahren festigte diese Rollen­ zuschreibung und trug maßgeblich dazu bei, dass Frauen sich fortan stärker am Vereinsgeschehen beteiligten. Das wirkte sich auch auf das Geschlechter­ verhältnis innerhalb der Laienbewegung aus, das sich im Laufe des 20. Jahr­ hunderts umkehrte.

4 5 6 7

Vgl. Bründel/Hurrelmann (1999), S. 140 f.; Hurrelmann/Richter (2013), S. 62 f. Vgl. Pfütsch (2015), S. 140. Vgl. Bründel/Hurrelmann (1999), S. 177. Pfütsch (2015), S. 141. Auf das „starke Engagement der Frauen in allen Bereichen der familiären Gesundheitsfürsorge“ führt auch Uta Schnürer die höhere Beteiligung an ei­ ner von ihr Ende 1999 durchgeführten Umfrage zur Erfassung der medikalen Laienkul­ tur in Sachsen zurück. An der Umfrage beteiligten sich 174 Personen, von denen 140 (80 %) weiblich und lediglich 34 (20 %) männlich waren. Vgl. Schnürer (2002), S. 94. 8 Vgl. Hurrelmann (1996), S. 173. 9 Pfütsch (2015), S. 142. 10 Vgl. Dinges (2013), S. 40. 11 HM 23 (1898), S. 194–195; vgl. Baschin (2012), S. 237.

8.1 Zum soziologischen Profil

313

Um verallgemeinerbare Aussagen über die Altersstruktur der befragten Laienhomöopathen treffen zu können, wurde das Geburtsjahr erfragt. Insge­ samt 223 Befragte machten hierüber Angaben, die in der Übersicht darge­ stellt sind. Tab. 4: Klassifizierung der Geburtsjahre nach Jahrzehnt (n=223). Geburtsjahr

Anzahl

1910–1919

1

1920–1929

10

1930–1939

53

1940–1949

54

1950–1959

60

1960–1969

32

1970–1979

10

1980–1989

0

1990–1999

3

199 (89 %) der befragten Vereinsmitglieder wurden demnach zwischen 1930 und 1969 geboren, waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung also zwischen 44 und 83 Jahre alt. Schlüsselt man die Alterskohorten weiter auf, so zeigt sich, dass mehr als die Hälfte (53 %) von ihnen sogar älter als 64 Jahre ist. Jünger als 43 Jahre waren Ende 2013 gerade einmal 13 Befragte. Damit bestä­ tigt sich die seit den 1970er Jahren erkennbare Überalterung der homöopathi­ schen Laienvereine. Geändert hat sich daran in den letzten Jahrzehnten offen­ bar wenig, denn noch im September 2014 beklagte der Vorsitzende des Ver­ eins Nattheim in einem Gespräch mit der Heidenheimer Zeitung, dass der Al­ tersdurchschnitt in seinem Verein über 60 Jahren läge. Nicht zuletzt deshalb habe er sich vorgenommen, „Naturheilkunde unter das Volk zu bringen, ein Bewusstsein dafür zu wecken und besonders die jungen Menschen dazu zu bringen, sich mit ihrem Körper und Wohlbefinden auseinanderzusetzen.“12 An diesem Vorhaben könnten sich auch die anderen homöopathischen Ver­ eine, die dem Dachverband „Hahnemannia“ angeschlossen sind, ein Beispiel nehmen und/oder in einer konzertierten überregionalen Aktion zu seinem Gelingen beitragen. Schließlich betrifft der Nachwuchsmangel nicht nur den Verein Nattheim, wie die Anfrage bei der „Hahnemannia“ zudem ergab: Im April 2016 lag der Altersdurchschnitt der insgesamt 2.831 Vereinsmitglieder bei 64 Jahren.

12 Heidenheimer Zeitung (2014).

314 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen Frage 8: Welchen Bildungsabschluss haben Sie erreicht? Universität 5% Fachhochschule 14%

Abitur 5%

Volks/Hauptschule 44%

Realschule 32%

Diagr. 15: Sozialstruktur der befragten Laienhomöopathen (n=207).

Einer aus der sozialen Rekrutierung der Homöopathienutzer gewonnenen Hypothese zufolge müssten die Befragten, entgegen der kleinbürgerlichen Prägung der homöopathischen Laienbewegung, aufgrund ihres vermeintlich höheren Körper­ und Gesundheitsbewusstseins über einen höheren Bildungs­ abschluss verfügen. Die diesbezüglichen Angaben in den Fragebögen bestäti­ gen diese Annahme allerdings nicht, wie Diagramm 15 zeigt. 173 (76 %) der an der Fragebogenaktion teilnehmenden Laienhomöopa­ then verfügen demnach über einen niedrigen oder mittleren Bildungsab­ schluss.13 Eine weiterführende Fach(hoch)schule haben immerhin 32 (14 %) der Befragten besucht, 10 (4 %) von ihnen verließen nach dem Abitur die Schule. Studiert haben hingegen nur 11 (5 %) Fragebogenteilnehmer. Bei allen Angaben sind Frauen überrepräsentiert, am deutlichsten bei Volks­ (82 %) und Realschulabschluss (90 %). Das sich aus den Abschlüssen ergebende mittlere Bildungsniveau korrespondiert mit der spezifischen Sozialstruktur der befrag­ ten Vereinsmitglieder14 (vgl. Diagr. 16).

13 Ihr Anteil ist gemessen am Bevölkerungsdurchschnitt deutlich überrepräsentiert. 2015 verfügten 56 Prozent der über fünfzehnjährigen Deutschen über einen Haupt­ oder Realschulabschluss. Vgl. Bevölkerung nach Bildungsabschluss in Deutschland, online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Zah­lenFakten/GesellschaftStaat/Bildung ForschungKultur/Bildungsstand/Tabellen/Bildungsabschluss.html (letzter Zugriff am 28. September 2016). 14 Unter ihnen befanden sich fast alle Männer, nämlich 40, wohingegen nur 167 Frauen bereit waren, Angaben zu machen.

315

8.1 Zum soziologischen Profil 80 70

67

60 50

43

40 30 20 10

25 17 11

11

9

7

6

5

0

3

1

1

1

Diagr. 16: Sozialstruktur der befragten Laienhomöopathen (n=207).

Die Mehrheit der Befragten (32 %) ist oder war im Dienstleistungssektor be­ schäftigt, etwa als Industrie­, Großhandels­ oder Reisebürokauffrau, kaufmän­ nische oder Verwaltungsfachangestellte, Floristin, Köchin, technischer Zeich­ ner oder Steuerberater, um nur einige zu nennen. Der Altersstruktur entspre­ chend finden sich unter den Laienhomöopathen 43 Rentner (21 %). Ihre Zahl ist in Wirklichkeit aber höher anzusetzen, da von den 25 Hausfrauen nur drei Frauen jünger als 60 sind. Mit anderen Worten: 22 Frauen wollten offenbar nicht angeben, dass sie Rentnerinnen sind. Stattdessen entschieden sie sich für den aufwertenden Begriff „Hausfrau“, der impliziert, dass sich die betref­ fende Person um einen Haushalt zu kümmern habe und demnach nicht mehr in einem formalen Beschäftigungsverhältnis sei. Rechnet man diese 22 Haus­ frauen, die das Rentenalter bereits erreicht haben, zu den Rentnern hinzu, so stellen letztere ebenfalls knapp ein Drittel der Befragten. Das kleinbürgerliche Handwerker­ und Facharbeitermilieu, dem bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein prozentual die meisten Vereinsmitglieder entstamm­ ten, ist hingegen nur noch mit 17 Personen (8 %) vertreten. Dieser Befund ist zum einen dem Strukturwandel geschuldet, demzufolge sich das Verhältnis zwischen Arbeitern und Handwerkern einerseits und Angestellten anderer­ seits im Laufe des 20. Jahrhunderts umgekehrt hat. Zum anderen ist Krank­ werden oder ­sein aufgrund der verbesserten medizinischen Infrastruktur und Versorgung heutzutage nicht mehr existenzbedrohend, sondern bedeutet schlimmstenfalls die Minderung des Lebensstandards. Die Mitgliedschaft in einem Gesundheitsverein ist für Arbeiter und Handwerker heutzutage eher

316 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen Ausdruck einer bestimmten Lebenshaltung und ­philosophie denn eines über­ lebensnotwendigen Pragmatismus. Ebenfalls deutlich abgefallen ist parallel zu den Arbeitern und Handwer­ kern die Zahl der Selbständigen: während ihre Berufs­ bzw. Sozialgruppe bis Mitte des 20. Jahrhunderts innerhalb der Laienbewegung noch vergleichs­ weise stark vertreten war, sind ihr 2013 nur noch 7 (3 %) Befragte zuzuordnen. Das soziologische Profil gewinnt an Tiefenschärfe, wenn danach gefragt wird, seit wann sich die Laienhomöopathen für Homöopathie interessieren, seit wann sie Mitglied in einem homöopathischen Verein sind und weshalb sie sich für einen Vereinsbeitritt bzw. für die Homöopathie als bevorzugte Heil­ methode entschieden haben. Frage 2: Seit wann interessieren Sie sich für Homöopathie und seit wann sind Sie Mitglied? Wie aus Diagramm 17 hervorgeht, steigt sowohl das Interesse für Homöopa­ thie als auch die Zahl der Vereinsbeitritte ab den 1980er Jahren signifikant an. Zu dieser Feststellung kommt auch Martin Dinges in seinem Überblick über die jüngere Entwicklung der Homöopathie: „In mehreren Ländern scheinen die 1980er einen besonderen Wachstumsschub gebracht zu haben, der dann mehr oder minder stark weiter anhält.“15 Sein Verweis auf das globale Wachs­ tum der Homöopathie seit diesem Jahrzehnt macht deutlich, dass es sich bei dem simultanen Anstieg beider Kurven nicht um einen Zufall handelt. Es ist vielmehr einem sich zu dieser Zeit wandelnden „Mensch­Umwelt­Verhältnis“ geschuldet, das „neue Aspekte einer Wohlfahrt wie Gesundheit, persönliche Entwicklung, Arbeitsplatzzufriedenheit, Freizeit, Umwelt, kulturelle Entfal­ tung“16 zu zentralen Themen machte. Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig, der für unsere Belange wichtigste dürfte jedoch in den Postulaten der sich um 1970 formierenden Gesundheitsbewegungen zu suchen sein. Letztere übten vehement Kritik an einer bürokratisierten, ökonomisierten und technisierten Schulmedizin, die den Menschen bzw. Patienten auf seine jeweilige somatische Erkrankung reduziere.17 Der „Objektivierung“ des menschlichen Körpers stellten ihre Kritiker alternative, ganzheitliche Kon­ zepte entgegen. Sie zielten darauf ab, das entmündigte Subjekt von seiner ab­ hängigen und passiven Rolle innerhalb des Gesundheitssystems zu befreien und ihm ein Mitspracherecht einzuräumen. Auch betonten die Befürworter alternativer Gesundheitsverfahren im salutogenetischen Sinne die Wiederher­ stellung der Gesundheit durch Aktivierung der Selbstheilungskräfte und durch die subjektive Sinnstiftung von Erkrankungen.18 Und das mit langfristi­ gem Erfolg, denn bereits Anfang der 1980er Jahre lässt sich, so Regina Brun­ nett in ihrer Studie zur Hegemonie symbolischer Gesundheit, innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung ein neues Gesundheitsbewusstsein kon­ 15 16 17 18

Dinges (2012), S. 138. Kury (2010), S. 245. Brunnett (2009), S. 64 f. Brunnett (2009), S. 84 f.

317

8.1 Zum soziologischen Profil

statieren, das sich durch die reflektierte und bewusstere Inanspruchnahme (alternativ)medizinischer Dienstleistungen und gesundheitsförderlicher Ver­ haltensweisen wie gesunde Ernährung und Bewegung auszeichne.19 Ange­ sichts des plötzlichen Anstiegs der Kurven ist davon auszugehen, dass die ge­ samtgesellschaftlich veränderte Sicht auf den Körper sowie die Nachfrage nach alternativmedizinischer Versorgung die befragten Laienhomöopathen dazu veranlasste, sich einerseits für alternative Heilmethoden zu interessieren und andererseits einem homöopathischen Verein beizutreten. Diese These wird gestützt von den Ergebnissen der dritten Frage nach den konkreten Be­ weggründen für die Inanspruchnahme der Homöopathie und den Beitritt in einen entsprechenden Verein: 176 (75 %) der insgesamt 235 Auskunft Geben­ den haben sich demnach wegen eines ganzheitlichen Verständnisses von Ge­ sundheit und Krankheit für die Homöopathie entschieden. 166 (71 %) von ihnen kreuzten an, dass die Möglichkeit zur Selbstmedikation und damit eine partielle Selbstbestimmung über die Art und Weise der Krankheitsbehand­ lung zumindest ein Grund gewesen sei, weswegen sie der Homöopathie den Vorzug gaben. 60

50

40

30

20

Interesse seit Mitglied seit

10

0

Diagr. 17: Zeitangaben über Interesse für Homöopathie (n=147) und Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein (n=179).

Um das soziologische Profil abzurunden, müssen abschließend die Ergebnisse von Frage 1 des Fragebogens erläutert werden. Ebenfalls per Multiple Choice­ Verfahren sollten die befragten Vereinsmitglieder Auskunft darüber geben, wie oder von wem sie auf die Homöopathie aufmerksam und mit ihr vertraut gemacht worden sind. 94 (40 %) der insgesamt 237 Befragten verwiesen dabei 19 Brunnett (2009), S. 72.

318 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen auf ihre Familie und Eltern, die sie bereits in jungen Jahren in Kontakt mit der Homöopathie gebracht hätten. Weitere 78 (33 %) gaben an, ihre Freunde oder Arbeitskollegen seien es gewesen, die ihnen die homöopathische Heilme­ thode empfahlen. Das soziale Umfeld bzw. die Empfehlungen von Familien­ angehörigen und Freunden werden auch von den Homöopathienutzern als wichtigster Ratgeber in Sachen homöopathische Arzneimittel angegeben, die 2009 an einer Umfrage des IfD teilgenommen haben. 57 % von ihnen gaben an, dass ihnen „gut bekannte Menschen“ zu homöopathischen Arzneimitteln geraten haben.20 Eine nur marginale Rolle scheint, zumindest bei den Frage­ bogenteilnehmern, hingegen der Partner oder die Partnerin zu spielen. Er oder sie wird nur von 19 (8 %) Befragten (zehn Männer, neun Frauen) als der­ jenige Mensch genannt, der sie langfristig von den Vorzügen der Homöopa­ thie überzeugen konnte. Das mag im ersten Moment verwundern, schließlich ist der Partner doch eher als Freunde oder Kollegen in die eigenen gesund­ heitlichen Probleme involviert und bedacht, Hilfe zu finden. Die wenigen An­ gaben könnten aber daran liegen, dass Partner nicht selten ähnliche Überzeu­ gungen und gesundheitliche Verhaltensweisen teilen, die sie bereits vor der Partnerschaft oder Ehe  – und damit durch ihre familiäre Sozialisation  – er­ worben haben. Impulse, diese inkorporierten Verhaltens­ und Handlungsmus­ ter zu hinterfragen und zu revidieren, kommen dann von außen, etwa aus dem Freundes­ oder Kollegenkreis. Kaum ins Gewicht fallen darüber hinaus die nicht näher definierten Medien, über die nur 14 (6 %) Vereinsmitglieder zur Homöopathie gekommen sind. Durch Veranstaltungen von homöopathi­ schen Vereinen konnten lediglich elf Laien von der Homöopathie überzeugt werden, was auf deren recht begrenzte Breitenwirkung schließen lässt. Der Hausarzt als die eigentliche Instanz in gesundheitlichen Belangen animierte ebenfalls nur 32 (14 %) Befragte dazu, in Krankheits­ oder Bedarfsfällen ho­ möopathische Medikamente einzunehmen. Das ist insofern bemerkenswert, da im Rahmen der IfD­Befragung über die Bekanntheit, Verwendung und Bewertung homöopathischer Arzneimittel21 mehr als ein Drittel (37 %) der Homöopathienutzer angaben, ein Arzt hätte ihnen den Gebrauch von ho­ möopathischen Mitteln empfohlen. Weitere 31 % bzw. 20 % kamen über ihren Apotheker oder Heilpraktiker zur Homöopathie. Die Ergebnisse der Fragebogenauswertung und der kontrastierenden IfD­ Befragung führt zu folgenden Schlüssen: Die Bereitschaft, sich der Homöopa­ thie anzuvertrauen, hängt zu einem nicht geringen Teil vom persönlichen Umfeld ab. Sowohl für Vereins­ als auch für Nichtmitglieder sind Freunde bzw. Menschen, mit denen man eine vertrauensvolle Beziehung von Ange­ sicht zu Angesicht führt, wichtige Rat­ und Impulsgeber. Signifikant ist aller­ dings die besondere Bedeutung der familiären Situation. Offenbar kommen Vereinsmitglieder gesamtgesellschaftlich gesehen weit häufiger in jungen Jah­ ren bzw. über die jeweiligen Präferenzen und Einstellungen der Eltern mit der Homöopathie in Berührung. Medien, Ärzte, Apotheker oder Heilpraktiker 20 Sombre (2009). 21 Sombre (2009).

8.2 Zum medikalen Profil

319

hingegen bieten im Erwachsenenalter weniger neues Wissen an, das die ein­ geübten Verhaltensweisen grundlegend zu ändern vermag. Im Gegenteil, der seit seiner Kindheit mit Homöopathie und Alternativmedizin Vertraute gibt sich mit der Begrenztheit dieser punktuellen Wissensquellen nicht zufrieden, sondern ist bestrebt, seine so erworbenen Kenntnisse eigeninitiativ und durch den Austausch mit Gleichgesinnten zu erweitern. Weitere Klärung hätte in dieser Sache die zusätzliche Frage liefern können, ob denn bereits die Eltern oder Großeltern einem Homöopathischen Verein angehörten. Eine Familien­ mitgliedschaft war, so ein Ergebnis von Frage 6, immerhin für 34 (15 %) der befragten Laienhomöopathen der Grund, weswegen sie einem Homöopathi­ schen Verein beigetreten sind. Der Frage, ob die Sozialisation in der Familie das medikale Profil der befragten Vereinsmitglieder prägte, wird im nächsten Kapitel nachgegangen. 8.2 Zum medikalen Profil Bekannt geworden ist bisher, dass drei Viertel aller Teilnehmer einen niede­ ren oder mittleren Bildungsabschluss besitzen, im Dienstleistungssektor be­ schäftigt, weiblich und fortgeschrittenen Alters sind. Für die Homöopathie und den Beitritt in einen homöopathischen Verein haben sie sich mehrheit­ lich in den 1980er Jahren wegen des ganzheitlichen Verständnisses von Krank­ heit und Gesundheit entschieden. In Kontakt mit der Homöopathie sind sie primär durch ihre Sozialisation im Elternhaus oder Freundeskreis gekommen. Noch offen sind bisher die konkreten (alternativ)medizinischen Verhaltens­ weisen und Praktiken, mit denen die Laienhomöopathen einerseits auf Krank­ heiten und Befindlichkeitsstörungen reagieren und andererseits ihre Gesund­ heit zu erhalten versuchen. Rückschlüsse auf diese Fragen lassen sich durch die Auswertung der Fragen 2 (Anwendung der Homöopathie in welchen Fäl­ len), 3 (Begründung der Anwendung), 4 (weitere Behandlungsmethoden), 5 (Gründe für Vereinsbeitritt), 6 (Häufigkeit der Veranstaltungsbesuche) und 7 (Gründe für Häufigkeit der Veranstaltungsbesuche) ziehen. 195 (84 %) von 232 Laienhomöopathen, die die Multiple­Choice­Frage 2 beantwortet haben, gaben an, dass sie Homöopathika bevorzugt in akuten Fällen bei Erkältungen oder grippalen Infekten anwenden. An zweiter Stelle stehen nicht näher definierte Verletzungen, die immerhin von 159 (69 %) Be­ fragten selbst behandelt werden. Chronische Erkrankungen, mit denen in al­ ler Regel mehrere Arztbesuche und eine schulmedizinische Langzeittherapie einhergehen, sind hingegen nur für 114 (49 %) Laienhomöopathen ein Anlass, von homöopathischen Medikamenten Gebrauch zu machen. Präventiv, also vor dem Eintritt einer zu erwartenden Gesundheitsstörung (beispielsweise die Einnahme von Arnica vor der Entfernung der Weisheitszähne, um Schwellun­ gen zu minimieren), greifen erwartungsgemäß weniger Befragte, nämlich 88 (38 %), zu homöopathischen Arzneimitteln. Bevor man also in leichten Krank­ heits­ oder Verletzungsfällen seine Zeit opfert und einen Arzt konsultiert, der

320 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen einem noch dazu synthetische Arzneimittel verordnen könnte, nutzten die Vereinsmitglieder lieber das breite Angebot an homöopathischen Medika­ menten, um eigeninitiativ den Heilungsprozess zu unterstützen. In chroni­ schen Fällen kommen Homöopathika zwar ebenfalls zum Einsatz, hier ist der Gang zum Schulmediziner und die Einnahme von synthetischen Pharmaka oftmals aber unumgänglich. Homöopathische Mittel werden deshalb ver­ gleichsweise seltener und vornehmlich komplementärmedizinisch zur Ein­ dämmung der Nebenwirkungen angewendet. Bei Frage 3 konnten die an der Fragebogenaktion teilnehmenden Laien­ homöopathen ebenfalls per Multiple Choice­Verfahren Auskunft darüber ge­ ben, welche konkreten Gründe sie bewogen haben, sich für die Anwendung von homöopathischen Medikamenten zu entscheiden. Die Ergebnisse sind zum Teil bereits genannt worden. So hat die Auswertung der vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ergeben, dass knapp drei Viertel der Befragten (74 %) davon überzeugt ist, dass Krankheiten in einem ganzheitlichen Sinne gedeutet und entsprechend therapiert werden müssen. Die Entstehung von Gesundheit und Krankheit lässt sich demnach nicht monokausal erklären, sondern hängt von den jeweiligen Umständen ab, mit denen sich ein Mensch konfrontiert sieht. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Psyche, die sich sowohl positiv als auch negativ auf die physische Konstitution auswirken kann. Das bloße Schlucken von chemisch­pharmazeutischen und nebenwirkungsbehafteten Medikamenten hilft hier selten weiter, da sie nur das jeweilige Symptom, nicht aber die eigentliche Ursache der Befindlichkeitsstörung bekämpfen und psy­ chische oder psychosoziale Faktoren nicht mit in die Therapie einbezogen werden. Alternativmedizinische Praktiken und Heilmethoden bedienen statt­ dessen weit eher das Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Behandlung des er­ krankten Körpers, da sie auf die Aktivierung der körpereigenen Selbsthei­ lungskräfte abzielen. Die Homöopathie mit ihrer Betonung einer aufmerksa­ men Körperbeobachtung und ­beschreibung erfüllt diese Funktion. Korrespondierend zu Frage 2 schätzen immerhin 71 % der Befragten an der Homöopathie zudem den Aspekt der (relativ einfachen) Selbstmedika­ tion, die ihnen zumindest in leichteren Fällen eine gewisse Autonomie gegen­ über Ärzten verschafft. Die Kritik an einer anonymen, entindividualisierten Schulmedizin, innerhalb derer der Patient als ein Objekt unter vielen behan­ delt wird, war lediglich für 79 (34 %) Laienhomöopathen ein Grund, (dauer­ haft) homöopathische Arzneimittel einzunehmen bzw. sich eingehender mit der Homöopathie zu beschäftigen. Die Befürwortung und Inanspruchnahme der Homöopathie als alternativmedizinische Heilmethode kann demnach, muss aber nicht zwingend ein Indikator für eine generelle Unzufriedenheit mit dem naturwissenschaftlich ausgerichteten, organzentrierten und techni­ sierten Gesundheitssystem sein. Statt um Kritik an der Schulmedizin ging bzw. geht es der Mehrheit der Laienhomöopathen ganz offensichtlich um ei­ nen alternativen, nämlich ganzheitlichen Zugang zu ihrem Körper und seinen multikausalen Funktionsstörungen.

8.2 Zum medikalen Profil

321

Zusätzlich zu den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten konnten die Laienhomöopathen bei „Sonstige Gründe“ handschriftliche Ergänzungen hinzufügen. Derartige Angaben über die ganz persönlichen Beweggründe machten lediglich 48 Befragte (40 Frauen, acht Männer). Mithilfe ihrer Noti­ zen lassen sich dennoch Aussagen treffen, die dem recht oberflächlich ge­ zeichneten Bild über Motivation und Krankheitsverhalten der Homöopathie­ nutzer einige Details hinzufügen: So gaben zwölf Frauen (25 %) an, dass sie durch die gesundheitlichen Probleme ihres Kindes auf die Homöopathie auf­ merksam geworden sind. Eine 1956 geborene Laienhomöopathin schreibt beispielsweise, dass ihr Sohn an Neurodermitis litt und sie deshalb zu homöo­ pathischen Medikamenten gegriffen habe. Eine andere Mutter gibt an, sie habe durch die nicht näher erläuterte Heilung ihres fünfjährigen Sohnes zur Homöopathie gefunden. Diese Beispiele zeigen, dass die Akzeptanz alternati­ ver Heilmethoden gerade unter jungen Müttern hoch und die Erkrankung der eigenen Kinder einer der Hauptwege ist, über den bislang Außenstehende zur Homöopathie finden. Das spiegelt sich indirekt auch in der erwähnten IfD­Befragung über die Bekanntheit und Verwendung homöopathischer Heil­ mittel wider, wonach deren überzeugteste Anwender Frauen zwischen 30 und 44 Jahren sind.22 Der Grund, warum Laien sich langfristig für die Homöopathie entschei­ den und einem homöopathischen Verein beitreten, ist hingegen die geglückte Selbstbehandlung mit entsprechenden Arzneimitteln: 20 (42 %) Befragte ver­ wiesen in ihren handschriftlichen Notizen auf die „rezidivierende Angina“ oder die „chronische Sinusitis“, von der sie homöopathische Medikamente befreiten. Andere nannten eine „positive, nachweisbare (im Labor überprüfte) Veränderung der Blutwerte“, die sie von der Homöopathie überzeugte, oder hätten „am eigenen Leib erfahren, was klassische Homöopathie bewirken kann“. Für 13 (27 %) Laienhomöopathen ist, abgesehen von der Heilwirkung, die prinzipielle Nebenwirkungsfreiheit der homöopathischen Arzneimittel von Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird mehrfach berichtet, dass al­ lergische Reaktionen auf sowie die Unverträglichkeit von schulmedizinischen Präparaten, in einem Fall sogar ein „Antibiotika­Schock“, der Grund gewesen seien, weswegen man sich für Homöopathie entschieden hat. Frage 4 geht die Hypothese voraus, dass Menschen, die ihren Körper und ihre Gesundheit aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachten, neben der homöopathischen auch noch andere alternativmedizinische Heilmetho­ den anwenden. Das Gesundheitsverhalten oder die medikale Kultur der Laienhomöopathen ist, so die Vermutung, nicht homo­ sondern heterogen und hängt von individuellen Vorlieben und Überzeugungen ab. Zur Multiple Choice­Auswahl standen zunächst vier populäre und etablierte Verfahren (1. Schulmedizin, 2. Naturheilverfahren, 3. Osteopathie, 4. Akupunktur). Um ein möglichst differenziertes Bild des spezifischen Gesundheitsverhaltens zu erhalten, wurde den Befragten darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, wei­ tere Heilverfahren oder ­praktiken handschriftlich zu ergänzen. Die Auswer­ 22 Vgl. Sombre (2014).

322 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen tung der vorgegebenen Antworten ergab, dass 168 (74 %) von insgesamt 227 Laienhomöopathen bereit sind, sich zusätzlich zur homöopathischen einer schulmedizinischen Behandlung zu unterziehen. Nur wenige Befragte versa­ hen die Antwortmöglichkeit „Schulmedizin“ mit der Notiz, dass sie nur in akuten „Notfällen“, „wenn es gar nicht mehr geht“ oder bei notwendigen Operationen auf sie zurückgreifen würden. Dieses Ergebnis korreliert mit der in Frage 3 festgestellten eher marginalen Kritik an der Schulmedizin. Die be­ fragten Mitglieder homöopathischer Vereine sind demnach keine Dogmati­ ker, die allopathische Ansätze per se ablehnen und sich gänzlich der Alterna­ tivmedizin verschrieben haben. Auch grenzen sie sich nicht von anderen al­ ternativen Methoden ab, wie die hohe Akzeptanz von Naturheilverfahren im Allgemeinen zeigt: 160 (71 %) Laienhomöopathen haben solche Verfahren in der Vergangenheit mindestens einmal angewendet. Ihr Gesundheits­ und Krankheitsverhalten vereint also konventionelle, oft evidenzbasierte und un­ konventionelle, zumeist empirische Heilverfahren, was die eingangs vermu­ tete Heterogenität des individuellen Gesundheitsverhaltens bestätigt. Weniger beliebt als Homöopathie, Schulmedizin und Naturheilverfahren scheinen hingegen die alternativmedizinischen Praktiken Osteopathie und Akupunktur zu sein. Obwohl sie seit einigen Jahren von vielen gesetzlichen und privaten Krankenkassen erstattet werden, der Bevölkerungsmehrheit be­ kannt sind23 und einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet sind, werden sie nur 67 (30 %) bzw. 62 (27 %) der befragten Laienhomöopathen in Anspruch genommen. Die Gründe sind nicht bekannt. Neben der noch dürftigen Ver­ sorgungs­ bzw. Angebotslage könnte die geringe Inanspruchnahme daran lie­ gen, dass die Befragten häufiger mit Krankheitssymptomen konfrontiert sind, deren Behandlung pharmakotherapeutische Maßnahmen oder die Anwen­ dung von Naturheilmitteln verlangen. Die Frage nach den weiteren Behandlungsmethoden würde, ähnlich wie jene nach den Beweggründen, unvollständig und an der Oberfläche bleiben, wäre den Befragten nicht die Möglichkeit gegeben worden, per Hand weitere präferierte Heilpraktiken und ­verfahren anzugeben. Von dieser Möglichkeit machten insgesamt 51 (43 Frauen, acht Männer) Befragte Gebrauch. Es ist aufgrund des breiten Spektrums sinnvoll, die einzelnen Behandlungsmetho­ den der Häufigkeit nach und zunächst unkommentiert aufzuführen. Von meh­ reren befragten württembergischen Vereinsmitgliedern werden demnach neben Schulmedizin, Naturheilverfahren, Osteopathie und Akupunktur fol­ gende therapeutische und präventive Maßnahmen angewendet: Gymnastik/ Sport (4), Massage (4), Schüsslersalze (4), Kinesiologie (4), Anthroposophische Medizin (3), Akupressur (3), Bachblüten (3), Dorn­Therapie (3), gesunde Er­ 23 Einer Repräsentativbefragung der Düsseldorfer Identity Foundation zufolge, die im Spätsommer 2000 von Demoskopen des Allensbacher Instituts für Demoskopie durch­ geführt wurde und die das allgemeine Gesundheitsverhalten der Bevölkerung ermitteln sollte, ergab, dass immerhin 81 % der über 16jährigen Deutschen über Physiotherapie (Osteopathie ist nicht eigens gelistet) Bescheid wissen. Die Akupunktur ist sogar 94 % von ihnen ein Begriff. Vgl. Identity Foundation (2000), S. 19.

8.2 Zum medikalen Profil

323

nährung (3), Phytotherapie (3), Bioresonanztherapie (2), Fußreflexzonenmas­ sage (2), Hausmittel (2), Physiotherapie (2) und TCM (Traditionelle Chinesi­ sche Medizin, 2). Einzelangaben wurden gemacht zu: Clearingtherapie, Cra­ niosacrale Therapie, Dunkelfeldmikroskopie, Gedankenlenkung, Germani­ sche Neue Medizin, Heilsteine, Hypnose, Indivolution, Meditation, Manuelle Therapie, Reiki, HNC (Human Neuro Cybrainatics), Spagyrik und Yoga. Auffallend ist, dass es sich bei den Mehrfachnennungen in aller Regel um die beinahe schon klassischen, etablierten und deshalb weit verbreiteten und gut verfügbaren alternativmedizinischen Verfahren handelt. Die nur einmalig ge­ nannten Praktiken dürften der Bevölkerungsmehrheit indessen weitgehend unbekannt sein und dementsprechend nur von einem kleinen Kreis beson­ ders überzeugter Anhänger in Anspruch genommen werden, die sich weder mit der Schul­ noch mit dem alternativmedizinischen Mainstream identifizie­ ren können. Insgesamt betrachtet spiegelt sich in den gemachten Angaben die Vielfalt der laienhomöopathischen Medikalkultur sowie das zuvor konsta­ tierte gesteigerte Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Behandlung des Kör­ pers und seiner Befindlichkeitsstörungen wider. Nahezu alle der hier aufge­ führten Heilmethoden behandeln nicht etwa ein singuläres und abgegrenztes Symptom, sondern berücksichtigen in einem ganzheitlich­konstitutionellen Sinne das Wechselspiel zwischen Physis und Psyche. Die bisherige Auswertung des Fragebogens lieferte umfassende Aussagen zum soziologischen Profil und über das (individuelle) Gesundheits­ bzw. Krankheitsverhalten der befragten Laienhomöopathen. Die letzten drei Fra­ gen drehen sich nun um deren Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein. Es soll herausgefunden werden, warum und mit welchen Motiven die Befragten in einen solchen Verein eingetreten sind, wie oft sie die Veranstal­ tungen und Versammlungen besuchen und wie sie ihr regelmäßiges Erschei­ nen oder häufiges Fernbleiben begründen. Bei der Multiple­Choice­Frage 5 nach den Gründen für einen Vereinsbeitritt standen insgesamt zehn verschie­ dene Antwortmöglichkeiten zur Verfügung. Sie wurden von den Befragten, wie aus Diagramm 18 hervorgeht, unterschiedlich gewichtet.

324 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen Frage 5: Aus welchen Gründen haben Sie sich für einen Vereinsbeitritt entschieden? 181 158

149 123 97

86

73

73

62

Familienmitglieds chaft

V o r t r ä g e / K u r s e ü b er Entspannung

V o r t r ä g e / K u r s e ü b er Ernährung

G e s el l i g k e i t

Bezug der Vereinszeitun g Natur & Heilen

Austausch mit Gleichgesinnten

Vorträge/Kurse über alternative Heilmethoden

I n f o s z u r A n w en d u n g h o m ö o p a t h i s c h er A r z n ei m i t t e l

V o r t r ä g e / K u r s e ü b er Homöopathie

34

I n t er e s s e f ü r M e d i z i n , Gesundh., Präv.

200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0

Diagr. 18: Angaben zu den Beweggründen eines Vereinsbeitritts (n=233).

Die absolute Mehrheit (78 %) aller befragten Mitglieder hat sich erstaunlicher­ weise nicht primär wegen der Homöopathie für einen Vereinsbeitritt entschie­ den, sondern wegen eines grundsätzlichen Interesses an Medizin, Gesundheit und Prävention. Dementsprechend wünschen sich auch nur 158 (68 %) Laien­ homöopathen von der Vereinsleitung explizit die Veranstaltung von Vorträgen und Kursen über Homöopathie. Nahezu gleich viele Befragte, nämlich 149 (64 %), traten einem homöopathischen Verein bei, da sie sich von einer Mit­ gliedschaft nähere Informationen über das Auswählen und Anwenden der im jeweiligen Bedarfsfall angezeigten homöopathischen Arzneimittel erhoffen. Ihre prinzipielle Offenheit gegenüber alternativmedizinischer Heilmethoden spiegelt sich darin wider, dass immerhin die Hälfte (123) der hierüber Anga­ ben machenden Mitglieder wegen entsprechenden Informationsangeboten einem Homöopathieverein beigetreten sind. Weniger beliebt und seltener nachgefragt scheinen hingegen Veranstaltungen zu sein, die sich mit Ernäh­ rung (31 %) und Entspannung (27 %) befassen, obwohl diese Themen in Bezug auf einen achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper eine große Rolle spie­ len. Schließlich boomt schon seit Jahren das Geschäft sowohl mit biologisch­ ökologischen Lebensmitteln und Bio­Produkten verschiedenster Art als auch mit entspannungsfördernden Wellness­Angeboten.24 Umgekehrt könnte die­ ses (mediale) Überangebot auch der Grund für das vergleichsweise geringere Interesse an Ernährungs­ und Entspannungstechniken sein: Wie man sich ge­ sund, abwechslungs­ und vitaminreich ernährt und sich im Alltag wohltuende Auszeiten nimmt, dürfte den Fragebogenteilnehmern aufgrund der „Omni­ 24 Vgl. Fritzen (2006), S. 329; Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 181.

8.2 Zum medikalen Profil

325

präsenz potentiell gesundheitsrelevanter Entscheidungen“25 hinreichend be­ kannt sein.26 Die homöopathischen Laienvereine müssen heute auf diesem Gebiet keine größeren Wissenslücken ihrer Mitglieder mehr schließen, wie das  – denkt man an die gebetsmühlenartige Betonung einer naturgemäßen Ernährung – vor einigen Jahrzehnten noch der Fall war. Aus den Ergebnissen von Frage 5 kann man herauslesen, dass die Laien­ homöopathen einem homöopathischen Verein vor allem deshalb beigetreten sind, da sie Informationen aus erster Hand bzw. einer verlässlicher Quelle beziehen wollen. Das ist besonders beachtlich, wenn man die ubiquitäre Ver­ fügbarkeit und Fülle von entsprechenden Informationsangeboten bedenkt. Nicht erst seit Ende 2013 ist es Interessierten und versierten Homöopathie­ nutzern gleichermaßen möglich, sich bequem vom heimatlichen Sofa oder Sessel mit ausreichend Wissen über verschiedene Erkrankungen bzw. Symp­ tome und deren homöopathische Behandlung zu versorgen. Neben der klassi­ schen Ratgeberliteratur stehen unzählige Websites, Internetforen und mittler­ weile sogar kostenlose wie ­pflichtige Applikationen für Smartphones, Smart­ watches und Tablets zur Verfügung.27 Wer im digitalen Zeitalter wissen will, welche Globuli er bei welchen Beschwerden einnehmen soll, muss also nicht mehr zwingend den zeitraubenden Gang zur einer Veranstaltung des örtli­ chen Vereins antreten (sofern es einen solchen überhaupt noch gibt), sondern konsultiert beispielsweise beim Bus­ oder Bahnfahren sein Mobiltelefon oder seine Armbanduhr. Dieses Szenario mag ein wenig überzeichnet sein und wird in dieser Form auch nur auf eine besonders technikaffine Bevölkerungs­ minderheit zutreffen. Zum Ausdruck kommt darin aber die Janusköpfigkeit des modernen Medien­ bzw. Wissensangebots: Zwar bietet es überall abruf­ bare Informationen, allerdings nicht gleich leicht die Möglichkeit, diese Infor­ mationen auf ihre Richtigkeit hin überprüfen und hinterfragen zu können. Hier könnten die homöopathischen Laienvereine als verlässliche Informa­ tionsdienstleister ihre Stärken ausspielen.

25 Eisele (2015), S. 171; Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 180. 26 Vgl. Identity Foundation (2000), S. 7 f. Laut der IfD­Befragung über das Gesundheitsver­ halten sind 88 % der Deutschen davon überzeugt, dass die Lebensweise darüber entschei­ det, ob man krank wird oder nicht. 59 % von ihnen gaben an, im Alltag lockere Gesund­ heitsregeln zu beachten. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Uta Schnürer, nach­ dem sie Ende 1999 insgesamt 174 Personen per Fragebogen über ihr Gesundheitsverhal­ ten befragte. 64 % gaben an, Sport zu treiben bzw. sich zu bewegen, um sich gesund zu halten. 61 % achteten auf ihre Ernährung. Vgl. Schnürer (2002), S. 98. 27 Durchsucht man den App Store des amerikanischen Soft­ und Hardwareentwicklers Apple nach „Homöopathie“, so finden sich insgesamt 86 mehr oder weniger brauchbare Apps (Stand: 23. Juni 2016), die den Nutzer teils sehr umfangreich über die Auswahl und Anwendung homöopathischer Mittel informieren. Manche Apps erinnern per Alarm­ funktion sogar an deren rechtzeitige Einnahme. Zur gesundheitsrelevanten Bedeutung von Smartphones und Tablets siehe: Andelfinger/Hänisch (2016).

326 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen Frage 6: Wie häufig besuchen Sie die Veranstaltungen ihres Vereins?

fast immer 31%

selten 37%

häufig 28%

nie 4%

Diagr. 19: Häufigkeit der Versammlungsbesuche (n=233).

Neben den Gründen und Motiven für einen Vereinsbeitritt ist die Häufigkeit von Interesse, mit der die Mitglieder die Veranstaltungen ihres Ortsvereins besuchen (Frage 6). Die historischen Befunde der Arbeit haben gezeigt, dass die Teilnehmerzahlen bei regulären Versammlungen zu allen Zeiten und in allen Vereinen gering waren. Davon zeugen nicht nur die in mehreren Proto­ kollbüchern vermerkten Besucherzahlen, sondern auch die zahlreichen Ap­ pelle und Ermahnungen der Vereinsvorsitzenden, die Mitglieder mögen sich doch häufiger und zahlreicher einfinden. Teilweise erschienen nur rund zehn Prozent aller Mitglieder zu den regelmäßigen Monats­ oder Quartalsver­ sammlungen. Mit mehreren Dutzend Teilnehmern konnte nur gerechnet wer­ den, wenn den Mitgliedern etwas Besonderes geboten wurde, etwa ein Vor­ trag über ein populäres Thema, eine Dia­ oder Filmvorführung, ein Ausflug oder auch eine Vereinsfeierlichkeit. Insofern war zu erwarten, auch angesichts der tendenziellen Überalterung der Mitglieder homöopathischer Vereine, dass sich an der Teilnahmemoral wenig geändert hat, die meisten Befragten wohl „selten“ oder „nie“ zu den Veranstaltungen erscheinen. Tatsächlich, so die Auswertung der einzelnen Antworten, ist deren Zahl mit 97 (42 %) recht hoch, bleibt aber hinter den Erwartungen zurück. Die Mehrheit der Vereins­ mitglieder, nämlich 136 (58 %), gab an, dass sie die Vereinsversammlungen „fast immer“ (72, 31 %) oder zumindest „häufig“ (64, 27 %) besuchen. Das kann allerdings ein Bias der Umfrage sein: Die aktiven Vereinsmitglieder be­ antworten auch den Fragebogen. Mit der offenen Frage 7 sollten die konkreten Motive erfragt werden, warum die Mitglieder das Vereinsangebot entweder regelmäßig oder nur sel­ ten wahrnehmen. Aus den einzelnen Notizen geht hervor, dass viele Befragte ihr häufiges Erscheinen mit einem allgemeinen oder besonderen Interesse für das jeweilige Vortrags­ oder Veranstaltungsthema begründen. Dass sie auf die

8.3 Zusammenfassung der wichtigsten Teilergebnisse

327

Erhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit bedacht sind, bedeutet nicht automatisch, wie beispielsweise in einem Sportverein, dass sie regelmä­ ßig und ungeachtet der Inhalte die Versammlungen besuchen. Stattdessen entscheiden sie offenbar selektiv und entsprechend ihrer Präferenzen, ob sie sich die Zeit nehmen und im Vereinslokal erscheinen wollen. „Info ist alles, sonst läuft nichts“, bringt eine Laienhomöopathin den Anspruch vieler Ver­ einsmitglieder treffend auf den Punkt. Für die Vereinsleitungen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, für ein attraktives und möglichst viele Mitglieder ansprechendes Vereinsprogramm zu sorgen. Das mag nicht immer gelingen, denn den Älteren sind die abendlichen Termine zu spät. Die Jüngeren hinge­ gen halten, so die Auswertung der einzelnen Antworten, oftmals anderweitige Verpflichtungen wie Beruf, Familie oder weitere Vereinsaktivitäten vom Ver­ anstaltungsbesuch ab. Hier liegen die für einen Gesundheitsverein charakte­ ristischen Herausforderungen: Er muss – vor allem im Hinblick auf die me­ diale Konkurrenz – fortwährend darauf bedacht sein, seine anspruchsvollen Mitglieder durch interessante, thematisch abwechslungsreiche, zeitlich güns­ tig gelegene und noch dazu gut organisierte Veranstaltungen zu einem regel­ mäßigen Erscheinen zu motivieren. 8.3 Zusammenfassung der wichtigsten Teilergebnisse Die Fragebogenaktion, an der insgesamt 238 Vereinsmitglieder teilgenom­ men haben, brachte aufschlussreiche Befunde über das soziologische und me­ dikale Mitgliederprofil der gegenwärtigen Laienhomöopathen­Generation. Die wichtigsten dieser Ergebnisse sollen noch einmal kurz rekapituliert wer­ den. Ausgefüllt worden sind 82 % aller Fragebögen von Frauen. Männer sind hingegen mit 18 % in der absoluten Unterzahl. Diese ungleichmäßige Vertei­ lung entspricht dem langjährigen Männer/Frauen­Verhältnis innerhalb der Laienbewegung spätestens seit den 1980er Jahren. Des Weiteren ergab die Auswertung der biographischen Fragen, dass im Herbst 2013, also zum Zeit­ punkt der Befragung, exakt die Hälfte der Vereinsmitglieder 63 Jahre oder älter war. Jünger als 30 Jahre waren gerade einmal drei Befragte. Das mag zum einen daran liegen, dass statistisch gesehen erst mit 30 Jahren das Inte­ resse für einen gesundheitsbewussten Lebensstil wächst.28 Zum anderen wer­ den die Gründe für den Nachwuchsmangel zu einem gewissen Grad darin zu suchen sein, dass die homöopathischen Vereine jungen Menschen keinen grö­ ßeren Anreiz bieten, sich ihnen anzuschließen. Schließlich ist das Wissen, wird es denn einmal benötigt, auch anderweitig verfügbar. Qualitätsdefizite werden dabei entweder nicht erkannt oder durch Bequemlichkeit und Zeiter­ sparnis ausgeglichen. Der homöopathischen Laienbewegung muss, zumindest nach diesem Teilergebnis der Fragebogenaktion, eine Tendenz zur Überalte­ rung attestiert werden, die sich in den kommenden Jahren noch verschärfen 28 Vgl. Identity Foundation (2000), S. 9 f.

328 8. Das gegenwärtige soziologische und medikale Profil der Laienhomöopathen wird, sollte es den einzelnen Vereinen nicht gelingen, vermehrt und dauerhaft jüngere Mitglieder anzusprechen. Bildungs­ und Berufsstatus der befragten Laienhomöopathen bestätigen die historischen Ergebnisse der Arbeit. Die homöopathische Laienbewegung war und ist auch heute noch keine Elitenbewegung, der überproportional viele Vertreter der bürgerlichen Oberschicht oder des Bildungsbürgertums angehören. Ausnahmen gibt es zwar, wie sowohl die überlieferten Mitglieder­ listen als auch die Fragebögen beweisen, gestern wie heute organisieren sich in einem homöopathischen Verein jedoch hauptsächlich Menschen aus dem Kleinbürgertum und der Mittelschicht. Dass heutzutage Angestellte die Hand­ werker und Facharbeiter früherer Jahrzehnte als am stärksten vertretene Be­ rufsgruppe abgelöst haben, ist dem dienstleistungsgesellschaftlichen Struktur­ wandel geschuldet, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzo­ gen hat. Damit unterscheidet sich der in einem Verein organisierte Laienho­ möopath von den nichtorganisierten Homöopathienutzern, die Dinges’ Beob­ achtungen zufolge sowohl jünger sind als auch über eine höhere Bildung so­ wie ein höheres Grundeinkommen verfügen als der Bevölkerungsdurch­ schnitt.29 Rund 40 % der an der Fragebogenaktion teilnehmenden Vereinsmitglie­ der kamen über ihre Sozialisation innerhalb der Familie und Verwandtschaft in Kontakt mit der Homöopathie, weitere 33 % über nahestehende Freunde oder Kollegen. Eine nur untergeordnete Rolle spielen bei der Verbreitung der Homöopathie indessen der Lebenspartner, Hausärzte, Massenmedien oder die weitgehend unbekannten homöopathischen Vereine. Zum medikalen Profil der befragten Vereinsmitglieder lässt sich zunächst sagen, dass diese die Behandlung von Erkrankungen und Befindlichkeitsstö­ rungen, zumindest in leichten Fällen, gerne selbst in die Hand nehmen. Ne­ ben der Homöopathie bevorzugen die Befragten auch noch etliche andere, mehr oder weniger stark verbreitete, alternativmedizinische Praktiken und Heilmethoden. Dieser Befund verwundert indessen wenig, schließlich sind rund drei Viertel davon überzeugt, dass sowohl die Erhaltung oder Wieder­ herstellung von Gesundheit als auch einzelne Krankheitssymptome in einem ganzheitlichen Kontext gesehen und bei Vorbeugung wie Therapie eine Viel­ zahl von lebensweltlichen Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssen. Umgekehrt bedeutet ihre Offenheit gegenüber alternativmedizinischen Ange­ boten nicht, dass die Vereinsmitglieder die einseitigen schulmedizinischen Therapieansätze per se ablehnen. Immerhin werden letztere ebenfalls von knapp drei Viertel aller Befragten in Anspruch genommen. Nur ein Drittel bekundete, sich aus Unzufriedenheit mit der Schulmedizin für die Homöopa­ thie entschieden zu haben. Die von den homöopathischen Vereinsmitgliedern praktizierte medikale Kultur ist also heterogen und äußerst vielschichtig. Schul­ und Alternativmedizin schließen sich nicht aus oder existieren getrennt voneinander, sondern werden situativ und dem jeweiligen Beschwerdebild entsprechend in Anspruch genommen. Hauptsächlich bei Erkältungen und 29 Dinges (2012), S. 140 f.

8.3 Zusammenfassung der wichtigsten Teilergebnisse

329

Verletzungen greifen die Laienhomöopathen vornehmlich zu Globuli oder wenden bei Beschwerden verschiedene Naturheilverfahren an, bei schwerwie­ genden Erkrankungen scheuen sie aber auch nicht davor zurück, sich der konventionellen oder chirurgischen Behandlung eines Schulmediziners anzu­ vertrauen. Damit ist der gegenwartsbezogene Teil der eingangs gestellten Fragestel­ lung beantwortet. Abschließend gilt es, die Ergebnisse mit dem Erkenntnisin­ teresse der Arbeit in Bezug zu setzen. Anhand der diachronen wie synchro­ nen Analyse von Protokollbüchern homöopathischer Vereine wurde der Frage nachgegangen, ob sich der Schwerpunkt deren Arbeit im Laufe des 20.  Jahrhunderts in Richtung Vorbeugung verschoben, die Laienbewegung zur Festigung eines präventiven Selbst beigetragen hat. Die Quellen sprechen eindeutig für eine solche Akzentverschiebung: Spätestens in den 1920er Jah­ ren trat die Vorstellung einer vorbeugenden Lebensweise gleichberechtigt an die Seite der homöopathischen Behandlung von Krankheiten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war „Vorbeugung ist besser als heilen“ sogar die immer wieder betonte und angemahnte Leitphrase der homöopathische Laienbewegung. Die Befunde der Fragebogenauswertung bestätigen die Do­ minanz des Präventionsgedankens indessen nicht: Die befragten Vereinsmit­ glieder interessieren sich zwar für Gesundheit im Allgemeinen, erhoffen sich von einer Mitgliedschaft aber primär Informationen bezüglich der homöopa­ thischen bzw. alternativmedizinischen Behandlung von Krankheiten. Die einst vorherrschenden Themen Ernährung, Entspannung und Diätetik spielen bei den Präferenzen hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Entsprechende Informationen sind anderweitig verfügbar oder dem „gesundheitsbewussten Interventionisten“30, Exponent der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft, bereits bekannt. Mit einiger Vorsicht kann daraus die Hypothese abgeleitet werden, dass die homöopathische Laienbewegung am Anfang des 21.  Jahr­ hunderts zu ihren kurativen Wurzeln zurückkehrt. Statt länger für die Verbrei­ tung eines gesundheitsrelevanten Verhaltensstils einzutreten, tritt die Anlei­ tung zur Selbsthilfe in akuten Notfällen wieder in den Mittelpunkt der Ver­ einsarbeit. Die Beantwortung der Frage, ob die homöopathische Laienbewegung als Vorläufer und Teil der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft bezeichnet wer­ den kann, soll dem Fazit der Arbeit vorbehalten bleiben.

30 Vgl. Hoffmann (2012), S. 404 ff.; vgl. Luy/Di Guilio (2005), S. 379 f.

9. Fazit Vom kurativen zum präventiven Selbst?  – so lautet der mit einer ernst und nicht rhetorisch gemeinten Frage verbundene Untertitel der vorliegenden Ar­ beit. Bevor eine abschließende Antwort gegeben werden kann, soll noch ein­ mal kurz der gesellschaftliche Kontext erläutert werden, um sowohl den Titel als auch die zentralen Ergebnisse einordnen zu können. Die Vorstellungen von gesunder Lebensführung, die sich in spezifischen Ernährungs­ und Bewegungsgewohnheiten ausdrücken, sind keine transgene­ rationale anthropologische Konstante, sondern eine historisch veränderliche kollektive Konstruktion.1 Das Leitbild des „präventiven Selbst“, mit dem ge­ genwärtig der hohe gesellschaftliche Stellenwert der Vorsorge und Gesund­ heit umschrieben wird, ist demnach historisch gewachsen. Die Herausbildung der modernen Krankheitsprävention begann Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Zunahme chronischer Krankheiten (epidemiologische Transition) sowie epistemische Voraussetzungen (Veränderungen des Gesundheitszustands spie­ geln sich in Morbiditäts­ und Mortalitätsstatistiken wider) dazu führten, dass sich der medizinische und gesundheitspolitische Diskurs verlagerte von kura­ tiven therapeutischen Eingriffen zu präventiven Vorkehrungen.2 In der Zwi­ schenkriegszeit nahm die Politisierung des Präventionsdiskurses weiter zu, Prävention avancierte zu einem Schlüsselbegriff der republikanischen Ge­ sundheitspolitik und schlug sich in sozialpolitische Forderungen (Wohnungs­ bau, Tarifrecht, Gesundheitsfürsorge) sowie individuellen Verhaltensratschlä­ gen (Stichwort GeSoLei 1926) nieder.3 Gleichzeitig erfuhr der Vorsorgege­ danke eine Popularisierung, die zu einer verstärkten Beachtung präventiver Deutungs­ und Handlungsmuster beitrug. Eng geknüpft war der politische, wissenschaftliche wie populärwissenschaftliche Präventionsdiskurs an zivilisa­ tions­ und kulturkritische Vorstellungen. Jeanette Madarász und Martin Leng­ wiler weisen in ihrer Kulturgeschichte der modernen Gesundheitspolitik dar­ auf hin, dass die Sorge um die neuen Zivilisationskrankheiten letztlich einen tiefgreifenden kulturhistorischen Transformationsprozess markiere, „der von der Veränderung der Konsumgewohnheiten im Übergang von Mangel­ zu Überflussgesellschaften ausging und damit eine Neukodierung von Ernäh­ rungsgewohnheiten einschließlich neuer Pathologien wie der Fettsucht und dem Herzkreislaufrisiko verband.“4 Nach 1945 setzte sich der zivilisationskri­ tisch aufgeladene Präventionsdiskurs fort und entfaltete eine große Breiten­ wirkung. Der Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946 zu­ folge, bedeutete Gesundheit nicht länger die Abwesenheit von Erkrankungen und Schmerzen. Fortan wurden verschiedenste lebensweltliche Faktoren in die Bewertung von körperlicher und geistiger Gesundheit miteinbezogen, Ge­ sundheit und Wohlbefinden im Umkehrschluss von der Anpassung an die 1 2 3 4

Hoefert: Lebensführung (2011), S. 8. Madarász/Lengwiler (2010), S. 18; vgl. ebenso Weindling (1992). Madarász/Lengwiler (2010), S. 19. Madarász/Lengwiler (2010), S. 20.

9. Fazit

331

Gegebenheiten der Umwelt abhängig gemacht (ökologisches Modell).5 Und diese Gegebenheiten galten aufgrund der globalen „toxischen Gesamtsitua­ tion“6 nach dem Zweiten Weltkrieg als gesundheitsschädlich. Um ihr zu trot­ zen, entwickelte die WHO den generalisierten Gesundheitsbegriff und die damit verbundenen Präventionskonzepte in mehreren Schritten weiter. Mit der schließlich 1986 veröffentlichten Ottawa­Charta löste die positive Gesund­ heitsförderung (Salutogenese) die traditionelle, krankheitsfixierte Gesundheits­ vorsorge ab: Präventionsmaßnahmen dienten nun primär der Gesundheitssi­ cherung, nicht mehr der Krankheitsverhinderung.7 Diese Aktualisierung des Präventionsbegriffs begünstigte die Akzentverschiebung der Gesundheit hin zu gesteigerter Funktionalität, mehr Energie und der besseren Integration körperlicher, geistiger und seelischer Komponenten (Wellness­Modell).8 Im Fokus des präventiven Gesundheitsverhaltens steht seither die hedonistisch motivierte Steigerung des individuellen Wohlbefindens, die als eines der Merkmale der modernen Gesundheitsgesellschaft gilt. Vor diesem Hintergrund wurde anhand der überlieferten Vereinsproto­ kollbücher und Laienpresse die Entwicklung der homöopathischen Laienbe­ wegung im langen 20. Jahrhundert untersucht. Zum einen sollte herausgefun­ den werden, inwieweit die Laienhomöopathen  – die sich ja eigentlich der (selbständigen) Behandlung von Krankheiten und nicht deren Vorbeugung verschrieben hatten  – am Präventionsdiskurs partizipierten bzw. von ihm in ihrer Tätigkeit beeinflusst worden sind. Zum anderen ging es bei der Quellen­ auswertung um die Frage, ob die homöopathische Laienbewegung zumindest teilweise als historischer Vorläufer der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft gelten kann. Bei der Beantwortung dieser zweiten Frage waren die von Ilona Kickbusch und Susanne Hartung definierten Bestimmungsmerkmale jener Gesundheitsgesellschaft hilfreich. Analytisch und nicht normativ angewendet machen sie den Vergleich vergangener und moderner medikaler Kulturen und damit die Beschreibung der spezifischen kollektiven Konstruktionspro­ zesse überhaupt erst möglich. Die titelgebende Frage nach der Transformation des kurativen zum prä­ ventiven homöopathischen Selbst ist mit nein zu beantworten. Die Anleitung zur erfolgreichen Anwendung homöopathischer Arzneimittel sowie Aufklä­ rung über Homöopathie war zu allen Zeiten fester Bestandteil sowohl der Verbands­ als auch der Vereinsarbeit. Auch der auf Wohlbefindlichkeitssteige­ rung fixierte Wellness­Trend und die „Omnipräsenz potentiell gesundheitsre­ levanter Entscheidungen“9, durch die sich die heutige Gesellschaft u. a. aus­ zeichnet, konnten daran nichts ändern. Ein wesentliches Ergebnis der Frage­ bogenaktion lautete, dass die Mehrzahl der Ende 2013 aktiven Mitglieder ge­ rade wegen der Selbstmedikation im Krankheitsfall in einen homöopathi­ 5 6 7 8 9

Hoefert: Lebensführung (2011), S. 8. Fritzen (2006), S. 260. Madarász/Lengwiler (2010), S. 21. Hoefert: Lebensführung (2011), S. 8. Eisele (2015), S. 171.

332

9. Fazit

schen Verein eingetreten ist. Das kurative Selbst, dem schon vor 1914 an der eigenständigen Behandlung und Bewältigung von Krankheiten gelegen war, ist also auch rund hundert Jahre später in der Laienbewegung noch präsent. Dieser Befund darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die prinzipielle Krankheitsverhinderung sowie entsprechende Techniken eines präventiven Selbst  – entlang der soziopolitischen wie ­kulturellen Entwicklung  – in den 1920er Jahren an Bedeutung gewannen und letztlich zu dem bestimmenden Thema der Vortragspraxis avancierten. Der Erste Weltkrieg wirkte nicht nur auf die Lebensreformer wie eine Art „Reaktionsbeschleuniger“ (Fritzen), son­ dern auch auf die Laienhomöopathen. Erstmals propagierten sie auf breiter Ebene eine naturgemäße, bewegungsreiche und damit krankheitsverhütende Lebensführung. Unter dem zeittypischen Motto „Pflicht zur Gesundheit“ fan­ den nach 1925, als sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland allmählich stabilisierten, in vielen homöopathischen Vereinen Koch­, Gymnastik­ und Verbandskurse statt. Neu war auch, dass diese Ange­ bote in aller Regel von Frauengruppen initiiert und auch ausschließlich von Frauen wahrgenommen wurden. Die Stilisierung der bürgerlichen Hausfrau zur „Garantin fast aller Hygiene“10, zur Hausärztin und aufopfernden Mutter fand bereits in den 1920er Jahren ihren Höhepunkt und läutete die allmähli­ che Umkehrung der Geschlechterverteilung ein; während vor hundert Jahren ausschließlich Männer das Vereinsgeschehen prägten und lenkten, besteht die homöopathische Laienbewegung Anfang 2016 zu 80 % aus Frauen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Folgen die Anzahl der Mitglie­ der und Vereine stark dezimierte, hielten die Laienhomöopathen an ihrem Leitspruch: „Wichtiger wie heilen ist die Lebenspflege“11 fest. Analog zur ge­ samtgesellschaftlichen Entwicklung, die ihrerseits von der WHO­Charta und ihren epistemischen wie gesundheitspolitischen Auswirkungen beeinflusst wurde, orientierten sie sich am ökologischen Gesundheitsmodell. Der „radi­ kale Paradigmenwechsel“12 (Schipperges), der die Konsolidierung der Kon­ sumgesellschaft in den Nachkriegsjahren begleitete, spiegelt sich auch in der homöopathischen Laienbewegung wider: Stärker als je zuvor wurde Kritik an der Moderne geübt, die aufgrund der fortschreitenden Umweltzerstörung gleichzusetzen sei mit Gesundheitsschädigung. Um die Entstehung von Krankheiten zu verhindern, gaben die Arzt­ und Laienredner in ihren Vorträ­ gen diätetische Verhaltensratschläge (naturbelassene Ernährung, Bewegung in sauerstoffreicher Umgebung, genügend Ruhepausen, ausreichend Schlaf, Harmonie in zwischenmenschlichen Beziehungen), die im Wesentlichen auf die Kompensation der pathogenen Umweltfaktoren (Hektik, Lärm, Stress, Neid und Geldgier, verpestete Stadtluft, belastete Nahrungsmittel) abzielten. Als in den 1970er Jahren und spätestens mit der Ottawa­Charta das Konzept der Salutogenese den gesundheitspolitischen Präventionsdiskurs zu bestim­ men begann, ließen auch die Laienhomöopathen von der Benennung der 10 Meyer­Renschhausen (1989), S. 164. 11 IGM/Varia 374, 24. November 1951. 12 Schipperges (1991), S. 62.

9. Fazit

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Gesundheitsrisiken ab, attestierten sich ein „erhöhtes Gesundheitsbewusst­ sein“13 und betonten, dass die Bewegung ja schon seit längerem dem „Trend zum Natürlichen“14 entgegenkäme. Der Kurs­ oder besser gesagt Strategie­ wechsel hatte aber noch einen weiteren Grund: um 1970 formierte sich die Ökologie­ und Alternativbewegung15, die die breite Masse mit laienhomöopa­ thischen Themen wie Umweltzerstörung, Risikofaktoren, Medizinkritik sowie der Notwendigkeit sanfter und ganzheitlicher Heilverfahren in Berührung brachte. Wegen der dauerhaften medialen Präsenz des Themenkomplexes Gesundheit bedurfte es fortan nicht zwingend einer Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein, um sich über Gesundheit, Vorbeugung und Alter­ nativmedizin zu unterrichten. Um konkurrenzfähig bleiben und den Verlust hunderter Mitglieder ausgleichen zu können, wandten sich die Laienhomöo­ pathen von der vehementen Zivilisationskritik ab. Zugleich versuchten sie, von eben jenem „Trend zum Natürlichen“ zu profitieren, indem sie sich  – wenn auch auf der Vereinsebene nicht ganz freiwillig – in großem Maße auch anderen alternativmedizinischen Verfahren öffneten. In den 1990er Jahren, als Alternativmedizin im Zuge der Wellness­Bewegung mehr und mehr zu ei­ ner Art Lifestyle mutierte, zahlte sich die Stärkung des kurativen Selbst schließlich aus: 2008 erreichte die Bewegung den höchsten Mitgliederstand seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Seither sind die Mitgliederzahlen allerdings erneut rückläufig – obwohl Umfragen der Alternativmedizin im Allgemeinen und Homöopathie im Besonderen anhaltende Popularität bescheinigen. Der zweiten zentralen Fragestellung liegt die Überlegung von Eberhard Wolff zugrunde, dass Alternativmedizin (und damit auch die Homöopathie) nicht einfach nur eine spezielle Form der Krankheitstherapie, sondern „ab­ strakt gesprochen ein Teil gesundheitsbezogener Umgangsformen mit dem individuellen Körper“16 sei. Der Übergang zu Praktiken wie Fitness, Wellness und Diätetik als gesundheitsbezogene Lebens­ und Ernährungsweise sei daher ausgesprochen fließend. Alternativmedizin ähnelt also, so Wolff, dem breite­ ren Konzept der „gesundheitsorientierten Lebensführung“17. Gesundheit wird darin als „Lebenssinn“18 verstanden, dem Selbstverwirklichung und individu­ elle Freiheit untergeordnet werden.19 Anhand der Befunde der vorliegenden Arbeit kann gezeigt werden, dass die partielle Übereinstimmung von Alternativmedizin und gesundheitsorien­ tierter Lebensführung bei weitem kein junges Phänomen ist, die kulturellen Wurzeln der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft vielmehr weit ins 20. Jahrhundert zurückreichen. Die von Kickbusch und Hartung definierten 13 IGM/Varia 377, 18. Oktober 1987. 14 IGM/Varia 529, 23. April 1982. Schon ein knappes Jahr zuvor notierte der Vereins­ schriftführer ins Protokollbuch, dass man spüre, „daß natürliche Lebens­ und Heilweisen langsam wieder Fuß fassen“ (IGM/Varia 529, 30. Januar 1981). 15 Vgl. Uekötter (2012), S. 110 ff. 16 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 178. 17 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 178. 18 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 180. 19 Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 180.

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9. Fazit

Bestimmungsmerkmale der Gesundheitsgesellschaft20 finden Entsprechungen in der spezifischen medikalen Kultur der homöopathischen Laienbewegung. Demnach kann die Bewegung mit einigem Recht als einer der Vorläufer der Gesundheitsgesellschaft bezeichnet werden. Ein individuelles und aktives Ge­ sundheitsverständnis eigneten sich die Laienhomöopathen bereits Ende des 19. Jahrhunderts an, indem sie Vorträge und andere informierende Veranstal­ tungen über Krankheiten und deren Behandlung besuchten, sich dadurch also aktiv um die Wiederherstellung von Gesundheit bemühten. Auch zeich­ nete sie ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz aus, da sie den Vorträgen und Zeitschriftenartikeln nicht nur anatomisch­physiologisches und medizini­ sches Wissen, sondern seit den 1920er Jahren auch Ratschläge bezüglich ei­ ner vorbeugenden, gesundheitsbewussten Lebensweise entnehmen konnten. Erwähnt seien in diesem Kontext auch die verschiedenen Utensilien zur Kranken­ und Körperpflege sowie die Sanitäts­ und Verbandskurse. Laut Kickbusch und Hartung zeichnet sich die moderne Gesundheitsge­ sellschaft zudem durch einen gesteigerten Wissens­ und Erfahrungsaustausch zwischen Patienten/­innen aus. In den homöopathischen Vereinen sollten Dis­ kussions­ oder Ausspracheabende und nicht zuletzt die regelmäßig stattfin­ denden Mitgliederversammlungen einen solchen Austausch zwischen den Laienhomöopathen ermöglichen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts boten die überregionalen Bezirkstreffen oder gegenseitigen Vereinsbesuche ebenso Gelegenheit, sich im Plenum über homöopathie­ und gesundheitsbe­ zogenes Wissen sowie Krankheitserfahrungen auszusprechen. Die Kommerzialisierung der Gesundheit als weiteres spezifisches Bestim­ mungsmerkmal der Gesundheitsgesellschaft findet sich ebenfalls in der Laien­ bewegung wieder, was vor allem daran abgelesen werden kann, dass der An­ zeigenteil in den homöopathischen Zeitschriften bald nach deren Gründung immer größer wurde.21 Ebenso gab es zu allen Zeiten seriöse und weniger seriöse Anbieter medizinischer Dienstleistungen, die mit der Homöopathie Geschäfte zu machen versuchten (Kurpfuscher, Laien­ und zuletzt Heilprakti­ ker). Dass Kommerzialisierung aber auch Wahlmöglichkeiten eröffnet, wird anhand der Öffnung der Laienbewegung gegenüber anderen alternativmedi­ zinischen Verfahren deutlich. Die Vereine reagierten auf die in den Siebzigern beginnende Ausdifferenzierung des Gesundheitsmarktes mit Erweiterung ih­ res Themenspektrums, um neue Mitglieder zu gewinnen. Die anderen beiden wesentlichen Merkmale der Gesundheitsgesellschaft – Öffnung und Demokratisierung des Gesundheits­ und Krankenversorgungs­ systems durch Forderung nach Transparenz und Partizipation sowie geschärf­ tes Bewusstsein für gesellschaftliche Ungleichheit in der Gesundheit – lassen sich nur bedingt auf die homöopathische Laienbewegung übertragen. Sicher ist aber, dass sie durch ihre langjährigen Bemühungen, etwa um Anerken­ nung der Homöopathie als Kassenleistung, zur Ausprägung dieser Merkmale beigetragen haben. Das Einstehen der Laienhomöopathen für die Homöopa­ 20 Kickbusch/Hartung (2014), S. 10 f. 21 Zu den Werbeanzeigen in den Homöopathischen Monatsblättern siehe: Hoffmann (2013).

9. Fazit

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thie hat trotz aller Widerstände dafür gesorgt, dass sie – anders als andere al­ ternativmedizinische Heilmethoden ohne entsprechende Lobby  – von der Schulmedizin nicht gänzlich verdrängt werden konnte. Neben den zentralen Charakteristiken der Gesundheitsgesellschaft, findet sich auch das populäre Konzept der gesundheitsorientierten Lebensführung in der homöopathischen Laienbewegung wider. Wie gezeigt wurde, rückten die Laienhomöopathen in den 1920er und verstärkt seit den 1950er Jahren die individuelle Gesundheit in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. Die Vereins­ mitglieder wurden sensibilisiert für die Gefahren, die zunächst eine falsche Ernährungs­, dann eine einseitige Lebensweise barg, und angehalten, ihr Ver­ halten an diese Gesundheitsgefahren anzupassen. Die gebetsmühlenartige Be­ tonung von Diätetik und Achtsamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper führten zur einer fortwährenden Risikobeurteilung alltäglicher Handlungs­ und Verhaltensweisen, die sich schließlich zu einem präventiven Selbst verfes­ tigten. Dieses präventive Selbst ist innerhalb der Laienbewegung mittlerweile so etabliert, dass die Vereinsmitglieder primär an Informationen zur homöo­ pathischen Arzneimitteltherapie interessiert sind und sekundär an Entspan­ nungs­ und Ernährungstipps. Bisher hat sich die Forschung nicht der Frage angenommen, inwieweit das weit verbreitete Phänomen der gesundheitsorientierten Lebensführung histo­ rische Vorgänger bzw. ­bilder hat. Sie begnügte sich mit der Feststellung, dass der „Megatrend Gesundheit“22 in den 1960er Jahren seinen Anfang nahm und sich seither immer weiter ausdifferenzierte. Die vorliegende Arbeit kann hoffentlich dazu beitragen, seinen eigentlichen Beginn vorzuverlegen. Lange bevor die Ökologie­ und Alternativbewegung das Thema Gesundheit in weite Teile der Gesellschaft trug, betonten die Laienhomöopathen ähnlich wie Na­ turheilvereine und andere Gesundheitsbewegungen die Notwendigkeit einer gesundheitsbewussten, bewegungsreichen und genussgiftfreien Lebensweise. Die Ergebnisse der Arbeit sollen ebenso dazu anregen, in der Geschichts­ schreibung der Prävention stärker als bisher die Faktoren zu berücksichtigen, die die Herausbildung und Verfestigung eines kurativen Selbst begünstigten.

22 Vgl. Kickbusch (2006).

Abkürzungsverzeichnis Anm. Bd. BRD bzw. DÄB DDR d. h. Diagr. Diss. DHMD DVB f./ff. Hg. HJ HM HStA IfD IGM Jg. Kap. KdF LA LPZ MLNH NH NS NSDAP PKW S. SA SBZ SS StA Tab. u. a. usw. V Vgl./vgl. VHDH VVHN WHO z. B.

Anmerkung Band Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise Deutsches Ärzteblatt Deutsche Demokratische Republik das heißt Diagramm Dissertation Deutsches Hygiene­Museum Dresden Deutscher Volksgesundheitsbund folgende Herausgeber Hitlerjugend Homöopathische Monatsblätter Hauptstaatsarchiv Institut für Demoskopie Allensbach Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Jahrgang Kapitel Kraft durch Freude Landesarchiv Leipziger Populäre Zeitschrift Modernes Leben, natürliches Heilen Natur & Heilen Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Personenkraftwagen Seite Sturmabteilung der NSDAP Sowjetische Besatzungszone Schutzstaffel der NSDAP Stadtarchiv Tabelle unter anderem und so weiter Varia vergleiche Homöopathischer Verein Heidenheim Verband süddeutscher Vereine für Homöopathie und Naturheil­ kunde Weltgesundheitsorganisation zum Beispiel

Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archiv des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Bestand V Varia Homöopathischer Verein Fellbach IGM/Varia 68 – Protokollbuch 1905–1932 IGM/Varia 68 – Protokollbuch 1933–1956 Homöopathischer Verein Göppingen IGM/Varia 225 – Protokollbuch 1883–1892 Homöopathischer Verein Hürben IGM/Varia 519 – Protokollbuch 1928–1958 IGM/Varia 522 – Protokollbuch 1952–1966 IGM/Varia 523 – Protokollbuch 966–1974 Homöopathischer Verein Metzingen IGM/Varia 35 – Protokollbuch 1892–1905 IGM/Varia 36 – Protokollbuch 1905–1931 Homöopathischer Verein Nagold IGM/Varia 419 – Protokollbuch 1888–1932 Homöopathischer Verein Nattheim IGM/Varia 528 – Protokollbuch 1958–1969 IGM/Varia 529 – Protokollbuch 1970–2001 Homöopathischer Verein Laichingen IGM/Varia 64 – Protokollbuch 1910–1943 Landesverein für Homöopathie in Württemberg „Hahnemannia“ IGM/Varia 8 – Bestimmungen für die Landes­Commission IGM/Varia 350 – Vereinsbezirksberichte 1988–1992 Homöopathischer Verein Reutlingen IGM/Varia 59 – Protokollbuch 1957–1966 IGM/Varia 87 – Persilschein Emil Schwille IGM/Varia 482 – Protokollbuch 1893–1898 IGM/Varia 483 – Protokollbuch 1899–1911 IGM/Varia 484 – Protokollbuch 1911–1927 IGM/Varia 485 – Protokollbuch 1928–1943 IGM/Varia 486 – Protokollbuch 1953–1957 Homöopathischer Verein Rohracker IGM/Varia 72 – Protokollbuch 1895–1937 IGM/Varia 73 – Protokollbuch 1927–1940 IGM/Varia 74 – Protokollbuch 1949–1964

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Abbildungsverzeichnis Diagr. 1: Diagr. 2: Diagr. 3: Diagr. 4: Diagr. 5: Diagr. 6: Diagr. 7: Diagr. 8: Diagr. 9: Diagr. 10: Diagr. 11:

Diagr. 12: Diagr. 13: Diagr. 14:

Diagr. 15: Diagr. 16: Diagr. 17:

Überblick über die noch existierenden Vereinsregister und deren Laufzeit in Jahren .................................................... Verteilung homöopathischer Laienvereine nach ihrer Ersterwähnung oder einem Gründungsbeleg in HM und LPZ (n=544) ........................................................................ Sozialstruktur der Zweigvereinsvorsitzenden des sächsischen Landesvereins 1913 (n=99) .................................. Langzeitverteilung der Berufe im homöopathischen Verein Radevormwald ............................................................... Alterskohorten des homöopathischen Vereins Radevormwald 1893/94 (n=167) .............................................. Mitgliederverhältnisse der im sächsischen Landesverein organisierten homöopathischen Laienvereine, Stand 1913 (n=102) .................................................................... Mitgliederverhältnisse der Gründungsvereine des Verbands süddeutscher Vereine für Homöopathie und Lebenspflege, Stand: 1897 (n=47) .................................................................... Anzahl aller Vorträge und einzelnen Erläuterungen in den homöopathischen Laienvereinen Stuttgart­Wangen und Reutlingen zwischen 1888 und 1914 ....................................... Häufigkeit einzelner Themenbereiche in den Vereinen Reutlingen und Stuttgart­Wangen ............................................. Ersterwähnung von Laienvereinen in den Homöopathischen Monatsblätter und in der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie (n=544) .................................................................. Anzahl aller Erläuterungen zu verschiedenen Themen, die zwischen 1915 und 1932 in den homöopathischen Vereinen Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen gehalten wurden (n=306) ............................ Sozialstruktur des Homöopathischen Vereins Nagold, Stand: 1919 (n=92) .................................................................... Sozialstruktur des Homöopathischen Vereins Möhringen, Stand: 1929 (n=85) .................................................................... Anzahl der themenspezifischen Erläuterungen in den homöopathischen Vereinen Laichingen, Reutlingen, Rohracker und Stuttgart­Wangen zwischen 1933 und 1945 (n=137) ........................................................................................ Sozialstruktur der befragten Laienhomöopathen (n=207) ..... Sozialstruktur der befragten Laienhomöopathen (n=207) ..... Zeitangaben über Interesse für Homöopathie (n=147) und Mitgliedschaft in einem homöopathischen Verein (n=179) ........................................................................................

40 45 52 54 56 76 77 88 90 172

175 202 202

227 314 315 317

Abbildungsverzeichnis

359

Diagr. 18: Angaben zu den Beweggründen eines Vereinsbeitritts (n=233) ........................................................................................ 324 Diagr. 19: Häufigkeit der Versammlungsbesuche (n=233) ...................... 326

Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4:

Übersicht über die (prozentuale) Verteilung der homöopathischen Laienvereine in Sachsen, Baden und Württemberg (1913) ....................................................................... 74 Übersicht über das Verein/Stadt­Verhältnis am Beispiel der sächsischen Zweigvereine von 1913 ...................................... 78 Auszug eines Gedichts, abgedruckt im Februar­Beiblatt der Leipziger Populären Zeitschrift für Homöopathie von 1915 .............. 149 Klassifizierung der Geburtsjahre nach Jahrzehnt (n=223) ......... 313

ISBN 978-3-515-11883-5