Medien der Bedeutung: Wie die Welt einen Unterschied macht 9783787336333, 9783787336326

Das Weltverhältnis des Menschen ist wesentlich durch den Gebrauch symbolischer Medien geprägt. Dieser Gedanke wurde imme

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Medien der Bedeutung: Wie die Welt einen Unterschied macht
 9783787336333, 9783787336326

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Christian Krüger

Medien der Bedeutung Wie die Welt einen Unterschied macht

Meiner

CASSIRER-FORSCHUNGEN

Band 19

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Christian Krüger

Medien der Bedeutung Wie die Welt einen Unterschied macht

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-3632-6 ISBN eBook 978-3-7873-3633-3

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Bookfactory, Stadthagen. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Für Brigitte Krüger

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Programmvorschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Allgegenwart von Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 22 33

Erstes Kapitel: Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Substanzbegriff und Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Antirealistische Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Das Projekt einer quasi-transzendentalen Logik . . . . . . . . 1.1.3 Zum Begriff der Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Leiden an Unbestimmtheit: Reine Funktionsbegriffe . . . . 1.2.1 Mathematische Funktionen und Funktionsbegriffe . . . . . 1.2.2 Von nichts kommt nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Sorge ums Sein: Das Problem des empirischen Gehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die selektive Rolle der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Die experimentelle Zähmung des Chaos . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Repräsentation ohne Repräsentationalismus . . . . . . . . . . 1.4.2 Objektivität ohne Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Symbolic Turn ohne Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.1 Die Sinnlichkeit des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.2 Die Erblasten von SuF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.3 Gegen einen symboltheoretischen Intellektualismus . . . . 1.5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 52 55 59 64 65 68 77

Zweites Kapitel: Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rückblende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Geist und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Tote Zeichen und Nekromantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Arbeitsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Grundzüge des Artikulationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Bestimmtheit und Strukturiertheit nichtsymbolischer Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83 90 96 105 115 128 137 144 149 153 161 163 170 170 179 186 190 192

8

2.2.2 2.2.3

Inhalt

Transformation durch Artikulation . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmtheit und Welthaltigkeit symbolischer Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Philosophie der symbolischen Formen revisited . . . . . Zum Begriff des Symbolischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Urphänomen, das keines ist: der Ausdruck . . . . . . . . Die affektive Physiognomie der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . Artikulation des Ausdruckserlebens im Mythos . . . . . . . . Sprache und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Sprache zur Wahrnehmung und zurück . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211 218 220 227 232 238 245 245 250 259

Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht . . . . . . . . . . 3.1 Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Symbolische Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Zwei Linienzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Wie die Sprache sich von der Welt löst . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 . . . und die Welt sich von der Sprache? . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 In Vielfalt geeint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Welt als Differenzphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263 267 271 277 282 288 293 299 302 306

2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.4

201

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Danksagung

Der Beitrag der Anderen am Gelingen der eigenen Vorhaben wird, wenn nicht unterschlagen, so doch häufig übersehen und meistens unterschätzt. Das macht Danksagungen wie diese zu einer schönen Tugend. An den Anfang dieser vermutlich unvollständigen Liste von Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, gehören Georg W. Bertram und Tilman Borsche. Beide haben mein philosophisches Denken maßgeblich geprägt und diese Arbeit betreut, die im Sommer 2016 von der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde. Tilman Borsche verdanke ich zudem, dass ich mich überhaupt auf den abenteuerlichen Weg der Promotion begeben habe, Georg W. Bertram, dass ich am Ziel auch angekommen bin. Doch ohne die finanzielle Förderung durch die Friedrich-Ebert-Stiftung und das von Erika Fischer-Lichte geleitete Internationale Graduiertenkolleg InterArt wäre dieses Unternehmen sehr wahrscheinlich unterwegs liegen geblieben. Wieviel an der Förderung geisteswissenschaftlicher Forschung hängt, begreift man spätestens, wenn man erfährt, dass Promovieren – ein zuweilen wenig vergnüglicher und selten entspannender Zeitvertreib – dem Arbeitsamt als Hobby gilt. Mit Humboldt kann ich sagen, dass mein Denken Bestimmtheit gewann »durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft.« In diesem Sinne viel gelernt habe ich vom Austausch mit den Teilnehmer*innen des Berliner Kolloquiums von Georg Bertram, besonders von Tufan Acil, Tidyan Bah, Fabian Börchers, Daniel M. Feige, David Lauer, Dorothea Ritter, Frank Ruda, Andrea Sakoparnig und Jörg Volbers – am meisten allerdings von Manuel Scheidegger, dem ich außerdem den schönen Untertitel dieser Arbeit verdanke. Während meiner Zeit in München profitierte ich wiederum von der Diskussion im Oberseminar von Axel Hutter, u. a. mit Christian Martin, Thomas Oehl und Clemens Schmalhorst. Ein spezieller Dank gebührt Almuth Hammer und Jan S. Kaiser von der Bavaria Fiction. Sie ermöglichten es mir, Teile dieser Arbeit auf dem Studiogelände in Geiselgasteig zu schreiben. Ihre Unterstützung gab mir mindestens so viel Auftrieb wie der Umstand, meine Mittagspausen auf dem Rücken von Fuchur verbringen zu können. Den größten Beitrag zum Glücken dieser Arbeit aber leistete Elnas Isrusch. Jeden Satz und jedes Argument habe ich ihr zur Prüfung vorge-

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Danksagung

legt. Ihre Unbestechlichkeit und kritische Neugierde haben mich daraus bessere Sätze und bessere Argumente machen lassen. Dass ich mit den einzelnen Buchstaben, die die folgenden Seiten füllen, ihren Namen 25800 Mal schreiben könnte, deutet nur hilflos an, wieviel ich ihr auch über das Fachliche hinaus verdanke. Gemeinsam mit ihrer und meiner Familie war sie immer da, wenn ich sie brauchte. Endlich danke ich auch der Ernst-Reuter-Gesellschaft für einen großzügigen Druckkostenzuschuss und Marcel Simon-Gadhof und dem Meiner Verlag dafür, dass es diese Publikation nun gibt. Berlin, Januar 2019

Einleitung

Programmvorschau Es heißt, ein gutes Gedicht sei »ein Beitrag zur Wirklichkeit«, es helfe »Form und Sinn des Weltalls verändern« 1 oder dass »Malerei die prosaische Welt neu [ordne].« 2 Doch auf Kunst kommt es hier nicht an. Zu denken ist vielmehr auch daran, wie gewöhnliche Urlaubs- und Familienphotographien unsere Erinnerung beleben, wie Karten uns zu orientieren und gute Songs unser Befinden zu dirigieren vermögen; nicht zu vergessen das multimodale Medium des TV, das uns »Welterfahrungen machen [lässt]« 3, von denen es heißt, sie ermöglichten das »probeweise« Ausagieren »von Verhaltensweisen« 4, auf die es auch im wirklichen Leben einmal ankommen kann. Zusammenfassend gesagt: Das Weltverhältnis des Menschen ist zutiefst »von medialen Operationen geprägt« 5. Die Wege, die uns offenstehen, sind durch symbolische Medien eröffnet. Wer in Zeichenpraktiken eingeführt ist, findet sich anders zurecht. Ernst Cassirer hat den Menschen darum das »animal symbolicum« genannt und die Welt, in der dieses zeichen- oder symbolgebrauchende Wesen lebt, ein »symbolische[s] Universum« 6. Der Eindruck der Ubiquität symbolischer Medien und Praktiken und der schwer zu bestreitende Umstand, dass sie ein wesentliches Moment des menschlichen Standes in der Welt sind, wurden in unterschiedlichen Theoriekontexten zu der Auffassung zugespitzt, dass die Welt eine Art medialer Projektion sei; ein »›Sinneffekt‹, der auf der systemimmanenten [vollständig selbstbezüglichen] Zirkulation der Signifikanten [. . . ] Dylan Thomas: Über Dichtung, in: ders.: Arbeit am Wortwerk. Gedichte und Geschichten, hg. v. Bernhard Scheller, Leipzig 1985, 163. 2 Maurice Merleau-Ponty: Die indirekte Sprache, in: ders.: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993, 84. 3 Hans-Otto Hügel: Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und populärer Kultur, Köln 2007, 53. 4 Klaus-Peter Oehler: Theoretische Positionen zur Unterhaltung und Unterhaltungskunst in der DDR, zit. n. s. o., 25. 5 Martin Seel: Eine vorübergehende Sache, in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hg. v. Stefan Münker et al., Frankfurt /M. 2003, 10. 6 Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2010, 51 und 50; im Folgenden: VM. 1

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Einleitung

beruht« 7. Damit ist ungefähr gemeint: Wenn der Ausdruck ›Welt‹ das Ganze jener Gegenstände und Sachverhalte bezeichnet, die wir erfahren, erkennen oder verstehen können, dann bestimmen symbolische Medien und Praktiken aus sich heraus Grenze und Gestalt dieses Ganzen. Der Mensch unterscheidet in der Welt nur, was ihm symbolische Medien zu unterscheiden erlauben. Wofür er keinen symbolischen Ausdruck hat, das kennt er nicht. Die Symbolwelten selbst werden zum Inbegriff alles Distinkten. Im Begriff dieser Welten ist nicht nur alles inbegriffen, was realiter erfahren, erkannt und verstanden wird, sondern alles, was es überhaupt zu erfahren, zu erkennen und zu verstehen gibt. Was sich uns im Symbolverstehen erschließt, ist dann nicht nur ein Aspekt der Welt, ein Teil des Ganzen. Es ist die ganze Welt, das Ganze. Und zwar deshalb, weil alle bedeutsamen Differenzen, die sinnfällige Ordnung und Gliederung der Welt auf den Unterscheidungen gründen sollen, die wir sprachlich und begrifflich treffen, auf den Verhältnissen, die wir berechnen, auf den Zusammenhängen, die wir filmisch montieren oder den Perspektiven, die wir zeichnerisch entwerfen. Konzeptionen, die symbolischen Medien und Praktiken in dieser oder einer vergleichbaren Weise eine weltkonstituierende Funktion zumessen, ist wiederholt so etwas wie ein »einseitiger Subjektivismus« vorgeworfen worden. Dieser Subjektivismus äußere »sich als Weltvergessenheit«, weil er übersieht, »›was der Initiative des [symbolgebrauchenden, CK] Subjekts vorausliegt und seine Kreativität übersteigt‹«, dass nämlich »eine von der Initiative des Subjekts unabhängige Welt zum Sprechen kommen soll.« 8 Es wird mit anderen Worten eine Alterität der Welt eingeklagt, die Sophie Ehrmanntraut, Martin Stefanov: Strukturalismus und Diskursanalyse. Dispositiv, Apparatus, Simulacrum, in: Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Stephan Günzel und Dieter Mersch, Stuttgart /Weimar 2014, 106. Neben Jean Baudrillards Agonie des Realen, Berlin 1978, dessen Simulacrum-Theorem medien- und ideologiekritisch gemeint ist, können für das eher affirmative Lager exemplarisch die Arbeiten Nelson Goodmans genannt werden; vgl. u. a. Nelson Goodman, Cathrine Z. Elgin: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt /M. 1993, 77: »[E]eine Welt [ist] in der Tat ein Artefakt.« Für die deutschsprachige Diskussion gingen Anstöße in diese Richtung von den von Siegfried J. Schmidt et al. herausgegebenen Sammelbänden Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994 und Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt /M. 1987 aus. Vgl. auch Hans Lenk: Interpretationskonstrukte als Interpretationskonstrukte, in: Zeichen und Interpretation, hg. v. Josef Simon, Frankfurt /M. 1994, 40: »Jede erfaßbare Entität ist [. . . ] als erfaßte oder erfaßbare, Interpretationskonstrukt, . . . «. 8 Brigitte Hilmer: Die unhintergehbare Tätigkeit des Geistes. Zur Genese des Sinns im Schöpferischen bei Ernst Cassirer, in: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn, hg. v. Brigitte Hilmer et al., Weilerswist 2006, 144 f. Kritisches versammeln u. a. auch 7

Programmvorschau

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ihren Namen verdient, sprich: »eine Alterität des Wirklichen«, die sich nicht »in eine Alterität [unserer] Interpretation verwandelt«. 9 Damit ist ungefähr gemeint: Wenn all die Differenzen und Zusammenhänge, die wir symbolisch artikulieren, mehr sein sollen als beliebige Konstruktionen, d. h., wenn wir qua Sprache oder qua Bild etwas zu verstehen geben wollen, das die Welt trifft, so wie sie wirklich ist, dann muss die Welt einen souveränen Einfluss darauf haben, was sich sinnvoll mit Sprache sagen oder mit Bildern zeigen lässt. Die Welt selbst muss einen Unterschied machen können hinsichtlich dessen, was wir von ihr wissen oder verstehen können. Dieser Unterschied muss als ihr eigener verständlich werden und nicht als ein solcher, der nur durch unsere Unterscheidungen bedingt ist. Andernfalls ließe sich – um es einmal in Bezug auf Sprache zu formulieren – alles über die Welt sagen, was darauf hinausliefe, nichts Bestimmtes mehr über sie zu sagen. Entsprechend gelte es zu zeigen, dass sich sprachlicher oder sonst ein symbolischer Sinn nur im Umgang mit einer Welt bildet, die begrifflich nicht auf ein Produkt unserer symbolischen Kreativität reduziert werden kann. Kurzum: Die Frage nach dem Verhältnis von Medien und Welt ist umstritten. Im Folgenden soll daher noch einmal in grundsätzlicher Weise darüber nachgedacht werden, welche Rolle symbolische Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis spielen – das ist die Grundfrage dieser Arbeit. Dabei gilt es vor dem Hintergrund des eben umrissenen Streits um eine angemessene Verhältnisbestimmung von Medien und Welt, der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken und der Eigenständigkeit der Welt gleichermaßen Rechnung zu tragen – das ist die Arbeitshypothese. Produktiv sind symbolische Medien – wie Sprache, Bilder oder Musik und entsprechende symbolische Praktiken, wie das Schlussfolgern mithilfe logischer Formalsprachen und das Dichten von Lyrik, das Tragen von Tattoos und das Betrachten von Röntgenaufnahmen, Jazzimprovisationen und Schlagerplayback –, weil sie einen originären Beitrag dazu leisten, wie die Welt, in der wir leben, Bedeutung gewinnt oder wie wir diese Welt verstehen. Wie aber der Ausdruck ›Beitrag‹ sagt, ist Bedeutung nicht das exklusive Produkt solcher Medien und Praktiken. Bedeutung wird nicht mit den genuinen Mitteln der Sprache, der Malerei, der der Band Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer post-konstruktivistischen Medienund Sozialtheorie, hg. v. Joachim Renn et al., Wiesbaden 2012, Ian Hacking: The Social Construction of What?, Cambridge /MA 1999, sowie Ulf Dettmann: Der Radikale Konstruktivismus, Tübingen 1999. 9 Martin Seel: Der Konstruktivismus und sein Schatten, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt /M. 2002, 114.

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Einleitung

Musik etc. hergestellt und dann auf eine bedeutungslose Welt projiziert. Oder anders gesagt: Symbolische Medien schieben sich nicht wie Brillen zwischen uns und die Welt. Sie legen keinen »Brechungsindex« 10 fest, demgemäß die Welt uns allererst als eine so oder so bestimmte Welt erscheint. Vielmehr bedeuten symbolische Medien und Praktiken ihrerseits nur, was sie eben bedeuten oder sind verständlich, von der Welt her, in der sie gebraucht werden. Die Welt trägt bestimmend bei zum Bedeutungsgeschehen. Worte ohne Welt wären bedeutungslose Laute. Symbolische Praktiken des Rechnens und Twitterns, des Schauspiels oder des Gamings werden in einer Welt vollzogen, in der neben vielen anderen symbolischen Praktiken wesentlich auch körperlich gelitten und geliebt wird, in der Stiefel geschnürt, Wohnungen dekoriert, Straßen ausgekoffert und Reisen angetreten werden. Diese sinnlich-leiblichen, affektiv-emotionalen, handwerklich-technischen Praktiken oder praktischen Tätigkeiten wären ohne das Zutun symbolischer Praktiken sicher nicht die, die sie sind. Dennoch sind sie eigene Modi der Weltbegegnung, ohne die es auch umgekehrt keine bedeutungsvollen Zeichen oder gehaltvolle symbolische Praktiken gäbe. Der Beitrag symbolischer Medien und Praktiken zum Bedeutungsgeschehen entfaltet sich so gesehen im Zuge komplexer Praktiken der Auseinandersetzung mit der Welt. Komplex sind solche Praktiken, weil in ihnen symbolische Praktiken und nichtsymbolische Weisen der Gewärtigung von oder des Zu-tun-Habens mit Welt ineinandergreifen oder verschränkt sind. Bedeutung liegt in keiner dieser symbolischen oder nichtsymbolischen Praktiken allein beschlossen. Keine dieser Praktiken kann losgelöst von den anderen Bedeutung konstituieren. Bedeutung ist vielmehr das Resultat des Zusammenspiels symbolischer und nichtsymbolischer Faktoren. Dieses Zusammenspiel will die Arbeit genauer bestimmen. Die Welt wiederum ist eigenständig, weil sie unserem Zugriff zu widerstehen vermag, weil sie widerständig, kompliziert, voller Unschärfen und Überraschungen ist. Das zeigt sich im Zuge symbolischer Praktiken ebenso wie im Zuge nichtsymbolischer Praktiken: Hämmer verfehlen Nägel und Worte ihre Wirkung, Eulen verschwinden in der Dämmerung und prognostizierte Entwicklungen bleiben aus. Die Relevanz solcher Widerstände für unser Verständnis der Welt oder die Bedeutung, die solche Widerstände für uns haben, kann aber nur unter Rekurs auf symbolische Medien und Praktiken begriffen werden. In Begriffen bloß praktischer Hindernisse, bloßer Irritationen unseres natürlichen WahrnehmungsErnst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil – Phänomenologie der Erkenntnis, ECW XIII, 1; im Folgenden: PhsFIII. 10

Programmvorschau

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apparates, sofern damit gemeint ist, dass die Welt an eine konstitutiv symbolfreie Schicht unseres Weltverhältnisses rührt, fällt dieser Widerstand ebenso wenig ins Gewicht, wie als ein der symbolischen Artikulation konstitutiv sich Entziehendes, als das ganz Andere oder als dunkler Abgrund des Sinns. Goodman variierend könnte man sagen: Widerstände ohne symbolische Artikulation verflüchtigen sich. 11 Um den Unterschied zu erläutern, den die Welt macht, muss vielmehr eine Pluralität symbolischer Medien und Praktiken als irreduzibles Moment unseres Weltverhältnisses begriffen werden. Im Rahmen dieser Arbeit kann das allerdings nicht heißen, nun um ihrer selbst willen über Sprache, Kartographie, Diagrammatik, Computerspiele, Theater, Konzerte, Tanz, Architektur, Graffiti etc. nachzudenken – hier können die zuständigen Einzelwissenschaften Auskunft geben –, sondern sich klar zu machen, warum wir viele verschiedene symbolische Medien und Praktiken haben und nicht etwa nur Sprache, aber keinen Tanz, oder nur Gregorianik, aber keinen Grunge. Nur Wesen, die über verschiedene symbolische Medien und Praktiken verfügen, bekommen es mit einer Welt zu tun, die ihnen als eigenständige gegenübersteht. Erst von einer medialen Vielfalt her wird verständlich, wie die Welt sich im Verstehen Gehör verschafft – auf diesen Gedanken läuft die Arbeit hinaus. Mit einigen philosophischen Etiketten gesprochen: Ziel ist, den Zusammenhang von Symbolverstehen (wie Worte und andere Zeichen oder Symbole Sinn machen oder Bedeutung haben) und Weltverstehen (wie Welt Sinn macht oder Bedeutung hat) 12 in einer nicht-konstruktivistischen Weise zu bestimmen, wenn diesen Zusammenhang konstruktivistisch bestimmen, hieße: »Zahllose Welten, durch Gebrauch von Symbolen aus dem Nichts erzeugt« 13 – und ihn in einer nicht-realistischen Weise zu bestimmen, wenn diesen Zusammenhang realistisch bestimmen hieße: Im Original heißt es: »Inhalt ohne Form verflüchtigt sich.«, vgl. Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt /M. 1990, 19. 12 Den Ausdruck ›Bedeutung‹ verwende ich hier in einem engeren und in einem weiteren Sinne. Im engeren Sinne ist Bedeutung etwas, das z. B. sprachliche Ausdrücke oder allgemeiner Zeichen haben, nicht aber nichtzeichenartige Gegenstände. Man kann das einen semiotischen Bedeutungsbegriff nennen. Im weiteren Sinne bezeichnet der Ausdruck ›Bedeutung‹ einen Grundzug unseres menschlichen In-der-Welt-Seins: Die Welt, in der wir leben, geht uns demnach an. Die Welt ist bedeutsam. Die Frage, wie das Bedeutsam-Sein der Welt und die Bedeutung unserer Zeichen zusammenhängen, ist die Frage dieser Arbeit. Unterschiedliche Verwendungen des Ausdrucks ›Bedeutung‹, und entsprechend divergierende Auffassungen davon, was eine philosophische Bedeutungstheorie eigentlich leisten soll, diskutiert u. a. David E. Cooper: Meaning, Chesham 2003. 13 Goodman: Weisen der Welterzeugung (Anm. 11), 13. 11

16

Einleitung

Symbolische Medien und Praktiken bilden die Welt so ab, wie sie ist. 14 Die anvisierte Bedeutungstheorie lässt sich genauer gesagt als ein Versuch verstehen, konstruktivistische Überlegungen, die die Eigenständigkeit der Welt verfehlen und realistische Überlegungen, die die Produktivität symbolischer Medien und Praktiken verfehlen, sich wechselseitig korrigieren zu lassen. Mit anderen Worten: Es soll Ernst gemacht werden mit einer hermeneutischen Bedeutungstheorie. Hermeneutisch nenne ich die anvisierte Theorie, weil es sogenannte hermeneutische Philosophien waren, die immer wieder auf eine Einbettung symbolischer Medien und Praktiken in die Welt oder in nichtsymbolische Lebensvollzüge bestanden haben, ohne dabei allerdings den produktiven Beitrag symbolisch artikulierter Verständnisse für diese Welt und diese Vollzüge zu unterschlagen. 15 Ernst mache ich mit einer solchen Position insofern, als das Bedeutungsgeschehen nicht von einem einfachen Zusammenspiel symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken her begriffen werden soll, sondern unter Rekurs auf eine von Grund auf plurale Anlage dieses Zusammenspiels. Das Potential der Welt, z. B. unserem sprachlichen »Zugriff« widerstehen In Bezug auf Sprache formuliert, kann man die (falsche) Alternative auch so ausdrücken: Will man »in der Sprache eine Kraft der Artikulation sehen, durch die die Welt allererst eine erkennbare Ordnung gewinnt« oder »der Welt eine Artikuliertheit zusprechen, der das Sprechen über sie entsprechen sollte«?; vgl. Georg W. Bertram et al. (Hg.): Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, Frankfurt /M. 2006, 7. Sybille Krämer spricht in einem vergleichbaren Sinne davon, dass die Frage, »Vermitteln oder erzeugen Medien Sinn?«, die »Gretchenfrage einer Medientheorie« sei, vgl. dies.: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren, in: Medienphilosophie (Anm. 5), 84. Die Etiketten ›konstruktivistisch‹ und ›realistisch‹ sollen nicht mehr als eine grobe Orientierung liefern und schlagwortartig den systematischen Rahmen abstecken, innerhalb dessen ich meine eigenen Überlegungen entfalte. Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch Martin Seel: Bestimmen und Bestimmenlassen. Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie, in: ders.: Sich bestimmen lassen (Anm. 9). Zwar werde ich, insbesondere was das Etikett ›konstruktivistisch‹ betrifft, meine Wahl noch näher begründen und zeigen, dass es tatsächlich eine symbolphilosophische Position gibt, die dem polemischen Bild, das Goodman von einer solchen Position zeichnet, stellenweise durchaus nahekommt – nämlich diejenige Cassirers. Damit soll aber keineswegs ausgeschlossen werden, dass man in symbolphilosophischen oder anderen Zusammenhängen in plausibler Weise »Konstruktivist« oder »Realist« sein kann. Die von mir vorgeschlagene Position wird sich letztlich selbst als zu guten Teilen von konstruktivistischen wie auch von realistischen Motiven geprägt erweisen. 15 In diesem Sinne heißt es etwa bei Hans-Georg Gadamer, dass »die Sprache [. . . ] gegenüber der Welt, die in ihr zur Sprache kommt, kein selbstständiges Dasein behauptet«, dass aber zugleich auch »die Welt nur Welt [ist], sofern sie zur Sprache kommt – . . . «, vgl. ders.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, 447. 14

Programmvorschau

17

und dadurch unsere sprachlichen Praktiken transformieren zu können, so die These, muss selbst schon durch nichtsprachliche symbolische Medien und Praktiken, z. B. durch bildliche oder musikalische Praktiken, eröffnet sein. Eigenständig bestimmende Beiträge der Welt zum Bedeutungsgeschehen werden nur verständlich, wenn unsere symbolischen Praktiken selbst schon von Differenzen geprägt sind. 16 Mit der hermeneutischen Ausrichtung ändert sich zugleich die theoretische Großwetterlage: weg von eher erkenntnistheoretischen Sorgen darum, wie sich ein objektivitätverbürgender Kontakt zwischen Medien und Welt anbahnen ließe – d. h., wie sich sicherstellen lässt, dass wir im Verstehen sozusagen die Welt zu greifen bekommen –, hin zu Fragen nach den spezifischen Beiträgen symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken zu einem Verstehen, dessen Objektivität immer schon garantiert ist, weil es aus einer interdependenten oder ko-konstitutiven 17 Beziehung symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken heraus begriffen wird. Die Pluralität symbolischer Medien und Praktiken ist dann auch nicht mehr dazu angetan, erkenntnistheoretische Sorgen noch um die Nöte des Relativismus zu erweitern, für den die Einheit der Welt sich auflöst in einen bunten Strauß inkommensurabler Perspektivierungen oder »Sinnfelder«. 18 Vielmehr bildet diese Vielfalt jetzt das begriffliche Scharnier, das uns erlaubt, die Widerständigkeit der Welt mit der Kreativität symbolischer Praktiken zusammenzudenken. Dieses Vorhaben kann ich in drei Schritten etwas näher erläutern: (1) Eine hermeneutische Bedeutungstheorie in meinem Sinne zu vertreten heißt zum einen, gegen ein, wie ich es nennen will, Konstruktionsmodell dafür zu argumentieren, dass Sinn und Bedeutung symbolischer Medien und Praktiken von der Welt mitgetragen werden. Das, was Worte sagen, Theaterstücke auf- und Filme vorführen, sagen sie und führen sie auf und vor nur als immer schon in die Welt verwickelte oder in diese eingebettete Medien und Praktiken. Unser Symbolverstehen hängt ab von der Welt, in der symbolische Medien und Praktiken gebraucht und vollzogen werden. Wir greifen nicht Zeichen gebrauchend auf die Welt zu, Damit meine ich, mir in spezifischer Weise die Idee zu eigen zu machen, dass das Fremde und Unverstandene, das unser Verstehen stets von Neuem anstößt, nicht außerhalb des Verstehens angesiedelt werden kann, sondern von innerhalb als Moment einer Differenz im Verstehen rekonstruiert werden muss; eine Idee auf die die Hermeneutik in ihrer eigenen Entwicklung zuläuft. Vgl. dazu Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002, bes. 68–78. 17 Zum Begriff der Ko-Konstitution vgl. Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006, 174 ff. 18 Vgl. Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013. 16

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sondern Zeichen gebrauchend bewegen wir uns inmitten der Welt. Bedeutungsvolle symbolische Praktiken sind als ebensolche in der Welt verankert; einer Welt wohlgemerkt, die wir nicht einfach erfinden. Symbolische Medien und Praktiken sind, anders gesagt, in einer grundsätzlichen Weise welthaltig. 19 Das hat Konsequenzen für die Rolle, die symbolischen Medien und Praktiken zugemessen werden kann: Symbolische Medien und Praktiken und das ihnen korrespondierende Verstehen können dann nicht mehr so erläutert werden, als begründeten oder konstituierten sie die Welt als Gegenstand unseres Verstehens. Denn nur als unabhängig von der Welt Zum Begriff der Welthaltigkeit vgl. erneut Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 17), bes. Kap. IV und ders. et al.: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt /M. 2008, bes. Kap. 4. Der Ausdruck ›welthaltig‹ ist ein erläuterungsbedürftiger Neologismus. An dieser Stelle nur soviel dazu: Die Autoren von In der Welt der Sprache betonen zu Recht, dass der Begriff einer Welthaltigkeit symbolischer Medien (in ihrem Falle: von Sprache) »mit dem Begriff eines Weltbezugs der Sprache bereits verfehlt wird. Denn dieser Begriff suggeriert, man könne Sprache als etwas verstehen, das von sich aus keine notwendige Beziehung zur Welt aufweist, und sich dann fragen, ob und wie eine solche Beziehung faktisch besteht. Tatsächlich aber ist Sprache in jedem ihrer Momente immer schon [. . . ] mit den Gegenständen der Welt, von denen sie handelt [. . . ], konstitutiv verwoben« (s. o.,19). Wenn ich die Stoßrichtung von In der Welt der Sprache richtig verstehe, dann muss man aber zugleich betonen, dass wiederum die Welt nichts ist, was irgendwie in symbolische Medien und Praktiken »eingehen« oder als etwas ihnen Gegenüberstehendes von diesen »aufgegriffen« werden kann oder als Welt an der Konstitution von Sprache mitwirkt. Der Grund dafür lautet: Die Welt ist keine unabhängig von symbolischen Praktiken gegebene Größe. Nichtsymbolische Praktiken sind keine »weltverbürgenden« Praktiken in dem Sinne, dass sie symbolische Praktiken mit Welt ausstatten könnten, weil der Begriff der Welt wiederum denjenigen symbolischer Artikulationen nichtsymbolischer Praktiken voraussetzt. Nur als symbolisch artikulierte vermögen nichtsymbolische Praktiken überhaupt einer bestimmten Welt gewahr zu werden. Noch einmal anders: Welt ist ebenso wenig aufseiten nichtsymbolischer wie aufseiten symbolischer Praktiken zu veranschlagen. Sie ist eher ein »Emergenzphänomen« der Interdependenz von Symbolischem und Nichtsymbolischem. Darin konvergieren bemerkenswerterweise die Begriffe der Welt und der Bedeutung. Diese Konvergenz ist meines Erachtens das Kennzeichen eines rechtverstandenen hermeneutischen Weltbegriffs und eines ebensolchen Bedeutungsbegriffs: Welt ist nur als bedeutsame, Bedeutung nur als welthaltige – und: Die Bedeutsamkeit der Welt ebenso wie die Welthaltigkeit von Bedeutung müssen gleichermaßen unter Rekurs auf ein Zusammenspiel symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken erläutert werden. Welt und Bedeutung bilden damit letztlich zwei Seiten desselben Problems. Genau genommen werden daher auch solange nicht Zusammenhänge der Welt artikuliert, wie nicht in demselben Atemzug gesagt wird, dass Zusammenhänge, die im nichtsymbolischen Umgang mit der Welt zum Tragen kommen, Zusammenhänge der Welt nur vom sprachlichen oder sonst wie symbolischen Stand des Menschen in der Welt aus sind. 19

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konstituierte Größen oder als losgelöst von den Verhältnissen der Welt sich vollziehendes Verstehen, können symbolische Medien und Praktiken eine Welt stiften oder kann unser Weltverstehen von unserem Symbolverstehen abgeleitet werden. Wenn symbolische Medien und Praktiken nicht als solchermaßen autonom funktionierende Größen erläutert werden können, dann kann ihnen die Last der Konstitution von Welt nicht zugemutet werden. (2) Mit der Behauptung, dass symbolische Medien und Praktiken konstitutiv auf die Welt bezogen sind, ist aber noch nicht allzu viel gesagt. Man muss erst erläutern, wie genau die Welt im Symbolverstehen im Spiel ist oder worin der Beitrag nichtsymbolischer Momente des menschlichen Weltverhältnisses zum Bedeutungsgeschehen besteht. Es muss gezeigt werden, wie unser praktisches Tun, unser sinnlich-leibliches Agieren oder Weisen des emotional-affektiven Befindens das notwendige Komplement symbolischer Praktiken bilden und warum sie gewissermaßen »die Welt« mit sich führen: In diesen nichtsymbolischen Modi des In-derWelt-Seins erschließen wir auf eigene Weise Zusammenhänge der Welt. In einer solchen, wie man auch sagen könnte, phänomenal-pragmatisch erschlossenen Welt trauen wir uns auf den Baumstamm, der über die Schlucht führt, weil wir direkt (ohne ihn erst vermessen zu müssen) sehen, dass er trägt, wirkt das Interieur eines Zimmers stimmig arrangiert, eignet sich windiges Wetter nicht zum Tischtennis aber zum Segeln und reagieren wir auf ein heranrollende dunkle Wasserfläche als Vorbote einer Böe etc. Alle diese genannten Differenzen, Aspekte und Zusammenhänge der Welt sind solche, die direkt aus der Perspektive unseres praktischen Tuns oder unseres sinnlich-leiblichen Agierens in der Welt heraus, handlungsleitend und orientierend zum Tragen kommen. Symbolische Medien sind hierbei nicht direkt im Spiel. Die Pointe eines interdependenten oder ko-konstitutiven Zusammenhangs von nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken ist nun aber, dass diese praktischen oder phänomenalen Zusammenhänge und Strukturen der Welt nicht einfach als solche gegeben sind, sondern nur im Zusammenhang mit symbolischen Praktiken. Bestimmte, gewissermaßen auf Strukturen »geeichte« Wahrnehmungsfähigkeiten und praktische Vollzüge entwickeln sich erst im Zuge z. B. der Einübung ins bildliche Sehen, qua musikalischer Schulung, durch den Erwerb von Begriffen etc. Symbolische Praktiken akzentuieren Aspekte unseres nichtsymbolischen Weltverhältnisses, sie machen Sachverhalte und Zusammenhänge vom Andrang und der Dichte der Welt befreit zugänglich, sie motivieren neue Zusammenhänge, rücken Übersehenes ins Licht, tilgen Details, sortieren um etc. Eine hermeneutische Bedeutungstheorie zu vertreten heißt so

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zum anderen auch, im Namen eines, wie ich es nennen möchte, Artikulationsmodells gegen den Realismus und seine Abbildungs- und Reproduktionslogik von Bedeutung dafür zu argumentieren, dass uns die grundsätzliche Bindung an die Welt auf keine bestimmte symbolische Praxis festlegt – denn das hieße, die Produktivität symbolischer Artikulationen von Welt verkennen. Der Vollzug symbolischer Praktiken, das Sagen, Zeigen, Hören-Lassen der Welt ist kein Verfertigen von Abzügen dieser Welt, kein Wiederholen dessen, was sich schon praktisch, sinnlich-leiblich oder affektiv-emotional zeigt. Kurz: Es bedarf eines Begriffs der Differenz von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken oder von Praktiken mit und ohne symbolischen Medien. Aber noch einmal: Diese Differenz darf nicht »zu groß« werden. Symbolische Praktiken laufen nicht neben der nichtsymbolischen Erschließung der Welt her. Sie bilden kein kognitives Surplus zu unserem sonstigen Weltverhältnis. Wie in der Musik der Ton, »erklingt« vielmehr auch die Welt für uns nur als Verbindung symbolischer Obertöne und nichtsymbolischer Grundtöne – wobei man allerdings auf die Obenunten-Metaphorik nicht allzu viel geben sollte. Unser praktisches Tun, unser Fühlen und Agieren gewinnt an symbolischen Praktiken Orientierung und Struktur, ebenso wie unsere symbolischen Praktiken an unserem praktischen Tun, Fühlen und Agieren Halt und Gehalt. Symbolische und nichtsymbolische Praktiken prägen sich wechselseitig und erst in diesem Zusammenwirken die Welt, wie wir sie kennen. (3) Das Artikulationsmodell steht schließlich noch vor folgender weiterer Aufgabe: Nicht nur gilt es, die Differenz von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken unter Wahrung ihres wechselseitigen Zusammenhangs zu explizieren, sondern es muss auch die Dynamik der jeweiligen Praktiken verständlich werden. Wie lässt sich also im Rahmen des Artikulationsmodells erläutern, dass sich z. B. sprachliche Praktiken ständig weiterentwickeln oder neue Musikstile in die Welt kommen; wie erläutern, dass auch nichtsymbolische Aspekte unseres Welt-, Selbst- und Fremdverhältnisses Veränderungen durchmachen, dass wir z. B. Paarbeziehungen heute emotional in fundamentaler Weise anders erleben als noch vor 100 Jahren 20? Weit entfernt davon, hierauf konkrete Antworten In dieser Hinsicht sind die Arbeiten von Eva Illouz von besonderem Interesse, weil sie soziologische Phänomene, z. B. den Wandel der Formen der Partnerwahl oder das Erleben von Trennungen in engem Rückbezug auf literarische Artikulationen von Liebesund Beziehungskonzeptionen untersucht; vgl. u. a. dies.: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2011. Dass sich literarische Werke als Medium soziologischer Forschung derart eignen, hat letztlich mit dem engen Zusammenhang von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken zu tun, wie sie diese Arbeit untersuchen möchte. 20

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geben zu können, will die Arbeit gleichwohl in grundsätzlicher Weise deutlich machen, dass erst mit solchen Dynamiken die Frage der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken einerseits und der Eigenständigkeit der Welt andererseits in vollem Sinne aufgeworfen ist. Erst wenn das Zusammenspiel von Medien und Welt nicht im Sinne einer statischen Entsprechung, einer stabilen Korrelation, sondern als ein korrelatives Sichaneinander-Fortentwickeln plausibel wird, ist die Gefahr gebannt, dass Medien und Welt doch wieder zu einem ununterscheidbaren Amalgam gerinnen. Vor dem Hintergrund des Gedankens einer Ko-Konstitution besteht aber die Schwierigkeit gerade darin, verständlich zu machen, wie Medien und Welt, respektive symbolische und nichtsymbolische Praktiken zueinander auf Distanz gehen können derart, dass sie sich unabhängig voneinander weiterentwickeln können, wie z. B. unsere leiblichen Vermögen sich auch losgelöst von sprachlichen Artikulationen in bestimmter Weise ausprägen können, sodass sie wiederum neue sprachliche Artikulationen anzustoßen vermögen. Denn der Kerngedanke der Ko-Konstitution lautet ja, dass solche leiblichen Kapazitäten oder praktischen Kompetenzen wesentlich unter Rekurs auf z. B. sprachliche Artikulation unseres nichtsprachlichen Verhaltens zu explizieren sind. Hier nun gilt es, sich in Erinnerung zu rufen, dass wir über eine erstaunliche Bandbreite ganz unterschiedlicher symbolischer Medien und Praktiken verfügen. Diese verschiedenen Praktiken leisten entsprechend unterschiedliche Artikulationen nichtsymbolischer Praktiken. So lassen sich etwa sinnliche Unterscheidungsfähigkeiten mit Blick auf Farben im Zusammenspiel mit unterschiedlichen symbolischen Praktiken weiterentwickeln; sowohl durch den Erwerb von Farbbegriffen, aber eben auch durch den Besuch der Gemäldegalerie. Damit zeichnet sich folgende Lösung der geschilderten Schwierigkeit ab: Wenn nichtsymbolische Praktiken als zugleich mit verschiedenen symbolischen Praktiken ko-konstituiert begriffen werden, dann lässt sich verständlich machen, wie symbolische Praktiken auf Distanz zu (jeweils bestimmten) nichtsymbolischen Praktiken gehen können, ohne dass unverständlich wird, woher denn dann nichtsymbolische Praktiken ihre Kontur gewinnen. Noch einmal anders: Verständnisse der Welt gewinnen wir nicht einfach so, sondern nur im Zusammenhang mit dem Gebrauch und dem Vollzug symbolischer Medien und Praktiken. Bedeutung gewinnt die Welt für uns nur als symbolisch artikulierte. Die Welt aber geht in solchen Artikulationen nicht reibungslos auf – dies hieße eben, die Eigenständigkeit der Welt verkennen. Vielmehr stehen wir wieder und wieder vor der Frage, wie mit Neuem umzugehen ist, oder beharren darauf, dass es noch

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mehr und Anderes zu sagen, zu zeigen etc. gibt. Es ist die Welt, die in solchen Momenten ihre Eigenständigkeit behauptet, weil sie einem totalen Zugriff durch symbolische Medien und Praktiken widersteht. Diese Widerständigkeit muss allerdings unter Rekurs auf symbolische Medien und Praktiken selbst gefasst werden. Nur sofern unsere nichtsymbolischen Praktiken von unterschiedlichen symbolischen Praktiken geprägt sind, kann im Zuge dieser Praktiken die Welt auf eine Weise entdeckt werden, die nicht schon immer verstanden ist. Die Pointe der Arbeit lässt sich dann noch ein letztes Mal wie folgt zuspitzen: Im spannungsvollen Bezogensein verschiedener symbolischer Medien und Praktiken aufeinander gewinnt die Welt als eigenständige Größe Profil. Das Fremde der Sprache ist dabei das Vertraute des Bildes, das Unbekannte der Musik das Bekannte des Films, das Unverstandene der Mathematik das Verstandene des Tanzes etc. Verschiedene symbolische Medien und Praktiken fordern sich wechselseitig heraus, indem sie einander mit Artikulationen von Welt konfrontieren, die es im Zuge anderer symbolischer Medien und Praktiken erst noch zu fassen gilt. In intermedialen Spannungen bekundet sich die Herausforderung, die die Welt für unser Verstehen darstellt. Die Allgegenwart von Bedeutung Ich will mich der Fragestellung meiner Arbeit noch einmal etwas »problemgeschichtlicher« nähern. Dazu greife ich einen Gedanken auf, der in besonderem Maße durch die Hermeneutik 21 geprägt wurde. Dieser Gedanke, so etwas wie ein Leitgedanke hermeneutischen Philosophierens, besagt, dass der Mensch in einer ihm eigentümlichen Wirklichkeit lebt: Er lebt in einer Welt, die er versteht. Eine Welt, in der es nichts zu verstehen oder zu begreifen gäbe und in der wir einander nichts zu verstehen geben würden, wäre nicht unsere Welt. Man könnte sogar sagen, sie wäre überhaupt keine Welt, sondern bloße Umwelt 22; ein »Funktionskreis« 23, in Genauer: von einer »Hermeneutik in existenzialer Ausrichtung«, die sich nicht mehr als regionale Kunstlehre des Verstehens oder als Methodologie der Geisteswissenschaften begreift; vgl. dazu Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion (Anm. 16), 25 ff.; sowie Jean Grondin: Hermeneutik, Göttingen 2009. 22 Zu diesem differenzierenden Gebrauch der Ausdrücke ›Welt‹ und ›Umwelt‹ vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode. (Anm. 15), 447: »Welt haben heißt: sich zur Welt verhalten. Sich zur Welt verhalten erfordert, sich von dem von der Welt her Begegnenden so weit freihalten, daß man es vor sich stellen kann, wie es ist. Dieses Können ist ineins Welt-haben und Sprache-haben. Der Begriff der Welt tritt damit in Gegensatz zu dem Begriff der Umwelt, wie sie allem auf der Welt seienden Lebendigen zukommt.« 23 Johannes von Uexküll: Theoretische Biologie, Berlin 1938, zit. n. VM, 48. 21

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den wir distanzlos eingepasst wären, wie das Rädchen ins Uhrwerk, das vom Vergehen der Zeit keine Notiz nimmt. Ein umwelthaftes Leben ist in gewisser Weise ein sinn- und bedeutungsloses Leben: Es sagt den Wesen, die es führen oder besser: die von diesem Leben geführt werden, nichts. Für uns dagegen gilt, so sicher wie das Amen in der Kirche: »es gibt Sinn.« 24 Und zwar selbst dann, wenn die mutmaßliche Kardinalfrage einer jeden zu bestreitenden Existenz, »was das alles eigentlich soll« 25, ohne Antwort oder ungestellt bliebe. Letzter Sinn hin oder her: Bedeutsame Handlungen und vielsagende Gesten, sinnvolle Äußerungen und aufschlussreiche Erlebnisse gehören in einer derart offenkundigen Weise zu unserem Leben dazu, dass immer wieder dafür plädiert wurde, sie als irreduzible, wenn nicht sogar als bestimmende Momente des menschlichen Weltverhältnisses zu begreifen. 26 Charles Taylor spricht hier treffend von einer »Allgegenwart von Bedeutung«, davon, dass wir geradezu »von Bedeutung eingekreist [sind].« 27 Es verwundert daher nicht, dass die »Bedeutungsproblematik [. . . ] zu dem Brennpunkt der Philosophie« 28 werden konnte, an dem sich spätestens seit dem 20. Jahrhundert bedeutungstheoretische Debatten in nahezu all ihren Subdisziplinen entzündeten. Wie auch immer die folgende Arbeit mit Blick auf diese Debatten einzuordnen wäre – als ein Beitrag zur Bedeutungstheorie, zur philosophischen Semantik, zur Symbol- oder Medienphilosophie oder zu einer Theorie des Verstehens –, der besondere Stand des Menschen in der Welt bildet jedenfalls einen ihrer zentralen Orientierungspunkte und dessen theoretische Erhellung eines ihrer Motive. Noch einmal: Der Stand des Menschen in der Welt zeichnet sich dadurch aus, dass er eine im weitesten Sinne geistige oder verstehende Perspektive auf die Welt hat. Wir können auch sagen: weil der Mensch versteht und Geist hat, hat er Welt. Nur ein von Verständnissen geprägtes Weltverhältnis ist ein welthaftes. Welt konstituiert sich im Verstehen. Dazu gehört, dass der Mensch sich selbst als zur Welt in diesem (wie auch immer näher zu qualifizierenden) verstehenden, verständigen oder auch erkennenden Verhältnis stehend begreift. Sein Weltverständnis ist mit eiMaurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 344. Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, (Anm. 18), 9. 26 Dem widersprechen z. B. naturalistische oder physikalistische Positionen. Vgl. dazu u. a. Hans-Jürgen Cramm: Geist, Bedeutung, Natur. Eine Kritik naturalistischer Theorien begrifflichen Gehalts, Münster 2012. 27 Charles Taylor: Bedeutungstheorien, in: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt /M. 1992, 52. 28 Christian Bermes: Bedeutung als Bestimmung und Bestimmbarkeit. Eine Studie zu Frege, Husserl, Cassirer und Hönigswald, Würzburg 1997, 3. 24

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nem Selbstverständnis verbunden. Die Welt verstehen wir insofern, als wir uns selbst als diejenigen verstehen, die diese oder jene Verständnisse der Welt haben. Da »Sinn ein Korrelat des Verstehens [ist]« 29, wie Emil Angehrn es ausdrückt, lässt sich das auch noch einmal so sagen: Die Welt des Menschen ist wesentlich bedeutsam oder sinnerfüllt und sie ist es für ihn. Der Mensch weiß vom »Inneren« des Verstehens her um sein Verstehen. Das Verstehen läuft nicht hinter seinem Rücken ab. Und weil das so ist, steht auch die Verständigung über das Verstehen selbst auf seiner Agenda. In diesem Sinne ist früh darüber nachgedacht worden, wie es kommt, dass wir ein solches geistiges oder verstehendes Weltverhältnis ausbilden. Innerhalb der sogenannten Hamann-Herder-Humboldt-Linie 30 der hermeneutischen Tradition ist dann zunächst und vor Allem der Gedanke stark gemacht worden, dass unser Verfügen über Sprache hierbei die entscheidende Rolle spielt. Sprache ist konstitutiv dafür, dass wir in eben diesem Weltverhältnis stehen. Nur sprachfähige Wesen haben Verständnisse. Sprache macht ein geistiges oder verstehendes Weltverhältnis erst möglich. Mit einer glücklichen Formulierung, deren originäre Prägung sich wahlweise Ernst Cassirer oder Martin Heidegger anrechnen lässt 31, kann man sagen: Sprache ist das Medium der Wirklichkeits- oder Welterschließung. Im Sprechen öffnen wir den Raum, in dem sich unser Verstehen (und Nicht-Verstehen) der Welt abspielt. Sprache ist, so könnte man eine Bemerkung Cassirers zitieren (die eigentlich auch auf nichtsprachliche symbolische Medien gemünzt ist): »das Zauberwort, das ›Sesam, öffne dich!‹, das den Zugang zur menschlichen Welt, zur Welt der menschlichen Kultur, gewährt.« (VM, 63). Auf dem Boden eines solchen Sprachbewusstseins ist es jedoch zu zwei Entwicklungen gekommen, gegen die ich mich wenden möchte: einerseits zur Entwicklung eines »›linguistischen Idealismus‹« 32, demzufolge unser Weltverhältnis unhintergehbar sprachlich verfasst ist: der »Mensch lebt mit den Gegenständen (. . . ) ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt.« 33 – und andererseits zur Entwicklung eines Linguistizismus 29

Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2011,

10. Vgl. Taylor: Bedeutungstheorien (Anm. 27), 63 ff. Zu der in dieser Hinsicht wegbereitenden Rolle Humboldts vgl. auch Tilman Borsche: Wilhelm v. Humboldt, München 1990. 31 Vgl. dazu Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010, 201 f. 32 Jasper Liptow: Zur Rolle der Sprache in Sein und Zeit, in: Verstehen nach Heidegger und Brandom, hg. v. Barbara Merker, Hamburg 2008, 27. 33 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Bd. VII, hg. von Albert Leitzmann, Berlin 1907, 60; zitiert nach Cristina Lafont: Welterschließung und Referenz, DZP, Berlin 1993, 495. 30

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als solchem. Infolge dieses Lingustizismus, der nicht zwingend mit einem Idealismus einhergeht, kommt es zu einer Marginalisierung nichtsprachlicher symbolischer Medien. Die Arbeit will zeigen, dass eine zufriedenstellende Überwindung des Idealismus nur gelingt, wenn zugleich der Linguistizismus überwunden wird. Die Überwindung des Linguistizismus allein garantiert die Überwindung des Idealismus nicht. Denn dieser lässt sich auch in einer nichtlinguistischen Version ausbuchstabieren. Man muss dazu nur nichtsprachliche symbolische Medien mit einer vergleichbaren weltkonstituierenden Kraft ausstatten. Sybille Krämer hat einem solchen Ansatz den treffenden Titel eines »Medienapriorismus« 34 verliehen. Trotzdem gilt: Ohne eine Überwindung der Sprachfixiertheit im Namen einer irreduziblen Pluralität symbolischer Medien und Praktiken gelingt eine Überwindung des Idealismus nicht. Der Begriff einer Pluralität symbolischer Medien und Praktiken bildet die Ressource, die man braucht, will man gegen den Idealismus den Begriff einer eigenständigen Welt wiedergewinnen, ohne dabei in einen »semantischen Objektivismus« 35 zurückzufallen. Denn gegen diesen wendete sich mit guten Gründen auch schon der »linguistische Idealismus«. Umgekehrt gesprochen: Unter Rekurs auf die Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken gilt es, eine wichtige idealistische Einsicht gegenüber dem »semantischen Objektivismus« zu bewahren: dass nämlich symbolische Medien und Praktiken keine bloße »Verdoppelung des Seins« 36 sind; diese Einsicht aber zugleich vor einem idealistischen Kopfstand zu bewahren, wonach das Denken oder symbolische Praktiken Bedeutung aus eigener Kraft erzeugen. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die enge Verbindung von Fragen der Sprache und solchen der Bedeutung hat ihre guten Gründe. Es kennzeichnet das Leben in der »semantic dimension« 37, dass man ständig mit Sprache zu tun hat. Ein Gespräch führen, einen Antrag stellen, Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? (Anm. 14), 79. Albrecht Wellmer: Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt /M. 2004, 21. Der semantische Objektivist behauptet, dass die Bedeutung symbolischer Ausdrücke das ist, wofür die Ausdrücke stehen: Das können Vorstellungen im Geiste eines Sprechers sein, die ihrerseits Vorstellungen von Dingen und Sachverhalten in der Welt sind oder direkt diese Dinge und Sachverhalte selbst, die ohne irgendeine symbolische Vermittlung als solche bestehen oder eben vorgestellt werden können. Symbolische Medien bedeuten dem semantischen Objektivisten zufolge nicht auf eigenständige Weise, ihre Bedeutung ist abgeleitet. 36 Merleau-Ponty: Das Hirngespinst einer reinen Sprache, in: Die Prosa der Welt (Anm. 2) 29. 37 Charles Taylor: Philosophical Arguments, Cambridge /MA, 1995, 84. 34

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ein technisches Verfahren erklären, eine Liebe gestehen, eine Diagnose stellen, sich an jemanden erinnern, einen Weg weisen – alle diese Vorgänge sind zutiefst mit Sprache verbunden. Und sie machen einen großen Teil dessen aus, womit wir es alltäglich zu tun haben. In ihnen allen leistet Sprache einen wesentlichen Beitrag dazu, dass es sich überhaupt um ein sinnvolles und verständliches Tun handelt. Darüber hinaus ist Sprache das ausgezeichnete Medium der theoretischen (aber auch der therapeutischen oder der politischen) Verständigung der Menschen über sich selbst und ihren Stand in der Welt. Alle wissenschaftliche Erkundung der Welt und ihrer Bewohner muss zuletzt auf Sprache rekurrieren, soll für andere einsichtig werden, was auch immer berechnet, gemessen, beobachtet oder ausgegraben wurde. Die methodische Relevanz der Sprache für das Gelingen wissenschaftlicher Theoriebildung (auch für das philosophische Nachdenken über nichtsprachliche Medien) und die faktische Omnipräsenz von Sprache im Alltag wären allein schon Grund genug für die Aufmerksamkeit, die ihr als Gegenstand philosophischen Nachdenkens zuteilwird. Hinzu kommt der für manch einen philosophisch vielleicht gewichtigste Gedanke: dass wesentliche Leistungen des Menschen – sein Denken, Wahrnehmen und Erkennen – ohne einen konstitutiven Bezug zu seiner Sprachlichkeit nicht verständlich zu machen sind. Diesen Gedanken kann man auch die These von der Sprachgebundenheit des menschlichen Geistes nennen. Sie hat in all ihren Facetten die Philosophie des 20. Jahrhunderts beschäftigt wie kaum eine andere. Kurz gesagt: Unser Weltverstehen ist zweifelsohne wesentlich mit einem Sprachverstehen verbunden. Insofern kommt der Erläuterung des Verstehens sprachlicher Äußerungen eine entscheidende Rolle zu. Davon, ob es gelingt unser Sprachverstehen zu erläutern, hängt ab, ob wir uns ein angemessenes Bild unseres geistigen Standes in der Welt machen können. In diesem Sinne ist eine sprachphilosophische Bearbeitung der Bedeutungsproblematik sicher unproblematisch. Problematisch wird es dann, wenn dabei unser Weltverstehen zum einen auf einem vorgängigen Sprachverstehen gegründet werden soll, d. h. wenn Bedeutung als etwas verstanden wird, das durch sprachliche Vollzüge allein oder nach sprachlichem Maß in die Welt kommt und wenn man zum anderen meint, dass eben nur Sprache und keine anderen symbolischen Medien und Praktiken für das geistige oder verstehende Weltverhältnis des Menschen relevant sind. Beides wird in der vorliegenden Arbeit bestritten. Im Geiste eines solchen oder ähnlichen Primats der Sprache werden aber vielfach noch immer bedeutungstheoretische Fragen diskutiert. Sprache gilt als Medium der Bedeutung schlechthin. Es ist da schon ein Fort-

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schritt, wenn sie nur als »das privilegierte Medium, in welchem wir Sinn bilden, artikulieren, befragen, aufnehmen und verstehen« 38, begriffen wird. Im Zuge des sogenannten linguistic turns der westlichen Philosophie reifte jedenfalls lange Zeit die Auffassung, dass bedeutungstheoretische Fragen in erster Linie, wenn nicht ausschließlich im Rekurs auf Sprache zu klären sind. Ein Blick auf die einschlägigen Publikationen bezeugt den hartnäckigen Trend, Bedeutungstheorie nur im Hinblick auf Sprache zu treiben oder gleich einen bedeutungstheoretischen Linguistizismus zu propagieren, für den alles Verstehen und jede Bedeutung ein Verstehen sprachlicher Bedeutung ist. Wenn doch einmal über andere symbolische Medien nachgedacht wird, dann fungiert Sprache oft gleichwohl als Modell der Erläuterung. Von einigen frühen Ausnahmen abgesehen 39 ist diese Auffassung erst relativ spät beklagt und theoretisch angefochten worden; und dann zunächst aus Richtung der Künste- und Kulturwissenschaften: etwa als illegitime »Suprematie der Sprache« 40, die den Blick auf die genuinen Leistungen z. B. der Malerei verstellt oder als problematische »Diskursivierung der Kultur« 41 insgesamt. Diese Wissenschaften haben auf ihre Weise klar gemacht, dass, so aufschlussreich es auch ist, die Grundfrage der Sprachphilosophie als Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu formulieren, es irreführend wäre, umgekehrt auch die Grundfrage der Bedeutungstheorie (wenn es denn eine solche gibt) allein als sprachtheoretische Frage zu formulieren. Sinn und Bedeutung 42 sind keine exklusiv sprachbezogenen Phänomene. Zweifelsohne haben wir es neben Sprache doch immerzu auch mit bildlichen Darstellungen, mit der mathematischen Beschreibung von Strukturen, der diagrammatischen Visualisierung von Verhältnissen, mit musikalischen Ereignissen, Filmen, skulpturalen Gebilden bis hin zu ganzen architektonischen Formationen zu tun. Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn (Anm. 29), 45. Vgl. u. a. Susanne K. Langer: Philosophie auf Neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt /M., 1992 [Orig.: 1942] und Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt /M. 1997 [Orig.: 1972]; und natürlich Cassirer, dazu gleich mehr. 40 Oskar Bätschmann: Bild-Text: Problematische Beziehungen, in: Kunstgeschichte – aber wie? Zehn Themen und Beispiele, hg. v. Clemens Fruh et al., Berlin 1989, 27. 41 Vgl. Sybille Krämer, Horst Bredekamp: Kultur, Technik, Kulturtechnik. Wider die Diskursivierung der Kultur, in: Bild – Schrift – Zahl, hg. v. Sybille Krämer, Horst Bredekamp, München 2003, 11–22. 42 Ich verwende die Ausdrücke ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ hier ohne Rücksicht auf die Unterscheidung einer intensionalen von einer extensionalen Dimension der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, wie sie sich ausgehend von Gottlob Frege über Rudolf Carnap etabliert hat. 38

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Und so fraglich es ist, ob sich all dies sinnvoll nach dem Paradigma sprachlichen Ausdrucks erläutern lässt, so nahe liegt der Gedanke, dass diese verschiedenen symbolischen Medien und Phänomene »die vielgestaltigen Fäden [sind], aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist.« (VM, 50). 43 Es ist im Grunde nicht verwunderlich, dass diese Überlegungen gerade aus diesen Richtungen geltend gemacht wurden. Sie bilden so etwas wie die selbstverständliche Grundlage symboltheoretischen Nachdenkens: Semiotik, Ästhetik, Medien-, Künste- und Kulturwissenschaften widmen sich seit Langem je auf ihre Weise dem besonderen Zusammenhang von symbolischen Medien und Verstehen von Zeichen und Bedeutung in der Vielfalt ihrer Erscheinungsweisen. Sprache bekam dabei – das darf man wohl so behaupten – nie ernsthaft eine Sonderrolle zugesprochen. Umso erstaunlicher ist, dass lange Zeit über die Pluralität symbolischer Medien und Praktiken aus philosophischer und dezidiert bedeutungstheoretischer Perspektive nur verhältnismäßig wenig nachgedacht wurde. Infolge der Enttäuschung gewisser in den linguistic turn gesetzter Hoffnungen 44, aber nicht zuletzt auch aufgrund der Ubiquität verschiedenster symbolischer Medien und Praktiken in unseren modernen Lebenswelten hat symbolphilosophisches Denken in den letzten Jahren aber eine neue Aktualität und Breite bekommen. 45 Zieht man nämlich aus dem Scheitern eines bestimmten, allein auf Sprache sich stützenden Philosophierens nicht den übereilten Schluss, dass man von symbolischen Medien gleich ganz die Finger lassen sollte, ist für eine erneute Auseinandersetzung mit der Bedeutungsproblematik eine Problematisierung symbolischer Medien weiterhin (oder wieder) ein naheliegender und vielversprechender Ausgangspunkt. 46 Dabei wird sich zeigen, dass eine Erweiterung In diesem Sinne auch Eva Schürmann, mit und gegen Gadamer: »Sein, das verstanden werden kann, ist auch Bild«, in: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt /M. 2008, 20. Gadamers Überlegungen zur Sprachlichkeit des Verstehens lassen sich durchaus in einem weiten, weniger linguistisch enggeführten Sinne lesen. 44 Dazu Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 19), aber auch schon Gottfried Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt /M. 1981. 45 Vgl. u. a. Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt /M. 2001; oder die Konjunktur bild- oder musikphilosophischer Forschungen, vgl. dazu u. a. Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin 2013 und Gunnar Hindrichs: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014. 46 Dabei ist man gut beraten, den gescheiterten Helden Sprache nicht einfach durch ein neues »Leitmedium« zu ersetzen, um dieses dann denselben theoretischen Prüfun43

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des linguistic turns zu einem symbolic turn allein zu wenig ist: Bedeutung ist nämlich nicht nur keine allein sprachbezogene, sondern auch keine allein symbolbezogene Angelegenheit. Aber dass sie dies nicht ist, wird dann doch wieder nur dadurch verständlich, dass man den symbolic turn vollzieht. Es ist nun die Philosophie Ernst Cassirers, die in diesen Fragen wichtige Vorarbeiten geleistet hat. Sie verbindet nicht nur Fragen des Symbolverstehens dezidiert mit Fragen des » Welt verstehens« (PhsFIII, 14), und fragt damit ihrerseits nach der Rolle, die symbolische Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis spielen. Noch bevor selbst der linguistic turn richtig Fahrt aufnehmen wird, stellt Cassirer bereits eine Pluralität symbolischer Medien und Praktiken 47 ins Zentrum seiner Überlegungen. Das geteilte Interesse am Zusammenhang von verschiedenen Medien und Welt ist aber bei Weitem noch nicht alles, das Cassirer als Gesprächspartner empfiehlt. In systematischer Hinsicht ist von besonderem Interesse, dass Cassirer, ausgehend von einer klar konstruktivistischen Position, im Laufe seiner fortgesetzten Auseinandersetzung mit symboltheoretischen Fragen zunehmend in die auch von mir angepeilten hermeneutischen Fahrwasser umzusteuern beginnt. Zwar setzt Cassirer nirgends zu einer deutlichen Neuformulierung seiner Position an, doch lassen sich hermeneutische Motive in seinen späteren Überlegungen nicht von der Hand weisen. Ich werde meine eigenen Überlegungen daher im steten Rückbezug zunächst auf Cassirers frühe begriffs- und wisgen auszusetzen, die schon Sprache nicht bestehen konnte. Dass sich viele substantielle philosophische Probleme offenbar nicht auf dem Boden der Sprache allein lösen lassen, sollte zu Zweifeln Anlass geben, dass es diesbezüglich mit anderen symbolischen Medien besser steht. 47 Die Begriffe des Mediums und des Symbols schillern bekanntlich in vielen Facetten. Für den Begriff symbolischer Medien halte ich mich zunächst an ein Vorverständnis, wonach damit Worte, Bilder, Karten, theatrale Handlungen etc. gemeint sind. Dinge also, die man verstehen oder missverstehen kann, die sich im weitesten Sinne übersetzen und interpretieren lassen und die auf irgendeine Art »Gehalt« oder »Inhalt« und etwas mit Fertigkeiten kognitiver Natur zu tun haben. Zum Medienbegriff vgl. u. a. Systematische Medienphilosophie, hg. v. Mike Sandbothe und Ludwig Nagl, Berlin 2005 und Medientheorien. Eine philosophische Einführung, hg. v. Alice Lagaay und David Lauer, Frankfurt /M. 2004. Zum Begriff des Symbols vgl. u. a. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, 93–122. Cassirer selbst spricht allerdings nirgends von symbolischen Medien, sondern stets nur von Symbolen oder »symbolischen Formen«; und es ist durchaus fraglich, ob er, die symbolische Form der Sprache vielleicht einmal ausgenommen, überhaupt über symbolische Medien in meinem Sinne nachdenkt. Vgl. dazu unten, Abschnitt 2.3, wo ich mich Cassirers Begriff der symbolischen Form eingehender widme.

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senschaftstheoretische Studie Substanzbegriff und Funktionsbegriff 48 und dann in Auseinandersetzung mit seiner Philosophie der symbolischen Formen 49 entwickeln. Das sogenannte Konstruktionsmodell lässt sich dabei besonders gut an SuF festmachen und kritisieren. In der Weiterentwicklung von SuF macht Cassirer sich dann nicht nur zunehmend klarer, dass unser Weltverstehen mit einem Symbolverstehen in seiner ganzen Breite und Vielfalt verbunden ist, sondern arbeitet zugleich daran, das mit SuF begonnene Projekt einer »quasi-transzendentalen Semantik« zugunsten hermeneutischer Motive abzuwandeln. Diese hermeneutischen Motive der PhsF sind in der Cassirer-Forschung bisher wenig gesehen worden. Ich werde dagegen versuchen, eine dezidiert hermeneutische Lesart der PhsF zu verteidigen. Leitend bleibt aber stets mein systematisches Interesse. Das erfordert, über den Argumentationsbestand der Philosophie Cassirers hinaus andere Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Meine Arbeit ist deshalb nicht als Cassirer-Arbeit im engeren Sinne zu lesen, obwohl viele ihrer Überlegungen nah an Cassirer entlang entwickelt werden. Die Arbeit will zwar und kann hoffentlich auch einen Beitrag zur Cassirer-Forschung leisten, wird exegetische Vollständigkeit (und gelegentlich auch eine entsprechende Ausgewogenheit) aber jederzeit zugunsten der systematischen Anliegen in den Hintergrund treten lassen. Von dem selber stark historisch arbeitenden Cassirer habe ich mich durchaus dahingehend belehren lassen, dass das Medium philosophischen Arbeitens stets auch die Geschichte der Philosophie ist – entsprechend Platz räume ich daher einer historischen Position wie derjenigen Cassirers ein. Aber diese Geschichte verstehe ich doch als eine Geschichte der Sachfragen und Probleme, deren Bearbeitung deshalb das Primat zukommen wird. Bevor zum Abschluss der Einleitung die zentralen argumentativen Schritte der Arbeit skizziert werden, will ich noch einige wenige Worte dazu sagen, was in dieser Arbeit keinen Platz gefunden hat, obwohl es zu einem umfassenden Bild unseres verstehenden Weltverhältnisses sicher dazugehört: Ich habe eingangs gesagt, ich wolle in »grundsätzlicher« Weise über die Rolle symbolischer Medien und Praktiken nachdenken. Grundsätzlich (oder auch: philosophisch) nenne ich dieses Nachdenken, weil mit diesem Nachdenken der Anspruch verbunden ist, ein stückweit zu klären, wie wir den merkwürdigen Umstand verstehen können, dass 48 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, ECW XI; im Folgenden: SuF. 49 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil – Die Sprache; Zweiter Teil – Das mythische Denken, Dritter Teil – Phänomenologie der Erkenntnis, ECW XI–XIII; im Folgenden: PhsFI; II; III.

Die Allgegenwart von Bedeutung

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wir mit Sprache etwas sagen oder mit Bildern etwas zeigen können. Mit anderen Worten: In Frage steht, was manchem Naturalisten ein echtes Rätsel ist. Wie nämlich Druckerschwärze auf Papier, wie Luftschwingungen oder optische Reize sinnvoll sein können. 50 Oder aus umgekehrter Richtung gesprochen: Infrage steht, was in den meisten kulturwissenschaftlichen Untersuchungen medialer Phänomene stets vorausgesetzt ist: dass diese Phänomene, wie man so sagt, Bedeutung haben. Mit diesem grundsätzlichen Interesse daran, was es mit Bedeutung auf sich hat, bewegt sich die Arbeit auf dem angestammten Terrain einer Bedeutungstheorie symbolischer Medien. Die Koordinaten dieses Terrains wurden insbesondere durch die Sprachphilosophie abgesteckt. Zwei zentrale Themen dieser sprachphilosophischen Debatte werden hier aber nicht zur Sprache kommen: die pragmatische und die soziale Dimension des Symbolgebrauchs. Obwohl stets von symbolischen Medien und Praktiken die Rede sein wird, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eigenständig dafür argumentiert werden, dass symbolische Ausdrücke ihren Gehalt wesentlich in Praktiken ihres Gebrauchs gewinnen. 51 Symbolische Medien oder Strukturen, wie ich später auch sagen werde, sind in diesem Sinne nicht als Größen zu verstehen, die unabhängig von je konkreten medialen Praktiken Bestand haben. Strukturale Beschreibungen der Beziehungen zwischen symbolischen Ausdrücken müssten daher genau genommen durch eine Beschreibung von Praktiken der Strukturierung ersetzt werden. Allerdings wirft das neue Fragen und Probleme auf, für deren Bearbeitung hier schlicht die Kapazitäten fehlten. Dazu gehört z. B., dass genauer untersucht werden müsste, inwiefern symbolische Praktiken wesentlich von mehreren Subjekten vollzogen werden. Die damit angesprochene intersubjektive oder soziale Dimension symbolischer Praktiken ist zuletzt vor allem in normativen Begriffen rekonstruiert worden. 52 Auch zu dieser Debatte werde ich mich nicht direkt äußern. Indem ich aber dafür argumentiere, dass zwingend Zusammenhänge der Welt in die Explikation unseres Symbolverstehens einbezogen werden müssen, mache ich zuminIn diesem Sinne z. B. Owen Flanagan: The Really Hard Problem. Meaning in a Material World, Cambridge /MA 2007. Zur Kritik an dieser Art von Problembeschreibung vgl. u. a. Christoph Demmerling: Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002, 121 ff. 51 Zur begrifflichen Nobilitierung unseres sprachlichen Tuns, vgl. u. a. Donald Davidson: Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, hg. v. Eva Picardi und Joachim Schulte, Frankfurt /M. 1990. 52 Vgl. dazu u. a. Jasper Liptow: Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, Weilerswist 2004. 50

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dest indirekt deutlich, dass normative Aspekte unseres Symbolgebrauchs allein die Konstitution von Bedeutung nicht erklären. Die Arbeit fragt aber nicht nur nach unserem Symbolverstehen, sondern will auch, darauf habe ich ja schon mehrfach hingewiesen, einen Grundzug unserer menschlichen Lebensform thematisieren: dass wir nämlich, wie man mit Gadamer sagen könnte, über eine »kollektivfunktionale Anpassung an die natürlichen Lebensbedingungen« 53 hinaus Verständnisse unseres In-der-Welt-Seins ausbilden. Dazu muss die Arbeit das Terrain einer Bedeutungstheorie im eben genannten Sinne in gewisser Weise verlassen. Anders formuliert: Wenn man die Grundfrage der Arbeit von den symbolischen Medien her aufrollt, dann läuft man Gefahr, eine Vorentscheidung mit Blick auf den Bedeutungsbegriff zu fällen. Es wird dann suggeriert, dass Bedeutung etwas ist, das wesentlich nur symbolischen Ausdrücken zukommt; dass Bedeutung etwas ist, das Zeichen besitzen, nicht aber die Gegenstände, die von diesen bezeichnet werden. Es ist sicher nicht ganz falsch, sich manchmal so auszudrücken: Wer sich z. B. nach der Bedeutung einer fremdsprachigen Äußerung erkundigt oder den Sinn eines Theaterstücks zu verstehen versucht, will etwas in Bezug auf diese besonderen Gegenstände klären, die eigentümlich aus dem sonstigen Inventar der Welt herausragen. Obwohl auch technische Apparaturen, Wetterkapriolen oder schrullige Verhaltensweisen Verständnisprobleme aufwerfen können, scheint doch das sogenannte Bedeutungsproblem erst eigentlich an Zeichengegenständen oder symbolischen Ausdrücken greifbar zu werden. Der paradigmatische Ort des Bedeutungsgeschehens sind dem Anschein nach die Zeichengegenstände und symbolischen Ausdrücke selbst. Doch die Problematik dieser Engführung von Zeichen- und Bedeutungsbegriff liegt auf der Hand: Wir verstehen eben nicht nur Theaterstücke, sondern auch die Welt, in der diese Stücke aufgeführt werden; nicht nur Worte haben Sinn und Bedeutung, sondern auch die Welt, in der sie geäußert werden. Zugespitzt: Alles Reden wäre müßig, wenn es dabei nicht um die Welt ginge. Wenn in dieser Arbeit nach der Bedeutung symbolischer Medien und Praktiken gefragt wird, wird so gesehen immer auch gefragt, wie es kommt, dass uns die Welt selbst etwas sagt. Indem ich diese Frage unter Rekurs auf symbolische Medien und Praktiken traktiere, behaupte ich aber, dass symbolische Medien und Praktiken relevant sind dafür, dass uns die Welt sinnhaft erschlossen ist. Insofern bewegt sich die Arbeit auch auf dem Terrain einer, wie ich auch sagen Hans-Georg Gadamer: Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, in: ders.: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, Frankfurt /M. 1976, 62. 53

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könnte, Theorie der Bedeutung oder der Relevanz symbolischer Medien. Mit Blick auf ein solches sinnhaftes oder bedeutsames Weltverhältnis werden im Rahmen dieser Arbeit wiederum Fragen keinen Platz finden, die in einem emphatischen Sinne um Bedeutsamkeit oder Sinnerfüllung kreisen, z. B. um Fragen wie: Was ist ein glückliches, was ein wahrhaftiges Leben? Gleichwohl, so meine Überzeugung, muss sich auch diese evaluative oder teleologische Dimension 54 unseres verstehenden In-der-WeltSeins in symbolischen Medien und Praktiken artikulieren. Insofern wären meine Überlegungen bei anderer Gelegenheit daraufhin zu befragen, wie sie den Begriff der »werthaften« Aspekte unserer Existenz berühren. Dramaturgie Im Duktus jener von John McDowell initiierten Debatte 55 könnte man sagen, dass im ersten, Konstruktion genannten Kapitel eine Position kritisiert wird, die eine problematische Kluft zwischen Geist und Welt heraufbeschwört. Dadurch symptomatisch aufgeworfene Fragen lauten in etwa: Wie können wir erklären, dass unsere symbolischen Medien und Praktiken die Welt zu fassen bekommen; wie sicherstellen, dass Begriffe oder sprachliche Ausdrücke auch empirisch gehaltvoll, sozusagen »mit Welt gefüllt« sind? Positionen, die solche Fragen aufwerfen, stehen mit anderen Worten vor dem von Mark Rowlands sogenannten »matching problem« 56: Sie suchen nach einer Erklärung dafür, wie sie aus sprachinternen Zusammenhängen hinaus- und in die Welt hineinkommen, oder dafür, wie sie die Welt in die Sprache hineinbekommen, sodass man das Sprechen zurecht als ein Sprechen über die »wirkliche Wirklichkeit« und nicht als ein Sprechen über eine womöglich bloß eingebildete Welt verstehen kann. Diese Fragen folgen einem durchaus richtigen Impuls: Sie sind Ausdruck der Überzeugung, dass die Welt ein Wörtchen mitzureden haben sollte dabei, wie über sie gesprochen und gedacht wird. 57 Es lässt sich nun Vgl. dazu die Ausführungen in Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn (Anm. 29), bes. 12 ff. und 296 ff. 55 John McDowell: Geist und Welt, Frankfurt /M. 2001 [Orig.: Mind and World, Cambridge /MA, 1996. Zur Debatte im Anschluss an McDowell vgl. u. a. Die Philosophie John McDowells. Ein Handbuch, hg. v. Christian Barth, David Lauer, Münster 2014. 56 Mark Rowlands: Externalism. Putting Mind and World Back Together Again, Chesham 2003, 3 und 32 ff. 57 Bei McDowell heißt es in diesem Sinne, dass unser »Denken [. . . ] gegenüber der empirischen Welt verantwortlich ist«, vgl. McDowell: Geist und Welt (Anm. 55), 12. 54

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aber zeigen, dass Positionen, die meinen, dieser Überzeugung zu dienen, indem sie als Brückenbauer zwischen Medien und Welt tätig werden und Objektivitätsbeweise für Begriffe und andere symbolische Ausdrücke zu liefern versuchen, das Problem missverstehen, vor dem sie stehen. Solche Beweise werden erst nötig, weil diese Positionen das Medien-WeltVerhältnis im Ansatz als ein abstraktes Verhältnis begreifen; abstrakt in dem Sinne, dass die Konstitution des Gehalts symbolischer Ausdrücke so erläutert wird, dass dafür Zusammenhänge der Welt irrelevant sind. Symbolische Strukturen sollen aus sich heraus Gehalte bestimmen. Die Welt kommt erst ins Spiel, wenn semantisch bereits gehaltvolle Ausdrücke auf die Welt bezogen werden. Sind Medien und Welt erst einmal in dieser Weise auseinanderdividiert, lassen sie sich durch keinen nachträglichen theoretischen Schritt mehr zusammenführen. Die Pointe des ersten Kapitels liegt nun aber etwas genauer gesagt darin, dass sich eine solche abstrakte Bestimmung des Medien-Welt-Verhältnisses im Herzen einer konstruktivistischen Symbolphilosophie wie derjenigen Cassirers wiederfindet. Und Cassirer begreift es gerade als eine vielversprechende Option, symbolische Medien in dieser Weise als selbsttragende Gebilde zu konzipieren. Nur so lässt sich nämlich verständlich machen, dass symbolische Medien und Praktiken von sich aus das Material zu strukturieren vermögen, das ihnen die Welt oder die Erfahrung Cassirer zufolge liefert. Die Welt kann nicht an der Ausprägung der symbolischen Strukturen beteiligt sein, weil sie selbst von diesen Strukturen oder Formen erst geprägt oder geformt wird. »Es gibt kein echtes Weltverständnis« heißt es dazu bei Cassirer, »das nicht [. . . ] auf bestimmten Grundrichtungen [. . . ] der geistigen [sprich: symbolischen, CK] Formung beruht.« (PhsFIII, 14). Das erste Kapitel muss daher gegen Cassirers Konstruktivismus allererst geltend machen, was McDowell und Zeitgenossen längst zum Problem geworden ist. Indem ich zeige, dass eine weltunabhängige Explikation der Konstitution von Bedeutung oder von symbolischen Strukturen nicht gelingt, erarbeite ich mir die Gründe, um die überzogenen Ansprüche eines symbolphilosophischen Konstruktivismus zurückzuweisen. Ein wichtiger Schritt ist dabei der Nachweis, dass Bedeutungstheorien, die sich mit dem matching problem herumschlagen, in einem grundlegenden Sinne defekt sind: Ihre Probleme beginnen nicht erst mit der Frage, wie symbolische Ausdrücke empirisch gehaltvoll sein können, sondern schon früher; nämlich mit der Frage, inwiefern solche Ausdrücke überhaupt gehaltvoll sind. Tatsächlich liefern diese Theorien keine zufriedenstellende Erläuterung der Konstitution von semantischem Gehalt. Damit aber geht die Voraussetzung verloren, auf der zum einen die Sor-

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gen um einen Kontakt von Medien und Welt gründen: Wo keine bedeutungsvollen Ausdrücke sind, lässt sich auch nicht fragen, wie diese Ausdrücke mit der Welt zusammenpassen. Zum anderen geht die Grundlage des Konstruktionsmodells verloren: Unbestimmte symbolische Strukturen können die Welt nicht in bestimmter Weise strukturieren. Die Lehre aus dem Scheitern des Konstruktionsmodells ist: Eine alternative Bedeutungstheorie, die eine Abstraktion von formenden Medien und zu formenden Inhalten vermeidet und damit eine Kluft zwischen Medien und Welt gar nicht erst aufmacht, muss her. Dieser Alternative widmet sich das zweite, Artikulation genannte Kapitel. Im Zentrum steht der Gedanke, dass symbolische Medien und Praktiken in einer für sie konstitutiven Weise in der Welt verankert sind: Das, was man mit Worten sagen oder mit Bildern zeigen kann, lässt sich nicht unabhängig von der Welt, in der diese Worte gesprochen oder diese Bilder gezeigt werden, sagen oder zeigen. Symbolische Praktiken hängen als sinnvolle Praktiken mit vielen Aspekten der Welt zusammen, die selbst nicht symbolischer Natur sind. Nur aus solchen Zusammenhängen heraus gewinnen diese Praktiken Bedeutung oder kommt ein Verstehen zustande. Es soll so zunächst verständlich gemacht werden, wie sich auf diese Weise das matching problem grundsätzlich vermeiden lässt und sich die Frage erübrigt, wie wir in die Welt hineinkommen, weil wir, salopp gesagt, »immer schon drin« sind. Eine Position, die in dieser oder ähnlicher Weise argumentiert, lässt sich als eine Spielart des semantischen Externalismus labeln. 58 Mit diesem Label ist aber noch nicht viel darüber gesagt, wie genau die Abhängigkeit medialer Praktiken von der Welt zu verstehen ist. Das zweite Kapitel muss diesbezüglich deutlich machen, dass das Konstruktionsmodell des ersten Kapitels – symbolische Formen formen die Welt – nicht einfach umgedreht werden kann. Auch die Welt ist keine unabhängig von symbolischen Medien und Praktiken gegebene Größe, die nun ihrerseits unser Symbolverstehen anleitet oder auf die sich die Bedeutung symbolischer Ausdrücke zurückführen ließe. Man kann hier in Anlehnung an eine Unterscheidung, die Georg W. Bertram vorgeschlagen hat, sagen, dass einer »Die-Sprache-ist-genug-Strategie«, wie sie von Positionen repräsentiert wird, die das erste Kapitel aufs Korn nimmt, nicht mit einer »Die-WeltIch möchte dieses Label so verstanden wissen, dass es mich nicht auf die klassischen Positionen des sog. semantischen Externalismus – etwa die Positionen Hilary Putnams oder Tyler Burges – verpflichtet. Vgl. dazu Hilary Putnam: Die Bedeutung von »Bedeutung«, Frankfurt /M. 2004 und Tyler Burge: Individualism and the Mental, Minneapolis 1979 und zu ihrer Rolle als Begründer des semantischen Externalismus Rowlands: Externalism, (Anm. 56), Kap. 6. 58

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ist-genug-Strategie« begegnet werden darf. 59 Andernfalls droht die Idee verloren zu gehen, dass symbolische Medien und Praktiken einen produktiven Beitrag zum menschlichen Weltverhältnis leisten. Deshalb: So wenig mediale Praktiken aus sich heraus Bedeutung zu generieren vermögen, so wenig liegt Bedeutung einfach in der Welt. Weder stiften symbolische Medien und Praktiken Bedeutung in einer bedeutungslosen Welt noch werden bedeutungsleere symbolische Medien und Praktiken von der Welt mit Bedeutung befrachtet. Die Welt ist kein gegebenes Fundament, auf dem unsere medialen Praktiken wie etwas Sekundäres aufruhen, nicht einfach ein vor aller symbolischen Artikulation schon bedeutsam erschlossener Ort. Symbolische Praktiken bringen daher nicht bloß noch einmal zum Ausdruck, was uns so schon zugänglich wäre. Umgekehrt gehen wir aber auch nicht mit einer fertigen Bedeutung auf die Welt los oder »erzeugen« Welten aus Symbolen, wie es eingangs hieß. Stattdessen soll die Welt als eine Größe verständlich werden, die nur insofern als eine bestimmte Welt in unser Blickfeld tritt, als sie in nichtsymbolischen Praktiken erschlossen wird, wobei diese nichtsymbolischen Praktiken wiederum dazu nur imstande sind, insofern sie mit symbolischen Praktiken in einem konstitutiven Zusammenhang stehen. Dem Erwerb symbolischer Kompetenzen oder dem Hineinwachsen in symbolische Praktiken korrespondiert eine spezifische Ausbildung nichtsymbolischer Praktiken, und nur in dieser Weise zum Vollzug bestimmter nichtsymbolischer Praktiken fähigen Wesen steht die Welt als bestimmte Welt offen. Indem die Welt symbolgebrauchenden Wesen in dieser Weise offensteht, lassen sich wiederum auch die symbolischen Artikulationen als empirisch gehaltvoll begreifen. Denn auch umgekehrt gilt dann eben, dass nur Wesen, die (in einer von symbolischen Praktiken geprägten Weise) nichtsymbolisch in der Welt zugange sind, gehaltvolle symbolische Ausdrücke auszubilden vermögen. Das dritte, Wie die Welt einen Unterschied macht genannte Kapitel wird abschließend dafür argumentieren, dass der Gedanken einer Eigenständigkeit der Welt vollständig nur unter Rekurs auf den Begriff einer irreduziblen Pluralität symbolischer Medien und Praktiken verteidigt werden kann. Dazu wird in einem ersten Schritt noch einmal deutlich gemacht, dass das Artikulationsmodell vor der Herausforderung steht, die Differenz von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken zu wahren. Es lässt sich zeigen, dass der Gefahr des KonstruktionsmoVgl. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 17), 172 f. Bertram unterscheidet dort eine »Die-Welt-ist-genug-Strategie« von einer »Die-Sprache-ist-nicht-genugStrategie«. Bei beiden handelt es aber im weitesten Sinne um externalistische Strategien. 59

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dells, die Distanz zwischen Medien und Welt zu groß werden zu lassen, im Artikulationsmodell eine spiegelbildliche Gefahr korrespondiert, Medien und Welt zu eng miteinander zu verbinden. Cassirers Überlegungen zur »symbolischen Prägnanz« unserer sinnlichen Wahrnehmung lassen sich in diesem Sinne kritisieren. Die Welt scheint in einer Weise nahtlos eingebunden in unsere medialen Praktiken und diese wesentlich mitzutragen, dass unklar wird, was es noch heißen könnte, sich an dieser Welt zu reiben oder in symbolischen Medien und Praktiken abarbeiten zu müssen. In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, dass eine bloße Differenzierung von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken wiederum nicht hinreicht, um die Dynamik symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken verständlich zu machen. Vor allem vermag die bloße Differenzierung noch nicht verständlich zu machen, dass die Welt selbst eine, wie ich auch sagen könnte, Produktivität besitzt, derart, dass sie eine Transformation symbolischer Medien und Praktiken anzustoßen vermag. Dies wird erst verständlich, wenn man explizit eine Pluralität von Medien in die Überlegungen einbezieht.

Erstes Kapitel Konstruktion

»Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten, er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.« – Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, 50

Das erste Kapitel verfolgt ein interpretatorisches und ein systematisches Ziel: In Auseinandersetzung mit zentralen begriffs- und symboltheoretischen Überlegungen Ernst Cassirers soll eine konstruktivistische Position in der Symbolphilosophie zurückgewiesen werden. Den konstruktivistischen Grundgedanken kann man mit Nelson Goodman auf folgende Formel bringen: »Wir können zwar Wörter ohne eine Welt haben, aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole.« 1 Die Verfassung der Welt ist abhängig von der Verfasstheit der verfügbaren symbolischen Medien, wobei die »syntaktischen und semantischen Merkmale« dieser Medien »aus Entscheidungen [resultieren], die wir darüber treffen.« In dem Maße, wie symbolische Medien oder »Symbolsysteme Artefakte [sind]« 2, ist es die Welt. 3 Der interpretatorische Teil des ersten Kapitels arbeitet heraus, wie dieser Gedanke in der Philosophie Cassirers Gestalt gewinnt, der systematische Teil, warum er aufgegeben werden muss. Das systematische Ziel besteht genauer gesagt darin, in drei Schritten den Gedanken zurückzuweisen, dass symbolische Medien 4 das menschNelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt /M. 1990, 19. Alle Zitate aus Nelson Goodman, Catherine Z. Elgin: Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt /M. 1993, 24. 3 Genau genommen handelt es sich damit um einen doppelten Konstruktivismus: Wir legen nicht nur die Ordnung der Zeichen fest, sondern eben dadurch auch die Ordnung der Dinge. 4 Der Ausdruck ›symbolische Medien‹ wird hier wie im gesamten ersten Kapitel ohne den Zusatz ›Praktiken‹ verwendet. Damit soll markiert werden, dass der Begriff 1

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liche Weltverhältnis einseitig prägen oder bestimmen. Einseitig meint, dass symbolische Medien jederzeit und überall unseren verstehenden oder erkennenden Weltbezug bestimmen, selbst aber nie und nirgends von der Welt oder einem nichtsymbolischen Weltbezug bestimmt sind. Anders gesagt: In der Kritik steht die Auffassung, dass symbolische Medien aus sich heraus die »Grenzen des Sinns« abstecken, die Grenzen des sinnvoll Sag-, Zeig- und Darstellbaren, und dass sie damit zugleich die Grenzen dessen abstecken, was es an Sinnvollem, Bedeutsamem, Verständlichem in der Welt gibt. Unserem symbolischen Zugriff auf die Welt sind, so die zu kritisierende Auffassung, durch die Welt keine Grenzen gesetzt, weil die Welt selbst eine symbolische Setzung ist. Symbolische Medien geben die Koordinaten vor, innerhalb derer sich unsere Erfahrung und unser Verstehen der Welt bewegt; und der auf diese Weise eröffnete Raum ist der ganze Welt-Raum, den es zu erfahren und zu verstehen gibt. Die sinnfällige Ordnung der Welt ist durch die Ordnung der symbolischen Medien festgelegt und die Festlegung dieser Ordnung obliegt uns, die wir uns dazu nirgends an der Welt orientieren. Eine Position, die den Gedanken einer genuinen Produktivität symbolischer Medien derart in ein Plädoyer für die »schöpferische Kraft von Symbolen« 5 wendet, kann mit einem Ausdruck Cassirers auch »symbolischer Idealismus« 6 genannt werden. Dieser Idealismus behauptet eben, »daß alles, was es in der Welt gibt, seiner Bestimmung (seinem Sinn) nach abhängig von subjektiver geistiger Leistung und in diesem Sinne gemacht ist.« 7 Wer nun die Bestimmtheit der Welt in dieser Weise an symbolischen Medien »aufhängt«, muss seinen Begriff symbolischer Medien oder seieiner Praxis des Gebrauchs symbolischer Medien für die Position, die im ersten Kapitel ins Verhör genommen wird, keine wesentliche Rolle spielt, jedenfalls sofern damit eine komplexe Praxis gemeint ist, die symbolische und nichtsymbolische Aspekte umfasst. Ich sehe, dass ich mir auf diese Weise eine gewisse Doppeldeutigkeit im Begriff symbolischer Praktiken einhandele, denn in der Einleitung sollte mit dem Zusatz ›Praktiken‹ ja noch die Vollzugsförmigkeit unseres Symbolverstehens markiert werden (s. o., S. 35 f.). Und dieser Vollzugsaspekt kommt in der Philosophie Cassirers durchaus zu seinem Recht. Doch ist eben stets nur von » Aktivität[en] des Denkens« (SuF, 344) oder von »Tat[en] des Geistes« (PhsFI, 9) die Rede. Ein Beitrag nicht-kognitiver Aktivitäten zum Gelingen unseres Symbolverstehens ist nicht erkennbar. Insofern der Begriff der Praxis aber stets auch als Gegenbegriff zum Begriff der Theorie gebraucht wird und es Positionen gibt, wie etwa diejenige Davidsons, die den Rekurs auf die Vollzugsförmigkeit des Verstehens wesentlich mit einem Rekurs auf nicht-kognitive Aspekte verbindet (in Davidsons Modell der Triangulation etwa die Wahrnehmung einer geteilten Welt), sehe ich keinen dringenden Bedarf, diese Doppeldeutigkeit hier zu vermeiden. 5 Goodman: Weisen der Welterzeugung (Anm. 1), 13. 6 Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN I, 249. 7 Guido Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010, 373.

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nen Begriff des Symbolverstehens unabhängig von Begriffen der Welt oder irgendeines nichtsymbolischen Weltverhältnisses gewinnen. Er darf sich begrifflich auf nichts stützen, was selbst Gegenstand symbolischer Formung sein soll. Mit anderen Worten: Der symbolische Idealismus oder das Konstruktionsmodell, wie ich sagen werde, setzt voraus, dass die Bestimmtheit der bestimmenden Medien unabhängig von den Gegenständen konstituiert ist, die von diesen Medien bestimmt werden, oder: dass wir tatsächlich gehaltvolle Wörter und Symbole ohne Welt haben können. Die Bedeutung, die wir der Welt im Sprechen, Rechnen, Musizieren verleihen oder die Formen, die wir unserer Erfahrung der Welt aufprägen, müssen autonom, d. h. welt- und erfahrungsunabhängig ausgebildet werden können. – Die Zinken der Harke müssen schon geschmiedet sein, will man mit ihr Rillen im Acker ziehen. An dieser Voraussetzung kann das Konstruktionsmodell in systematischer Hinsicht gemessen werden. Im ersten der drei Schritte soll daher gezeigt werden, dass ebendiese Voraussetzung defekt ist. Der Begriff einer autonomen Konstitution des Gehalts oder der Bedeutung symbolischer Ausdrücke, verstanden als strikte Selbstbestimmung symbolischer Medien, bleibt unverständlich. Das, was Worte sagen, Bilder zeigen oder allgemeiner: das, was symbolische Ausdrücke oder Zeichen zu verstehen geben, kann unter Rekurs auf z. B. innersprachliche Verhältnisse allein oder unter Rekurs auf Mechanismen einer medienimmanenten Ausdifferenzierung von Gehalt oder Bedeutung nicht expliziert werden. Das wird am Beispiel von Cassirers Überlegungen zur Mathematik gezeigt: Cassirer versucht nämlich, die mathematische Begriffsbildung nicht nur von den Verhältnissen in der sinnlich-anschaulichen Welt und den psychologischen Abläufen im subjektiven Bewusstsein, sondern auch von der Bindung etwa an eine immaterielle Welt ewiger mathematischer Wahrheiten abzukoppeln. Die mathematische Begriffsbildung soll voll und ganz auf sich selbst gestellt werden. Sie bedarf keines wie auch immer zu bestimmenden »Gegenübers«, an dem sie sich orientiert oder dem sie gerecht werden müsste. Sie ist das Paradigma einer durch und durch spontanen Tat des Geistes. Sie ist ihren ureigenen Prinzipien verpflichtet und nichts sonst. Der Ruf des Abstrakten, der Reinheit, des Formalen begleitet die Mathematik seit jeher. Sie wird daher immer wieder auch in einer prinzipiellen Weise von prima facie weltgeladeneren sprachlichen, szenischen oder bildlichen Medien abgegrenzt. Das legt den Gedanken nahe, dass für eine Bedeutungstheorie letztgenannter Medien von Cassirers Überlegungen zur Mathematik nicht allzu viel zu lernen sein dürfte. Tatsächlich verhält es sich in unserem Fall aber umgekehrt, denn Cassirers Theo-

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rie der mathematischen Begriffsbildung dient seinen späteren symboltheoretischen Überlegungen zum Vorbild. Das Problem, von dem dann auch seine späteren Überlegungen gezeichnet sind, wird nun in Bezug auf die Mathematik besonders deutlich: Eine Erläuterung der Konstitution von Gehalt oder Bedeutung, die sich frei zu halten versucht von jedwedem Moment der Heteronomie, des Bestimmt-Werdens, des Orientiert-Seins durch ein Anderes erzeugt letztlich ein Bestimmtheitsdefizit. Alternativ könnte man auch von einem Problem der ( fehlenden) Bestimmtheit überhaupt sprechen. Dieses Defizit wird bei Cassirer durch eine komplexe holistische Theoriefigur zugleich generiert und verdeckt. Es entsteht ein Anschein von Bestimmtheit. Diesen Anschein gilt es, zu verscheuchen. Genau genommen feiert diese holistische Theoriefigur im Werk Cassirers gleich zweimal Urständ: zuerst in Substanzbegriff und Funktionsbegriff und dort in Anlehnung an den Begriff der impliziten Definition, wie ihn der Mathematiker David Hilbert in die mathematische Grundlagendiskussion eingeführt hat; und dann erneut im Zuge einer Neufassung des Begriffs der Repräsentation im ersten, der Sprache gewidmeten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Diese Neufassung ließe sich durchaus unabhängig von SuF diskutieren. Wie ich später noch zeigen möchte, erfolgt diese Neufassung aber in einem ambivalenten textlichen Umfeld. Dadurch werden Zweifel geweckt, wie maßgeblich diese Neufassung für das bedeutungstheoretische Programm der PhsF letzten Endes ist. Will man die PhsF aber (wie ich für die Dauer des ersten Kapitels) als Fortsetzung eines philosophischen Programms lesen, das in SuF begründet wird, dann ist es hilfreich, zuerst SuF und dann erst die Neufassung des Repräsentationsbegriffs zu lesen. Indem ich sozusagen mit der Mathematik den Prototyp der problematischen holistischen Theoriefigur kritisiere, bekomme ich das systematische Problem nicht nur klarer zu fassen, sondern kann es auch bei seiner Wurzel im Werk Cassirers packen. Aus der Diskussion des Begriffs der mathematischen Begriffsbildung als eines Vorgangs der impliziten Definition folgt dann zunächst ganz abstrakt, dass das, was es seinem mathematischen Sinn nach geben soll, nicht durch mathematische Begriffsbildung »gemacht« oder konstruiert sein kann. Unbestimmte Begriffe – um es einmal etwas schief auszudrücken – können keine Bestimmung leisten; und sei dies auch die Bestimmung formaler mathematischer Verhältnisse oder die Konstruktion formaler Entitäten; (1.2 Leiden an Unbestimmtheit: Reine Funktionsbegriffe). Etwas konkreter wird es im zweiten Schritt: Ich bleibe bei SuF, verlasse aber den Kontext formaler Mathematik und wende mich der Begriffsbil-

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dung in den empirischen Erfahrungswissenschaften zu. Hier wird eine weitere problematische Konsequenz der Idee einer weltunabhängigen Konstitution von Bedeutung aufgedeckt. Das Bestimmtheitsdefizit tritt hier in neuer Gestalt auf: nicht mehr als das Problem der Bestimmtheit überhaupt, sondern als Problem der ( fehlenden) empirischen Bestimmtheit des begrifflichen Gehalts. Alternativ kann man auch von einem Formalismus-Problem sprechen. Das Konstruktionsmodell steht nämlich auch dann noch vor gravierenden Problemen, wenn man das Bestimmtheitsdefizit in seiner abstrakten Form ausklammert: Wenn man um des Argumentes willen einmal davon ausgeht, dass eine Selbstbestimmung begrifflichen Gehalts oder eine formal-holistische Ausdifferenzierung von Bedeutung gelingt, diesen Vorgang aber so begreift (wohl begreifen muss), dass er unabhängig von unserer Welt der Erfahrung erfolgt oder unabhängig davon, wie wir endliche Sinneswesen die Welt erfahren, dann taucht die Frage auf, wie zu verstehen ist, dass der durch diese Begriffe geprägte oder geformte Zugang zur Welt ein Zugang zu dieser unserer Welt ist. Es wird mit anderen Worten der Argwohn geweckt, dass Begriffe und symbolische Medien uns gar nicht mit der »wirklichen Wirklichkeit« vertraut machen könnten, sondern stattdessen mit einer »bloßen Phantasmagorie« (PhsFIII, 368). Anders gesagt: Wenn die »artifiziellen Medien«, wie Cassirer im VM schreibt, sich tatsächlich »zwischen uns und die Wirklichkeit schieben«, wie können wir dann je sicher sein, dass sie uns den Blick auf die Wirklichkeit nicht zugleich verstellen? Das Konstruktionsmodell gibt ein ungedecktes Versprechen ab: dass nämlich symbolische Medien die empirische Welt grundsätzlich zu treffen vermögen, dass die medialen (hier: begrifflichen) Bestimmungen von dem handeln, was »da draußen« ist, oder wie Adrian W. Moore dies (in einem erkenntnistheoretischen Zusammenhang) formuliert hat: that our representations are »made true by what is there anyway.« 8 In der EinleiAdrian W. Moore: Points of View, Oxford 1997, 73. Cassirer betont natürlich, was wohl die meisten Symbol- oder Zeichentheoretiker bereitwillig versichern würden, dass sie keineswegs die Welt aus ihrem Zeichenbegriff einfach streichen wollen; bei Cassirer heißt es diesbezüglich: »Das Symbol wäre nicht Symbol, wenn es nicht irgendeine Art der Wahrheit für sich in Anspruch nähme: Das bloße Zeichen, das sich von aller Beziehung auf ein zu Bezeichnendes, auf eine Be deutung, die es erfassen und zum Ausdruck bringen will, loslöste, würde damit aufhören Zeichen zu sein – würde zu einem bloßen Dasein herabsinken, in dem eben die charakteristische Zeichen f unktion erloschen wäre. Nicht darin also unterscheidet sich unsere idealistische Auffassung der symbolischen Form, daß sie die objektive Bestimmtheit dieser Formen leugnet: . . . «, vgl. Ernst Cassirer: Der Symbolbegriff und seine Stellung im System der Philosophie, in: ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen 8

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tung habe ich diesbezüglich von dem matching problem gesprochen (s. o., S. 29). Cassirers Bedeutungstheorie provoziert anders gesagt einen Skeptizismus der Bedeutung, den es zu vermeiden gilt. Dieser Skeptizismus setzt voraus, dass man den Gedanken plausibel findet, dass wir in der naturwissenschaftlichen Forschung etwas über eine Welt herausfinden, die wir uns nicht nach Gutdünken zurechtlegen können. Dieser Gedanke fordert mehr als die Akzeptanz von theorieinternen Kriterien der Konsistenz, Kohärenz oder Richtigkeit des Gebrauchs von Begriffen. Er rechnet mit der Welt als einer Instanz, die von sich aus einen Unterschied macht oder mitbestimmt, wovon wissenschaftliche Theorien handeln. 9 Das wird am Beispiel naturwissenschaftlicher Begriffsbildung diskutiert. Es wird sich zeigen, dass der begriffstheoretische Ansatz Cassirers eine problematische Kluft zwischen »Geist und Welt« aufreißt, die ebendiesem Gedanken den Boden entzieht; (1.3 Sorge ums Sein: Das Problem der empirischen Bestimmtheit). 10 Der dritte und letzte Schritt des ersten Kapitels widmet sich dann erstmals der PhsF. Im Fokus stehen zunächst das bedeutungstheoretische Grundinteresse der PhsF und die Neufassung des Begriffs der Repräsentation. Es wird deutlich gemacht, inwiefern diese Neufassung den Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, 109. Allein, ob es ihm gelingt, diesen Anspruch auf Objektivität begrifflich auch einzulösen, steht in Frage. Ziel des ersten Kapitels ist es, zu zeigen, dass im Herzen von Cassirer Symbolphilosophie ein Formalismus schlummert, der den genannten Objektivitätsanspruch gerade zunichtemacht. 9 Mir geht es dabei nicht um die erkenntnistheoretische Frage, wie sich erkennen und wissen lässt, was in der Welt der Fall ist, sondern darum, wie es möglich ist, Aussagen zu treffen, die von der Welt handeln. Kurz: Es geht nicht um Fragen der Wahrheit, sondern um solche des Weltbezugs unserer Aussagen. 10 Die Trennung die Cassirer in SuF vornimmt zwischen Problemen der mathematischen Begriffsbildung einerseits (zweites und drittes Kapitel von SuF ) und Problemen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung andererseits (viertes Kapitel von SuF ), entspricht exakt der konzeptionellen Trennung von Fragen der Konstitution von Bedeutung einerseits und solchen der Anwendung bedeutungsvoller Zeichen andererseits, wie sie für formal-holistische Semantiken typisch ist; vgl. dazu Georg W. Bertram, David Lauer, Jasper Liptow, Martin Seel: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt /M. 2008, bes. 157 ff.). Wie ich später zudem zeigen werde, ist das Problem der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung für Cassirer dann auch nichts anderes als das Problem der Anwendung formal konstituierter mathematischer Begriffe (vgl. dazu unten Abschnitt 1.3.2). In diesem Sinne lese ich Cassirers auf ihre begriffstheoretischen Grundlagen hin reflektierte Wissenschaftstheorie, sprich: SuF als Entwurf einer formalholistischen Semantik. Im Sinne einer von Sybille Krämer vorgeschlagenen Bestimmung erweist sich Cassirer damit als Vertreter eines intellektualistischen Sprachbildes, vgl. dies.: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt /M. 2001, bes. 95 ff.

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grundsätzlichen Weichenstellungen von SuF folgt; (1.4.1 Repräsentation ohne Repräsentationalismus). Daran anschließend wird die zuvor geleistete Kritik am Formalismus der naturwissenschaftlichen Begriffe in Bezug auf die Bedeutungstheorie der PhsF reformuliert; (1.4.2 Objektivität ohne Wirklichkeit). 11 Der systematische Mehrwert des dritten Schrittes besteht schließlich in der Herausarbeitung eines weiteren signifikanten Problems. Es hängt wesentlich damit zusammen, dass die PhsF gegenüber SuF einen sogenannten symbolic turn, eine symboltheoretische Wende, vollzieht: Fragen der Bestimmtheit von Gehalt oder Bedeutung stellen sich nun nicht mehr als Fragen nach der logischen Bestimmtheit abstrakter Entitäten (als die Begriffe in SuF ja behandelt werden), sondern als Fragen nach der semantischen Bestimmtheit konkreter, sinnlich-materialer Zeichengegenstände. Es wird gezeigt, dass die formal-holistische Theoriefigur, an der Cassirer mit der Neufassung des Begriffs der Repräsentation festhält, dem sinnlich-materialen Charakter von Sprache, Bildern, Musik etc. nicht Rechnung zu tragen vermag. Anders gesagt: In dem Maße, wie die PhsF an dem formal-holistischen Erbe von SuF festhält, droht sie, den Begriff des Symbolverstehens intellektualistisch zu verkürzen. Die Pluralität symbolischer Medien kommt so nicht angemessen in den Blick. Das Problem des Intellektualismus erweist sich somit als das dritte Problem des Konstruktionsmodells; (1.4.3 Symbolic Turn ohne Symbole). Das vorgestellte Arbeitsprogramm weckt nicht von ungefähr den Eindruck, dass es zunächst auf die Belange einer Bedeutungstheorie symbolischer Medien zugeschnitten ist. Im Zentrum steht eindeutig die Frage nach einem plausiblen Begriff des Bedeutung-Habens von Begriffen und Zeichen. War aber nicht das eigentliche Ziel, über diese im engeren Sinne medienbezogene Fragen hinaus nach der Rolle zu fragen, die symbolische Medien dafür spielen, dass uns die Welt sinnhaft erschlossen ist? Ich will den Zusammenhang beider Fragen noch einmal verdeutlichen: Die Frage der Bestimmtheit symbolischer Medien bildet meines Erachtens die Achillesferse des Konstruktionsmodells. Wenn gilt, dass symbolische Medien, um die Bestimmtheit der Welt konstituieren oder besser:

Auf eine entsprechende Reformulierung des Vorwurfs des Bestimmtheitsdefizits wird nicht nur aus Platzgründen verzichtet: Cassirers Überlegungen zu einer formalholistischen Semantik symbolischer Medien bleiben insgesamt zu programmatisch, als dass sie eine gleichermaßen substantiierte Kritik wie in Bezug auf die mathematische Begriffsbildung zuließen. Es werden aber diejenigen begrifflichen Festlegungen der PhsF herausgearbeitet, die deutlich machen, dass dieser Vorwurf auch in Bezug auf die PhsF greifen könnte; vgl. Abschnitt 1.4.1 Repräsentation ohne Repräsentationalismus. 11

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konstruieren 12 zu können, als sich »selbsttragende Gebilde« 13 erläutert werden müssen, dann hängt der Erfolg der Konstruktion in erster Instanz an einer entsprechenden Explikation symbolischer Medien als sich selbsttragende Gebilde. Ich werde zeigen, dass eine solche Explikation scheitert. Wenn die formal-holistische Bedeutungstheorie scheitert, dann scheitert das Unternehmen der Konstruktion noch vor »Baubeginn«. Auf einem defekten Fundament, d. h. auf einem defekten Bedeutungsbegriff oder einem defekten Begriff symbolischer Medien, lässt sich keine Welt errichten. Und selbst dann, wenn sich das Problem des Bestimmtheitsdefizits umgehen ließe, setzt die Frage nach der empirischen Bestimmtheit dem Konstruktionsmodell weiter zu – es sollen ja schließlich keine Luftschlösser errichtet werden. Bevor auch das interpretatorische Ziel des ersten Kapitels gleich noch etwas genauer umrissen wird, scheint es sinnvoll, zuvor noch einer Irritation vorzubeugen, die die Rede von einer symbolischen Konstruktion der Welt hervorrufen kann: Bisher habe ich recht unbekümmert sowohl davon gesprochen, dass symbolische Medien unseren Zugang zur Welt formen, prägen oder bestimmen als auch davon, dass sie die Welt selbst formen, prägen oder bestimmen. Da liegt der Einwand nahe, dass doch wohl zu unterscheiden sei zwischen einem »claim about how we organize or structure experience of the world« und einer Behauptung darüber »how we organize or structure the world«, oder zwischen »experienced Zum Gebrauch der Ausdrücke ›Konstitution‹ oder ›konstituieren‹ einerseits und ›Konstruktion‹ oder ›konstruieren‹ andererseits müsste sicher mehr gesagt werden, als an dieser Stelle möglich ist, denn mit diesen Ausdrücken sind nicht nur jeweils weitreichende philosophische Konzeptionen verbunden, sondern auch weitreichend unterschiedliche Verständnisse dieser Konzeptionen selbst. Ich will zu meinem Gebrauch nur so viel sagen: Erläutert man ›konstitutiv‹ durch ›ermöglichend‹, ›die Möglichkeit von etwas begründend‹ oder ›die Verfassung von etwas bestimmend‹, dann ist dies in meinem Gebrauch von ›konstruktiv‹ stets mitgemeint – ich könnte daher durchaus auch von einem Konstitutionsmodell sprechen. Zum Gebrauch des Ausdrucks »konstitutiv« in diesem Sinne, vgl. u. a. Wolfram Hogrebe: Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg 1974. Dass ich dennoch lieber von Konstruktionsmodell spreche, hat seinen Grund darin, dass die Rede von Konstitution ein kreatives oder selbstbestimmtes Moment nicht umfasst, das mit dem Ausdruck ›konstruieren‹ verbunden ist und auf das es mir im Folgenden ankommt: Das, was unser Weltverhältnis ermöglicht oder begründet, soll nämlich zugleich etwas sein, das wir nicht etwa nur vorfinden, (z. B. in der Reflexion auf die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung als etwas, das universelle und überzeitliche Geltung besitzt), sondern etwas, das wir selbst historisch-konkret ausbilden und stets neu aneignen müssen: symbolische Medien; dazu Abschnitt 1.1.2 Das Projekt einer quasi-transzendentalen Logik. 13 Bertram et al.: In der Welt der Sprache, (Anm. 10), 171. 12

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properties of the world« und »properties of the world.« 14 Das, was uns durch symbolische Medien vermittelt zugänglich ist, so die Forderung, muss unterschieden werden von dem, was unabhängig von dieser Vermittlung ist oder existiert. Trifft man diese Unterscheidung nicht, dann landet man womöglich bei einer ziemlich lautsprecherischen Version des Konstruktionsmodells. Diese Version lässt sich allerdings nur schwer auf den Begriff bringen; im Ansatz vielleicht so: Wenn gilt, dass die Welt jenes Ganze an Einzeldingen, Eigenschaften und Ereignissen ist, das wir erfahren und erkennen können, dann ist sie nicht nur in Hinblick auf ihre Erfahrbarkeit oder Erkennbarkeit von symbolischen Medien abhängig, sondern in Hinblick auf ihre Existenz. Die Welt ist nicht nur durch und durch symbolisch bestimmt als dieses oder jenes, sondern im Modus medialer Bestimmung ist sie allererst. Symbolische Medien geben die Welt nicht nur in bestimmter Weise zu erkennen und zu verstehen, sondern sie geben uns die Welt selbst, und zwar »mit Haut und Haaren«. Eine Differenz zwischen symbolischen Medien und dem Gegenstand, der im Begreifen begriffen, im Sprechen benannt, auf dem Bild dargestellt wird etc., wird eingezogen. Bevor wir nicht anfangen zu sprechen, zu rechnen, zu musizieren, ist da einfach nichts oder Nichts; nicht einmal ein unbestimmtes »je ne sais quoi«; Erde, die darauf wartet zur Welt umgeprägt zu werden, Teig, den es zu formen gilt. Eine von unseren symbolischen Medien unabhängige Quelle der Erfahrung, mit der ein ontologischer Realist immerhin rechnet, so sehr dieser Input durch die symbolische Vermittlung später vielleicht auch zurechtgebogen würde, wird abgeschafft. Dieser radikale oder ungezügelte symbolische Idealismus meint mit Konstruktion nicht nur die hermeneutische oder epistemische »Zugänglichkeit der Wirklichkeit«, sondern »ihre materiale Erschaffung« in einem ontologischen, »realen oder genetischen Sinne« 15. Davon soll im Folgenden nicht die Rede sein. Aber auch ein demgegenüber moderater symbolischer Idealismus, wie derjenige Cassirers, macht begrifflich nicht einen Schritt vor der Welt Halt und bleibt bei der Behauptung einer symbolischen Bestimmung oder Konstruktion bloß unserer Erfahrung der Welt stehen. Symbolische Medien modifizieren auch bei Cassirer nicht nur unseren Zugang zur Welt, sie präMark Rowlands: Externalism. Putting Mind and World Back Together Again, Chesham 2003, 40 f. 15 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 208 und 364 ff. Allerdings bin ich nicht sicher, dass man versteht, was damit gesagt sein soll. Zehrt nicht z. B. der Begriff des Materialen so sehr von einer Differenz, die der ungezügelte Idealismus nivellieren will, sodass er zu dessen Kennzeichnung schlicht nicht mehr taugt? Kaschiert hier die Fachterminologie einen Abgrund des sprachlichen Sinns? 14

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gen nicht ein irgendwie schon konsolidiertes Verhältnis zur Welt um oder deuten und perspektivieren die Welt neu, wie sie uns auch ohne symbolische Vermittlung schon vertraut ist. Vielmehr behauptet auch der moderate symbolische Idealist, dass wir vermittels symbolischer Medien überhaupt erst Welt haben. Symbolische Medien sind damit nicht nur ein konstitutives Moment des menschlichen Weltverhältnisses, sie konstituieren es. Der Unterschied zur ungezügelten Version ist der: Es wird nicht behauptet, dass symbolische Medien Berge und Skihütten, Löffel und Suppen, Menschen und ihre Hunde in ihrem schieren, materialen Da-Sein erschaffen, wohl aber, dass sie dafür sorgen, dass unser blauer Heimatplanet 16 sich für uns als ein Ort erweist, auf dem sich solche bedeutsamen Unterschiede zwischen natürlichen und kultürlichen Formationen, Speisen und Werkzeugen, uns und anderen Lebewesen zeigen. Und erst ein in dieser Weise in sich differenzierter Gegenstand ist eine Welt. Die Welt ist damit immer schon eine begriffene Welt. Der Begriff dieser Welt ist der Begriff einer relationalen Welt. 17 Cassirer spricht in diesem Sinne davon, dass der »Mythos und die Kunst, die Sprache und die Wissenschaft [. . . ] Prägungen zum Sein [sind]«, wobei er dieses Sein als eines näher qualifiziert, das »für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt.« (PhsFI, 41). So gesehen hebt sich auch für den moderaten symbolischen Idealismus allererst mit den symbolischen Medien der Vorhang des »theatrum mundi« – und obwohl wir stets die Regie führen, ist die Bühne, die es zu bespielen gilt samt Requisiten (um in diesem Bild zu bleiben), irgendwie schon da. 18 In diesem Sinne sind die Die Rede von einem blauen Heimatplaneten hilft natürlich nicht wirklich weiter, benennt sie doch nur so etwas wie die astronomische Version derselben Welt, in der Alexander der Große Dinge von welthistorischer Bedeutung getan hat, oder derselben Welt, die Walt Whitman poetisch besingt und ist insofern kein neutraler, sinnfreier Bezugspunkt, der allen medialen Versionen zugrunde liegt. Die physikalistische Wissenschaft (zu der die Astronomie gehört) ist eben, wie uns Cassirer immer wieder in Erinnerung rufen wird, selbst eine spezifische Form der Weltauffassung, ein spezifischer »Bedeutungszusammenhang« (PhsFI, 29). Dass sich damit dasjenige, wovon es all diese unterschiedlichen Bestimmungen und Versionen und Auffassungen geben soll, ins Unvordenkliche verschiebt, ist ein genuines Problem des moderaten symbolischen Idealismus; und ein Problem, das uns maßgeblich wohl Kant eingebrockt hat. 17 Vgl. dazu, SuF, 321: »Es gibt somit freilich im strengen Sinne kein absolutes, sondern immer nur ein relatives Sein: Aber diese Relativität bedeutet ersichtlich nicht die physische Abhängigkeit von den einzelnen denkenden Subjekten, sondern die logische Abhängigkeit vom Inhalt bestimmter allgemeiner Obersätze aller Erkenntnis überhaupt.« 18 Das schafft (wie schon in Anm. 16 erwähnt) bekanntermaßen eine Menge neuer Probleme. Es wirft z. B. die Frage auf, worin diese notwendig zu denkende aber nicht selbst erfahrbare, eigenständige Quelle der Erfahrung besteht und wie sie sich als eigen16

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Formen oder Eigenschaften unserer Erfahrung allerdings dann doch die Formen oder Eigenschaften der Gegenstände der Welt, weil die Welt eben nur so weit reicht und bestimmt ist, wie von ihr gesprochen werden kann, wie man in Anlehnung an den frühen Wittgenstein sagen könnte. Der Begriff dieser Welt ist damit der Begriff eines Verhältnisses, eines Verhältnisses, in dem Medien und Welt zueinanderstehen. Diese Verwendung der Ausdrücke oder Begriffe ›Sein‹, ›Welt‹ oder ›Wirklichkeit‹ (die diesbezüglich im Folgenden äquivalent gebaucht werden) entspringt einer »im Ansatz kantianischen« Einsicht, an der auch ich festhalten werde, dass wir nämlich »in unserem Denken [über das Sein oder die Welt, CK] nicht aus unserem Denken heraustreten können« 19 oder dass wir, sofern wir dieses Denken als ein in symbolischen Medien und Praktiken sich vollziehendes begreifen, wir aus diesen Medien und Praktiken nicht heraustreten können. Seins-, Welt-, oder Wirklichkeitsbegriffe sind daher stets unter Rekurs auf die begrifflichen Formen oder die medialen Praktiken zu bestimmen, in denen wir uns über die Welt, das Sein, die Wirklichkeit verständigen. Dies darf uns aber, wie Martin Seel entscheidend deutlich macht, nicht dazu verleiten, die Abhängigkeit des Begriffs einer bestimmten Welt vom Begriff unserer symbolischen Medien und Bestimmungen mit der sachlichen oder faktischen Abhängigkeit der Bestimmtheit der Welt von unseren medialen Bestimmungen gleichzusetzen: »Die Welt ist nicht allein dort bestimmt, wo Bestimmungen von ihr gegeben werden, und sie ist nicht allein so weit, wie die Bestimmungen des menschlichen Erkennens reichen.« 20 Die Interdependenz des Begrifflichen ist keine des Faktischen. Diese Differenzierung aufzugeben bedeutet die Preisgabe der Eigenständigkeit der Welt. Genau dafür aber scheinen die moderaten symbolischen Idealisten oder die Vertreter des Konstruktionsmodells zu werben. 21 ständige geltend macht, d. h. wie sie mitbestimmt, was sich uns in der Erfahrung zeigt – kurz: wie noumenales und phänomenales Sein zusammenhängen. 19 Martin Seel: Kenntnis und Erkenntnis. Zur Bestimmtheit in Sprache, Welt und Wahrnehmung, in: Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, hg. v. Georg W. Bertram, David Lauer, Jasper Liptow, Martin Seel, Frankfurt /M. 2006, 213. 20 S. o. 21 Insbesondere die Einleitung zum dritten Band der PhsF schillert diesbezüglich: Es ist nicht ganz klar, ob Cassirer tatsächlich nur über begriffliche Interdependenzen spricht – seine wiederholte Betonung, dass »die Urbestimmungen des Seins [›Stoff‹ und ›Form‹] [. . . ] zu reinen R eflexionsbeg riffen geworden [sind]«, (PhsFIII, 11) – legt dies nahe, oder ob er darüber hinaus doch eine faktische Interdependenz ins Auge fasst. Die Cassirer-Lektüre meines ersten Kapitels geht davon aus, dass Letzteres der Fall ist.

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In den einleitend vorgeschlagenen Begriffen lässt sich eine derartige Verhältnisbestimmung von symbolischen Medien und Welt abschließend noch einmal so umreißen: Das Konstruktionsmodell will die Rolle symbolischer Medien allein von deren produktiven Momenten her erläutern. Die Produktivität symbolischer Medien besteht in der Etablierung derjenigen bedeutungsvollen Differenzen und Zusammenhänge, durch die die Welt diejenige ist, die sie für uns ist. Insofern die Welt der Inbegriff eines bedeutungsmäßig erschlossenen oder sinnfällig differenzierten Zusammenhangs ist, produzieren oder konstruieren symbolische Medien Welt. Eigenständig bestimmende Beiträge der »Welt« oder eines nichtsymbolischen Weltverhältnisses zu diesem Vorgang des Weltverstehens fehlen. Das gilt es, zu kritisieren. Vorab aber noch einige Bemerkungen zu meiner Cassirer-Interpretation. Das interpretatorische Ziel des ersten Kapitels klang bereits mehrfach an: Cassirers Symbolphilosophie soll als eine konstruktivistische Position lesbar werden. Meines Erachtens plädiert Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff klar für das Konstruktionsmodell, während er in der späteren Philosophie der symbolischen Formen zwar unbefriedigende Teilaspekte von SuF zu korrigieren versucht, ohne allerdings die konstruktivistischen Grundweichenstellungen von SuF aufzugeben. Das doppelte Scheitern der Symbolphilosophie Cassirers, erst das von SuF und dann das der PhsF (jedenfalls in dem Maße, wie sie nur Kosmetik an SuF betreibt), soll schließlich als Scheitern des Konstruktionsmodells in systematischer Hinsicht gewertet werden. Die Rolle symbolischer Medien für das menschliche Weltverhältnis kann nicht nach dem Modell einer symbolischen Konstruktion von Welt begriffen werden. Darin liegt der im Kern negative Ertrag des ersten Kapitels. Doch rückt die Auseinandersetzung mit Cassirers Version des Konstruktionsmodells zugleich wichtige symbolphilosophische Einsichten in den Fokus, etwa die der Produktivität und der Vielfalt symbolischer Medien, die es im Fortgang der Diskussion zu bewahren, wenn auch anders zu erläutern gilt. Ebenso geben die Gründe, aus denen das Konstruktionsmodell scheitert, die Richtung vor, in der das zweite Kapitel eine alternative Konzeption der Rolle symbolischer Medien zu erarbeiten versuchen wird. Darin liegt der am Rande positive Ertrag des ersten Kapitels. An dieser Stelle soll kurz einem naheliegenden Einwand vorgebeugt werden: Die Kritik an SuF soll als Blaupause für eine Kritik der PhsF dienen. Als Blaupause taugt diese Kritik aber offenkundig nur, wenn man die PhsF in relevanten Hinsichten als Fortsetzung von SuF begreifen kann, in der die Probleme von SuF strukturanalog wiederkehren. Aber ist das denn der Fall? Anders gefragt: Ist SuF überhaupt schon Symbolphilosophie;

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fehlt in SuF nicht vielmehr alles, was die PhsF gegenüber SuF auszeichnet: die Abkehr vom Erkenntnisparadigma, der symbolic turn? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich die Antwort auf eine weitere Frage, die da lautet: Das Verhältnis von SuF und PhsF hin oder her, soll Cassirer eigentlich nur die Rolle des Bauernopfers übernehmen? Meine zugegeben etwas umwegige Antwort ist diese: In einer Notiz aus den Manuskripten zu einem geplanten vierten Band der PhsF heißt es, dass im Zentrum des systematischen Interesses der PhsF »die Frage nach den Funktionen [steht], die uns ›Wirklichkeit‹ überhaupt vermitteln und erschließen.« 22 Damit knüpft Cassirer, wie er auch in den Vorreden zum ersten und zum dritten Band der PhsF betont, an eine Fragestellung an, die ihn bereits in SuF beschäftigte. Folgt man diesbezüglichen Überlegungen von Guido Kreis, dann gehen die Gemeinsamkeiten von SuF und der PhsF über diese geteilte Fragestellung hinaus. Kreis behauptet nämlich, dass der Kontinuität der Fragestellung eine Kontinuität auch der Antwort korrespondiert; worauf eben nicht zuletzt der erneute Rückgriff auf die Funktionsterminologie in den Manuskripten hinweist. Mit dem Begriff der Funktion, so Kreis, ist in SuF die systematische Grundfigur bereits entwickelt, die ohne wesentliche Revisionen noch der PhsF zugrunde liegt. Ein Rekurs auf den Funktionsbegriff vermag daher zentrale Aspekte des Projekts einer Philosophie der symbolischen Formen aufzuklären, allen voran den schillernden Leitbegriff der PhsF, den Begriff der symbolischen Form. Für Kreis ist die »Philosophie der Funktionen [SuF, CK] nichts anderes als die Philosophie einer symbolischen Form« 23, gewissermaßen avant la lettre, nämlich der Wissenschaft, wie sie dann erneut Gegenstand des dritten Bandes der PhsF ist. Obwohl auch Cassirers Selbstauskünfte mitunter eine solche weitreichende, Frage und Antwort umfassende Kontinuität von SuF und PhsF nahelegen, werde ich dieser Kontinuitätsthese letztlich nicht folgen. Das erste Kapitel dieser Arbeit aber – das ist hier zunächst die entscheidende Auskunft – lässt sich (wenn auch unter Vorbehalt) auf die Kontinuitätsthese ein. Die Kritik, die das erste Kapitel übt, ist damit zugleich eine Kritik an einer bestimmten Lektüre der PhsF, wie sie u. a. Guido Kreis in seiner großen 24 Cassirer-Studie Cassirer und die Formen des Geistes vertritt. Dieser Lektüre zufolge entwirft die PhsF eine Semantik symbolischer MeCassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (Anm. 6), 150. Kreis: Cassirer (Anm. 7), 32. 24 Es fehlt nicht viel und ich hätte auch von einer großartigen Studie sprechen können. Denn dass ich interpretatorisch zu anderen Einschätzungen der PhsF komme und systematisch zu anderen symboltheoretischen Auffassungen tendiere als Kreis, ändert wenig daran, dass seine Studie einen den lehrreichsten und produktivsten Beiträge zur 22

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dien, die im Wesentlichen durch die Begriffstheorie von SuF vorweggenommen ist. Dieser Lektüre werde ich eine alternative Lektüre entgegenhalten, ausführlicher allerdings erst im zweiten Kapitel. Meines Erachtens lässt sich auch in systematisch vielversprechenderer Weise an die PhsF anschließen, wenn man herausarbeitet, inwiefern die PhsF selbst schon über den Funktionsbegriff von SuF hinausdrängt. Noch einmal salopp gesagt: Die Kritik, die das erste Kapitel übt, ist eine Kritik an dem konstruktivistischen Cassirer. Diesem »schlechten« Cassirer wird das zweite Kapitel einen »guten« Cassirer gegenüberstellen; einen Cassirer, der seinerseits auf dem Weg ist zu einer hermeneutischen Bedeutungstheorie symbolischer Medien. 25 1.1 Substanzbegriff und Funktionsbegriff In Substanzbegriff und Funktionsbegriff fragt Cassirer, welche Rolle Begriffe in der Wissenschaft spielen: in den sogenannten formalen oder Vernunftwissenschaften wie der Mathematik und der Geometrie einerseits und den exakten oder mathematisierbaren Naturwissenschaften andererseits, allen voran in der Physik und ihren Teilgebieten. In diesem Sinne handelt es sich bei SuF um eine wissenschaftstheoretische Arbeit. Cassirer argumentiert aber zugleich dafür, dass eine adäquate Bestimmung dieser Rolle von Begriffen eine grundlegend neue Theorie des Begriffs und der Begriffsbildung erfordert. Die neue Theorie soll die klassische auf Aristoteles zurückgehende Abstraktionstheorie des Begriffs ablösen, denn diese fußt nicht nur auf unhaltbaren metaphysischen Prämissen, sie verfehlt auch die faktische Begriffspraxis der genannten Wissenschaften. So gesehen handelt es sich bei SuF auch um eine begriffstheoretische Arbeit. Dieser Doppelcharakter begründet Reiz und Schwierigkeit von SuF : Auf breitester Materialbasis und in steter Rückkoppelung an die konkreten Fragen der Wissenschaften, was die Rechtfertigung und die Reichweite ihrer Erkenntnisse betrifft, werden prinzipielle Überlegungen zur Begriffstheorie entfaltet. Nur um letztere geht es im Folgenden. Von Sprache wie später in der PhsF ist in SuF noch nicht die Rede, geschweige Cassirer-Forschung leistet, die man finden kann. Entsprechend breit und häufig greife ich daher im Folgenden auf seine Überlegungen zurück. 25 Dieses Manöver wirft aus interpretatorischer Perspektive natürlich die Frage auf, ob wir es bei der PhsF tatsächlich mit einem konsistenten Theorieentwurf zu tun haben oder nicht vielmehr mit dem Dokument eines internen Ringens um eine plausible Theorie symbolischer Medien, in dem widerstreitende Kräfte am Werk sind. Ich plädiere für Letzteres.

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denn von bildlichen Darstellungen, Kunst oder rituellen Handlungen. 26 Stellt man die oben erwähnte Kontinuitätsthese in Rechnung, können aber auch die begriffstheoretischen Überlegungen von SuF schon als bedeutungstheoretische Überlegungen in einem weiteren Sinne begriffen werden oder sind zumindest anschlussfähig für die spätere symbolphilosophischen Überlegungen der PhsF, in der Begriffe nur als eine symbolische Form unter anderen behandelt werden. Cassirers Kritik an der Abstraktionstheorie des Begriffs steht, wie SuF insgesamt, im Zeichen eines größeren theoretischen Manövers. Dieses Manöver hat zwei im Grunde voneinander unabhängige Stoßrichtungen, die jedoch in SuF eigentümlich verschränkt sind: Zum einen soll auf begriffstheoretischem Terrain die kantische Einsicht in die konstitutive Rolle des Erkenntnissubjekts im Erkenntnisprozess zur Geltung gebracht werden. Zum anderen sieht sich SuF einer Tendenz in der Entwicklung der Mathematik und der Geometrie verpflichtet, die am Ideal einer Wissenschaft orientiert ist, die sich vom Bezug auf die sinnliche Anschauung weitestgehend gelöst hat. Es ist das Ideal einer exakt und eineindeutig verfahrenden theoretischen Mathematik und Geometrie und der deduktiven Gewissheit ihrer Erkenntnisse 27 – ein Ideal, das ungebrochen auch noch Cassirers anti-szientistische (auch: anti-logizistische) Grundhaltung, die eines der stärksten Motive für die Entwicklung der PhsF sein wird, macht sich aber schon in SuF bemerkbar. Vgl. dazu, SuF, 254: »Das ›Individuum‹ der Naturwissenschaft umfaßt und erschöpft weder das Individuum der ästhetischen Betrachtung noch die sittlichen Persönlichkeiten, die die Subjekte der Geschichte bilden. Denn alle Besonderheit der Naturwissenschaft geht in der Entdeckung eindeutig bestimmter Größenwerte und Größenverhältnisse auf, während die Eigenart und der Eigenwert, den der Gegenstand in der künstlerischen Betrachtung und in der ethischen Beurteilung gewinnt, außerhalb ihres Gesichtskreises liegen.« 27 Dasselbe Ideal verfolgt auch die Allgemeine Erkenntnislehre (1918) von Moritz Schlick. Schlick und Cassirer teilen darüber hinaus das Interesse an den Arbeiten des Mathematikers David Hilbert. Dessen Grundlagen der Geometrie [1899] hat wiederum, wie Jasper Liptow gezeigt hat, über die Vermittlung durch Schlick und den Wiener Kreis mindestens noch das inferentialistische Sprachverständnis eines Wilfrid Sellars beeinflusst, vgl. dazu Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 27–80. Ich stütze mich im Folgenden maßgeblich auf die Kritik, die Liptow dort an Hilbert und Schlick geübt hat. Die geistige Nähe (mindestens) des frühen Cassirers zum Wiener Kreis belegt auch folgende Bemerkung Cassirers: »In der Weltanschauung, in dem, was ich als das Ethos der Philosophie ansehe, glaube ich keiner ›Schule‹ näher zu stehen, als den Denkern des Wiener Kreises: Streben nach Bestimmtheit, nach Exaktheit, nach Ausschaltung des Bloß-Subjektiven, der Gefühlsphilosophie, . . . «, in Yale Cassirer Papers, Box 52, folders 1041–43, zitiert nach Hans Jörg Sandkühler: Die Wissenschaft. Erkennen, daß alles Faktische schon Theorie ist, in: Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Detlev Pätzold, Stuttgart 2003, 222. 26

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Cassirers Begriff wissenschaftlicher Erkenntnis im dritten Band der PhsF zugrunde liegt. Die Orientierung an der Mathematik überformt in problematischer Weise die Orientierung an der von Kant inaugurierten »subjektiven« Wende in der Erkenntnistheorie. Mathematik und Geometrie können dem Ideal der Exaktheit nämlich nur entsprechen, indem sie alle Verbindungen zur sinnlichen Anschauung kappen, die als Quelle von Unschärfe und Mehrdeutigkeit gilt. Die Pointe der theoretischen Mathematik und Geometrie besteht gerade darin, dass ihr jedweder Anschauungs- oder Weltbezug fehlt: »Der ganze ›Bestand‹ der Zahlen beruht [. . . ] auf den Verhältnissen, die sie in sich selber aufweisen, nicht auf der Beziehung zu einer äußeren gegenständlichen Wirklichkeit« (SuF, 38 f.), oder: »der Raum unserer Sinneswahrnehmung [ist] mit dem Raum unserer Geometrie nicht gleichbedeutend, sondern gerade in den entscheidenden, konstitutiven Merkmalen von ihm getrennt« (SuF, 112). In dem Maße, wie SuF die zunächst nur für die formalen Wissenschaften geltende Exaktheitsforderung dann auch auf die Naturwissenschaften oder die empirischen Erfahrungswissenschaften ausweitet, gerät der kantische Erkenntnisbegriff unter Druck; lebt dieser doch bekanntermaßen vom notwendigen Zusammenspiel von Begriff und Anschauung. Hinsichtlich dieses Zusammenspiels gilt für SuF, wie ich zeigen werde, was Martin Heidegger in Reaktion auf Cassirers Kritik seines Kant-Buches wie folgt notiert: »Cassirer verschweigt, daß diese Betonung des Verstandes eben zweideutig ist und daß die Marburger etwas ganz anderes unternommen haben – nur Verstand und nur Logik und Anschauung nur ein fataler Rest, der im unendlichen Prozeß weg soll!« 28 Man kann das Problem, um das es mir geht, auch noch einmal so formulieren: Die Orientierung am Exaktheitsideal der Mathematik steht einem plausiblen Begriff empirischer Wissenschaften im Wege. Denn prima facie macht es wenig Sinn, mit Blick auf die empirischen Wissenschaften gleichermaßen eine geltungslogische Ausschaltung der sinnlichen Anschauung zu fordern. Striche man damit doch zugleich das aus dem Begriff dieser Wissenschaften heraus, was sie gerade von den formalen Wissenschaften unterscheidet: ihren Welt- und Erfahrungsbezug. Diese Probleme sind für meine Arbeit insofern von Interesse, als der eingangs erwähnte begriffs- und wissenschaftstheoretische Doppelcharakter von SuF, die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen zwanglos als Überlegungen auch zu Fragen der Konstitution Martin Heidegger: Zu Odebrechts und Cassirers Kritik des Kant-Buches, in: ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, 7. Aufl., Frankfurt /M. 2010, 299. 28

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begrifflichen Gehalts zu interpretieren erlaubt. Cassirers Rekurs auf die Mathematik lässt sich demnach in Überlegungen zur Konstitution des Gehalts formaler Begriffe oder in Überlegungen zu deren formaler oder logischer Bestimmtheit ummünzen und der Rekurs etwa auf die Physik entsprechend in Überlegungen zum empirischen Gehalt von Begriffen oder zu deren empirischer Bestimmtheit. So kann ich auch noch einmal sagen: Die Orientierung an den Grundbegriffen der Mathematik steht in SuF einem plausiblen Begriff des empirischen Gehalts und damit einem plausiblen Begriff des Weltbezugs unserer Begriffe im Wege. Und in dem Maße, wie sich diese Auffassung auch in der PhsF fortsetzt, verfehlt Cassirer den Weltbezug symbolischer Medien. 1.1.1 Antirealistische Motive Das Problem mit dem Weltbezug von Begriffen entspringt gleichwohl einem grundsätzlich richtigen Motiv: Es kann als (überzogene) Konsequenz einer berechtigten Kritik an realistischen Theorien des Begriffs verstanden werden oder als Konsequenzen einer (überzogenen) Kritik am einseitigen Primat der Welt in Fragen der Konstitution begrifflichen Gehalts. Was nämlich im realistischen Register allein Angelegenheit der Welt ist, mutiert nun in SuF unglücklicherweise zu einer Angelegenheit allein der Begriffe oder des begrifflichen Denkens. Schauen wir uns das kurz an: Cassirer argumentiert in SuF zunächst in grundsätzlicher Weise gegen eine aristotelisch inspirierte Abstraktionstheorie des Begriffs und führt dann seine alternative Theorie des Begriffs in wenigen Grundzügen ein (vgl. SuF, 1–26); bevor er materialreich und in immer neuen wissenschaftsspezifischen Kontexten (Mechanik, Wärmelehre, Chemie usw.) diese Theorie weiterentwickelt und vorführt, wie leistungsstark seine Konzeption des Begriffs bei der Explikation der tatsächlichen begrifflichen Praxis der Wissenschaften ist und wie unzulänglich das abstraktionstheoretische Modell. Ich werde hier nur die Kritik an der Abstraktionstheorie und diese wiederum nur insoweit andeuten, als dadurch etwas Licht auf Themen fällt, die im Fokus dieser Arbeit stehen sollen: nämlich die Produktivität und die Pluralität symbolischer Medien. Cassirers Kritik erfolgt auf zwei Ebenen: Auf der ersten, der »rein logischen« (SuF, VIII) Ebene macht Cassirer geltend, dass die Abstraktionstheorie nicht verständlich macht, wie durch Abstraktion gebildete Begriffe leisten können, was sie gemäß der Abstraktionstheorie leisten sollen. So wird etwa nicht klar, wie immer allgemeinere Begriffe (auf sie läuft

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der fortschreitende Prozess der Abstraktion hinaus) noch eine »scharfe und eindeutige Bestimmung« (SuF, 4) der unter sie fallenden Gegenstände erlauben. Die allgemeinsten Begriffe sind für Cassirer »von jeder spezifischen Be deutung gänzlich entleert[e]« (SuF, 4) Begriffe. Das Ziel der begrifflichen Bestimmung verkehrt sich damit in sein Gegenteil. Die begrifflichen Bestimmungen werden so allgemein, dass sie das Spezifische der Dinge nicht mehr auf den Begriff bringen. 29 Zudem ist zu keinem Moment der Begriffsbildung gesichert, dass die durch Abstraktion gebildeten Begriffe die wesentlichen (und nicht etwa nur beliebige) Eigenschaften der unter sie fallenden Gegenstände erfassen, wenn das Verfahren der Abstraktion darin besteht, »übereinstimmende Merkmale [dieser Gegenstände, CK] heraus[zu]heben« (SuF, 5) und zugleich gilt, dass alles mit allem in irgendwelchen Hinsichten übereinstimmen kann. 30 Diesbezügliche Schwächen der Abstraktionstheorie können nur kompensiert oder kaschiert werden – das ist die zweite Ebene der Kritik –, solange man an den metaphysischen Grundlagen festhält, auf denen diese Theorie ursprünglich gegründet ist. Gemäß der aristotelischen Metaphysik, deren Grundweichenstellungen Cassirer zufolge noch die psychologistische Logik des 19. Jahrhunderts folgt und gegen die sich SuF in weiten Teilen richtet, ist das Sein, das begrifflich erfasst werden soll, substanziell oder an sich bestimmt. Das logische Denken repräsentiert diese unabhängig von aller begrifflichen Bezugnahme bestehende Ordnung des Seins. Der Begriff erfasst, anders gesagt, stets die »reale Form« (SuF, 5) oder das Wesen der Dinge, er ist »Ausdruck der substantiellen Kräf te, die die Wirklichkeit beherrschen.« (SuF, 6). Der Gehalt oder Inhalt eines Begriffs wird abgeleitet von den Eigenschaften der realen Gegenstände. Aufgrund dieses derivativen Status von Begriffen nennt Cassirer die Begriffstheorie des Abstraktionsmodells auch einen »›Begriffsrealismus‹« (SuF, 7). Die Bestimmtheit der Allgemeinbegriffe und ihre KlassifikaTatsächlich lautet Cassirers Vorwurf: Die begrifflichen Bestimmungen werden so allgemein, dass sie nichts Spezifisches mehr auf den Begriff bringen. Das scheint mir aber aus seiner Argumentation nicht zu folgen: Auch wenn allgemeinste Begriffe keine besonderen Unterschiede zwischen Dingen auf den Begriff bringen, sondern nur etwas, was diesen allen gemeinsam ist, kann dieses Gemeinsame gleichwohl bestimmt oder spezifisch sein und stellt daher keinen Rückfall in begriffliche Unschärfe oder »Unbestimmtheit« (SuF, 4 f.) dar, wie Cassirer meint. Den »geringen Informationsgehalt« klassifikatorischer Begriffe, auf den Cassirers Kritik meines Erachtens eigentlich zielt, moniert ganz ähnlich u. a. auch Wolfgang Stegmüller: Theorie und Erfahrung. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, Berlin 1970, 18 ff. und 37 ff. 30 Vgl. dazu u. a. die detaillierte Diskussion von SuF in: Kreis: Cassirer (Anm. 7), bes. 75 ff. 29

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tionsleistung werden von der Ontologie her gesichert; in Cassirers Worten: »Die Auffassung vom Wesen und von der Gliederung des Seins bedingt die Auffassung der Grundformen des Denkens.« (SuF, 2), oder kurz und bündig: »Der Begriff ist nur die Kopie des Gegebenen« (SuF, 122). Die Fundierung begrifflicher Praktiken in realen Seinsverhältnissen und die Reduktion begrifflicher Praktiken auf die Repräsentation dieser Verhältnisse widerspricht Cassirer zufolge in eklatanter Weise dem tatsächlichen Vorgehen in der Wissenschaft. Vielfach werden dort Begriffe nämlich »ohne Rücksichtnahme auf empirische Beobachtungen« und »allein aufgrund der Erfordernisse der Theorie« 31 definiert. Anders gesagt: Begriffe erfüllen vielfach konstruktive Funktionen, weit entfernt davon, eine gegebene Wirklichkeit bloß abzubilden. 32 Cassirer richtet seine Kritik damit gezielt gegen jene Aspekte der Abstraktionstheorie, die, in meinen Worten gesagt, die produktiven Momente symbolischer (hier: die konstruktiven Aspekte begrifflicher) Praktiken verzeichnen, indem sie mit Blick auf den Zusammenhang von Medien und Welt oder von begrifflichem Denken und Wirklichkeit, letzteren stets das Primat zuschreiben oder Begriffe stets als bloß reproduktive Begriffe erläutern. Die Abstraktionstheorie verfehlt, dass begriffliche Praktiken einen genuinen Beitrag dazu leisten, wie und als was wir die Welt verstehen oder erkennen. Entsprechend will Cassirer in SuF die produktiven Aspekte unseres Begriffsgebrauchs herausstellen. Sind begriffliche Praktiken erst einmal von ihrer realistischen Abbildungsfunktion befreit, wird außerdem deutlich, dass die Abstraktionstheorie sich in eigentümlicher Weise auf ein »Prinzip der Ähnlichkeit« (SuF, 15) kapriziert. Begriffliche Zusammenhänge artikulieren für sie stets Ähnlichkeitsbeziehungen. Die Welt erkennen, heißt für sie, Ähnlichkeiten erfassen. Doch »[i]n Wahrheit wird sich zeigen«, so Cassirer:

Ebd., 79. Der Hinweis auf eine konstruktive Funktion wissenschaftlicher Begriffe allein stellt die Abstraktionstheorie sicher nicht in toto in Frage, sondern offenbart (falls nicht alle wissenschaftlichen Begriffe eine konstruktive Funktion haben) höchstens eine partielle Schwäche dieser Theorie, was eben die Erläuterung solcher besonderen Begriffe angeht. Schwerer wiegt da schon der Einwand, der letztlich stets im Hintergrund von Cassirers Kritik steht und der die Metaphysik betrifft, die der Abstraktionstheorie zugrunde liegt: der Umstand, dass der Gedanke eines substanziell bestimmten Seins, zu dem wir zugleich einen weitestgehend unproblematischen epistemischen Zugang haben, durch Kants kritische Philosophie nachhaltig in Misskredit gebracht wurde. Weil die Abstraktionstheorie des Begriffs post Kant nicht mehr in einer vorkritischen Metaphysik abgesichert werden kann, muss sie ersetzt werden durch eine neue (durch Kant informierte) Theorie des Begriffs und der Begriffsbildung. Eine solche Theorie will SuF sein. 31 32

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»daß eine Reihe von Inhalten, um begrifflich erfaßt und geordnet zu heißen, nach den verschiedensten Gesichtspunkten abgestuft sein kann: sofern nur der leitende Gesichtspunkt selbst in seiner qualitativen Eigenart im Aufbau der Reihe unverändert festgehalten ist. So können wir etwa neben Ähnlichkeitsreihen, in deren einzelnen Inhalten ein gemeinsamer Bestand gleichförmig wiederkehrt, Reihen setzen, in denen zwischen jedem Glied und dem darauf folgenden ein bestimmter Grad des Unterschiedes obwaltet; so können wir die Glieder nach Gleichheit oder Ungleichheit, nach Zahl und Größe, nach räumlichen und zeitlichen Beziehungen oder nach ihrer kausalen Abhängigkeit geordnet denken.«, (SuF, 15).

Die begriffliche Artikulation der Welt kann offenbar sehr vielfältig ausfallen. Indem unser begriffliches Denken nicht mehr von der Welt her festgelegt ist, gewinnt es eigene Spielräume. Es ist der Gedanke eines grundsätzlich produktiven Charakters begrifflicher Praktiken, der so zugleich ihre Pluralität in den Blick rücken lässt und damit eine Vielfalt möglicher Weltverständnisse. Doch so wertvoll diese Überlegungen Cassirers auch sind, bergen sie doch aus der Perspektive dieser Arbeit ein entscheidendes Problem: Cassirer meint, diese Pluralität nur verständlich machen zu können, indem er sie von der Spontaneität der begriffsgebrauchenden Wesen her erläutert und zwar allein von deren Spontaneität her. In dem Maße, wie Cassirer begriffliche Praktiken von einer realistischen Abbildungsfunktion entbindet, löst er sie in gewisser Weise von ihrem Weltbezug insgesamt. Begriffliche Zusammenhänge sollen nur mehr ihrer internen Konsequenz oder Kohärenz verpflichtet sein (»sofern nur der leitende Gesichtspunkt selbst in seiner qualitativen Eigenart im Aufbau der Reihe unverändert festgehalten ist«), aber nirgends den Beschaffenheiten der Welt. Die Nennleistung von Begriffen hängt allein von theorieinternen Kriterien ab: »Wenn ein Satz [oder: ein Begriff, CK] kohärent und konsistent in den Zusammenhang aller anderen Sätze [Begriffe, CK] eingeordnet werden kann, dann besteht der Sachverhalt, auf den sich der Gedanke dieses Satzes bezieht, in Wirklichkeit.« 33 Ich halte das für einen unverständlichen Gedanken und werde unten zeigen, dass er nicht konsistent begründet werden kann (vgl. dazu auch Abschnitt 1.4.2 Objektivität ohne Wirklichkeit).

33

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 199.

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1.1.2 Das Projekt einer quasi-transzendentalen Logik Der Grundbegriff des begriffstheoretischen Neuansatzes von SuF ist der Begriff der Funktion. Cassirer schlägt vor (wie zuvor schon Gottlob Frege 34), Begriffe analog zu mathematischen Funktionen zu begreifen. Bevor ich zu den Details dieses Vorschlages komme, gilt es, einen wichtigen Unterschied zu Frege und zu der an Frege anschließenden symbolischen Logik zu markieren: Cassirer will diese Analogie über formallogische Problemstellungen hinaus für eine »Theorie des Wirklichkeitsbezugs und der Erkenntnis« 35 fruchtbar machen. Er betreibt Logik aus einem dezidiert erkenntnistheoretischen Interesse heraus. Überlegungen zur Form des Begriffs und des begrifflichen Denkens stehen bei Cassirer im Dienste der Frage nach der Rolle von Begriffen für das erkennende Weltverhältnis des Menschen. 36 Die erkenntnistheoretische Perspektivierung formallogischer Überlegungen ist Cassirer zufolge dem Begriff des Begriffs oder einer Theorie des begrifflichen Denkens keineswegs äußerlich. Vielmehr muss ein vollständiger Begriff des Begriffs stets auch nach dem Verhältnis von Begriff und der zu erkennenden Welt fragen: Denn die »›positive Leistung‹ des Begriffs ›besteht nicht darin, daß er überhaupt gedacht‹, sondern daß etwas durch ihn erkannt wird, daß er auf einen Gegenstand Vgl. Gottlob Frege: Funktion und Begriff [1891], in: ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. von Günther Patzig, Göttingen 2008, bes. 11 ff. 35 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 73. Vgl. dazu auch folgende Bemerkung von Cassirer: »›Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik‹: so lautet der Titel, den ich meinem Buche gegeben habe. Damit sollte von Anfang an ausgedrückt werden, daß hier keineswegs allein von der ›Form‹ des Begriffs, sondern von seinem Erkenntniswert, von seinem objektiven ›Sinn‹ und seiner gegenständlichen ›Geltung‹ die Rede sein sollte.«, in: Ernst Cassirer: Zur Theorie des Begriffs [1928], in Aufsätze und kleine Schriften. 1927–1931, ECW XVII, 85. In diesem Sinne auch Volker Schürmann: »So ist [Cassirers, CK] Lehre vom Begriff keine immanente Kritik der formalen Logik, sondern eine Analyse der Formbestimmtheit des Gegenstandsbezugs. Aber als Analyse der Formbestimmtheit des Gegenstandsbezugs spricht Cassirer diese Lehre als eine logische an; . . . «, in: Volker Schürmann: Die Aufgabe einer Art Grammatik der Symbolfunktion, in: Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, hg. von Martina Plümacher, Volker Schürmann, Frankfurt /M. 1996, 90. 36 SuF verbindet so gesehen eine Traditionslinie der Logik, die, in der Neuzeit durch Kant und Hegel vermittelt, bis zur Logik von Port-Royal [1662] zurückreicht und die stark von erkenntnistheoretischen Interessen geprägt ist, mit der sich infolge von Freges Begriffsschrift entwickelnden, modernen mathematischen oder symbolischen Logik. Zu diesen Traditionslinien vgl. Ernst Tugendhat, Ursula Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 2004, 7 ff. 34

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bezogen werden kann. Dieser Gegenstandsbezug läßt sich aus dem echten Begriff nicht eliminieren.« 37 Dieser Ansatz findet in der PhsF seine Entsprechung darin, dass dort z. B. im engeren Sinne sprachwissenschaftliche Überlegungen, die sich mit der Form der Sprache befassen, sprich: Überlegungen, die z. B. die Syntax oder Phonetik einer natürlichen Sprache betreffen, stets mit Blick auf Fragen der sprachlichen Welterschließung oder des Verstehens der Welt, in der diese Sprache gesprochen wird, verbunden werden. Noch einmal anders gesagt: Im Rahmen seiner Symbolphilosophie geht es Cassirer nie darum, einen bloß formalen oder technischen Begriff irgendeines symbolischen Mediums zu gewinnen. Leitend ist immer die Frage nach dem Verhältnis von symbolischen Medien und Welt, sofern diese Welt Gegenstand unserer Erkenntnis- oder Verstehensbemühungen ist. Der Funktionsbegriff wird – ob in seiner engeren, auf den wissenschaftlichen Gebrauch von Begriffen bezogenen Fassung oder in seiner weiteren, auch auf natürliche Sprachen, Kunst oder magische Rituale bezogenen Fassung – von Cassirer stets in seiner Relevanz für das menschliche Weltverhältnis insgesamt betrachtet. Und da Cassirer dieses Weltverhältnis eben als ein entweder erkenntnisförmiges (in SuF ) oder als ein von Bedeutungen oder Verständnissen getragenes Verhältnis (in der PhsF ) begreift, kann man genauso gut sagen, dass es Cassirer um Begriffe oder symbolische Medien als Medien des Erkennens, des Verstehens, oder eben: um Medien der Bedeutung geht. Wichtiger ist aber, wie Cassirer die Rolle von Begriffen bestimmt. Diese Rolle lässt sich in ihren Grundzügen wie folgt erläutern: Mit dem Rekurs auf den mathematischen Funktionsbegriff arbeitet Cassirer an der Übersetzung zentraler Einsichten der kritischen Philosophie Kants auf das Gebiet einer Theorie des wissenschaftlichen Begriffsgebrauchs. Es soll dort die kantianische Grundthese geltend gemacht werden, dass die Gegenstände unserer Erkenntnis in Abhängigkeit zu uns, die wir diese Gegenstände erkennen, erläutert werden müssen. Erkenntnisse gewinnen oder objektive Erfahrungen machen wir nach Kant bekanntermaßen nur dann, wenn diese Erfahrungen eine bestimme Form aufweisen. Volker Schürmann spricht diesbezüglich treffend von der Formbestimmtheit unseres Gegenstandsbezugs (vgl. Anm. 35). Diese Formen aber bringen wir mit. Sie sind nicht unabhängig von uns mit den Gegenständen der Erfahrung gegeben. Ganz in diesem Sinne schreibt Cassirer: »Wir erkennen [. . . ] nicht ›die Gegenstände‹ – als wären sie schon zuvor und unabhängig als G eg enstände bestimmt und gegeben –, sondern wir erkennen g eg enständlich, . . . « (SuF, 328). Gegenständlichkeit ist selbst eine 37

Ernst Cassirer: Inhalt und Umfang des Begriffs [1936], ECW XXII, 12.

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Form unserer Erkenntnis – und zwar eine solche, wie nun Cassirer zeigen will, die letztlich vom konkreten wissenschaftlichen Begriffsgebrauch herrührt. Etwas begrifflich bestimmen heißt demnach nicht, die Form des Begriffenen als etwas, das dem Begriffenen unabhängig vom Begreifen zukommt und dieses bestimmt, zu erfassen (etwa als dessen »reale Form«), sondern: die Form des Begreifens auf das zu Begreifende anzuwenden und es dadurch allererst als dieses oder jenes bestimmbar oder begreifbar zu machen. Das lässt sich noch einmal so sagen: Cassirers Begriffstheorie rekurriert in ihrer grundsätzlichen Stoßrichtung auf das, was man im Ausgang von Kant das »Herstellungsmodell der Erfahrung« 38 nennen kann. Demnach gilt für einige Eigenschaften der Gegenstände unserer Erfahrung, dass sie auf die Ausübung unserer Erkenntnisvermögen zurückzuführen sind und also diesen Gegenständen nicht unabhängig von unserer kognitiven Bezugnahme auf sie zukommen. Das Bild, das wir uns im Erkennen von der Welt machen, ist in bestimmten Hinsichten das Produkt unserer eigenen geistigen Leistungen. Diese geistigen Leistungen buchstabiert Kant bekanntermaßen in Gestalt der reinen Formen der Anschauung, sowie den verschiedenen Urteilsformen und Kategorien aus. Holm Tetens schlägt vor, dass wir die Urteilstafel und die Kategorientafel so verstehen können, dass sie all die Aussageformen und Grundbegriffe auflisten, die wir nach Kant zwingend benötigen, um subjektive Erfahrungen als objektive Tatsachen unserer intersubjektiven Erfahrungswelt zu beschreiben. Wir verständigen uns nach Kant über die von uns gemeinsam geteilte Welt, indem wir Gedanken denken oder besser: Aussagen treffen (Urteile fällen), die der Form nach den Urteilsformen gemäß sind und die der Form nach die Grundbegriffe objektiver Erfahrung, die Kategorien, enthalten. Wir müssen unsere Erfahrungen auf eine bestimmte Weise artikulieren, um den Anspruch geltend machen zu können, damit etwas über die Welt auszusagen, was tatsächlich der Fall ist oder nicht, und das von anderen auch so verstanden und nachvollzogen werden kann. SuF überträgt diesen Gedanken auf die Grundbegriffe der Wissenschaften: Damit eine bestimmte Erfahrung, z. B. die Beobachtung einer Reaktion im Reagenzglas als eine objektive Tatsache der Chemie oder als eine chemische Tatsache der Welt beschrieben werden kann, müssen wir auf Begriffe der Chemie zurückgreifen, z. B. den Begriff des chemischen Stoffes, den Begriff des Radikals, oder den der Reaktion. Dasselbe gilt für die Grundbegriffe der Physik und ihrer Teilgebiete. Was auch immer als Holm Tetens: Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2006, 33 f. 38

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Erkenntnis der Chemie, der Mechanik, der Wärmelehre gelten soll, muss in ihren Grundbegriffen beschrieben werden. Daraus folgt wiederum, dass von allem, was im Rahmen dieser Wissenschaften erkannt wird, a priori gilt, dass es jedenfalls die Form oder diejenigen Eigenschaften hat, die ihm gemäß den Grundbegriffen der entsprechenden Wissenschaften zukommen, z. B. die Eigenschaft »ein Radikal zu sein« (wie auch immer diese Eigenschaft im Rahmen der Theorie näher bestimmt ist). Nur insofern etwas in dieser Hinsicht schon bestimmt ist, gilt es ja überhaupt als ein Gegenstand dieser Wissenschaft. Anders gesagt: Was zum Gegenstandsbereich einer Wissenschaft gehört, ist damit Sache der grundbegrifflichen Weichenstellungen dieser Wissenschaften selbst. In diese Sinne spricht Cassirer davon, dass die »Menge [derjenigen Dinge, die unter einen Begriff fallen; sein Umfang, CK] auf den Begriff gegründet« (PhsFIII, 346) ist oder schreibt Kreis, diesen Gedanken paraphrasierend: »Begriffe, Urteile und Theorien bilden die Welt nie in einem naiven Sinne ab, sie konstituieren die Welt vielmehr als den Extensionsbereich ihrer selbst.« 39 Das können wir noch einmal so pointieren: Wenn 1.) Begriffe »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung [von Gegenständen, CK] überhaupt sind« 40 und man weiter mit Kant 2.) »alle Erkenntnis transzendental [nennt, CK], die sich nicht sowohl mit den Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« 41 und man zu guter Letzt 3.) begriffstheoretische Fragestellungen zum angestammten Problembestand der Logik 42 rechnet, dann kann man die Begriffstheorie von SuF auch eine transzendentale Logik nennen. 43 Die in SuF entfaltete Begriffstheorie ist damit eine Lehre von Begriffen als denjenigen Formen, von denen unsere wissenschaftliche Erkenntnis oder unsere wissenschaftliche Erfahrung der Welt notwendig abhängt. Damit ist sie zugleich die Theorie einer Welt, die für uns erst vermittels der »artifiziellen« symbolischen Medien (hier: Begriffen) in Sicht kommt: Die Welt »erscheint somit in [ihren, CK] Grundzügen nicht als ›gegeben‹, nicht als fertiges Kreis: Cassirer (Anm. 7), 80. Vgl. auch ebd., 73: »Gegenstände [. . . ] werden im funktionalen Akt des Urteilens erst konstituiert.« 40 KrV, B179. 41 Ebd., B25. 42 So u. a. Tugendhat, Wolf: Propädeutik (Anm. 36), 12. 43 So nennt z. B. Kreis Cassirers Begriffstheorie, vgl. Kreis: Cassirer (Anm. 7), 87. Vgl. dazu auch Ernst Cassirer: Kant und die moderne Mathematik. Mit Bezug auf Bertrand Russels und Louis Couturats Werke über die Prinzipien der Mathematik [1907], ECW IX, 43. Cassirer stellt dort selbst den Zusammenhang zwischen seiner Begriffstheorie und der Idee einer transzendentalen Logik her. 39

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Produkt, das uns durch die Natur der Dinge irgendwie aufgedrängt wird, sondern als ein Resultat des freien Bildens« (PhsFIII, 6). Diese Bestimmung bedarf allerdings einer nicht ganz unerheblichen Korrektur: Denn so sehr SuF und die PhsF sich der von Kant inaugurierten »subjektiven Wende« verpflichtet wissen, können sie doch nicht denselben erfahrungskonstituierenden Status für ihre Begriffe und symbolischen Formen reklamieren wie die KrV : Zwar gilt für Cassirer wie für Kant, dass »aller Inhalt der Kultur sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes [lies: begriffliche oder sonst wie symbolische Bezugnahme] zur Voraussetzung hat« (PhsFI, 9) – aber diese Formprinzipien werden von Cassirer (nicht so von Kant) als diachron variierend und synchron vielfältig begriffen. Das liegt darin begründet, dass Cassirer diese Formen nicht als Formen erläutert, die uns qua Erkenntnis- oder Erfahrungssubjekt-Sein prinzipiell zukommen, sondern als Formen, die sich historisch und konkret in unseren wissenschaftlichen, sprachlichen, ästhetischen etc. Praktiken ausbilden – eben als Kulturformen, wie man auch sagen könnte. Grundbegriffe oder Grundformen des Erkennens und Verstehens, die sich im Zuge solcher Praktiken ausbilden, können so stets nur eine relative und keine universelle und überzeitliche Geltung beanspruchen. Das ist eine Konsequenz der sogenannten Empirisierung und Historisierung des »transzendentalen Apparats« Kants, die Cassirer programmatisch betreibt. Um dieser Differenz in den theoretischen Ansprüchen von Kant und Cassirer Rechnung zu tragen, scheint es angemessen mit Blick auf Cassirers Unternehmen daher nur von einer quasitranszendentalen Logik zu sprechen. 44 Auf die wichtigsten Überlegungen beschränkt lässt sich das bisher Gesagte wie folgt zusammenfassen: Ausgehend von Problemen des begrifflichen Denkens und der Form des Begriffs fragt Cassirer nach dem Zusammenhang von Begriff und Gegenstand oder von Begriff und Welt. Er bestimmt diesen Zusammenhang als eine spezifische Abhängigkeitsbeziehung, wonach wissenschaftliche Begriffe notwendige Formen An diesem Projekt hält Cassirer grundsätzlich auch in der PhsF fest: Zwar fragt er dort nicht mehr nur nach der Rolle von Begriffen für den Aufbau der Gegenstandswelt einer Wissenschaft, sondern ausgehend von bedeutungstheoretischen Fragen, die neben begrifflichen auch nicht-begriffliche Formen des Verstehens betreffen, nach der Rolle symbolischer Formen für das menschliche Weltverhältnis insgesamt. Cassirer spricht den symbolischen Formen (auch den im engeren Sinne nicht-begrifflichen) allerdings eine den Begriffen in SuF vergleichbare gegenstands- oder wirklichkeitskonstituierende Kraft zu. Ich schlage daher vor, mit Blick auf die Bedeutungs- und Symboltheorie der PhsF entsprechend von einer quasi-transzendentalen Semantik zu sprechen. 44

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darstellen, gemäß derer wir bestimmte Gegenstände oder eine bestimmte Welt überhaupt erst erkennen können. Dass sich uns eine bestimmte Welt zu erkennen gibt, verdanken wir so in wesentlichen Teilen nicht der Verfasstheit der Welt, sondern unserem spezifischen Begriffsgebrauch. Die Welt als so und so bestimmbare wird unserem erkennenden Zugriff nicht als gegeben zugrunde gelegt, sondern soll selbst in bestimmten Hinsichten als eine »Funktion« unseres begrifflichen Denkens verständlich gemacht werden. 1.1.3 Zum Begriff der Funktion Der für SuF einschlägige Begriff der Funktion ist ein technischer Ausdruck der Mathematik. Mit dem umgangssprachlichen (und auch sonst weit verbreiteten) Gebrauch der Ausdrücke ›Funktion‹ oder ›funktionieren‹ hat er wenig gemein. Umgangssprachlich verstehen wir unter einer Funktion eine Art spezifischer Leistung, zu der etwas bestimmt ist, ein spezifisches »Wozu« von etwas. So ist es die Funktion einer Batterie, elektrische Energie zu speichern oder die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen. Funktionen in diesem Sinne beschreiben Zweck-Mittel-Relationen: Wenn etwas nicht funktioniert, wie wir sagen, dann leistet es nicht das, wozu es bestimmt ist, es erfüllt seine Funktion oder seinen Zweck nicht. Unglücklicherweise ist nun aber auch der mathematische Gebrauch des Ausdrucks ›Funktion‹ nicht immer einheitlich: Nehmen wir eine Gleichung y = x2. Die Variable y kann als die abhängig veränderliche Größe oder der Wert bezeichnet werden, der sich je nach der an der x-Stelle, die auch Argumentstelle genannt wird, eingesetzten Größe verändert – in diesem Fall so, dass y stets das Quadrat von x sein wird. Immer wieder findet man die Redeweise, dass nun y die Funktion von x sei. Cassirer spricht in diesem Sinne mitunter davon, dass die Wirklichkeit oder die Welt eine Funktion des begrifflichen Denkens sei – und meint dann damit: Die Welt ist eine von unserer begrifflichen Praxis abhängig veränderliche Größe. In der Sache rekurriert Cassirer mit diesem Gebrauch des Ausdrucks ›Funktion‹ dann auf nichts anderes als das, was ich eben erläutert habe: auf den Gedanken, dass die Welt eine in bestimmten Hinsichten durch Begriffe geprägte oder konstituierte Größe ist. Dass Begriffe eine solche Konstitutionsleistung vollbringen können, wird in SuF aber im Wesentlichen unter Rekurs auf ein drittes Verständnis von Funktion erläutert: Demnach wird der Ausdruck ›Funktion‹ zur Bezeichnung des ganzen Operationsausdrucks ›y = F(x)‹ oder besser: zur

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Bezeichnung für die Form der Abhängigkeit verwendet, in der y zu x steht – in unserem Beispiel in der Form der Quadrierung. Es scheint mir sinnvoll, beide mathematischen Verwendungsweisen genau auseinanderzuhalten und im Folgenden nur die letzte Verwendung zu übernehmen. Die spezifische Ordnungsrelation, die eine Funktion zwischen verschiedenen Elementen herstellt, ist es, die die Analogie zwischen mathematischen Funktionen und Begriffen trägt. Erst von dort her wird dann auch der Gedanke entwickelt, dass Begriffe eine gegenstandskonstituierende »Funktion« haben. 1.2 Leiden an Unbestimmtheit: Reine Funktionsbegriffe »Jeder, der Worte oder mathematische Zeichen gebraucht, macht den Anspruch, daß sie etwas bedeuten, und niemand wird erwarten, daß aus leeren Zeichen etwas Sinnvolles hervorgehe.« – Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, 22 45

Cassirer eröffnet seine begriffstheoretischen Überlegungen gezielt auf dem Boden der Mathematik: Mathematik ist diejenige unter den Wissenschaften, die das Ideal exakter Erkenntnis auf paradigmatische Weise erfüllt. Sie vermag dies dadurch zu leisten, dass sie ihre Begriffe ohne Rekurs auf die sinnliche Anschauung bildet. Für die mathematische Begriffsbildung spielen weder die Anschauung einer »Außenwelt« physischer Gegenstände noch die »Anschauung« einer »Innenwelt«, einer »psychische[n] Wirklichkeit« (SuF, 31 ff.) mentaler Vorkommnisse, wie z. B. Vorstellungen, eine Rolle. Beobachtung und Introspektion sind gleichermaßen irrelevant. Mathematische Begriffe werden vielmehr autonom oder spontan konstruiert. 46 Mathematische Begriffsbildung besteht Zit. n. Jaroslav Peregrin: Doing Worlds with Words. Formals Semantics without Formal Metaphysics, Dordrecht 1995, 199. 46 Ich werde Cassirers diesbezügliche Argumentation nicht im Detail diskutieren, sondern mich auf die Rekonstruktion und Kritik seiner Überlegungen zur Konstruktion mathematischer Begriffe beschränken, sofern damit ein Begriff der Konstitution begrifflichen Gehalts entworfen wird. Probleme der Philosophie der Mathematik interessieren mich nicht als solche. Ein Argument gegen eine heteronome Konzeption der Bildung mathematischer Begriffe sei aber angeführt. Es ist gegen eine psychologistische Version des Begriffsrealismus gerichtet und geht wie folgt: Angenommen der Inhalt der Zahlbegriffe der Zwei, der Drei und der Vier beruht jeweils auf »empirischen Tatsachen«, z. B. auf den unterschiedlichen Eindrücken, die wir von einem Haufen von zwei, von drei und einem Haufen von vier Dingen (z. B. Kieselsteinen) haben, und dies gilt für alle Zahlbegriffe. 45

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darin, »ein Reich der Symbole in voller Freiheit, in reiner Selbsttätigkeit auf zubauen.« (PhsFIII, 327). Mathematische Begriffe sind »Denksetzungen« (SuF, 36) durch und durch – wobei mit dem Ausdruck ›Denken‹ entsprechend nicht auf psychophysische Vorgänge Bezug genommen wird, die sich mit den Mitteln der empirischen Psychologie beschreiben ließen, sondern auf verlaufsneutrale Verhältnisse, auf ein Gedachtes, das mit den Mitteln der Logik zu beschreiben ist. Diese Auffassung von Mathematik liegt im Trend des beginnenden 20. Jahrhunderts, einer Zeit, zu der nicht nur die bis dato unangefochtene Geltung der euklidischen Geometrie unter Druck gerät, weil deren Axiomatik nunmehr als »ontologisch fundiert« 47 und damit in problematischer Weise als realistisch gilt, sondern zu der man auch beginnt, »arithmetische Eigenschaften [. . . ] als verfügbar [lies: als frei verfügbar, CK] zu betrachten.« 48 Mathematische Begriffsbildung verstanden als ein durchweg konstruktives Geschäft verkörpert für Cassirer die maximal antirealistische Alternative zum klassischen Modell der Begriffsbildung durch Abstraktion. Und obwohl Cassirer dafür argumentieren wird, dass im Grunde alle (wissenschaftlichen) Begriffe und nicht nur die der Mathematik solche

Dann ist »der logische Unterschied von Zahlen begrenzt und gebunden durch die psychologische Unterscheidungsfähigkeit, die wir in der Auffassung gegebener Mengen von Objekten erlangt haben.« Niemand vermag aber »den ›Eindruck‹ aufzuweisen, der die [. . . ] konkreten Mengen voneinander scheidet«, die der »Zahl 753684« und »der ihr unmittelbar vorausgehenden und folgenden Zahl« jeweils zugrunde liegt. Doch mathematisch oder logisch »[ist] die Zahl 753684 von der ihr unmittelbar vorausgehenden und folgenden Zahl ebenso bestimmt und deutlich unterschieden, wie es die Drei von der Zwei oder Vier ist.« Also beruht der Inhalt der Zahlbegriffe nicht auf empirischen Tatsachen. (Vgl. SuF, 28 f.). 47 Thomas Bedürftig, Roman Murawski: Philosophie der Mathematik, Berlin /New York 2010, 258. 48 Ebd., 254. Ironischerweise verkehrt sich Cassirers antirealistisches Verständnis der Mathematik in dem Moment in sein Gegenteil, als sich wiederum sein Plädoyer für eine durchgängige Mathematisierung der Naturwissenschaften erfüllt hat, d. h. zum wissenschaftlichen Common Sense geworden ist. So behauptet u. a. W. V. O. Quine mit seinem sog. indispensibility argument: »Da wir Realisten in physikalischen Theorien sind, in denen Mathematik ein wichtiges Instrument ist, müssen wir konsequenterweise auch Realisten sein hinsichtlich der mathematischen Objekte in mathematischen Theorien. Weil Mathematik unentbehrlich z. B. in physikalischen Theorien ist, gibt es mathematische Objekte wie Mengen, Zahlen, Funktionen – wie es Elektronen gibt, die physikalisch ebenso unentbehrlich sind.«, vgl. ebd. 114. Cassirer würde wahrscheinlich erwidern, dass es Elektronen ebenso wenig gibt, wie Zahlen. Elektronen sind vielmehr selbst nur » ideale Grenzg ebilde« (SuF, 130), vgl. auch PhsFIII, 496 f. Dazu unten mehr: vgl., Abschnitt 1.3. Sorge ums Sein.

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»Denksetzungen« sind 49, eignet sich die Diskussion der Begriffe der Mathematik im Besonderen für die Eröffnung von SuF – und zwar deshalb, weil »[d]ie logische Ausprägung der reinen Funktionsbegriffe im System der Mathematik ihre deutlichste Ausprägung findet« (SuF, 121). Damit ist genau besehen Zweierlei gemeint: Einerseits hat die mathematische Forschung bis dato eben am besten durchschaut und theoretisch formuliert, wie Begriffe funktionieren – von ihr lässt sich also lernen –, andererseits hat es Mathematik sozusagen mit reinen Begriffen in Reinkultur zu tun: Als konstruktive (oder wie ich später sagen werde: formale) Mathematik ist sie nirgends von einer außermathematischen Wirklichkeit her begründet und muss sie auch nirgends auf die empirische Anwendung und Bewährung ihrer Begriffe schielen, wie etwa die Physik oder die Chemie. Cassirers Mathematik bewegt sich als Wissenschaft durchweg im geistigen Reich ihrer eigenen Konstruktionen; sie nimmt keine »Quelle der Wahrheit außerhalb der [eigenen, CK] Theorie« 50 an. Das erste Kapitel wird deutlich machen, wie folgenreich die Vorbildfunktion dieses Mathematikverständnisses ist. Man kann sagen, dass hier der Keim eines Mathematizismus oder Formalismus der Begriffstheorie von SuF gepflanzt wird, der, je nach Lesart, bis in die Symboltheorie der PhsF austreibt. In SuF jedenfalls macht die von der formalen Mathematik her gewonnene Erläuterung der Funktionsbegriffe erstaunliche Karriere: Die Logik der mathematischen Funktionsbegriffe ist es, die für Cassirer den fortwährenden Orientierungspunkt abgibt, auch dort noch, wo der Bereich formaler und streng deduktiv verfahrender Wissenschaften überschritten ist: im Bereich der empirischen Erfahrungswissenschaften. In der PhsF kehrt der Gedanke einer rein geistigen Ausdifferenzierung oder Bestimmung logischer oder allgemeiner: semantischer Gehalte im Zuge der Neufassung des Begriffs der Repräsentation wieder (vgl. dazu PhsFI, 25 ff.). Anders als in der PhsF ist dieser Mathematizismus in SuF aber erklärtes Programm. Cassirer äußert sich in SuF unmissverständlich zur maßgeblichen Rolle der Mathematik: »Das Verfahren der MatheVgl. PhsFIII, 3: »Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft [. . . ] erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole.« 50 Herbert Mehrtens: Moderne Sprache Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt /M. 1990, 118. Die Rede von einem geistigen Reich könnte an dieser Stelle insofern irreführend sei, als Frege, der ja die Rede von einem »dritten Reich der Gedanken« geprägt hat, in bestimmter Hinsicht als Gegner der geschilderten Mathematikauffassung gelten kann. Frege nämlich plädiert dafür, dass mathematische Aussagen nicht immanent, d. h. durch sich selbst wahr gemacht werden können. Vgl. dazu ebd. 117 ff. 49

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matik weist hier auf ein analoges Verfahren der the oretischen Natur wissenschaf t voraus, für welches es den Schlüssel und die Rechtfertigung enthält.« (SuF, 101 f.). Kurz: Der formale und konstruierte mathematische Begriff ist der wissenschaftliche Begriff schlechthin. 51 Fürs Erste soll in diesem Abschnitt aber nur diejenige Analogie zwischen mathematischen Funktionen und mathematischen Begriffen beleuchtet werden, um die Mechanismen der Begriffsbildung, wie sie sich vor dem Hintergrund dieser Analogie darstellen, dann bis zu dem Punkt nachzuvollziehen, an dem das Problem des Bestimmtheitsdefizits sichtbar wird. 1.2.1 Mathematische Funktionen und Funktionsbegriffe Unter einer mathematischen Funktion versteht Cassirer ein » G esetz der Zuordnung« von Elementen oder eine »Regel des Fortschritts« (SuF, 16) von einem Element A zu weiteren Elementen A1, . . . , An. 52 Cassirer bezeichnet Funktionen auch als »›Reihenformen‹« (SuF, 26) und als Prinzipien, die dazu dienen, Elemente »in die Form einer bestimmt geregelten ›Progression‹ zu bringen« (SuF, 53). So ordnen beispielsweise die Sinus- oder die Cosinusfunktionen den Winkeln eines Dreiecks bestimmte Längenverhältnisse der Dreiecksseiten zu oder ergibt die algebraische Funktion F(x2 –4x) bei Einsetzung von Zahlenwerten an der Argumentstelle x einen in bestimmter Weise fortschreitenden Werteverlauf, der sich als Parabel anschaulich machen lässt. 53 Kurzum: »Eine ›Funktion‹ beschreibt den Zusammenhang von Variablen, . . . «. 54 Ersetzt man die Variablen an der Argumentstelle x durch konkrete Zahlenwerte, dann ergibt sich gemäß der Funktion (der Regel, der Vorschrift) ein Wert für

51 Es ist sicher nicht falsch, hierin eine direkte Nachwirkung des berühmten kantischen Diktums aus der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft zu sehen, wonach in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Zu den Differenzen von Kants und Cassirers Verständnis von Mathematik vgl. Karl-Norbert Ihmig: Cassirers Philosophie der Mathematik, in: Kultur und Symbol (Anm. 27), 232–247. 52 Für diesen Gebrauch des Ausdrucks ›Funktion‹ argumentiert u. a. auch Frege, vgl. Frege: Was ist eine Funktion? [1904], in: ders.: Funktion, Begriff, Bedeutung (Anm. 34), 61–69. 53 Das zweite Beispiel stammt aus Frege: Funktion und Begriff (Anm. 34), 6 f. 54 Georg Friedrich Bernhard Riemann: Über die Darstellbarkeit einer Function durch eine trigonometrische Reihe [1854], zit. n. Mehrtens: Moderne Sprache Mathematik (Anm. 50), 85.

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die Variablen des Wertebereichs y und damit erst ein vollständiges »mathematisches« Urteil. Es ist dieser Zusammenhang von Variablen, den ich im Folgenden genauer unter die Lupe nehme; nicht aber ohne zuvor kurz die Analogie zu den Begriffen zu verdeutlichen, die Cassirer vorschwebt: Um die Bestimmung einer mathematischen Funktion als »logische Einheit mit variablen Momenten« 55 auf Begriffe zu übertragen, ist es hilfreich, zunächst zwischen einem Aussagesatz oder einem Urteil »x ist p« als Ganzem und seinen subsentiellen Ausdrücken zu unterscheiden. Wie das so üblich ist, nenne ich ›x‹ das logische Individuum oder das Subjekt des Aussagesatzes oder des Urteils und ›. . . ist p‹ das Prädikat des Aussagesatzes oder des Urteils. Wenn nun Begriffe analog zu mathematischen Funktionen verstanden werden und mathematische Funktionen unvollständige oder an den Variablenpositionen »ergänzungsbedürftige« 56 Ausdrücke sind, dann kann man Begriffe als subsentielle Ausdrücke vom Typ des Prädikats verstehen. Begriffe werden demnach in Aussagen oder Urteilen auf ein Subjekt oder einen Gegenstand bezogen und diese Subjekte oder Gegenstände dadurch bestimmt. So wie an der Argumentstelle x einer mathematischen Funktion verschiedene Zahlenwerte eingesetzt werden können, kann auch von verschiedenen Subjekten oder Gegenständen »p« prädiziert oder ausgesagt werden, »dass p«. Und ebenso wie eine vollständige mathematische Funktion ein spezifisches Verhältnis zwischen einem Argument x und einem Wert y beschreibt, beschreibt nun auch das logische Urteil ein Verhältnis zwischen einem Gegenstand und einem Begriff. Es beschreibt genauer gesagt einen Sachverhalt, sprich: dass sich etwas so und so verhält. Cassirer schreibt in diesem Sinne, dass ein Begriff »als Träger und Ausgangspunkt bestimmter Urteile, als Inbegriff möglicher Relationen auf[zu]fassen« (SuF, 33) ist, und dass ein Begriff eine »Schablone für Urteile« oder ein »generelles Schema« ist, »das erst der Erfüllung mit bestimmten Werten bedarf.« (PhsFIII, 340). Dieses Begriffsverständnis ist bei Cassirer mit eigentümlichen Problemen belastet. Diesen Problemen will ich mich nun zuwenden. Um sie in den Blick zu bekommen, muss man genauer betrachten, wie Cassirer den mathematischen Variablenzusammenhang erläutert. Es sind vor allem drei Aspekte, die er hierbei betont: Erstens legen mathematische Funktionen fest oder schreiben vor, wie Elemente einer funktional geordneten Menge zusammenhängen. Daraus folgt zum einen, dass Funktionen keine nachträglichen Ausdrücke eines 55 56

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 81 f. S. o.

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bereits bestehenden Zusammenhangs von Elementen sind. Elemente stehen nicht von sich aus in bestimmten Beziehungen zu anderen Elementen, sie werden in diese Beziehungen gestellt oder gesetzt: »Wir müssen zunächst erkennen, daß die Ordnung in einer bestimmten ›Schar‹ von Elementen niemals schon als fertige Eigenschaft an den einzelnen Elementen selber haftet und mit ihnen mitgegeben ist, sondern daß sie erst durch die erzeugende Relation, aus der die einzelnen Glieder hervorgehen, bestimmt wird.« (SuF, 49)

Dieser Gedanke lässt sich am Beispiel von unendlichen Zahlenreihen etwas plausibilisieren: Wenn es eine unendliche Folge von Zahlen geben soll, in der auf jede Zahl in bestimmter Weise eine weitere folgt ad infinitum, dann kann es einfach keinen bestehenden Zusammenhang solcher Zahlen geben, an dem sich diejenige Regel ablesen lässt, nach der diese Reihe gebildet ist. Das Unendliche liegt per definitionem nicht als ein Bestand vor; heißt: Immer kann noch ein weiteres Element, eine weitere Zahl die Reihe verlängern. Jede weitere Zahl aber kann dazu führen, dass die Bildungsregel, die man meinte, einem stets vorläufigen und damit endlichen Bestand ablesen zu können, sich als falsch erweist, weil sie die »Abweichung« oder den »Sprung«, den eine neue Zahl gegenüber der bisherigen Zählweise darstellen könnte, nicht vorsah. Einer gegebenen Zahlenreihe lässt sich nie definitiv ablesen, wie sie fortzusetzen ist. Die Fortsetzung ist durch den Bestand nicht festgelegt oder nicht bestimmt. 57 Genau eine solche bestimmte Fortsetzung einer Reihe ad infinitum ist aber der Charakter unendlicher Zahlenreihen in der Mathematik und mit ihnen wird gerechnet. Also kann die Funktion, die die Bildung einer unendlichen Reihe regelt, einer bestehenden Reihe nicht nachträglich abgelesen werden. Die Funktion oder »der ›Begriff‹ [dieser Reihe, CK]«, das ist die für Cassirer denkbare Alternative, »ist damit nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen: Denn indem wir einer Mannigfaltigkeit eine Ordnung, einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen, haben wir ihn [den Zusammenhang, CK], wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden Funktion bereits vorausgesetzt.« (SuF, 16). Kurz: Funktionen und damit Begriffe sind präskriptiv nicht deskriptiv. Zum anderen sind Funktionen, die die Beziehungen zwischen Elementen regeln oder die deren Zusammenhang vorschreiben, auch keine Elemente dieses Zusammenhangs selbst: Als Größe, »die die Art der Abhängigkeit zwischen den aufeinanderfolgenden Gliedern festsetzt«, schreibt CassiVgl. dazu u. a. Saul A. Kripke: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt /M. 1987, bes. 11–35 und 110–139. 57

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rer, »ist [die Funktion F(a,b), F(b,c) . . . ,] augenscheinlich (sic!) 58 nicht selbst als Glied der Reihe aufzeigbar, die ihr gemäß entsteht und sich entwickelt.« (ebd.). Weder ist also eine Funktion Teil des Zusammenhangs noch nachträglicher Ausdruck des Ganzen dieses Zusammenhangs. Auf Begriffe bezogen spricht Cassirer entsprechend davon, dass der » Inhalt eines Begriffs« und »die Elemente [seines] Umfang s [. . . ] [die Bedeutung des G esetzes« und seine » Fälle«] prinzipiell verschiedenen Dimensionen angehören (SuF, 25). 59 Zweitens sind wiederum die Elemente einer Reihe oder eines Ordnungszusammenhangs nicht schon als solche, d. h. ungeachtet ihres durch die Funktion geregelten Zusammenhangs als bestimmte Elemente aufzufassen. Sie sind keine positiven Größen, die dann zusätzlich oder nachträglich noch in Beziehung zueinander treten. Vielmehr ist die »Kategorie der R elation« (SuF, 7) logisch primär: Funktional geordnete Elemente gewinnen ihre Bestimmtheit genau dadurch, dass sie in einem bestimmten Zusammenhang zu anderen Elementen stehen, dass sie einander zugeordnet sind oder nach einem bestimmten Prinzip aufeinander folgen. Sie sind die Elemente, die sie sind, allein aufgrund der Beziehungen (Relationen), die sie zu anderen Elementen unterhalten. 60 Das lässt sich gut mit Blick auf Zahlen verdeutlichen. Zahlen, schreibt Cassirer: Der Verweis auf den Augenschein kann ein Argument wohl kaum ersetzen, vor allem nicht in diesem Kontext, wo Cassirer »Rechtfertigung durch Sinnlichkeit« scheuen sollte wie der Teufel das Weihwasser. Ein Argument wird daraus, wenn man den zweiten Aspekt hinzuzieht, den Cassirer hervorhebt. Siehe dazu Anm. 60. 59 Allerdings ist die Rede von verschiedenen Dimensionen mehrdeutig: Ich werde unten zeigen, dass dieser Unterschied im Kontext der Mathematik ein logischer Unterschied ist, während er im Kontext empirischer Wissenschaften als »kategorialer« (SuF, 25) Unterschied begriffen werden muss; s. u., S. 71 ff. 60 Jetzt lässt sich begründen, was Cassirer oben nur dem »Augenschein« überlässt: warum nämlich eine Funktion nicht selbst ein Element des durch sie geordneten Zusammenhangs sein kann: Wenn gilt, dass eine Funktion die Beziehungen der Elemente eines Zusammenhangs regelt und wenn zugleich gilt, dass die Elemente eines solchen funktional geregelten Zusammenhangs nur bestimmt sind durch die Beziehungen, die sie zu anderen Elementen dieses Zusammenhangs unterhalten, dann kann die Funktion nicht selbst Element dieses Zusammenhangs sein, ohne den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu verletzen. Wäre eine Funktion nämlich selbst Element des Zusammenhangs, den sie regelt, wäre auch sie nur insofern bestimmt, als sie in bestimmten Beziehungen zu anderen Elementen dieses Zusammenhangs steht. Bestimmt sind diese Beziehungen aber nur, sofern eben eine Funktion sie in bestimmter Weise vorschreibt. Als Element eines solchen Zusammenhangs kann eine Funktion diese Beziehungen nicht bestimmen, da sie ja selbst erst durch diese Beziehungen bestimmt wird. Die Funktion müsste, anders gesagt: zugleich als die »Beziehungen bestimmende Funktion« bestimmt sein und als »von diesen Beziehungen zu bestimmendes Element« unbestimmt sein. Das aber verletzt den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Der Satz vom ausgeschlossen Wi58

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»werden nicht als selbstständige Existenzen vor jeder Beziehung als vorhanden gesetzt, sondern sie enthalten ihren gesamten Bestand, soweit er für die Arithmetik in Betracht kommt erst in und mit den Beziehungen, die von ihnen ausgesagt werden. Sie sind Relationsterme, die niemals losgelöst, sondern nur in idealer Gemeinschaft miteinander ›gegeben‹ sein können.« (SuF, 36). »Es ist die Grundeigentümlichkeit der ordinalen Zahlen, daß in ihr die Einzelzahl niemals etwas für sich allein bedeutet, daß ihr nur als Stelle im Gesamtsystem ein fester Wert zukommt.« (ebd., 49) »Die logische Bestimmtheit der ›Vier‹ ist durch ihre Einreihung in ein ideelles und somit zeitlos gültiges (sic!) Ganze von Beziehungen, durch ihre Stelle im mathematisch definierten Zahlsystem gegeben.« (ebd., 24) 61

Cassirer intoniert mit diesem zweiten Aspekt ein genuin holistisches Motiv, das bekanntermaßen zu »ein[em] zentrale[n] Motiv der Gegenwartsphilosophie« 62 avancierte und das insbesondere auch die bedeutungstheoretische Diskussion in der Sprachphilosophie nachhaltig geprägt hat. Auch in der PhsF wird er immer wieder auf dieses Motiv zurückgreifen, so z. B. in der Erläuterung der repräsentationalistischen Struktur des Bewusstseins oder in seinem Plädoyer für ein Primat des Satzes in Belangen sprachlicher Bedeutung. Jeweils wird hier von Cassirer die Bestimmtheit von einzelnen Elementen – von mentalen Episoden, wie Vorstellungen oder eben die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke – aus ihrem Zusammenhang mit derspruch aber gilt und Funktionen sind bestimmt. Also ist eine Funktion kein Element des Zusammenhangs, den sie regelt. 61 Cassirer spricht in SuF immer wieder auch von Zahlbegriffen, z. B. vom »›Begriff‹ der ›Zwei‹ oder der ›Drei‹« (SuF, 27). Im jetzigen Zusammenhang ist das aber irreführend, denn Zahlen sollen ja zunächst als Elemente funktional bestimmter Reihen (oder als Subjekte von Aussagen und nicht als deren Prädikate) fungieren. Erst wenn sie als Prädikate fungieren, kann man aber davon sprechen, dass sie Begriffe sind. Fürs Erste bleibe ich daher dabei, Zahlen wie 2, 3 oder 4 als einfache Elemente z. B. einer Reihe natürlicher Zahlen zu begreifen. Sie bilden demnach den Umfang des »Reihenbegriffs« der natürlichen Zahl N, ohne selbst schon Begriffe zu sein. Im Rahmen der formalen Mathematik sind Zahlen anders gesagt mathematische Gegenstände oder »Abstraktionen von Stellen in unendlichen Zählreihen« (Bedürftig, Murawski: Philosophie der Mathematik (Anm. 47), 75). Zu Begriffen werden die Ausdrücke ›Vier‹ oder ›Zwei‹ erst dann, wenn sie z. B. zum Zählen empirischer Gegenstände gebraucht werden. Dann stellen sie alle Gegenstände, auf die sie zutreffen (alle Mengen von vier Dingen) in einen spezifischen Zusammenhang zueinander und in ein Verhältnis zu anderen Mengen, etwa von drei Dingen oder zwei Dingen. 62 Vgl. Georg W. Bertram, Jasper Liptow (Hg.): Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, Weilerswist 2002 und Verena Mayer: Semantischer Holismus. Eine Einführung, Berlin 1997.

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anderen solcher Elemente heraus und unter Rekurs auf eine die Spezifik dieses Zusammenhangs bestimmende Struktur erläutert. Der Wert oder die Identität einzelner Elemente solcher Strukturen ist demnach durch die Beziehungen bestimmt, die sie innerhalb der Struktur zu anderen Elementen unterhalten. Cassirer gibt dieser holistischen Figur, wie wir noch sehen werden, einen formalistischen Anstrich, den sie nicht zwangsläufig haben muss: Er begreift die wechselseitigen Beziehungen innerhalb eines solchen holistischen Zusammenhangs als die einzigen Beziehungen, die für die Bestimmtheit der strukturalen Elemente eine Rolle spielen. Zunächst ist aber Folgendes wichtig: Wenn die Relationen oder Beziehungen den »Wert« (die »Identität«) der Elemente bestimmen, dann müssen diese Relationen oder Beziehungen bestimmte Relationen oder Beziehungen sein. Nur bestimmte Beziehungen können elementebestimmend sein. Anders: Wenn Begriffe Regeln oder Vorschriften sind, dann müssen sie bestimmte Regeln und Vorschriften sein. Eine unbestimmte Vorschrift ist keine Vorschrift; eine unbestimmte Regel regelt nichts. Die Frage lautet daher: Wodurch sind die elementebestimmenden Beziehungen in Strukturen bestimmt? Die Antwort scheint klar: durch die jeweilige Funktion. Daher kann man auch direkt fragen: Wodurch sind die Funktionen selbst bestimmt? Wenn z. B. die Begriffe der reellen Zahlen R und der natürlichen Zahlen N Funktionsbegriffe sind, die die Bildung unterschiedlicher Zahlenreihen vorschreiben, stellt sich die Frage, wodurch bestimmt ist, was zu tun ist, wenn die Anweisungen erfolgen »Zähle in dieser (natürlichen) Weise!« und »Zähle in jener (reellen) Weise!«. 63 Cassirer hebt diesbezüglich schließlich und drittens zunächst nur negativ hervor, dass die fragliche Bestimmtheit einer mathematischen Funktion nicht aus der empirischen Beobachtung abgleitet werden kann und schließt sich damit der berühmt-berüchtigten Polemik Freges gegen eine »Arithmetik der Kieselsteine und Pfeffernüsse« 64 an: Mathematische Verhältnisse werden niemals durch empirische Beobachtung Vorausschauend auf den gleich folgenden dritten Aspekt, den Cassirer hervorhebt, soll noch einmal betont sein, dass die Frage nach Bestimmtheit hier nicht danach fragt, wovon Mathematik handelt, oder was es ist, das in einer mathematischen Operation errechnet oder berechnet wird, sondern dass mit der Frage nach der Bestimmtheit hier zunächst nur danach gefragt wird, welche mathematische Operation eine mathematische Funktion im Unterschied zu anderen Funktionen vorschreibt, mithin nach deren logischer Bestimmtheit. 64 Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl [1884], Darmstadt 1961, 38 und die Anspielung Cassirers auf Frege in: SuF, 29. 63

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gewonnen. Zwar lassen sich empirische Verhältnisse mathematisch beschreiben; für die Rechtfertigung mathematischer Erkenntnisse oder für die Bestimmung mathematischer Funktion spielen solche Beschreibungen aber keine Rolle. Die Mathematik kommt zu ihren Inhalten und Erkenntnissen nicht auf dem Wege einer Erforschung der sinnlich erfahrbaren oder der physikalisch messbaren Welt oder Wirklichkeit. »Das Denken [wächst]« in der Mathematik, so heißt es bei Cassirer, »über alle Schranken des ›Gegebenen‹ [hinaus]. Die Gegenstände, die wir betrachten und in deren objektive Natur wir einzudringen suchen, haben kein anderes als ein ideales Sein; . . . « (SuF, 121). »Ihr ›Sein‹ [das der mathematischen Funktionen, Funktionsbegriffe, Reihenprinzipien, CK] besteht ausschließlich in der logischen Bestimmtheit, kraft welcher sie sich von anderen möglichen Reihenformen Φ, ψ . . . in eindeutiger Weise unterscheidet« (SuF, 26, kursiv, CK). Kurz: Mathematische Funktionen und Begriffe sind für Cassirer reine Begriffe des Denkens; Denksetzungen durch und durch. Als Antwort auf die Frage nach der Bestimmung der Funktionen führt diese Auskunft allerdings nicht weiter. Bevor aber auch Cassirers positiver Antwort auf die Frage nach der Bestimmtheit von Funktionsbegriffen nachgegangen wird, will ich kurz zu der oben aufgeworfenen Frage (s. o., S. 67) zurückkommen, wie die Rede von den unterschiedlichen Dimensionen genau zu verstehen ist, denen Funktionen und Elemente funktional geordneter Mengen angeblich zugehören: Im Rahmen einer Mathematik wie Cassirer sie konzipiert, fällt der dimensionale Unterschied zwischen Funktionen und Elementen quasi vollständig auf die Seite des Geistes. Der Unterschied meint nichts anderes als die logische Ausdifferenzierung verschiedener »Größen« des mathematischen Denkens (die ich in Begriffen der Prädikatenlogik auch als Differenz von Subjekt und Prädikat eines Aussagesatzes bezeichnet habe). Diese »Immanenz« des dimensionalen Unterschieds hat allerdings eine interessante Konsequenz für den Begriff mathematischer Gegenstände oder mathematischer Objekte und für den Begriff mathematischer »Erkenntnis«: Wenn nämlich Elemente durch die Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, vollständig bestimmt sind, d. h., wenn sie nichts anderes sind, als das, was sie kraft dieser Beziehungen sind 65, und zugleich wir es sind, die das identitätsstiftende Vgl. SuF, 263: »[D]ie Gegenstände dieser [der mathematischen] Begriffsbildung sind nichts anderes als das, wozu unsere ideale Konstruktion sie gemacht hat, während jeder empirische Inhalt unbekannte Bestimmungen in sich birgt, von ihm also niemals mit voller Sicherheit zu entscheiden ist, welchem der verschiedenen hypothetischen Begriffe, die wir zuvor konzipiert und in ihren Folgerungen entwickelt haben, er einzuordnen ist.« 65

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Beziehungsmuster zwischen den Elementen qua Bestimmung der Funktionen konstruieren, dann konstruieren wir zugleich die Elemente dieses Zusammenhangs, d. h. die mathematischen Gegenstände in allen ihren Eigenschaften. Daher »kann man die Zahlen« wie Cassirer den Mathematiker Richard Dedekind zustimmend zitiert »eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes nennen.« 66 Die Exaktheit und deduktive Strenge der Mathematik erweist sich dann als Moment einer totalen Kontrolle des mathematischen Gegenstandsbereichs, die Herbert Mertens drastisch aber treffend wie folgt schildert 67: »Die Sprache der Mathematik duldet keinen Widerspruch. Sie ist die Sprache des Meisters, der den Knecht kraft seiner Worte das zu tun zwingt, was er befiehlt. [. . . ] Der Mathematiker kann sich als ›Schöpfer‹ setzen, weil er mit keinem realen Knecht konfrontiert ist.« Cassirer sagt weniger metaphorisch zwar, aber von der Sache her dasselbe: »Da nun die Gebiete, die wir betrachten uns nicht als anderweitig bereits g eg ebene gelten, sondern lediglich durch die Regel ihres Aufbaus für uns bekannt und bestimmt sind, so ist klar, daß diese Regel zureichen muß, auch alle ihre Merkmale erschöpfend darzustellen und begrifflich zu beherrschen.« (SuF, 105; kursiv, CK) Der mathematische Begriff begrenzt damit nicht nur dem Raum der möglichen Erkenntnis, sondern er füllt ihn gleichsam vollständig aus. In der mathematischen Forschung wird nur entwickelt, was bereits in den begrifflichen Setzungen enthalten ist. Nirgends stößt man in der Mathematik auf etwas, mit dem »nicht zu rechnen« gewesen wäre. Es gibt kein Moment konstitutiver Ungewissheit. Damit übererfüllt die Mathematik gewissermaßen das Programm einer quasi-transzendentalen Konstitution des Gegenstandsbereichs einer Wissenschaft, wie ich es im vorangegangenen Abschnitt besprochen habe. Von Übererfüllung lässt sich eben deshalb reden, weil die Idee dieses Programms ja nicht lautete: dass die Gegenstände der Erkenntnis ausschließlich die Eigenschaften haben, die ihnen gemäß den Grundbegriffen der entsprechenden Wissenschaften zukommen, sondern nur einige, eben jene Formen, durch die sie für uns objektiv erkennbare Gegenstände sind. Da nun Mathematik bei Cassirer bei nichts anderes ist als eine Wissenschaft der Formen und zwar der von uns gesetzten Formen, stehen alle Eigenschaften dieser Formen immer schon fest. Es kann nichts hinzukommen, was nicht schon im Begriff angelegt wäre (was nicht ausschließt, dass es für Mathematiker etwas zu tun gibt, Richard Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen? [1887], § 6/73, zitiert n. SuF, 39. 67 Mehrtens: Moderne Sprache Mathematik, (Anm. 50), 138. 66

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da man sich die logischen Konsequenzen oder Implikationen der eigenen Setzungen Schritt für Schritt erst klar machen muss). Cassirer spricht daher in puncto Mathematik auch in unverblümt konstruktivistischem Vokabular von einer »›Erzeugung‹ [. . . ] des Mannigfaltigen« (SuF, 105). Im Rahmen der empirischen Wissenschaften kann dagegen der dimensionale Unterschied zwischen einer Funktion und den Elementen, zwischen einem Begriff und den Gegenständen, die unter ihn fallen nicht bloß ein logischer Unterschied sein, denn wir wollen ja Gegenstände der Welt begrifflich bestimmen, und damit Gegenstände einer Welt, die wir nicht erfunden haben. Der Unterschied ist daher, wie Cassirer auch betont, »›kategorial‹« – was nichts anderes heißt, als dass eine Funktion oder ein Begriff »zur ›Form des Bewusstseins‹ [gehört]« (SuF, 25), während die Elemente Gegenstände der Welt sind. »Die wissenschaftlichen Begriffe als Funktionen und ihre Anwendung als Prädikate in Urteilen«, schreibt Kreis gleichwohl in scheinbar ungebrochener Fortsetzung des mathematischen Konstruktionsgedankens, »konstituieren alle Sachverhalte, die innerhalb der betreffenden Theorie überhaupt gedacht und erkannt werden können, also die gesamte Welt der wissenschaftlichen Erfahrung.« 68 Dass in den Naturwissenschaften die zu erkennenden Gegenstände nicht schon in allen Hinsichten durch uns gesetzt sein können, kommt so nicht recht in den Blick. Die Diskussion dieser Problematik hebe ich mir aber für später auf; (vgl. unten, Abschnitt 1.3). Ich möchte jetzt zu der Frage zurückkehren, welche positive Antwort SuF auf die Frage nach der Bestimmung der Funktionen hat. Cassirers Antwort überrascht vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Stoßrichtung von SuF wenig: Die Bestimmtheit der mathematischen Funktionsbegriffe folgt aus den Axiomen 69 derjenigen mathematischen Theorie, der die fraglichen Funktionen oder Begriffe zugehören. Die Bestimmung der Funktion ist ein definitorischer Akt, der allein unter Rekurs auf das axiomatische Fundament einer Theorie erfolgt: »Was diese Relation be deutet, muß, abgesehen [lies: unter Absehung, CK] von dem wechselnden sinnlichen Material, an welchem sie sich darstellt, durch bestimmte Axiome der Verknüpfung festgelegt werden: Und von diesen Axiomen allein empfängt sie denjenigen Gehalt, mit welchem sie in die mathematische De duktion eingeht.« (SuF, 98) So ist z. B. der ZahlbeKreis: Cassirer (Anm. 7), 89. Axiome sind eine Menge von Aussagen und Begriffen, die als nicht weiter begründbare Grundsätze, intuitiv einleuchtende oder sonst wie verständliche Grundbegriffe einer Theorie zusammen mit logischen Folgerungsregeln das Fundament aller weiteren theoretischen Ableitungen und begrifflichen Bestimmungen dieser Theorie bilden. 68 69

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griff der reellen Zahl »seinem vollständigen Gehalt nach aus rein logischen Prämissen [lies: Axiomen, CK] abzuleiten« (SuF, 368). Aber ist damit für die Frage der Bestimmtheit der Funktion überhaupt etwas gewonnen? Verschiebt der Verweis auf die Axiome die Bestimmung nicht vielmehr nur ein weiteres Mal? Machen wir uns noch einmal klar, wo wir stehen: Elemente eines funktional geordneten Zusammenhangs werden durch die Beziehungen bestimmt, in denen sie zueinanderstehen. Diese Beziehungen wiederum verdanken ihre Bestimmtheit der Bestimmtheit einer Funktion, die vorschreibt, welche Beziehungen zwischen Elementen bestehen sollen. Die Bestimmtheit dieser Funktionen wird nun abermals auf eine weitere begriffliche Größe zurückgeführt, nämlich auf die Axiome, die das Fundament derjenigen Theorie bilden, der die fraglichen Funktionen zugehören. Axiome stellen insofern selber Regeln dar, die den Gebrauch der Funktionen oder der mathematischen Grundbegriffe regeln. Wenn dieser immer länger werdende Regel-Regress, wie man sagen könnte, irgendwo an ein Ende kommen sollte, dann doch wohl hier: auf der Ebene der Axiome, denn diese sollen ja die nicht weiter begründbaren Anfangssätze einer Theorie abgeben. Die Frage lautet daher: Wodurch sind die Axiome einer Theorie bestimmt? 1.2.2 Von nichts kommt nichts 70 Jetzt wird es spannend: Eine klassische Antwort auf diese Frage lautet ja, dass Axiome und die in ihnen verwendeten Begriffe explizit definiert werden. Explizit definiert werden die in Axiomen verwendeten Begriffe dadurch, dass sie unter Rekurs auf Begriffe eingeführt werden, die unabhängig von der Theorie bestimmt sind, deren axiomatisches Fundament infrage steht. In der Regel soll es sich dabei um »semantisch grundlegende« Begriffe handeln, etwa um »logische Urelemente, die nicht weiter definierbar sind.« 71 Im Kapitel zu den Raumbegriffen der Geometrie spielt Cassirer selbst auf dieses Verfahren an; allerdings nur in rhetorischer Absicht, denn er will gerade auf eine Alternative zur expliziten Definition hinaus; er schreibt: »Es kann freilich zunächst wie ein Zirkel erscheinen, wenn der Inhalt der geometrischen Begriffe [ihr Gehalt Vgl. Lukrez: De Rerum Natura II [dt.: Über die Natur der Dinge], 287: »de nihilo quoniam fieri nihil posse videmus« [dt.: »Denn wir sehen, dass nichts von nichts entstehen kann.«], meist zitiert als »de /ex nihilo nihil fit« [dt.: »Von nichts kommt nichts.«]. 71 Vgl. dazu die ausführlichen Erläuterungen in: Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 36 ff. 70

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oder die Bestimmtheit der Funktionen, CK] einzig und allein durch die Axiome, denen sie gemäß sind, bestimmt werden soll: Denn setzen diese Axiome zu ihrer Formulierung nicht wiederum irgendwelche Begriffe voraus?« (SuF, 100); sprich: Müssen die in den Axiomen verwendeten Ausdrücke nicht ihrerseits mithilfe bereits gehaltvoller Begriffe eingeführt werden, also explizit definiert werden? Die Antwort von SuF wird lauten: Nein, axiomatische Begriffe können voraussetzungslos definiert werden. Doch bevor dieser Gedanke erläutert werden soll, gilt es, folgenden interpretatorisch nicht unwesentlichen Zwischenbefund zur Kenntnis zu nehmen: SuF schweigt sich über weite Strecken zur Frage der Bestimmung der Axiome aus. Stattdessen setzt Cassirer die Bestimmtheit der Axiome und die Bestimmtheit der axiomatisch bestimmten Funktionsbegriffe vielfach unerläutert voraus und widmet sich direkt der Frage, inwiefern solche Begriffe die Konstitution des Gegenstandsbereiches oder der Gegenstände zu leisten vermögen, die unter diese Begriffe fallen. Typisch dafür sind Formulierungen wie die folgenden: »Was hier völlig unzweideutig gegeben ist, ist zunächst die Bestimmtheit der Einteilung [lies: die Bestimmtheit einer Funktion, die eine Einteilung regelt, CK] selbst, . . . « (SuF, 62) oder: »Ist einmal ein Ausgangselement bestimmt und ein Prinzip angegeben, kraft dessen wir von ihm aus in gleichmäßigem Fortgang zu einer Mannigfaltigkeit anderer Elemente gelangen können, . . . « (SuF, 103). – Aber offenkundig ist die Bestimmtheit der Funktion ganz und gar nicht unzweideutig gegeben. Sie ist vielmehr das, was aus philosophischer Sicht gerade infrage steht. Doch Cassirer hat die Tendenz, diese Problematik zu verschleifen. Er neigt gewissermaßen dazu, eher formallogische Fragen vorschnell zugunsten von Fragen einer quasitranszendentalen Begriffslogik zu übergehen. Man könnte diese Kritik kontern, indem man darauf verweist, dass das theoretische Anliegen von SuF eben letzteres sei: die Frage nach dem epistemischen Beitrag von Begriffen. Nicht nur spricht aber Cassirer selbst davon, dass es ihm auch darum gehe, das Prinzip der mathematischen Beg riff sbildung zu bestimmen« (SuF, 107); auch unabhängig von diesem Selbstverständnis, bleibt das Problem der Begriffsbildung virulent. Denn die erfolgreiche Kritik der Abstraktionstheorie des Begriffs lizensiert nicht nur die Erläuterung begrifflicher Praktiken als genuin konstruktive Praktiken. Sie wirft vielmehr auch die Frage nach der Möglichkeit solcher Konstruktionen auf. Man sollte also erwarten dürfen, dass Cassirer die Lücke, die die Abstraktionstheorie hinterlassen hat, mit einer alternativen Theorie der Begriffsbildung füllt. Füllt man diese Lücke nicht, dann steht auf ziemlich wackeligen Füßen, was auch immer man über die produktive Rolle von

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Begriffen für das erkennende Weltverhältnis des Menschen sagen möchte. Die Frage steht also deutlich im Raum: Wenn sich der Gehalt von Begriffen nicht dem Vergleich gegebener Seinsbestände verdankt, woher rührt er dann? Nach dem bisher Gesagten ist Eines jedenfalls klar: Die Axiome, die eine Bestimmung der aus ihnen abgeleiteten Funktionsbegriffe leisten sollen, dürfen keine Beobachtungssätze sein, deren Gehalt von der Gestalt der anschaulich gegebenen Welt oder vermöge eines Rekurses auf die sinnliche Anschauung bestimmt ist. Dies wäre ein Rückfall in die abstraktionstheoretische Priorisierung eines begriffsunabhängigen Seins. Axiome verstanden als solche Beobachtungs- oder Basissätze wären letztlich im Sein fundierte Sätze und dadurch ein »unreines« Fundament theoretischer Ableitungen. Die behauptete und geforderte Reinheit der reinen mathematischen Funktionsbegriffe würde auf diese Weise unterminiert. Cassirers vergleichsweise harscher Angriff auf die »sensualistische Auffassung der Zahlbegriffe« (SuF, 30) lässt keinen Zweifel daran, dass eine solche Lösung für ihn auch nicht in Frage kommt. Nennt er es doch »Absurdiäten«, in die sich sensualistische Theorien verwickeln, wenn sie behaupten, dass »[nur] die ersten Wahrheiten der Arithmetik, nur die elementarsten Formeln das Ergebnis unmittelbarer Bobachtung physischer Tatbestände sein [sollen], während die wissenschaftliche Form der Algebra nicht auf dem erneuten Zufluß von Wahrnehmungstatsachen, sondern auf der ›Verallgemeinerung‹ des primitiven sinnlichen Grundbestandes beruhen soll.« (SuF, 30)

Wenn die Axiome empirisch bestimmt sind und aus diesen Axiomen andere Sätze der Theorie (Theoreme) abgeleitet werden, dann ist auch deren Gehalt und der Gehalt der in diesen Theoremen verwendeten Begriffe zuletzt empirisch bestimmt. Will man tatsächlich die Reinheit der mathematischen Grundbegriffe und Aussagen wahren, dann müssen alle Verbindungen zur sinnlichen Anschauung von Grund auf und von Beginn an gekappt sein. Cassirer sucht anders gesagt nach einem »›unmittelbaren Anfang‹« (SuF, 103) – d. h. nach einem nicht durch sinnliche Anschauung oder empirische Erfahrung vermittelten Anfang, oder noch einmal anders: nach einem Anfang im reinen Denken. Wie könnte ein solcher Anfang aussehen? Cassirers Antwort findet sich in wenigen Bemerkungen im Kapitel zu den Raumbegriffen der Geometrie. Über diese wenigen und knappen Bemerkungen kommt SuF allerdings nicht hinaus. Es ist daher aufschlussreich, dass Cassirer sich genau an dieser Stelle auf seinen Zeitgenossen, den

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Mathematiker David Hilbert bezieht. 72 Cassirer hebt lobend hervor, dass Hilberts » reine Be ziehung slehre den konsequenten Abschluß einer Denkrichtung [bildet], die wir [d. h. Cassirer in SuF, CK] in ihren rein logischen Momenten von den Anfängen der Mathematik her verfolgen konnten« (SuF, 100). Die ganze Erzählung, die SuF mit Blick auf die Geschichte der Mathematik entfaltet, kulminiert für Cassirer in Hilbert. Die Hilbertsche Geometrie ist der Abschluss eines langandauernden Entwicklungsprozesses mathematischer Theoriebildung. Und dieser Abschluss ist eben nicht nur historisch zu verstehen, sondern wesentlich auch systematisch: Hilberts reine Beziehungslehre bringt ein Verständnis auf den Begriff, wonach Mathematik und Geometrie die letzten Fesseln des Rekurses auf die sinnliche Anschauung endlich abwerfen können. Hilberts entscheidender Gedanke lautet: Die Axiome einer Theorie bestimmen die in ihnen verwendeten Begriffe strikt wechselseitig. Über die wechselseitigen Beziehungen hinaus bedarf es »keiner weiteren Bestimmung ihrer Bedeutung von außerhalb der Theorie – etwa dadurch, dass sie explizit definiert werden, oder dadurch, dass sie hinweisend mit Bezug auf charakteristische Erfahrungen, Erlebnisse oder Anschauungen definiert werden. Die Bedeutung, die sie sich wechselseitig durch ihre Beziehungen geben, ist alle Bedeutung, die sie im Rahmen der Theorie haben.« 73

Cassirer spricht genau in diesem Sinne davon, dass die Axiome nichts anderes sind, als »ein Gewebe relativer Setzungen, die einander wechselseitig stützen« (SuF, 100). Kein Axiom einer mathematischen Theorie und kein in einem solchen Axiom verwendeter Begriff ist bereits irgendwie für sich bestimmt, sondern immer nur in Bezug auf andere Axiome dieser Theorie, für die dasselbe gilt. Jasper Liptow schreibt genau in diesem Sinne mit Blick auf Hilbert: »Die Axiome sollen nicht bereits ein unabhängig von ihnen bestehendes Verständnis des Basisvokabulars für ihr Verständnis in Anspruch nehmen müssen, sondern selbst festsetzen [lies: relativ zueinander, CK], was die in ihnen verwendeten Ausdrücke bedeuten.« 74 Noch einmal Cassirer: Die »Bestimmtheit« der Axiome oder die Bestimmtheit der »ursprünglichen Regeln der Verknüpfung [. . . ] [ergibt sich] aus ihrem Zusammentreten und ihrer Durchdringung« (SuF, 102). Es fließt hier nichts in die Bestimmung der Axiome ein, außer der Einfluss, 72 Cassirer bezieht sich erneut und diesmal auch ausdrücklich mit namentlicher Nennung auf das gleich noch zu erläuternde Hilbertsche Konzept der »impliziten Definition« in der PhsF ; vgl. PhsFIII, 495. 73 Bertram et al.: In der Welt der Sprache ( Anm. 10), 34. 74 Ebd., 38.

Leiden an Unbestimmtheit: Reine Funktionsbegriffe

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den sie wechselseitig aufeinander ausüben – das ist die Idee der impliziten Definition. Aber Hand aufs Herz: Ist das überhaupt eine verständliche Erläuterung? Die Figur einer strikt wechselseitigen Bestimmung ist auf den ersten Blick ja nicht ungewöhnlich. Sie ist vielmehr bereits als Idee der holistischen Konstitution von Elementen eines funktional geordneten Zusammenhangs, z. B. von Zahlen, vertraut. Einzelne Elemente, in diesem Falle eben die Axiome, sind demnach keine für sich bestimmten positiven Elemente. Ihre Bestimmtheit gewinnen sie vielmehr nur von den anderen Elementen dieses Zusammenhangs her, für die dasselbe gilt. Insofern keines dieser Elemente als ein bereits bestimmtes Element in diese Beziehungen eintritt, und somit kein Element von sich aus als Ausgangspunkt der Bestimmung der anderen Elemente zur Verfügung steht, müssen eben die wechselseitigen Beziehungen der Elemente solcherart sein, dass sie die Bestimmung der Elemente leisten. Anders gesagt: Die Beziehungen müssen bestimmte Beziehungen sein. Die Bestimmtheit der Beziehungen war wiederum das, was Cassirer zufolge die Funktion sichert. An dieser Stelle wird das Problem deutlich, dass Cassirer sich mit dem erneuten Rückgriff auf diese holistische Theoriefigur einkauft: Während die Bestimmtheit der elementebestimmenden Beziehungen auf die Funktionen zurückgeführt werden konnte und die Bestimmtheit der Funktionen wiederum auf die Bestimmtheit der Axiome, aus denen diese abgeleitet sind, können die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Axiomen einer Theorie nun nicht wiederum durch eine höherstufige oder logisch grundlegendere begriffliche Größe bestimmt werden. Denn das ist ja gerade der Witz eines Rekurses auf Axiome: dass diese einen nicht weiter rückführbaren Ausgangspunkt oder Anfang der Theorie, deren Fundament bilden sollen. Wenn nun aber der Gedanke der impliziten Definition der Axiome einer Theorie fordert, dass man mit undefinierten Grundbegriffen beginnt 75, zugleich aber ein Bezug auf die Erfahrung, die sinnliche Anschauung oder theorieextern bestimmte Begriffe untersagt ist, wie soll dann eine Definition geleistet werden? Kurzum: Der Gedanke der impliziten Definition ist kein verständlicher Gedanke. Wenn die in Axiomen gebrauchten Begriffe allein durch ihren wechselseitigen Bezug definiert werden sollen, jedes Axiom nur undefinierte oder unbestimmte Begriffe enthält und keine Regeln dafür zur Hand sind, wie verschiedene Axiome Vgl. dazu auch Bedürftig, Murawski: Philosophie der Mathematik (Anm. 47), 258: »Die neue Auffassung der Axiomatik liegt in der freien Interpretierbarkeit der Axiome und der Undefiniertheit der Grundbegriffe. Die Axiomatik selbst ist die Definition der Begriffe, ihre implizite Definition.« 75

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Erstes Kapitel: Konstruktion

aufeinander zu beziehen sind, dann erfolgt einfach keine Bestimmung. Unbestimmte Begriffe, gebraucht in unbestimmten Axiomen (die ja nur bestimmt sind, insofern es die Begriffe sind, die in ihnen vorkommen), die wiederum in unbestimmten wechselseitigen Beziehungen zueinanderstehen, bleiben unbestimmte Begriffe. Die Figur einer strikt wechselseitigen Bestimmung von Begriffen oder Axiomen läuft damit anders gesagt leer oder: sie erzeugt nur den Anschein von Bestimmtheit. Nimmt man Cassirer Rekurs auf Hilbert beim Wort, dann ist man zu der Folgerung gezwungen, dass SuF die Bestimmtheit mathematischer Begriffe nicht erläutern kann. Der Begriff der reinen Funktionsbegriffe leidet mit anderen Worten an Unbestimmtheit. Damit schlägt der Vorwurf, den Cassirer im Geiste des Exaktheitsideals der Mathematik gegenüber der sinnlichen Anschauung formulierte – dass sie unbestimmt und undifferenziert sei – überraschenderweise auf die reine Mathematik zurück. Der Versuch, das mathematische Denken gegenüber jeglichen externen Bezügen abzuschotten und rein auf sich selbst zu gründen führt zu einem Leerlaufen und zu einer Indifferenz dieses Denkens selbst. Doch damit nicht genug: Cassirer wollte ja auch zeigen, dass »alle Beschaffenheiten, die wir von [mathematischen Gegenständen] aussagen können, einzig und allein aus dem Gesetz ihrer ursprünglichen Konstruktion [fließen]« (SuF, 121). Wenn nun aber diese ursprüngliche Konstruktion unverständlich ist, ist es auch die der Gegenstände. Das Bestimmtheitsdefizit der Axiome wird sozusagen durch die gesamte Theorie hindurch bis an den Begriff der Gegenstände weitergereicht, die durch den Begriffsgebrauch konstruiert werden sollen. Unbestimmte Begriffe können die Konstruktion von Gegenständen oder die Konstitution eines Gegenstandsbereiches nicht leisten. Wenn meine Überlegungen zur impliziten Definition und damit zu Cassirers Bestreben, die Begriffsbildung in der Mathematik in neuer Weise zu erläutern, triftig sind, dann wird das Konstruktionsmodell in einer prinzipiellen Weise seiner Grundlage beraubt. Von diesem Zwischenergebnis will ich nun zügig weiter gehen zum zweiten systematischen Schritt. Ich verlasse das Reich der Zahlen und wage einen ersten Schritt in Richtung empirische Welt.

Sorge ums Sein: Das Problem des empirischen Gehalts

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1.3 Sorge ums Sein: Das Problem des empirischen Gehalts »Auch der moderne Physiker [. . . ] findet für das Wirkliche eine klare und abschließende Definition, indem er [. . . ] das Wirkliche als das Meßbare definiert. Dieses Gebiet des Meßbaren ist und besteht an sich: Es trägt sich selbst, und es erläutert sich selbst.« – Ernst Cassirer, PhsFIII, 22. »Die Materie, mit der die exakte Wissenschaft es allein zu tun hat, existiert [. . . ] niemals als ›Perzeption‹, sondern stets nur als ›Konzeption‹. Die Materie selbst wird zur – Idee, . . . « – Ernst Cassirer, SuF, 183 f.

Man könnte nun auf den Gedanken kommen, die aufgezeigten Probleme ließen sich zumindest unter Quarantäne stellen, indem man geltend macht, dass sie Probleme der Mathematik sind, sprich: Probleme einer Wissenschaft, die ausschließlich mit »Denk g eg enständen« (SuF, 134) befasst ist. In dem Maße, wie mathematische Begriffe nur von intelligiblen Entitäten handeln, die gerade kein »fundamentum in re« haben und durch keinen Bezug auf die empirische Wirklichkeit bestimmt werden, sind sie daher auch » bloße Zeichen, denen keine objektive Bedeutung zukommt« (PhsF, 410). Die mangelnde Objektivität mathematischer Begriffe oder ihre »›Daseinsfreiheit‹« (SuF, 346) wären demnach die rettende Barriere, die nicht-mathematische Begriffe vor einer Ansteckung mit dem Bestimmtheitsdefizit schützen könnte, steht doch mit Blick auf letztere Begriffe ein Rekurs auf die empirische Wirklichkeit weiterhin offen. Kurz: Was auch immer schief gehen mag bei der Erläuterung der Bestimmtheit mathematischer Begriffe, bliebe auf diese besonderen Begriffe und die Möglichkeit der begrifflichen Konstruktion einer »ideale[n] Welt« (ebd., 371) reiner mathematischer Entitäten beschränkt. Was den Mathematiker sorgt, muss den Naturwissenschaftler nicht kümmern. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass Cassirer am Beginn des Kapitels zur »naturwissenschaftliche[n] Begriffsbildung« (SuF, 121) alles dafür tut, sich diese Hintertür offenzuhalten. Er scheint die Reichweite seiner Überlegungen zu den reinen Funktionsbegriffen – und damit auch die Reichweite meiner Kritik an diesen Überlegungen – entscheidend einzuschränken, indem er behauptet, dass mathematische Begriffe gar keine »echten Begriffe« sind: »Aber gerade an diesem Punkt, an dem die Produktivität des Denkens sich am reinsten entfaltet [im mathematischen Gebrauch oder der Kon-

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Erstes Kapitel: Konstruktion

struktion reiner Funktionsbegriffe, CK], scheint zugleich seine eigentümliche S chranke zutage zu treten. Die mathematischen Konstruktionsbegriffe mögen innerhalb ihres engeren Bereichs fruchtbar und unentbehrlich sein: Aber es fehlt ihnen, wie es scheint, ein wesentliches Moment, um als Beispiel für den ganzen Umkreis der logischen Aufgaben, um als Typus für die Beschaffenheit des Begriffs überhaupt zu dienen.« (SuF, 121)

Dieses wesentliche Moment nennt Cassirer die »Sorge um das Sein« – und meint damit so etwas wie ein handfestes Erkenntnisinteresse mit Blick auf eine nicht-mathematische Welt oder Wirklichkeit. Eine Wissenschaft, die sich um das Sein sorgt, erhebt mit anderen Worten den Anspruch, Aufschluss geben zu können über die empirische Welt. Sie erhebt »den Anspruch (. . . ), das ›Gefüge‹ ebendieser Wirklichkeit, ihre durchgehende Ordnung kenntlich zu machen« (PhsFIII, 524). Während es der Mathematik allein um die logisch-begriffliche Entfaltung der Implikationen bestimmter axiomatischer Setzungen geht, geht das Erkenntnisinteresse nicht-mathematischer Wissenschaften auf die »unbekannten Bestimmungen [die, CK] [jeder empirische Inhalt] in sich birgt« (SuF, 264), denn »[hier] [in der Welt der realen, nicht-intelligiblen Gegenstände, CK] baut sich nicht in der Konsequenz, in der inneren Folgerichtigkeit des reinen Denkens, eine Gegenstandswelt für uns auf, sondern hier gibt sich uns ein äußeres ›Dasein‹, durch die Vermittlung der Empfindung und der sinnlichen Anschauung, zu eigen.« (PhsFIII, 468). Mathematik ist eine Wissenschaft, deren Besonderheit darin besteht, dass sie den »Sorgen um das Sein prinzipiell fernbleibt«, indem sie sich »streng innerhalb ihrer selbstgeschaffenen Bildungen hält« (SuF, 121). Bei »echten Begriffen« (und echten Wissenschaften?) dagegen ist »der Zusammenhang mit den Problemen des Seins nirgends abgebrochen« (ebd.). Echte Begriffe, »logisch gültige Urteile und Schlußverfahren [wollen] die Struktur und Verfassung des Seins [treffen]« (ebd.). Zugespitzt formuliert scheint Cassirer folgenden Gedanken nahzulegen: Mathematische Begriffe sind Pseudobegriffe, weil ihnen der Weltbezug konstitutiv fehlt: Weder verdanken sie ihren Gehalt der Auseinandersetzung mit der Welt (Stichwort: Denksetzungen), noch scheinen sie Aufschluss zu geben über die Beschaffenheiten der Welt. Die Mathematik ist sorglos, weil sie sich einfach nicht darum kümmert, wie die Welt beschaffen ist. Und weil die Beschaffenheit der Welt umgekehrt auch für die Belange der Mathematik, d. h. für die Lösung mathematischer Probleme irrelevant ist, ist die Mathematik auch weltfremd. Einblicke in die mathematische Begriffsbildung und die Verfahren der Mathematik trügen dann allerdings auch wenig bei zu einem besseren Verständnis der Rolle, die

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»echte Begriffe« für uns spielen. Für ein Verständnis derjenigen Begriffe, mit denen wir uns über uns und Gott und die Welt verständigen, z. B. in den Humanwissenschaften, der Theologie, dem Alltagsgespräch, ließe sich von der Mathematik her nichts lernen. Umgekehrt gesprochen: Der Preis der »Reinigung [. . . ] begrifflicher Gehalte von ihren [außermathematischen, CK] Beziehungen« 76 bestünde darin, dass Mathematik zum selbstgenügsamen Kalkül degenerierte, der im »Spiel des Lebens« keinen Unterschied machen würde. In der Mathematik etwas richtig oder falsch zu machen, wäre nurmehr eine Frage bloß »konventionelle[r] Spielregel[n] – durchaus vergleichbar den Regeln, die für das Schachspiel gelten« (PhsFIII, 439); und strikt geschieden von dem, was es heißt, etwa in der Physik um eine empirisch adäquate Theorie zu ringen (mit all den handfesten Konsequenzen einer gegebenenfalls technologischen Umsetzung dieser Theorie). Mathematik liefe bezuglos neben der sonstigen Erforschung der Welt her. Diese Zuspitzung ist offenkundig unplausibel: Die Vielzahl an möglichen Gegenbeispielen für die wissenschaftliche Relevanz der Mathematik oder auch für eine konkrete mathematische Durchdringung unseres Weltverhältnisses – sei es in technischer oder ökonomischer Hinsicht, um nur zwei Bereiche zu nennen, in denen Mathematik maßgeblich die Geschicke bestimmt – ist erdrückend. Es muss daher genauer erläutert werden, wie Cassirers Gedanke eines fehlenden Weltbezugs der Mathematik gemeint ist. Dadurch kann zugleich der Blick geschärft werden für das Problem, das im Fokus dieses Abschnittes stehen wird. Man kann sagen, dass Cassirer Mathematik als eine Strukturwissenschaft begreift. Als Strukturwissenschaft handelt Mathematik in formaler Weise von Strukturen und Beziehungen. In diesem Sinne schreibt er: »Die Mathematik ist [. . . ] die allgemeine Wissenschaft [. . . ] der Form. Die Relationsstruktur als solche [. . . ] macht den eigentlichen Gegenstand der mathematischen Betrachtung und Untersuchungsweise aus.« (SuF, 98) Sich formal mit Strukturen zu befassen heißt, unabhängig von den Gegenständen, die Strukturen realisieren mögen, über Strukturen nachzudenken. Man denkt also nicht einmal mehr über strukturale Eigenschaften z. B. von Wirtschaftskreisläufen oder ökologischen Systemen nach (das wäre immer noch ein Nachdenken über Gegenstände der Welt 77), sondern über Eigenschaften von Strukturen selbst, sozusagen über die Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 146. Vgl. auch PhsFIII, 326 f.: »Es genügt ihr [der Mathematik, CK] nicht mehr, das Sein selber in den verschiedenen Richtungen des beziehentlichen Denkens zu durchmessen, . . . «. 76

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Strukturalität der Struktur. 78 Eine Wissenschaft, die in dieser Weise mit Eigenschaften von Strukturen als solchen befasst ist, hat es anders gesagt mit »Eigenschaft[en] zweiter Stufe zu tun« 79. Identifiziert man die erste Stufe, als Stufe derjenigen Eigenschaften, die in Auseinandersetzung mit der empirisch erfahrbaren Welt untersucht werden müssen, dann sind Eigenschaften zweiter Stufe solche, die unabhängig von dieser Welt untersucht werden können. Genau in diesem Sinne heißt es in SuF : »Dieser Zusammenhang [das, wovon in diesem Falle die Geometrie handelt; CK] bildet somit eine eigene, rein formale Bestimmtheit, die sich von der materialen Grundlage, an der sie jeweilig auftritt, loslösen und für sich in ihrer Gesetzlichkeit feststellen läßt« (SuF, 99). Und eben darum heißen eine Wissenschaft wie die Mathematik und ihre Begriffe formal, denn »[w]erden Strukturen formal beschrieben, dann lassen sie sich unabhängig von den Wirklichkeitsausschnitten erforschen, in denen sie verwirklicht sind.« 80 Das aber macht mathematische Begriffe nicht untauglich für die Zwecke des Erkennens der Welt. Cassirer trennt seinen Begriff der formalen Mathematik vielmehr nur konsequent vom Begriff einer angewandten Mathematik oder vom Begriff einer empirischen Anwendung der Mathematik. Die erwähnte Relevanz der Mathematik für das menschliche Weltverhältnis, z. B. für eine technische Bewältigung der Welt, ist aber genau eine solche ihrer Anwendung. Formale, zweitstufige Einsichten über Strukturen können auf Gegenstände erster Stufe bezogen werden und diese dadurch z. B. ihrerseits in ihrer strukturalen Verfasstheit und Bedingtheit erkannt werden. 81 Die Produktivität oder Relevanz formaler mathematischer Begriffe besteht dann z. B. ganz allgemein darin, »dass sie die gemeinsame Struktur aller Verhältnisse beschreiben und erklären, auf die sie anwendbar sind. Wir erfahren daher eine Menge über Gegenstände, wenn wir erfahren, dass sie unter bestimmte implizit definierte Begriffe fallen.« 82 Die herausragende Domäne der Anwendung von Mathematik bilden für Cassirer die exakten Naturwissenschaften: Hier »[führen] KonzepVgl. dazu u. a. SuF, 37. Cassirer bespricht dort exemplarisch Eigenschaften wie Symmetrie oder Transitivität als Eigenschaften von Strukturen. Formale Strukturbeziehungen werden von Cassirer demnach wesentlich als logische Beziehungen begriffen. 79 Holm Tetens: Wissenschaftstheorie. Eine Einführung, München 2013, 42. 80 Ebd., 43. 81 Vgl. auch SuF, 302: »Es ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs ausmacht.« 82 Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 152. 78

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tionen, die sich ihrem Ursprung und ihrer logischen Beschaffenheit nach völlig von der Anschauung trennen und sie prinzipiell überschreiten [lies: die formale Mathematik, CK] zu fruchtbaren Anwendungen innerhalb der Anschauung selbst zurück« (SuF, 126). Mathematik ist für Cassirer sogar »unentbehrlich, um auch nur den Rohstoff an ›Tatsachen‹ herbeizuschaffen, die durch die [naturwissenschaftliche, CK] Theorie wiedergegeben und in ihr vereinigt werden sollen« (SuF, 125) 83 – doch alles der Reihe nach. Zunächst lässt sich festhalten: Entgegen seiner anfänglichen Suggestion, dass Mathematik der empirischen Forschung und dem empirischen Begriffsgebrauch irgendwie äußerlich wäre, will Cassirer vielmehr darauf hinaus, dass Sorgen über eine vermeintliche Sorglosigkeit und Weltfremdheit der Mathematik unbegründet sind, denn genau besehen ist die Mathematik das eigentliche Maß einer wissenschaftlichen Vermessung der Welt. 84 Der Formalismus mathematischer Begriffe, Folge einer methodisch gewollten Weltabgewandtheit, ist so auch kein Hindernis für die Zwecke einer Theorie des Begriffs überhaupt. Denn, so Cassirers Idee, der fehlende Weltbezug mathematischer Begriffe lässt sich ja im Zuge der Anwendung dieser Begriffe in den nicht-mathematischen Wissenschaften wieder an Bord holen. Doch genau das werde ich bezweifeln. Die Theorie des Begriffs, die Cassirer in SuF entwirft, zerfällt damit in zwei Teile: In einen ersten Teil, der die Konstitution des Gehalts von Begriffen expliziert (in SuF ist dies der Teil zur mathematischen Begriffsbildung), und einen zweiten Teil, in dem der Weltbezug oder die Objektivität von Begriffen unter Rekurs auf deren Anwendung erläutert werden (das soll in SuF im Teil zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung geleistet werden). 85 Das lässt sich auch noch einmal so sagen: Wie die Logischen Empiristen des Wiener Kreises geht Cassirer davon aus, dass »die Form einer Theorie sauber von ihrem Bezug zur Empirie getrennt Genau heißt es: »Die Funktion des Zählens und Messens ist unentbehrlich, um auch nur den Rohstoff an ›Tatsachen‹ herbeizuschaffen, . . . «. Cassirer spielt hier auf den gleichnamigen Aufsatz Zählen und Messen [1887] von Hermann von Helmholtz an, der darin für eine strikte Mathematisierung der Naturwissenschaften plädiert. 84 Vgl. dazu die literarische Schilderung des als Landvermesser tätigen Carl Friedrich Gauß in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, Reinbek 2005. Gewissermaßen gibt Kehlmann mit seinem Roman der von Edmund Husserl in: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1962] geforderten Rückbesinnung der modernen Wissenschaft auf ihre lebensweltliche Motivation eine ironische, literarische Gestalt. 85 Es ist nicht so, dass Cassirer selbst den entsprechenden Abschnitten von SuF diese Funktionen zuweist – er folgt vielmehr den disziplinären Grenzziehungen, die ihm von der Wissenschaftspraxis vorgezeichnet sind; sie lassen sich aber in systematisch aufschlussreicher Weise so lesen. Vgl. dazu auch Anm. 10. 83

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werden [kann]«. 86 Die naturwissenschaftliche Forschung ist für Cassirer ein streng arbeitsteiliges Unternehmen. Zuerst werden unter Rekurs auf die formale Mathematik logische Möglichkeiten durchgespielt und hypothetische Begriffe oder Strukturverhältnisse bestimmt, die dann in einem zweiten Schritt mit der Welt oder der empirischen Wirklichkeit konfrontiert werden: »Die deduktive Vorarbeit schafft eine Übersicht über die möglichen Weisen der exakten Zuordnung, während die Erfahrung bestimmt, welche von den möglichen Arten der Verbindung für den vorliegenden Fall anwendbar ist.« (SuF, 162) Diese Konzeption wirft indes ein delikates Problem auf, dessen ganzer Tragweite sich Cassirer nicht bewusst zu sein scheint. Er sieht sich vor die Frage gestellt, wie genau das Zusammenspiel zwischen exakten, weil formal bestimmten Begriffen zum einen und der Welt oder der »ungenauen« sinnlichen Anschauung, die unsere Verbindung zur empirischen Welt darstellt, zum anderen im Zuge der Anwendung von Begriffen möglich sein soll. So viel räumt auch Cassirer ein: Er schreibt, er stünde vor der »alte[n] Frage nach dem Verhältnis von Beg riff und Existenz, von Ide e und Wirklichkeit . . . « (SuF, 133). Präziser formuliert ist diese Frage aber eine Frage danach, wie im Zuge der empirischen Anwendung formaler Begriffe, der erkenntnistheoretische Vorzug formaler Begriffe, sprich: ihre Exaktheit gewahrt und zugleich ihr erkenntnistheoretischer Mangel, sprich: ihr Formalismus abgelegt werden kann: »Ebendiese Übertragung von Gebilden, deren ganzer Inhalt aus einer Verknüpfung rein ideeller Konstruktionen stammt, auf die Sphäre des konkret tatsächlichen Seins bildet das eigentliche Problem.« (SuF, 126) Cassirer nennt dieses Problem auch das Problem einer »eigentümliche[n] (sic!) Verknüpfung ›wirklicher‹ und – ›nicht-wirklicher‹ Elemente« (ebd.). Genau besehen steht Cassirer damit aber nicht einfach nur vor einem Problem, sondern vor einem Dilemma, denn er hat sich auf folgende inkompatible Behauptungen festgelegt: Mathematische Begriffe sind exakte Begriffe dann und nur dann, wenn sie unabhängig von einem Bezug auf die empirische Welt oder die sinnliche Anschauung bestimmt werden. Sie können deshalb auch reine oder formale Begriffe genannt werden und ihr begrifflicher Gehalt ein formaler Gehalt. Formale Begriffe handeln entsprechend von formalen Entitäten. Naturwissenschaftliche Begriffe sollen nun sowohl exakt sein als auch von nicht-formalen, empirischen Gegenständen handeln. Zu empirischen Gegenständen haben wir aber nur vermittels unserer sinnlichen Anschauung Zugang. Der Gehalt Wolfgang Balzer, Michael Heidelberger (Hg.): Zur Logik empirischer Theorien, Berlin /New York 1983, 10. 86

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naturwissenschaftlicher Begriffe ist damit durch den sinnlich-anschaulichen Bezug auf die empirische Welt oder Wirklichkeit mitbestimmt. Der Gehalt naturwissenschaftlicher Begriffe kann deshalb auch empirischer Gehalt genannt werden. Wenn naturwissenschaftliche Begriffe aber empirisch bestimmte Begriffe sind, dann können sie nicht zugleich exakte Begriffe sein, da Exaktheit durch Ausschluss empirischer Bestimmung definiert ist. Naturwissenschaftliche Begriffe können aber (um der Exaktheit willen) auch nicht einfach als nicht-empirische Begriffe expliziert werden, da sonst unverständlich wird, wodurch sie sich von formalen, mathematischen Begriffen unterscheiden. Gäbe man daher den Anspruch der Exaktheit in Bezug auf naturwissenschaftliche Begriffe auf, drohen diese wiederum ihren wissenschaftlichen Charakter zu verlieren, der ja, wie Cassirer meint, wesentlich an ihrer Exaktheit hängt. Cassirers Reaktion auf dieses Dilemma oder besser: Cassirer Vermeidungsstrategie, denn als Dilemma begreift er seine Situation ja nicht, läuft, soviel sei schon verraten, darauf hinaus, den Begriff der Anschauung zurückzuweisen, der für die Formulierung des Dilemmas nötig ist. Cassirer versucht die Ungenauigkeit oder die Unschärfe der Anschauung zurückzuschrauben, die der Exaktheitsforderung im Wege steht. Bevor ich diesen Versuch genauer betrachten kann, drängt sich aber ein Einwand auf, dem kurz nachgegeben werden muss: Man scheint Cassirer nämlich sofort in die Parade fahren zu können, indem man darauf hinweist, dass die Idee der empirischen Anwendung reiner Begriffe die eingangs erwähnte Quarantäne aufhebt. Nicht die Frage, wie wir Begriffe in der Anwendung auf die Welt rein halten können, sollte uns deshalb Kopfzerbrechen bereiten, sondern die mangelnde Tragfähigkeit des Begriffs reiner Begriffe selbst. Cassirer verfügt nämlich, dafür hatte ich argumentiert, über keinen plausiblen Begriff formal bestimmter Begriffe. Eine Konzeption des Zusammenspiels von Begriff und Welt oder von Begriff und Anschauung, die in Begriffen der Anwendung reiner mathematischer Begriffe ausbuchstabiert werden soll, ist daher mit den Problemen belastet, die sich schon auf der Ebene der mathematischen Begriffsbildung ergeben. Der Einwand ist sicher berechtigt. Allerdings möchte ich ihn um der folgenden Überlegungen willen zurückstellen und das Bestimmtheitsdefizit als Problem einer sehr spezifischen Auffassung von Mathematik einklammern; als Problem einer Mathematik, die nicht nur ausschließlich mit Denkgegenständen befasst ist, d. h. mit Gegenständen, zu denen man nur auf geistige Weise Zugang hat, sondern die darüber hinaus diese Denkgegenstände als eigens konstruierte Entitäten versteht, Gegenstände also, deren »Bauplan« der Denker gleich mitliefert. Ohne hier auf mögliche Alternativen eingehen zu können, will ich annehmen, dass man

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mathematische Begriffe als formal, d. h. erfahrungs- oder weltunabhängig konstituiert begreifen kann, ohne sich zugleich das Problem der fehlenden Bestimmtheit oder das Bestimmtheitsdefizit einzuhandeln. Ich denke dabei etwa an eine Bezugnahme auf eine quasi-pythagoreische oder eine quasi-platonische Welt der Zahlen; eine Welt, die man jedenfalls entdecken kann und nicht erfinden muss und die zugleich eine Welt ist, die wir nicht sinnlich-anschaulich erfahren, sondern nur geistig erfassen können. Erst vor dem Hintergrund dieser Annahme lässt sich verdeutlichen, worin aus meiner Sicht Cassirers eigentliche Sorge ums Sein bestehen sollte: nämlich in der Frage nach der empirischen Bestimmtheit unserer Begriffe, sprich: in der Frage, welchen Unterschied die Welt der Erfahrung macht im Hinblick darauf, welchen Gehalt unsere Begriffe haben oder welche begrifflichen Zusammenhänge sich in den empirischen Erfahrungswissenschaften ausbilden. Diese Fragestellung lässt sich am besten bearbeiten, indem man nachvollzieht, wie in SuF die Anwendung mathematischer Begriffe in den Naturwissenschaften und die Rolle, die dabei die sinnliche Anschauung spielt, erläutert werden. Was heißt es also formal bestimmte, mathematische Begriffe empirisch anzuwenden? 1.3.1 Die selektive Rolle der Erfahrung Gemäß SuF sind naturwissenschaftliche Begriffe keine Begriffe sui generis, sondern schlicht mathematische Begriffe in empirischem Gebrauch. Im Rahmen der Naturwissenschaften erweisen mathematische Begriffe ihre welterschließende Kraft dadurch, dass mit ihrer Hilfe z. B. Strukturähnlichkeiten verschiedener Wirklichkeitsausschnitte beschrieben werden können, auf die diese Begriffe gleichermaßen anwendbar sind. Daraus kann man dann u. a. wie folgt Kapital schlagen: Wenn zwei Wirklichkeitsausschnitte als strukturähnlich erkannt worden sind, können diese fortan füreinander als Modell dienen. Fragliche Elemente eines Wirklichkeitsausschnitts W1 können dann z. B. in Analogie zu den bekannten Elementen des strukturähnlichen Wirklichkeitsausschnitts W2 erläutert werden und so zu einem besseren Verständnis von W1 beitragen etc. 87 Die Crux der Anwendung ist nun aber die, dass eben nicht alle Strukturbeschreibungen oder Strukturbegriffe auch auf alle Wirklichkeitsausschnitte passen oder anwendbar sind. Ob eine Beschreibung treffend ist oder ob ein Begriff überhaupt einen Umfang hat, ist vielmehr ungewiss. Im Vollzug der empirischen Forschung muss erst herausgefunden wer87

Vgl. dazu, Tetens: Wissenschaftstheorie (Anm. 79), 47 ff.

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den, welcher Deckel auf welchen Topf passt; will sagen: Der Umfang der empirischen Gegenstände, die unter einen mathematischen Begriff oder unter eine formale Strukturbeschreibung fallen, kann kleiner sein, als der Umfang der empirischen Gegenstände, die es tatsächlich gibt. Eine Strukturbeschreibung, die einfach alle empirischen Gegenstände umfassen würde – die sogenannte »Weltformel« – ist bisher nicht gefunden worden; und eine Strukturbeschreibung, die einfach auf alles passt, wäre wenig informativ. Aber auch umgekehrt gilt: Es kann mehr formale Strukturbeschreibungen geben als es konkret realisierte Strukturen gibt. Das folgt schlicht daraus, dass Cassirer Konstitution und Anwendung von Begriffen als logisch voneinander unabhängige Schritte begreift. Von dem Verfügen über eine bestimmte formale Strukturbeschreibung lässt sich daher nicht darauf schließen, dass es irgendetwas in der Welt gibt, dass diese Struktur realisiert. Aufgabe der naturwissenschaftlichen Forschung ist es deshalb, diejenigen Strukturbeschreibungen, die auf nichts in der Welt zutreffen, von denen zu trennen, die auf etwas zutreffen; und zwar genau dadurch, dass gezeigt wird, welche Strukturbeschreibungen auf welche Wirklichkeitsausschnitte passen. Naturwissenschaftliche Forschung ist damit im Grunde Zuordnungsarbeit. Es müssen Korrelationen zwischen formalen Strukturbeschreibungen und realisierten Strukturen hergestellt werden. In Cassirer Worten: Die Naturwissenschaft soll klären, welche reinen Begriffe überhaupt »eine konkrete [oder: empirische, CK] Bedeutung« (SuF, 118) besitzen, mithin nicht nur formal bestimmt sind, indem diejenigen Gegenstände aufgefunden werden, die das »konkrete Substrat« der »abstrakt gedanklichen Schöpfung« (SuF, 126) bilden. Man kann Cassirers Bild des naturwissenschaftlichen Begriffsgebrauchs daher noch einmal wie folgt pointieren: Mathematische Begriffe in empirischem Gebrauch sind Suchbegriffe. Wir suchen mit ihnen nach denjenigen Wirklichkeitsausschnitten, die sie erfüllen und so kommen wir in Bezug auf ein Verständnis der Welt voran. Doch diese »GoogleVersion« empirischer Forschung kann so nicht richtig sein: Wenn naturwissenschaftliche Begriffe Suchbegriffe wären, die wir einfach so gegen die Welt halten könnten wie eine Schablone, dann müsste der Bereich oder das »Gebiet« (SuF, 118), das wir durchsuchen, sprich: die empirische Welt, selbst so etwas wie eine vollständig begrifflich geordnete »Datenbank« sein. Wie sonst sollten wir finden oder feststellen können, was wir suchen: ein matching zwischen Strukturbegriff und realisierter Struktur? Wäre die Welt aber bereits entsprechend begrifflich geordnet, würde unverständlich, worin sich die empirische Welt noch von der konstruierten Welt formaler Entitäten unterscheidet. Insofern uns die Welt als empirische Welt aber wiederum wesentlich nur durch die

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sinnliche Anschauung vermittelt zugänglich sein soll, kann sie jedenfalls nicht formal konstruiert sein. Das sieht auch Cassirer so, und fordert daher eine Vermittlung zwischen reinen Begriffen und der sinnlichanschaulichen Welt. Diese Vermittlung soll die experimentelle Erfahrung oder eine methodisch kontrollierte sinnliche Anschauung leisten. 88 Die experimentelle Erfahrung soll darüber entscheiden, ob, und wenn ja, welche Begriffe worauf in der Welt passen. Kurz: Erfahrung vermittelt zwischen Begriff und Welt: »Die Rolle, die man jetzt noch der Erfahrung zusprechen mag, liegt niemals in der Beg ründung der einzelnen Systeme, sondern in der Auswahl, die wir zwischen ihnen zu treffen haben. Da alle Systeme [lies: alle formalen Strukturbeschreibungen, CK] [. . . ] der logischen Struktur nach gleichwertig sind, so bedarf es eines Prinzips, das uns in ihrer Anwendung leitet: Und dieses Prinzip kann, da es sich hier nicht mehr um bloße Möglichkeiten, sondern um den Begriff und das Problem des Realen selbst handelt, nirgends anders als in der Beobachtung und dem wissenschaftlichen Experiment gesucht werden. Das Experiment dient somit zwar niemals als Beweis oder auch nur als Stütze des mathematischen Begründungszusammenhangs, der vielmehr aus sich selbst feststehen muß: Aber es weist den Weg von der Wahrheit der Begriffe zu ihrer Wirklichkeit. Die Beobachtung schließt die Lücke, die die rein logische Bestimmung [zwischen Begriff und Welt, CK] zurückgelassen hatte . . . « (SuF, 114; kursiv, CK). »Ob die Gesetze, die wir aus derartigen idealen Konzeptionen folgern, auf die Wahrnehmung anwendbar sind, darüber muss freilich in letzter Linie das Experiment entscheiden. Der logische und mathematische Sinn der hypothetischen Gesetze aber steht unabhängig von dieser Form der Bewährung im Aktuell-Gegebenen fest.« (ebd., 191)

Damit ist Cassirer durchaus auf dem richtigen Weg, denn die »Frage, ob ein Objekt unter ein Prädikat fällt«, muss in den Naturwissenschaften zumindest für einige Objekte »durch Erfahrung [entscheidbar]« 89 sein. Ein naturwissenschaftliches Urteil, das gerechtfertigterweise p von x prädiziert, ist daher ein wahres oder gültiges Erfahrungsurteil, mithin keine bloß logisch schlüssige Folgerung. Das Erfahrungsurteil beruft sich 88 Experimentelle Erfahrung ist für Cassirer methodisch kontrollierte sinnliche Anschauung und als solche von unserer alltäglichen Anschauung, die wir als sinnlich empfindsame Wesen haben, streng unterschieden. Dazu gleich mehr. 89 Marian Prze ecki: Die Logik empirischer Theorien, in: Zur Logik empirischer Theorien (Anm. 86), 61.

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zu seiner Rechtfertigung auf eine »Quelle der Wahrheit«, die jenseits einer selbstbezüglichen Axiomatik und formal-logischer Folgerungsregeln liegt. Mit anderen Worten: Die Frage, was der Fall ist, wird in den Naturwissenschaften durch die Beschaffenheit der Welt mitbeantwortet. Die Antwort ist dadurch konstitutiv ungewiss, während das mathematische Urteil »Anspruch auf absolute Gewißheit erheben darf.« (SuF, 119). Nun wäre es allerdings ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, die experimentelle Erfahrung darüber entscheiden lassen zu wollen, ob ein sinnlich wahrgenommener Gegenstand unter einen formal konstituierten Begriff fällt, wenn Anschauung und Begriff zwei vollkommen distinkte oder »disparate« Bereiche darstellen würden oder die Erfahrung nur die Sprache des Sinnlich-Anschaulichen spräche: »Immer [bliebe] somit zwischen der Welt der Tatsachen und der der physikalischen Begriffe eine Kluft, eine Art Hiatus, zurück.« (PhsFIII, 24) Wenn Begriffe strikt erfahrungs- und anschauungsunabhängig konstituiert sind und die empirische Welt im Experiment erfahren oder zwar methodisch kontrolliert aber doch angeschaut werden muss, dann kann die experimentelle Erfahrung prima facie diese Kluft zwischen Begriff und Welt nicht überbrücken. Als Erfahrung bliebe sie, bildlich gesprochen, immer im weichen Grund der Sinnlichkeit stecken und würde niemals hinaufreichen ins Reich reiner Begriffe. Oder: Erfahrung wäre eigentümlich selbstzerrissen, zwischen Begriff und Anschauung hin und her pendelnd, Begriff und Welt durch sie nur scheinbar verbunden. In dem Maße wie Erfahrung sich im Sinnlichen auskennen würde, bliebe ihr verschlossen, was im »geistigen Reich der Ideen« und Begriffe geschrieben steht. Damit Erfahrung darüber entscheiden kann, ob ein Ausschnitt der sinnlich-anschaulichen Welt unter einen Begriff fällt, müssen Begriff und Welt oder Begriff und Anschauung in bestimmter Hinsicht »aus demselben Holz geschnitzt« sein. Die vermeintliche Kluft zwischen Begriffen und Welt muss von Grund auf überbrückt sein – und Cassirer weiß auch, wie das möglich sein soll: »Der Begriff [. . . ] ist kein gebahnter Weg, sondern er ist eine Funktion der Bahnung selbst. Die Anschauung geht bestimmte Wege der Verknüpfung – und eben hierin besteht ihre reine Form und ihr Schematismus. Der Begriff jedoch greift nicht nur in dem Sinne über sie hinaus, daß er von diesen Wegen weiß, sondern daß er selbst sie weist: Er beschreitet nicht nur einen schon angebauten, schon bekannten Weg, sondern er hilft ihn bereiten.« (PhsFIII, 332).

Das kann man so reformulieren: Wenn der Begriff ein gebahnter Weg wäre, dann wäre er in Abhängigkeit von der Welt konstituiert. Er würde den Bahnen folgen, auf denen die Welt sich bewegt. Er würde in Rücksicht

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darauf bestimmt, was die sinnliche Anschauung an Eindrücken von der Welt vorzeichnet. Genau das soll aber um seiner Exaktheit willen gerade nicht der Fall sein. Oder: Als bloß wissender Begriff würde er gleichermaßen nur Beschaffenheiten der Welt reflektieren, sie gewissermaßen passiv zur Kenntnis nehmen. Auch das ist nicht der Fall. Begriffe reproduzieren nicht im Medium des Denkens die Beschaffenheiten der Welt, wie sie sich in der sinnlichen Anschauung zeigen, sie produzieren vielmehr die Leitplanken, denen die sinnliche Anschauung der Welt selbst folgt. Anschauung ist damit stets schon begrifflich orientierte oder geformte Auseinandersetzung mit der Welt. Und nur als schon begrifflich orientierte, geformte oder eben »gebahnte« kann Anschauung den Gegenstand der Anschauung, sprich: die Welt als möglichen Vergleichsgegenstand vor uns und unsere Begriffe bringen. Nur so erscheint uns die Welt als »ein festes Substrat«. Und nur an einem festen Substrat oder von einem festen Substrat, das sich nicht von Moment zu Moment der sinnlichen Anschauung verschiebt und verändert, können »die [. . . ] Kräfte des Geistes angreifen« (PhsFIII, 8) oder kann etwas Bestimmtes ausgesagt werden. Der konkrete Ort der begrifflichen Bahnung unserer Anschauung (hier macht sich erneut die Empirisierung Kants geltend) ist nun aber das wissenschaftliche Experiment. Das Problem der Anwendbarkeit von Begriffen, wie es sich für den Philosophen im Unterschied zum Wissenschaftler stellt, die Frage, wie es reinen Begriffen »überhaupt gelingt, sich auf Gegenstände zu beziehen oder auf diese zuzutreffen« 90 oder, wie zu verstehen ist, dass formale Strukturbegriffe auf die nicht-formale Welt passen können – will Cassirer offenbar durch eine Formalisierung, Mathematisierung oder Verbegrifflichung der sinnlichen Anschauung lösen. Das eine Horn des Dilemmas, wonach der sinnlich-anschauliche Weltbezug der empirischen Erfahrungswissenschaften jedweden Anspruch auf Exaktheit zunichtemachen muss, wird so durch die Zähmung der sinnlichen Anschauung angepackt: Als experimentelle ist Anschauung selbst schon begrifflich verfasst und soll so die geforderten Objektivitätsbeweise für formal bestimmte Begriffe liefern. Noch einmal anders gesagt: Da eine »in sich selbst völlig geschlossene Begriffswelt« (PhsFI, 15) – genau das soll die Welt mathematischer Begriffe ja sein – per definitionem keine Beziehungen zu der Welt unterhält, auf die sie angewendet werden soll, diese Begriffe aber dennoch Aufschluss über die empirische Welt geben können sollen, muss die Anwendung dieser Begriffe den fehlenden Weltbezug herstellen. Eine empirische Anwen90

Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 148.

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dung von nichtempirischen Begriffen ist aber nur möglich, wenn Begriffe und Welt nicht abstrakt aufeinandertreffen. Da nun der Begriff aber nicht nur Aufschluss geben können soll über die Welt, sondern gemäß SuF auch das Maß dieses Aufschlusses bilden soll (sozusagen die Wissenschaftlichkeitsnorm begrifflicher Artikulationen darstellt 91), kann die abstrakte Gegenüberstellung von Begriff und Welt oder von Begriff und Anschauung nur zu einer Seite hin aufgelöst werden: »[auch] die verités de fait, wie sie im physikalischen Denken aufgefunden und festgestellt werden, [müssen, CK] von der Besonderheit der physikalischen [lies: der mathematisch-exakten, CK] ›Ratio‹ her bestimmt und gleichsam imprägniert« (PhsFIII, 471) sein. Kurzum: Exakt erkannt werden kann nur, was selbst schon eine mathematische Form hat. Das, was eine naturwissenschaftliche Theorie überhaupt nur erkennen kann, sind die »Äußerungen der Weltmetrik« (ebd., 548; kursiv, CK), d. h. Beschaffenheiten einer bereits metrischen, einer zähl- und messbaren Welt oder eben die metrischen Beschaffenheiten der Welt. Die Welt, die etwa die Physik untersucht, muss selbst schon in ein syntaktisch diskretes oder disjunktes Systems umgeschafft worden sein. 92 Der Naturwissenschaftler »greift nicht an irgendeinem beliebigen und zufälligen, von außen gegebenen Stoff an, sondern er gibt sich selbst den Stoff, dessen er bedarf und dem er das Siegel seiner eigenen Bestimmung aufdrücken kann« (PhsFIII, 383 f.), indem er die Welt durch das Nadelöhr des Experiments zwängt. Damit kommt es zu einer entscheidenden Problemverlagerung: Bevor die Erfahrung mit ihrer Selektionsarbeit beginnen kann (den Abgleich zwischen formalen Strukturbeschreibungen und Wirklichkeitsausschnitten beginnen kann), muss die selektierende Kraft der Erfahrung gesichert werden: der »Rohstoff, den uns die sinnlichen Eindrücke liefern, muß [. . . ] durch unseren Geist verarbeitet werden« (SuF, 110). Diese Verarbeitung leisten die Wissenschaften nach Cassirer im Experiment. Im Experiment wird die sinnliche Anschauung begrifflich transformiert, sodass eine Passung zwischen Begriff und Welt oder Begriff und Welt qua Anschauung überhaupt erst erkennbar wird. Diese Idee gilt es zu prüfen. Ich meine, dass sie nicht aufgeht. Cassirer gelingt es nicht, den empirischen Charakter unserer Begriffe zu erläutern. Was auch immer er zu Recht über die begriffliche »Imprägnierung« unserer Erfahrung im Experiment 91 Cassirer behauptet, dass die formal bestimmten, mathematischen oder »abstrakten« Begriffe, die »›Wahrheit‹« sind, an der wir in den exakten Naturwissenschaften die »›Wirklichkeit‹ unserer Erfahrung beständig [messen]« (SuF, 201). 92 Vgl. dazu, Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt /M. 1997, 128 ff.

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behaupten mag, entscheidende Momente, die unsere Erfahrung als empirische ausweisen, gehen jedenfalls verloren oder bleiben unverständlich. SuF generiert auf diese Weise das Problem des empirischen Gehalts oder der fehlenden empirischen Bestimmtheit, das sich zu der skeptischen Sorge auswächst, dass die Welt einfach nicht in Reichweite unserer Begriffe kommen oder liegen könnte. 1.3.2 Die experimentelle Zähmung des Chaos Noch einmal zum Stand der Dinge: Der Rekurs auf das Experiment soll die Probleme vermeiden helfen, die sich aus einer, wie Cassirer auch sagt, »dualistischen Entgegensetzung eines ›bloßen‹ Stoffes und einer ›reinen‹ Form« (PhsFIII, 8) ergeben würden. 93 Dieser Dualismus stünde nämlich der geforderten selektiven Rolle der Erfahrung entgegen. An der Aufgabe, zwischen einer durch und durch begrifflichen Größe (reine Funktionsbegriffe, formale Strukturbeschreibungen) und einer ganz und gar unbegrifflichen Größe (sinnliche Anschauung) zu vermitteln, würde die Erfahrung notwendig scheitern. Deshalb »muß dieses Material [der Anschauung, CK], wenn anders wir ihm irgendeine Bestimmtheit zusprechen sollen, stets bereits die Züge irgendeiner begrifflichen Formung in sich tragen. Wir können den Begriffen, die es zu prüfen gilt, die Erfahrungsdaten niemals als nackte ›Fakta‹ [oder: als »›nackte‹ Empfindung, als materia nuda . . . « (PhsFIII, 16)] entgegenstellen« (SuF, 115.). Dieser Dualismus wird nun mithilfe des Experimentes überwunden. Im wissenschaftlichen Experiment »steht [niemals] auf der einen Seite die abstrakte Theorie, während ihr auf der andern Seite das Beobachtungsmaterial, so wie es an und für sich und ohne jegliche begriffliche Deutung sich ausnimmt, gegenübersteht« (SuF, 115). 94 Die Idee eines Abgleichs reiner Begriffe mit den Beobachtungsdaten der empirischen Wissenschaften wird so eine basalere Stufe der Anwendung mathematischer Begriffe vorgeordnet: Bevor es an die Selektion formaler, mathematischer Begriffe gehen kann, muss eine Mathematisierung der sinnlichen Cassirer spricht auch von einem »metaphysischen Dualismus«, der dem »›mundus sensibilis‹ einen anderen Kosmos, den ›mundus intelligibilis‹ gegenüberstellt« (PhsFI, 17) oder davon, dass Begriff und Welt »gleich räumlichen Objekten, als ein ›Hüben‹ und ›Drüben‹, als ein ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹« (PhsFIII, 365) gegenübergestellt würden. 94 Der erste Teilsatz stimmt so natürlich nicht: Die Theorie bleibt sehr wohl abstrakt, weil weiterhin allein formal bestimmt, nur der Begriff des Beobachtungsmaterials wird von Cassirer modifiziert. 93

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Anschauung selbst erfolgen. Und das ist entscheidend, denn damit sich der Einwand einer abstrakten Konfrontation von Begriff und Welt oder von Begriff und Anschauung nicht in subtilerer Gestalt wiederholt, muss die Anschauung eben mehr als bloß »die Züge irgendeiner begrifflichen Formung in sich tragen«. Die Anschauung muss mathematisch geformt sein. Wäre unser sinnlich-anschaulicher Bezug zur Welt z. B. nur alltagssprachlich, visuell oder musikalisch geformt (was auch immer das wieder heißen mag), würde von Neuem unklar, wie eine Passung zwischen mathematischen Begriffen und Anschauung überhaupt festzustellen wäre. Wie nun die sinnliche Anschauung im Experiment in der »richtigen Zunge sprechend« gemacht wird, sodass sie als Erfahrung auf unsere mathematisch-begrifflich formulierten Fragen verständliche Antworten liefern kann und ob dies eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach der empirischen Bestimmtheit unserer Begriffe liefert, will ich jetzt im Detail betrachten. Meines Erachtens entscheidet sich hier, ob Cassirer einen plausiblen Begriff des empirischen Gehalts oder der empirischen Bestimmtheit von Begriffen anzubieten hat. Und obwohl Aufbau und Rhetorik von SuF es mitunter nur schwer erkennen lassen, Cassirer weiß um die philosophische Relevanz seiner Überlegungen zum Experiment; so schreibt er nämlich: »Diese mathematische Umformung, die der Physiker als vollzogen voraussetzt, bildet in Wahrheit das eigentliche und ursprüngliche Problem.« (SuF, 129) Auch Cassirer geht davon aus, dass wir zunächst und zumeist kein mathematisch-exaktes Verhältnis zur Welt haben. Die Welt begegnet uns nicht als ein Ganzes logisch geordneter und quantitativ bestimmter Beziehungen. Vielmehr erscheint sie uns, gemessen an der Präzision und Systematik der wissenschaftlichen Weltauffassung 95, als ein »Chaos der Eindrücke« (SuF, 161): »Die aktuelle Wahrnehmung als Prozeß weiß in ihrem steten Fließen von einer derartigen Einheit nichts. Jeder Inhalt, der in ihr auftaucht, wird alsbald wieder von einem anderen verdrängt – jede Gestalt, die sich zu bilden scheint, wird wieder in den Strudel des Prozesses hinein- und mit ihm fortgerissen.« (PhsFIII, 370). Dieses Chaos muss und kann im Zuge der Naturwissenschaften gezähmt werden: »Das sinnlich Unbestimmte, das als solches nicht zu fassen und in feste Grenzen einzuschließen ist« kann man »in ein quantitativ Bestimmtes, durch Maß und Zahl Beherrschbares [. . . ] verwandeln« (SuF, 145). Diese Umwandlung oder Verwandlung – Cassirer spricht an einer Stelle sogar von Diese Relativierung spielt für die PhsF eine zentrale Rolle, da dort auch dem »›natürlichen‹ Weltbild der Wahrnehmung und Anschauung« (PhsFIII, VII) eine Eigenstrukturiertheit oder »Formmomente und Formmotive« (ebd.) nicht-mathematischer Natur zugebilligt werden. 95

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»Transsubstantiation« (PhsFIII, 504) – lässt sich gut am Beispiel von Wärmeempfindungen erläutern: Wenn wir etwas als warm oder kalt empfinden, empfinden wir keine exakt angebbaren Temperaturen, auch wenn der Eine oder Andere erstaunliches Geschick dabei entwickeln mag, die richtige Temperatur zu schätzen. Die »Skala«, an der wir unsere Wärmeempfindungen »messen«, reicht eher von wohlig bis unangenehm und »bietet nirgends eine Handhabe und einen Ansatz zur Gewinnung fester Zahlenwerte« (SuF, 154). Wir empfinden nicht, dass ein früher Märztag eine Temperatur von 13,7 Grad Celsius hat, oder dass eine Differenz von 0,2 Grad Celsius zwischen Wohnzimmer und Küche herrscht. Der Wert »13,7 Grad Celsius« hat überhaupt keine Wärmequalitäten, sondern nur der Zustand etwa der Luft, der damit angegeben wird. Exakte Temperaturen können wir z. B. einem skalierten Quecksilber-Thermometer ablesen. Bestimmte Höhenstände der Quecksilbersäule, die sich infolge der Ausdehnung des Quecksilbers innerhalb des Thermometerröhrchens ergeben, werden qua Skalierung mit eineindeutigen Zahlenwerten korreliert (und diese wiederum mit den physikalischen Zuständen, die in dem Messmilieu, z. B. einem Topf Wasser, herrschen, das Gegenstand der Messung ist). Mithilfe der Zahlenwerte, die wir am Thermometer ablesen, bestimmen wir dann die Differenz, die etwa zwischen einer Messung um 12:00 Uhr und einer Messung um 12:02 Uhr besteht (wobei auch die Uhr nichts anderes ist als eine Art »Thermometer der Zeit«). In einer wenn vielleicht auch etwas übersimplifizierten Weise sind dies genau die experimentellen Vorgänge, an die Cassirer denkt, wenn er schreibt: »Auch diejenige Form der Erkenntnis, der die Aufgabe zufällt, das Wirkliche zu beschreiben und bis in seine feinsten Fasern bloßzulegen, beginnt mit einer Abkehr von ebendieser Wirklichkeit und ihrem Ersatz durch die Symbole des Zahl- und Größengebiets.« (SuF, 127) »Wir dürfen nicht bei einem unbestimmten ›Mehr‹ oder ›Weniger‹, bei dem ›Stärker‹ oder ›Schwächer‹, das wir in der Empfindung zu verspüren meinen, stehenbleiben, sondern müssen überall zu exakten Maßen des Seins und des Geschehens vorzudringen streben.« (ebd., 144) »Erst wenn das rohe Faktum durch ein mathematisches Symbol dargestellt und ersetzt ist, beginnt die intellektuelle Arbeit des Begriffs.« (ebd., 160)

Das Problem an der ganzen Sache ist nur: Der Höhenstand der Quecksilbersäule verändert sich kontinuierlich oder stufenlos. Er springt nicht diskret von Maßstrich zu Maßstrich auf der Temperaturskala, auch wenn dies

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auf digitalen Thermometern vielleicht so aussehen mag. Die Umwandlung, auf die es im Experiment oder beim Messvorgang daher ankommt, besteht darin, dass man gleichwohl so tut, als ob die Quecksilbersäule doch von Stufe zu Stufe springen würde. Die notorisch ungenauen Zustände der Quecksilbersäule, die man im Prinzip immer noch genauer bestimmen könnte 96, werden als Messwerte und d. h. als ideale »Grenzwerte« (PhsFIII, 496) betrachtet. Genauer gesagt kommt es zu einer wechselseitigen »Stellvertretung« in dem Sinne, dass die empirisch-konkreten Zustände als ideale Werte und diese Werte wiederum als »›Indizes‹ der Wirklichkeit« (PhsFIII, 24) interpretiert werden. Die empirischen Zustände geraten dadurch in einen Zusammenhang, indem sie von sich aus nicht stehen, nämlich in einen Zusammenhang exakt bestimmter Strukturbeziehungen, wie sie eigentlich nur von mathematisch-formalen Entitäten ausgesagt werden können. Die Zahlenwerte erfahren wiederum im Experiment eine Art »Erdung«, Objektivierung oder Empirisierung, die ihnen qua Begriff eigentlich nicht zukommen kann, handelt es sich doch angeblich um Denksetzungen, um rein geistige Konstruktionen. Nichts hängt für diesen Vorgang der Stellvertretung von der Präzision unserer Wahrnehmung oder unserer Messgeräte ab: Egal wie fein oder grob der Toleranzbereich z. B. des Messfühlers eines Messinstrumentes eingestellt ist; wenn das Gerät erst einmal drei verschiedene Zustände x, y und z registriert hat und wir diesen Zuständen die Werte 1, 2 und 3 zugeordnet haben, dann gelten die Beziehungen zwischen x, y und z nicht mehr als graduelle oder kontinuierliche, feinere oder gröbere Beziehungen (die sie realiter sind), sondern nur noch als logische oder algebraisch eineindeutige Beziehungen, wie sie zwischen den Zahlenwerten 1, 2 und 3 der Reihe der natürlichen Zahlen bestehen. Dass sich bei einer noch genaueren Messung herausstellen könnte, dass die Differenz zwischen dem Zustand x und y größer ist, als die Differenz zwischen y und z, weil der Messfühler bei der Registratur von y nur knapp die Toleranzgrenze zu x überschritten hat, während z durch eine deutliche Überschreitung der Vgl. dazu Goodmans Erläuterung syntaktisch dichter Symbolsysteme in Sprachen der Kunst, (Anm. 92), 132: »Nehmen wir zum Beispiel an, es handele sich um gerade Marken [zwei Striche, Holzbalken, Quecksilbersäulen etc., CK] und es sei festgelegt, daß Marken, deren Länge sich auch nur um den winzigsten Bruchteil eines Zentimeters unterscheidet, zu verschiedenen Charakteren gehören [verschiedene Begriffe erfüllen, CK]. Dann wird es unabhängig davon, wie präzise die Länge einer Marke gemessen wird, entsprechend den verschiedenen rationalen Zahlen stets zwei (eigentlich unendlich viele) Charaktere geben, derart, daß sich durch Messung nicht bestimmen läßt, daß die Marke nicht zu ihnen gehört.« Die Welt oder Wirklichkeit ist in diesem Sinne ein syntaktisch dichtes System. 96

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Toleranzgrenze zu y ausgelöst wurde, spielt für das Prinzip der Substitution, das für Cassirer der Kern des Experimentes ist, keine Rolle. Im Experiment muss in einem prinzipiellen Sinne immer irgendwo »ein Auge zugedrückt werden«, will man vorankommen mit der Forschung. Indem wir nun in dieser Weise den realen Zuständen ideale Grenzwerte »zusprechen« (SuF,131), sinnliche Erscheinungen durch exakte Symbole in einem »Prozeß der Idealisierung [. . . ] ersetz[en]« (ebd., 138), die »sinnlichen Eindrücke [. . . ] konstruktiv umschaffen« (ebd., 127 f.) oder »ideelle Grenzen [. . . ] gedanklich« an die »Stelle [diese[r] Tatsachen] setzen« (SuF, 140) – um nur einige Varianten anzuführen, in denen Cassirer die im Experiment vollzogene Verbegrifflichung der sinnlichen Anschauung formuliert – »wird die Wahrnehmung für die mathematischbegriffliche Behandlung und Bestimmung reif« (PhsFIII, 497). 97 Doch diese Konzeption löst das begriffliche Problem nicht, vor dem wir stehen. Und so lautet meine Argumentation: Die abstrakte Gegenüberstellung von reinen Begriffen und bloßer Anschauung ist nur an eine andere Stelle gewandert: ins Experiment. Sie wird dort nicht überwunden, als vielmehr zementiert. Das konstitutiv Ungenaue wird, wie man mit Goodman sagen könnte, in einem »Gewaltakt« 98 zu einem Exakten umdeklariert. Wie fast überall ist jedoch auch hier Gewalt keine Lösung. Das Problem, vor dem wir nach wie vor stehen, wenn auch in neuem Aufputz, lässt sich wie folgt formulieren: Cassirer führt den Dualismus von Begriff und Anschauung in Form eines Dualismus von zwei »Systemen von Erkenntnisurteilen« 99 wieder ein. Zum einen haben wir es mit einem System von Beobachtungsurteilen zu tun, die empirische Zustände z. B. eines Messinstrumentes protokollieren, und zum anderen mit dem bereits bekannten System rein formal bestimmter StrukturbeschreibunVgl. auch PhsFIII, 371: »Der Sinnenwelt wird jetzt eine ›ideale‹ Welt, eine Welt der [mathematisch-exakten] Bedeutung und der reinen Theorie, unterbaut, weil nur für die Gebilde dieser letzteren sich jene Gesetze des Zusammenhangs formulieren lassen, deren es bedarf, um die einzelnen Erscheinungen als Erfahrungen lesen zu können. Damit erst hat die Erkenntnis ›Gegenstände‹ im strengen Sinne gewonnen – Inhalte, die ihr wahrhaft standhalten und sich einer eindeutigen Ordnung einfügen.« 98 Da wir, wie Goodman bemerkt, »in der Welt keine säuberlich in voneinander getrennte Klassen sortierte Sphären [. . . ], sondern eher ein verwirrendes Gemisch« von Gegenständen und Eigenschaften »haben, [. . . ] die sich auf jede nur denkbare Weise und in jeder denkbaren Abstufung voneinander unterscheiden«, »scheint [eine Aufteilung in disjunkte Mengen] ein eigensinniger, wenn auch notwendiger Gewaltakt zu sein«, Goodman: Sprachen der Kunst (Anm. 92), 130 f. 99 Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 61. Derselbe Vorwurf ereilt dort Moritz Schlick, der, wie oben bereits erwähnt, im Anschluss an Hilbert ebenfalls einen formal-holistischen Begriff begrifflichen Gehalts zu verteidigen versucht. 97

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gen. Das formale System funktioniert, was die Ausdifferenzierung begrifflichen Gehalts betrifft, weiterhin strikt unabhängig von dem empirischen Beobachtungssystem. Die Wirklichkeitsausschnitte, mit denen uns die Erfahrung konfrontiert, d. h. die empirischen Inhalte, auf die die formalen Begriffe angewandt werden, tragen zur Bestimmung der Strukturbegriffe nichts bei: »Der Inhalt des Gedachten berührt und verändert hier nicht die reine Form des Gedankens, . . . « (PhsF, 344). Das reine Denken bestimmt für sich einen logisch-formalen Inhalt und dieser logisch-formale Inhalt des Begriffs ist dem empirischen Inhalt, dem Wirklichkeitsausschnitt, auf den der formal-gehaltvolle Begriff angewendet wird, logisch vorgeordnet: »Das Chaos der Eindrücke formt sich in ein System von Zahlen. Aber diese Zahlen erhalten ihre Benennung und somit ihre spezifische Bedeutung erst aus dem Inhalt der Grundbegriffe, die als allgemeingültige Maßstäbe theoretische festgelegt sind.« (SuF, 161) Wenn nun aber die reinen Begriffe ihre Bedeutung oder ihren Inhalt strikt unabhängig von den Verhältnissen der empirischen Welt gewinnen, dann können sie schlicht nicht für die empirischen Zustände stehen. Denn diese Zustände sind ja empirisch, durch Anschauung bestimmt. Und empirische Inhalte können auch nicht einfach in formale Inhalte »umgeschafft« werden, verlieren sie doch dadurch genau das, worauf es im Zuge dieses Umschaffens eigentlich ankommt: ihren empirischen Charakter. Es bleibt also unklar, wie die beiden Urteilssysteme zusammenspielen. Die Kritik lässt sich auch noch einmal so formulieren: Dass zum Zeitpunkt t1 ein Wert W1 gemessen und zum Zeitpunkt t2 der Wert W2 gemessen wird, ist und bleibt ein Erfahrungsurteil, das auf empirische Beobachtung angewiesen ist. Dass nun aber das Verhältnis zwischen W1 und W2 analog zu einem mathematisch-logischen Verhältnis etwa zwischen zwei Zahlenwerten begriffen werden kann, wird von Cassirer nicht begründet. Genau genommen braucht er für den experimentellen Teil der Naturwissenschaften so etwas wie eine »Meßvorschrift [. . . ], die es gestatte[t], die Wechselwirkung zwischen dem zu messenden System und dem Meßgerät in eine eindeutige Zuordnung von Zahlen zu beobachtbaren Erscheinungen umzuwandeln.« 100 Es ist allerdings nicht zu sehen, woher eine solche Vorschrift in SuF zu nehmen sein sollte. Eine solche Vorschrift oder Zuordnungsregel kann weder der formalen Mathematik noch der sinnlichen Anschauung entnommen werden. Wäre sie der formalen Mathematik zu entnehmen, müsste diese von sich aus einen Bezug Heinrich Parthey: Die empirische Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Wege des Erkennens. Philosophische Beiträge zur Methodologie naturwissenschaftlichen Erkennens, hg. v. Hubert Laitko, Reinart Bellmann, Berlin 1969, 78. 100

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zur empirischen Welt aufweisen und wäre damit nicht mehr reine Mathematik. Wäre sie der sinnlichen Anschauung zu entnehmen, erübrigte sich die ganze Volte gegen die Ungenauigkeit der Anschauung und das Plädoyer für eine strikt formale Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe (woraus ja erst das Problem resultiert, vor dem wir stehen), weil dann doch die Welt qua sinnlicher Anschauung offenkundig eine legitime Quelle der Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe wäre. 101 Cassirer scheint dieses Problem zu ahnen und ihm durch eine Ausweitung des Strukturgedankens begegnen zu wollen. So jedenfalls erklären sich seine wiederholten Hinweise darauf, dass reine Strukturbegriffe nicht die sinnlich-anschaulichen Eigenschaften, sondern allein die strukturale Verfassung der Welt beschreiben. Die Naturwissenschaften müssen von allen stofflichen Qualitäten des Seins absehen, um es als ein gesetzmäßig geordnetes Ganzes erfassen zu können: »die besondere Beschaffenheit des sinnlichen Eindrucks [ist freilich] abgestreift; aber es ist alles dasjenige festgehalten und für sich herausgehoben, was ihn als Systemglied kennzeichnet« (SuF, 161.) Doch das führt nur zu weiteren Problemen: Es mag ja tatsächlich so sein, dass die Naturwissenschaften wesentlich Strukturverhältnisse zwischen empirischen Gegenständen im Auge haben und diese auch erfolgreich beschreiben können, z. B. das Verhältnis, in dem sich dominante zu rezessiven Genen vererben. Was bei dieser Fokussierung auf Strukturen aber unter den Tisch fällt, sind die Unterschiede, die dann relevant werden, wenn zwei empirische Gegenstandsbereiche oder zwei Wirklichkeitsausschnitte dieselbe Struktur realisieren. Nichts an Cassirers naturwissenschaftlichen Begriffen gibt eine Handhabe dafür, wie zwischen der Erbfolge etwa in Bezug auf Augenfarben oder in Bezug auf Parkinsonerkrankungen zu unterscheiden ist (unterstellt, die für Augenfarbe und Parkinsonerkrankung verantwortlichen Gene realisieren dieselben Vererbungsverhältnisse). Formale Strukturbeschreibungen allein machen überhaupt nicht klar, wovon sie Strukturbeschreibungen sind, weil alles, was über die strukturellen Beziehungen hinausgeht, keine Relevanz für und keinen Eingang in den wissenschaftlichen Begriff haben kann und findet. Cassirers Naturwissenschaften sind gewissermaßen blind für die Qualitäten der Welt, weil sie überall nur ihre Quantitäten registrieren. Mit Blick auf seine Begriffe wüsste der Physiker nicht zu sagen, dass er nicht Dass zumindest die formale Mathematik eine solche Zuordnungsregel nicht abwirft, macht Cassirer selbst deutlich; vgl. SuF, 194: »Das Merkmal, kraft dessen wir feststellen, ob ein Einzelfall unter ein bestimmtes Gesetz subsumierbar ist, ist aber von den Bedingungen, auf denen das Gesetz selbst beruht, logisch streng geschieden.« 101

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eigentlich Chemie oder irgendetwas anderes treibt. Er wüsste vielleicht zu sagen, dass Planetenumläufe die Struktur S realisieren, aber was es heißt, dies über Planeten und nicht über die Bahnen, die die Enten im Teich ziehen, zu sagen, wüsste er nicht. 102 Und der Genetiker könnte nicht unterscheiden, ob er gerade ein Gen für Haarwachstum oder ein Gen für die Ausbildung von Alzheimer blockiert (gegeben wieder, beide Gene realisieren dieselbe Struktur), weil der qualitative Unterschied zwischen diesen Genen in der strukturalen Beschreibung ihrer Erbfolge einfach nicht auftaucht. Der Begriff eines Begriffs, der unfähig ist, auch material (und nicht nur formal) zu unterscheiden, wovon er handelt, kann daher kein plausibler Begriff eines empirischen Begriffs sein. Dass Cassirer skeptische Zweifel in Bezug auf das Verhältnis von Begriff und Welt, die er ja selbst erwähnt, nicht beruhigen kann, lässt sich abschließend noch einmal so sagen: Es ist nicht einzusehen, warum »das unbestimmte Stärker und Schwächer des Eindrucks«, das die nicht-experimentelle Anschauung kennzeichnet im Vollzug des Experimentes nun plötzlich »eine Handhabe und einen Ansatz zur Gewinnung fester Zahlenwerte« (SuF, 154) bieten können soll. Denn was auch immer Gegenstand der Messung im Rahmen eines Experiments ist, ist einfach dasselbe kontinuierliche, dichte, weiche, strudelnde, fließende Etwas, zu dem wir auch ohne Experiment sinnlich-anschaulichen Zugang haben und das uns stets unter den Händen zerrinnt. Das Experiment verändert diese, einer exakten Bestimmung widerstrebenden Eigenschaften empirischer Gegenstände nicht. Es ignoriert sie vielmehr. Im Experiment nehmen wir das Ungenaue so, als ob es genau wäre. 103 Cassirer sagt dies selbst: »Das Experiment geht daher strenggenommen niemals auf den wirklichen Fall, wie er hier und jetzt in aller Fülle seiner besonderen Bestimmungen vorliegt, sondern auf einen idealen Fall, den wir ihm substituieren« (SuF, 273); und: »Soweit irgendein empirisch gegebener Körper sich diesen Bestimmungen gemäß zu verhalten scheint, sprechen wir ihm absolute Ruhe und absolute Festigkeit zu (. . . ). Aber wir sind uns zugleich darüber im Klaren, 102 Aber wenn er das nicht weiß, weiß er doch wohl streng genommen auch nicht, wohin er sein Teleskop richten soll. Und wenn er aufgrund dieser Unwissenheit sein Teleskop nicht auf die Himmelskörper, sondern auf die Nachbarin im Haus gegenüber oder die Enten im Teich richtet, wird er niemals etwas über Planeten herausfinden und kann also auch nicht über Strukturen von Planetenbewegungen reden. 103 Vgl. dazu auch PhsFIII, 470: Das naturwissenschaftliche Denken »stellt an sich die Forderung, gleichsam das Unmögliche zu leisten: das ›Gegebene‹ so zu betrachten und so zu behandeln, als wäre es nicht denkfremd, sondern als wäre es vom Denken selbst gesetzt und kraft seiner konstruktiven Bedingungen erzeugt«; (kursiv, CK).

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daß diese Forderung in der Erfahrung niemals exakt, sondern stets nur in bestimmter Annäherung erfüllt sein kann.« (ebd., 198)

Es ist anders gesagt stets ein ungenauer Schnitt im Realen der Anschauung, der für eine exakte, disjunkte Differenzierung im Idealen des Begrifflichen herhalten muss. Das matching zwischen formaler Strukturbeschreibung und den realen Verhältnissen ist aber damit nicht nur immer nur näherungsweise, wie Cassirer meint, sondern in einem grundsätzlichen Sinne hypothetisch. Cassirer behauptet zwar, dass sich unsere formalen Begriffe »an dem Widerstand bewähren [müssen, CK], den sie vom ›Gegebenen‹ aus erfahren« (PhsFIII, 470), aber er kann diesen Widerstand nirgends als einen Widerstand verständlich machen, der von der empirischen Welt her kommt, denn im Grunde hindert uns ja nichts daran, beliebige Substitutionen von realen Zuständen und Messwerten vorzunehmen. Formale Strukturbeschreibungen passen alle gleich gut auf die Welt, weil die Welt eben stets nur scheinbar die Strukturen realisiert, über die allein wir uns in mathematischen Begriffen verständigen können. Wenn dies der Fall ist, können wir aber durch die Welt kürzen. Dass dies keine plausible Option ist, und sicher auch von Cassirer vehement zurückgewiesen würde, zeigt, dass SuF keinen plausiblen Begriff der empirischen Bestimmtheit von Begriffen besitzt. Auf einen Satz gebracht, lautet der Grund dafür: Cassirer sieht nicht, dass eine bloß empirische »Interpretation« einer Theorie oder von Begriffen, »deren empirischen Charakter [nicht] sichern kann«. 104 Wissenschaftliche Theoriebildung ist nun aber längst nicht die einzige Weise, die Welt zu erkunden: Wir besuchen ja auch Theater, lesen Bücher, schauen Fern; wir führen Gespräche mit Freunde und Therapeuten, wir beten und bauen Städte in Online-Games, wir photographieren, filmen etc. Die Liste ist endlos. Mit einem Rekurs auf solche prima facie weniger abstrakten symbolischen Medien und Praktiken, könnte man die Hoffnung verbinden, auch das Exaktheits-Ideal loszuwerden, das sich immer wieder als Hindernis für einen plausiblen Begriff des Weltbezugs symbolischer Medien und Praktiken oder zunächst nur: begrifflicher Praktiken erwiesen hat. Doch diese Hoffnung möchte ich gleich begraben: Das Exaktheits-Ideal der Mathematik ist nämlich nur ein starkes Motiv für die Entwicklung einer formal-holistischen Explikation von begrifflichem Gehalt oder von Bedeutung. Es begründet die formal-holistische Theoriefigur nicht. Ansätze zu formal-holistischen Explikationen begrifflichen oder allgemeiner: semantischen Gehalts lassen sich daher auch in Bezug 104

Parthey: Die empirische Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis (Anm. 100), 62.

Die Philosophie der symbolischen Formen

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auf symbolische Medien finden, die mit Fragen der Exaktheit nichts am Hut haben. Das liegt wiederum darin begründet, dass das treibende Motiv hinter der formal-holistischen Explikation symbolischer Medien, jedenfalls bei Cassirer, darin besteht, diesen Medien eine weltkonstituierende Funktion zumessen zu wollen. Diese Funktion können sie nur dann ausüben, das habe ich ganz zu Beginn des ersten Kapitels schon deutlich gemacht, wenn sie als unabhängig von der Welt oder der Erfahrung konstituierte Größen erläutert werden können. Genau eine solche Erläuterung verspricht die formal-holistische Theoriefigur. Es dürfte daher nicht überraschen, dass Cassirer, solange er am Konstruktionsmodell festhält, in der PhsF und in Bezug auf sprachliche und andere begriffliche und nicht-begriffliche symbolische Medien auch an dieser Theoriefigur festhält. 1.4 Die Philosophie der symbolischen Formen Cassirers dreibändige Philosophie der symbolischen Formen behandelt ein weites Spektrum an Themen: Neben einer kurzen Geschichte der Sprachphilosophie finden sich darin auch systematische Überlegungen zum Verhältnis von Denken und Sprache, zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, zum Gebrauch formaler Zeichensysteme in der Wissenschaft oder zum Mythos. 105 Auch methodisch ist sie nicht wählerisch: Sie rekurriert auf transzendentalphilosophische Argumentationsmuster ebenso wie auf phänomenologische Beobachtungen und Befunde empirischer Einzelwissenschaften, etwa der Patholinguistik, der Ethnologie oder der Gestaltpsychologie. Nicht zuletzt deshalb sind ihre Leser uneins, was das theoretische Grundanliegen der PhsF ist. 106 Einen Überblick gibt die Einführung von Andreas Graeser: Ernst Cassirer, München 1994. 106 In der Cassirer-Forschung haben sich insbesondere zeichentheoretische und kulturphilosophische Lektüren der PhsF herausgebildet. Erstere verstehen die PhsF als eine Art Zeichenlehre. Sie folgen damit Cassirers Auskunft, dass die PhsF über »typische und durchgängige Züge [symbolischer Formen, CK], sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede« einen »systematischen Überblick« (PhsFI, 16) geben wolle. Ein Organisationsprinzip solcher Zeichenlehren ist u. a. Cassirers Unterscheidung von symbolischen Formen oder Zeichen entlang einer Achse zunehmender Arbitrarität der Zeichengestalt gegenüber den sinnlich-materialen Eigenschaften des Bezeichneten; vgl. u. a. Alois Andermatt: Semiotik und das Erbe der Transzendentalphilosophie. Die semiotischen Theorien von Ernst Cassirer und Charles Sanders Peirce im Vergleich, Würzburg 2007. Die kulturphilosophischen Lektüren deuten die PhsF dagegen eher als eine Lehre der unterschiedlichen Weisen des Menschen, sich aktiv in 105

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Cassirers Selbstauskünfte schaffen hierbei nur bedingt Abhilfe. Seine lockere Handhabung der eigenen Terminologie und der Umstand, dass er die eigene Position gern in das »geistreiche Referat anderer Positionen einwickelt« 107, leisten eher ihr Übriges zum Fortbestehen der unklaren Lage; die Susanne Langer so pointiert: »The proof of the pudding is the eating, and I submit that Cassirer's pudding is good, but the recipe is not on the box.« 108 Ich hoffe, mit den folgenden Überlegungen einen Beitrag zur Rekonstruktion dieses Rezeptes leisten zu können. Allerdings kann die thematische Breite der PhsF im Rahmen dieser Arbeit nicht annähernd vollständig ausgeleuchtet werden. Nach einigen knappen Bemerkungen dazu, wie ich das Grundinteresse der PhsF verstehe, werde ich mich vielmehr ausschließlich der Neufassung des Repräsentationsbegriffs und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine Verhältnisbestimmung von Medien und Welt widmen. Erst im Zuge des zweiten Kapitels kommen dann weitere Themen der PhsF zur Sprache. Mit den einleitenden Bemerkungen will ich deutlich machen, dass sich die symbolphilosophischen Überlegungen Cassirers in eine weitere, nicht semiotizistisch verkürzte bedeutungstheoretische Zentralperspektive einzeichnen lassen. Deren Fluchtpunkt bildet, was John Michael Krois eine »critique of meaning« 109 genannt hat. Demzufolge fragt die PhsF nach den transzendentalen Grundlagen nicht nur von objektiver Erkenntnis, sondern eines weitergefassten Weltverstehens, das die ganze Bandbreite begrifflich und nicht-begrifflich strukturierter Welterfahrung umgreift. Dominic Kaegi nennt dies eine »hermeneutische Erweiterung« 110 der kritischen Philosophie Kants. Den Gedanken einer solchen hermeneutischen Erweiterung möchte ich allerdings von der Idee einer hermeneutischen Wende unterscheiden, zu der Cassirer meines Erachtens innerhalb der PhsF zusätzlich ansetzen wird. Man kann nämlich das philosophische Interesse durchaus der Welt zu beheimaten und sein Verhältnis zu sich selbst und anderen zu bestimmen, sei dies in eher kognitiver Form wie in der Wissenschaft oder in praktischer Form, etwa im Rahmen einer technischen Bewältigung der Welt; vgl. u. a. Ernst W. Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2004. 107 Ernst W. Orth: Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Hans-Jürg Braun et al., Frankfurt /M. 1988,50 f. 108 Susanne K. Langer: Philosophical Sketches, New York 1962, 56. 109 Krois zufolge transformiert die PhsF »transcendental philosophy from a critique of knowledge into a critique of meaning.«, vgl. John M. Krois: Cassirer, Symbolic Forms and History, New Haven, 1987, 44. 110 Dominic Kaegi: Ernst Cassirer (1874–1945), in: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky, hg. v. Tilman Borsche, München 1996, 350.

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von Fragen der Erkenntnis auf klassische Themen der Hermeneutik, sprich: nicht-wissenschaftliche Formen des Weltverstehens ausweiten und zugleich an konstruktivistischen Weichenstellungen festhalten. Der »schlechte Cassirer« tut genau das. Von einer hermeneutischen Wende der PhsF möchte ich daher erst dann sprechen, wenn die konstruktivistischen Überzeugungen selbst aufgegeben werden. Dies tut der »gute Cassirer«, wie ich allerdings erst im zweiten Kapitel zeigen werde. Cassirer selbst spricht ganz im Sinne der von Kaegi so genannten Erweiterung davon, »die ›transzendentale Frage‹ in einem umfassenderen Sinne zu stellen« (PhsFIII, 14) oder »ihr einen weiteren inhaltlichen Bereich« 111 geben zu wollen. Doch diese Redeweise verschleiert, dass Cassirer der philosophischen Forschung in der Tradition Kants nicht einfach nur neue Gegenstände hinzugewinnen möchte, die es zusätzlich zu den erkenntnistheoretischen Fragestellungen zu bearbeiten gilt. Vielmehr arbeitet die PhsF daran, erkenntnistheoretische Probleme ihrerseits einem Zusammenhang von Problemen zuzuschlagen, die eben nicht mehr in Begriffen der Erkenntnis oder des Wissens, sondern in Begriffen der Bedeutung und des Verstehens zu erörtern sind. Kurz: Erkennen wird zu einem Fall von Verstehen erklärt. 112 Der Begriff des Verstehens ist damit umfangreicher als der Begriff des Erkennens. Er umfasst sowohl begriffliche als auch nicht-begrifflich strukturierte Formen der Erfahrung. Die vielfältigen Formen des Verstehens in ihrer Breite und in ihrem Zusammenhang aufzuklären, scheint mir das zentrale Grundanliegen der PhsF zu sein. Es ist gleichwohl nicht unüblich, die PhsF als Erkenntnistheorie 113 oder auch als eine Art Épistémologie zu lesen, wie sie später bei Gaston Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen (Anm. 6), 163 f. Ob Cassirer damit ein reduktionistisches Programm verfolgt derart, dass er behauptet, dass sich die Begriffe der Erkenntnis und der Wahrheit vollständig in Begriffen des Verstehens reformulieren lassen – oder in Begriffen der Richtigkeit, wie Goodman und Elgin vorschlagen; (vgl. dies.: Revisionen (Anm. 2), bes. Kap. X; dazu auch: Martin Seel: Über Richtigkeit und Wahrheit. Erläuterungen zum Begriff der Welterschließung, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt / M. 2002, 45–67) – oder ob er damit ein Fundierungsprogramm verfolgt, das (womöglich in Anlehnung an Husserls Krisis-Schrift) zeigen soll, dass auch das wissenschaftliche, »exakte Weltbegreifen« (PhsFIII, 14) in einer basalen Schicht des Weltverstehens gründet, muss für die Zwecke dieser Arbeit nicht geklärt werden. Klar ist nur, dass Cassirers Interesse an der Nobilitierung des Verstehens- und des Bedeutungsbegriffs keine »Bedeutungsanalyse« erkenntnistheoretischer Grundbegriffe zum Ziel hat, wie sie heute von sprachanalytischen Philosophien betrieben wird; vgl. dazu Thomas Grundmann: Analytische Einführung in der Erkenntnistheorie, Berlin 2008, 25. 113 So arbeitet die PhsF u. a. für Hans Jörg Sandkühler wesentlich »an einer neuen Theorie der Erkenntnis«, vgl. ders.: Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Frankfurt /M. 2009, 41 ff. 111 112

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Bachelard prominente Gestalt gewinnt. 114 Ich werde kurz auf diese Lektüren eingehen und zeigen, inwiefern sie die hermeneutische Erweiterung der PhsF verfehlen: Konsens dieser Lektüren ist, dass die PhsF im Kern eine Art Entwicklungsgeschichte der zeichenvermittelten Versuche des Menschen entwirft, sich und die Welt zu erkennen. Cassirer führe hierzu drei idealtypische Stufen der erkennenden Bezugnahme auf die Welt ein, denen sich verschiedene »Grundformen des Verstehens der Welt« (PhsFI, VII), zuordnen lassen, wie sie sich historisch ausgebildet haben. Es sind dies die sogenannten Stufen der Ausdrucksformen, der Darstellungsformen und der Formen der reinen Bedeutung (wie es sinnfälligerweise im Anschluss an den Begriff reiner Funktionsbegriffe aus SuF heißt). 115 Dieses dreistufige Schema hat dann u. a. Donald P. Verene zum Anlass genommen, die PhsF in die Nähe von Hegels Phänomenologie des Geistes zu rücken 116: Auch die PhsF und vorweg ihr dritter, Phänomenologie der Erkenntnis genannter Band erzähle demnach eine Geschichte »of the mind's relationship to its object« 117, die im wissenschaftlichen Erkennen der Welt qua Entwicklung formal-sprachlicher Zeichensysteme und »axiomatisch« definierter Begriffe als Formen reiner Bedeutung kulminiert. 118 Die PhsF diene daher vor allem der Selbstaufklärung der Erkenntnissubjekte über ihren Wissens- und Erkenntnisbegriff. Der Wortlaut der PhsF ist durchaus geeignet, diese Lektüren zu stützen; schreibt Cassirer doch, dass der dritte und letzte Band der PhsF dem 114 Den Hinweis auf Bachelard verdanke ich Joseph Vogl; er findet sich auch bei Sandkühler, s. o. 115 Vgl. dazu auch Ernst Cassirer: Das Symbolsystem und seine Stellung im System der Philosophie, in: ders.: Schriften (Anm. 8), bes. 99 ff. 116 Vgl. Donald P. Verene: Kant, Hegel, And Cassirer. The Origins Of The Philosophy Of Symbolic Forms, Philadelphia 1969. Cassirer selbst rückt zumindest den dritten Band der PhsF explizit in die Nähe von Hegels PhG in: PhsFIII, VIIIf. 117 Ebd., 38. 118 Es darf natürlich bezweifelt werden, dass dies die Geschichte ist, die Hegels PhG erzählt. Versteht man die PhG jedenfalls so, dass darin eine Geschichte der Entwicklung des Selbstverständnisses des wissenden Subjekts erzählt wird, dann nimmt sich die Geschichte der PhsF demgegenüber immer noch als bloß »äußerliche« Version dieser Geschichte aus: So macht die PhsF anders als die PhG nicht verständlich, was diejenigen, die einen bestimmten Wissensanspruch erheben, zur Korrektur ihres Begriffs des Wissens antreibt. Kurz: In der PhsF fehlt eine Geschichte des Konflikts oder des Scheiterns von (Wissens-)Ansprüchen als Motor der Entwicklung unseres Selbstverständnisses. Zu dieser Lesart der PhG, vgl. u. a. Dina Emundts: Erfahren und Erkennen, Frankfurt /M. 2012. Und noch ein weiterer Aspekt steht der Parallelisierung der PhsF mit der PhG im Wege: Der sich selbst wissende Begriff Hegels, der am Ende von Hegels Entwicklungsgeschichte steht, ist gerade nicht der Begriff eines subjektiv konstruierten Begriffs, wie er am Ende der Entwicklung in der PhsF steht.

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»Problem der Erkenntnis« (PhsFIII, VII) gewidmet ist und dergestalt die »systematische Konsequenz« (ebd.) aus den vorangegangenen Bänden zur Sprache und zum Mythos ziehen soll. Man kann das so lesen, dass Cassirer hier behauptet, dass die PhsF von Beginn an auf die erkenntnistheoretische Problemstellung ihres dritten Bandes hin angelegt gewesen ist. Wenn man den dritten Band der PhsF wie Verene zudem als »key work of Cassirer's philosophy« 119 wertet, dann hat diese erkenntnistheoretische Lektüre der PhsF fraglos etwas für sich. Sie ist aber keineswegs zwingend. 120 Ich möchte der erkenntnistheoretischen Vereinnahmung der PhsF folgende exegetische Anmerkungen entgegenhalten: Die Konzilianz, mit der Cassirer Kritik vorzutragen pflegt, kaschiert, dass ›Erkenntnistheorie‹ sein mitunter polemischer Titel für eine Theorie ist, welche die »intellektuelle Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt« (PhsFI, VII), unzulässig generalisiert. Diese Tendenz zur Generalisierung erkenntnistheoretischer Einsichten geht für Cassirer auf Kants Kritik der reinen Vernunft zurück. Behaupte dieser doch, wie Cassirer schreibt, dass die »Kategorien, die das System der mathematisch-physikalischen Erkenntnis fundieren, [. . . ] die gleichen [sind], wie diejenigen, auf denen unser ›natürlicher Weltbegriff‹ beruht« (PhsFIII, 13). Eben das aber bestreitet Cassirer vehement und schränkt damit die theoretische Reichweichte der KrV empfindlich ein. Sie ist in dieser Hinsicht für Cassirer nicht mehr als bloß eine methodische Grundlegung der Mathematik und der empirischen Erfahrungswissenschaften. Vor allem aber ist sie keine Theorie der menschlichen Erfahrung insgesamt, wenngleich sie vielfach als genau das verstanden und gerühmt wird. Dahinter steht der Gedanke, dass die Welt, in der wir leben, reichhaltiger ist, als die Welt, die die exakten Wissenschaften und Naturwissenschaften beschreiben und deren Methodologie die KrV für Cassirer in erster Linie ist. Wir machen in dieser Welt u. a. ästhetische, religiöse oder moralische Erfahrungen, die mit dem Vokabular der Mathematik oder Physik nicht hinreichend zu beschreiben sind. 121 Erst eine Theorie aber, Verene: s. o., 38. So kann man Cassirers einleitende Formulierung auch dahingehend verstehen, dass der dritte, mit Fragen der Erkenntnistheorie befasste Band der PhsF, die für die Erkenntnistheorie systematisch relevanten Schlüsse aus den sonstigen, nicht zwingend auch selbst schon erkenntnistheoretischen Überlegungen der PhsF zieht. 121 Dies sei letztlich aber nichts, worüber man Kant ernsthaft belehren müsste. Vielmehr zeige der Umstand, dass Kant der KrV noch zwei weitere Kritiken folgen lässt, dass dieser selbst die Begriffe der KrV »als zu eng« für eine Gesamttheorie menschlicher 119 120

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die auch solche Erfahrungen mitbeschreiben kann, ist eine Theorie der menschlichen Erfahrung insgesamt. Mit der PhsF will Cassirer das begriffliche Fundament für eine solche Theorie legen und Teile dieser Theorie dann auch ausarbeiten. Man muss daher mindestens sagen: Auch wenn der dritte Band der PhsF zum Problem der Erkenntnis und zu Fragen der Mathematik und der Physik zurückkehrt, so doch jedenfalls vor dem Hintergrund dieser Kritik an einer Konzeption von Erkenntnistheorie, die sich von mathematischen und naturwissenschaftlichen Gegenständen her und mithilfe ebensolcher Begriffe unzulässig zur prima philosophia aufschwingt. Doch Cassirers Absichten reichen weiter: ›Erkenntnis‹ ist sein Begriff nur für eine spezifische Form des Weltverstehens oder der »Objektivierung« (PhsFIII, 25) unserer Erfahrung, wie er auch immer wieder sagt. Genauer: Es ist sein Begriff für die eigentümliche Art und Weise, mithilfe von mathematisch-physikalischen Begriffen und naturwissenschaftlich-nomologischen Aussagen subjektive Erfahrungen so zu beschreiben, dass sie mit anderen solcher Erfahrungen in einen spezifischen Zusammenhang gebracht werden. Diese Form der Objektivierung, die in der Tradition der KrV zentraler Gegenstand der Erkenntnistheorie ist, stellt aber nur eine unter vielen alternativen »Weisen der Objektivierung« (PhsFI, 6) dar. Diese Weisen der Objektivierung können nicht auf die wissenschaftliche Weise der Objektivierung reduziert werden. Erkenntnistheorie, verstanden als Theorie der mathematisch-naturwissenschaftlichen Objektivierung entwickelt ein Repertoire von Begriffen, das für eine grundsätzliche und umfassende Aufklärung des menschlichen Weltverhältnisses unzureichend ist. Ein solches Vokabular will die PhsF vielmehr selbst entwickeln und zwar im Rahmen einer Theorie, von der es explizit heißt, dass sie »ihren Blick nicht ausschließlich und nicht in erster Linie auf das rein wissenschaftliche, exakte Welt beg reifen [richtet], sondern auf alle Richtungen des Welt verstehens.« (PhsFIII, 14). Von dieser Perspektive aus und auf neuem begrifflichen Grund setzt die PhsF zu einer Diskussion u. a. auch der Form wissenschaftlichen Erkennens an. Die PhsF insgesamt als Erkenntnistheorie zu klassifizieren, greift daher zu kurz. Cassirer spricht dies noch einmal sehr deutlich aus, wenn er im Rückblick schreibt, dass er »auf dem Wege des Entwurfs einer allgemeinen ›Philosophie der symbolischen Formen‹« zu der Einsicht »gelangt« sei, dass wir das »Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem als Sonderfälle des allgemeinen Erfahrung betrachtet habe; so die Ehrenrettung Kants, die Cassirer seiner Kritik auf dem Fuße folgen lässt, vgl. PhsFI, 8.

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Be deutung sproblems begreifen« 122 müssen. Es sind die Begriffe der Bedeutung und des Verstehens, die in der PhsF eine grundlegende Aufklärung des menschlichen Weltverhältnisses (auch seines erkennenden Weltverhältnisses) leisten sollen. ›Bedeutung‹ kann man als Cassirers Ausdruck für einen Grundzug der menschlichen Welterfahrung begreifen. Bedeutung steht nicht, wie in bestimmten sprachphilosophischen und semiotischen Kontexten, für eine auszeichnende Eigenschaft von Zeichengegenständen. Es ist die Welt selbst, die Bedeutung hat, die wir als bedeutsam erfahren und deren Sinn und Bedeutung wir verstehen. Cassirer spricht in diesem Sinne von der »menschlichen Bedeutungswelt« (VM, 58) und einem dieser Welt korrespondierenden »Weltverstehen«. 123 Cassirer erläutert dieses Verstehen einer Bedeutungswelt mithilfe eines im weitesten Sinne strukturalen Vokabulars 124: Wir verstehen die Welt, wenn »die fließend immer gleiche Reihe der Phänomene [lies: subjektive Empfindungen, CK] belebend ab[ge]teil[t] und [. . . ] zu festen Gestalten zusammengehen« (PhsFIII, 16). Solche »Gestalten« nennt Cassirer auch »objektive Sinnzusammenh[änge]« (PhsFI, 9). Die Welt hat oder gewinnt Bedeutung, wenn einzelne Eindrücke und Erlebnisse, »nicht als Einzelnes stehenbleiben, sondern sich einem Zusammenhang einreihen« und zu »Gliedern« eines wie auch immer gearteten »›Gefüges‹« (PhsFI, 6) werden. Weltverstehen ist eine »›Integration [einzelner Elemente, CK] zum Ganzen‹« (PhsFI, 42). Das kann man auch wie folgt paraphrasieren: Verstehen heißt Zusammenhänge herstellen oder die Erfahrung solcher Zusammenhänge machen. Das zusammenhanglos Mannigfaltige oder Ungegliederte und Unstrukturierte dagegen ist das Unverstandene oder Unverständliche. Die Welt verstehen oder als bedeutsam erfahren, heißt daher, strukturierte Erfahrungen zu machen oder ErfahErnst Cassirer: Erkenntnistheorie nebst Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, ECW XVII, 16. 123 Auf die Nähe dieses Bedeutungsbegriffs zur hermeneutischen Tradition, namentlich Wilhelm Diltheys Begriff der Bedeutsamkeit, hat hingewiesen Massimo Mezzanzanica: Dilthey und Cassirer. Gestaltungen des objektiven Geistes und symbolische Formen im Spannungsfeld von hermeneutischer Philosophie und philosophischer Anthropologie, in: Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes, hg. v. Gudrun Kühne-Bertram, Frithjof Rodi, Göttingen 2008, 283–295. 124 Man könnte auch sagen, dass Cassirer hier ganz im Sinne seines Lehrers Hermann Cohen im Anschluss an Kant einen holistischen Erfahrungsbegriff profiliert; vgl. dazu die erhellenden Ausführungen in Ursula Renz: Von Marburg nach Pittsburgh. Philosophie als Transzendentalphilosophie, DZP, Berlin 254. Renz zeigt überdies, wie Cassirers Formalismus in Sachen (mathematischer) Begriffsbildung in Cohens Arbeiten sein Vorbild hat, vgl. ebd., 255 ff. 122

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rungen von Strukturen, in denen Einzeldinge, Eigenschaften und Ereignisse mit anderen Einzeldingen, Eigenschaften und Ereignissen auf bestimmte Weise zusammenhängen. Kurz gesagt: Verstehen ist struktural verfasst. Bei solchen Beziehungen und Strukturen denkt Cassirer ganz nach dem Vorbild der KrV zunächst und zumeist an räumliche und zeitliche Beziehungen oder an solche von Ursache und Wirkung (vgl. u. a. PhsFI, 25 ff.). Diese Beziehungen können Cassirer zufolge aber ganz unterschiedlich realisiert sein: Es stehen hier exakten Lokalisierungen von Objekten nach Maßgabe eines mathematisch-geometrisch bestimmten Raumes z. B. tiefenräumliche Staffelungen von Figuren nach Maßgabe etwa bestimmter Weisen perspektivischer Malerei gegenüber; oder das schiere Nacheinander von Ereignissen innerhalb einer homogen ablaufenden Zeit (wonach ein Ereignis E2, das einem Ereignis E1 zeitlich folgt, von einem Ereignis E zeitlich weiter entfernt ist als E1, wenn E1 zeitlich zwischen E und E2 liegt) der religiös konturierten Auffassung, dass »der Karfreitag 1998 [. . . ] näher am Tag der wirklichen Kreuzigung [ist] als am Tag der Mittsommernacht 1997« 125. Die Erfahrungswelt des Menschen »gliedert« sich, wie Oswald Schwemmer dies ausdrückt, durch solche Bezüge in je unterschiedlicher Weise »zu einem Kosmos, in dem er [der Mensch, CK] sich orientieren kann«. 126 Es sind solche Strukturierungen unserer Erfahrungswelt oder solche uns orientierenden Zusammenhänge, die, »wenngleich [sie] auf die Gesetze des empirischen Denkens [lies: des naturwissenschaftlichen Denkens, CK] nicht reduzierbar, doch darum keineswegs gesetzlos [sind], sondern eine Strukturform von eigentümlicher und selbstständiger Prägung aufweis[en]« (PhsFIII, VII), die die PhsF als Phänomene der Bedeutung oder des Weltverstehens im Blick hat. Genauer gesagt: Cassirer fragt nach den »elementaren Voraussetzungen« dafür, dass wir die Erfahrung einer so oder so strukturierten Welt machen können. 127 Das Grundinteresse der PhsF lässt sich damit auch noch einmal wie folgt fassen: Die Welt, in der wir leben, zeigt oder erweist sich immer wieder als eine Welt, in der verschiedene Ereignisse oder Dinge auf unterschiedliche Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, 102. Vgl. ebd., Taylors Ausführungen zu den Unterschieden »säkularer« und »heiliger« Zeitauffassungen. 126 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 27. 127 So sieht das auch Kreis: Cassirer (Anm. 7), 173: »Der Hauptfokus [der PhsF, CK] ist das Problem der Wirklichkeitserschließung. [. . . ] Zu untersuchen [. . . ], unter welchen Bedingungen wir unsere ›Wirklichkeit‹ erfahren können, ist die erklärte Aufgabe Cassirers.« 125

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Weise zusammenhängen oder in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Das macht ihre Bedeutsamkeit oder ihre Verständlichkeit aus. Manchmal müssen wir uns aktiv darum bemühen, solche Zusammenhänge zu entdecken. Sie liegen nicht immer auf der Hand. Das gilt z. B. von komplexen mathematischen oder ökologischen Zusammenhängen. Andere Zusammenhänge, z. B. zeitliche, gehören dagegen eher zum selbstverständlichen Hintergrund unseres alltäglichen Erlebens und Lebens. Sie orientieren uns in einer Weise, die z. B. koordiniertes Handeln mit anderen erst möglich macht. Nicht weniger alltäglich aber doch mitunter weniger selbstverständlich sind dagegen z. B. normative Zusammenhänge. Auch sie orientieren unser Tun und Lassen im Ganzen eines komplexen Möglichkeitsraumes von werthaft bestimmten Verhaltens- und Handlungsweisen. Cassirer macht geltend, dass Erfahrungen einer jedenfalls irgendwie strukturierten Welt ein Grundtatbestand des menschlichen Standes in der Welt sind. Er spricht diesbezüglich von einem »Faktum«. Gegen das Vorkommen solcher Erfahrungen lässt sich im Grunde kein sinnvoller Zweifel vorbringen, auch wenn Uneinigkeiten darüber, wie diese Strukturen und Zusammenhänge im Einzelnen genau beschaffen sind oder beschaffen sein sollten, natürlich immer möglich sind. Wir alle machen solche Erfahrungen tagtäglich, und es scheint unverständlich, was es heißen soll, über den menschlichen Stand in der Welt zu sprechen, ohne auf solche Erfahrungen zu rekurrieren. Wenn das nun aber so ist, fragt Cassirer sinngemäß, was können wir begrifflich daraus schließen, dass es der Fall sein muss, damit es zu solchen Erfahrungen von Bedeutung, zu einem solchen Weltverstehen kommen kann? Oder, wie es im üblichen philosophischen Jargon heißt: Welche sind die »Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung«? 128 Cassirers Antwort auf diese Frage macht seine komplexe Haltung zu Kant deutlich: Eben noch Ziel der Kritik im Namen einer »›Mehrdimensionalität‹ der geistigen Welt« (PhsFIII, 60), interessiert ihn Kants KrV nun als eine Philosophie, die doch Grundsätzliches darüber lehrt, wie die Welt, die Gegenstand unseres Verstehens ist, von unseren subjektiven Formen der Bezugnahme auf die Welt abhängt. Den Leitgedanken der kritischen Philosophie, wonach eben wir es sind, die der Welt die Formen vorschreiben, denen gemäß sich diese uns erst als ein einheitliches und zusammenhängendes Ganzes zu erkennen zu geben vermag, greift die PhsF unter symboltheoretischen Vorzeichen auf. Die Leitthese der PhsF lautet entsprechend: Bedeutung gewinnt die Welt für uns nur insofern, als wir uns mittels symbolischer Medien auf sie beziehen. Wir müssen 128

Graeser: Cassirer (Anm. 105), 28.

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über sie sprechen, Zeichnungen anfertigen, Berechnungen anstellen, uns im Theater Handlungen vorführen, sie tanzend durchmessen etc. Erst dadurch gewinnt die Welt Verständlichkeit. Weil unser Weltverstehen näher hin betrachtet eine Erfahrung von Strukturen (oder auch eine Leistung der Strukturierung ist), kann man symbolische Medien auch als erfahrungs- oder weltstrukturierende Medien bezeichnen. Die Bedeutungswelt, in der wir symbolgebrauchende Wesen leben, nennt Cassirer entsprechend auch das »symbolische Universum« (VM, 50). Die Strukturiertheit der Welt, die wir qua dieser Strukturiertheit als bedeutsam erfahren und verstehen, ist von unserer strukturierenden symbolischen Bezugnahme abhängig. Wir selbst sind es, die mittels Sprache, Mathematik, bildlicher Darstellungen etc. eine Ordnung und Struktur in die Welt bringen, spezifische Zusammenhänge stiften oder Beziehungen zwischen Ereignissen und Dingen herstellen. Durch »die Symboltätigkeit des Menschen« (VM, 50) wird die Welt erst zur verständlichen, zur bedeutsamen und sinnfälligen Welt, oder kurz: wird Welt. In diesem Sinne wird der transzendentalphilosophische Grundgedanke, der schon SuF anleitet, in der PhsF fortgeführt. Deshalb kann man das Ziel der PhsF auch den Entwurf einer quasi-transzendentalen Semantik nennen. Cassirer verbindet diesen Gedanken einer symbolischen Strukturierung unserer Erfahrungswelt mit dem naheliegenden Gedanken, dass wir auch symbolische Medien als struktural verfasst begreifen müssen (denn nur strukturierte Medien können Strukturierung leisten), wie insbesondere die umfangreichen Detailanalysen zur Sprache im ersten Band der PhsF zeigen. Symbolische Medien bilden ihrerseits geordnete Zusammenhänge symbolischer Ausdrücke, und symbolische Ausdrücke individuieren sich wiederum nur aus solchen Zeichenzusammenhängen oder symbolischen Strukturen heraus als diese oder jene Ausdrücke. Auch unser Symbolverstehen ist in diesem Sinne struktural verfasst. Ich fasse kurz zusammen: Wenn Cassirer von Bedeutung und Verstehen spricht, dann zielt er damit in erster Linie auf ein Grundmoment des menschlichen Standes in der Welt und erst in zweiter Instanz auf einen Moment unserer Auseinandersetzung mit Zeichengegenständen. Es ist die Welt selbst, die Bedeutung hat oder die als bedeutsam erfahren wird. Diese Erfahrung will er philosophisch erhellen. Es gilt, verständlich zu machen, wie es zu solchen Erfahrungen kommen kann. Unser Weltverstehen wird dann näher hin erläutert als Erfahrung einer Strukturiertheit der Welt. Die Welt aber, so Cassirer weiter, ist nicht von sich aus strukturiert, sondern nur in dem Maße, wie wir uns symbolisch auf die Welt beziehen. Die Welt, schreibt er, wird in die »Form[en] der geistigen Schau

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[ein[ge]spannt]« (PhsFIII, 15 f.). Symbolische Medien kann man daher als erfahrungs- oder weltstrukturierende Medien bezeichnen. Um aber die Welt oder unsere Erfahrung strukturieren zu können, müssen symbolische Medien selbst als strukturiert begriffen werden. In diesem Zusammenhang gewinnt der Ausdruck ›Bedeutung‹ sozusagen eine zweite Bedeutung: Insofern nämlich auch symbolische Medien Strukturen ausbilden, lassen auch diese sich verstehen oder haben Bedeutung. Dieses Symbolverstehen genießt, wenn auch nicht was das philosophische Interesse der PhsF angeht, so doch logisch Vorrang, denn die symbolischen Strukturen sollen ja die Strukturen begründen, von denen unser Weltverstehen getragen wird. Der Gedanke, dass unser Symbolverstehen struktural verfasst ist, ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bekanntermaßen ganz unabhängig von den spezifischen Fragen gefasst worden, die die PhsF mit Blick auf das Verhältnis von Medien und Welt umtreiben, z. B. in der sprachwissenschaftlichen Tradition, die Ferdinand de Saussure begründet hat. Diese strukturalen Ansätze in der Sprach- und Symbolphilosophie richten sich dabei erklärtermaßen gegen ein sogenanntes repräsentationalistisches Paradigma, wonach die Bedeutung von symbolischen Ausdrücken oder Zeichen von der Beziehung einzelner solcher Ausdrücke oder Zeichen zu nicht-zeichenartigen Gegenständen abhängt. Dieser Stoßrichtung folgt auch die PhsF. Allerdings trägt Cassirer strukturales Gedankengut irritierenderweise in Begriffen der Repräsentation selbst vor. Zu dieser anti-repräsentationalistischen Neufassung des Begriffs der Repräsentation komme ich jetzt. 1.4.1 Repräsentation ohne Repräsentationalismus 129 Cassirer eröffnet den Abschnitt zum Begriff der Repräsentation mit der Frage, »wie überhaupt ein bestimmter sinnlicher Einzelinhalt [der Sprache, der Kunst, des Mythos] zum Träger einer allgemeinen geistigen ›Bedeutung‹ gemacht werden kann« (PhsFI, 25). Mit sinnlichen Einzelinhalten sind Zeichengegenstände in ihrer physisch wahrnehmbaren Gestalt oder hinsichtlich ihrer physikalisch beschreibbaren Eigenschaften gemeint; also sprachliche Ausdrücke als Laut oder Schall, Gemälde als sichtbare Konfigurationen von Formen und Farben oder als Objekte, die unsere Fotorezeptoren mit einem bestimmten elektromagnetischen Profil reizen, und im Falle des Mythos oder auch des Theaters z. B. ein129

Siehe auch den gleichnamigen Abschnitt in: Kreis: Cassirer (Anm. 7), 235–256.

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zelne Handlungsereignisse oder Körperbewegungen in Raum und Zeit, wie etwa eine Geste. Cassirer gibt sofort zu verstehen, dass wir den fraglichen Umstand des Sinntragens nicht erklären können, indem wir »die Zeichen [. . . ] lediglich ihrer physischen Beschaffenheit nach« (ebd.) beschreiben. Damit hält er aber zugleich fest, dass Zeichen jedenfalls eine physisch wahrnehmbare Gestalt oder physikalisch beschreibbare Eigenschaften haben. 130 Das wird im letzten Abschnitt des ersten Kapitels noch wichtig werden. Auf physische Eigenschaften beschränkt kann man also sagen: Zeichen sind stets aus Druckerschwärze, Farbpigmenten, Schall, Holz etc. gemacht. Doch unterscheiden sich Zeichen dadurch von nicht-zeichenartigen Gegenständen, die ja ebenfalls physische Eigenschaften haben, dass sie Gegenstände sind, die zugleich »ein vielgestaltiges geistiges Leben« (ebd.) oder einen »allgemeinen gedanklichen Bedeutungsgehalt« (ebd., 33) besitzen. Eine Beschreibung dessen, was ich sinnlich wahrnehme, kann diese geistige Dimension von Zeichengegenständen ebenso wenig erklären, wie die Messung der akustischen Merkmale einer Melodie oder die Spektralanalyse eines Bildes. Das zeigt sich z. B. daran, dass derselbe Sprachlaut verschiedene Bedeutungen haben kann: im Deutschen bezeichnet man mit dem Phonem [ba ,k] sowohl eine Sitzgelegenheit als auch ein Geldinstitut, oder in einem anderen Sprachraum gar nichts. Dass Zeichen Bedeutung, Sinn oder einen Inhalt haben, ist eine nicht-physische und nicht-physikalische Eigenschaft von Zeichengegenständen derart, dass sie auf die physischen und physikalischen Eigenschaften des Zeichengegenstandes nicht reduziert werden kann. Eben deshalb stellt sich ja die Frage des Sinntragens; denn was soll es dann genau heißen, dass Zeichen sinnlich-material und geistig verfasste Gegenstände sind? Dieses nicht-additive ›und‹, das ein »Zugleich« von Sinnlichem und Geistigem meint, aufzuklären, kann man als Kernaufgabe von Zeichentheorien betrachten. Wenn man die Ausführungen des Abschnitts zum Begriff der Repräsentation weiterliest, dann wird allerdings schnell klar, dass Cassirer etwas Obwohl Cassirer an dieser Stelle nur von physischen Eigenschaften spricht, legen seine anschließenden Ausführungen nahe, dass er auch physikalische Eigenschaften meint, also Eigenschaften, die sich gerade nicht aus der Perspektive sinnlich-leiblicher Wahrnehmung erschließen. Diese Ambivalenz ist meines Erachtens Ausdruck einer intellektualistischen Verkürzung unseres Symbolverstehens, die sich um eine Unterscheidung zwischen physischen und physikalischen Eigenschaften von Zeichengegenständen deshalb nicht bemüht, weil sie keinen von beiden eine tragende Rolle in der Explikation von Symbolverstehen zumisst. Ich komme unten ausführlicher darauf zurück; 1.4.3 Symbolic Turn ohne Symbole. 130

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anderes im Sinn hat als den Entwurf einer an dieser Frage orientierten Zeichentheorie. Die Eröffnungsfrage führt so gesehen in die Irre. Eigentlich will er nämlich wissen, was den »Bedeutungsgehalt« von Zeichen und symbolischen Ausdrücken zu einem »bestimmten Gehalt« (ebd., 30) macht. In Frage steht, warum ein sprachlicher Ausdruck dieses und nicht jenes besagt oder, warum ein Bild genau das und nicht etwas anderes darstellt. Das Problem des Sinntragens, sprich: das Problem, wie ein Laut überhaupt zum Wort oder wie eine farbige Fläche überhaupt zum Bild wird, wird damit von einem anders gelagerten Problem verdrängt. Die Frage der Zeichenhaftigkeit von Zeichen tritt hinter die Frage nach der Individuierung der Zeichenbedeutung zurück. Die zeichentheoretische weicht einer semantischen Frage. 131 Nach dem bisher Gesagten liegt allerdings der Gedanke sehr nahe, dass die Identitätskriterien des Gehalts oder der Bedeutung eines Zeichens, wenn zwar nicht »lediglich«, so doch immerhin auch unter Rekurs auf die sinnlich-materiale Gestalt von Zeichen zu bestimmen sind: Wie wollte man etwa bestimmen, was ein Gemälde darstellt, ohne irgendwie auch darauf zu rekurrieren, wie es gemalt ist? Die Frage nach dem Zusammenhang von Zeichengestalt und Zeichengehalt ist offenkundig nach wie vor auf dem Tisch. Es ist nun bezeichnend für die Bedeutungs- und Symboltheorie des »schlechten« Cassirers, dass er diese naheliegende Frage nicht aufgreift. Überraschend geht er stattdessen dazu über, »Inhalte des Bewußtseins« (PhsFI, 30) und deren Bestimmtheit zu problematisieren. Im weiteren Verlauf des Abschnitts zum Begriff der Repräsentation behält er das bewusstseinstheoretische Vokabular dann auch konsequent bei und kehrt erst im darauffolgenden Abschnitt offiziell zur Zeichenproblematik zurück. Nun stellt sich aber die Frage nach einem Zusammenhang von Gestalt und Gehalt, von Material und Inhalt mit Blick auf Vorkommnisse des Bewusstseins nicht gleichermaßen: Was sollte es heißen, bei einem mentalen Ereignis, wie etwa der Vorstellung von einer »Tasse heißen Kaffees«, eine sinnlich-materiale Gestalt dieser Vorstellung von deren Inhalt unterscheiden zu wollen, wie dies bei konkreten Zeichengegenständen analytisch immer möglich ist? Inhalte des Bewusstseins sind gewissermaEs ist natürlich richtig, dass eine Antwort auf diese semantische Frage grundsätzlich auch einen zeichentheoretischen Ertrag abwirft: Insofern Zeichen wesentlich dadurch Zeichen sind, dass sie Bedeutung haben, trägt eine Explikation von Bedeutung auch zur Explikation von Zeichen bei. Ich werde im Folgenden aber zeigen, dass durch diese Verlagerung des theoretischen Interesses, weg von der Frage des Sinntragens hin zur Frage der Bestimmtheit von Bedeutung, dennoch eine Spezifik des Bedeutung-Habens von Zeichen aus dem Blick gerät. 131

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ßen nichts als Inhalt. 132 Die Problematik des Sinntragens ist hier nicht in Anschlag zu bringen. Inwiefern kann dann aber eine (in eine Diskussion des »Aufbau[s] des Bewußtseins« (PhsF, 25) gewendete) Diskussion des Repräsentationsbegriffs einen Beitrag zur Frage der Zeichenbedeutung liefern, wenn diese wiederum wesentlich mit dem Problem des Sinntragens verbunden ist? Ich meine, dass der für Cassirer offenbar unproblematische Wechsel ins bewusstseinstheoretische Register Symptom einer Ambivalenz seiner Symbolphilosophie ist. Diese Ambivalenz ergibt sich daraus, dass in der PhsF der Geist von SuF mit der sogenannten »symboltheoretischen Wende« der PhsF ringt. Einzelne Implikationen dieser Wende vertragen sich schlecht mit dem Versuch, an der formal-holistischen Explikation der Konstitution von (Zeichen)bedeutung festzuhalten, wie sie in SuF in Bezug auf Begriffe entwickelt wurde. Aber alles der Reihe nach: Ich werde diese Ambivalenz fürs Erste ausblenden und mich allein der anti-repräsentationalistischen Neufassung des Begriffs der Repräsentation widmen. Ich gehe dabei so vor, dass ich die Theoriefigur, die Cassirer interessiert, ungeachtet etwaiger Unterschiede zwischen Strukturen des Bewusstseins und solchen symbolischer Medien erläutere. Dass dies (bis zu einem bestimmten Punkt) tatsächlich möglich scheint, ist gerade Ausdruck der später dann zu diskutierenden Ambivalenz der PhsF. Zurück zum Zwischenergebnis: Die Neufassung des Begriffs der Repräsentation steht im Dienste einer Theorie der Konstitution des Gehalts oder der Bedeutung von Zeichen. Dass das eine treffende Bestimmung des theoretischen Ziels ist, das Cassirer mit der Neufassung des Repräsentationsbegriffs verfolgt, dafür spricht ganz einfach, dass auch der klassische Repräsentationalismus, gegen den Cassirer sich erklärtermaßen wendet 133, seinerseits eine Antwort auf ebendiese semantische Frage darstellt. Eine wirkmächtige Version dieses Repräsentationalismus findet sich in den sprachphilosophischen Arbeiten John Lockes 134 und kann als mentalistischer Repräsentationalismus bezeichnet werden. 135 Er besagt, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke von den Vorstellungen im Geiste eines Sprechers abgeleitet sind. Sprachliche Ausdrücke haben daEine andere Frage ist, wie wiederum die Vorstellungen einer »Tasse heißen Kaffees« mit der sinnlichen Empfindung einer solcher Tasse zusammenhängt. 133 Vgl. dazu den vierten Abschnitt der Einleitung des ersten Bandes der PhsF : »[Die ideelle Bedeutung des Zeichens. – Die Überwindung der Abbildtheorie]«, PhsFI, 39 ff. 134 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. II. 135 Peter Hacker spricht auch von einem »psychologischen Repräsentationalismus«, vgl. Peter M. S. Hacker: Zwei Auffassungen von Sprache, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 60/6, Berlin 2012, 843. 132

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durch Bedeutung, dass sie als Stellvertreter für die Inhalte eines Sprecherbewusstseins fungieren. Diese Inhalte bestehen wiederum für sich, d. h. unabhängig von ihrem nachträglichen sprachlichen Ausdruck. Genauer gesagt sind es Beziehungen zwischen einzelnen sprachunabhängig konstituierten Bewusstseinsinhalten und einzelnen sprachlichen Ausdrücken, die erklären sollen, worin die bestimmte Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks besteht. Die Bestimmtheit der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks wird durch die Bestimmtheit einer einzelnen Vorstellung im Geiste des Sprechers, für die der fragliche Ausdruck steht, festgelegt. Dieser »semantische Atomismus« 136 impliziert, dass einzelne Zeichen (sprachliche Ausdrücke) für sich verstanden werden können. Das Verstehen eines Zeichens ist nirgends auf das Verstehen anderer Zeichen verwiesen. Für Cassirers anti-repräsentationalistische Kritik ist indes nicht ausschlaggebend, dass diese Repräsentationsbeziehung zwischen Zeichen und Vorstellungen verläuft. Seine Kritik betrifft ebenso Konzeptionen, die solche Stellvertretungsbeziehungen zwischen Zeichen und Dingen in der Welt oder auch zwischen Vorstellungen und diesen Dingen annehmen. 137 Unter dem Stichwort »Begriffsrealismus« hatte er eine solche Konzeption in SuF bereits kritisiert. Unabhängig davon, wie man den klassischen sprachphilosophischen Repräsentationalismus, seine verschiedenen Spielarten und seine Adaptionen in Bezug auf nichtsprachliche symbolische Medien begründen und kritisieren kann, entscheidend für den Fortgang meiner Überlegungen ist Folgendes: Die bedeutungskonstitutiven Beziehungen werden stets als Beziehungen zwischen einzelnen Zeichen und einzelnen nicht-zeichenartigen Gegenständen oder Größen erläutert, wobei wiederum die Bestimmtheit der Zeichenbedeutung auf die Bestimmtheit 136

Vgl. dazu Georg W. Bertram: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg 2011,

62 f. Aristoteles vertritt bekanntermaßen eine Position, die diese beiden Überlegungen verbindet. Seine Position kann daher als doppelter Repräsentationalismus bezeichnet werden. Aristoteles zufolge hängt nämlich der Inhalt von Vorstellungen von den Beziehungen dieser Vorstellungen zu den Gegenständen der Welt ab und sind es wiederum solche Vorstellungsinhalte, die dann an die sprachlichen Ausdrücke weitergegeben werden. Vgl. Aristoteles: Peri hermeneias, übers. v. Hermann Weidemann, Boston /Berlin 2014, 16a: »Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme Symbole für das, was (beim Sprechen) unserer Seele widerfährt, und unsere schriftlichen Äußerungen sind wiederum Symbole für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. Und wie nicht alle Menschen mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen sie auch nicht alle dieselbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welche dieses (Gesprochene und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen Menschen dieselbe; und überdies sind auch schon die Dinge, von denen diese (seelischen Widerfahrnisse) Abbildung sind, für alle dieselben.« 137

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der nicht-zeichenartigen Gegenstände zurückgeführt wird. Zeichen oder symbolische Ausdrücke tragen damit weder zu ihrer eigenen Bedeutung und Bestimmtheit noch zur Bedeutung und Bestimmtheit der Gegenstände bei, die sie bezeichnen. Anders formuliert: Zeichen bedeuten nach repräsentationalistischer Auffassung weder auf eigene Weise noch leisten sie einen genuinen Beitrag dazu, dass, abgekürzt gesagt, die Welt, die Bedeutung hat, die sie eben für uns hat. Das Bedeutung-Haben der Zeichen ist dem Bedeutung-Haben der Welt und aller nicht-zeichenartigen Gegenstände, für die die Zeichen stehen, systematisch nachgeordnet. Symbolverstehen heißt, sozusagen nur noch einmal verstehen, was auch so schon verstanden werden kann, sprich: z. B. in Gedanken gedacht und in der Welt direkt festgestellt werden kann. Symbolische Medien leisten damit keinen produktiven Beitrag zum Bedeutungsgeschehen. Das Fehlen eines solchen Beitrags gründet in der fehlenden Eigenständigkeit des Bedeutens der Zeichen oder der symbolischen Ausdrücke. 138 Dagegen richtet Cassirer seine Neufassung des Repräsentationsbegriffs. Er will zeigen, dass Zeichen sehr wohl einen produktiven Beitrag leisten, sogar den alles entscheidenden Beitrag. Dafür muss die Uneigenständigkeit des Bedeutens von Zeichen überwunden werden. Und das wiederum ist möglich, indem man zeigt, dass die Bedeutung eines Zeichens wesentlich von den Beziehungen abhängt, die es zu anderen Zeichen unterhält. Die Neufassung des Begriffs der Repräsentation ist der Versuch, Zeichen-Zeichen-Beziehungen ein eigenes Gewicht zu geben und sie als bedeutungskonstitutive Beziehungen verständlich zu machen. Cassirer verleiht diesem Grundgedanken, wie gesagt, zunächst in einem bewusstseinstheoretischen Vokabular Ausdruck: »Jede ›einfache‹ Qualität des Bewusstseins hat nur insofern einen bestimmten Gehalt, als sie zugleich in durchgängiger Einheit mit anderen Es sind insbesondere Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt gewesen, die diese Sprach- oder Zeichenvergessenheit der Philosophie wirkmächtig kritisierten. Vgl. dazu u. a. Gottfried Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken. Frankfurt /M. 1981, bes. 19–83 und Tilman Borsche: Wilhelm v. Humboldt, München 1990 – und die sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Ideen Humboldts, allen voran die Idee, dass »die Sprache das bildende Organ des Gedankens« sei (vgl. Wilhelm. v. Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, 1836, AA VII /153), hat maßgeblich auf Cassirer gewirkt; vgl. dazu: Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ders.: Schriften (Anm. 8), 70: »das Lautzeichen ist nicht der bloße Abdruck solcher Unterschiede, die im Bewußtsein schon bestehen, sondern ein Mittel und eine Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellungen selbst. Die Artikulation des Lautes spricht nicht nur die fertige Artikulation des Gedankens aus, sondern bereitet ihr selbst erst den Weg.« 138

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und in durchgängiger Sonderung gegen andere erfaßt wird. Die Funktion dieser Einheit und dieser Sonderung ist von dem Inhalte des Bewußtseins nicht ablösbar, sondern stellt eine seiner wesentlichen Bedingungen dar. Es gibt demnach kein ›Etwas‹ im Bewußtsein, ohne daß damit eo ipso und ohne weitere Vermittlung ein ›Anderes‹ und eine Reihe von anderen gesetzt würde. Denn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit, daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser R epräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und › Präsenz‹ des Inhalts nennen.« (PhsFI, 30 f.)

An anderer Stelle heißt es knapper, dass »in ihm [dem Bewusstsein] kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird« (ebd., 29). 139 Was Cassirer hier skizziert, lässt sich als eine »differentiell organisiert[e] [Systemordnung]« 140 bezeichnen. Ein System wiederum ist »eine Menge von Elementen, die zueinander wechselseitig in Beziehungen stehen derart, dass die Identität jedes Elements durch seine Beziehung zu anderen Elementen des Systems bestimmt ist« 141. Eine Vorstellung, ein sprachlicher Ausdruck, eine Note und dergleichen sind nur »etwas«, d. h. bestimmt, insofern und insoweit sie Elemente eines solchen Systems sind. Dieser Gedanke war schon in SuF leitend. Dort hieß es, dass z. B. Zahlen einen Wert nur als Elemente einer funktional geordneten Reihe von Zahlen haben, z. B. als Elemente der Reihe der natürlichen Zahlen. Der Wert einer einzelnen Zahl bezeichnet sozusagen die Stelle, die die Zahl innerhalb einer funktional geordneten Reihe von Zahlen einnimmt. Der Begriff der Reihe ist so gesehen der Proto-Begriff eines Systems oder einer Systemordnung. Reihen und Systeme lassen sich wiederum dahingehend spezifizieren, wie sie die Beziehungen zwischen ihren Elementen regeln oder wie die wechselseitigen Beziehungen ihrer Elemente ausfallen. Die Reihe der natürlichen Zahlen legt eine andere Abfolge ihrer Elemente fest als die Reihe der reellen Zahlen. Eine ungleich allgemeinere Spezifizierung wird vorgenommen, indem man Systeme als »differentiell organisiert« bezeichnet. Cassirers wiederkehrendes Beispiel ist die Vorstellung eines Jetzt-Zeitpunktes, die nur in Bezug auf die Vorstellungen eines »Früher und Später« als solche bestimmt ist. »Die einzelne Stelle [im »zeitlichen Fortgang«] ist nicht vor dem Stellensystem, sondern nur im Hinblick auf dasselbe und in korrelativer Beziehung zu ihm gegeben.« (PhsFI, 34). 140 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 232. 141 Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 138. 139

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Es wird dann behauptet, dass die elementebestimmenden Beziehungen innerhalb dieses Systems solche des Unterschieds sind. Anders gesagt: Die Elemente eines differentiell organisierten Systems sind das, was sie sind, dadurch, dass sie sich von anderen Elementen des Systems unterscheiden: »Was ein geistiges Vorkommnis nicht ist in Abgrenzung zu allen anderen im Gesamtzusammenhang: genau das macht seinen Inhalt aus.« 142 In der PhsF ist in ebendiesem Sinne von der »durchgängigen Sonderung« aller Elemente des Systems die Rede. Mit der Rede von einem differentiell organisierten System wird allerdings lediglich ein Typ von Beziehungen bezeichnet. Die Frage, worin die Differenzen bestehen oder wie sie im Einzelnen ausfallen, ist damit noch nicht beantwortet. In der Diskussion des Begriffs der Reihen- oder Funktionsbegriffe von SuF hatte sich gezeigt, dass Cassirer arge Probleme damit hat, verständlich zu machen, wie die Beziehungen in Systemen bestimmt sind. Cassirer hatte vergeblich versucht, funktionale Beziehungen, die z. B. die Abfolge von Elementen einer Reihe bestimmen, auf ein Gefüge von Axiomen zurückzuführen, die sich strikt wechselseitig bestimmen sollten. Einen vergleichbaren Gedanken verfolgt er auch mit Blick auf die differentiell organisierte Systemordnung des Bewusstseins. Das »Maß« der Differenzen oder die »Abstände«, die zwischen verschiedenen Elementen des Systems bestehen und die die Bedeutung einzelner Elemente des Systems bestimmen, sollen aus dem System selbst heraus bestimmt sein. Kreis spricht daher ganz richtig von einem »In-Sich-Differenziertsein« 143 des Systems oder von einer »systematische[n] Ausdifferenzierung aller Elemente«. 144 Der Systemgedanke, wie er von Cassirer zunächst mit Blick auf die Individuierung von Inhalten des Bewusstseins (und, wie ich gleich noch zeigen werde, auch mit Blick auf Sprache) formuliert wird, erfährt dadurch dieselbe formal-holistische Zuspitzung, die bereits aus der Diskussion des Begriffs der impliziten Definition bekannt ist. »Die systemtheoretische Figur der holistisch-differentiellen Ausdifferenzierung repräsentationaler Gehalte« 145 besagt nämlich im Kern nichts anderes, als dass die Bestimmtheit der Elemente eines Systems allein von den wechselseitigen Beziehungen der Elemente des Systems abhängt. Damit wird ausgeschlossen, dass die Bestimmtheit der elementbestimmenden Beziehungen durch etwas anderes bestimmt ist als durch die systematischen Wirkungen, die die Elemente des Systems innerhalb des Systems aufeinander ausüben. Kein 142 143 144 145

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 240. Ebd., 233. Ebd., 239. Ebd., 251.

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Element ist durch Beziehungen zu Gegenständen bestimmt, die außerhalb des vom System aufgespannten Netzes an Beziehungen stehen. Das System ist nach außen abgeschlossen. Darin besteht für Cassirer die Eigenständigkeit des Systems und ergo die Eigenständigkeit des Bedeutens der Elemente dieses Systems. Man könnte auch sagen: Cassirers Systembegriff ist der Begriff eines sich-selbst-bestimmenden oder sich-selbst-tragenden Systems. Dass Cassirer in der PhsF tatsächlich an dieser formal-holistischen Figur festhält, lässt sich auch noch einmal direkt anhand seiner Neufassung des Repräsentationsbegriffs verdeutlichen. Er schreibt, dass Repräsentation, die »Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes [Bewußtseinselement, CK] ist« (PhsFI, 33). Die Relation der Repräsentation wird damit als eine Relation zwischen gleichartigen Elementen gedeutet. Eine Vorstellung repräsentiert und hat damit Bedeutung gerade nicht, weil sie für einen Gegenstand in der Welt steht und analog repräsentiert ein sprachlicher Ausdruck gerade nicht, weil er z. B. für eine Vorstellung im Geiste eines Sprechers steht, sondern beide repräsentieren nur, insofern sie auf andere Vorstellungen einerseits oder auf andere sprachliche Zeichen andererseits bezogen sind, für die dasselbe gilt. Genau das macht die anti-repräsentationalistische Pointe der Neufassung des Begriffs der Repräsentation aus. Cassirer kappt die Beziehungen zwischen Zeichen und nicht-zeichenartigen Gegenständen und ersetzt sie durch Zeichen-Zeichen-Beziehungen. Damit kommt es aber nur von Neuem zu dem Problem, dass gewissermaßen gehaltlose Zeichen mit anderen gehaltlosen Zeichen in Beziehung gesetzt werden, ohne dass erkennbar würde, wodurch die gehaltbestimmenden Beziehungen zwischen den Zeichen bestimmt sind. Die anti-repräsentationalistische Pointe erweist sich damit im Kern als eine formal-holistische Pointe, die damit ebenfalls das Bestimmtheitsdefizit heraufbeschwört. Wie angekündigt, werde ich hier aber nicht weiter über dieses Problem nachdenken. Stattdessen soll gewürdigt werden, dass mit Cassirers antirepräsentationalistischem Impuls eine echte Einsicht verbunden ist. Diese Einsicht kann man so formulieren: Symbolverstehen ist struktural verfasst, oder: Die Bedeutung symbolischer Ausdrücke ist struktural konstituiert. Ein einzelner symbolischer Ausdruck oder ein einzelnes Zeichen kann nicht als einzelnes verstanden werden, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Zeichen. Dieser Zusammenhang lässt sich in Begriffen der Struktur beschreiben. Das soll im Folgenden mit einigen Beispielen untermauert werden. Dabei zeigt sich, dass dieses strukturale Moment im Verstehen oder in der Konstitution von Bedeutung keineswegs nur in Begriffen der Differenz expliziert werden kann. Bedeutungskonstitutive Beziehungen

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zwischen Zeichen müssen nicht solche des Unterschieds sein. Cassirer liefert hierfür selbst das erste Beispiel, so schreibt er mit Blick auf Sprache: »der Prozeß des Sprechens besteht nicht lediglich darin, daß [. . . ] neue Einzelbedeutungen gewonnen werden, sondern daß diese letzteren untereinander in Beziehung treten und sich gegenseitig bestimmen. Jeder prädikative Satz ist der Ansatz zu einer solchen Bestimmung. In ihm wird das Subjekt auf das Prädikat wie dieses auf jenes bezogen und das eine durch das andere determiniert. Der Einzelbegriff empfängt seinen vollständigen Sinn erst durch diese niemals abbrechende Arbeit der Determination. Die unabsehbar mannig faltigen Verflechtungen, die er im Ganzen der Rede eingeht, geben ihm erst seinen Gehalt und seine Gestalt.« (PhsFIII, 386; kursiv, CK)

Auf den ersten Blick scheint der Leitbegriff, der die wechselseitigen Beziehungen von Sprachzeichen kennzeichnet, der Begriff der Determination zu sein. Nun besagt ›determinieren‹ aber schlicht dasselbe wie die Ausdrücke ›bestimmen‹ oder ›begrenzen‹. Aber auch differentielle Beziehungen sind in diesem Sinne bestimmende Beziehungen. Wo liegt der Unterschied? Die Pointe liegt an einer anderen Stelle. Sie verbirgt sich hinter der Formulierung, dass sprachliche Ausdrücke »mannigfaltige Verflechtungen eingehen.« Man kann das als einen Hinweis auf den Gedanken einer inferentiellen Organisation des Systems der Sprache verstehen. 146 Die bedeutungskonstitutiven Beziehungen von sprachlichen Ausdrücken sind demnach nicht solche des Unterschieds, sondern logische Folgerungsbeziehungen. Was das heißt, kann man sich ganz grob am Beispiel der Prädikation verdeutlichen, das Cassirer selbst erwähnt: Wir können das Prädikat ›. . . ist ein Tier‹ mit dem logischen Subjekt ›Hund‹, nicht aber mit dem logischen Subjekt ›Auto‹ verbinden. Autos sind keine Tiere. Ausdrücke wie ›Auto‹ und ›Hund‹ gehen damit innerhalb der Sprache verschiedene »Verflechtungen« ein. Aus dem Satz ›Dort läuft ein Hund‹ können wir deshalb folgern, dass dort ein Tier läuft, während wir aus dem Satz ›Er hat sein Auto lackiert‹ folgern können, dass er jedenfalls kein Tier lackiert hat usw. Sprachliche Ausdrücke sind so betrachtet dadurch bestimmt, dass man im Rahmen einer Sprache aus ihnen dieses oder jenes folgern kann, oder dass sie auf bestimmte Weise zu weiteren Ausdrücken führen. Unabhängig davon, wie man solche Folgerungsbeziehungen genauer erläutern müsste, scheint es ein zutiefst plausibler Gedanke zu sein, dass Ganz in diesem Sinne behauptet Kreis, dass »Cassirers Theorie [der Sprache, CK] eine Fortsetzung im Programm der inferentiellen Semantik« eines Wilfrid Sellars oder eines Robert B. Brandoms gefunden hat, vgl. Kreis: Cassirer (Anm. 7), 244. 146

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das Verstehen eines sprachlichen Zeichens, etwa eines Satzes, der etwas behauptet, mit dem Verstehen vieler anderer sprachlicher Zeichen zusammenhängt: Dass Hunde Katzen jagen und Autos Hunde und Katzen überfahren, selten aber umgekehrt, muss verstehen, wer die Bedeutung der Ausdrücke ›Hund‹ oder ›Auto‹ überhaupt verstehen will. Ein kompetenter Sprecher einer Sprache ist demnach derjenige, der sich innerhalb des Systems logischer Folgerungsbeziehungen, das die Sprache aufspannt, richtig »bewegen« kann. Etwas Verstehen meint dann ganz allgemein gesprochen immer, etwas von etwas anderem her oder in Bezug auf etwas anderes verstehen. Bestimmt ist ein Zeichen nur, wenn auch viele andere Zeichen bestimmt sind. Ist die Bestimmtheit eines Zeichens nicht durch die Bestimmtheit anderer Zeichen begrenzt, kontrastiert oder durch die Beziehungen zu diesen Zeichen in bestimmter Weise festgelegt, verliert die Rede von Bestimmtheit letztlich ihren Sinn, weil sie ufer- und konturlos wird, sich nicht absetzen lässt etc. 147 Verstanden sein muss immer schon vieles, damit überhaupt etwas verstanden werden kann; oder salopp gesagt: Eine Bedeutung kommt selten allein. Das scheint mir die grundsätzliche bedeutungstheoretische Lehre der PhsF zu sein. Vergleichbares lässt sich auch mit Blick auf andere symbolische Medien sagen. Musik scheint ein besonders schlagendes Beispiel zu sein: Einen C-Dur-Akkord hört sicher nur, wer auch E-Dur-Akkorde und andere Drei-Klänge zu hören vermag. Zwar hört auch der in dieser Hinsicht Unkundige etwas, aber sicher keinen C-Dur-Akkord als einen solchen, vielleicht nicht einmal eine sich in besonderer Weise abhebende Klanggestalt. Auch ein einzelner Ton erhält seinen musikalischen »Wert« erst im Rahmen einer Melodie, die eine Verbindung verschiedener Töne darstellt oder ist als der Ton, der er ist, nur in Bezug auf ein tonales System vieler anderer Töne bestimmt, für die dasselbe gilt. In der theoretischen Auseinandersetzung mit der Malerei ist ganz analog darauf hingewiesen worden, Ein ähnlicher Gedanke trägt Cassirers Polemik gegen die Lebensphilosophie seiner Zeit, die den Begriff des »élan vital« gegen die Begriffe der Bestimmtheit, der Form, der begrifflichen Diskretion etc. ausspielt, vgl. PhsFIII, 40 ff. und ebd., 46: »Sie [insb. die Lebensphilosophie Henri Bergsons, CK] glaubt, daß der atcus purus, daß die Energie der reinen Lebensbewegung sich dort am vollkommensten zeige müsse, wo diese Bewegung noch ganz sich selbst überlassen ist, wo ihr noch keinerlei Widerstand an einer Welt der Formen erwächst – und sie vergißt darüber, daß dieser Widerstand ein Moment und eine Bedingung ebendieser Bewegung selbst ist.« Die Beziehungen, die verschiedene Elemente eines Systems zueinander unterhalten, kann man ja durchaus auch als Beziehungen des Widerstandes verstehen derart, dass die Elemente sich wechselseitig hemmen und dadurch erst Identität verschaffen: Ein Wort bedeutet erst etwas Bestimmtes, wenn es in seiner Reichweite, durch andere Worte gehemmt wird. 147

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dass der »Farbwert« einer Fläche durch die Farben der umliegenden Flächen mitbestimmt wird. Auch wenn wir es, wie im Falle der Melodie, bei Bildern oft mit komplexen, in-sich-strukturierten Zeichen zu tun haben, deren Binnenbeziehungen einzelner Elemente mitunter eben nicht über dieses einzelne Zeichenvorkommnis hinaus Bestand haben, zeigen auch diese Fälle, dass es im Verstehen von Zeichen strukturale Beziehungen zu beachten gilt. 148 Ich will es vorerst bei diesen wenigen Andeutungen belassen. Im Laufe der Arbeit wird es weitere Gelegenheit geben, den Gedanken einer strukturalen Konstitution der Bedeutung symbolischer Medien zu vertiefen. Stattdessen möchte ich kurz eine weitere Implikation dieses theoretischen Manövers hin zu den Zeichen-Zeichen-Beziehungen reflektieren: Die strukturale Verfasstheit unseres Symbol- oder Zeichenverstehens kann nämlich in aufschlussreicher Weise begründen, warum physisch und physikalisch reduktive Explikationen von Symbol- oder Zeichenverstehen nicht greifen. Das Argument geht wie folgt: Wenn unser Symbolverstehen wesentlich struktural verfasst ist, d. h., wenn ich einen einzelnen symbolischen Ausdruck oder ein einzelnes Zeichen nur verstehe, insofern ich es mit vielen anderen Zeichen in Beziehung setze, dann kann ein Rekurs auf die physische Gestalt oder die physikalischen Eigenschaften eines einzelnen Zeichens dessen Gehalt nicht erklären, weil die Beziehungen zwischen vielen verschiedenen Zeichen nicht Bestandteil eines einzelnen Zeichens sind. Diesen Grundgedanken kann man auf zwei Weisen ergänzen: Zum einen gilt ja offenkundig auch, dass die bedeutungskonstitutiven Beziehungen zwischen Zeichen mitunter überhaupt nicht anschaulicher Natur sind: Logisch-inferentielle Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken lassen sich z. B. nicht so beobachten, wie ich das Kabel beobachten kann, das meinen Fernseher mit der Antennendose verbindet. Zum anderen kann man auch sagen, dass mein Verstehen eines präsenten Zeichens stets von Abwesenheit geprägt ist derart, dass die Bilder, Musikstücke, Tänze und dergleichen, die mein aktuales Wahrnehmen eines ZeiDoch muss man sich komplexe, bildliche Zeichen nicht als geschlossene Systeme vorstellen: Es macht meines Erachtens durchaus Sinn, von so etwas wie einem »Alphabet« auch piktoraler Formen zu sprechen. Dass sich für mich auf einem Bild ein Gesicht abzeichnet, hängt auch damit zusammen, dass und wie ich auf anderen Bildern Nasenkonturen, flächige Hautpartien usw. zu sehen und zu unterscheiden gelernt habe. Es bildet sich durchaus so etwas, wie ein mehr oder minder festes Repertoire von Formen heraus, die in unterschiedlichen Seh-Kontexten ähnliche Wirkungen entfalten. Zu dieser Debatte vgl. u. a. Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildhafter Darstellungsformen, hg. v. Klaus Sachs-Hombach, Klaus Rehkämper, Magdeburg 1999. 148

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chens prägen und die ja prinzipiell selbst sichtbar, hörbar, leiblich-fühlbar und dergleichen sind, es aktual aber eben nicht sind. Eine verstehende Auseinandersetzung z. B. mit einem Bild, das ich betrachte, ist, wenn die These von der strukturalen Verfasstheit des Symbolverstehens triftig ist, z. B. von vergangenen Auseinandersetzungen mit anderen Bildern geprägt. Ich erkenne z. B. eine von einer breiten (mit Tannen umkränzten) Basis nach oben gleichmäßig spitzzulaufende Form als eine witzige pyramidenartige Bergdarstellung nur in dem Maße, wie ich zuvor Ansichten der berühmten Pharaonengräber als solche zu sehen gelernt habe. Doch klarerweise muss ich keine Ansichten von Gizeh mit mir herumtragen, um sie um dieses Anspielungseffektes willen neben das Bergpanorama zu halten, nicht einmal in der Einbildung. Abwesende Zeichen sind per definitionem nicht Bestandteil der physisch wahrnehmbaren Gestalt (oder der physikalisch beschreibbaren Eigenschaften) eines Zeichens mit dem ich konfrontiert bin. Also kann die Wahrnehmung (oder die physikalische Beschreibung) des Zeichengegenstandes seine Bedeutung nicht erklären. Aber erklärt denn die Wahrnehmung gar nichts? Hat z. B. die Unterscheidung zwischen bildlichen, sprachlichen, musikalischen Zeichen, »die Bereichseinteilung«, wie Kreis schreibt, oder die Unterscheidung zwischen verschiedenen Dur-Drei-Klängen oder zwischen impressionistischer und expressionistischer Malerei tatsächlich »nichts mit der materiellen Basis der Ausdrucksgestalten zu tun«? 149 Lässt sich die Konstitution der Bedeutung symbolischer Medien unabhängig von der sinnlichwahrnehmbaren Gestalt von Zeichen allein als »Resultat einer intellektuellen Leistung« 150 erklären? Ich erinnere noch einmal an die oben gestellte Frage: Lässt sich bestimmen, was ein Bild zeigt, ganz unabhängig davon, wie es aussieht? Bevor ich zu diesen Fragen komme, will ich, wie angekündigt, kurz noch zeigen, inwiefern sich die PhsF auch das Problem der fehlenden empirischen Bestimmtheit oder das Formalismus-Problem einhandelt. 151

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 140. Ebd., 142. 151 Das Formalismus-Problem und die Frage der sinnlich-materialen Dimension des Zeichenverstehens hängen wiederum insofern zusammen, als ein angemessenes Verständnis dieser Dimension eine Überwindung des Formalismus voraussetzt. Die Kritik des folgenden Abschnittes leitet so gesehen den letzten Abschnitt des ersten Kapitels ein. 149 150

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1.4.2 Objektivität ohne Wirklichkeit Die strukturale Explikation von Zeichenbedeutung hat eine entscheidende Frage bisher völlig offengelassen: Wie hängt unser Zeichen- oder Symbolverstehen mit unserem Weltverstehen zusammen? Cassirers Rekurs auf symbolische Medien erfolgte ja ursprünglich um einer Explikation unseres verstehenden Weltverhältnisses willen. Die Explikation der strukturalen Verfasstheit symbolischer Medien war der erste Schritt auf dem Weg der Erklärung, wie es eigentlich kommt, dass wir auch die Welt als einen gegliederten oder strukturierten Zusammenhang erfahren können. Über diesen Schritt sind wir bisher nicht hinausgelangt. Nun ist es sicher richtig, dass auch Zeichengegenstände zum Inventar der Welt gehören und dass man, wenn man ein Zeichen versteht, damit immer auch ein »Stück Welt« versteht. Doch »ein Gemälde, ein[en] Stadtplan oder ein[en] Reiseführer von Rom« zu verstehen, »heißt normalerweise nicht, daß ich [dadurch] das Gemälde, den Stadtplan oder den Reiseführer kennenlerne, sondern Rom.« 152 Und auch dann, wenn es mir in meinem Verstehen ganz entscheidend darauf ankommt, die spezifische Verfasstheit von Zeichengegenständen selbst zu erfahren – die Auseinandersetzung mit ästhetischen Gegenständen wird ja immer wieder so erläutert – ist es sicher sinnvoll, z. B. auch Gemälde nicht nur als »interessante Flächen«, die um ihrer selbst willen »an Wänden herumhängen« zu beschreiben, sondern zu versuchen, verständlich zu machen, inwiefern auch Zeichengegenstände, die in besonderem Maße in ihrer Eigenverfasstheit verstanden werden müssen, z. B. »Modell[e] für verschiedene Arten, die Welt zu erleben« 153, sind. In diesem Sinne ist auch Cassirer darum bemüht, unser Symbolverstehen im Hinblick auf unser Weltverhältnis zu erläutern. Symbolische Medien interessieren ihn wesentlich als »Formen der Wirklichkeitserschließung.« 154 Vor diesem Hintergrund kann es einen durchaus stutzig machen, dass die Erläuterungen bisher ohne einen Rekurs auf die Welt ausgekommen sind. Man kann das Problem auch so darstellen: Nicht, was die symbolischen Medien für das Weltverstehen leisten, sondern was die Welt für das Verstehen symbolischer Medien leistet, steht infrage. Zwar soll ich, wenn ich einen Aussagesatz, eine Bühnenhandlung, eine Satellitenaufnahme verstehe, immer auch etwas über die Welt verstehen, über die gesprochen wird, in der Theater gespielt wird oder die aus dem All photographiert 152 153 154

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 192. Vilém Flusser: Kommunikologie, Mannheim 1996, 112 f. Vgl. dazu Kreis: Cassirer (Anm. 7), 201 ff.

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wird, aber kann die anti-repräsentationalistische Bedeutungstheorie der PhsF diesen Zusammenhang erklären? Es ist ja gerade die Pointe einer formal-holistischen Explikation, dass sie die »vertikalen« Zeichen-WeltBeziehungen kappt, um die »horizontalen« Zeichen-Zeichen-Beziehungen als die allein bedeutungskonstituierenden Beziehungen in den Blick zu nehmen. Wenn sich die Bedeutung von Zeichen aber weltunabhängig konstituiert, inwiefern verstehe ich, wenn ich diese Bedeutung verstehe, zugleich auch die Welt? Wodurch schlägt das Symbolverstehen in ein Weltverstehen um? Wie finde ich, aus den Zeichen-Zeichen-Bezügen heraus zur Welt? Guido Kreis formuliert diese Frage als Frage nach der Wirklichkeit der Bedeutung oder des semantischen Gehalts von Zeichen, und grenzt diese Frage von der Frage der Objektivität der Bedeutung ab. Objektivität und Wirklichkeit von Bedeutung fallen für ihn ausdrücklich nicht zusammen. Diese durchaus gewöhnungsbedürftige Unterscheidung folgt im Grunde nur der zweistufigen 155 Anlage der Symbol- oder Bedeutungstheorie der PhsF : Nachdem zunächst der Weltbezug symbolischer Medien aus der Explikation der Konstitution von Bedeutung gestrichen wird, muss die Welt nun irgendwie wieder in Kontakt mit unseren innerbegrifflich oder medienimmanenten Verständnissen gebracht werden. Die Frage nach der Wirklichkeit von Bedeutung ist eine Frage nach der Wirklichkeit von »Inhalte[n] [. . . ], die sich die Begriffe [oder: symbolische Medien] unabhängig von der Welt selbst geben.« 156 Damit wiederholt sich in der PhsF eine Idee, die bereits im Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen Begriffen in SuF auftauchte: Implizit definierten Begriffen sollten im Rahmen von Experimenten Wirklichkeitsausschnitte zugewiesen werden. Ich habe diesbezüglich von einem Wirklichkeitstest 157 für Begriffe gesprochen. Ich werde zeigen, dass die PhsF vor ganz analogen Problemen wie SuF steht und letztlich eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von Symbolverstehen und Weltverstehen schuldig bleibt. Meine Argumentation werde ich eng entlang der Überlegungen entfalten, die Kreis diesbezüglich vorbringt. 155 Vgl. ebd., 194: »Mit dem Ausdruck ›Bedeutung‹ ist dabei die intensionale Dimension der Ausdrucksgestalten bezeichnet, ihr Inhalt. Nach der extensionalen Dimension, der Referenz kann in Cassirers semantischer Objektivitätstheorie erst im zweiten Schritt gefragt werden.« 156 Ebd., 242. 157 Kreis spricht in Bezug auf die PhsF ganz analog davon, dass »der Geist ein kreativer und konstruktiver Zusammenhang [ist], der seine Inhalte selbstständig ausbildet und sie erst als Ensemble einem indirekten Test an der Wirklichkeit unterwirft.«, vgl. ebd., 256.

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Kreis' oder vielleicht besser: »Krassirers« Überlegungen gehen wie folgt: (1) Ein Zeichen hat eine bestimmte Bedeutung, wenn es nach bestimmten Regeln oder nach den Vorgaben einer bestimmten Grammatik symbolischer Medien gebildet wurde: »Die Normativität einer Ausdrucksgestalt ist [. . . ] dafür verantwortlich, was der Inhalt dieser Gestalt ist. [. . . ] Was der Inhalt einer Gestalt ist, kann nur mit denjenigen bestimmten Regeln zu tun haben, nach denen die materiellen Momente dieser Gestalt [lies: das Lautmaterial, aus dem ein Satz gebildet wird, die Farben, die auf eine Leinwand aufgetragen werden etc., CK] organisiert worden sind.« 158 Ohne auf die zusätzlichen Fragen eingehen zu können, die diese normativistische Lektüre der PhsF aufwirft, kann man hier doch grundsätzlich die Idee wiedererkennen, dass Zeichen Bedeutung wesentlich aus ihrem Zusammenhang mit anderen Zeichen heraus gewinnen sollen. (2) Der Inhalt oder die Bedeutung eines regelkonform gebildeten Zeichengegenstandes ist in Kreis' Terminologie ein objektiver Inhalt. 159 (3) Ein objektiver Inhalt soll nun überdies ein Inhalt sein, der auf etwas in der Wirklichkeit bezogen ist, das entweder besteht oder nicht besteht. Der objektive Inhalt ist ein bestimmter Inhalt, also etwa ein Satz, der dieses oder jenes behauptet, oder ein Bild, das dieses oder jenes darstellt; d. h., ich kann ihn problemlos verstehen; aber für das Verstehen des Satzes oder des Bildes spielt ein Bezug auf die Welt noch keine Rolle. Ich kann alle möglichen Zeichenbedeutungen verstehen, die Beschaffenheiten der Welt spielen für dieses Verstehen keine Rolle. Die Welt kommt erst ins Spiel, wenn ich wissen will, ob ein objektiver Inhalt in Wirklichkeit besteht oder nicht besteht. Obwohl das Verstehen weltunabhängig funktioniert, ist laut Kreis mit den objektiven Inhalten der Anspruch verbunden, dass sie etwas in Bezug auf die Welt zu verstehen geben. Wir reden nicht einfach so vor uns hin, sondern wollen anderen zu verstehen geben, dass es sich so und so verhält mit der Wirklichkeit oder Welt. Wir zeigen anderen Urlaubsphotos, weil wir wollen, dass sie sehen, was wir dort gesehen haben

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 196. Ich kann an dieser Stelle übergehen, dass Kreis die Normativität und Objektivität von Bedeutung wiederum an eine intersubjektive Praxis zurückbindet, in der diese Normen etabliert und anerkannt sein müssen. Sein Rekurs auf die soziale Gemeinschaft hilft in Bezug auf das hier interessierende Problem, wie Medien und Welt zusammenhängen, nicht weiter, weil bei Kreis unerklärt bleibt, wie oder ob Mitglieder dieser Gemeinschaft sich bei der Festlegung von Normen des symbolischen Ausdrucks auch an der Welt oder Wirklichkeit orientieren. Was auch immer die Gemeinschaft gemeinsam festlegt, scheint jedenfalls prima facie weltunabhängig festgelegt zu werden. Objektiv heißt dann nur intersubjektiv anerkannt. 158 159

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etc.: »Objektiven Inhalten ist es [. . . ] wesentlich, einen Wirklichkeitsbezug zu haben.« 160 Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Woher wissen wir, welche Zeichen den Anspruch, uns die Welt zu verstehen zu geben, einlösen und welche nicht? Der Inhalt eines Zeichens allein verrät uns dies nicht, denn als allein durch ihren wechselseitigen Bezug bestimmte sind ja alle Zeichen erst einmal gleich gut geeignete Kandidaten. Gesucht wird also ein »Wirklichkeitskriterium« 161, das es uns erlaubt, Zeichen mit wirklichen Inhalten aus der Menge der Zeichen mit objektiven Inhalten auszusondern. Und so lautet der Vorschlag von Kreis: Wirklich sind jene Bedeutungen oder jene objektiven Inhalte, die sich »weitgehend kohärent und konsistent in den Gesamtzusammenhang aller anderen geistigen Vorkommnisse einordnen« 162 lassen: »Für die Inhalte der Ausdrucksgestalten kann [. . . ] das gesuchte Kriterium ihrer Wirklichkeit an ihrem wechselseitigen Zusammenhang aufgewiesen werden: Der Inhalt einer Ausdrucksgestalt, die derart organisiert ist, daß anhand der Organisationsregeln ein lückenloser und zusammenstimmender Übergang zu allen weiteren Ausdrucksgestalten derselben Art und deren Inhalten möglich ist, stellt etwas dar, das in der Wirklichkeit besteht; der Inhalt einer Ausdrucksgestalt, bei dem dieser regelgeleitete Übergang nicht oder nur auf nicht zusammenstimmende Weise möglich ist, stellt etwas dar, das in der Wirklichkeit nicht besteht und das vielmehr bloße Einbildung oder Täuschung ist.« 163

Sofort stellt sich natürlich die Frage, wie der Inhalt von Zeichen sich überhaupt je nicht kohärent und vor allem nicht konsistent in den Zeichenzusammenhang einfügen können sollte, wo doch Zeichenbedeutung wesentlich holistisch konstituiert ist. Wenn Zeichen ihren Inhalt wesentlich den wechselseitigen Beziehungen verdanken, die sie im Rahmen eines z. B. »in-sich-differenzierten Systems« 164 zueinander unterhalten, ist dann nicht mindestens die Kohärenz dieser Zeichen vorausgeS. o., 196. Ich gehe nicht weiter auf die Frage ein, woher dieser Bezug und Anspruch genau stammen soll. Es scheint mir allerdings ziemlich rätselhaft, dass dieser Anspruch wesentlich für Zeichen sein soll, wo doch der Clou der anti-repräsentationalistischen Bedeutungstheorie gerade darin besteht, Fragen nach einem Weltbezug von Zeichen zunächst auszuklammern, der Weltbezug für den Gehalt also gerade unwesentlich sein muss. 161 Ebd., 198. 162 Ebd., 253. 163 Ebd., 198; kursiv, CK. 164 Das waren Kreis' eigene Worte, vgl. ebd., 233. 160

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setzt? Und kann Inkonsistenz auf der Ebene des »wechselseitigen Zusammenhangs« tatsächlich zum Problem werden oder zum Kriterium einer zusätzlichen Qualifizierung von objektiven Inhalten als wirkliche oder nicht-wirkliche? Stellen wir uns ein differentielles, holistisches System vor: Ein Inhalt A ist in diesem System das, was er ist, weil er nicht B ist, nicht C usw. A-Sein schließt B-Sein, C-Sein usw. aus und in solchen ausschließenden Beziehungen gründet die Identität der Inhalte eines differentiellen Systems. Aber damit ist doch die Inkonsistenz, das Sich-Ausschließen der Inhalte dieses Systems gerade das strukturierende oder das Inhalt generierende Prinzip dieses Systems. Wie soll dann die Inkonsistenz der Elemente über Wirklichkeit oder Nicht-Wirklichkeit der Inhalte der Elemente dieses Systems entscheiden? Alle Elemente haben doch erst einen Inhalt, weil sie inkonsistent miteinander sind. Es ist unverständlich, wie auf dieser Ebene, Inkonsistenz oder »ausschließende Unverträglichkeit« 165 der Inhalte mehr erklären können soll als die Konstitution objektiver Gehalte. Die Schwierigkeiten, das genannte Wirklichkeits-Kriterium auf der Ebene des strukturalen Zusammenhangs der Zeichen selbst zu veranschlagen, zeigt meines Erachtens, dass sich die Frage der Wirklichkeit oder des Weltbezugs von Zeichen von Innerhalb der Zeichen-Zeichen-Beziehungen überhaupt nicht sinnvoll klären lässt. Wer sich einmal in ein formal-holistisches System eingeschlossen hat, findet im Binnenraum dieses Systems keinen Anhaltspunkt für einen Welt- oder Außenbezug dieses Systems oder irgendeines seiner Elemente. Zwei weitere Einwände kann man geltend machen. Einen ersten Einwand kann man wie folgt formulieren: Man versteht durchaus, was es heißen soll, dass sich sprachliche Aussagen oder mathematische Urteile konsistent oder widerspruchsfrei zu Aussagen und Urteilen verhalten; oder dass eine Aussage sich irgendwie gar nicht zu anderen Aussagen fügt, zusammenhanglos geäußert wird etc. Man versteht sogar, was es heißen soll, dass es in diesem Sinne praktische Widersprüche des Handelns 166 geben kann. Inwiefern aber können Gemälde, Musikstücke, Tanzperformances inkonsistent oder inkohärent zu anderen Gemälden, Musikstücken, Tanzperfomances sein? Widerspricht eine kubistische Geigendarstellung einer naturalistischen Geigendarstellung? Und falls ja, können uns nicht dennoch beide die Wirklichkeit erschließen? Muss man sich um der Wirklichkeit willen für einen Stil entscheiden? Wird eine Pluralität der Darstellungs- oder symbolischen Artikulationsweisen gar 165 166

Ebd., 253. Vgl. ebd., 253.

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zum Problem? Zeigen sie einen Mangel an Wirklichkeitssinn an? Und in puncto Kohärenz: Bezieht sich ein eigenwilliger Popsong von Björk nicht auf die wirkliche Welt, weil er irgendwie aus dem Zusammenhang der Klassik nach Beethoven herausfällt oder sich dem einheitlichen MotownSound nicht einfügt? Solange man auf solche Fragen keine plausiblen Antworten hat, droht unverständlich zu werden, wie das Verstehen nichtsprachlicher, genauer: nicht-begrifflicher symbolischer Medien mit unserem Weltverstehen zusammenhängt oder wie nicht-begriffliche Zeichen überhaupt eine welterschließende Kraft haben können. Ich bin überzeugt, dass sie eine solche Kraft haben und ebenso, dass Kreis und Cassirer mir darin sofort zustimmen würden. Ich sehe aber nicht, wie dieser Gedanke auf der Basis der genannten Kohärenz- und Konsistenzkriterien expliziert werden können soll. Der zweite Einwand macht geltend, dass sich diese Kriterien ebenso untauglich erweisen, wenn es um die wirklichkeits- oder welterschließende Kraft von sprachlich oder begrifflich strukturierten Zeichen geht: Wie Kreis betont, handelt es sich bei diesen Wirklichkeitskriterien um »geist- oder erfahrungsinterne Kriterien«; was dann auch für ihn sofort die Frage aufwirft, ob »wir uns anhand dieser Kriterien die Welt letztlich nur so zurechtlegen, wie es uns am besten paßt.« 167 Denn man kann sich ja gut einen komplexen Irrtum vorstellen derart, dass sich alle sinnvollen (objektiven) Aussagen, die wir treffen, zu einem widerspruchsfreien und zusammenhängenden Ganzen fügen, und trotzdem keine dieser Aussagen etwas behauptet, das in Wirklichkeit besteht. Und diese Möglichkeit muss sogar gegeben sein, denn die Bildung objektiver Gehalte soll ja nirgends von der Wirklichkeit abhängen, sondern nur von den grammatischen Regeln oder symbolischen Strukturen. Und die Ausbildung dieser Strukturen unterliegt eben nirgendwo einem »restringierenden Einfluss« durch die Welt oder die Wirklichkeit. Kreis sieht dieses Problem: »Nun könnte man vermuten, dass die [seine, CK] Objektivitätskonzeption gegen eine Intuition verstößt, die wir mit den Begriffen ›Objektivität‹ und ›Wirklichkeit‹ normalerweise verbinden. Das, was objektiv und wirklich ist, soll nach dieser Intuition einen souveränen Einfluß auf unsere Erfahrung haben.« 168 Kreis behauptet schließlich, dass es diesen Einfluss tatsächlich gibt, nämlich genau dann, wenn es zu »einer echten ausschließenden Unverträglichkeit zwischen den Inhalten geistiger Vorkommnisse kommt.« 169 Doch das ist 167 168 169

S. o. Kreis: Cassirer (Anm. 7), 253. S. o.

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offenkundig nur eine rhetorisch dicker aufgetragene Version des bereits erwähnten Konsistenzkriteriums. Was aber macht denn die Echtheit dieser Unverträglichkeit aus? Kreis lässt die Katze endlich aus dem Sack: »Das geistinterne Kriterium für die Wirklichkeit objektiver Gehalte gilt also, anders und deutlicher gesagt, nur dann, wenn in dem Teilsystem des Geistes, dessen Kohärenz- und Konsistenzbeziehungen in Betracht stehen, hinreichend viele Beobachtungssätze enthalten sind. Das setzt seinerseits voraus, daß die beteiligten Subjekte auch hinreichend vielen Beobachtungssituationen ausgesetzt sind.« 170

Kreis fährt dann fort, noch eine Reihe weiterer Bedingungen aufzuzählen, z. B. dass unsere Wahrnehmungsorgane funktionstüchtig sein müssen etc. Es hilft aber alles nichts: das Problem ist die Einführung der Beobachtungssätze selbst. Die Absicht, die Kreis damit verfolgt, ist einigermaßen klar: Unserem holistisch konstituierten Aussagennetz soll mit den Beobachtungssätzen ein Anker in der Welt verschafft werden, denn »[d]ie Welt, in der wir leben, hat in Beobachtungssituationen einen kausalen Einfluß auf uns.« 171 Diesen Anker kann es aber nicht geben. Die Berufung auf die Beobachtungssätze ist defekt. Kreis ahnt das, denn er schiebt sofort nach: »Das [die Berufung auf die Beobachtungssätze, CK] heißt aber nicht, daß die Wahrheit empirischer Sätze aus der vermeintlich extern bezeugten Wahrheit der Beobachtungssätze abgeleitet werden könnte. Die Beobachtungsätze können selbst keine Rechtfertigungsbasis für die Wahrheit empirischer Sätze bereitstellen.« 172 Und warum nicht? Weil eben auch der »Gehalt von Beobachtungssätzen [. . . ] immer nur durch die Differenzen individuiert werden [kann], die die Intension dieses Satzes zur Intension aller anderen Sätze unterhält.« 173 Damit schnappt die formalistische Falle wieder zu. Oder besser: Der Begriff des Beobachtungssatzes wird zum Zwitterwesen. Einerseits soll sich sein Gehalt dem kausalen Einfluss oder der Wahrnehmung der Welt verdanken. Wir geben mit solchen Sätzen zu Protokoll, was wir wahrnehmen – deswegen heißen sie ja Beobachtungssätze –, andererseits soll sich auch der Gehalt der Beobachtungssätze (gemäß des formal-holistischen Leitgedankens) nur den Differenzen zu allen anderen Ebd., 254. S. o. Ich spare hier den Einwand aus, dass ein kausaler Einfluss noch nicht erklärt, inwiefern die Welt auch den semantischen oder den begrifflichen Gehalt von symbolischen Ausdrücken bestimmt. 172 Ebd., 255. 173 S. o. 170 171

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Sätzen verdanken. Wenn aber letzteres der Fall ist, dann sind solche Beobachtungssätze ebenso wenig Beobachtungssätze wie alle anderen Sätze des sprachlichen Aussagezusammenhangs. Solange sie nur durch den internen Zusammenhang mit anderen Aussagen und nicht irgendwie auch durch den externen Bezug auf Welt bestimmt sind, können sie nicht die Prüfsteine bilden, die sie bilden sollen. Wenn der Gehalt von Beobachtungssätzen ausschließlich vom Ganzen des Aussagenzusammenhangs her bestimmt ist, dann kann der Nachweis, dass eine fragliche Aussage mit diesen Sätzen konsistent oder inkonsistent ist, nicht mehr belegen als jeder andere Zusammenhang zwischen Sätzen dieses Aussagenzusammenhangs: nämlich die Konsistenz oder Inkonsistenz der fraglichen Sätze. Nur dann, wenn der Gehalt von Beobachtungssätzen durch die Welt oder die Wirklichkeit mitbestimmt würde, könnte der Nachweis eines konsistenten Zusammenhangs mit diesen Sätzen für die Wirklichkeit des fraglichen Satzes sprechen. Das System wäre dann punktuell (durch die Beobachtungssätze) zur Welt geöffnet. 174 Dann müsste man aber das Projekt einer rein intensionalen oder formal-holistischen Bedeutungstheorie aufgeben, was Kreis offenkundig nicht beabsichtigt. Einer formal-holistischen Explikation der Konstitution von Bedeutung gelingt es daher nicht, den Wirklichkeits- oder Weltbezug unseres Symbolverstehens verständlich zu machen. Und genau das ist es, was den Skeptiker am symbolischen Idealismus oder am Konstruktionsmodell so beunruhigt: Den cartesianisch-erkenntnistheoretischen Skeptiker (wie man mit Richard Rorty sagen könnte 175) erschreckt die Aussicht, dass wir angesichts der logischen Trennung von geistinterner Ausbildung von Gehalten einerseits und dem Beziehen dieser Gehalte auf die Welt anderseits vom Denken eines Gedankens niemals darauf schließen können, dass es etwas gibt, das diesen Gedanken wahr macht und das nicht selbst wieder ein Gedanke ist. Immer könnten wir deshalb im Irrtum sein über die Welt, ohne je ein hinreichendes Kriterium ausfindig machen zu können, das Irrtümer auszuschließen erlaubt. Der Dafür, dass auch dieser Versuch letztlich nicht leistet, was er verspricht, lässt sich unter Bezug auf Quine argumentieren. Quine hat gezeigt, dass selbst dann, wenn man bestimmte Teile der Sprache als durch die Welt bestimmt erklären kann, man damit noch nicht den Übergang dieser Teile der Sprache zum Rest einer nicht durch die Welt bestimmten Sprache erklärt hat und dass eine solche Erklärung auch nicht möglich ist. Vgl. W. V. O. Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, in ders.: Von einem logischen Standpunkt, Frankfurt /M. 1979, 27–50. 175 Vgl. dazu die Unterscheidung zwischen einem »phyrronischen Skeptizismus und der spezifisch ›cartesianischen‹ Form des Skeptizismus«, die Richard Rorty vorschlägt in: ders.: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt /M. 2002, 111. 174

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semantische Skeptiker weist uns ganz analog darauf hin, dass wir, obwohl wir vielfach so tun, als verständigten wir uns über die Welt, wie sie ist, wir infolge der weltunabhängigen Konstitution von Bedeutung unseren bedeutungsvollen symbolischen Ausdrücken nirgends »anmerken« würden, wenn die Welt tatsächlich eine ganz andere wäre. Würden morgen Flüsse aufwärts fließen oder Kinder ihre Eltern gebären, könnte unsere Sprache dennoch auf dieselbe Weise eingerichtet bleiben, wie sie dies jetzt ist und würden wir Raffaels Sixtinische Madonna nach wie vor auf dieselbe Weise betrachten. Das Ergebnis dieser Überlegungen möchte ich noch einmal mit direkterem Bezug auf den Initialgedanken der PhsF formulieren: Dieser lautete ja, dass die Welt insofern verstanden werden kann, als sie als ein strukturierter Zusammenhang erfahren wird. Die Struktur der verstandenen Welt sollte aus der strukturierenden symbolischen Bezugnahme resultieren. Bei Kreis lautet dieser Gedanke so: Die Welt oder Wirklichkeit ist der »Extensionsbereich, der jeweiligen Theorie« 176 oder, wie man auch sagen könnte, die Menge derjenigen Gegenstände, auf die objektive Zeichen referieren. Ich habe gezeigt, dass der Weltbezug formal-holistisch konstituierter Zeichen nicht verständlich wird. Es wird einfach nicht klar, wie auf die Welt ausgegriffen werden können soll, ohne zugleich die Idee der Geschlossenheit symbolischer Strukturen aufzugeben. Solange man an der Geschlossenheit der symbolischen Struktur festhält, riegelt man unser Symbolverstehen gegen mögliche Einwände aus der Welt ab. Welcher Dynamik und welcher Veränderung unsere symbolischen Medien und Praktiken auch immer unterliegen mögen, sowohl Kreis als auch Cassirer behaupten ja, dass es eine solche Dynamik gibt; es kann so nicht gezeigt werden, dass dieser »unabschließbare Korrekturprozeß« 177, irgendwie durch die Welt oder die Wirklichkeit in Gang gehalten oder in Gang gebracht wird. Solange das aber der Fall ist, kann hier ein Irrtum den anderen ablösen. Ich möchte nun zu meinem letzten Schritt kommen: Ich kehre zum Problem des Sinntragens von Zeichen und damit zu der eingangs erwähnten Ambivalenz der PhsF zurück.

176 177

Kreis: Cassirer (Anm. 7): 80. Ebd., 256.

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1.4.3 Symbolic Turn ohne Symbole Im letzten Abschnitt des ersten Kapitels soll in systematischer Hinsicht dafür argumentiert werden, dass unser Symbolverstehen eine wesentlich sinnlich-materiale Dimension hat, während in interpretatorischer Hinsicht deutlich gemacht wird, dass Cassirer Gefahr läuft, diese Dimension zu verfehlen. 178 Die systematische These kann ich vorläufig wie folgt fassen: Unser Symbolverstehen vollzieht sich nicht einfach bloß im Medium irgendeiner sinnlich-materialen Ausdrucksgestalt, sondern die sinnliche Wahrnehmung der materialen Gestalt von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken ist ein konstitutives Moment des Verstehens selbst. Anders gesagt: Wenn, wie Martin Seel im Hinblick auf einen allgemeinen Begriff des Mediums schreibt, »in einem Medium [. . . ] Unterschiede gemacht werden [können], weil das Medium Unterschiede bereitstellt« 179 – im Medium der Sprache kann z. B. etwas als dieses oder jenes angesprochen werden, weil Sprache eben eine Vielzahl verschiedener sprachlicher Ausdrücke bereitstellt –, dann stellen symbolische Medien ihre Unterschiede wiederum nur im Medium der sinnlichen Wahrnehmung bereit. Die Unterscheidung verschiedener z. B. sprachlicher Ausdrücke, die eine Benennung verschiedener Gegenstände oder Sachverhalte als diese oder jene Gegenstände und Sachverhalte erlaubt, »spielt sich in einem Raum von Unterschieden ab« 180, der wiederum durch die sinnliche Wahrnehmung aufgespannt ist. Die Unterschiede, die wir sprachlich machen, wenn wir sagen, dass etwas sich so oder so verhält, die Unterschiede, die wir machen, wenn wir mit Bildern zeigen, dass etwas so oder so aussieht etc., sind ihrerseits bedingt durch die Unterschiede zwischen einem So-oderso-Klingen sprachlicher Laute oder einem So-oder-so-Aussehen farbiger Die interpretatorische These ist aus gutem Grund so zurückhaltend formuliert, denn Cassirer votiert durchaus für eine solche sinnlich-materiale Dimension unseres Symbolverstehens. Allerdings kommt die PhsF diesbezüglich über erste Ansätze nicht hinaus und wartet zu allem Unglück auch noch mit konträren Überlegungen auf. Es sind diese gegen eine wesentlich sinnlich-materiale Dimension unseres Symbolverstehens gerichteten Überlegungen, die Kreis seiner Lektüre der PhsF zugrunde legt. Kreis' Zuspitzungen werden daher im Folgenden immer wieder selbst Gegenstand der Kritik sein. Dass Cassirer die Relevanz der Zeichenmaterialität aus den Augen verliert, kritisiert u. a. auch Oswald Schwemmer; vgl. ders.: Cassirer (Anm. 126), 49. Was Schwemmer allerdings nicht sieht, ist, dass Cassirer sich dadurch in Widersprüche verstrickt. 179 Martin Seel: Medien der Realität – Realität der Medien, in: ders.: Sich bestimmen lassen (Anm. 112) Frankfurt /M. 2002, 124. 180 Ebd., 126. 178

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Flächen. Kurz: Der semantische Gehalt von Zeichen muss auch unter Rekurs auf die sinnlich-materiale Gestalt von Zeichen expliziert werden. Ein angemessener Begriff unseres Symbolverstehens umfasst daher die Bildlichkeit von Bildern, die Musikalität der Musik, die Graphematizität der Schrift etc., wie sie demjenigen zugänglich ist, der ein Bild betrachtet, der Musik hört oder der einen Text liest. 181 Im Ausgang der Überlegungen des vorangegangenen Abschnittes kann das allerdings nur bedeuten, über den Zusammenhang von sinnlich-materialen und strukturalen Aspekten des Symbolverstehens nachzudenken. Auf diese Weise kehrt die Frage nach dem »Zugleich« von physischen (sinnlich-materialen) und geistigen (strukturalen) Eigenschaften von Zeichen, wie Cassirer sie als Frage nach dem Sinntragen aufwirft, in leicht modifizierter Form zurück. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis Cassirers nicht zu überschätzen, dass »›geistige‹ Momente der Bedeutung« und »›sinnliche‹ Ausdrucksmomente [. . . ] erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung das eigentliche Leben der Sprache ausmachen« (PhsFIII, 123; kursiv, CK). Diesen Gedanken Cassirers will ich wie folgt verallgemeinern: Eine Explikation der Strukturen im Verstehen oder der strukturalen Konstitution von Bedeutung erweist sich erst dadurch als eine Explikation des Verstehens oder der Bedeutung von symbolischen Medien oder Zeichen, dass sie diese Strukturen unter Rekurs auf die Materialität der Zeichen expliziert, – und eine Explikation von Zeichenmaterialität erweist sich spiegelbildlich erst dadurch als eine Explikation der Materialität von Zeichen, dass sie diese Materialität unter Rekurs auf strukturalen Aspekte von symbolischen Medien oder Zeichen expliziert. In dem Maße wie eine Bedeutungstheorie symbolischer Medien oder eine Zeichentheorie diesen Zusammenhang verfehlt, schlägt sie fehl. 182 Genau besehen lässt sich der Zusammenhang von strukturalen und sinnlich-materialen Momenten des Symbolverstehens auf zweifache Weise verfehlen: Man kann es einerseits verpassen, der sinnlich-materialen Verfasstheit von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken überhaupt Damit soll keine Relativierung der sinnlich-materialen Eigenschaften von Zeichen auf die individuelle Perspektive eines Wahrnehmenden vorgenommen werden, sondern nur eine Relativierung auf die Perspektive eines Wahrnehmenden überhaupt im Unterschied zu einer z. B. (nicht-wahrnehmenden) bloß technischen Messung von Materialeigenschaften des Zeichens. Ich komme darauf unten im Zuge der Unterscheidung von physischen und physikalischen Eigenschaften von Zeichen zurück. 182 Ich werde diesen Zusammenhang im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht umfänglich explizieren, sondern nur aufzeigen, inwiefern er systematisch gefordert scheint, wie Cassirer ihn verfehlt, und einige, wenige phänomenbezogene Argumente zu seiner Stützung liefern. 181

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irgendeine bedeutungskonstitutive Rolle zuzusprechen. Man übergeht dann einfach die Zeichengestalt. Ich möchte dies die intellektualistische Verkürzung nennen. Andererseits kann man aber auch zu viel auf die Zeichengestalt geben. Ich nenne das die physisch- oder physikalischreduktive, oder kurz: die materialistische Verkürzung. Letztere wurde oben bereits zurückgewiesen. Deswegen kann es jetzt nur noch darum gehen, den berechtigten Einwand gegen eine materialistische Verkürzung des Symbolverstehens davor zu bewahren, intellektualistisch über das Ziel hinauszuschießen. Es ist hilfreich, noch einmal daran zu erinnern, wie die Frage des Zusammenhangs von Struktur und Material ursprünglich aufkam: Stein des Anstoßes war, dass Cassirer die Frage des Sinntragens aufwirft, sprich: die Frage, wie die geistigen und physischen Momente des Zeichens zusammenspielen, – dann aber ins bewusstseinstheoretische Register wechselt, wo eben dieses Zusammenspiel begrifflich keine Relevanz hat. Kurz: Cassirer wirft das Problem des Sinntragens auf und lässt es dann liegen. Man kann das Manöver Cassirers aber auch wie folgt zuspitzen: Der Wechsel ins bewusstseinstheoretische Register zeigt an, dass die Frage der Konstitution von Zeichenbedeutung ungeachtet des fraglichen Zusammenspiels von Struktur und Material, und damit unter Rekurs auf die strukturalen Momente allein beantwortet werden soll. Wenn sich im Folgenden herausstellen sollte, dass die These einer konstitutiven Materialgebundenheit unseres Symbolverstehens – wie man auch sagen könnte – wahr ist, verkürzt ein formal-holistischer Ansatz (wie derjenige Cassirers) den Begriff des Symbolverstehens intellektualistisch. In Bezug auf das Konstruktionsmodell, in dessen Herzen nachweislich eine solche formal-holistische Konzeption ruht, lässt sich daher folgende These formulieren: Das Problem des Intellektualismus ist das dritte signifikante Problem des Konstruktionsmodells; neben dem zuvor erörterten Bestimmtheitsdefizit und dem Formalismus-Problem oder dem Problem der empirischen Bestimmtheit. Dass die Frage des Zusammenhangs von Zeichengestalt und struktural konstituiertem Zeichengehalt erst jetzt auftaucht, hängt damit zusammen, dass SuF alle Fragen begrifflichen oder semantischen Gehalts als Fragen der Bestimmtheit rein logisch bestimmter Größen begreift. Der ontologische Status, die Seinsweise von Funktionsbegriffen blendet Cassirer in der SuF weitestgehend aus. Mit der PhsF ändert sich das radikal. Cassirer vertritt hier die These, dass begriffliche und alle anderen nichtbegrifflichen geistigen Gehalte nicht als immaterielle Inhalt des Bewusstseins aufgefasst werden können, sondern als durchgängig material realisiert begriffen werden müssen. Es ist dies die Kernthese des sogenannten

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symbolic turns oder der symboltheoretischen Wende seiner Philosophie. In interpretatorischer Hinsicht werde ich im Folgenden zeigen, dass der Kerngedanke dieser Wende in eigentümliche Spannung zu der aus SuF ererbten formal-holistischen Explikation der Konstitution von Bedeutung gerät, wie sie ja in der PhsF im Zuge der Neufassung des Repräsentationsbegriffs fortgeschrieben wird. Anders gesagt: Cassirers anti-repräsentationalistischer Holismus der Bedeutung liegt mit dem zugleich anvisierten symbolic turn über Kreuz. 183 Diese Spannung wird von Cassirer nicht zufriedenstellend behoben. Genau genommen äußert sich Cassirer nirgends zu dieser Spannung – und zwar ganz einfach deshalb, weil er sie nicht zu bemerken scheint. Das hat seine Gründe. Ein Grund liegt meines Erachtens darin, dass die PhsF bis auf Sprache keine anderen symbolischen Medien diskutiert. 184 Gerade der Vergleich verschiedener sprachlicher und nichtsprachlicher symbolischer Medien aber rückt die Relevanz der sinnlich-materialen Dimension von Zeichen in den Blick, zumal wenn man an einer strukturalen Explikation der Konstitution von Zeichenbedeutung interessiert ist. Hierbei zeigt sich nämlich zunächst, dass eine Anwendung strukturalen Vokabulars auf nichtsprachliche Zeichen durchaus vor besonderen Schwierigkeiten steht, und diese Schwierigkeiten haben damit zu tun, dass nichtsprachliche Zeichen, z. B. Bilder, in einer besonderen Weise wahrnehmungsnah sind: Es kann sich bei Bildern lohnen, immer noch genauer hinzuschauen, wie das Bild sinnlich-material verfasst ist, während der GeDabei möchte ich gleich deutlich machen: die These, dass unser Symbolverstehen eine wesentlich sinnlich-materiale Dimension hat, verpflichtet mich nicht auf die weite Fassung der These des symbolic turns, sofern diese die These umfasst, dass alle geistigen Vorkommnisse sinnlich-material realisiert sein müssen, vgl. dazu Kreis: Cassirer (Anm. 7), 144 ff. Man kann an dem Gedanken festhalten, dass es z. B. gehaltvolle und in einer bestimmten Hinsicht immaterielle mentale Vorkommnisse gibt, und zugleich darauf bestehen, dass jedenfalls die Gehalte von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken materialgebunden sind. 184 Es liegt nahe, hier sofort protestierend auf die symbolischen Formen des Mythos, der Wissenschaft, der Kunst usw. hinzuweisen. Ich werde allerdings im zweiten Kapitel dafür argumentieren, dass Cassirer den Begriff der symbolischen Form äquivok gebraucht und dann in ultraknappen Umrissen eine begriffliche Differenzierung zwischen symbolischen Formen als symbolischen Medien (Sprache, Bilder, Musik etc.) einerseits und symbolischen Formen als (komplexen) Praxisformen (Kunst, Wissenschaft, Mythos etc.) einfordern; s. u. Abschnitt 2.3. Fragen der Bildlichkeit, des Musikalischen etc. werden von Cassirer, soweit ich sehe, nur im Lichte von Fragen der Kunst und dann erst im Versuch über den Menschen und dort auch nur sehr sporadisch diskutiert. Fürs Erste sollten diese Hinweise hoffentlich reichen, um nachzuvollziehen, warum ich meine, dass die PhsF bis auf Sprache keine anderen symbolischen Medien als symbolische Medien ernsthaft in den Blick nimmt. 183

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brauch sprachlicher Zeichen sich demgegenüber gerade dadurch auszeichnet, dass hier phonetische oder graphematische Details des sprachlichen Ausdrucks im Verstehen in hohem Maße getilgt werden. Daran schließt sich die Frage an, ob man mit Blick auf Bilder überhaupt von einem Repertoire bildlicher Elemente analog etwa zu den Buchstaben eines Alphabets sprechen kann usw. Doch selbst dann, wenn man grundsätzlich der Auffassung ist, dass sich trotz dieser Unterschiede ein strukturales Vokabular auch auf nichtsprachliche Zeichen produktiv anwenden lässt, macht erst eine Vielfalt verschiedener symbolischer Medien, die Relevanz der sinnlich-materialen Dimension von Zeichen für eine strukturale Explikation des Zeichenoder Symbolverstehens deutlich. Das kann man sich mit folgender Überlegungen klar machen: Der Gedanke einer strukturalen Verfasstheit unseres Symbolverstehens besagt, dass ein Zeichen oder ein symbolischer Ausdruck wesentlich von seinem Zusammenhang mit anderen Zeichen her Bedeutung gewinnt. Ein verstandenes Zeichen ist ein Zeichen, dass in Beziehung zu anderen Zeichen gestellt werden kann. Ich hatte oben angedeutet, dass sich solche Beziehungen in unterschiedlicher Weise fassen lassen: in Begriffen der Reihe, der Differenz oder der Folgerung. Nun besagt der Gedanke einer strukturalen Verfasstheit unseres Symbolverstehens aber auch, dass ein Zeichen wesentlich von seinem Zusammenhang mit anderen Zeichen desselben Typs her verstanden wird: Worte hängen mit anderen Worten zusammen, Töne mit anderen Tönen. 185 Es ist nun sicher auch richtig, dass wir – eine differentielle Explikation der Zeichen-Zeichen-Beziehungen einmal angenommen – sprachliche Laute, sprich: Wörter auch von gesungenen Lauten im Verstehen unterscheiden müssen. Doch dass ein Sprachlaut kein F# ist, hilft mir einfach nicht, zu verstehen, was er besagt. Das klärt sich allein in Relation zu anderen sprachlichen Zeichen. Allgemein gesprochen: Unser Symbolverstehen ist von medialen Differenzen geprägt. Das strukturale Vokabular, das ich bisher gebraucht habe, fängt diese medialen Differenzen aber nicht ein. Dessen Stärke besteht vielmehr darin, dass es über diese Differenzen hinweg zu gehen vermag. So lassen sich mithilfe eines solchen medienneutralen strukturalen Vokabulars womöglich das tonale System der Musik und das System der Schriftzeichen beide als »differenziell organisierte Systeme« erläutern. Damit sind aber die tonalen oder die graDas impliziert nicht, dass vor dem Verstehen feststeht, was ein Wort, was bloß ein Ton etc. wäre. Doch wenn sich sprachliches oder musikalisches Verstehen einstellt, dann entlang der Beziehungen von sprachlichen zu sprachlichen und von musikalischen zu musikalischen Zeichen, wobei eben die Zeichen jeweils in einer spezifischen Weise in den Zusammenhang eingehen. 185

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phematischen Dimensionen dieser Systeme eben noch nicht erläutert. Diese werden vielmehr vorausgesetzt. Will man allerdings verständlich machen, wie es zu einem Symbolverstehen im Horizont einer Pluralität verschiedener symbolischer Medien kommen kann, muss diese Voraussetzung begrifflich eingeholt werden. Es muss, anders gesagt, erläutert werden, wie mediale Differenzen im Symbolverstehen zum Tragen kommen. Es scheint mir nun naheliegend, hierfür auf die sinnlich-materiale Verfasstheit von Zeichen zu rekurrieren: die Differenzen eines tonalen Systems sind solcherart, dass sie auch von ihrer hörbaren physischen Gestalt her expliziert werden müssen, während Differenzen eines Schriftsystems entsprechend auch von ihrer sichtbaren, graphematischen Gestalt her expliziert werden müssen etc. Dabei darf allerdings noch einmal betont werden, dass der Unterschied zwischen in diesem Fall Hörbarem und Sichtbarem allein diese Differenzen natürlich nicht erklären kann, denn auch Worte können geschrieben werden und sind dann als graphematische Gestalten in einem basalen Sinne ebenso sichtbar wie piktorale Gestalten; und nicht nur lautsprachlich, auch musikalische Differenzen werden ja gehört. Man kann diesen Hinweis so pointieren, dass man sagt, dass die Musikalität der Musik, die Bildlichkeit des Bildes jeweils spezifische Differenzierungen des Lautlichen, des Visuellen und dergleichen bezeichnen. Mediale Differenzen lassen sich daher nicht unter Rekurs auf eine basale Dimension der Hörbarkeit oder Sichtbarkeit von Zeichen erklären, wiewohl diese Dimension einen irreduziblen Aspekt der Erklärung bildet. 186 Kreis' Cassirer-Lektüre verfehlt – wie ich gleich noch zeigen werde – die sinnlich-materiale Dimension von Zeichen durchweg, mehr noch als Cassirer, der diesbezüglich immerhin ambivalent bleibt. Das ist insofern überraschend, als Kreis (prima facie über den Reflexionsstand der PhsF hinaus) immer wieder explizit auch auf nichtsprachliche und nichtbegriffliche Zeichen zu sprechen kommt. Kreis erwähnt »piktorale Ausdrücke« 187, »musikalische Klangfolge[n]«, »Skulptur[en]« 188 etc. Sollten ihm da nicht genau diejenigen Fragen aufstoßen, die sich aus einem Vergleich verschiedener symbolischer Medien im Rahmen eines grundsätzlich strukturalen Settings ergeben, wie ich sie eben dargelegt habe? Es muss also noch mindestens einen weiteren Grund geben, warum die ZeiEine Position, die Unterschiede von Zeichentypen durch die Unterschiede ihrer sinnlich-materialen Gestalt derart erklärt, dass sie letztlich auf die Differenzen unserer sinnlichen Ausstattung zurückgreift, kann man den Titel eines sensualistischen Essentialismus geben. 187 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 135. 188 Ebd., 140. 186

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chenmaterialität in einem strukturalen Ansatz in der Bedeutungstheorie nicht so Recht ins Gewicht fällt. Ich meine, dass die Lektüre der PhsF, die Kreis vorschlägt, eine Tendenz fortschreibt, die in der PhsF selbst angelegt ist. Kreis' forciert intellektualistische Cassirer-Lektüre, oder »Krassirer«, wie ich sagen könnte, kann nämlich den Einfluss einer Begriffsund Sprachphilosophie nicht abschütteln, die über Gehalt, Sinn oder Bedeutung durchweg in Begriffen logischer Bestimmtheit nachdenkt. Kurz: »Krassirer« bleibt dem Denken von SuF verhaftet. Das Tor zu einer Pluralität sprachlicher und nichtsprachlicher symbolischer Medien ist bei Cassirer (ebenso wie bei Kreis) programmatisch aufgestoßen, allein es fehlen klare zeichen- oder medientheoretische Begriffe, mit denen sich das neue Terrain vermessen ließe. Bei Kreis zeigt sich das überdeutlich daran, dass er in Fortführung des Leitgedankens von SuF (dass Begriffe Funktionen, sprich: Regeln der Zuordnung sind) die Konstitution der Bedeutung symbolischer Ausdrücke allein von der Regelhaftigkeit ihrer Bildung oder von den Normen einer Art Grammatik symbolischer Medien her zu explizieren versucht; ohne sich zugleich klar zu machen, was es etwa für Skulpturen im Unterschied zu Aussagesätzen heißen kann, dass sie nach den Regeln einer ihnen entsprechenden Grammatik geformt oder gebildet sind. Kreis sieht dieses Desiderat durchaus. Doch seine Reaktion darauf legt den dritten und letzten Grund dafür frei, warum die Zeichenmaterialität im Zuge seiner Erläuterungen und seiner Lektüre der PhsF unter den Tisch fällt: Er plädiert eben für das Konstruktionsmodell, samt des ihm innewohnenden formal-holistischen Ansatzes. Kreis schreibt: »Alle geistigen Vorkommnisse sind Ausdrucksgestalten: Sprachliche, mythische, ästhetische oder entsprechende andere Vorkommnisse – sinnvolle Sätze, Bilder, Werke, Institutionen oder Handlungen in unserer Welt. Von dieser materiellen Gebundenheit aller geistigen Vorkommnisse hatten Cassirers bisherige Übellegungen zum Problem des Bewusstseins [lies: Neufassung des Begriffs der Repräsentation, CK] abstrahiert. (Sie werden dadurch allerdings, [. . . ] nicht ungültig, sondern lediglich methodisch einseitig.) Eine vollständige Philosophie des Geistes muß diese Abstraktion rückgängig machen.« 189

Kreis behauptet aber nicht nur, dass eine solche Theorie die Abstraktion rückgängig machen muss. Vor allem geht er davon aus, dass sie dies auch kann. Genau das werde ich im Folgenden bezweifeln. Ich werde zeigen, dass man den Begriff des Symbolverstehens genau dann intellektualistisch 189

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 283 f.

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verkürzt und unseren verstehenden Umgang mit Zeichen und symbolischen Medien in der Sache verfehlt, wenn man im Sinne dieses Zitates von Kreis meint, dass man das Wesentliche, was man zur Konstitution von Bedeutung sagen muss, auf abstrakte Weise sagen kann, sprich: ohne zugleich auf die sinnlich-materiale Gestalt von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken zu rekurrieren. Die Bedeutungstheorie, so meine Gegenthese, kann nicht schon fertig sein und erst im methodischen Nachgang mit Sinnlichkeit ausstaffiert werden. Im Sinne eines cassirerinterpretarorischen Streits mit Kreis lautet die Aufgabe daher: Gegen die forciert intellektualistische Cassirer-Lektüre von Kreis, oder gegen »Krassirer«, muss die Ambivalenz in Sachen Zeichenmaterialität herausgearbeitet werden, von der die Symbolphilosophie Cassirers gezeichnet ist. Diese Ambivalenz lässt sich auf die Alternative »symbolic turn vs. formal-holistische Bedeutungstheorie« zuspitzen. 1.4.3.1 Die Sinnlichkeit des Sinns Die sogenannte symboltheoretische Wende, die Cassirer mit der PhsF vollzieht, ist eine Wende in Bezug auf den Begriff geistiger oder mentaler Vorkommnisse. Zu den geistigen oder mentalen Vorkommnissen zählt Cassirer Gedanken, Vorstellungen, Wünsche etc. Wahrnehmungseindrücke oder körperliche Empfindungen, wie sie in der Philosophie des Geistes ja durchaus auch zu den mentalen Zuständen gezählt werden, sind bei Cassirer nicht Gegenstand der Wende. Diejenigen geistigen Vorkommnisse, um die es Cassirer allein geht, zeichnen sich gegenüber den letztgenannten dadurch aus, dass sie sich hinsichtlich ihres sogenannten intentionalen Gehalts individuieren lassen, während letztere Vorkommnisse sich durch ihre phänomenalen (Erlebnis-)Qualitäten voneinander unterscheiden. Intentionale Vorkommnisse oder Zustände sind »dadurch charakterisiert, dass sie auf etwas gerichtet sind, dass sie einen Inhalt haben. Man glaubt, dass etwas der Fall ist, man wünscht sich einen bestimmten Gegenstand, man hofft oder befürchtet, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird.« 190 Phänomenale Zustände sind dagegen dadurch charakterisiert, dass es sich irgendwie anfühlt, in ihnen zu sein oder sie zu haben – ein Zahnschmerz schmerzt auf spezifische Weise anders als der Kopf nach einer durchzechten Nacht etc., wobei eben das Verhältnis

Ansgar Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin / New York 2008, 13. 190

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zwischen dem Wie des Anfühlens zu dem, was sich in Aussagen der Form, dass-p, artikulieren lässt, umstritten ist. Hinsichtlich intentionaler Zustände vertritt nun Cassirer die erst einmal negativ zu formulierende These, dass diese Zustände keine Zustände einer immateriellen geistigen Substanz sind. Auf diese Weise soll der Idee eines Dualismus geistiger, immaterieller Entitäten einerseits und sinnlich, materieller Entitäten andererseits ein Riegel vorgeschoben werden. Ich werde hier weder auf die weitverzweigte Debatte eingehen, zu der Cassirer auf diese Weise Stellung bezieht, noch die weitreichenden Konsequenzen und vielfältigen Fragen diskutieren, die dieses Manöver hat und aufwirft. Mit geht es allein darum, zu zeigen, wie diese Wende in Bezug auf die Seinsweise geistiger Inhalte die Frage des Sinntragens von Zeichen berührt, um die allein es mir hier zu tun ist. Die symboltheoretische Wende der PhsF gilt als eine von Cassirers originellsten philosophischen Leistungen. So spricht z. B. Schwemmer von »eine[m] Wendepunkt im philosophischen Denken, der mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen herbeigeführt worden ist.« 191 Den Kerngedanken dieser Wende hat Cassirer in positiver Hinsicht in verschiedenen Formen zu fassen versucht. In einer aufschlussreichen Formulierung, die zugleich das Erbe Humboldts deutlich hervortreten lässt, heißt es beispielsweise, dass »das Zeichen [. . . ] notwendiges und wesentliches Organ [des Gedankens ist] [. . . ], kraft dessen [ein Gedankeninhalt] selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.« (PhsFI, 16). Welche geistigen Leistungen der Mensch auch immer vollzieht – urteilen, sich etwas vorstellen, Zusammenhänge erfassen, Abläufe konzipieren etc. –, muss demnach in symbolischen Medien und Praktiken vollzogen werden; also durch Bildung und Äußern natürlichsprachlicher Sätze, durch das Anfertigen von Karten und Plänen, durch Malen von Bildern, die Niederschrift von Rechenoperationen etc. Damit weist Cassirer genau besehen in einem Atemzug zwei Vorstellungen zurück: erstens die Vorstellung, dass Gedanken oder allgemein geistige Inhalte unabhängig von konkreten Zeichenvorkommnissen, d. h. auf immaterielle Weise existieren, und zweitens, dass Zeichen gegebene Inhalte, Bedeutung und dergleichen bloß abbilden oder repräsentieren. Oder anders gesagt, da der Gedanke, es ließe sich zwischen dem Vorliegen geistiger Inhalte und ihrer Mitteilung in Zeichen noch unterscheiden, ja gerade zurückgewiesen werden soll: Zeichen sind die Existenzweise geistiger Gehalte oder von Sinn. Kreis fasst das wie folgt zusammen:

191

Schwemmer: Cassirer (Anm. 126), 47.

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»Dafür, dass ein bestimmter geistiger Inhalt vorliegt, ist es für alle menschlichen Erfahrungssubjekte eine notwendige Bedingung, daß ein bestimmtes Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Ausdrucksgestalt einer beliebigen Ausdrucksform oder einer ihrer Ausprägungen realisiert, die diesen Inhalt als ihren Inhalt ausdrückt und die von diesem Subjekt auch verstanden wird.« 192

Das Ausdrucksvokabular ist in diesem Zusammenhang durchaus irreführend. Legt es doch den Gedanken nahe, es werde hier ein vorgängig gebildeter Inhalt nachträglich zum Ausdruck gebracht, so wie sich der digitale Inhalt einer Datei auf analogem Papier ausdrucken lässt. Allerdings spricht Kreis davon, dass der Inhalt einer Ausdrucksgestalt oder eines Zeichens, von dieser Gestalt oder diesem Zeichen als ihr Inhalt ausgedrückt wird, und damit eben nicht als der Inhalt eines z. B. geistigen Vorkommnisses, das unabhängig von dem Zeichen schon vorliegt. Ich werde an dieser Stelle das Für und Wider dieser These übergehen 193 und ausschließlich einige ihrer Implikationen kenntlich machen, von denen gezeigt werden kann, dass sie mit der von Cassirer zugleich vertretenen Bedeutungstheorie symbolischer Medien konfligieren, wie ich sie oben in Begriffen eines anti-repräsentationalistischen Holismus diskutiert habe. Dazu ist es entscheidend, noch einmal zu betonen, was beinahe hundert Jahre nach Cassirer im Nachdenken über Zeichen beinahe schon zur Selbstverständlichkeit gehört: Cassirer begreift Zeichen oder symbolische Ausdrucksgestalten dezidiert als sinnlich-materiale Gegenstände. Darin liegt der offenkundigste Einschnitt gegenüber SuF, wo es um Zeichen nur als Elemente eines abstrakt bestimmten systematischen Ordnungsgefüges ging. Cassirer schreibt: »In jedem sprachlichen ›Zeichen‹, in jedem mythischen oder künstlerischen ›Bild‹ erscheint ein geistiger Gehalt, [. . . ] in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder Tastbaren umgesetzt.« (PhsFI, 40; kursiv, CK) Kurz: Zeichen haben eine irreduzibel wahrnehmungsbezogene Dimension. Cassirers Verwendung des Ausdrucks ›Umsetzung‹ bedarf eines kurzen Kommentars: Folgt man dem Kerngedanken der symboltheoretischen Wende, dann besagt ›umsetzen‹ natürlich nicht dasselbe wie ›einen Plan Kreis: Cassirer (Anm. 7), 145. Vgl. dazu maßgeblich Gottfried Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken (Anm. 138). Vgl. auch Christian Barth: Die Sprachabhängigkeit des Denkens, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 61, 2013, 717–738, oder Tilman Borsche: Begriffsbildung und materielle symbolische Repräsentation. Eine begriffshistorische Skizze, in: Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, hg. v. Ludwig Jäger und Erika Hinz, München 2004, 99– 109. 192 193

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in die Tat umsetzen‹, ›einen Setzling vom Topf in die Erde umsetzen‹ oder ›einen Zug auf ein anderes Gleis umsetzen‹. In allen diesen letztgenannten Verwendungen ist ein Etwas nämlich schon gegeben, das umgesetzt wird. Das ist aber eben nicht die These der Ausdrucksgebundenheit alles Geistigen. Sie ist keine These nur in Bezug auf die Zugänglichkeit von geistigen Gehalten (obwohl sie das auch ist), sondern darüber hinaus vor allem eine These in Bezug auf die Genese, die Herausbildung, die Individuierung oder Bestimmung solcher Gehalte. Die Idee ist nicht, dass wir geistig schon gegebene Gedanken z. B. sprachlich einkleiden. Cassirer betont in diesem Sinne, dass Zeichen keine bloß »äußerliche Hülle« etwa zum »Zweck der Mitteilung eines fertig gegeben Gedankeninhalts« sind (PhsFI, 16) oder: »Es handelt sich nicht um ein Nachfolgen [. . . ] des ›Sinnlichen‹ gegenüber dem ›Geistigen‹, sondern um die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst.« (ebd., 45; kursiv, CK) Ich kann daher zusammenfassen: Wenn die Individuierung von Bedeutung oder von geistigem Gehalt wesentlich an Zeichen gebunden ist und Zeichen sinnlich-material verfasste Gegenstände sind, dann folgt daraus, dass die sinnlich-materiale Verfasstheit von Zeichen einen Beitrag zur Bestimmung des Gehalts oder der Bedeutung leistet. Die Konstitution von Bedeutung lässt sich ohne Rekurs auf die sinnlich-materiale Gestalt von Zeichen nicht explizieren. In der Sache zeigt sich das z. B. daran, dass eine Zeichengestalt nicht beliebig variiert werden kann, ohne dass sich die Bedeutung des Zeichens ändert: Ob ich im Englischen das Wort ›seal‹ mit einem stimmhaften oder einem stimmlosen S spreche, macht im Englischen einen semantischen Unterschied. Einmal habe ich nämlich von einem Seehund (seal) gesprochen, das andere Mal von Eifer (zeal). 194 Cassirer weist zunächst auf die verschiedenen sprachlichen Modi des Fragens, des Befehlens etc. hin, die nur versteht, wer die melodische Gestalt der ausgesprochenen Äußerung erfasst. Aber auch in Bezug auf den sogenannten propositionalen Gehalt solcher Äußerungen (oder den intentionalen Gehalt, wie ich oben sagte), also in Bezug auf das, was jeweils erfragt, befohlen oder gewünscht werden kann, hält Cassirer explizit am Gedanken einer bedeutungskonstitutiven Funktion der sinnlich-materialen Zeichengestalt fest: »Aber auch dort, wo es der Sprache rein auf die Herausarbeitung eines bestimmten ›logischen‹ Sinnes ankommt, den sie einfach als solchen in seiner Objektivität und Allgemeinheit hinzustellen sucht, kann sie hierbei der mannigfachen Möglichkeiten, die ihr in den melodisch-rhythmischen 194

Das Beispiel stammt aus Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 91.

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Ausdrucksmitteln zur Verfügung stehen, nicht entraten. Diese selbst erweisen sich nicht als beliebige Zutaten, sondern als echte Vehikel, als Konstituenzien der Sinngebung selbst.« (PhsFIII, 123; kursiv, CK) 195

Die grundsätzliche Stoßrichtung der symboltheoretischen Wende lässt sich auch noch einmal pointieren, indem man ein Zitat aus dem dritten Band der PhsF hinzuzieht, in dem Cassirer in einer Art Rückschau auf das Programm der PhsF insgesamt schreibt: »Wir versuchten mit ihm [dem Symbolbegriff ] das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« (PhsFIII, 105; kursiv, CK)

Man kann im Anschluss daran sagen, dass Sinn für Cassirer wesentlich verkörperter Sinn ist. 196 Sinn hat einen Körper, nämlich denjenigen des Zeichens, der eine bestimmte sinnlich-materiale Gestalt ist, die physisch wahrgenommen werden kann. Über zehn Jahre nach der Veröffentlichung des dritten Bandes der PhsF bekräftigt Cassirer diese Gedanken ein weiteres Mal: »Das Ideelle besteht nur, insoweit es sich in irgendeiner Weise sinnlich-stofflich darstellt und in dieser Darstellung verkörpert.« 197 Vor diesem Hintergrund nun dürfte man erwarten, in der PhsF entsprechende Überlegungen zu finden, die aufzeigen, wie sich etwa in den lautlichen Verhältnissen der Musik Sinn zu bilden vermag, oder wie In diesem Sinne kann man auch folgende Stelle lesen, PhsFIII, 378: »So hoch sich der reine Begriff auch über die Sinnenwelt in das Reich des Ideellen und ›Intelligiblen‹ erheben mag – er kehrt zuletzt doch immer in irgendeiner Weise zu jenem ›welt- und erdgemäßen‹ Organ zurück, das er an der Sprache besitzt.« Vgl. auch die ganz analogen Überlegungen von Maurice Merleau-Ponty: Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks, in: ders.: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993, 52: »Nicht indem ich mein ganzes Denken in Worten deponiere, aus denen die Anderen es dann entnehmen, verständige ich mich mit ihnen, sondern mit meiner Kehle, meiner Stimme, meiner Betonung und natürlich auch mit den Worten, den bevorzugten Satzkonstruktionen und mit dem eigenen Zeitmaß, die ich jedem Satzteil zugestehe [. . . ] mit Punktierungen und Kadenzen gespickte Melodie[n], . . . « 196 In der Cassirer-Forschung hat zuerst John Michael Krois auf diese Idee eines wesentlich verkörperten Sinnes hingewiesen, vgl. ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011. Eine Philosophie der verkörperten Sprache in diesem Sinne skizziert auch Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation (Anm. 10). 197 Ernst Cassirer: Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung (1942), in ECW XXIV, 399. 195

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Farb- und Formkonstellationen auf Flächen geistige Inhalte zu generieren vermögen. Doch weit gefehlt. Allein was die phonetischen Verhältnisse von Sprache betrifft, geht Cassirer an die konkrete Ausarbeitung seiner Überlegungen. Das weitreichende Fehlen entsprechender Überlegungen zur programmatisch beschworenen Zeichenmaterialität hat seine Gründe aber nicht nur darin, dass die PhsF andere nichtsprachliche symbolische Medien kaum thematisiert, sondern ist durch eine interne Ambivalenz der PhsF in Bezug auf eben jenen Kerngedanken des symbolic turns selbst begründet. Dazu komme ich jetzt. 1.4.3.2 Die Erblasten von SuF Eine erste Merkwürdigkeit findet sich sogleich an derselben, oben bereits zitierten Stelle, an der Cassirer von der Umsetzung des Geistigen ins Sinnliche spricht. Vollständig heißt es dort nämlich: »In jedem sprachlichen ›Zeichen‹, in jedem mythischen oder künstlerischen ›Bild‹ erscheint ein geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist, in die Form des Sinnlichen, des Sicht-, Hör- oder Tastbaren umgesetzt.« (PhsFI, 16; kursiv, CK) Wie aber kann es sein, dass ein geistiger Gehalt, von dem nach dem bisher Gesagten gilt, dass »er nur besteht, insoweit [er] sich in irgendeiner Weise sinnlich-stofflich [. . . ] verkörpert«, nun über »alles Sinnliche« hinausweist und eben darin »an und für sich« ist? Wie kann es überhaupt ein immaterielles An-und-für-Sich-Sein geistiger Gehalte geben, wo doch das sinnlich-materiale Zeichen deren »notwendiges und wesentliches Organ« ist? Natürlich lässt sich ein bestimmter geistiger Inhalt in verschiedener sinnlicher Gestalt zum Ausdruck bringen: der Gedanke, dass Cassirers symboltheoretische Wende ambivalent ist, lässt sich in ganz verschiedener sprachlicher Gestalt, z. B. in den Phonemen des Englischen als auch des Deutschen, und dabei wiederum heiser oder näselnd etc. artikulieren. Doch folgt daraus nicht, dass der sprachliche Gehalt damit über alles Sinnliche hinausweist. Man könnte das als einen Lapsus Cassirers abtun, wäre da nicht der schon erwähnte Wechsel von Fragen des Sinntragens von Zeichen ins bewusstseinstheoretische Register. Ich hatte erwähnt, dass man dieses Manöver, nimmt man es für bare Münze, schwerlich anders verstehen kann, als so, dass es für Cassirer eben doch irrelevant zu sein scheint, ob die Konstitution des Gehalts immaterieller, mentaler Vorkommnisse oder die Konstitution der Bedeutung konkreter sinnlich-materialer Zeichengegenstände infrage steht. Stellt man aber auch die These der symboltheoretischen Wende in Rechnung, die eben besagt, dass die sinnlich-materiale

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Gestalt von Zeichen »Konstituenzien der Sinngebung« selbst sind, dann kann man sich diese Indifferenz in Sachen Zeichenmaterialität nur zum Preis der Inkohärenz der eigenen Theorie leisten. Wenn z. B. die lautliche Gestalt des Wortes einen systematischen Einfluss darauf haben soll, was inhaltlich gesagt wird, dann kann man einfach nicht erklären, wie Worte etwas Bestimmtes sagen, ohne über die lautliche Gestalt von Worten zu sprechen. Letzte Hoffnungen darauf, dass man Cassirers Wechsel ins bewusstseinstheoretische Register doch falsch deutet und sich der Eindruck der Ambivalenz noch verflüchtig, zerschlagen sich in dem Abschnitt, der auf die Diskussion des Repräsentationsbegriffs folgt und in dem Cassirer offiziell zur Zeichenproblematik zurückkehrt. Dort schreibt er (gewissermaßen im Nachgang sein Abrücken von der Frage des Sinntragens und seine Hinwendung zu Fragen des Bewusstseins rechtfertigend): »Auf die ›natürliche Symbolik‹, auf jene Darstellung des Bewusstseinsganzen, die schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewusstseins notwendig enthalten ist, müssen wir zurückgehen, wenn wir die künstliche Symbolik, wenn wir die ›willkürlichen Zeichen‹ begreifen wollen, die das Bewußtsein in der Sprache, in der Kunst, im Mythos erschafft. Die Kraft und Leistung dieser mittelbaren Zeichen bliebe ein Rätsel, wenn sie nicht in einem ursprünglichen, im Wesen des Bewußtseins selbst gegründeten geistigen Verfahren ihre letzte Wurzel hätte. Daß ein Sinnlich-Einzelnes, wie es z. B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer reinen geistigen Bedeutung werden kann – dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird.« (PhsFI, 39 f.; kursiv, CK)

Zwar behauptet Cassirer nicht, dass die Inhalte einzelner Zeichen auf einzelne Inhalte des Bewusstseins zurückgeführt werden – er bleibt insofern der Kritik am semantischen Atomismus des mentalistischen Repräsentationalismus treu –, sehr wohl spricht er aber davon, dass gewissermaßen das Verfahren sinnvollen Sprechens oder sonst eines sinnvollen Zeichengebrauchs auf ein Verfahren des Bewusstseins, die »Grundfunktion des Bedeutens«, zurückgeführt werden muss. Diese Grundfunktion oder dieses »ursprüngliche geistige Verfahren«, wie er auch sagt, ist nichts anderes als die oben in Begriffen der Repräsentation erläuterte formalholistische Ausdifferenzierung von geistigen Gehalten. Diese Ausdifferenzierung erfolgt, wenn man dem Zitat folgen darf, nicht in der Sprache oder durch die Sprache oder das Sprechen selbst, sondern sie erfolgt an der

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Sprache oder am lautlichen Material, das dadurch erst zu Sprache wird. Das selbst nicht sprachlich oder sonst wie zeichenförmig verfasste Bewusstsein »erschafft« sich, wie es entsprechend heißt, durch die Gliederung und Strukturierung einer materialen Substanz allererst Sprache und andere symbolische Medien. Insofern »[aber] die symbolischen Zeichen, die uns in der Sprache, im Mythos, in der Kunst entgegentreten [nicht erst] ›sind‹, um über dieses Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen« (PhsFI, 41), folgt daraus, dass das nicht-zeichenförmige Bewusstsein zugleich die Bedeutung der Zeichen schafft. Noch einmal anders: Es wird nicht behauptet, dass sich das Bewusstsein in einem ersten Schritt nur symbolische Medien im Sinne eines Repertoires von gewissermaßen noch bedeutungslosen Zeichen schafft, die dann auf der Ebene des Zeichengebrauchs so strukturiert werden, dass die Zeichen eine bestimmte Bedeutung gewinnen. Sondern die Ordnung des Materials durch das Bewusstsein fällt mit der Konstitution von Bedeutung zusammen. Das Bewusstsein schafft sich bedeutungsvolle Zeichen. Für eigenständig bestimmende Beziehungen auf der Ebene der Zeichen selbst ist damit konzeptionell kein Platz mehr. Begreift man die Ausdifferenzierung von geistigen Gehalten oder von bestimmten Zeichen, wie Kreis, als einen durch eine Regel geleiteten Vorgang, kann man den Punkt auch noch einmal so formulieren: Eine Regel schreibt stets vor, dass etwas so oder so sein soll. Sie hat mit anderen Worten einen bestimmten Gehalt. Nun soll die Bildung von Zeichen, die wiederum gar nicht anders als bedeutungs- oder gehaltvoll sein können, selbst nach einer Regel erfolgen. Wenn aber Zeichen erst durch die Anwendung einer Regel zu Zeichen werden, dann muss diese Regel der Ebene der Zeichen vorausliegen und ihr Gehalt unabhängig von den Zeichen ausgebildet werden, eben im Bewusstsein selbst. Symbolische Ausdrücke oder Zeichen als wesentlich bedeutungsvolle Ausdrücke und Zeichen sind damit das Produkt einer Formung von sinnlich wahrnehmbarem Material durch den Geist. Das Material, das geformt und dadurch bedeutungsvoll wird, hat dann keine eigene bedeutungskonstitutive Funktion. Denn nur in dem Maße, wie sich die Strukturiertheit des Bewusstseins im Sinnlichen ausprägt, werden Laute zu bedeutungsvollen Worten oder farbige Flächen zu Bildern, die etwas Bestimmtes darstellen. Ein einzelnes sinnlich-materiales Vorkommnis wird zum bestimmten Zeichen, sobald es in den Strukturzusammenhang gestellt ist, der »im Wesen des Bewusstseins gründet«. Dieses »Stellen« ist aber, wie das Zitat deutlich sagt, keine Leistung des Sprechens oder anderer konkreter symbolischer Praktiken, sondern Ergebnis der Anwendung einer solchen Praktiken vorausliegenden geistigen Kraft auf das Sicht-, Hör-

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oder Tastbare. Nicht werden sprechend Bedeutungen konstituiert, sondern durch den Vollzug eines geistigen Aktes, durch »eine intellektuelle Leistung« 198 werden Sprache und bedeutungsvolles Sprechen und alle anderen bedeutungsvollen symbolischen Medien und Praktiken konstituiert. Wenn das tatsächlich die Position der PhsF ist, dann kann von einer »antimentalistischen Strategie« 199 Cassirers wohl kaum die Rede sein. Viel eher kommt das einer Kehrtwende der symboltheoretischen Wende selbst gleich. In dem Maße, wie das Bedeutung-Haben von Zeichen und symbolischen Ausdrücken bewusstseinstheoretisch fundiert wird, wird der Gedanke einer Eigenständigkeit des Bedeutens von Zeichen und symbolischen Medien preisgegeben. Der symbolische Charakter eines einzelnen bildlichen, musikalischen, sprachlichen Ausdrucks beruht dann nur mehr darin, dass er das Element eines formal zu bestimmenden holistischen Systemzusammenhangs bildet. Darin unterscheidet sich ein bedeutungsvoller Zeichengegenstand prinzipiell nicht von einem reinen Denkgegenstand, wie dies etwa die mathematischen Begriffe in SuF waren. 200 Insofern der Witz der symboltheoretischen Wende aber in »einer vollständig mit ihren raum-zeitlichen Konkretionen vermittelten Intellektualität« 201 bestehen soll, kann man diese Ambivalenz der PhsF auf die paradoxe Formulierung eines Symbolic Turns ohne Symbole bringen. Cassirer plädiert für die semantische Relevanz der Zeichenmaterialität und ist in demselben Atemzug doch nicht bereit, diese Relevanz anzuerkennen. In diesem Sinne scheint Cassirer seine eigene Einsicht in die Relevanz der Zeichenmaterialität dann doch wieder zu verspielen. Das ist ein unbefriedigendes Ergebnis. Die Klärung der Frage, ob der sinnlich-materialen Gestalt von Zeichen eine bedeutungskonstitutive Rolle zukommt oder nicht, ist damit noch immer ungeklärt. Dass diese Frage letztlich doch zugunsten der symboltheoretischen Wende und eben nicht zugunsten ihrer intellektualistischen Rücknahme entschieden werden muss, dafür will ich abschließend einige wenige Gründe erwägen.

Kreis: Cassirer (Anm. 7), 142. Ebd., 282. 200 Vgl. den Abschnitt »Was ist ein Symbol?« in: Kreis: Cassirer (Anm. 7), 438 ff. Dort wird genau ein solcher »entsinnlichter« Begriff des Symbols, als der für die PhsF vermeintlich einschlägige Begriff des Symbols expliziert. 201 Ebd., 146. 198 199

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1.4.3.3 Gegen einen symboltheoretischen Intellektualismus Der erste Einwand gegen eine intellektualistische Verkürzung unseres Symbolverstehens setzt noch einmal bei der Frage der medialen Differenz an, wie ich sie oben bereits angeführt habe (s. o., S. 142 ff.) und lautet wie folgt: Wenn, wie Kreis schreibt, »lautliches oder graphisches Material anhand grammatischer Regeln der Bildung und Organisation einen Sinn oder Inhalt gewinnt« 202 oder wenn die »materiellen Elemente [Stein, Holz, Metall, Leinwand, Farbe und ähnliche Stoffe]« durch die »Regelförmigkeit ihrer Organisation [befähigt]« werden sollen, »einen Inhalt auszudrücken« 203, die Ausbildung dieser Regel oder die Bestimmung des Prinzips der Organisation aber eine intellektuelle Leistung ist, derart, dass sie im Zuge der strukturalen Ausdifferenzierung immaterieller Inhalte des Bewusstseins erfolgt, dann kann eine solche abstrakte, weil immaterielle Regel oder eine solches Prinzip einfach keine Ordnung oder Organisation konkreter, materialer Gegenstände leisten. Kurz: Formale Bestimmungen leisten keine Bestimmung nicht-formaler Gegenstände. Mit anderen Worten: Eine rein geistige »Grundfunktion des Bedeutens« enthält kein Kriterium der Anwendung auf sinnlich-materiale Gegenstände. Das kann man sich wie folgt verdeutlichen: Unser Umgang mit Zeichen ist z. B. davon geprägt, dass wir zwischen verschiedenen Zeichenmaterialien unterscheiden: An einem Gespräch kann man sich nicht beteiligen, indem man Holzstiche herumreicht. Die für die Zeichenpraxis relevanten Unterschiede zwischen Lauten und Holz werden aber durch die rein geistige »Grundfunktion des Bedeutens« nicht erfasst. Ebenso wenig bestimmt diese Grundfunktion auch Differenzen innerhalb z. B. des Lautlichen. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das Kreis selber gibt: Um etwa im Zuge eines mythischen Ritus die »richtige Artikulation« 204 der zu nennenden Götternamen regeln zu können, muss mir die Regel z. B. sagen, worin die murmelnde Aussprache des Namens des Flussgottes im Unterschied zum donnernden Vortrag des Namens des Odins besteht. Woher weiß ich aber allein mit Blick auf die Regel, worin der Unterschied zwischen einer murmelnden und einer donnernden Aussprache besteht? Die Regel enthält ja keine Hörproben, an denen ich meine aktuale Aussprache orientieren könnte. Nur dann aber, wenn ich meine Aussprache in richtiger, sprich: regelgerechter Art und Weise moduliere und lautlich differenziere, kommen bedeutungsvolle Laute zu202 203 204

Ebd., 130. Ebd., 133. Ebd., 137.

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stande, die von anderen als rituelle Anrufungen Odins oder welchen Gottes auch immer verstanden werden können. Mit anderen Worten: Die Regel bekommt das Material solange nicht zu greifen, als eine Ausbildung dieser Regel unabhängig von der sinnlich-materialen Dimension der Gegenstände ihrer Anwendung erfolgt. Eine formal-holistische Explikation des Symbolverstehens macht aber genau nicht verständlich, inwiefern die Ausbildung von Regeln von der sinnlich-materialen Dimension unserer Auseinandersetzung mit Zeichen geprägt sein könnte. Eine formal-holistische Explikation vermag es daher nicht, die materiale Bestimmtheit von Zeichen zu erläutern, obwohl genau das ihr Anspruch ist. Formal bestimmte Begriffe einer Ordnung, Struktur und dergleichen finden keinen Halt an dem Material, das sie formen sollen. Eine formal-holistische Explikation des Symbolverstehens entwirft daher einen intellektualistisch verkürzten Begriff des Symbolverstehens. Kreis gesteht dies in gewisser Weise sogar zu. Er stellt fest, dass eine »Untersuchung der Eigenart der jeweiligen Materialen« 205 von Zeichen innerhalb der PhsF ein Desiderat ist, ohne jedoch das zutiefst Problematische daran zu erkennen. Eine Bedeutungstheorie symbolischer Medien, sofern sie eine Theorie der Bedeutung sinnlich-materialer Zeichengegenstände ist, die gemäß des symbolic turns, Sinn als wesentlich verkörperten Sinn begreift, muss mit den materialen Eigenarten systematisch rechnen. Sie kann sie einer formalen Explikation von Zeichenbedeutung nicht einfach nachfolgen lassen. Ein zweiter Einwand setzt ebenfalls bei der Frage der medialen Differenz an, läuft aber auf eine etwas andere Pointe hinaus: Wenn sich die bedeutungskonstituierenden Regeln oder Strukturen tatsächlich unabhängig von dem jeweils spezifischen Material explizieren lassen sollten, auf das diese Regeln angewendet werden, dann müsste sich im Prinzip auch mit Worten sagen lassen, was sich bildlich zeigen lässt oder musikalisch intonieren lassen, was im Kino vorgeführt wird etc., und zwar so, dass der Gehalt oder das, was ich jeweils verstehe, identisch bleibt. Anders gesagt: Die materialneutrale Explikation der Konstitution von Zeichenbedeutung neutralisiert materiale Differenzen von Zeichen. Es wäre dann nur noch eine Frage der Effizienz oder der Neigung, ob ich für das, was ich anderen zu verstehen geben möchte, ein ganzes Ensemble samt Bühnentechnik und technischem Personal beschäftige oder ob ich einfach mein Smartphone zücke. Auf beiden Wegen ließe sich grundsätzlich dieselbe Bedeutung generieren. Die Pluralität von symbolischen Medien, die eben eine Pluralität auch der spezifischen materialen Verfasstheit von Zeichen ist, bildet dann kein wesentliches Moment des Verstehens und kann daher 205

Ebd., 134.

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übergangen werden. Doch so ist es natürlich nicht: Eine Beschreibung dessen, was ein Film zeigt, ist für uns kein adäquater Ersatz des Filmes – ein Überblendeffekt zweier Bilder lässt sich schildern, aber nicht durch die Überblendung der Worte, mit denen geschildert wird, wiedergeben. Das Zugleich zweier Bilder weicht zwangsläufig dem Nacheinander der Worte. Der Reim eines Gedichts lässt sich nicht einfach in Prosa wiedergeben, die filmische Aufnahme eines Theaterabends kann die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Schauspielern im Theaterraum nicht ersetzen etc. Nun gibt es sicher vielfältige Beispiele für die Versuche, z. B. bildliche Darstellungen doch »in Worte zu fassen« 206; aber der ganze Witz eines solchen Unternehmens, der Wert der sprachlichen Leistungen würde sofort verpuffen, wenn es nicht uneinholbare Differenzen gäbe zwischen verschiedenen Medien. Man stünde auch vor großen Problemen, zu erklären, warum z. B. Analphabeten ein Gespräch verstehen, nicht aber dessen schriftliches Protokoll etc. Die wechselseitige Unvertretbarkeit oder deren wechselseitige Nicht-Reduzierbarkeit scheint damit ein weiterer Beleg dafür zu sein, dass ein intellektualistischer Begriff des Symbolverstehens fehlgeht. Auch wenn diese wechselseitige Nicht-Reduzierbarkeit erst eigens erörtert werden müsste, so sprechen doch die genannten Beispiele aus unserer eingespielten Zeichenpraxis dafür, dass eine Theorie, die das Gegenteil behauptet, sich zumindest erhebliche theoretische Lasten aufbürdet. Ein dritter Einwand setzt noch einmal bei dem Gedanken der Materialgebundenheit unseres Symbolverstehens als solchem an. Ich möchte diesen Gedanken zuerst etwas differenzierter fassen, d. h. deutlich machen, inwiefern unser Symbolverstehen stärker oder schwächer materialgebunden sein kann. Vor diesem Hintergrund wird dann deutlich, dass »Krassirer« die bedeutungstheoretische Relevanz der Materialität der Zeichen nicht nur tout court verfehlt sondern auch dort, wo er doch einmal über diese Materialität spricht, dies unzulänglich tut, was wiederum ein Symptom der systematischen Verzeichnung der Zeichenmaterialität ist. Es leuchtet schnell ein, dass die Behauptung einer Materialgebundenheit des Symbolverstehens nicht impliziert, dass es stets eine absolute oder direkte Gehalt-Gestalt-Korrespondenz gibt derart, dass ein bestimmter Zu Grenzen und Möglichkeiten der Versprachlichung bildlicher Darstellungen vgl. die Diskussion über Ekphrasis, u. a. Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer, München 1995. 206

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Zeichengehalt notwendig an eine bestimmte Zeichengestalt gebunden ist, oder derart, dass eine Veränderung der Zeichengestalt zwingend eine Veränderung des Zeichengehalts nach sich zieht; obwohl dies manchmal tatsächlich der Fall sein kann. Wenn es so ist, dann »geht« die wahrnehmbare Gestalt der Zeichen, wie man in Anlehnung an eine Bemerkung Cassirers sagen könnte, »rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf« (PhsFI, 40) und umgekehrt: Der Gehalt der Zeichen lässt sich dann von ihrer spezifischen Gestalt nicht ablösen. Das gilt aber bei Weitem nicht für alle Zeichentypen. Gehalt und Gestalt sprachlicher Zeichen z. B. korrespondieren nicht direkt, denn die graphematische Gestalt des Ausdrucks ›Freiheit‹ (FREIHEIT, freiheit) kann ebenso stark variieren wie die phonetische Gestalt (wie das Beispiel unterschiedlicher Sprachen verdeutlicht: ["friŽd m], [lib r"te]) – und doch schreibt oder sagt man durchaus dasselbe. Aus dieser relativen Unabhängigkeit von Gehalt und Gestalt des Zeichens oder aus dieser schwachen Gehalt-Gestalt-Korrespondenz darf indes nicht auf eine prinzipielle Unabhängigkeit von Zeichengestalt und -gehalt geschlossen werden, wie dies in »logifizierenden« Bedeutungstheorien der Sprache immer wieder suggeriert wird: Auch wenn sprachliche Gehalte an keine besonderen sprachlichen Ausdrucksgestalten gebunden sind, müssen sie sich dennoch in irgendeiner spezifischen, von anderen sprachlichen Ausdrücken unterschiedenen Weise »›materialisieren‹« 207: »Ohne die Materialität von Zeichengegenständen verlieren Zeichen ihre Konturen und damit überhaupt jegliche Bestimmtheit.« 208 Auch eine logifizierende Bedeutungstheorie der Sprache muss schließlich in Schriftzeichen einer bestimmten graphematischen Gestalt abgefasst oder mit Worten einer bestimmten lautlichen Gestalt vorgetragen werden. Mit Blick z. B. auf bildliche Darstellungen ist dagegen die Gehalt-Gestalt-Korrespondenz deutlich stärker. Der sinnlich-wahrnehmende Nachvollzug der materialen Gestalt von Bildern erschließt hier selbst ein Moment dessen, was das Bild bedeutet. Die Sichtbarkeit der bildlichen Zeichengestalt gehört selbst zu dem, was ein Bild zu verstehen gibt. Die sichtbare Schraffur einer braunen Fläche am unteren rechten Rand des Bildes beispielsweise ist Teil dessen, was ein Gemälde mit dem Titel »Ländliches Idyll mit abgeernteten Feldern und See« zeigt und zu verstehen gibt, nämlich, dass abgeerntete Felder so oder so ähnlich aussehen und sich vom kräuselnden Blau des Sees, an den das Feld angrenzt usw. in dieser Weise abheben. Um zu sehen, was das Bild zeigt, muss ich sehen, dass es eben 207 208

Schwemmer: Cassirer (Anm. 126), 48. Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 10), 220.

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das zeigt: eine schraffierte bräunliche Fläche am unteren rechten Rand des Bildes usw. Man kann sagen, dass der in bildlichen Zeichen verkörperte Sinn deswegen in gewisser Weise selbst körperlicher und räumlicher Natur ist. Er scheint jedenfalls körperlicher und räumlicher als der Sinn, der in Sprache ausgesagt werden kann, selbst dann, wenn Aussagen über ländliche Idyllen mit abgeernteten Feldern und Seen getroffen werden. Die stärkere Gehalt-Gestalt-Korrespondenz von Bildern führt z. B. dazu, dass es bei Bildern lohnend sein kann, immer noch einmal genauer hinzuschauen 209 – vielleicht entdeckt man bisher übersehene Details – oder die Perspektive auf das Bild zu ändern und die Distanz zu vergrößern – gewisse kompositorische Strukturen treten erst ab einer gewissen Entfernung zum Bild hervor, oder bei frontaler Ansicht verzerrte Gestalten gewinnen erst im Seitenblick erkennbare Gestalt. Mit denselben Praktiken ist dagegen für ein Verständnis von geschriebenen Texten nicht viel auszurichten. Maurice Merleau-Ponty gibt folgendes schönes Beispiel für eine starke Gehalt-Gestalt-Korrespondenz. Er schreibt, dass »die musikalische Bedeutung einer Sonate unablöslich von den sie tragenden Tönen [ist]«, »ehe wir sie nicht gehört haben, läßt keine Analyse [z. B. der Partitur, CK] sie uns erraten«; und: »haben wir die Sonate einmal spielen hören, sind wir zu keiner Analyse des Werkes mehr imstande, die sich nicht auf diese Erfahrung zurückbezöge.« 210 Er macht durch die Gegenüberstellung von Partitur, die gewissermaßen die musikalische Aufführungen anleitet oder regelt, und dem Klangerlebnis selbst deutlich, dass es eine irreduzibel sinnlich-materiale Dimension im Symbolverstehen gibt, die durch den abstrakten Begriff einer Regel nicht erfasst wird. Vielmehr gewinnt die Regel selbst erst Bestimmtheit durch den Zusammenhang mit dem, was wir im Hören vernehmen. Die vorangegangenen Überlegungen enthalten mindestens noch zwei weitere Hinweise darauf, warum eine intellektualistische Konzeption von Symbolverstehen falsch sein muss: Zum einen macht das Beispiel, dass zum Verstehen von Bildern eine bestimmte sinnliche Aktivität oder Wahrnehmungspraxis gehört (man muss seinen Blick über das Bild wandern lassen können, vielleicht einen Schritt zurücktreten oder eine Lupe zur Hand nehmen können etc.), deutlich, dass unser Symbolverstehen von bestimmten leiblichen, sinnlichen oder ähnlichen Kompetenzen abhängig ist. »Krassirers« Erläuterungen des Symbolverstehens machen diese Voraussetzungen unseres verstehenden Umgangs mit Zeichen nicht nur nicht Vgl. dazu auch die hilfreichen Überlegungen zur syntaktischen Dichte piktoraler Symbolsysteme in: Goodman: Sprachen der Kunst (Anm. 92). 210 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 217. 209

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kenntlich. Sie sind dazu aus prinzipiellen Gründen nicht imstande: Gemäß dem Konstruktionsmodell gewinnt unser sinnlich-wahrnehmendes Weltverhältnis ja selbst erst dadurch Bestimmtheit, dass wir es kurz gesagt symbolisch formen. Erst dadurch, dass wir Wahrnehmungseindrücke symbolisch formen oder strukturieren, gewinnen diese Bestimmtheit. Wenn nun aber die Wahrnehmung selbst zu einer Vorrausetzung des verstehenden Umgangs mit symbolischen Ausdrucksgestalten würde, dann ließe sich die These einer symbolischen Prägung oder Formung unseres wahrnehmenden Weltverhältnisses nicht aufrecht erhalten ohne eine petitio zu begehen. 211 Ein letzter Punkt kann noch ergänzt werden: Dass sich die musikalische Bedeutung einer Sonate in einer Analyse der Sonate nicht erschließt, lese ich auch als einen Hinweis auf den besonderen Charakter von sogenannten Gestaltphänomenen. Das klassische Beispiel für ein Gestaltphänomen ist die Melodie: Eine Melodie ist eine lautliche Gestalt, deren Gestaltqualitäten sich nicht aus der Summe der einzelnen Töne ergeben, die, analytisch betrachtet, der Melodie zugrunde liegen. Guido Kreis versucht, dies wie folgt auf den Punkt zu bringen: »Melodien können traurig, schwungvoll oder eingängig sein, ihre einzelnen Töne sind es hingegen nicht. Eigenschaften wie die genannten lassen sich Melodien deshalb nur dann zuschreiben, wenn man sie als Ganzheiten auffaßt, die sich nicht als Summe ihrer Elemente beschreiben lassen; Melodien sind [. . . ] übersummativ. [. . . ] Gestalten sind sinnliche Vorkommnisse, die sich nicht durch die Assoziation atomarer Sinnesdaten erklären lassen.« 212

Diese Bestimmungen sind nicht falsch, sie treffen aber meines Erachtens die phänomenale Charakteristik der Rezeption eines Gestaltphänomens nicht. Die Rede von einer Übersummativität ist nicht geeignet, das Phänomen eines in zeitlicher Ausdehnung erfahrbaren Zusammenklangs von Tönen deutlich zu machen. Der Begriff der Übersummativität bekommt, anders gesagt, die interne Kommunikation, die interne Strukturiertheit oder Konfiguration der Töne einer Melodie nicht gegriffen. Es wird zum einen noch viel zu stark mit positiven Einzelgliedern (einzelnen Tönen) Ich werde ich Abschnitt 3.1.1 zeigen, dass diese Voraussetzung deshalb verfehlt wird, weil Kreis und Cassirer letztlich zwischen symbolischen Praktiken und nichtsymbolischen Praktiken oder zwischen Praktiken des Umgehens mit Zeichengegenständen und solchen, in denen keine Zeichengegenstände gebraucht werden, wenn statt einer Landschaftsmalerei z. B. eine Landschaft betrachtet wird, nicht so recht unterscheiden. 212 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 246. 211

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gerechnet, die qua Kombination bestimmte Effekte zeitigen, anstatt gemäß dem holistischen Paradigma die Töne aus dem spezifischen Zusammenspiel im Rahmen einer melodischen Gestalt heraus zu bestimmen. 213 Zum anderen bleiben die Beziehungen zwischen den Elementen einer Gestalt, die »Inhalte« ihrer wechselseitigen Kommunikation, oder kurz: die Effekte des Zusammenspiels eigentümlich unerläutert. Kann man das Traurige, das Schwungvolle einer Melodie, das Kreis ja zu Recht nennt, unter Rekurs auf Begriffe einer regelgeleiteten Anordnung von Klangmaterial bestimmen, wie Kreis suggeriert? Merleau-Ponty schreibt mit Blick auf Malerei: »Der Malakt hat zwei Aspekte: einerseits gibt es den Farb- oder Kohlefleck, den man auf die Leinwand oder das Papier setzt, andererseits die Wirkung dieses selben Flecks auf das Ganze, und zwischen beiden gibt es keinen allgemeinen Maßstab, da der Fleck ja fast nichts ist, aber dazu ausreicht, ein Portrait in eine Landschaft zu verwandeln.« 214 Dass der Fleck zum Einen »fast nichts ist« und zugleich die Potenz hat, das Ganze zu verwandeln, macht einerseits klar, dass der Fleck nur im Rahmen des Bildes bestimmt ist, also aus den Bezügen zu vielen anderen Flecken, Linien, Schraffuren heraus; und andererseits, dass diese Bestimmung Resultat einer Art Autofiguration des Bildes selbst ist. Der einzelne Fleck trifft auf ein malerisches Milieu, ohne dass eine Regel (ein allgemeiner Maßstab) angebbar wäre, nach dem er sich in dieses Milieu einfügt. Die spannungsreichen Beziehungen innerhalb des Bildes, die im Verstehen des Bildes erfasst werden, sind insofern nicht kalkulierbar. In diesem Sinne ist unser verstehender Umgang mit Zeichen von einem Moment der Unverfügbarkeit, des passiven Geschehens gekennzeichnet. Wir müssen einem Zeichengeschehen folgen, das von uns nicht initiiert werden kann. Kreis ist dem durchaus sehr nahe, wenn er schreibt, dass »Gestalten nicht den Charakter eines aggregathaften äußeren Zusammenstehens [von, CK] materiellen Momenten hat«, sondern, dass sie »vielmehr in einer inneren Organisation verbunden« 215 sind. Ich meine jedoch, dass, solange die Bildung von Zeichen als Anwendung einer »Zuordnungsregel« auf das sinnliche Material erläutert wird, der Begriff dieser Organisation stets ein äußerlicher ist. Er muss es sein, weil das Prinzip der Anwendung Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob wir überhaupt je zu Tönen einer Melodie gelangen können, ohne gerade das Phänomen der Melodie zu verfehlen, und wir daher den Versuch, Töne als Basis von Melodien zu erläutern, nicht aufgeben sollten und vielmehr von prägnanten Momenten (Höhen und Tiefen z. B.) einer durchgängigen Klanggestalt, einer »tönend bewegten Form« sprechen sollten. 214 Merleau-Ponty: Die Wissenschaft und die Erfahrung des Ausdrucks (Anm. 195), 65. 215 Kreis: Cassirer (Anm. 7), 140. 213

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verlangt, dass die Regel von ihrer Verwirklichung ablösbar ist oder separat angebbar ist. Dem autofigurativen Spiel eines komplexen Zeichens, seiner inneren Organisation in der Wahrnehmung zu folgen, ist eben nicht das Befolgen einer Regel bei der Organisation von sinnlich-wahrnehmbarem Material, vielmehr organisiert das Zeichen unseren Blick, unser Hören und dergleichen. »Krassirers« Verfehlen des Gestaltcharakters ist aber nicht nur dem Modell der Regelanwendung geschuldet, sondern auch seinem unklaren Materialbegriff. Schon die Zurückweisung der materialistischen Verkürzung des Symbolverstehens bei Cassirer war doppeldeutig. Es war sowohl von physischen Gestalteigenschaften von Zeichen als auch von physikalischen Eigenschaften die Rede. Kreis sieht hier allerdings keinen Bedarf für Differenzierungen; er schreibt: »Die Eigenschaft, einen Inhalt auszudrücken, ist insofern eine nicht-physische Eigenschaft [von Zeichengegenständen, CK], als sie in einer physikalischen (sic!) Beschreibung nicht erfaßt werden kann.« 216 Doch das ist schlicht falsch: Physische Eigenschaften von Zeichengegenständen sind keine physikalischen Eigenschaften. Physische Eigenschaften von Zeichen sind Eigenschaften, die sich aus der Perspektive sinnlich-leiblicher Wahrnehmung erschließen, z. B. dass ein Konzert ›laut‹ oder eine Farbe ›grell‹ ist. Physikalische Eigenschaften von Zeichen sind Eigenschaften, die sich gerade unabhängig von unserer sensorischen Ausstattung oder von den Besonderheiten der Wahrnehmung sinnlich-leiblicher Wesen, wie wir es sind, beschreiben lassen. Die Eigenschaft, dass ein Konzert eine Lautstärke von 120 Dezibel erreicht oder ein Lichtreiz dieses oder jenes elektromagnetische Spektrum realisiert, sind solche Eigenschaften. Aber natürlich höre ich, wenn mir das Konzert zu laut ist, nicht, dass die Lautstärke 120 Dezibel beträgt, und ich sehe auch nicht das elektromagnetische Spektrum einer Farbe, wenn ich ein Bild betrachte. Damit ist es aber doch möglich, wenn auch nicht durch die Beschreibung physikalischer, so doch durch die Beschreibung physischer Eigenschaften von Zeichen der Bedeutung oder dem geistigen Gehalt eines Zeichens auf die Schliche zu kommen. Interessant ist nun, dass Cassirer im ersten Band der PhsF selbst eine vergleichbare Ungenauigkeit an den Tag legt: Er setzt die physischen Eigenschaften eines Zeichens mit den »einfache[n] Qualitäten des Gesichts-, Gehör- oder Tastsinns« gleich und spricht von »letzten Grundelementen« der Wahrnehmung (PhsFI, 25). Der Witz ist nun, dass Cassirer spätestens mit dem dritten Teil der PhsF (unter dem Einfluss der Gestaltpsychologie) darum bemüht ist, den gestalthaften Charakter 216

Ebd., 138 f.

Ausblick

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auch der sinnlichen Wahrnehmung herauszustellen. Eine Beschreibung dessen, was ich an physischen Eigenschaften des Zeichengegenstandes wahrnehme, führt deshalb überhaupt nicht auf einfache, positive Grundelemente zurück, wie etwa eine (isolierte) Rot-Wahrnehmung. Vielmehr eröffnet sich uns auch in der Wahrnehmung stets schon ein gestalthaft organisiertes und strukturiertes Feld von Wahrnehmungen. Wenn es nun aber keine einfachen Elemente der Wahrnehmung gibt, dann kann unser Symbolverstehen auch nicht als eine regelhafte Organisation »materielle[r] Elemente« erläutert werden, »derart daß jedes Element gemäß der besonderen Funktion, die ihm in bezug auf den vollständigen Ausdrucks des Inhalts zukommt, seine eigene Stelle hat.« 217 1.5 Ausblick Das erste Kapitel hat in verschiedenen Hinsichten deutlich gemacht, dass sich das Konstruktionsmodell, so wie es in der Symbolphilosophie Cassirers Gestalt gewinnt, in tiefgreifende Probleme verstrickt. Am Anfang der kritischen Durchmusterung wurde die Einsicht gewonnen, dass im Herzen der Cassirerschen Version des Konstruktionsmodells ein Formalismus schlummert. Weil er unser Weltverstehen auf einem Symbolverstehen gründen will, unternimmt Cassirer den Versuch, dieses Symbolverstehen wiederum auf sich selbst zu gründen. Doch dieser Versuch schlägt fehl: Cassirer gelingt es nicht, die Bestimmtheit der elementebestimmenden Beziehungen in symbolischen Strukturen zu erläutern. In Ermangelung einer solchen Erläuterung muss der Gedanke aufgegeben werden, dass unser Weltverstehen sich auf einem Symbolverstehen gründen ließe. Unbestimmte Strukturen könne keine bestimmte Strukturierung leisten oder anleiten. Eine weitere Folge dieses Formalismus besteht darin, dass Cassirer den Weltbezug unseres Symbolverstehens nicht verständlich machen kann. Wenn einen symbolischen Ausdruck verstehen bedeutet, sich allein innerhalb eines Netzes symbolischer Beziehungen zu bewegen, die sich gerade gegen ein Außerhalb dieser Beziehungen abgeschlossen Ebd., 140. Den Begriff einzelner, einfacher Wahrnehmungselemente, wie ihn die »sensualistische Wahrnehmungslehre« entwickelt hat, bezeichnet Cassirer explizit als eine irreführende Intellektualisierung der Wahrnehmung, vgl. PhsFIII, 73. Dieser Vorwurf gilt nun aber für den Begriff physikalischer Eigenschaften, wie Kreis ihn favorisiert, allemal. Seine intellektualistische Verkürzung des Begriffs des Symbolverstehens zeigt sich so noch einmal mit Blick auf den Begriff der sinnlich-materialen Eigenschaften von Zeichengegenständen selbst. 217

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Erstes Kapitel: Konstruktion

haben, dann wird unverständlich, wie ein Verstehen symbolischer Ausdrücke mit dem Verstehen der Welt zusammenhängen kann, auf die diese Ausdrücke bezogen sein sollen. Ich habe dann am Beispiel von Cassirers Überlegungen zum Experiment und zu Kreis' Überlegungen zur Rolle von Beobachtungssätzen nachvollzogen, inwiefern es auch nicht gelingt, den Formalismus nur partiell aufzugeben. Zu guter Letzt habe ich verschiedene Probleme aufzuzeigen versucht, die dem in der PhsF proklamierten symbolic turn durch Cassirers zeitgleiches Festhalten an einer formalistisch konzipierten Bedeutungstheorie symbolischer Medien drohen. Zusammengenommen legen diese Überlegungen den Gedanken nahe, dass das Konstruktionsmodell gescheitert ist. Durch interne Umbauten ist es nicht zu retten, da die Probleme von den tragenden Elementen des Modells selbst herrühren. Diese aufzugeben bedeutet daher schlicht, das Konstruktionsmodell aufzugeben. Im Folgenden Kapitel soll nun eine Alternative zum Konstruktionsmodell skizziert werden.

Zweites Kapitel Artikulation

»In eine grobe Formel gebracht könnten wir sagen, dass in dem, was wir sehen, die Bilder, die wir gesehen haben [. . . ] lebendig werden.« – Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie, 165 1

Auch das zweite Kapitel verfolgt ein systematisches und ein interpretatorisches Ziel: Auf der Grundlage einer Neubestimmung des Zusammenhangs von Medien und Welt, die ihre Lehren aus dem Scheitern des Konstruktionsmodells gezogen hat, und die einen Begriff symbolischer Medien und Praktiken als Medien und Praktiken der Artikulation von Welt zu entwickeln versucht, soll eine Relektüre der Symbolphilosophie Cassirers erfolgen. Diese Relektüre wird jenen Motiven im Denken Cassirers nachgehen, die ihn selbst auf die Spur eines, wie ich es nennen will, Artikulationsmodells führen. Unter Artikulation kann man vorläufig mit Martin Heidegger »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins« 2 verstehen. Diese Bestimmung hat drei Momente, die eine erste Annäherung an das erlauben, was das zweite Kapitel in systematischer Hinsicht entfalten will: Artikulation wird erstens als ein Vorgang der Gliederung gefasst. Zweitens kommt es im Zuge dieses Vorgangs zu einer als bedeutend spezifizierten Gliederung eines, drittens, besonderen Gegenstandes, nämlich der Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins. Ich beginne mit dem dritten Moment: Die Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins bezeichnet bei Heidegger einen charakteristischen Zug unseres nichtsymbolischen Standes in der Welt. Wer sich in der Welt zu schaffen macht, indem er z. B. ein Auto repariert oder ein Essen zubereitet, dem sind die Gegenstände und Sachverhalte, mit denen er hantiert und mit denen er umgehen muss aus den Zusammenhängen heraus, in denen er sich dabei bewegt, praktisch erschlossen – das Wasser ist das Wasser, das man in den Topf füllt, den Oswald Schwemmer: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005. 2 Heidegger bestimmt damit genau genommen das Existenzial der Rede; vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, § 34/162; im Folgenden: SuZ. Da Rede wiederum als »Artikulation der Verständlichkeit« (ebd.) bestimmt wird, lassen sich die Bestimmungen von Rede als Bestimmungen auch von Artikulation lesen. 1

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man auf den Herd stellt, der an die Stromversorgung angeschlossen ist, für die wiederum bezahlt werden muss etc. pp. Es ist ein anderes Wasser, wenn es das letzte Wasser ist, das noch in der Flasche ist, die man durch die Wüste trägt, in der man sich verirrt hat usw. In einem vergleichbaren Sinne entdeckt oder versteht auch derjenige, der sich etwa beim Passieren einer dunklen Gasse ängstigt, die Welt auf affektiv-emotionale Weise. Er gewahrt die Welt dann z. B. als einen Ort, der ihn insofern etwas angeht, als er die geeignete Bühne abgibt, auf der nach Kräften Überlegenere ihm, der, weil er noch etwas vorhat in seinem Leben, unversehrt bleiben will, übel mitspielen könnten. Eine Explikation unseres verstehenden Weltverhältnisses, so kann man Heideggers Hinweis auf solche nichtsymbolischen Verstehensvollzüge begreifen, muss uns wesentlich als praktisch tätige, als sinnlich und emotional wahrnehmende, oder – wie Merleau-Ponty ergänzen wird – als leiblich agierende Wesen in den Blick nehmen. 3 Auf die Frage nach dem Symbolverstehen gewendet heißt das: Als artikulative Medien und Praktiken sind symbolische Medien und Praktiken wesentlich auf solche nichtsymbolischen Dimensionen unseres Weltverhältnisses bezogen. Und noch etwas weiter vorausblickend formuliert: Symbolische Ausdrücke oder Zeichen versteht nur, wer sich auch praktisch, sinnlich wahrnehmend oder für Stimmungen empfänglich in der Welt zu bewegen weiß. Es dürfte aufgefallen sein, dass ich die besagte Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins andeutungsweise selbst schon in Begriffen eines Gegliedert-, Strukturiert-, oder Geordnet-Seins erläutert habe. Es war ja von Zusammenhängen die Rede, in denen ich mich praktisch bewege oder von einem komplexen Gefüge von Selbstverständnissen, Wünschen, Befürchtungen, die einer einzelnen Situation oder den Gegenständen, die zum Einsatz kommen, ihre Bestimmtheit und Wertigkeit verleihen. Wenn nun aber einem klassischen, schon im lateinischen Ausdruck ›articulatio‹ angelegten Verständnis zufolge »artikuliert ist«, »was Glieder hat, die zusammenhängen und dadurch eine erkennbare Struktur bilden« 4, dann kann man durchaus sagen, dass die Verständlichkeit des In-derWelt-Seins nichts anderes ist als Heideggers Ausdruck für ein ArtikuliertSein der Welt selbst, wie sie sich uns in praktischen und anderen nichtsymbolischen Vollzügen zeigt. Und genau das scheint Heideggers Gedanke Vgl. dazu u. a. Franco Volpi: Der Status der Existentialen Analytik (§§ 9–13), in: Klassiker Auslegen. Martin Heidegger – Sein und Zeit, hg. v. Thomas Rentsch, Berlin 2007, 29–50. 4 Stefan Niklas: Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu artikulieren, in: Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen Begriff, hg. v. Stefan Niklas und Martin Roussel, München 2013, 17. 3

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zu sein; so schreibt er etwa, dass »das Dasein als In-der-Welt-Sein [. . . ] [sich] gar nicht bei ›Empfindungen‹ [aufhält], deren Gewühl zuerst geformt werden müßte, . . . « 5; und: die »Verständlichkeit [des praktischen, wahrnehmenden, empfindenden In-der-Welt-Seins, CK] ist schon vor der zueignenden Auslegung [lies: vor der bedeutenden Gliederung oder der symbolischen Artikulation, CK] immer schon gegliedert.« 6 Darin bekundet sich zunächst eine klare Absage an eine konstruktivistische Lesart des zweiten oben genannten Momentes: des Vorgangs des Gliederns. Die bedeutende Gliederung oder die Artikulation der Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins lässt sich demnach nicht als das Gliedern eines Ungegliederten oder als das Artikulieren eines Unartikulierten verstehen. Symbolische Artikulation soll mit anderen Worten »nicht einfach nur den Übergang von einem undifferenzierten Gefühlsausdruck [oder: Wahrnehmungseindruck, CK] zu einem durch strukturierte Elemente erzeugten Bedeutungsgefüge bezeichne[n].« 7 Der Vorgang der Artikulation kann nicht als symbolische Formung eines formlosen Materials begriffen werden, wie man vor dem Hintergrund des ersten Kapitels auch sagen kann. Artikulation ist, wie Martin Roussel wiederum in Bezug auf Jacques Derridas Überlegungen zum Verhältnis von Stimme und Schrift ausführt, vielmehr eine Art Übersetzungsvorgang »von einer Stimme zu einer anderen« 8 zu erläutern, als die Übersetzung oder, um eine räumliche Metapher zu benutzen, als das Über-Setzen 9 praktischer, sinnlicher, affektiver Verhältnisse in symbolische. Ein weiterer, vielleicht noch entscheidenderer Hinweis Heideggers liegt nun darin, dass er nichtsymbolische und symbolische Vollzüge als »gleichursprünglich« 10 bezeichnet. Damit wird auch einem realistischen Verständnis von Artikulation oder von bedeutender Gliederung ein Riegel vorgeschoben, das darin bestünde, symbolische Artikulationen in einem vorsymbolischen Artikuliertsein der Welt zu fundieren. Ein solches Verständnis kann, folgt man der Taxonomie der Verwendungsweisen des SuZ, § 34/164. Ebd., § 34/161. 7 Martin Roussel: Artikulation und Morphomata. Ein Vorwort, in: Formen der Artikulation (Anm. 4), 10. 8 Ebd. 9 Merleau-Ponty spricht mit Blick auf die sprachliche Artikulation sichtbarer Verhältnisse von einem »Auswandern« dieser Verhältnisse in einen anderen, den sprachlichen Leib, vgl. ders.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, 200. Zur Erläuterung dieser Passage vgl. Bertram et al.: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt /M. 2008, 200 ff. 10 Vgl., SuZ, § 34/161: »Die Rede ist mit Befindlichkeit und Verstehen existenzial gleichursprünglich.« 5 6

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Begriffs der Artikulation, die Stefan Niklas skizziert 11, mit dem Begriff der Explikation verdeutlicht werden. Artikulation verstanden als Explikation bestünde in einem Ausdrücklich-Machen, einem Bewusst- oder Öffentlich-Machen von bereits »implizit in [. . . ] ›Erfahrungs /Handlungsepisoden‹ angelegte[n] Bezüge[n]« 12. Niklas gibt u. a. die folgenden Beispiele: »Aussagen explizieren Gedachtes, Handlungen explizieren die Möglichkeiten des Verhaltens, [. . . ] psychoanalytische Selbsterforschung expliziert das Un- oder Unterbewusste, politische Aktionen explizieren kollektive oder individuelle (moralische) Bedürfnisse, . . . « 13 Entscheidend für die Figur der Explikation eines Impliziten ist, dass das Implizite in bestimmter Hinsicht als gegeben, d. h. als unabhängig von seiner Explikation vorliegend gedacht wird. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass in Bezug auf die von Niklas genannten Fälle der Begriff der Expression bessere Dienste leisten würde. Das hat damit zu tun, dass ›etwas explizieren‹, im Gegensatz zu ›etwas zum Ausdruck bringen‹, immer schon ein Moment der Differenz beinhaltet, das nicht bloß einen Unterschied der Zugänglichkeit meint (das Implizite ist das Verborgene, Private, Unzugängliche; das Explizite, das Öffentliche, Gemeinsame, Zugängliche). Vielmehr meint doch ›explizieren‹ stets auch ein Auseinanderlegen, ein Klären des Impliziten, das dadurch »distinkt[er] erfasst« oder »gestalte[t]« 14 wird. In diesem Sinne gebraucht u. a. Charles Taylor den Begriff der Artikulation. Im Anschluss an Taylor könnte man daher sagen: Symbolische Artikulationen leisten eine »Formulierung oder Reformulierung« unseres nichtsymbolischen Weltverhältnisses, die dieses »nicht unverändert« 15 lässt. Kurz: Explikation modifiziert das Explizierte. Doch auch der Begriff der Explikation verstanden als Modifikation eines implizit Gegebenen konzipiert Explikation noch als etwas NachträgVgl. Stefan Niklas: Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu artikulieren (Anm. 4). 12 So die Formulierung in einem Sammelband zu einer Anthropologie der Artikulation. Das vollständige Zitat – ein eigentümliches Amalgam aus heideggerschem und cassirerschem Vokabular – bestimmt Artikulation als die »semantisierende Prägnanzbildung und damit [als, CK] ›eine symbolische Klärung und fixierend-deutende Auseinanderlegung‹ der implizit in den ›Erfahrungs /Handlungsepisoden‹ angelegten Bezüge.«; vgl., Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transzdisziplinäre Perspektiven, hg. v. Magnus Schlette, Matthias Jung, Würzburg 2005, 13. 13 Vgl. Stefan Niklas: Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu artikulieren (Anm. 4), 19. 14 Ebd., 19 und 20. 15 Charles Taylor: Was ist menschliches Handeln?, in: ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt /M. 1992, 39. 11

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liches. Das Ursprüngliche bleibt das Implizite. Als das zu Explizierende ist es logisch primär. Heideggers Verweis auf eine Gleichursprünglichkeit von Artikulation und Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins scheint diese Verhältnisbestimmung aber gerade aufkündigen zu wollen. Als gleichursprüngliche Aspekte des menschlichen Weltverhältnisses sind symbolische Artikulationen einerseits und im praktischen, sinnlich-wahrnehmenden oder sonst wie nichtsymbolischen Umgang mit der Welt sich einstellende Verständnisse anderseits weder aufeinander reduzibel noch lassen sie sich logisch hierarchisieren. Das Implizite, wie man dann sagen könnte, ist vielmehr nur von der Möglichkeit seines Hinaussprechens her als dasjenige verständlich, das z. B. »intuitiv gespürt« 16 werden kann, wie umgekehrt das Hinaussprechen nur dem etwas mitteilt, der sein Gespür für die Welt nicht verloren hat. Anders gesagt: Es bedarf der symbolischen Artikulation in einer grundsätzlichen Weise, damit das nichtsymbolische Weltverhältnis die Spuren aufweist, denen wir fühlend (sinnlich wahrnehmend, praktisch tätig etc.) folgen können, ohne dass diese Spuren qua Artikulation einseitig gelegt würden. Denn umgekehrt bedarf es ebenso des Bezugs auf diese im nichtsymbolischen Umgang mit der Welt zum Tragen kommende Gliederung, damit – und hier kommt die letzte Bestimmung ins Spiel – die Artikulation als bedeutende begriffen werden kann. Mit anderen Worten: Symbolische Artikulationen wären bedeutungslos ohne diesen Rückhalt in der Welt oder diese Anbindung an nichtsymbolische Praktiken. Die Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins, so könnte man vielleicht auch sagen, muss von der Verständigung über das In-der-Welt-Sein her gedacht werden, wie umgekehrt die Verständlichkeit dieser Verständigung von der Verständlichkeit des In-der-WeltSeins her. Der Proto-Gedanke einer solchen Interdependenz oder »unhintergehbare[n] Wechselbeziehung« 17 zweier begrifflich irreduzibler Größen liegt Wilhelm von Humboldts Idee der »doppelten Artikulation« zugrunde. Wie Matthias Jung ausführt, versucht Humboldt auf diese Weise die Spezifik des Zusammenhangs zwischen der lautlichen Gliederung der Sprache und der Gliederung unseres Denkens zu bestimmen: »Die sinnlogische Verkettung bedeutungstragender Elemente wird durch den arVgl. Stefan Niklas: Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu artikulieren (Anm. 4), 18. 17 Ebd., 25. Auch Kleists kurzer, aber berühmter Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ließe sich in die Ahnengalerie dieses Gedankens aufnehmen; vgl. Heinrich v. Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 3, hg. v. Siegfried Streller, Frankfurt /M. 1986, 722–723. 16

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tikulierten Fluss der Laute [. . . ] erst möglich gemacht.« 18 – Und doch bleibt die »Denkkraft«, wie Humboldt schreibt, ein von der lautlichen Artikulation »Geschiedenes«. 19 Erst dadurch, dass sie dies bleibt, wird die Doppelung der Artikulation verständlich. Sie besteht eben darin, dass nicht nur die sinnlogische Verkettung durch den artikulierten, d. h. gegliederten, in-sich-differenzierten Fluss der Laute, sondern dass auch die Ausbildungen differenzierter Laute erst durch den Zusammenhang mit bestimmten Sinnelementen des Denkens möglich ist. Was Humboldt sozusagen auf der Achse Geist – Sprache geltend macht, soll im Zuge des zweiten Kapitels auf der Achse Welt – Sprache oder nichtsymbolische – symbolische Praxis gesucht werden. Ich will es an dieser Stelle mit der Erkundung der durch Heideggers Bestimmung des Begriffs der Artikulation eröffneten historischen wie systematischen Bezüge belassen und stattdessen noch einmal zusammenfassend formulieren, worauf es mir in systematischer Hinsicht im Folgenden ankommen wird: Es soll eine Konzeption des Medien-Welt-Verhältnisses deutlich werden, der zufolge nicht nur symbolische Praktiken wesentlich auf nichtsymbolische Praktiken bezogen sind, sondern wonach auch umgekehrt nichtsymbolische Praktiken nur vor ihrem Bezug zu symbolischen Praktiken her begriffen werden können. Unser Sprechen, unser Rechnen oder unser bildliches Zeigen funktioniert so wenig aus sich heraus, wie es in Begriffen eines nichtsymbolischen Tuns rekonstruiert werden kann. Denn auch von diesem gilt, dass es seinerseits ohne das Zutun symbolischer Praktiken nicht das wäre, das es ist. Symbolische Artikulationen leisten in diesem Sinne keine Explikation vorsymbolisch konstituierter Praktiken. Vielmehr sind sie ein Moment des Zustandekommens dieser Praktiken selbst. Doch das ist eben nur eine Seite der Medaille. Wie es in dem diesem Kapitel vorangestellten Mottozitat heißt, werden eben auch die Zeichen, die symbolischen Artikulationen erst lebendig, sofern man sie in unsere zeichenfreien Praktiken hineinstellt. Die unsere nichtsymbolischen Praktiken artikulierenden symbolischen Praktiken lassen sich ihrerseits nicht aus den nichtsymbolischen Vollzügen herauslösen. Wir treten nicht symbolische Medien gebrauchend von außen an die Welt heran. Wie bewegen uns Symbole gebrauchend inmitten der Welt. Nichtsymbolische Aspekte unseres Standes in der Welt sind so auch ein Moment des Zustandekommens symbolischer Praktiken. Der interpretatorische Teil des zweiten Kapitels arbeitet in diese Richtung weisende Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin /New York 2009, 94. 19 Zitiert n. ebd., 87. 18

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Tendenzen der Symbolphilosophie Cassirers heraus. 20 Der systematische Teil ist darum bemüht, das Artikulationsmodell durch die konstruktivistische Skylla und die realistische Charybdis hindurch zu steuern. Das zweite Kapitel beginnt dazu mit einer Rekapitulation des bisher erreichten Diskussionsstandes. Im Lichte ausgewählter Überlegungen John McDowells und Ludwig Wittgensteins sollen zentrale Probleme des Konstruktionsmodells noch einmal so in Szene gesetzt werden, dass zugleich ein Weg zu ihrer Überwindung erkennbar wird; (2.1 Rückblende). Dieser Weg ist durch die vorangegangenen Ausführungen in gewisser Weise schon eröffnet. Durch den Rückblick soll zusätzlich deutlich werden, dass er tatsächlich aus den Problemen des Konstruktionsmodells herausführt und diese nicht nur durch einen unvermittelten Neuansatz hinter sich lässt. Mit McDowell und Wittgenstein kommen dabei zwei Autoren zu Wort, von denen (neben Heidegger) unterschiedliche, aber doch in eine ähnliche Richtung weisende Impulse für die Entwicklung des hier zu entfaltenden Artikulationsmodells ausgegangen sind. Der Weg, den diese drei Autoren je unterschiedlich eröffnen, soll allerdings im Detail mit Georg W. Bertram 21 beschritten werden, der sich seinerseits um eine eigenständige Weiterentwicklung von Überlegungen u. a. dieser drei Autoren verdient gemacht hat 22; (2.2 Grundzüge des Artikulationsmodells). Eine eigenständige Auseinandersetzung mit Heideggers SuZ erfolgt dagegen nicht. Heidegger fungiert eher als spiritus rector, der hier im Hinblick auf das Artikulationsmodell zu entfaltenden Überlegungen. Vor dem Hintergrund der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger, wie sie mit den Davoser Disputationen ihren ersten und zugleich letzten Höhepunkt erfuhr, bevor Cassirer aufgrund der Nazifizierung Deutschlands ins Exil gezwungen wurde, während Heidegger Karriere machte, wäre es eine auch philosophiehistorisch interessante Fragestellung, das Verhältnis der Cassirerschen Symbolphilosophie zur Hermeneutik Heideggers genauer zu bestimmen. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Frage leistet Michael Friedman: A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Illinois 2000. Den Hinweis auf Friedman verdanke ich Tidyan Bah. 21 Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006, bes. Kap. IV, 171 ff. Meine Ausführungen lassen sich maßgeblich von Bertrams Idee einer Ko-Konstitution von Strukturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken leiten. Ich hätte mein zweites Kapitel daher statt ›Artikulation‹ durchaus auch ›Ko-Konstitution‹ und das Artikulationsmodell ein Ko-Konstitutionsmodell nennen können. Allerdings wäre dann der Akzent auf die Frage nach der Rolle, die symbolische Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis spielen, verloren gegangen, auf den es mir vom Ganzen der Arbeit her ankommt. 22 Wie Bertrams Überlegungen in Auseinandersetzung mit McDowell und Heidegger Kontur gewinnen, ist besonders gut sichtbar in Georg W. Bertram: Der Zusammenhang von Sprache und Objektivität im semantischen Holismus. Oder: Wie überlebt der Empiris20

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Nachdem mit Bertram die begrifflichen Grundlagen des Artikulationsmodells erarbeitet wurden; erfolgt schließlich die versprochene Relektüre der PhsF. Dreh- und Angelpunkt dieser Relektüre bilden zunächst Cassirers Ausführungen zu den sogenannten Ausdrucksphänomenen. Sie geben ein bemerkenswert widersprüchliches Bild ab insofern, als Cassirer der Idee einer symbolischen Konstruktion von Welt hier relativ unvermittelt die Idee einer Fundierung symbolischer Formen in einem vorsymbolischen, affektiv-konturierten Weltverhältnis gegenüberstellt. Ziel der Relektüre ist es, zu zeigen, dass sich diese Widersprüche produktiv wenden lassen, indem man sie vor dem Hintergrund des Artikulationsmodells liest. Die Widersprüche der PhsF lassen sich als Ausdruck eines Versuches verstehen, das Konstruktionsmodell aufzugeben, ohne dabei in einen Bedeutungsrealismus zurückzufallen. Damit befindet sich Cassirer, so meine interpretatorische These, auf demselben hermeneutischen Weg, der mit dem Artikulationsmodell eingeschlagen wird; (2.3 Die Philosophie der symbolischen Formen revisited). 2.1 Rückblende 2.1.1 Geist und Welt Ich werde den Stand der Diskussion zunächst unter Rekurs auf einige Überlegungen rekapitulieren, die John McDowell in Geist und Welt 23 vorgetragen hat. Die Kritik, die das erste Kapitel entfaltet hat, ist nicht zuletzt auch an diesen Überlegungen geschult. Das gilt insbesondere für mus unter den Bedingungen des Holismus?, in: Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, hg. v. Bertram et al., Frankfurt /M. 2006, 187–207. 23 John McDowell: Geist und Welt, Frankfurt /M. 2001. Die folgenden Ausführungen erheben zu keinem Zeitpunkt den Anspruch, eine eigenständige Auseinandersetzung mit McDowell zu leisten. Dasselbe gilt für die anschließenden Überlegungen im Anschluss an Wittgenstein. Beide Autoren haben jedoch in erhellender Weise ihre Finger auf die wunden Punkte, sei es eines semantischen Formalismus, oder wie Brandom in Bezug auf Wittgenstein sagt, eines (semantischen) »Regulismus« (im Kontext dieser Debatte ließe sich auch Kreis' Cassirer-Lektüre noch einmal genauer befragen) gelegt, wobei sie gerade nicht bei einer Kritik dieser Positionen stehen geblieben sind, sondern Alternativen entworfen haben, die, wie ich angedeutet habe, den Übergang zwischen dem kritisierten Konstruktionsmodell hin zum Artikulationsmodell bereiten können. Zum Anti-Regulismus Wittgensteins aus Brandoms Sicht, vgl. Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt / M. 2000, 50 ff.

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die Kritik an Cassirers Begriff naturwissenschaftlicher Begriffe. Dafür ist es hilfreich, sich in aller gebotenen Kürze klar zu machen, worum es McDowell geht. Das theoretische Grundanliegen von Geist und Welt kann man in dem Entwurf einer Theorie sehen, die zeigt, wie es geistigen Wesen wie uns möglich ist, Überzeugungen über die Welt auszubilden, die gegen skeptische Zweifel prinzipieller Natur immun sind. Ein skeptischer Zweifel prinzipieller Natur hegt den Verdacht, dass das Denken von Gedanken oder die Ausbildung von Überzeugungen etwas sein könnte, das keinerlei Verbindung zu der Welt unserer Erfahrung aufwiese. Ein wichtiger Schritt ist es daher, zu zeigen, inwiefern der Gehalt von Überzeugungen oder von Begriffen als direkt durch die Welt bestimmt begriffen werden kann. Das Problem der empirischen Bestimmtheit begrifflichen Gehalts, wie es im Fokus des zweiten systematischen Schrittes des ersten Kapitels stand, treibt so gesehen auch McDowell um. McDowell macht nun genauer gesagt Folgendes geltend: »wenn wir dem Fluch der Leere entgehen wollen, dann müssen wir Anschauungen so betrachten, daß sie in rationalen Beziehungen zu dem stehen, was wir denken sollen, . . . « 24 Betrachtet man zunächst nur den Wenn-Teil des Satzes, dann lässt sich sagen, dass der Fluch der Leere, den es nach McDowell abzuwenden gilt, den fehlenden Weltbezug einer Menge von Überzeugungen meint, die sich, abgeschnitten von der sinnlichen Wahrnehmung, allein wechselseitig beglaubigen. Ich habe oben in Bezug auf den Begriff formal-holistisch konstituierter Begriffe oder Zeichen ganz analog deren Mangel an empirischer Bestimmtheit beklagt. Die Verwandtschaft beider Überlegungen liegt auf der Hand: So wie ich monierte, dass der Gehalt von Begriffen oder symbolischen Ausdrücken oder kurz: unser Symbolverstehen sich nicht weltunabhängig ergeben oder auf die »lateralen Verbindungen zwischen Zeichen und Zeichen« 25 allein stützen kann, kritisiert McDowell Positionen, die die Wahrheit von Überzeugungen auf die Wahrheit anderer Überzeugungen zurückführen wollen, wobei keine Überzeugung durch die Welt selbst wahr gemacht wird. Dieser von McDowell sogenannte Kohärentismus 26 begreift Überzeugungen in derselben Weise wie der semantische Formalismus den Gehalt von Zeichen: nämlich »als EleMcDowell: Geist und Welt (Anm. 23), 93; kursiv, CK. Maurice Merleau-Ponty: Das Indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: ders.: Zeichen, hg. v. Christian Bermes, Hamburg 2007, 55. 26 Dazu McDowell: Geist und Welt (Anm. 23), bes. 37 ff. Zu Konzept und Problemen des Kohärentismus vgl. auch die instruktiven Ausführungen in: Karen Gloy: Wahrheitstheorien, Tübingen /Basel 2004, 168–187. 24

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mente eines Gewölbes«, wie man noch ein letztes Mal mit Merleau-Ponty sagen kann, »von denen eines das andere abstützt.« 27 McDowells Gegenvorschlag deutet sich im zweiten Teilsatz an: Wenn wir die Ängste des Skeptikers beruhigen wollen, der argwöhnt, dass wir uns aufgrund der weltunabhängigen Konstitution des Gehalts unserer Überzeugungen prinzipiell darüber täuschen könnten, wie die Welt beschaffen ist, dann müssen wir zeigen, wie die Welt oder die Welt qua Sinneserfahrung unsere Überzeugungen rechtfertigen kann, dass es sich so und so verhält mit der Welt. Die Welt oder die Sinneserfahrung müssen gewissermaßen selbst die Gründe liefern, auf die wir uns berufen können, wenn unsere Überzeugungen in Zweifel gezogen werden (an dieser Stelle ist wohlgemerkt nur der übliche Zweifel an der Wahrheit von Überzeugungen gemeint und nicht ein Zweifel an ihrer Wahrheitsfähigkeit, wie man die Rede von einem prinzipiellen Zweifel vielleicht auch übersetzen könnte). Eine Überzeugung begründen oder rechtfertigen kann nun aber für McDowell (und alle anderen, die Wilfrid Sellars Kritik am sogenannten Mythos des Gegebenen teilen 28) nur, was »in einer logisch-inferenziellen Beziehung zu dieser Überzeugung steht.« 29 Das ist, was McDowell mit rational meint. In logisch-inferenziellen Beziehungen zueinander stehen, wie man gemeinhin sagt, propositionale oder begriffliche Gehalte. Ziel muss daher sein, zu zeigen, inwiefern die Welt oder die sinnliche Erfahrung von sich aus solche Gehalte bereitstellen kann. Oder: Es muss gezeigt werden, dass es Begriffe oder Überzeugungen gibt, die durch einen direkten Rekurs auf die Welt oder die sinnliche Wahrnehmung bestimmt sind und die eben dadurch einen empirisch bestimmten begrifflichen Gehalt besitzen. 30 Merleau-Ponty: Das Indirekte Sprechen (Anm. 25), 54. Vgl. dazu Wilfrid Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, Paderborn 2002. 29 Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin 2008, 491. 30 Es darf als umstritten gelten, ob McDowell letztlich eine »Verbegrifflichung der Welt« oder eine »Verweltlichung der Begriffe« (so die Alternative, die eröffnet wird in: Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 9), 277) betreibt. Gegen eine Verbegrifflichung argumentiert u. a. Christiane Schildknecht: Sense and Self. Perspectives on Nonpropositionality, Paderborn 2002, bes. 184 ff. Eine Lesart von McDowells, die in Richtung einer Verweltlichung von Begriffen weist, und daher auch das Potential hat, McDowell gegen die Einwände der Verbegrifflichungs-Lektüren zu verteidigen, deutet sich u. a. an in: Joseph Rouse: Geist, Körper und Welt. Todes und McDowell über Körper und Sprache, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 60/6, Berlin 2013, 787–809, und wird explizit vertreten von David Lauer, z. B. in: ders.: Offenheit zur Welt. Die Auflösung des Dualismus von Begriff und Anschauung, in: Die Philosophie John McDowells. Ein Handbuch, hg. v. Christian Barth und David Lauer, Münster 2014, 37–62. 27

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Ich habe nun in Auseinandersetzung mit SuF einen ganz ähnlich motivierten Versuch vorgestellt, die Welt qua Sinneserfahrung zu einer Instanz der Rechtfertigung von Überzeugungen über die Welt zu machen. Zwar geht es Cassirer offiziell nicht darum, den Weltbezug unseres Denkens überhaupt zu sichern, sondern vielmehr nur um die Explikation des empirischen Status naturwissenschaftlicher Begriffe. Doch das Grundanliegen ist erkennbar dasselbe: Auch das Ablesen von Messgeräten im Experiment zielt darauf, eine rationale Beziehung zwischen Geist und Welt, zwischen Überzeugungen darüber, wie die Welt verfasst ist und der Verfasstheit der Welt selbst herzustellen. Hypothesen (Geist) sollen mit Messdaten (Welt) abgeglichen werden 31, und dieser Vorgang soll uns zu einigen Überzeugungen über die Welt führen, die nicht allein spontan oder geistintern, sondern die zugleich rezeptiv bestimmt sind, d. h. zu Überzeugungen, deren Gehalt nicht allein unter Rekurs auf formal-mathematische Strukturbeschreibungen bestimmt ist oder durch Ableitung aus formalen Axiomen, sondern auch durch einen Rekurs auf die sinnliche Anschauung. Das Experiment oder genauer: das Experiment vermittels der Beobachtungssätze, die in begrifflicher Form zu Protokoll geben, was sich im Experiment ereignet, bildet sozusagen Cassirers »Tribunal der Erfahrung« 32, vor dem sich alle Überzeugungen, die wir in Bezug auf die Welt hegen, verantworten müssen. Doch dieser Versuch, das hat das erste Kapitel deutlich gemacht, scheitert. Die Gründe für dieses Scheitern lassen sich im Anschluss an McDowell nun noch einmal wie folgt formulieren: McDowell behauptet ganz allgemein, dass ein nicht unwesentlicher Teil der modernen Philosophie an der Aufgabe, Geist und Welt in eine rationale Beziehung zu setzen, scheitert, weil sie diese Aufgabe als Aufruf dazu missversteht, »dualistische Abgründe zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denken und Welt zu überbrücken [. . . ], eine Brücke, über den Abgrund zwischen Norm und Natur zu schlagen.« 33 Oder: Gerade weil ein bestimmter Schlag von Philosophen von einer begrifflichen Kluft zwischen Geist und Welt, zwischen Denken (begrifflich) und sinnlicher Erfahrung (nichtbegrifflich) ausgeht, bekommen sie die Forderung nach einer rationalen Kontrolle, die die Welt qua Erfahrung auf unser Denken Dass Cassirer auf einen noch schmaleren Begriff dessen festgelegt ist, was rational heißt, als McDowell – als rationale Beziehungen gelten in SuF schließlich nur Beziehungen zwischen mathematisch exakt quantifizierbaren Gehalten – macht noch nicht den entscheidenden Unterschied zwischen Cassirers und McDowells Konzeption aus. 32 W. V. O. Quine: Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders.: Von einem Logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt /M./Berlin /Wien 1979, 27–50. 33 McDowell: Geist und Welt (Anm. 23), 120. 31

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ausüben soll, theoretisch nicht in den Griff. 34 Die Sache geht schon im Ansatz schief. Das Scheitern der Lösung ist in die Problembeschreibung eingeschrieben. Eine solche Kluft durchzieht strukturell auch SuF : Das zeigt sich daran, dass Cassirer (naturwissenschaftliche) Begriffe als formal bestimmte Größen konzipiert, die Gehalt und Sinn aus sich heraus, d. h. weltunabhängig zu generieren vermögen, bevor sie dann in einem logisch zweiten Schritt auf die Welt angewendet werden. Durch dieses zweistufige Modell von Konstitution und Anwendung von Begriffen treten Geist und Welt in einer unwiderruflichen Weise auseinander. Anders gesagt: Eine Konzeption des Zusammenhangs von Begriffen und Welt oder von symbolischen Medien und Welt, für die der fragliche Zusammenhang darin besteht, dass aus sich heraus gehalt- oder sinnvolle Begriffe und symbolische Ausdrücke erst nachträglich einem Wirklichkeits- oder Welthaltigkeitstest unterworfen werden, bringt die Welt zu spät ins Spiel. Sobald die Bildung begrifflicher Zusammenhänge und unser Symbolverstehen so gedacht werden, dass sie durchaus unabhängig von irgendeinem Weltbezug in Gang kommen können, bekommen wir es mit der »gut geölte[n] Maschine« zu tun, die »vor sich hinkreiselt, unabhängig davon, ob sie die Welt dabei zu fassen kriegt oder nicht« 35, und vor der uns McDowell eindringlich warnt. Diese Beschreibung des Problems spielt den Verbegrifflichungs-Lektüren McDowells in die Hände (vgl. Anm. 30). Denn man wird geneigt sein, McDowells Antwort auf diese Diagnose so zu verstehen, dass die Kluft dadurch überbrückt werden können soll, dass man die sinnliche Anschauung selbst als begrifflich strukturiert begreift. Man kann dann McDowell diesbezüglich wiederum vorwerfen, dass er dadurch zum einen die Spezifik der sinnlichen Anschauung verfehlt (in diesem Sinne lassen sich etwa die Einwände von Charles Taylor und Hubert L. Dreyfus gegen McDowell lesen, vgl. dazu unten Kap. III.) und zum anderen, dass er dadurch selbst noch in einem Bild gefangen ist, dass der Dualismus mit sich bringt: Dass nämlich das Zusammenspiel zwischen Begriffen und Anschauungen als Kontakt, Berührung etc. konzipiert sein muss, dass irgendetwas von der Anschauung in die Begriffen ein- oder übergeht, was eben erklären würde, warum nach McDowell in der sinnlichen Anschauung und dem Denken grundsätzlich dieselben »begrifflichen Fähigkeiten zur Anwendung« kommen sollen, wenn auch im Falle der sinnlichen Anschauung »auf passive Weise«; vgl. McDowell: Geist und Welt (Anm. 23), 147. Demgegenüber werde ich im Anschluss an Bertram gewissermaßen das Prinzip des Kontakts zwischen sinnlicher Anschauung oder begrifflichem Denken oder kurz: zwischen Geist und Welt zugunsten des Prinzips ihrer Korrelation verabschieden, was den Vorteil mit sich führt, dass man z. B. ein Begriff der sinnlichen Wahrnehmung vertreten kann, der nicht in den Verdacht gerät, unangemessen überintellektualisiert oder verbegrifflicht zu werden. Eine dementsprechende Problembeschreibung müsste dann besser wohl alle verführerischen räumlichen Metaphern fallen lassen. 35 Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 9), 275. 34

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Doch hier muss man genauer nachfragen: Warum verfällt Cassirer überhaupt auf den Gedanken, Konstitution und Anwendung von Begriffen in dieser Weise zu trennen? Die Antwort darauf bestätigt die These, dass die Diagnose McDowells auch Cassirer trifft. Das lässt sich daran zeigen, wie Cassirer das Experiment ins Spiel bringt. Zunächst könnte man nämlich meinen, dass Cassirer das Gehäuse eines in sich geschlossenen begrifflichen oder sich strikt selbstbestimmenden symbolischen Systems durch die Einführung der Beobachtungssätze sprengt. Da nicht wir es sind, die bestimmen, was sich faktisch im Experiment abspielt (deswegen ist die Manipulation von Testergebnissen Betrug), sondern die Welt selbst, scheint es, als erfüllten die Beobachtungssätze McDowells Forderung nach Überzeugungen und Begriffen, die direkt durch die Welt oder durch die Welt qua sinnlicher Erfahrung bestimmt sind. Doch so ist es allem Anschein entgegen gerade nicht. Cassirers Rekurs auf die Beobachtungssätze dient nicht der Überwindung des begrifflichen Dualismus von Geist und Welt, sondern ist im Gegenteil gerade seinem Festhalten an diesem Dualismus geschuldet: Der Rekurs auf Experimente wird nötig, weil Cassirer einen Wirklichkeitstest für formale Begriffe oder formale Strukturbeschreibungen braucht. Und dass wir in den Naturwissenschaften wiederum überhaupt mit solcherart formalen Begriffen hantieren, ist wiederum dem Umstand geschuldet, dass Cassirer die Welt, wie sie uns in der sinnlichen Erfahrung gegeben ist, als eine formlose Mannigfaltigkeit begreift, die eben zur Bestimmung unserer Begriffe nicht taugt. Genau dadurch aber wird die Kluft zwischen Anschauung und Begriff beschworen, die McDowell zufolge die Wurzel allen Übels ist. Die Idee einer direkten Bestimmung des Gehalts unserer Begriffe durch die Welt macht nur Sinn, wenn man der Welt selbst schon eine Bestimmtheit zuspricht, wozu allerdings der »schlechte Cassirer« gerade nicht bereit ist. Wer überhaupt (exakte) Begriffe haben will, muss sie unter Rekurs auf die formale Mathematik selber bilden. Das ist die Losung von SuF. Damit erweist sich Cassirers Rekurs auf das Experiment als der zum Scheitern verurteilte Versuch, eine begriffliche Trennung zwischen Geist und Welt, zwischen Begriff und Anschauung nachträglich zu versöhnen, an der in begrifflicher Hinsicht gleichwohl festgehalten werden soll. Zum Scheitern verurteilt ist dieser Versuch genauer gesagt aus folgenden Gründen: Wenn die basale Spielanordnung von SuF die ist, die ich eben beschrieben habe, dann können Beobachtungssätze einfach keine besonderen Sätze sein, die irgendwie näher an der Welt sind als die sonstigen formal gebildeten Sätze. Denn warum sollte der Welt im Experiment plötzlich gelingen, was sie sonst nicht vermag: die Bestimmung des Gehalts von Begriffen und Überzeugungen? Um trotzdem daran festhalten zu können,

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dass die Erfahrung ein Tribunal bildet oder daran, dass (einige) Überzeugungen in den Naturwissenschaften durch die Welt selbst wahr gemacht werden, ersinnt Cassirer einen Kniff: Er schiebt den Ereignissen im Experiment ideale Werte unter. Beobachtbaren kontinuierlichen Zuständen am Messgerät werden diskrete Werte supplementiert. Eine »in sich selbst völlig geschlossene Begriffswelt« der formalen Mathematik oder »Einzelbegriff[e], einer in sich bedeutungs- und sinnvollen, nach festen Regeln gegliederten Sprache« (PhsFI, 15) werden auf »Größen« bezogen, die konstitutiv außerhalb dieser Begriffswelt oder dieser Sprache liegen. Nicht nur bleibt aber diese Bezugnahme mit dem Verdacht der Willkür behaftet, wie ich im ersten Kapitel gezeigt habe, sondern Supplementierung leistet einfach nicht dasselbe wie die geforderte direkte Bestimmung des Gehalts von Begriffen oder Überzeugungen durch die Welt oder durch die Welt qua sinnlicher Erfahrung. Die epistemische Relevanz von Beobachtungssätzen kann ja eingedenk der Kritik am Mythos des Gegebenen nur von ihrem Gehalt herrühren und dieser Gehalt muss begrifflicher Natur sein, doch die Ereignisse in der Welt – tanzende Nadeln am Geigermesser, steigende Quecksilbersäulen im Thermometer – lösen die Bildung von Beobachtungssätzen, wenn überhaupt, nur kausal aus, zur Bestimmung des Gehalts dieser Überzeugungen tragen sie so nichts bei; können sie nichts beitragen, solange man daran festhält, dass die Welt nur insofern bestimmt ist, als wir sie unseren begrifflichen oder symbolischen Strukturierungen unterwerfen. Cassirers Rekurs auf Beobachtungssätze dient damit genau besehen nicht dem Zweck, die Fertigung von Begriffen durch die Welt zu erläutern, wie McDowell fordert, sondern der Erläuterung des Passens fertiger Begriffe auf die Welt. Doch ein solches Passungsverhältnis lässt sich niemals so erläutern, dass dem Skeptiker die Zweifel ausgehen. Dass sich die Frage nach einem Passen überhaupt stellt, ist vielmehr schon Wasser auf skeptische Mühlen. Jede Berufung auf die Welt oder die Erfahrung zum Zwecke einer Art Sekundär-Unterscheidung von Begriffen und symbolischen Ausdrücken in welthaltige und leere Begriffe (oder in solche, greift man auf die Terminologie von Kreis zurück, die wirklich sind und solche, die nur objektiv sind), gerät in den Verdacht, bloß noch ein rhetorisches Manöver innerhalb der Grenzen des Begrifflichen oder des Symbolischen zu sein. – Und schreibt Cassirer nicht, dass der Mensch es »ständig mit sich selbst« zu tun hat, nicht mehr mit Dingen, »sondern [nur noch, CK] mit seine[n] Vorstellungen und Meinungen von den Dingen« 36? Solange Cassirer an der Idee einer einseitigen Bestimmung der Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007, 50. 36

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Welt qua symbolischer Medien festhält, wird er den Skeptiker nicht los, denn wenn die Grenzen des Verständlichen oder des Sinns durch unsere autonomen begrifflichen oder symbolischen Strukturen festgelegt werden, woran soll dann je die Angemessenheit, die Passung dieser Strukturen überprüft werden, wenn nicht an internen, selbstgebastelten Kriterien, was eben den Skeptiker auf den Plan ruft? Der Rekurs auf etwas, das Außerhalb der von diesen Begriffen und symbolischen Medien gezogenen Grenzen liegt, kann aus prinzipiellen Gründen kein verständlicher Rekurs sein. Von dieser Einsicht ist die ganze Travestie der Beobachtungssätze geprägt, wie sie in SuF zu beobachten ist. Die erste Lehre, die man aus den aufgezeigten Problemen ziehen sollte, kann man deshalb so formulieren: Eine zufriedenstellende Explikation des Medien-Welt-Verhältnisses muss den Gedanken aufgeben, dass der Weltbezug unserer Begriffe und symbolischen Ausdrücke logisch unabhängig von Fragen der Konstitution des Gehalts oder der Bedeutung dieser Ausdrücke beantwortet werden kann, und umgekehrt. Der Weltbezug (oder, wie Kreis sagt: die Wirklichkeit) unserer Begriffe und Zeichen darf nicht mehr als eine nachträgliche Auszeichnung verstanden werden, die wir einigen unserer auch so schon verständlichen und gehaltvollen Begriffen und Ausdrücken verleihen. Unser Symbolverstehen muss insgesamt als etwas erläutert werden, das von der Bestimmtheit der Welt abhängt oder sich in der Welt vollzieht. Symbolische Gehalte müssen als von Grund auf welthaltig erläutert werden. Doch was heißt das genau? McDowells diesbezüglicher Vorschlag lässt sich ohne tiefere Ausflüge in sein Werk nicht verständlich machen, für die hier allerdings nicht der nötige Raum ist; nur so viel zu einer möglichen Lesart seines Vorschlages: McDowell macht geltend, dass es Begriffe gibt, deren Gehalt nur (oder zumindest anders) versteht, wer die Welt entweder in einer bestimmten Weise sinnlich wahrzunehmen oder wer seine Wahrnehmung in bestimmter Weise auf Aspekte der Welt zu richten vermag. Im ersten Fall ist von Begriffen mit einem sogenannten phänomenalen Gehalt die Rede, sprich: von Begriffen, die z. B. bekunden, wie sich etwas anfühlt oder wie etwas riecht; im zweiten Fall ist von Begriffen mit einem perzeptuell-demonstrativen Gehalt die Rede, sprich: von Begriffen, die nur im Kontext einer bestimmten Situation verstanden werden, in der dasjenige zugegen ist oder in der auf dasjenige hingewiesen wird, worauf der Begriff bezogen ist, z. B. die Bemerkung »dieser Mann« verbunden mit einer Zeigegeste. Der im Horizont meiner Arbeit gesprochen entscheidende theoretische Zug, der mit dem Rekurs auf Begriffe mit solchen Gehalten verbunden ist, lässt sich wie folgt formulieren: Es handelt sich um Begriffe, die ihren Gehalt erst im Zuge ihres Gebrauchs in der

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Welt oder: im Zusammenspiel mit nichtbegrifflichen und nichtsprachlichen Praktiken gewinnen. Denn entweder muss ich mich in einer besonderen Weise sinnlich-wahrnehmend mit der Welt konfrontieren, ich muss z. B. eine Speise verkosten 37 oder ich muss meine Wahrnehmung in spezifischer Weise auf die Welt oder an der Welt ausrichten können (z. B. entlang einer Zeigegeste auf ein vor mir befindliches Objekt). Erst die Einbettung von Begriffen und sprachlichen Ausdrücken in eine komplexe (weil nicht allein begriffliche oder sprachliche) Praxis stattet diese Begriffe und Ausdrücke mit Gehalt aus. Diesen Hinweis auf eine Einbettung des Gebrauchs von Begriffen in eine sinnlich-wahrnehmende oder praktische oder sonst wie nichtbegriffliche Auseinandersetzung mit der Welt, verstehe ich (losgelöst von der speziellen Fassung, die McDowell dem Ganzen gibt) als die zweite Lehre, die sich aus den Problemen des Konstruktionsmodells ziehen lässt. Beide Lehren kombiniert liest sich McDowells Hinweis auf die Lösung der Probleme des Konstruktionsmodells dann so: Fragen der Konstitution des Gehalts und des Weltbezugs von symbolischen Ausdrücken lassen sich genau dadurch in einem Zuge beantworten (erste Lehre), dass man zeigt, wie der Gebrauch von symbolischen Medien mit sonstigen nichtsymbolischen Weisen des Zu-tun-Habens mit der Welt zusammenhängt (zweite Lehre). Oder etwas spezifischer: Die Konstitution der Bedeutung von Zeichen oder von symbolischen Ausdrücken muss im Zusammenhang mit sinnlich-wahrnehmenden, praktisch-tätigen oder auch affektiv-emotionalen Weisen der Auseinandersetzung mit der Welt erläutert werden. Bevor ich mich aber an eine genauere Ausarbeitung dieses Vorschlags begebe, will ich noch zeigen, dass auch die beiden anderen im ersten Kapitel traktierten Probleme in dieser Weise überwunden werden können. Zunächst einmal ist offenkundig, dass McDowells Überlegungen später einsetzen als meine eigenen, nämlich nach dem sogenannten Bestimmtheitsdefizit. Doch lassen sich McDowells Überlegungen als Antwort auch auf dieses Problem lesen. Zur Erinnerung: Das Bestimmtheitsdefizit resultierte ja daraus, dass der Begriff der Struktur allein nicht erklären kann, inwiefern die elementebestimmenden Beziehungen innerhalb von Strukturen bestimmte Beziehungen sind. Strukturen vermögen Instruktiv finde ich hier folgende Bemerkung David Lauers in: In der Welt der Sprache (Anm. 9), 297: »Mit McDowells Konzeption kann man darauf beharren, dass jemand, der bestimmte sinnliche Erfahrungen gemacht hat, über wirkliches begriffliches Verständnis verfügt: wieso also derjenige, der ein Nordlicht gesehen, eine Oboe vernommen oder Austern geschmeckt hat (und nicht nur davon erzählt bekam), jeweils über einen reicheren Begriff dieser Phänomene verfügt als jemand, der diese Erfahrung nicht machen kann oder nicht gemacht hat.« 37

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keine Selbstbestimmung zu leisten. Dieses Ergebnis macht den Rekurs auf eine »Größe« dringend, die die Bestimmung von Strukturen zu leisten vermag. Die Kritik McDowells und meine Kritik am Formalismus oder Mathematizismus Cassirers lässt sich nun so begreifen, dass sie deutlich macht, dass diese »Größe« die Welt selbst sein muss. Ist sie es nämlich nicht, folgt dem Bestimmtheitsdefizit oder dem Problem der Bestimmtheit überhaupt das Problem der empirischen Bestimmtheit auf dem Fuße: Das Bestimmtheitsdefizit würde zum Preis der oben beschriebenen Kluft zwischen begrifflichen oder symbolischen Gehalten und der Welt überwunden und damit der Weltbezug unserer Begriffe und symbolischen Ausdrücke unverständlich. Die Bestimmung der Struktur, genauer: die Bestimmung der elementebestimmenden Beziehungen von symbolischen Strukturen muss daher in einer Weise erläutert werden, die zugleich verständlich macht, dass diese Bestimmung eine empirische und keine nur formale Bestimmung ist. Der Gedanke nun, dass die Bestimmung von symbolischen Gehalten im Zuge einer komplexen, symbolische und nichtsymbolische Momente umfassenden Praxis erfolgt, verspricht eben dies zu leisten. 2.1.2 Tote Zeichen und Nekromantie Spuren des von McDowell und anderen 38 gegeißelten Dualismus lassen sich bis hinein in die Frage nach der Verfasstheit von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken verfolgen. 39 Als zugleich material und geistig verfasste Gegenstände werfen sie vergleichbare Schwierigkeiten auf: »Es scheint als habe das moderne Bewußtsein [. . . ] Sinn und Sinnträger voneinander getrennt und habe jetzt die Teile in der Hand, welche es dem Philosophen überreicht, damit er sie zusammensetze.« – Doch: »sofern [die Trennung] vollzogen wird, modifiziert sie die Teile, und zur Vgl. dazu u. a. auch Donald Davidson: Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt /M., 1990, 261–282. 39 Es ist meines Erachtens wenig überraschend, dass sich sowohl in Bezug auf die Frage der Konstitution begrifflichen Gehalts von Gedanken als auch von Zeichen als Zeichen ähnliche Probleme einstellen: In dem Maße, wie die Philosophie unser Erkennen und Denken als einen durch Zeichen vermittelten Vorgang begreifen lernt – die PhsF ist einer der klassischen Orte, an denen sich diese Einsicht durchsetzt –, zugleich aber am Konstruktionsmodell festhält, kehren die Probleme, die sich aus dem dualistischen Register der Erkenntnistheorie speisen, im Hinblick auf das Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit der Zeichengegenstände wieder. Der Dualismus, wie Cassirer ihn im Rekurs auf die Zeichen gerade überwinden zu können glaubt, treibt so im Begriff des Zeichens neue Blüten. 38

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ursprünglichen Einheit kann man nicht zurückkommen.« 40 Erneut steht man vor der Frage des Zusammenhangs zweier als disparat konzipierter begrifflicher Größen. 41 Und: Während es McDowell im Anschluss an Kant darum geht, die Einheit unseres begrifflichen Denkens und unserer sinnlichen Wahrnehmung als Einheit desjenigen Weltverhältnisses zu erläutern, das vernünftige Wesen wie wir ausbilden 42, geht es nun gewissermaßen darum, die Einheit sinnlicher und geistiger Momente unseres Umgangs mit Zeichengegenständen zu erläutern. Ich habe gegen Ende des ersten Kapitels gezeigt, dass die Konstitution von bedeutungsvollen Zeichengegenständen oder von symbolischen Ausdrucksgestalten im Rahmen des Konstruktionsmodells unter Rekurs auf ein Zusammenspiel zweier voneinander unabhängiger Komponenten erläutert wird, wobei die geistige Komponente sozusagen die Führung übernimmt, indem sie die Regeln angibt, nach welchen die sinnlich-materiale Komponente zu gestalten ist. Diese zeichentheoretische Konzeption entspricht konzeptionell durchaus dem, was Donald Davidson in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Welt als einen »Dualismus von Schema und Inhalt, von ordnendem System und etwas, was darauf wartet, geordnet zu werden« 43, kritisiert hat. Ich habe gezeigt, dass es einer solchen Konzeption nicht gelingt, zu erläutern, wie die geistige Komponente formend auf das Material zuzugreifen vermag und wie diese Konzeption damit außerstande ist, die Pluralität symbolischer Medien, die eben eine Pluralität auch der sinnlich-materialen Dimension von Zeichen ist, Rechnung zu tragen. In interpretatorischer Hinsicht habe ich allerdings auch herausgestellt, dass Cassirer zwar damit liebäugelt, eine intellektuelle Kraft, die sich gestaltend am Material zu schaffen macht, zum Garanten des Gehalts von Zeichen zu machen, dass er ebendiese Konzeption aber auch zu unterlauMichael Strauss: Empfindung, Intention und Zeichen. Typologie des Sinntragens, Freiburg / München 1984, 31 f. Dabei sollte ergänzt werden, dass das, was Strauss gerne einem anonymen »modernen Bewußtsein« anlasten will, oft genug das Werk der Philosophen selbst ist und war. 41 In diesem Sinne auch Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt /M. 2008, 12: »Spaltet man diesen Akt [der Sinnerschließung, des Symbolverstehens, CK] auf in sensuelle Reizaufnahme auf der Basis von Lichtwellen [im Falle des Sehens eines Bildes oder von akustischen Schallwellen im Falle des Hörens einer sprachlichen Äußerung, CK] einerseits und interpretierende Bedeutungszuschreibung andererseits, wird das Verständnis eines sinnfälligen und praktisch sich bewährenden Ganzen verstellt, wenn nicht gar unmöglich.« 42 So bestimmt Lauer die grundsätzliche Motivation, die McDowells Überlegungen in Geist und Welt auf Trab hält; vgl. Lauer: Offenheit zur Welt (Anm. 30). 43 Davidson: Was ist eigentlich ein Begriffsschema? (Anm. 38), 270. 40

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fen scheint, indem er dem Zeichenmaterial einen eigenständigen Beitrag zur Konstitution des Gehalts zutraut. Ich hatte diesbezüglich im Anschluss an Cassirer von einem wesentlich verkörperten Sinn gesprochen. Rhetorisch immer wieder im Register des dualistischen Erbes spielend verweist Cassirer, wenn er von einer solchen Verkörperung des Sinns spricht, auf das »Wunder, daß diese einfache sinnliche Materie [. . . ] ein neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt« (PhsFI, 25; kursiv CK). Er scheint damit anzudeuten, was Hans-Georg Gadamer später treffend als das »phänomenologische Urdatum« unseres Umgangs mit Zeichen bezeichnet hat, dass nämlich »das Wort sprechendes Wort ist« 44: Symbolische Ausdrücke oder Zeichen werden zumeist instantan verstanden. »Ich werde angesprochen und ich verstehe« 45, heißt es bei Maurice MerleauPonty. Solch ein Verstehen vollzieht sich im Vernehmen der Ausdrucksoder Zeichengestalt selbst. Verstehen und Wahrnehmung fallen zusammen. Es tritt nicht zu einer bloß akustischen oder visuellen Wahrnehmung von Lautvorkommnissen oder Farbaufträgen ein separater Akt des Verstehens hinzu, der Geist in die Materie bringt. Das Wort spricht uns direkt an, das Bild zeigt unmittelbar etwas. In diesem Sinne lassen wir uns im Verstehen durchaus vom »Material« des Zeichens führen. Das einfache sinnliche Zeichenmaterial gewinnt nicht erst ein geistiges Leben, es ist stets schon lebendig und als solches dann auch nie einfaches oder bloßes Material, im Sinne einer geistlosen, unverstandenen Materialität. Die Metaphorik der Lebendigkeit, die eine unmittelbare Verständlichkeit oder Bedeutsamkeit des Zeichens oder des symbolischen Ausdrucks markiert, eine »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen« (PhsFIII, 105), ist nun u. a. auch Ludwig Wittgenstein vertraut. Ich führe Wittgenstein hier neben McDowell als zweiten Gewährsmann für eine Überwindung des Konstruktionsmodells an, weil er einen Hinweis darauf liefert, wie diese Lebendigkeit genauer zu verstehen ist, der in eine ganz ähnliche Richtung führt, wie die Lehren, die ich mit McDowell aus dem Scheitern des Konstruktionsmodells gezogen habe. Man kann sich dazu an Überlegungen David H. Finkelsteins halten. Finkelstein behauptet, dass Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen 46 u. a. die Auffassung zurückweisen will, dass Zeichen ohne einen supplementierenden Akt des Verstehens stets nur bedeutungslose oder »tote« Gebilde wären: Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 10, 136. Maurice Merleau-Ponty: Der Algorithmus und das Geheimnis der Sprache, in: ders: Die Prosa der Welt, hg. v. Claude Lefort, München 1993, 135. 46 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt /M., 2013. Im Folgenden: PU. 44

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»In itself any rule [sign] is just a sequence of meaningless noises or inkmarks (or bodily movements). Something must be added to such items if they are to call for one activity rather than another. So [. . . ], an ›act of understanding‹ is needed in order to bridge the gulf between a rule [sign] – viewed as noises or inkmarks – and any determinate set of requierements.« 47

Ein Akt des Verstehens, der Deutung oder der Interpretation soll demnach eine eigentümliche Leistung des Symbolgebrauchers sein, durch den ein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand mit zunächst ausschließlich »bedeutungslosen« sinnlichen Eigenschaften mit einer wie auch immer unabhängig von diesem Gegenstand gegebenen Bedeutung verbunden oder verknüpft wird. Ohne diese Verknüpfung, diesen bedeutungsverleihenden Akt, bleibt die Farbe auf Papier und Leinwand, bleiben die Schwingung in der Luft, die Rhapsodie von Formen auf dem screen bloß Farbe, Lärm und unsinniges Geflimmer. Diese Auffassung betrifft nicht nur bestimmte Sonderfälle, in denen die Materialität der Zeichen tatsächlich in einer Weise als Material hervortreten kann, die unser Verstehen blockiert – z. B. bei einer in einer unleserlichen Sauklaue abgefassten Notiz, angesichts eines ungünstig beleuchteten Bildes, oder wenn mich jemand in einer unbekannten Sprache anspricht, – sondern sie erstreckt sich auf unseren Umgang mit Zeichen insgesamt: Jeder verstehende Umgang mit Zeichengegenständen, so die Behauptung, gegen die Wittgenstein sich wendet, erfordert zunächst deren Animation. Cassirer spricht im dritten Band der PhsF in selten drastischer Weise ganz analog von der irrigen Auffassung, dass der »›Verstand‹« ein »Zauberer und Nekromant« sei, »der die ›tote‹ Empfindung beseelt, der sie zum Leben des Bewußtseins erweckt«; und gibt dann zu bedenken: »Kann die Frage noch weiter lauten, wie aus bloßem bedeutungsfremden Dasein etwas wie Be deutung ›wird‹, wie aus dem bloßen ›Rohstoff‹ der Empfindung, als etwas prinzipiell Sinnfremdem, ein Sinn her vorg eht, nachdem doch einmal eingesehen ist, daß ebendiese Sinnfremdheit selbst eine bloße Fiktion ist?«, (PhsFIII, 223.) Wittgensteins Erwiderung lässt sich mit Finkelstein von folgender knapper Bemerkung aus den PU her entwickeln; (PU, § 432): »Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es.« Wittgenstein macht hier geltend, dass Zeichen wesentlich als gebrauchte Zeichen begriffen werden müssen: Ein Laut ist Wort nur im Gespräch oder im Zuge einer technischen Einweisung; eine zweidimensionale, vi47

David H. Finkelstein: Expression and the Inner, Havard 2003, 79 f.

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suelle Konfiguration ist ein Bild nur dann, wenn damit von der letzten Reise berichtet oder ein Lexikon bebildert wird, eine Folge von Klängen ist Musik nur im Club oder während einer Prozession durchs Dorf. Von Zeichen zu sprechen macht nur in Bezug auf solche Praktiken ihres Gebrauchs Sinn. Genauer gesagt: »The point is rather not that the ›weave of our live‹ or customs [. . . ] is what bridges the gulf between the statement of a rule and what it would satisfy it [oder: zwischen Sinn und Sinnlichkeit des Zeichens; CK]. It would be better to say that when rules are seen as situated within our lives, it becomes apparent that such gulfs are exceptional. In general, nothing bridges a gulf between a rule and its application because no gulf opens up.« 48 »Once we stop thinking of words in isolation from the human lives in which they're embedded – once we give up imagining that there's a gulf between every rule and its application – we can say, innocently, that a particular rule autonomously called for this or that.« 49

Wenn wir es mit Fällen von Zeichengebrauch zu tun haben, dann haben wir es mit besonderen Gegenständen zu tun, die keiner Animation bedürfen. Erst eine künstliche Abstraktion vom primär verstehenden Umgang mit den Zeichen (Fälle von Missverstehen und Unverständnis eingeschlossen), ein Absehen von der Praxis ihres Gebrauchs oder von der Einbettung sprachlicher Tätigkeiten im engeren Sinne in das Ganze »menschliche[r] Lebensvollzüge« 50, kann den Eindruck »toter« Gebilde entstehen lassen, die erst durch einen Akt des Verstehens, der Deutung oder der Interpretation »zum Leben erweckt« werden müssen. Wittgensteins Hinweis auf die Praxis des Gebrauchs von Zeichen ist in unterschiedlicher Weise aufgegriffen worden. 51 Ich möchte diesem HinFinkelstein: Expression (Anm. 47), 87. Ebd., 86. 50 Peter M. S. Hacker: Zwei Auffassungen von Sprache in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 60/6, Berlin 2012, 855. 51 Vielfach ist im Anschluss an Wittgenstein über die normative Struktur symbolischer Praktiken nachgedacht worden, wobei die Frage im Zentrum steht, wie wir diese Praxis als eine begreifen können, in der man zwar etwas falsch oder richtig machen kann, ohne aber entsprechende Kriterien als solche zu begreifen, die unabhängig von der jeweiligen Praxis konstituiert sind und diese Praxis gewissermaßen von außen anleiten. In diesem Zusammenhang spielt dann insbesondere der Rekurs auf einen weiteren Begriff Wittgensteins eine wichtige Rolle, der Begriff der »Lebensform«. Mit dem Begriff der Lebensform wird unser sprachliches Tun, verstanden als ein normativ strukturiertes Tun, in den Horizont kulturell etablierter Gebräuche und Gepflogenheiten einer Sprechergemeinschaft gestellt. Diese komplexen Zusammenhänge müssen begrifflich abge48 49

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weis nachgehen, indem ich einen weiteren berühmten Begriff aus den PU ins Spiel bringe, den Begriff des »Sprachspiels«. Doch sollte ich vielleicht auch hier dazu sagen, dass mich an Sprachspielen weder dessen normative schritten werden, soll verständlich werden, wie Sprache als normative funktioniert. Peter Hacker spricht diesbezüglich auch von einer ethnologischen Auffassung von Sprache; vgl. Hacker: Zwei Auffassungen von Sprache (Anm. 50), 855. Zum anderen ist der Hinweis auf den Gebrauch auch als ein Hinweis darauf gelesen worden, dass die Konstitution der Bedeutung von Zeichen wesentlich von Momenten des praktischen Vollzugs her begriffen werden muss. Das Nachdenken über Sprache und andere symbolische Medien in Begriffen der Praxis hat dabei wiederum durchaus unterschiedliche »Traditionen« ausgebildet: Einerseits soll unter Rekurs auf den Begriff der Praxis eine Kraft der Sprache erläutert werden, in die Welt wirksam einzugreifen. D. h., die Sprache soll mehr als nur Unterschiede machen dahingehend, wie wir die Welt verstehen. Sie soll einen Unterschied machen dahingehend, wie die Dinge in der Welt tatsächlich liegen. Man kann dies die performative Tradition nennen. Sie ist schließlich auch auf nichtsprachliche symbolische Medien ausgeweitet worden und hat sich in nichtphilosophischen Theoriekontexten als besonders wirkmächtig erwiesen. Vgl. u. a. Dorothea von Hantelmann: How to Do Things With Art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst, Zürich /Berlin 2007 und Silvia Seja: Handlungstheorien des Bildes, Köln 2009. Andererseits spielt der Praxisbegriff für bedeutungstheoretische Fragen im engeren Sinne eine Rolle. Es geht dann um Fragen, die mit dem Begriff des sprachlichen Gehalts oder der sprachlichen Bedeutung verbunden sind, etwa um die Frage, wie sich sprachliche Gehalte individuieren. Man kann dies die pragmatistisch-semantische Tradition nennen. Auch diese »Tradition« ist auf nichtsprachliche Medien ausgeweitet worden. So argumentiert z. B. für eine Gebrauchsabhängigkeit der Bildbedeutung in explizitem Anschluss an Wittgenstein Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellungen, Frankfurt / M. 2004. Die performative Tradition ist maßgeblich mit dem Wirken John Austins verbunden. Austins How to Do Things With Words, Cambridge /MA 1962 und die daran anschließende Sprechakttheorie haben gezeigt, dass Sprechen als ein handlungsanaloger Vollzug begriffen werden kann, und wie wir mittels sprachlicher Äußerungen wirksam in den Lauf der Dinge eingreifen: Ein Versprechen stiftet eine besondere soziale Beziehung, ein Befehl scheucht die Truppe aus den schützenden Graben, ein Kind wird auf seinen Name getauft. Der zweitgenannten »Tradition« geht es hingegen weniger darum, deutlich zu machen, inwiefern der Gebrauch symbolischer Medien ein Tun ist, mit dem sich in der Welt in diesem Sinne etwas ausrichten lässt. Stattdessen soll die wesentlich erst im Gebrauch symbolischer Medien sich vollziehende Herausbildung dessen, was im Sagen gesagt, im Hören gehört, im Zeigen gezeigt wird, erläutert werden. Es gilt dann, zu erläutern, inwiefern die Bedeutung unserer Zeichen oder symbolischen Ausdrücke nichts ist, was unabhängig von deren Gebrauch vorliegt, sondern dass Zeichen erst im Zuge ihrer konkreten Verwendung einen bestimmten Gehalt, eine bestimmte Bedeutung gewinnen. Momente der Verständigung, der Kommunikation, als die Gelegenheiten, in denen Verständigung erzielt und Verständnisse errungen werden, rücken hier in den Fokus. Vgl. dazu u. a. die Erläuterungen zum sog. »semantischen Pragmatismus« in Robert B. Brandom: Pragmatik und Pragmatismus, in: Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflechtungen zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie, hg. v. Mike Sandbothe, Weilerswist, 2000, 29–58, bes. 35 ff.

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Dimension noch deren Vollzugsförmigkeit (vgl. Anm. 52), sondern gewissermaßen nur deren »Requisiten« interessieren. Wittgenstein schreibt: »Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen« (PU, § 7). Es ist wichtig, zu sehen, dass Wittgenstein damit deutlich macht, dass ein Sprachspiel eben kein Spiel nur mit Sprache ist, etwa ein artistisches Spiel mit Worten, wie es die Lyrik mitunter betreibt. Wittgenstein ergänzt in diesem Sinne: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, . . . « (ebd., § 23) – ein Teil wohlgemerkt, nicht das Ganze. Die anderen Bestandteile solcher Sprachspieltätigkeiten sind neben Tätigkeiten des Wahrnehmens, des praktischen Tuns aber unter Umständen auch des Tanzens, Singens, also anderer nichtsprachlicher symbolischer Tätigkeiten, Beschaffenheiten der Welt selbst, also Gegenstände, andere Lebewesen, Wetterphänomene, Landschaften etc. Sprache ist, so könnte man dann sagen, nicht nur eingebettet in den normativen Horizont einer Lebensform, sondern vor allem auch in nichtsprachlichen Praktiken und die Welt, d. h. in die nichtsprachlichen Gegenstände und Sachverhalte, mit denen wir es tagein tagaus zu tun haben. Auf diesen Hinweis Wittgensteins will ich mich im Folgenden konzentrieren. 52 Ein Grund dafür, dass sich diese Dimension des Sprachspielbegriffs so leicht übersehen lässt, ist einerseits, dass Wittgenstein dieser Dimension deutlich weniger Aufmerksamkeit widmet, als etwa der Frage der Normativität, und andererseits, und vielleicht noch verhängnisvoller für die Rezeption der PU, dass Überlegungen zum Zusammenspiel von Sprache und Welt am deutlichsten im Zuge der Kritik am Repräsentationalismus des sogenannten Augustinischen Sprachbilds angeführt werden (vgl. u. a. PU, §§ 1, 19). Fragen des Zusammenspiels von verbalen und nicht-verbalen Tätigkeiten, von Sprache und Welt geraten so in ein ungünstiges Licht. Davon sollte man sich aber in der Sache nicht beirren lassen. Wittgensteins Beispiele für Sprachspiele lassen wenig Zweifel daran, dass er den Sprachspielbegriff keineswegs verbalistisch oder lingualistisch eng führt. Wittgenstein nennt u. a.: das »Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung)«, »Darstellen der Ergebnisse eines Experimentes durch Tabellen und Diagramme« und »Theater spielen« (PU § 23). Aber auch Beispiele, in denen es nicht zum Gebrauch anderer symbolischer Medien kommt, könnte man anführen, z. B. »Jemandem-einenDas Übersehen dieser nichtsprachlichen Dimension des Sprachspielbegriffs bei Wittgenstein haben die Eheleute Hintikka als »Irrtum der verbalen Sprachspiele« bezeichnet; vgl. Merril B. Hintikka, Jaakko Hintikka: Untersuchungen zu Wittgenstein, Frankfurt /M. 1996, 280. 52

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Spielzug-erklären«: In diesem Sprachspiel ist dann etwa der Trainer mit wilden Gesten auf dem Trainingsplatz zugange, platziert Spieler-Attrappen auf dem Feld, läuft verschiedene Positionen auf dem Platz ab, um vorzuführen, wie die Laufwege sind usw. Was auch immer ich im Zuge solcher komplexen Praktiken sage, gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang mit den vorfindlichen Requisiten, und meinen sonstigen nichtverbalen Aktivitäten. Unser sprachliches Tun ist wesentlich in die Welt als den Ort, an dem sich diese Praxis vollzieht, eingebunden oder eingebettet, und über diese Welt wird zugleich nicht nur gesprochen, sondern sie wird begangen, ertastet, gerochen etc. Als Sprechende sind wir zugleich sinnlich wahrnehmend, uns körperlich positionierend, praktisch handelnd oder sonst wie agierend mit Gegenständen und Sachverhalten der Welt befasst. Die Konstitution der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke soll aus diesem Verwickeltsein in die Welt und nichtsprachliche Praktiken heraus erläutert werden. So lässt sich der Begriff des Sprachspiels zuspitzen. Wieviel Gewicht Wittgenstein den nichtverbalen Sprachspiel-Komponenten für die Explikation verbalen Verstehens zubilligt, lässt sich abschließend an einer Bemerkung ermessen, in der sich gewissermaßen die Rangordnung umkehrt: Die sprachlichen Ausdrücke (in diesem Fall ästhetische Prädikate), um deren Verstehen es eigentlich geht, werden zum Randphänomen der Situation erklärt, in der sie ausgesprochen werden: »Es ist der Sprache eigentümlich, daß sie ein Bestandteil einer großen Gruppe von Tätigkeiten ist – des Redens, Schreibens, Busfahrens, der Begrüßung, wenn man jemanden trifft usw. Wir konzentrieren uns nicht auf die Wörter ›gut‹ oder ›schön‹, die für sich genommen ganz uncharakteristisch dastehen, [. . . ], sondern auf die Anlässe, aus denen sie gebraucht werden – auf die enorm komplizierte Situation, in der der ästhetische Ausdruck seinen Platz hat, . . . « 53 2.1.3 Arbeitsprogramm McDowells und Wittgensteins Überlegungen, soweit ich sie hier referiert habe, greifen allerdings in einem Punkt zu kurz: Sie schenken der strukturalen Verfasstheit des Verstehens wenig Beachtung. Bei beiden Autoren entsteht der unglückliche Eindruck, der Gehalt von Begriffen oder die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lasse sich isoliert von anderen Begriffen und Ausdrücken explizieren, solange diese nur in der rechten Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen über Ästhetik, § 5/21 in ders.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, hg. v. Cyrill Barrett, Göttingen 1968. 53

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Weise in die Welt und in den Kontext sonstiger nichtbegrifflicher oder nichtsprachlicher Tätigkeiten eingebettet werden. 54 Das Hauptaugenmerk scheint den Zusammenhängen begrifflicher und nichtbegrifflicher oder sprachlicher und nichtsprachlicher Momente unseres Weltverhältnisses zu gelten. Zusammenhänge begrifflicher oder sprachlicher Natur bleiben auffällig unthematisch. Das ist, vom ersten Kapitel her betrachtet, nicht ohne Probleme. Denn bei allen Problemen, die das Konstruktionsmodell seinerseits durch eine Überbetonung der Zeichen-Zeichen-Beziehungen aufwirft, sind mit der theoretischen Aufwertung und Würdigung dieser Beziehungen doch Einsichten verbunden, an denen auch nach dem Scheitern des Konstruktionsmodells festgehalten werden kann. Ohne einen Begriff von Zeichen-Zeichen-Beziehungen als Teil der Explikation des Medien-Welt-Verhältnisses droht nämlich erneut ein Begriff symbolischer Medien und Praktiken als gegenüber der Welt eigenständiger Größen verloren zu gehen. Ich habe ja mit Cassirer gegen den klassischen Repräsentationalismus gezeigt, inwiefern es eines Rekurses auf Zeichen-Zeichen-Beziehungen bedarf, um symbolische Medien und Praktiken von ihrem derivativen Status zu befreien. An dieser Einsicht soll festgehalten werden. Denn an ihr hängt wiederum die Möglichkeit eines Begriffs der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken. Nur wenn Sprache und andere symbolische Medien als gegenüber der Welt eigenständige Größen erläutert werden – und das heißt eben nach den bisherigen Erläuterungen, sie wesentlich auch als von Zeichen-ZeichenBeziehungen geprägte Größen zu begreifen –, können sie einen genuinen Beitrag zu einem Bedeutungsgeschehen leisten, das auch die Welt umfasst. Wenn nämlich auch für unser verstehendes Weltverhältnis gilt, dass nur verstanden ist, was strukturiert ist, dann müssen symbolische Medien, sofern sie einen (wie auch immer zu bestimmenden) Beitrag zu dieser strukturalen Verfasstheit des Weltverstehens leisten sollen, selbst als strukturiert begriffen werden. Man kann Sprachspiele hinsichtlich ihrer nichtsprachlichen Dimensionen so komplex anlegen wie man will: Von einzelnen Zeichen oder isoliert begriffenen Zeichengebräuchen her lässt sich ein »strukturierender« Beitrag nicht verständlich machen. Das kann ich auch noch einmal direkter auf die Probleme beziehen, die das Konstruktionsmodell hinterlassen hat: Gesucht wird ja nach einer bedeutungs- oder symboltheoretischen Konzeption, die das BestimmtheitsDass durchaus auch McDowell und Wittgenstein einen holistischen oder strukturalen Ansatz in Bezug auf den Begriff des begrifflichen Gehalts oder der sprachlichen Bedeutung teilen, will ich unten gleich noch andeuten. Mir scheint aber dennoch, dass diese Überlegungen bei ihnen weniger prominent diskutiert werden. 54

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defizit vermeidet, das sich aus der Idee einer strikt wechselseitigen Bestimmung von Elementen innerhalb einer Struktur ergibt, und die zugleich nicht formalistisch ausfällt, sprich: die die Konstitution symbolischer Strukturen nicht weltunabhängig zu explizieren versucht. Bei McDowell und Wittgenstein zieht nun das Formalismusproblem gewissermaßen alle Aufmerksamkeit auf sich. Ihnen (und insbesondere McDowell) geht es primär darum, den Gedanken einer Ablösbarkeit von Begriffen und Sprache von der Welt zu kritisieren. Folgt man ihnen allein darin, dann fällt unter den Tisch, dass im Ausgang des Konstruktionsmodells in erster Instanz nicht die Bestimmtheit und der empirische Gehalt einzelner Begriffe und Zeichen infrage steht, sondern die empirische Bestimmtheit der elementebestimmenden Beziehungen, aus denen heraus einzelne Zeichen Bestimmtheit gewinnen. Es ist mit anderen Worten die holistische Theoriefigur oder die Struktur als Ganze, die im Rahmen des Konstruktionsmodells in der Luft hängt. Wer eine Lösung dieses Problems sucht, muss nach einer Lösung auf holistischem oder strukturalem Terrain suchen. Mit McDowell und Wittgenstein scheint das nur begrenzt möglich. Eine in diesem Sinne »strukturbewusste« Antwort auf die Probleme des Konstruktionsmodells, die zugleich auf der Linie des von Heidegger, Wittgenstein und McDowell eröffneten Weges liegt, lässt sich dagegen von Georg W. Bertrams Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie 55 her entwickeln. Die folgenden Überlegungen wollen eine Rekonstruktion eines kleinen Teils dieses Entwurfs leisten. Es soll nun aber keineswegs unerwähnt bleiben, dass sowohl Wittgenstein als auch McDowell im Grunde einem holistischen oder strukturalen Credo folgen. Bei Wittgenstein heißt es in diesem Sinne: »Als Teil eines Sprachsystems [. . . ] hat der Satz Leben.« 56; und in § 199 der PU : »Einen Satz verstehen, heißt, eine Sprache verstehen.« Offen bleibt aber, wie sich diese Bemerkungen mit jenen zu den nichtverbalen Dimensionen von Sprachspielen verbinden lassen. War es im Zusammenhang mit dem Sprachspielbegriff die Einbettung von sprachlichen Ausdrücken in das Ganze einer auch nichtverbale Aspekte umfassenden Tätigkeit, die die Bedeutung oder die »Lebendigkeit« sprachlicher Ausdrücke erklären sollte, werden dafür an den eben zitierten Stellen nur sprachliche Strukturen namhaft gemacht. Wiewohl der späte Wittgenstein nicht in dem Verdacht steht, einer Zweiteilung der Bedeutungstheorie in Fragen der strukturalen Konstitution des Gehalts sprachlicher Ausdrücke und solche der Anwendung gehaltvoller Ausdrücke das Wort zu reden, stellt 55 56

Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), bes. Kap. IV. Ludwig Wittgenstein: Das Blaue Buch, Frankfurt /M. 1989, 20.

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sich dennoch die Frage, inwiefern die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sowohl von ihrer Einbettung in sprachliche Zusammenhänge als auch von ihrer Einbettung in nichtsprachliche Zusammenhänge herrührt. Auch McDowell deutet in Geist und Welt an, dass er eine holistische Auffassung in Bezug auf sprachliche Bedeutung oder begrifflichen Gehalt teilt. Gleich zu Beginn zeichnet er dort das Bild eines Begriffssystems, das durch Folgerungsbeziehungen wie durch ein »System von Kanälen« zusammengehalten wird; Kanäle, durch die sie, einer gleichwohl irrigen Auffassung zufolge, mit empirischem Gehalt versorgt würden. 57 Obwohl McDowell bestreitet, dass wir die empirische Bestimmung begrifflichen Gehalts nach diesem Modell der Flutung eines trockenen, geistigen Kanalsystems mit dem Lebenssaft der sinnlichen Wahrnehmung begreifen können, verwirft er doch nirgends grundsätzlich das Bild, dass wir im Denken in einer von Kanälen durchzogenen Landschaft unterwegs sind; Begriffe also wesentlich aus ihrem Zusammenhang mit vielen anderen Begriffen heraus Gehalt gewinnen. McDowells oben kurz skizzierter Alternativvorschlag wirft wiederum die Frage auf, inwiefern uns die Welt in der sinnlichen Wahrnehmung als eine offen steht, auf die wir im Gebrauch von z. B. perzeptuell-demonstrativen Begriffen in bestimmter Weise zugreifen können. Denn das scheint ja wohl vorausgesetzt: Wie sollte eine Zeigegeste, die ein Objekt aus der Welt herausgreift, das mit der sprachlichen Wendung ›dieser Mann‹ bezeichnet wird, in der Welt Halt zu finden vermögen, wenn die Welt nicht schon in der sinnlichen Wahrnehmung festumrissene Einzelgegenstände zu erkennen geben würde? McDowells Antwort auf diese Frage ist bekanntermaßen mit seiner Reaktualisierung des ursprünglich aristotelischen Begriffs der zweiten Natur verbunden: Symbolgebrauchende Wesen wie wir, entwickeln im Zuge ihres Erlernens einer Sprache oder von Begriffen zugleich ihre sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten in bestimmter Weise. Sie vermögen z. B. eine Handlung, die man als unmoralisch begreifen und bestimmen kann, als eine solche zu sehen. 58 Solche und ähnliche Überlegungen McDowells haben immer wieder Anlass zu dem Argwohn gegeben, hier würden Unterschiede zwischen sprachlichen oder begrifflichen und sinnlichen Wahrnehmungspraktiken verfehlt. Wenn die Welt, die wir sinnlich wahrnehmen, sich uns immer schon so darbietet, Vgl. McDowell: Geist und Welt (Anm. 23), 31: »Die empirische Substanz wird von der untersten Stufe auf die empirischen Begriffe übertragen, die weiter entfernt von der unmittelbaren Erfahrung sind, wobei die Übertragung in den Kanälen verläuft die durch die Folgerungsbeziehungen gebildet werden, die ein Begriffssystem zusammenhalten.« 58 Vgl. dazu John McDowell: Tugend und Vernunft, in: ders.: Wert und Wirklichkeit. Aufsätze zur Moralphilosophie, Frankfurt /M. 2009, 74–106. 57

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dass Wahrnehmungen problemlos in begriffliche Praktiken eingebunden werden können, wird unverständlich, wie sich unsere Begriffe noch an der Welt »zu reiben« vermögen. Oder als Frage formuliert: Wie lassen sich Aspekte unseres nichtsymbolischen Standes in der Welt als von symbolischen Medien und Praktiken geprägt begreifen, ohne dass sie dadurch von diesen ununterscheidbar werden? Ich werde im Folgenden diese Frage ebenso wenig wie diejenige, die ich oben in Bezug auf Wittgenstein formuliert habe, in Auseinandersetzung mit diesen beiden Autoren diskutieren. Stattdessen möchte ich diese Fragen verallgemeinern und einem Arbeitsprogramm hinzufügen, dass sich im Anschluss an das erste Kapitel wie folgt knapp umreißen lässt: Eine Neubestimmung des Zusammenhangs von Medien und Welt muss erstens nicht nur Antworten auf die beiden Probleme des Konstruktionsmodells liefern, namentlich auf das Bestimmtheitsdefizit und das Formalismusproblem. Sie muss auch deutlich machen, inwiefern man der Welt eine Strukturiertheit oder Artikuliertheit zusprechen kann, die von der Strukturiertheit symbolischer Medien unterschieden ist. Denn nur so wird überhaupt denkbar, dass die Welt an der Bestimmung symbolischer Strukturen beteiligt ist. Zweitens darf man sich hierbei nicht realistisch verzetteln: Die Eigenstrukturiertheit der Welt darf nicht so erläutert werden, dass sie nun ihrerseits die Strukturen in symbolischen Medien fundiert. Man fiele sonst in ein Verständnis symbolischer Medien zurück, in dem kein Raum für den Begriff einer genuinen Produktivität symbolischer Medien ist. Drittens darf aber die Distanz zwischen den Strukturen der Welt und den Strukturen symbolischer Medien auch nicht so »groß« sein, dass erstere als unabhängig von symbolischen Medien und Praktiken konstituiert begriffen werden. Es würde so nur von Neuem eine Kluft zwischen Geist und Welt aufgetan. 2.2 Grundzüge des Artikulationsmodells Eine Erläuterung des Artikulationsmodells kann bei dem Begriff nichtsymbolischer Praktiken 59 ansetzen, wie er im Kontext einer im weitesBertrams Überlegungen beschränken sich auf das Verhältnis von sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken. Unter seinen Begriff nichtsprachlicher Praktiken fallen jedoch keine nichtsprachlichen symbolischen Praktiken, wie z. B. bildliche oder musikalische Praktiken. Sein Begriff nichtsprachlicher Praktiken lässt sich daher problemlos auf nichtsymbolische Praktiken erweitern. Soweit nicht explizit auf einen abweichenden Gebrauch hingewiesen wird, verstehe ich den Begriff nichtsprachlicher Praktiken im Folgenden im Sinne von nichtsymbolisch. Die Frage, wie sich verschiedene symbolische 59

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ten Sinne verstandenen pragmatistischen Theoriebildung entwickelt wurde. 60 Damit verschiebt sich der theoretische Fokus der Arbeit zunächst nicht unwesentlich: Habe ich bisher vor allem über symbolische Medien und Praktiken nachgedacht, treten nun erstmals nichtsymbolische Praktiken in den Fokus; (2.2.1). Dieser Orientierung folge ich auch im zweiten Schritt. Allerdings werde ich hier den Begriff nichtsymbolischer Praktiken dadurch weiter aufzuklären versuchen, dass ich dezidiert symbolische Praktiken in das Bild dieser Praktiken einzeichne; (2.2.2). Erst mit dem letzten Schritt kehre ich die Frageordnung dann wieder um. Hier wird die Frage beantwortet, die das erste Kapitel hinterlassen hat: wie nämlich symbolische Strukturen als empirisch bestimmt begriffen werden können; (2.2.3). Zwei weitere Vorbemerkungen scheinen mir ratsam: Erstens hoffe ich, deutlich machen zu können, dass dieses schrittweise Ausgehen vom Begriff nichtsymbolischer Praktiken allein den Erfordernissen der sukzessiven Entfaltung der Überlegungen geschuldet ist. Dieses Vorgehen impliziert nicht, dass der Begriff nichtsymbolischer Praktiken den Begriff symbolischer Praktiken erklären oder dieser in jenem fundiert werden soll. Vielmehr soll, wie ich zu Beginn des Kapitels schon ausgeführt habe, deutlich werden, dass der Begriff nichtsymbolischer Praktiken seinerseits nicht unabhängig vom Begriff symbolischer Praktiken begriffen werden kann. Unser Verstehen setzt nicht auf der Ebene eines vorsymbolischen Umgehens oder Vertrautseins mit der Welt ein, wo die Basis für alle weiteren Verstehensleistungen, bis hinauf zu den abstraktesten begrifflichen Bestimmungen gelegt wird. Eine Explikation symbolischer Praktiken kann daher nicht auf den Begriff nichtsymbolischer Praktiken gestützt werden. Zweitens gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass Bertram mit Heidegger und Merleau-Ponty auf zwei Autoren rekurriert 61, deren Nachdenken über nichtsymbolische Praktiken nicht auf ein Nachdenken über einfache praktische Tätigkeiten beschränkt ist, wie sie im Zentrum von Bertrams Argumentation stehen. Heidegger und Merleau-Ponty nehmen insbesondere auch Aspekte unseres affektiv-emotionalen Verhaltens zur Welt sowie sinnlich-leibliche Wahrnehmungspraktiken in den Blick. Ich werde diese Aspekte hier nicht eigens einführen, komme auf sie aber gelegentlich schon zu sprechen, weil sie für die anstehende Relektüre der Praktiken zueinander verhalten, lasse ich zunächst offen. Ich komme im dritten Kapitel darauf zurück. 60 Neben den Autoren des klassischen amerikanischen Pragmatismus (William James, Charles S. Peirce, James Dewey) zählt Bertram dazu aus der hermeneutischen Tradition Heidegger, und am Rande aus der phänomenologischen Tradition auch Merleau-Ponty. 61 Vgl. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 172 ff.

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PhsF eine größere Rolle spielen werden. Da es mir im Folgenden nur um die Darlegungen der konzeptionellen Grundzüge des Artikulationsmodells geht, in deren Zuge mich verschiedene nichtsymbolische Praktiken oder Vollzüge nur im Hinblick auf die systematische Rolle interessieren, die sie innerhalb dieses Modells meines Erachtens gleichermaßen bekleiden, halte ich es für gerechtfertigt, sie hier nicht näher zu unterscheiden. 62 Nun aber zum pragmatistischen Begriff nichtsymbolischer Praktiken. 2.2.1 Bestimmtheit und Strukturiertheit nichtsymbolischer Praktiken Nichtsymbolische Praktiken können sein: ein Fenster öffnen, ein Leuchtmittel in die Fassung drehen, auf Tontauben schießen; aber auch komplexere Tätigkeiten wie den Sound im Konzertsaal abnehmen, ein Haus bauen, Fußball spielen. Nichtsprachlich und nichtsymbolisch sind solche Tätigkeiten, sofern sie vollzogen werden, ohne dass sprachliche Ausdrücke oder andere Zeichen gebraucht oder produziert werden, wie dies bei der Lektüre eines Buches, während eines Gespräches oder einer Theateraufführung zwangsläufig der Fall ist. Doch so wie das Lesen oder ein Gespräch führen nichtsymbolische Praktiken (z. B. das Umblättern der Seiten) oder leibliche Praktiken (z. B. mich meinem Gesprächspartner zuwenden) involviert 63, sind gerade auch komplexere nichtsymbolische Tätigkeiten vielfach mit Zeichenpraktiken verbunden. Die Koordination eines Filmdrehs etwa wäre ohne Absprachen und Anweisungen, ohne Listen, Storyboards, Hinweisschilder, Lagepläne etc. nicht möglich. Eine eindeutige Klassifikation von Tätigkeiten oder Handlungen als symbolisch oder nichtsymbolisch ist so nicht immer sinnvoll möglich. Gleichwohl gibt es auch während eines Filmdrehs viele Momente »wortlosen [oder: zeichenlosen, CK] Tuns« 64: das Ausleuchten des Sets, das Abpudern der Darsteller, das ganze elende Herumtragen von schweren Dingen, das SitZum Begriff einer leibhaft erschlossenen Welt im Anschluss an Merleau-Ponty vgl. u. a. die Ausführungen in: Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2010, bes. Kap. 6; zum Begriff einer stimmungshaft erschlossenen Welt im Anschluss an Heidegger vgl. u. a. die Ausführungen in: Jan Slaby: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008. 63 Die Theateraufführung ist diesbezüglich ein besonders kniffeliger und spannender Fall, weil hier durchaus alles zum Zeichen werden kann. Vgl. dazu: Manuel Scheidegger: Partikularität statt Flüchtigkeit. Für eine Revision eines theatertheoretischen Topos, in: Stefanie Heine / Sandro Zanetti (Hg.): Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, Paderborn 2017, 201–211. 64 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 172. 62

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zen und Warten auf den nächsten Take. Auf solche Momente kommt es für den Begriff nichtsymbolischer Praktiken an. Gemeinsam ist solchen Praktiken (neben dem Umstand, dass sie ohne aktualen Gebrauch von Zeichen vollzogen werden) erstens, dass sie Weisen eines direkten Umgehens oder Zu-tun-Habens mit der Welt darstellen. Der Weltbezug solcher Praktiken gilt daher als unproblematisch oder gesichert. Zweitens bewegen wir uns im Zuge solcher Praktiken »innerhalb von Strukturen.« 65 Diese beiden Momente unseres nichtsymbolischen Tuns sind für die folgenden Überlegungen zentral. Ich werde nacheinander etwas genauer auf sie eingehen. Was heißt es, dass nichtsymbolisch Tätige in ihrem Tun an den »Verfasstheiten der Welt orientiert sind«, wodurch – und darauf kommt es an – die »Bestimmtheit [. . . ] nichtsprachlicher [lies: nichtsymbolischer, CK] Praktiken [. . . ] fraglos« 66 ist? Bertrams diesbezügliche Ausführungen sind denkbar knapp. Ich verstehe sie so: Zum einen ist die Welt selbst bestimmt in dem Sinne, dass sie im Zuge nichtsprachlicher Praktiken einen spezifischen »Widerstand« oder eine spezifische »Beharrlichkeit« zeigt, dass sie »kratzt und knirscht.« 67 Die Geländeverhältnisse, die den Aufstieg zum Gipfel beschwerlich machen, sind ein solcher Widerstand, ebenso wie mein Gegenüber, das mich partout nicht ausreden lässt, der Umstand, dass jeder Weg dauert und jede Last wiegt. Aber auch der auffrischende Wind, der den Segelturn erst in Schwung bringt, ist eine Weise, wie sich die Welt in praktischen Zusammenhängen in bestimmter Weise zeigt und geltend macht. Im Vollzug praktischer Tätigkeiten und im Lichte der verfolgten Vorhaben entdecken wir die Welt als eine, die uns von sich aus und durchweg Gegenstände und Sachverhalte aufhalst, die sich so oder so anfühlen, die diese oder jene Eigendynamik entwickeln und mit denen wir wohl oder übel zurechtkommen müssen. Etwas neutraler formuliert: Nirgends tun sich im praktischen Umgang mit der Welt Leerstellen oder unbestimmte Zonen auf, wo die Welt gewissermaßen erst noch eine bestimmte Gestalt annehmen müsste, damit sie unserem praktischen Tun Halt oder Widerstand bieten könnte. Dass unklar sein kann, wie das Wetter sich entwickelt, wo der Treibsand sich befindet, wie das Pferderennen ausgehen wird oder was mein Gegenüber im Schilde führt, spricht nicht gegen diese Behauptung: Noch jedenfalls scheint die Sonne, die Stelle im Wüstensand, von der aus wir nach Gefahrenstellen Ausschau halten, trägt, Seabiscuit führt das Feld an, und mein Gegenüber macht 65 66 67

Ebd., 178. Ebd., 180. Ebd., 193.

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keine Anstalten, seine Waffe zu ziehen. 68 Für den praktisch Tätigen und ebenso für den sinnlich Wahrnehmenden, den leiblich Agierenden und den affektiv-emotional Empfindenden ist die Welt immer da und irgendwie. Diese Bestimmtheit der Welt ist gleichwohl keine begriffliche Bestimmtheit: wer auf einer Slag-Line balanciert, ist kein Wortakrobat; wer verschiedenfarbige Dinge sieht, sieht nicht Dinge, auf denen Täfelchen mit Farbnamen kleben; und in gewisser Weise sieht, hört oder schmeckt man sogar vieles, wofür man jedenfalls keine Begriffe hat. 69 Die Bestimmtheit der Welt, von der hier die Rede ist, lässt sich nicht einfach logisch erschließen, sondern muss unter Beteiligung aller unserer Sinne vielmehr ertastet, geschmeckt, gefühlt werden; so wie eben haptische Kontraste In Anlehnung an Heideggers berühmte Formulierung möchte man sagen: Es ist immer Seiendes und nicht vielmehr Nichts. Vgl. dazu Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1976. Gleichwohl darf uns das nicht dazu verleiten, die Welt als etwas unabhängig von symbolischen Praktiken Gegebenes zu betrachten. Das soll auf den nächsten Seiten deutlich werden. 69 Kreis dagegen behauptet, dass »[n]ur Angehörige sozialer Gruppen, die eine gemeinsame Sprache sprechen, in einer Alltagswelt zu leben [vermögen], in der sie raumzeitliche Objekte auch wahrnehmen. Nur wer über einen sprachlichen Ausdruck verfügt (zum Beispiel ›grün‹), der den begrifflichen Gehalt ›grün‹ repräsentiert, ist in der Lage, eine Grünwahrnehmung zu machen«, Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010, 397. Es ist alles andere als klar, wie man diese Behauptung richtig verstehen soll. Liest man sie im Sinne des Konstruktionsmodells, wird offenbar behauptet, dass die Welt nicht nur begrifflich, sondern auch visuell unbestimmt ist, sofern ich über entsprechende Farbbegriffe nicht verfüge. (Ähnliche Überlegungen finden sich u. a. bei Benjamin L. Whorf: Über einige Beziehungen des gewohnheitsmäßigen Denkens und Verhaltens zur Sprache, in: ders.: Sprache, Denken, Wirklichkeit, Reinbek, 1963, 74–101.) Das scheint mir allerdings eine unplausible Behauptung zu sein. Man kann ja zugeben, dass eine Grünwahrnehmung zu machen, die in Reichweichte begrifflicher Artikulationen steht, sprich: eine Wahrnehmung zu machen, von der ich auch sagen kann, dass sie eine Wahrnehmung von ›grün‹ ist, nur durch das Eingeführt-Sein in eine Sprache möglich ist, die entsprechende Farbnamen kennt. Und man kann auch zugeben, dass ein solches Verfügen über Farbnamen sich auch in meiner Wahrnehmung von Farben niederschlägt derart, dass ich z. B. für bestimmte Abstufungen zwischen olivgrün, türkisgrün etc. sensibel werde, wenn ich über entsprechende begriffliche Differenzierungen verfüge. Daraus folgt aber erstens nicht – und man kann Kreis vielleicht und Whorf sicher so lesen, dass sie dies behaupten –, dass die Welt für ein sehendes Wesen vor aller Entwicklung sprachlicher oder begrifflicher Kompetenzen farblos wäre oder besser: dass die farblichen Differenzen, die ich sehen kann, durch die begrifflichen Differenzen erklärt werden können, die ich zu treffen im Stande bin. Verhielte es sich so, ließen sich meines Erachtens Farbbegriffe überhaupt nicht erwerben. Farbbegriffe strukturieren womöglich das Feld unserer Wahrnehmung, und das Benennen von Farbeindrücken kann so (gerade auch qua Einbildungskraft) Eindrücke heraufbeschwören, die unser aktuales Sehen beeinflussen, aber sie färben die Welt nicht ein. 68

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zwischen glatten und rauen Oberflächen ertastet, wie die drückende Hitze einer sommerlichen Großstadt und die Abkühlung am Abend gefühlt, oder wie die diversen Aromen verschiedener Rebsorten geschmeckt werden. Die Bestimmtheit der Welt, wie sie im Zuge nichtsymbolischer Praktiken zum Tragen kommt, ist von einer irreduzibel sinnlich-materialen oder auch leibbezogenen Natur. Die Weite einer offenen Fläche, die mich zu ausladenden Gesten und Bewegungen einlädt, lässt sich in der spezifischen Bestimmtheit, um die es hier geht, nur im Medium eines wahrnehmenden oder agierenden Leibes erschließen. 70 Im Vollzug praktischer Tätigkeit geben die Gegenstände und Sachverhalte der Welt ihre Bestimmtheit in gewisser Weise an unser Tun weiter: Wenn ich der Geige einen wohlklingenden Ton entlocken will, dann muss ich den Bogen so und nicht anders über die Saiten führen; ich muss den Balken längs ausrichten, denn quer bekomme ich ihn einfach nicht durch die Tür; unter den Bedingungen einer unaufhaltsam verrinnenden Zeit wird einen Schritt zulegen, wer nicht zu spät kommen will. Kein praktisches Tun kann in einer prinzipiellen Weise indifferent gegenüber den Beschaffenheiten der Welt sein. Die Bestimmtheit der Welt verlangt bestimmte Aktivitäten. Ich muss der Welt im Tun Rechnung tragen. Ich kann nicht an der Welt vorbei agieren, sie sehend übersehen etc. Dieses Moment fragloser Bestimmtheit teilen insofern Welt und nichtsymbolisches Tun. Doch ist unser Tun, obwohl stets an den Beschaffenheiten der Welt ausgerichtet und notwendig an diese gebunden, in seiner Richtung durch diese nicht einfach festgelegt. Was wir tun, können wir auf unzählig verschiedene Weisen tun. Worauf unser Blick fällt, wovon wir uns angehen lassen, steht nicht einfach fest 71: Stur wie ich bin, kann ich den besagten Balken nämlich auch an beiden Enden kürzen, um ihn doch quer durch die Tür zu bugsieren (gleichwohl entdecke ich dann wahrscheinlich Allerdings, und darauf laufen meine Überlegungen zu, laden z. B. Mauern, Vorsprünge, Geländer in einer anderen Weise dazu ein, begangen und erklommen zu werden, wenn man über einen Begriff des Parkour verfügt oder Videoaufnahmen dieser Form gesehen hat, sich akrobatisch durch die urbane Architektur zu bewegen. 71 Dem Argwohn, wir seien in unserem Tun durch die Welt in problematischer Weise festgelegt, kann man auch auf folgende Weise begegnen: Man kann darauf hinweisen, dass unser praktisches Tun schlichtweg von der Voraussetzung lebt, dass da eine Welt ist, die ohne unser Zutun da und so ist, wie sie ist: Wer sich für den nächsten Tag verabredet, muss damit rechnen können, dass die Zeit sich nicht rückwärts abspult; wer seine Reflektor-Weste anzieht, muss davon ausgehen können, dass sie seine Sichtbarkeit bei Nacht erhöht; der Freistoßschütze braucht einen Ball, gegen den er treten, und ein Tor, auf das er zielen kann. Der Widerstand und die Beharrlichkeit der Welt erweisen sich somit als Kehrseite ihrer Verlässlichkeit. Diese Verlässlichkeit ist der Boden, auf dem wir unser Leben praktisch führen können. 70

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den Balken als einen, der eine bestimmte Dichte besitzt, die meine Sägearbeit sehr mühsam macht); ich kann trödeln und meine Verabredung willentlich verpassen etc. Kurzum: Wir können auf Distanz zur Welt gehen. 72 Dieses Abstandnehmen-Können von der Welt, wodurch praktische Spielräume oder ein Raum von Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden (samt der damit verbundenen Gelegenheiten zum Zögern und Hadern: Anders als der Ochse, können wir tatsächlich wie der Ochse vor dem Scheunentor stehen), lässt sich unter Rekurs auf das zweitgenannte Moment nichtsymbolischer Praktiken aufklären: unter Rekurs auf deren strukturale Verfasstheit. Zunächst gilt es, sich klar zu machen, dass wir im Vollzug praktischer Tätigkeiten eben nicht sichtlos oder blind von einer Situation in die nächste stolpern. Wir sind nicht vollkommen absorbiert von der Präsenz einzelner »Gegenstände« und »Sachverhalte« 73, mit denen wir es je aktual zu tun haben. Ein Säugling dagegen, dessen Magen krampft, weil die Verdauung noch nicht läuft, scheint dagegen tatsächlich in einer eher distanzlosen Weise ausgefüllt zu sein von einem isolierten Schmerz. Die Welt und es selbst sind gewissermaßen nichts anderes als diese isolierte Schmerzepisode. Wir dagegen haben Schmerzen: Wir ertragen Schmerzen im Hoffen auf baldige Linderung oder verzweifeln an ihnen, wenn man uns mitteilt, dass Linderung ausbleiben wird; wir lokalisieren sie in unserem Körper und qualifizieren sie um gezielter Abhilfe willen. Die Konkretion von einzelnen Wahrnehmungen erfolgt bei uns in Relation zu vielen anderen solcher Wahrnehmungen. Das nimmt der je einzelnen Wahrnehmung ihre Totalität. Stets sind Wahrnehmungen auf andere Wahrnehmungen oder Wahrnehmungsmöglichkeiten hin geöffnet. Die Welt, mit der wir es in nichtsymbolischen Praktiken zu tun haben, ist also nicht einfach nur bestimmt. Sie ist es insofern, als ihre Gegenstände und Man könnte auch sagen: Wir besitzen Freiheit gegenüber den Ansprüchen der Welt. Aber noch einmal: Auch diese Freiheit ändert nichts daran, dass auch mein selbstbestimmtes Ausweichen vor oder mein findiges Überwinden bestimmter Aspekte der Welt sich in bestimmter Weise realisieren muss: Ich kann einen Fluss zuschütten, überbrücken, umleiten, ihn schwimmend durchqueren, überfliegen oder mit einem Boot passieren. Aber irgendetwas Bestimmtes muss ich tun, wenn ich ans andere Ufer will. Und wofür auch immer ich mich entscheiden werde, die Welt ist immer schon da, als eine solche, die sich im Vollzug meines Tuns in dieser oder jener Weise zeigt: als zu starke Strömung, als zu flach für Schifffahrt etc. 73 Sofern Gegenständlichkeit etwas damit zu tun hat, dass wir verschiedene Wahrnehmungen in einen Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen zu stellen vermögen (vgl. dazu oben die Ausführungen zu Kants sog. Herstellungsmodell der Erfahrung, S. 57), kann man eigentlich nicht gut davon sprechen, dass es einzelne Gegenstände oder Sachverhalte sind, von denen wir distanzlos eingenommen wären. 72

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Sachverhalte uns als solche begegnen, die miteinander auf unterschiedlichste Weise zusammenhängen. Die Welt ist ein in sich differenziertes Gefüge. In das Unsichtbare und das Sichtbare schildert Merleau-Ponty am Beispiel von Farbwahrnehmungen, worum es mir hier geht: dass nämlich auch die Bestimmtheit einzelner Wahrnehmungen holistisch oder struktural konstituiert ist; er schreibt: »[Ein] Rot gewinnt seine Eigenart nur dadurch, daß es von seinem Platze aus mit anderen Rottönen der Umgebung in eine Verbindung tritt und mit diesen eine gewisse Konstellation bildet oder auch mit anderen Farben, die es dominiert oder von denen es dominiert wird, die es anzieht oder von denen es angezogen wird, die es abstößt oder von denen es abgestoßen wird. Kurz, es bildet einen gewissen Knoten im Gefädel des Simultanen und des Sukzessiven. Eine Konkretisierung der Sichtbarkeit und kein Atom.« 74

Die Gegenstände und Sachverhalte, mit denen wir im nichtsymbolischen Umgang mit der Welt konfrontiert sind – seien dies eigenleibliche Zustände, sinnliche Wahrnehmungen, Gegenstände in der Welt, mit denen wir hantieren etc. – bilden keine punktuellen, situativ begrenzten Episoden des Bewusstseins, »die hier und da auf der Oberfläche des Erlebens aufflacker[n].« 75 Ihre Bestimmtheit muss von einem Komplex vieler solcher Wahrnehmungen, Gegenstände und Sachverhalte her begriffen werden. Ein Begriff derjenigen Praktiken, die mit solchen Gegenstandskomplexen und Sachverhaltszusammenhängen zu tun haben, muss dem Rechnung tragen. In Bezug auf nichtsprachliche Tätigkeiten formuliert Bertram diesen Gedanken im Anschluss an SuZ zunächst so 76: »Wenn ich nichtsprachlich tätig bin, gehe ich mit Gegenständen-in-Beziehung um. Mir tritt dann die Welt als eine gegenüber, die sich aus Gegenständen-in-Beziehungen ›zusammensetzt‹.« Oder schöner: Eine praktische Tätigkeit »greift aus in eine Welt solcher Verbindungen.« Bertram führt genauer gesagt zwei sogenannte »strukturbildende« 77 Prinzipien an: einerseits im Anschluss an den klassischen amerikanischen Pragmatismus das Prinzip, dass »GeMerleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (Anm. 9), 174. Alfred N. Whitehead: Abenteuer der Ideen, Frankfurt /M. 1971, 443. 76 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 177. 77 Der Ausdruck ›strukturbildend‹ ist allerdings etwas irreführend. Es geht Bertram nämlich gerade darum, zu zeigen, dass diese Prinzipien von den Pragmatisten nicht als Prinzipien der Generierung von Strukturen verständlich gemacht werden. Die Prinzipien erklären nicht das Zustandekommen von Strukturen, sondern bringen eine Strukturiertheit auf den Begriff, von der unsere nichtsprachliche Praxis ausgeht. 74 75

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genstände und Sachverhalte in Praktiken einen Unterschied machen«, und andererseits eben im Anschluss an SuZ das Prinzip, dass »etwas in Beziehung zu etwas steht« 78. Auf verschiedene Weisen werde so deutlich gemacht, inwiefern wir im praktischen Umgang mit der Welt nicht mit isolierten Gegenständen und Sachverhalten zu tun haben, die von uns erst in Beziehung gesetzt oder voneinander unterschieden werden müssten, sondern dass wir umgekehrt unser Tun von bereits vorliegenden Unterschieden her oder entlang bereits etablierter Beziehungen vollziehen. Doch etwas stimmt nicht mit diesen Beschreibungen: Sie erwecken den Eindruck, als seien unsere leiblichen Vollzüge, die Abfolge unserer praktischen Tätigkeiten, die Wege, die wir blickend zurücklegen etc. durch die Ordnung der Dinge vorgezeichnet, auf die wir in der Welt treffen. Nichtsymbolische Praktiken würden sich dann gewissermaßen bloß adaptiv entlang vorgezeichneter Wege entfalten. Eine Handlung führt dann gewissermaßen »wie von selbst« zur nächsten, weil eben die Strukturiertheit der Welt den »Takt«, dem wir folgen oder die »Züge«, die wir zu machen vermögen, vorzugeben scheint: »Wenn ich eine [. . . ] Kerze anzünde, mache ich es um einen Tisch zu beleuchten, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen« 79, und dazu nehme ich Streichhölzer, die ich wiederum auf das oberste Regalbrett lege, um sie außer Reichweite der Kinder zu legen, die nicht zum Kokeln verleiten werden sollen etc. Kerzen, Tische, Kinder, Regale sind nicht nur stets irgendwie mitanwesend, wenn ich auch nur mit einem dieser Gegenstände hantiere – darin liegt das strukturale Moment meines praktischen In-der-Welt-Seins. Sondern mein Hantieren mit diesen Gegenständen erscheint mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu erfolgen, wie das Vorrücken einer Spielfigur von einer Position auf einem Spielfeld auf die nächste. Die nichtsymbolischen Praktiken folgen dann, mit anderen Worten, einem Telos oder entlang von Vektoren, die von der Welt vorgegeben sind. Und das wiederum erklärt vielleicht die Behändigkeit, mit der wir praktische Tätigkeiten vollziehen, die Leichtigkeit, mit der wir uns wahrnehmend in der Welt zurecht finden, die Passgenauigkeit und das erstaunliche Fein-Tuning unserer Reaktionen und Bewegungen. 80 Zugleich scheinen solche Überlegungen aber S. o., 175. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 177. 80 In diesem Sinne argumentiert z. B. John Haugeland in: ders.: Heidegger On Being a Person, in: Noûs, Vol. 16/1. 1982, 15–26. Den Hinweis auf Haugeland verdanke ich Manuel Scheidegger. Auch Hubert L. Dreyfus, der alltägliche, leibliche Praktiken im Anschluss an Merleau-Ponty als ein »absorbed, skillfull coping« bezeichnet (vgl. u. a. ders.: The Current Relevance of Merleau-Ponty's Phenomenology of Embodiment, in: The Electronic Journal of Analytic Philosophy, 1996/4, § 35) scheint für ein solches Ver78

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jene Möglichkeiten der Distanzierung von der Welt zu verzeichnen, die ich unter Rekurs auf die Strukturiertheit nichtsymbolischer Praktiken gerade zu greifen bekommen wollte. Warum das so ist, lässt sich mit Blick auf den zentralen Einwand etwas erhellen, den Bertram gegenüber pragmatistischen Erläuterungen nichtsymbolischer Praktiken geltend macht. Bertram moniert, dass pragmatistische Philosophien zwar durchaus treffend (meinen Einwand an dieser Stelle einmal zurückgestellt) beschreiben, dass wir im praktischen Tun an Strukturen orientiert sind, dass sie aber nicht erklären, »warum wir von solchen Strukturen ausgehen können.« 81 Es werde nicht verständlich gemacht, »woher die Strukturen rühren« 82 oder wodurch in nichtsymbolischen Praktiken »Strukturiertheit zum Tragen kommt.« 83 Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken werden stattdessen als »unvordenklich« 84 ausgewiesen. Daraus folgt wiederum, dass wir uns in Bezug auf solche Strukturen in theoretischer Enthaltsamkeit üben müssen. Wir können über das Zustandekommen solcher Strukturen nicht viel sagen, sondern müssen sie als nicht weiter begründbaren Ausgangspunkt philosophischen Nachdenkens über unser praktisches, sinnlich-leibliches oder affektiv-emotionales Weltverhältnis hinnehmen. Diese theoretische Enthaltsamkeit schlägt nun in gewisser Weise auf den Begriff der jeweils an solchen Strukturen orientierten Praktiken durch. So wenig, wie wir (vermeintlich) aus der theoretischen Perspektive über die Konstitution der Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken zu sagen vermögen (und wodurch diese Strukturen zum durchaus rätselhaft »Vertrauten« werden), bleiben wir auch im Vollzug jener Praktiken auf eine analoge Weise distanzlos und unreflektiert auf diese Strukturen verwiesen. Die rätselhafte Vertrautheit, die diese Strukturen in theoretischer Hinsicht

ständnis nichtsymbolischer Praktiken zu votieren. In diesem Zusammenhang ist auch der Fall des Baseballspielers interessant, auf den Dreyfus in der Debatte mit McDowell rekurriert, und der, nachdem er über seine Wurftechnik nachzudenken beginnt, seine Wurfgenauigkeit in dramatischer Weise einbüßt und nicht wiederherzustellen vermag. Vgl. dazu u. a. Hubert L. Dreyfus: The Return of the Myth of the Mental, in: Inquiry, Vol. 50, London 2007, 352–365. 81 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 178. 82 Ebd. 83 Ebd., 180. 84 Ebd., 179. Ich werden unten zeigen, dass Cassirer in analoger Weise mit dem Gedanken spielt, sogenannte Ausdruckswahrnehmungen als unvordenkliche, gegebene Momente unseres Weltverhältnisses auszuzeichnen. Er bezeichnet unser Ausdruckserleben in diesem Sinne als Ur- oder Basisphänomen.

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besitzen, kehrt als Vertrautheit oder »Innigkeit« 85 wieder, mit der wir einem entsprechenden Begriff solcher Praktiken zufolge in die weltlichen Zusammenhänge und Strukturen eingespannt sind. 86 Sich mit dem Verweis auf die Unvordenklichkeit der Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken nicht zufriedengebend, schlägt Bertram vor, sprachliche 87 Medien und Praktiken ins Spiel zu bringen. Der Rekurs auf sprachliche Praktiken soll die Strukturen erläutern, an denen unsere nichtsprachlichen Praktiken orientiert sind. Sprache wird mit anderen Worten zu einem konstitutiven Moment unseres wort- und zeichenlosen Tuns. Diesen Beitrag sprachlicher oder symbolischer Praktiken zur strukturalen Verfasstheit unseres nichtsymbolischen Tuns fasst Bertram terminologisch als Artikulation. Die These lautet: Durch den Zusammenhang mit artikulativen symbolischen Praktiken, oder kurz: durch symbolische Artikulationen gewinnen nichtsymbolische Praktiken Struktur, oder: nur als symbolisch artikuliertes, weist unser nichtsymbolisches Weltverhältnis Strukturiertheit auf. Diesen Gedanken gilt es zu erläutern. Zuvor will ich aber kurz deutlich machen, warum diese These keinen Punktgewinn für den Konstruktivismus darstellt. Man könnte ja meinen, dass mit dieser These behauptet wird, dass symbolische Praktiken eine Strukturierung unstrukturierter nichtsymbolischer Praktiken leisten. Wenn nichtsymbolische Praktiken nicht von sich die besagte Strukturierung aufweisen, sondern nur qua symbolischer Artikulation, dann scheint das doch einfach zu besagen, dass die Strukturen, die in nichtJohn Haugeland klagt eine solche Innigkeit oder Intimität ein in: ders.: Der verkörperte und eingebettete Geist, in: Philosophie der Verkörperung, hg. v. Jörg Fingerhut et al., Berlin 2013, 105–143. 86 Natürlich motivieren auch bestimmte Momente etwa leiblicher Vollzüge, wie ich sie oben erwähnt habe – ihre Genauigkeit, ihre Trittsicherheit etc. – solche Überlegungen. Es wäre aber eben auch nicht der erste Fall einer sogenannten theory fallacy (vgl. dazu Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt /M., 2001, 103 ff.). In diesem Falle bestünde der Fehlschluss eben darin, dass man vom Fehlen einer theoretischen Antwort auf die Frage der Konstitution von Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken, auf das Fehlen von Möglichkeiten der Distanzierung oder der Reflektion von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken für jene, die diese Praktiken vollziehen, schließt. 87 In einer Fußnote weist Bertram explizit auf nichtsprachliche symbolische Medien hin. Die These, dass die »sprachliche Artikulation für die Strukturiertheit in nichtsprachlichen Praktiken konstitutiv [ist]«, wird wie folgt ergänzt: »Zweifelsohne gibt es nichtsprachliche Praktiken, deren Strukturiertheit nicht (allein) mit Sprache zusammenhängt, sondern insbesondere auch mit Bildern und Musik. Ein weiterer Begriff der Strukturiertheit nichtsprachlicher Praktiken wäre von einer Philosophie symbolischer Medien zu explizieren«, vgl. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 183. In diesem Sinne schließt meine Arbeit und insbesondere das dritten Kapitel an Bertram an. 85

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symbolischen Praktiken zum Tragen kommen, das Produkt unserer begrifflichen Unterscheidungen, unserer sprachlichen Beschreibungen, und dergleichen sind. Doch diese Konklusion ist, teilt man die Kritik des ersten Kapitels, blockiert. Denn um symbolischen Praktiken entsprechende Strukturierungsleistungen zumessen zu können, bedarf es eines verständlichen Begriffs symbolischer Strukturen und ihres Weltbezugs. Beides, das habe ich gezeigt, kann aber das Konstruktionsmodell aus eigener Kraft nicht bereitstellen. Da kein verständlicher Begriff symbolischer Strukturen und ihres Weltbezugs zur Verfügung steht, kann symbolische Artikulation nicht als strukturierender Eingriff oder als ein formierendes oder gliederndes Einwirken symbolischer Strukturen auf nichtsymbolische Praktiken oder die sinnliche Mannigfaltigkeit erläutert werden, mit der uns sinnliche Wahrnehmungspraktiken vermeintlich vertraut machen. Was Artikulation stattdessen besagt, soll nun gezeigt werden. 2.2.2 Transformation durch Artikulation Ich habe oben gesagt, dass nichtsymbolische Praktiken nichtsymbolisch sind, weil sie ohne aktualen Gebrauch von Zeichen vollzogen werden können: Um einen Nagel in die Wand zu schlagen, bedarf es keiner Worte. Die Praxis des Hämmerns besteht vielmehr darin, den richtigen Hammer zu wählen (z. B. eher den Schlosser- als den Gummihammer), den Nagelkopf konzentriert anzupeilen, einen bestimmten, wohldosierten Schwung aus einer Armbewegung heraus zu Wege zu bringen etc. Was ich dazu nicht brauche, ist die musikalische Untermalung meiner Tätigkeit durch MC Hammer, dass mich jemand dabei filmt oder ich mir leise jeden Arbeitsschritt vorsage. In demselben Sinne kann ein Ort ohne Plan erkundet, ein Kleid ohne Schnittmuster genäht, ein Tausch ohne Berechnung seines monetären Wertes vollzogen werden. An dieser Einsicht in die faktische Abwesenheit von symbolischen Medien und Praktiken in vielen Momenten unseres Tuns, Wahrnehmens, Agierens und Fühlens soll im Folgenden nicht gerüttelt werden. Wohl aber soll für so etwas wie eine grundsätzliche Medialität dieser pragmatisch-phänomenalen Weisen des In-der-WeltSeins argumentiert werden. Worum es dabei geht, lässt sich anhand folgender Fragen vielleicht noch einmal etwas verdeutlichen: Macht es, obwohl wir faktisch vielfach ohne Sprache und andere symbolische Medien auskommen, für unser nichtsymbolisches In-der-Welt-Sein nicht doch einen Unterschied, dass wir Wesen sind, die auch symbolische Praktiken entwickelt haben? Wäre die Praxis des Hämmerns dieselbe, oder besser: gäbe es eine Praxis des

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Hämmerns überhaupt, wenn wir niemals mit Worten erklären könnten, warum man beim Hämmern auf den Nagelkopf und nicht auf den Hammer blicken sollte? Wäre das Zurücklegen eines Weges in den Bergen noch eine Wanderung, wenn wir prinzipiell außer Stande wären, Karten zu lesen? Könnte jemand, der sich nicht über Stoffe, Schnitte, Materialmixe austauschen könnte, der Modestrecken in Illustrierten nicht hätte, eine Wahl in Bezug auf seine Kleidung treffen oder einer Mode folgen? Noch einmal anders: Lässt sich die Verfasstheit unserer nichtsymbolischen Praktiken unabhängig von unserem Verfügen über symbolische Medien begreifen, sodass sich zwischen unserem stummen und zeichenlosen Tun und demjenigen von Tieren oder zwischen unserer und ihrer sinnlichen Wahrnehmung keine Unterschiede machen lassen? Unsere vortheoretischen Intuitionen mit Blick auf diese Frage scheinen einigermaßen klar 88: Nein, das nichtsymbolische Tun von Wesen, die einen symbolischen Stand in der Welt erreicht haben, ist in besonderer Weise verfasst: Wer sagen kann, wie das mit dem Hämmern geht, vermag z. B. andere daraufhin zu beobachten, ob sie es richtig oder falsch machen, sie entsprechend zu korrigieren und es ihnen beizubringen; wer Wanderkarten und Wegbeschreibungen zu lesen vermag, der bewegt sich nicht bloß über Stock und Stein, sondern innerhalb einer bestimmten Topologie; wer Modephotographien rezipiert, kann eine Wahl in Bezug auf seinen Look treffen, einem Trend folgen oder neue, eigene Stile kreieren. Dieses »Ineinanderragen« nichtsymbolischer und symbolischer Praktiken ist charakteristisch für die Art und Weise, wie symbolgebrauchende Wesen in der Welt sind. Unsere nichtsymbolischen Praktiken sind in einer besonderen Weise von symbolischen Praktiken geprägt: Symbolische Praktiken treten demnach nicht additiv zu nichtsymbolischen Praktiken hinzu. Sie leisten vielmehr eine Transformation dieser Praktiken. Sie laufen nicht neben nichtsymbolischen Praktiken her, sie durchdringen sie. Wesen, die symbolische Praktiken zu vollziehen vermögen, vollziehen ihre nichtsymbolischen Praktiken auf eine von Grund auf andere Weise, als Wesen, die dazu nicht imstande sind. Die Spezifik des Weltverhältnisses des »animal symbolicums« ist nicht durch eine zusätzliche Fähigkeit, nämlich jene zu symbolischen Artikulationen, zu beschreiben, die zu den z. B. sinnlichen Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren teilen, hinzukommt, sondern als ein Formunterschied unseres In-der-Welt-Seins insBerufungen auf vortheoretische Intuition sind natürlich immer heikel. Es lassen sich ja bereits unter den Philosophen nicht wenige finden, die dafür argumentieren, dass unser Symbolgebrauch oder höhere geistige Leistungen, wie etwa das schlussfolgernde Denken, auf einer symbolfreien, erstnatürlichen Schicht unseres Weltbezugs aufruhen, wo die Verhältnisse bei Mensch und Tier dieselben sein sollen. 88

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gesamt, als ein Unterschied »der Form, die das Ensemble der Vermögen eines solchen Tieres insgesamt aufweist.« 89 Dieser Formunterschied lässt sich mit Bertram in Begriffen der Struktur fassen: Als symbolgebrauchende Wesen sind wir in nichtsymbolischen Praktiken an oder in Strukturen orientiert. Die Strukturiertheit nichtsymbolischer Praktiken muss wiederum von symbolischen Praktiken her begriffen werden. Symbolische Praktiken artikulieren die Strukturen, an denen wir in unserem zeichenlosen Tun orientiert sind. Eine solche Orientierung in nichtsymbolischen Praktiken ergibt sich nur für Wesen, die zu symbolischen Artikulationen fähig sind, auch wenn der Vollzug einer nichtsymbolischen Praxis selbst kein Vollzug dieser symbolischen Fähigkeiten darstellt. Ein Beispiel: Eine Schatzkarte verzeichnet z. B. bestimmte Gegenstände – eine hochgewachsene Palme, eine Felsformation, ein Eingeborenendorf – in bestimmten topologischen Verhältnissen zueinander – die Palme ist links vom Dorf verzeichnet und oberhalb der Felsformation etc. Für denjenigen, der während seines Karibikaufenthaltes bisher ziellos auf der Insel herumstreifte und dem dann in einer zwielichtigen Spelunke die besagte Karte in die Hände fällt, lichtet sich schlagartig das Urwalddickicht und sein Herumstreifen kann die Form der Suche annehmen. Er wird nun z. B. zunächst den Baumbestand nach einer entsprechenden Palme absuchen (d. h. größere von kleineren Gewächsen unterscheiden und nichtpalmenartige Gewächse ganz außen vorlassen), und zwar nur ostwärts des Dorfes etc. 90 Er macht in seinem Tun Unterschiede zwischen verschiedenen Gewächsen, Himmelsrichtungen etc. Diese Unterschiede, die ja auch ohne die Karte in der Welt sind, gewinnen ihre spezifische handlungsleitende Kontur allerdings erst im Zusammenhang mit entsprechenden symbolischen (kartographischen) Artikulationen. Dieses Beispiel soll zweierlei verdeutlichen: zum einen die transformative Kraft symbolischer Medien und Praktiken in Bezug auf nichtsymbolische Praktiken – die Karte eröffnet mir die Insel als einen strukturierten Ort, an dem ich spezifische Praktiken zu vollziehen oder auch zu lassen vermag – zum anderen, dass symbolische Artikulationen keine Explikation von implizit in den nichtsymbolischen Praktiken angelegten Strukturen sind – es ist ja nicht so, dass ich den Baumbestand immer schon implizit nach auffälligen Palmen abgesucht oder mich vorzugsweise nur ostwärts des Dorfes im Wald getummelt habe. In Analogie dazu, wie uns Lauer: Die Offenheit zur Welt (Anm. 30), 48. Vorgreifend auf den nächsten Abschnitt sollte aber dazu gesagt werden, dass z. B. die Anordnungen der Elemente auf einer Karte nur für jemanden verständlich sind, der sich z. B. von seiner leiblichen Situiertheit in der Welt her nach vorne, hinten, seitwärts etc. zu orientieren vermag. 89 90

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eine Schatzkarte eine bestimmte Gegend der Welt als einen Ort eröffnet, an dem man eine spezifische Praxis der Suche vollziehend sich an diesen oder jenen Gegenständen und Sachverhalten orientieren kann, muss man unsere symbolischen Praktiken als Ganze im Zusammenhang mit symbolischen Artikulationen stehend begreifen. Kein sinnliches Wahrnehmen, kein emotional-affektives Vernehmen der Welt und kein praktisch-tätiges Unternehmen in dieser Welt, das nicht im Lichte symbolischer Artikulationen erfolgte. In diesem Sinne habe ich in der Einleitung (s. o., S. 20) Cassirers Bemerkung zitiert, dass der symbolische Ausdruck »das Zauberwort« sei, »das ›Sesam, öffne dich!‹, das den Zugang zur menschlichen Welt, zur Welt der menschlichen Kultur, gewährt« (VM, 63). Gadamer hat die Pointe dieser Transformation meines Erachtens dadurch zu fassen versucht, dass er – abgesehen von der im Anschluss an Heidegger getroffenen Unterscheidung zwischen dem Welt-Haben und dem in einer bloßen Umwelt Leben, wie ich sie ebenfalls in der Einleitung erwähnte (s. o., S. 18) –, den Begriff der Praxis für dasjenige Tun reserviert, das Wesen vollziehen, die zu symbolischen Artikulationen imstande sind; er schreibt: »[E]in Wesen, das Sprache hat, ist durch Abstand gegenüber dem Gegenwärtigen ausgezeichnet. Denn Sprache macht gegenwärtig. Im Gegenwärtighalten entfernter Ziele wird die Wahl des Handelns im Sinne der Mittelwahl zu gegebenen Zwecken getroffen – [. . . ] Darin liegt ein erster Schritt zu dem, was wir [menschliche] Praxis nennen. [. . . ] Sie erschöpft sich nicht in kollektiv-funktionaler Anpassung an die natürlichen Lebensbedingungen, . . . « 91

Doch der Eindruck bleibt, dass mit meinen bisherigen Ausführungen zur transformativen Kraft symbolischer Artikulationen und der Strukturiertheit der entsprechenden symbolisch artikulierten nichtsymbolischen Praktiken, die Fähigkeit zur Distanzierung, zum Abstandnehmen, wie auch Gadamer sie erwähnt, noch nicht eingeholt ist. Ich möchte daher einen neuerlichen Versuch wagen, dieses Moment in Begriffen der Struktur einzufangen. Es scheint mir hilfreich, mich zu diesem Zweck einem Einwand zu stellen, der sich leicht aufzudrängen scheint: Diesem Einwand zufolge ist Strukturiertheit nicht spezifisch für das stumme oder zeichenlose Tun symbolgebrauchender Wesen. Sollte das stimmen, dann ließe sich die These von der Medialität oder von dem transformierten Charakter unHans-Georg Gadamer: Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, in: ders.: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, Frankfurt /M. 1976, 62 f.; kursiv CK. 91

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seres nichtsymbolischen Tuns nicht halten; jedenfalls nicht in der Form, dass symbolische Medien und Praktiken die Strukturiertheit dieses Tuns begründen. Der Einwand kann sich darauf berufen, dass wir von einem falschen Bild des In-der-Welt-Seins symbolloser Wesen ausgehen. Die Gegenüberstellung eines an Strukturen orientierten In-der-Welt-Seins und eines unstrukturierten Weltbezugs, wie derjenige des erwähnten schmerzleidenden Säuglings, leistet demnach keine Unterscheidung zwischen unseren nichtsymbolischen Praktiken und denjenigen von Wesen, die ohne Sprache, Bilder, Musik etc. in der Welt zu Hause sind. Oder anders gesagt: Auch weltlose Wesen scheinen in einer von Strukturen geprägten Umwelt zu Hause zu sein. Der Einwand ist prima facie durchaus berechtigt, denn auch sprachund zeichenlose Wesen stolpern ja keineswegs blind von einer Situation in die nächste oder versinken in der Präsenz der Gegenstände und Sachverhalte, mit denen sie die Welt aktual konfrontiert: Mit zunehmendem Alter, aber eben noch bevor es das sprachfähige Alter erreicht oder andere nichtsprachliche symbolische Fähigkeiten erwirbt, gelangt etwa ein Kleinkind in Auseinandersetzung mit sich und der Welt zu einer Ausdifferenzierung seines eigenleiblichen Verhältnisses. Es entwickelt z. B. seine Augen-Hand-Koordination. Darüber hinaus erschließt es sich auch die Welt als einen differenzierten und kohärenten Wahrnehmungs- und Aktionsraum, was sich an vielen Momenten seines Verhaltens aufzeigen lässt: Es folgt mit Blicken Objekten, die sich in seinem Blickfeld bewegen, es reagiert mit großer Verlässlichkeit unterschiedlich auf verschiedene ihm angebotene Speisen etc. Die Primatenforschung liefert ihrerseits vielfältige Belege dafür, dass auch Wesen, die prinzipiell ohne symbolische Medien auskommen müssen, z. B. Werkzeuge gebrauchen, dass sie umweghaftes Verhalten zeigen, oder dass sie aus einer Menge verschiedenfarbiger Objekte gezielt die gleichfarbigen Objekte herausgreifen können; und das sind noch die Geringsten unter ihren intelligenten Leistungen. 92 Das stumme Tun von Wesen, die die Fähigkeit zu sprachlicher oder sonst einer symbolischen Artikulation noch nicht erreicht haben oder nie erreichen werden, zeigt so gesehen durchaus Strukturiertheit: Wer über Umwege eine Banane zu erreichen vermag, für den sortieren sich die verschiedenen begegnenden Gegenstände und Sachverhalte augenscheinlich »in Richtung auf« die Banane hin. Alle Hindernisse (Kisten, auszulösende Mechanismen, Abgründe, futterneidische Artgenossen; was auch immer die Laboranten oder Mutter Natur sich an Komplikationen ausVgl. dazu u. a. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt /M. 2006. 92

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denken mögen) stehen offenbar praktisch in Beziehung zu der Banane. Wenn das nicht der Fall wäre, müssten dann die auf die Banane gerichteten Aktivitäten des Affen nicht erlahmen, sobald die Frucht außer Sicht gerät? Müsste der Affe sich nicht alsbald an sichtversperrenden Kisten um ihrer selbst willen zu schaffen machen, weil sie eben den Charakter von Hindernissen in Beziehung zur Banane verloren hätten und nur noch als sie selbst in seinem Wahrnehmungsfeld stünden? Da das aber nicht der Fall ist, das Verhalten des Affen vielmehr »gerichtet« erfolgt und sich gegen Widerstände durchhält, liegt der Schluss durchaus nahe, dass auch der Affe in seinem stummen Tun über die aktuale Präsenz der Welt hinaus von abwesenden Gegenständen und Sachverhalten geprägt sein könnte; dass auch nichtsymbolgebrauchende Wesen sich womöglich in »Verweisungszusammen[hängen]« (SuZ, § 18) bewegen. Oder, in Begriffen des klassischen Pragmatismus gesprochen: Für einen Affen, der in einem Astloch herumstochert, um an den Honig zu kommen, der sich in einem im Bauminneren versteckten Bienenstock befindet, machen doch wohl dünne Stöcke, dicke Äste etc. einen Unterschied? Er gebraucht immerhin nur diese und nicht jene Hölzer zum Honigklau. Und McDowell spricht seinerseits davon, dass »die Merkmale der Umwelt« für »wahrnehmende Wesen [einfache Tiere]« durchaus »Bedeutung« haben: »sie können [. . . ] Probleme und Gelegenheiten für es sein.« 93 Auch diese Rede von Problemen und Gelegenheiten impliziert ein im weitesten Sinne strukturales Verständnis des Tuns von Tieren. Ein Problem oder eine Gelegenheit ist etwas eben nur in Beziehung zu etwas anderem: eine Gelegenheit zu . . . ; ein Problem in Anbetracht von . . . , etc. Ich meine aber, dass diese Belege nicht erdrückend sind und man daher an dem Gedanken festhalten kann, dass nur solche nichtsymbolischen Praktiken Strukturiertheit besitzen, die mit symbolischen oder artikulativen Praktiken in Zusammenhang stehen. – Wie das? Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, die Rede davon, dass wir »in unserem Tun an oder in Strukturen orientiert« sind, noch einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Dazu will ich auf die Frage zurückkommen, mit der Bertram die Pragmatisten konfrontiert. Er fragt ja, »warum wir von solchen Strukturen [in nichtsymbolischen Praktiken, CK] ausgehen können« 94. Meine Rückfrage lautet: Wer ist eigentlich dieses »wir«? Bei Bertram gibt es zwei Kandidaten: Zum einen sind mit dem »wir« die Philosophen selbst adressiert, als diejenigen, die über unser Tun nachdenken. Mit der Frage wird dann klarerweise moniert, dass der Begriff 93 94

McDowell: Geist und Welt (Anm. 23), 143 f. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 178.

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der Strukturiertheit nicht hinreichend eingeführt ist. Die Pragmatisten sagen einfach zu wenig darüber, woher die Strukturiertheit rührt, die sie unseren Praktiken zusprechen. So gefragt lässt sich für eine weitere Differenzierung unseres Tuns und desjenigen von Primaten aber nicht viel gewinnen. An späterer Stelle fragt Bertram dann, »wie Praktiken (sic!) auf Strukturiertheit zurückgreifen« 95 würden. Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, denn die Praktiken selbst nehmen nun den Platz des fraglichen Personalpronomens ein. Das aber kann eigentlich nur heißen, dass das »wir« uns meint, sprich: diejenigen, die praktisch tätig sind. Die Frage ist dann so gemeint, dass geklärt werden muss, inwiefern diejenigen, die in sprach- und zeichenloser Weise tätig sind, in ihrem Tun selbst, sozusagen aus der Vollzugsperspektive dieses Tuns heraus, in oder an Strukturen orientiert sind. Das scheint mir der eigentlich vielversprechende Hinweis zu sein. Ich möchte ihn zu folgender These zuspitzen: Was es heißt, in nichtsymbolischen Praktiken an oder in Strukturen orientiert zu sein, muss unter Rekurs auf die Vollzugsperspektive dieser Praktiken bestimmt werden. Die Strukturiertheit nichtsymbolischer Praktiken muss als etwas begriffen werden, das den Wesen, die solche Praktiken vollziehen, selbst zugänglich ist. 96 Zwar müssen diese Wesen sich nicht jederzeit bewusst darüber sein, dass sie Praktiken vollziehen, die in oder an diesen oder jenen bestimmten Strukturen orientiert sind (vielleicht nicht einmal darüber, dass sie überhaupt in oder an Strukturen orientiert sind), gleichwohl können diese Wesen jederzeit aus ihrem Schlummer erwachen und geweckt werden und die Strukturiertheit ihres Tuns, Wahrnehmens, Fühlens etc. vor sich bringen oder bringen lassen. Diese Spezifik unseres In-der-WeltSeins möchte ich dadurch zum Ausdruck bringen, dass ich davon spreche, dass wir in nichtsymbolischen Praktiken an Strukturen als Strukturen orientiert sind. Ebd., 183. Die Verhältnisbestimmung zwischen unserem und dem tierischen Tun kann dann zunächst wie folgt korrigiert werden: Wir können im Nachdenken über das Tun von Tieren oder für die Beschreibung ihres Verhaltens durchaus strukturales Vokabular gebrauchen und müssen dies vielleicht sogar, wenn wir der Komplexität ihres Tuns gerecht werden wollen. Da aber ein Verständnis dessen, was es heißt, an Strukturen orientiert zu sein, an die Vollzugsperspektive dieses Tuns gebunden ist, können wir allerdings nichts darüber sagen, ob es für die Tiere selbst ein strukturales Moment in ihrem Weltverhältnis gibt. Wir werden uns darauf beschränken müssen, zu sagen, dass ihr Tun uns jedenfalls als strukturiert erscheint. Dass wir tierisches und anderes Verhalten in dieser Weise perspektivieren können, liegt wiederum daran, dass eben unser Weltverhältnis nicht nur aus der Beobachterperspektive Strukturiertheit aufweist, sondern auch für uns, die wir diese Praktiken vollziehen. Wir können mit anderen Worten alles uns in der Welt Begegnende in eine strukturale Perspektive rücken. 95 96

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Wer in nichtsymbolischen Praktiken an Strukturen als Strukturen orientiert ist, der folgt in seinem Tun nicht nur nicht blindlings sich bietenden Gelegenheiten und wird auch nicht nur nicht von Wahrnehmungseindruck zu Wahrnehmungseindruck fortgerissen. So etwas ließe sich ja durchaus auch über das Weltverhältnis nichtsymbolgebrauchender Wesen sagen. Cassirer schreibt in diesem Sinne: »Das Tier lebt ohne die Gegenstände vor sich hinstellen und sie als selbstständige anzuschauen, vielmehr wie in sinnlichen Melodien dahin.« 97 Sondern demjenigen, der an Strukturen als Strukturen orientiert ist, sind die Welt in ihrer Strukturiertheit und seine an diesen Strukturen orientierten Praktiken in ihrer diesbezüglichen Orientierung transparent. Er kann sich auf die Beziehungen, in denen er sich praktisch bewegt oder denen er wahrnehmend folgt, jederzeit selbst beziehen. Die Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken leiten unsere Praktiken insofern nicht hinterrücks an, man kann sie prinzipiell vor sich bringen. Gadamers Rede davon, dass »alles Verstehen [. . . ] ein Sich-verstehen ist« 98, kann man in diesem Sinne lesen. Er macht dementsprechend geltend, dass die Verständlichkeit des In-der-Welt-Seins, wie Heidegger es für unsere nichtsymbolischen Weisen des Weltbezugs reklamiert, keine blind sich abspulenden Vorgänge sind, sondern dass sie in ihrer Verfasstheit für uns zugänglich sind. Allerdings scheint damit die Transformation unserer nichtsymbolischen Praktiken noch nicht hinreichend bestimmt. Es entsteht der Eindruck, dass das An-Strukturen-als-Strukturen-orientiert-Sein letztlich doch von Vollzügen symbolischer Praktiken her begriffen wird derart, dass es Praktiken der begrifflichen Bestimmung, der sprachlichen Beschreibung, der Beratschlagung, des Nachdenkens etc. sind, die dafür Sorge tragen, dass das gesamte Ensemble unserer weltbezogenen Praktiken, sprich auch unsere praktisch-tägigen oder sinnlich-wahrnehmenden Weisen des Weltbezugs, als solche einer an Strukturen orientierten Lebensform begriffen werden können. Es fehlt eine Erläuterung dieser Orientierung in Begriffen der Sinnlichkeit, der nichtsprachlichen Praktiken etc. selbst. Denn ist es nicht so, dass der Umstand, dass nichtsymbolische Praktiken stets in Reichweite symbolischer Artikulationen stehen, sich in den nichtsymbolischen Vollzügen selbst niederschlägt? Was ist etwa mit der Nervosität und dem steigenden Pulsschlag desjenigen, der durchs Schlüsselloch späht. Der Blick wird als verbotener Blick vollzogen. Er erfolgt im Lichte eines normativ strukturierten Handlungsraumes Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN I, 64. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, 265. 97

98

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als normverletzende Handlung. Weil er weiß, dass er für seinen Blick bestraft werden kann, hat der Blick erst diejenigen Erlebnisqualitäten, die er hat. Ist das nicht der phänomenale Niederschlag der normativen Orientierung, der er folgt? Ein anderes Beispiel: Wem das Zusammenspiel von Farben durch bildliche Darstellungen, Musterkataloge etc. als ein kontrastreiches oder ein in Farb- und Helligkeitswerten abgestuftes Zusammenspiel artikuliert ist, kann z. B. Praktiken einer an Kontrasten oder Harmonien orientierten Farbwahl sehend erst vollziehen (Stichwort: Bildung des Geschmacksinns, Stilbewusstsein). Der Affe mit dem Pinsel tätigt nur Glücksgriffe auf der Farbpalette. Mir scheint, die Transformation unseres nichtsymbolischen Weltverhältnisses durch symbolischen Artikulationen hat zwei Dimensionen: Die erste Dimension bekommt man zu fassen, indem man fragt, wie weit diese Transformation reicht. Die Antwort lautet dann: Sie ist durchgehend oder allumfassend. Die menschliche Lebensform als eine Lebensform symbolgebrauchender Wesen steht demnach ganz und gar im Lichte möglicher symbolischer Artikulationen. Wir sind, um es mit einem Schlagwort aus der Debatte im Anschluss an McDowell zu sagen, zweitnatürlich durch und durch: Wer sich einem anderen auf der Tanzfläche körperlich nähert, der »tanzt« gewissermaßen auch inmitten von durch juridische oder erotische Begriffe artikulierten Verhältnissen; wer seinen Blick über die Steilküste von Rügen schweifen lässt, der »sieht« durch die Augen des »Mönches am Meer« hindurch, obwohl er natürlich keine Paragraphen antanzt oder einen Ölfilm auf den Augen hat. 99 Oder: Während der Affe nach Bananen greifend unter dem Einfluss von Verhältnissen und Strukturen steht (z. B. solchen bestimmter Futtertriebe und entsprechender Umweltreize), bekommen wir durch symbolische Artikulation unseres nichtsymbolischen In-der-Welt-Seins diese Strukturen selbst zu »greifen«. Alles, was wir sehend, handelnd, fühlend tun und erleben, liegt in Reichweite sprachlicher, begrifflicher, bildlicher oder welcher symbolischen Artikulationen auch immer. Das macht den Formunterschied aus. Die zweite Dimension der Transformation ist mit dem Beispiel des Voyeurs aufgerufen und lässt sich erfassen, indem man fragt, wie tief diese Transformation reicht. Ich meine, dass man durchaus sagen kann, dass symbolgebrauchende Wesen ihr sinnliches oder ihr affektiv-emotionales Weltverhältnis auch phänomenal anders erleben, als Wesen, die zu keiner symbolischen Artikulation nichtsymbolischer Praktiken fähig Ich komme unten im Abschnitt 3.2 auf genau diejenige Differenzierung zwischen Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken noch einmal explizit zu sprechen, die ich hier um der (rhetorischen) Pointe willen gerade vernachlässige. 99

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sind. Damit widerspreche ich David Lauer, der, wenn ich ihn Recht verstehe, im Anschluss an McDowell dafür argumentiert, dass der Begriff der menschlichen Lebensform (in seinem Falle der Begriff der vernünftigen Lebensform begriffsgebrauchender Wesen) nicht impliziert, dass diesen begriffsgebrauchenden Wesen die Welt auch sinnlich anders präsent ist, als nichtbegriffsgebrauchenden Wesen. 100 Ich meine hingegen, es reicht nicht, zu sagen, dass ein begriffsgebrauchendes Wesen sein sinnliches Weltverhältnis »anders wahrnimmt, nämlich: sich seiner Wahrnehmungen als Gründe gebend bewusst«, sondern man auch sagen können muss, dass es »anderes wahrnimmt« 101, dass ihm die Welt geschmacklich, akustisch, atmosphärisch etc. anders erscheint. Gefühle scheinen mir hier ein gutes Beispiel abzugeben; z. B. das Schamgefühl: Wenn das Schamgefühl ein Gefühl ist, das wesentlich mit dem Bewusstsein der Übertretung einer Norm verbunden ist, die man für sich selbst als bindend betrachtet, wie Hilge Landweer und Christoph Demmerling ausführen 102; dann ist das Schamgefühl ein Gefühl, das offenbar nur von vernünftigen, begriffsgebrauchenden Wesen erlebt werden kann (sofern man Normativität wesentlich an das Verfügen über Begriffe des Richtigen und Falschen, des Guten und Bösen etc. bindet). Und wenn die Scham als Gefühl auch eine bestimmte Erlebnisqualität besitzt oder auch eine bestimmte erlebbare Verlaufsform aufweist, die sich in spezifischer Weise vom Erleben anderer Gefühle unterscheidet (phänomenologische Untersuchungen zu Emotionen sagen genau das), dann ist das Gefühl der Scham ein erster Beleg dafür, dass die Transformation des nichtsymbolischen Weltverhältnisses symbolgebrauchender Wesen durchaus eine phänomenale Dimension hat. Begriffsgebrauchende Wesen, um es einmal auf diese zu beschränken, können nicht nur Gründe für ihr Tun angeben oder solche für das Tun anderer verlangen, oder Kriterien an das eigene Tun oder das Tun anderer anlegen, sie erleben auch phänomenal anders, was sich in eine solche begriffliche Perspektive rücken lässt. Ich werde diese Überlegungen hier allerdings nicht weiterverfolgen können, sondern stattdessen zum letzten Schritt in meiner Skizze der Grundzüge des Artikulationsmodells weitergehen.

Vgl. dazu Lauer: Offenheit zur Welt (Anm. 30), 59 ff. Ebd., 62. 102 Christoph Demmerling, Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 220 ff. Dazu auch Hilge Landweer: Scham und Macht. Phänomenologischen Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999. 100 101

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2.2.3 Bestimmtheit und Welthaltigkeit symbolischer Medien Als praktisch tätige oder leiblich agierende Wesen bewegen wir uns in bestimmter Weise an den Beschaffenheiten der Welt entlang. Wir können die Welt gar nicht anders als in bestimmter Weise anpacken oder durchstreifen. Als sinnlich wahrnehmende Wesen haften wir entsprechend an der Welt, wie sie sich unseren Sinnen darbietet 103, oder sind als für Stimmungen empfängliche Wesen von der Atmosphäre affiziert, mit der die Welt uns umfängt. In diesem Sinne heißt es bei Bertram, »nichtsprachliche Praktiken bringen [. . . ] die Welt in ihrer Verfasstheit mit« 104. Für symbolgebrauchende Wesen wie uns erweist sich die Welt dabei zugleich als ein strukturiertes Ganzes, als ein in komplexer Weise differenziertes und zusammenhängendes Gefüge. Die Welt ist uns von innen, d. h. aus der Binnen- oder Vollzugsperspektive der verschiedenen genannten Modi der Weltbegegnung auf ihre Strukturiertheit hin transparent: Ein Wechselbad der Gefühle ist uns als ein Umschlagen von Gefühlen, als ein kontinuierliches Schwinden des einen im Anschwellen des anderen Gefühls gegeben, so wie auch die erste Note der Melodie noch in der letzten mitausklingt. Wie Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare (Anm. 9) deutlich macht, darf man sich das Verhältnis zwischen unserer Wahrnehmung und der wahrgenommenen Welt nicht als das Aufeinandertreffen zweier aus sich heraus konstituierter Größen vorstellen. Vielmehr müssen auch Wahrnehmung und Welt als ko-konstituiert begriffen werden. Die wahrnehmbaren Qualitäten der Welt und unsere Sensorik (wie auch Motorik, sofern wir die Welt als unseren Bewegungsraum vorstellen) entwickeln sich in einem prinzipiell unabgeschlossenen Prozess korrelativ aneinander fort: Wer verschiedene Früchte geschmacklich zu unterscheiden lernt, wozu es eben einer Welt diverser Früchte bedarf, entwickelt unter Umständen eine gustatorische Sensibilität, die es ihm erlaubt, auch Weine hinsichtlich ihrer Fruchtaromen zu unterscheiden. Die »Welt des Weines« gewinnt so neue Konturen, ihr geschmackliches Profil entwickelt sich weiter in dem Maße, wie wir unsere Wahrnehmungsfähigkeiten an der »Welt der Früchte« schulen konnten usw. Für die Überlegungen dieses Abschnittes kann diese interne Dynamik des »Systems Eigenleib-Welt« (Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 72) als Modell dienen, weil auch nichtsymbolische Praktiken und symbolische Artikulationen sich in gewisser Weise korrelativ aneinander fortentwickeln. Die eigentliche Pointe meiner Arbeit liegt aber darin, dass diese beiden Dynamiken im Grunde ineinanderragen, sodass man vielmehr von einem symbolisch artikulierten System Eigenleib-Welt sprechen müsste. Bloß Trauben schmeckend, so könnte die These formuliert werden, entwickeln wir unseren Geschmackssinn eben nicht weiter. Es bedarf dazu grundsätzlich z. B. auch eines Vokabulars für verschiedene Aromen etc. oder einer sprachlich angeleiteten Einübung in Praktiken des Verkostens. Man muss z. B. gesagt bekommen, wo im Mundraum die Kostprobe zu platzieren sei, dass man zwischen zwei Proben mit Wasser die Geschmacksnerven neutralisiert etc. 104 Bertram: Die Sprache und das Ganze, (Anm. 21), 196. 103

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Nicht befinden wir uns zunächst in einem Zustand und dann losgelöst von diesem, gleichsam Schlag auf Schlag, in jenem etc. 105 Diese Beschreibungen dürfen aber nicht so verstanden werden, als läge diese strukturale Beschaffenheit der Welt, die Ordnung der Dinge, für uns unabhängig davon vor, wie wir über Zusammenhänge der Welt zu sprechen vermögen, wie wir uns bildlich mit wahrnehmbaren Aspekten der Welt befassen, wie wir Ereignisfolgen dramaturgisch zu verbinden oder zeitliche Abfolgen musikalisch zu modulieren wissen. Die Konturen unserer nichtsymbolischen Praktiken, in denen wir die Welt in bestimmter Weise entdecken, sind ohne die symbolischen Praktiken nicht zu denken, in denen wir Zusammenhänge und Strukturen artikulieren. Soviel konnte bisher geklärt werden. Damit bin ich in Sachen Artikulationsmodell aber eben noch nicht am Ende. Bisher habe ich ja nur den Beitrag symbolischer Medien und Praktiken zur Konstitution nichtsymbolischer Praktiken geklärt. Ich hatte oben vor der konstruktivistischen Verzerrung dieses Beitrags gewarnt und zugleich darauf hingewiesen, warum diese Gefahr genau besehen doch nicht droht: Jede konstruktivistische Erläuterung von Artikulation, so meine Begründung, wird dadurch blockiert, dass ein Begriff bestimmter symbolischer Strukturen nicht zur Verfügung steht. Konstruktivistische Erläuterungen würden demnach auf einer ungeklärten Voraussetzung fußen. Mit dieser negativen Auskunft ist zugleich das fehlende Element in einer Erläuterung der Grundzüge des Artikulationsmodells markiert: Es muss noch gezeigt werden, dass das Artikulationsmodell eine Antwort auf die Frage der Bestimmtheit symbolischer Strukturen zu bieten hat. Ich komme also zu der Frage, wie unsere von symbolischen Medien und Praktiken geprägten nichtsymbolischen Praktiken ihrerseits zur Bestimmung oder Ausbildung der elementebestimmenden Beziehungen symbolischer Strukturen beitragen. Bertram spricht davon, dass die nichtsymbolischen Praktiken eben dadurch, dass sie uns qua symbolischer Artikulationen als strukturierte PrakIm ersten Band der PhsF schreibt Cassirer: »Daß alles Einzelne des Bewußtseins nur dadurch ›besteht‹, daß es das Ganze potentiell in sich schließt und gleichsam im steten Übergang zum Ganzen begriffen ist, hat sich bereits gezeigt [z. B. durch die Befunde der Gestaltpsychologie, CK]. Der Gebrauch des Zeichens aber befreit diese Potentialität erst zur wahrhaften Aktualität. Jetzt schlägt in der Tat ein Schlag tausend Verbindungen, die alle in der Setzung des Zeichens zum mehr oder minder kräftigen und deutlichen Mitschwingen gelangen.« (PhsFI, 43) Auch wenn Cassirer an dieser frühen Stelle damit nur den strukturalen Zusammenhang von Zeichen oder symbolischen Ausdrücken im Sinn hat, lässt sich diese Passage, wie ich noch zeigen werde, in Verbindung mit seinen späteren Ausführungen zur symbolischen Prägnanz unseres wahrnehmenden Weltbezugs gut im Sinne des Artikulationsmodells lesen. 105

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tiken eröffnet sind, wiederum der Strukturierung in symbolischen Praktiken als »Orientierungsfläche« 106 dienen können. Die Unterschiede, die wir im Sprechen etwa zwischen den Ausdrücken ›sonnig‹ und ›bewölkt‹ machen, hängen demnach wesentlich damit zusammen, dass wir an sonnigen Tagen den Regenschirm daheim lassen, während wir ihn an bewölkten Tagen sicherheitshalber einstecken. Wer einen sprachlichen Ausdruck versteht, versteht sich auch auf bestimmte Tätigkeiten, Wahrnehmungspraktiken und dergleichen. Es scheint hilfreich, das an einem Beispiel genauer zu erläutern, das Bertram selber gibt. Es geht dabei um eine einfache Tätigkeit: das Pilzesammeln. Wer sich aufs Pilzesammeln versteht, so Bertram, der macht in seinem wortlosen Tun z. B. Unterschiede zwischen roten und braunen Pilzen: »Die braunen Pilze kommen ins Körbchen, die roten bleiben stehen.« 107 Wer in dieser Weise Pilze sammelnd in der Welt zugange ist, hat nun auch seine sprachlichen Strukturen in besonderer Weise entwickelt. Für ihn machen z. B. Farbnamen in Bezug auf Pilze einen Unterschied. Niemals würde er der Aussage, »Da ist ein brauner Pilz«, zustimmen, wenn jemand auf einen roten Pilz zeigt. Aussagen über rote und braune Pilze lassen sich für ihn nicht substituieren. In solchen logischen Ausschlussbeziehungen artikuliert sich die Unterscheidung, die seine Praxis des Pilzesammelns orientiert: Es kommen eben braune und keinesfalls rote Pilze in das Körbchen. Jemand, der sich dagegen nicht aufs Pilzesammeln versteht, wäre angesichts des roten Pilzes vielleicht bereit, der Aussage zuzustimmen, dass da ein brauner Pilz stehe. Er ist es deshalb, weil ihm Farbnamen in Bezug auf Pilze einfach nicht viel sagen. Er zuckt mit den Schultern und sagt zu seinem Gegenüber: ›Ok, wenn du meinst. Ich jedenfalls kann nicht sagen, wann man von einem roten und wann von einem braunen Pilz spricht.‹ Und Farbnamen sagen ihm in Bezug auf Pilze deshalb nichts, weil er keine Praxis des Pilzesammelns entwickelt hat, an der er sprachliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Farben von Pilzen orientieren könnte. In gewisser Weise kann man auch sagen, dass er die Farbunterschiede zwischen roten und brauen Pilzen nicht sieht. Er ist zwar nicht farbenblind, aber in Ermangelung entsprechender sprachlicher Artikulationen ist ihm die konkrete Welt der Pilze eben nicht als eine eröffnet, in der diese oder jene subtilen Farbdifferenzen einen Unterschied machen. Die Differenzen der Farbgebung, die ja bereits in der Welt sind, rutschen ihm in der Wahrnehmung gewissermaßen durch. 108 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 21), 184. Ebd., 185. 108 Was in Bezug auf die Unterscheidung von Farbnamen vielleicht irgendwie unglaubhaft klingt, weil sie uns als derart basale begriffliche Fähigkeiten gelten, wird sofort 106 107

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Doch dabei muss es nicht bleiben: Unser Novize könnte lernen, wie das mit dem Pilzesammeln geht. Und sobald er rote von braunen Pilzen hinreichend verlässlich zu unterscheiden vermag, wird sich auch sein Sprachhaushalt in einer entsprechenden Weise eingerichtet haben. Doch das ist nur eine Richtung, aus der man den Zusammenhang zwischen Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken beschreiben kann. Genauso gut ließe sich sagen: Wenn jemand Aussagen über rote und braune Pilze versteht, vermag er auch eine Praxis des Pilzesammelns zu vollziehen, die an Differenzen zwischen roten und brauen Pilze orientiert ist. Die Welt ist ihm dann praktisch als eine Welt verschiedenfarbiger Pilze eröffnet, sofern er über sprachliche Artikulationen solcher Differenzen verfügt, und solche Artikulationen vermag er zu verstehen, so fern er einer Praxis folgen kann, in der solche Differenzen zum Tragen kommen. Indem die Ausbildung sprachlicher Strukturen in Korrelation zu den Strukturen erläutert wird, die in nichtsprachlichen Praktiken leitend sind, kann die Frage der Bestimmtheit der elementebestimmenden Beziehungen in symbolischen Strukturen so beantwortet werden, dass in einem Zug deren Bestimmtheit und Weltbezug verständlich wird. Denn bestimmte Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken ergeben sich nur für Wesen, die auch praktisch tätig, sinnlich wahrnehmend oder sonst wie nichtsymbolisch aktiv sind, und die im Zuge solcher Aktivitäten eben direkt mit der Beschaffenheit der Welt zu tun haben. Die Gehalte der sprachlichen Ausdrücke, die sich im Rahmen einer sprachlichen Struktur ergeben, die wiederum ihr spezifisches Muster nur ausbildet in Korrelation zu Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken, können daher als von Grund auf welthaltig bezeichnet werden. Die mit symbolischen Praktiken verbundenen semantischen Gehalte sind aufgrund des konstitutiven Zusammenhangs von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken »in der Welt abgesichert« 109. Es kann die Frage überhaupt nicht aufkommen, inwiefern unser Symbolverstehen je mit der Welt in Kontakt kommen kann, da ein Verstehen von symbolischen Ausdrücken nur für Wesen möglich ist, die zugleich in einer von solchen Verständ-

nachvollziehbar, wenn man z. B. an die sprachliche Beschreibung von Weinen denkt. Jemand, der keine entsprechenden gustatorischen Fähigkeiten entwickelt hat und keine entsprechende Praxis des Verkostens beherrscht, für den ist es eben nicht mehr als dünkelhafter Unsinn, wenn jemand sagt, der Wein sei »kreidig« oder »schlank« oder was auch immer. So wenig, wie er Sinn mit solchen Aussagen verbinden kann, so wenig schmeckt er auch den Schiefer im Abgang etc. 109 Ebd., 175.

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nissen geprägten nichtsymbolischen Weise in der Welt zugange sind. 110 Symbolische Strukturen lassen sich überhaupt nicht in der Weise von der Welt ablösen, dass unser Symbolverstehen gewissermaßen leer laufen könnte. Ein Begriff symbolischer Strukturen, die nicht auf irgendeine (wie auch immer komplex vermittelte) Weise in nichtsymbolische Praktiken und damit in Praktiken eines direkten Zu-tun-Habens mit der Welt eingebunden sind, ist kein verständlicher Begriff symbolischer Strukturen. Man kann diese Überlegungen noch einmal an zwei anderen Beispielen illustrieren, von denen eines formalsprachliche Artikulationen, das andere eher bildliche Artikulationen von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken in den Blick nimmt. Auf diese Weise kann deutlich gemacht werden, inwiefern sich Bertrams am Beispiel von Sprache entwickelte Überlegungen auch auf nichtsprachliche symbolische Medien übertragen lassen. Das erste Beispiel schließt an eine Passage an, in der Albrecht Wellmer Überlegungen zu Heideggers Verständnis des Zusammenhangs alltäglicher und wissenschaftlicher Praktiken anstellt.: Wellmer erläutert, inwiefern Heidegger dem »alltäglichen Besorgen« einen ontologischen Primat vor dem wissenschaftlichen Zugang zur Welt einräumt; er schreibt zunächst in Bezug auf dieses alltägliche Besorgen: »[I]m Umgang mit Zuhandenem [ist] immer schon ein praktisches Wissen um kausale Wenn-dann-Beziehungen enthalten. Wenn ich das und das tue – z. B. Holzstücke ins Feuer werfe, einen Kessel mit Wasser aufs Feuer setze, den Hammer fallen lasse, mit dem Auto zu schnell in die Kurve fahre usw. – dann wird das und das geschehen. Oder: Wenn das und das geschieht – wenn mir ein Stein auf den Kopf fällt, wenn ich zuviel Alkohol trinke, wenn der Regen nicht rechtzeitig kommt usw. – dann wird das und das die Folge sein.« 111

Diese praktisch mich orientierenden Wenn-dann-Beziehungen können wir gut als Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken begreifen. An solchen Strukturen sind wir praktisch insofern orientiert, als wir eben geDiese Ausführungen erwecken fraglos den Eindruck einer gewissen Zirkularität, der wiederum den Argwohn weckt, dass es dadurch stets zu einer statischen Korrelation genau derjenigen Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken mit denjenigen Strukturen in symbolischen Praktiken kommt, die diese artikulieren, oder umgekehrt, dass meine Praktiken sich stets genau an jenen Strukturen orientieren, die ich auch symbolisch zu artikulieren vermag. Jeder Kompetenzerwerb und Lernerfolg auf Seiten symbolischer ebenso wie aufseiten nichtsymbolischer Praktiken müsste mir dann wie ein unerklärliches Geschenk zufallen. Entweder ich verstehe, was gesagt wird, und kann auch entsprechend Praktiken vollziehen, oder eben nicht. Ich werde im dritten Kapitel darauf zurückkommen. 111 Albrecht Wellmer: Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt /M. 2004, 308. 110

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meinhin versuchen, z. B. nicht zu schnell in die Kurve zu fahren und ein mulmiges Gefühl in uns aufsteigen spüren, wenn jemand dies doch tut, während der Hund auf der Rückbank unbekümmert vor sich hin hechelt. Wellmer hebt nun (mit Heidegger) darauf ab, dass die wissenschaftliche Erforschung der Welt nur deshalb auf den »Praxis- und Bewandtniszusammenhang« unseres alltäglichen Tuns »zurückwirken« kann, weil es an »Strukturmomente« ebendieser alltäglichen Praktiken »anknüpft« 112. Dieses Anknüpfen kann man nun so verstehen, dass das logische Vokabular, mit dem die Wissenschaften z. B. Gesetzesaussagen formulieren, als Artikulationen einer Wenn-Dann-Struktur begriffen werden können, der wir in der Praxis folgen. Der praktische Umstand, dass ich den Kessel auf das Feuer stellen muss, damit ich kochendes Wasser bekomme, und nicht umgekehrt, ist symbolisch artikuliert, wenn sich ein logisches Vokabular entwickelt, in dem Wendungen, wie »wenn . . . , dann . . . « etc., so gebraucht werden, dass der Wenn-Teil des Satzes nicht mit dem Dann-Teil des Satzes getauscht werden kann. Mithilfe des logischen Vokabulars lösen wir gewissermaßen die Bedingungszusammenhänge und Unumkehrbarkeitsrelationen der Praxis von ihrer materialen Dichte und können sie uns als logische Folgerungsbeziehungen vorführen. Weder müssen wir besondere Vorsicht walten lassen, wenn wir über Feuer sprechen, noch müssen wir minutenlang warten, damit es zu einem logischen Zusammenspiel von Ausdrücken wie ›Feuer‹, ›Kessel‹ und ›Wasser‹ kommt. Oder kurz: Das Wort ›Feuer‹ wärmt nicht. Noch müssen wir überhaupt von Feuer, Kesseln und Wasser handeln. Wir können die Struktur, an der wir praktisch orientiert sind, von den Gegenständen lösen, die uns in solchen Strukturen begegnen. Auf lange Sicht landen wir irgendwann dort, wo wir mit Cassirer im ersten Kapitel gelandet sind, bei einer formalen Strukturwissenschaft wie der Mathematik. Entscheidend bleibt aber, dass logische Folgerungsbeziehungen oder mathematische Berechnungen nur für Wesen gehaltvoll sind, die sich in praktischen Abhängigkeitsbeziehungen bewegen oder die eine begrenzte Zahl an Gütern untereinander aufteilen müssen. 113 Ein letztes Beispiel: Wenn wir zu Fuß in bergigem Gelände unterwegs sind, machen wir z. B. praktisch Unterschiede zwischen Geröllfeldern, Klettersteigen, Steilwänden etc. Wer nicht tritt- und höhensicher ist, wird z. B. Klettersteige und Steilwände meiden, während er Geröllfelder nur Vgl. ebd., 308. Damit ist gleichwohl nicht gesagt, dass Mathematik im Zählen von »Kieselsteinen und Pfeffernüssen« besteht, wohl aber dass Mathematik für denjenigen unverständlich bleibt, der praktisch niemals mit Mengen von »Kieselsteinen und Pfeffernüssen« oder ähnlichem befasst ist. 112 113

Grundzüge des Artikulationsmodells

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mit einem mulmigen Gefühl betritt. Am Wohlsten fühlt er sich dagegen auf Almwiesen oder besser noch: mit einem erfrischenden Getränk vor einer Berghütte, die mit der Seilbahn zu erreichen ist. Solche praktischen und vielleicht auch affektiv-besetzten Unterschiede des alpinen Geländes können wir kartographisch artikulieren. Kartographisch artikuliert sind solche praktischen Unterschiede dann, wenn sich z. B. ein Farbcode für verschiedene Routenprofile etabliert: rote Linien stehen für leichtgängige Touren, schwarze Touren für solche mit Klettersteigen, wobei eine Strichelung der schwarzen Linie anzeigt, wo im Verhältnis zum Ganzen der Strecke der Klettersteig liegt etc. Hinzukommen können hier alle möglichen weiteren Angaben, wie Piktogramme für Hütten, Höhenlinien, verschieden Schraffuren für verschiedene Geländearten. Die Lesbarkeit einer Karte und ihrer Legende muss im Sinne des Artikulationsmodells in Korrelation zu Praktiken des Bergsteigens etc. begriffen werden. Dieselbe Karte kann entsprechend auch unterschiedlich verstanden werden. Während sie für den Geologen Informationen darüber enthält, von welchen Stellen aus er einen guten Einblick in die geologische Struktur gewinnt (Höhenlagenangaben, topologische Verhältnisse – welche Stelle liegt welcher gegenüber, Schraffuren, die zeigen, wo es unbewaldete Hänge gibt), ist die Karte für jemanden, der nur nach einer nicht allzu steilen Route sucht, die ihm auch schattige Waldpassagen verspricht, in einer anderen Weise bestimmt. Die Karte artikuliert für sie jeweils verschiedene Strukturen, an denen sie in nichtsprachlichen Praktiken orientiert sind. Alle diese Beispiele erscheinen fraglos übersimplifiziert: Die meisten Praktiken sind ungleich komplexer. Sie stehen nicht nur als nichtsymbolische Praktiken in vielfältigeren Beziehungen zu anderen nichtsymbolischen Praktiken desselben Typs, sondern auch in Beziehungen zu nichtsymbolischen Praktiken unterschiedlichen Typs (so müsste man z. B. genauer über den Zusammenhang von Wahrnehmungspraktiken und praktischen Tätigkeiten nachdenken). Sie sind als nichtsymbolische Praktiken, wie das dritte Kapitel noch deutlich machen wird, gemeinhin auch mit einer Vielzahl verschiedener symbolischer Praktiken verbunden: Und d. h., dass wir nicht nur in sehr unterschiedlicher Weise z. B. zu sagen vermögen, was wir tun – wir können uns sehr technisch ausdrücken oder blumig, mit einem psychologisch gefärbten Vokabular oder einem eher religiös gefärbten Vokabular –, sondern vor allem auch, dass wir Aspekte unseres nichtsymbolischen Standes in der Welt in sprachlichen, bildlichen, musikalischen, filmischen und anderen symbolischen Medien artikulieren können. Ein detailliertes Ausloten dieser unendlich reichhaltigen Zusammenhänge ist meines Erachtens eher die Aufgabe entsprechender kulturwissenschaftlicher Disziplinen – und auch diese werden immer nur

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einen Ausschnitt zu fassen bekommen. Mir ging es vor allem darum, die wesentlichen Grundzüge der Interdependenz von Medien und Welt, respektive von symbolischen Praktiken und nichtsymbolischen Praktiken darzulegen, und damit zu zeigen, wie eine Bedeutungstheorie symbolischer Medien begrifflich angelegt sein muss, die zugleich die Probleme des Konstruktionsmodells vermeiden und die mit dem Konstruktionsmodell verbundenen Einsichten, wenn auch in transformierter Form, bewahren will. Bevor ich im dritten Kapitel noch einmal auf zentrale Aspekte des Artikulationsmodells zurückkomme, die bisher noch nicht ausreichend erläutert wurden, will ich auf den folgenden Seiten zunächst zeigen, inwiefern Cassirers Symbolphilosophie sich ihrerseits auf dem Weg zum Artikulationsmodell befindet. 2.3 Die Philosophie der symbolischen Formen revisited »Die Frage, ob die ›Artikulation‹ der anschaulichen Welt der Entstehung der artikulierten Sprache als vorausgehend oder als folgend gedacht werden müsse [. . . ], ist in dieser Form falsch gestellt. Was sich aufzeigen lässt, ist kein solches ›Früher‹ oder ›Später‹, sondern nur der innere Zusammenhang, der zwischen den beiden Grundformen und Grundrichtungen der geistigen Gliederung besteht.« – Ernst Cassirer, PhsFIII, 127 f.

Die Philosophie der symbolischen Formen enthält mehr als nur eine Philosophie symbolischer Formen. Sie ist das Dokument eines fortlaufenden Ringens um die plausible Fassung einer solchen Philosophie. 114 Dieses Ringen wird anfangs und zu weiten Teilen von konstruktivistischen Überlegungen dominiert. Späterhin treten aber zunehmend auch hermeneutische Überlegungen auf den Plan. Vorsichtiger formuliert: Cassirer spielt mit hermeneutischen Motiven, bleibt letztlich aber unentschieden. Zu einer Neuformulierung seiner Position setzt er jedenfalls nirgends eindeutig an. Doch ist man gut beraten, hier dem Hinweis Ralf Konersmanns Zwischen den ersten Schriften zu einer Philosophie symbolischer Formen (als Auftakt lässt sich der 1922 erschienene Aufsatz Die Begriffsform im mythischen Denken ansetzen, vgl. Ernst Cassirer: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, 3–61) und dem Erscheinen des letzten Bandes der PhsF 1929 vergehen immerhin sieben Jahre. Schlägt man, wie Kreis, bereits SuF dem symbolphilosophischen Projekt Cassirers zu, sind es schon 19 Jahre; viel Zeit, die eigene Position zu überdenken. 114

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zu folgen, der davor warnt, bei aller »Pointenarmut« der Philosophie Cassirers zu übersehen, »wie weitreichend« dieser um »der Profilierung seines eigenen Denkens« willen die von ihm referierten Positionen modifiziert. Es könnte so nämlich auch in Bezug auf die Revision seines eigenen Standpunktes gelten, dass »sie einfach nur auf Taubenfüßen daher[kommt]« 115. Die revisionistischen (auf eine hermeneutische Symbolphilosophie zielenden) Ambitionen Cassirers finden ihren Ausdruck in einer zuweilen deutlich widersprüchlichen Textlage: Aussagen, die den aus dem ersten Kapitel vertrauten Gedanken bekräftigen, dass unser Weltbezug wesentlich symbolisch geformt ist, stehen nun neben solchen, die behaupten, dass symbolische Formen selbst in einem konstitutiv vorsymbolischen Weltbezug fundiert seien. Ziel der folgenden Relektüre der PhsF ist es, diese Widersprüche als Symptome des Versuchs lesbar zu machen, konstruktivistische und realistische Ansätze in der Symbolphilosophie zugleich zu überwinden. Dazu greife ich in einem ersten Schritt diejenigen Widersprüche auf, die im Zuge der Diskussion des sogenannten Ausdrucksphänomens zutage treten; und zeige, dass sie sich im Geiste des Artikulationsmodells produktiv wenden lassen. In einem zweiten Schritt wird dieser eher spekulative Zugriff auf die PhsF exegetisch besser abgesichert. Denn in Bezug auf den Zusammenhang von Sprache und sinnlicher Wahrnehmung vermag Cassirer schon klarer zu sagen, was in Bezug auf den Zusammenhang von Mythos und Ausdrucksphänomen nur in besagten Widersprüchen seinen Ausdruck findet: dass nämlich ein Verhältnis wechselseitiger Bestimmung besteht zwischen symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken. 116 Doch finden sich, das soll keineswegs unterschlagen werden, auch Ralf Konersmann: Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt 1999, 41. 116 Natürlich kann man hier einwenden wollen, dass Cassirer, was auch immer er über den Zusammenhang von Sprache und Wahrnehmung sagt, über den Zusammenhang von Mythos und Ausdruckserleben nicht sagen will. Mythische, sprachliche und wissenschaftliche Praktiken werden ja im dritten Band der PhsF entlang eines dreistufigen Entwicklungsmodells geordnet, wonach der Mythos auf der Stufe der Ausdrucksformen, die Sprache auf der Stufe der Darstellungsformen, und die Wissenschaft auf der Stufe der reinen Bedeutungsformen rangieren. Man kann dieses Stufenmodell durchaus so verstehen, dass es deutlich machen soll, dass vom Mythos zur Wissenschaft die realistischen Anteile in Bezug auf die Explikation des Medien-Welt-Verhältnisses ab- und die konstruktivistischen Anteile zunehmen; dass das Artikulationsmodell beim Mythos daher noch nicht und bei der Wissenschaft nicht mehr greift. Ohne mich direkt mit der Idee des Stufenmodells auseinanderzusetzen, möchte ich jedoch in systematischer Hinsicht dafür argumentieren (der Nachweis, dass Cassirer sich in Widersprüche verstrickt, ist Teil 115

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hier immer wieder Passagen, die mit dem Hintern einreißen, was mit den Händen zuvor mühsam aufgebaut wurde. Cassirer befindet sich eben nur auf dem Weg zu einer hermeneutischen Symbolphilosophie. Wie weit er auf diesem Weg vorangekommen ist, darüber lässt sich streiten. Dieser Ambivalenzen eingedenk will ich meine Lektüre der PhsF dennoch in eine hermeneutische Richtung forcieren und ihr so eine Richtung geben, die mir nicht nur exegetisch legitim, sondern vor allem auch systematisch plausibel erscheint. Den Leitfaden der Relektüre bilden die vorangegangenen Überlegungen zum Artikulationsmodell. Im Grunde werde ich zunächst in der PhsF funktionale Äquivalente zu den oben erläuterten Begriffen nichtsymbolischer und symbolischer Praktiken ausfindig machen. Anschließend zeige ich dann, dass auch Cassirer versucht, diese begrifflichen Bausteine im Sinne des Artikulationsmodells zu verbinden. Allerdings steht diesem Zugriff auf die PhsF ein besonderes Hindernis im Weg: der Cassirersche Symbolbegriff. Um unnötige Missverständnisse zu vermeiden, scheinen mir diesbezüglich einige Vorbemerkungen hilfreich. 117 2.3.1 Zum Begriff des Symbolischen Cassirer nennt den » Symbolbeg riff [. . . ] einen gestaltwandelnden Proteus, der schwer zu packen und zu bannen sei« 118; und das bleibt er auch in der PhsF. Für meine Zwecke kann ich gleichwohl folgende drei dieser Argumentation), dass Cassirer das, was er über die Interdependenz von Sprache und Wahrnehmung sagt, auch über das Verhältnis von Mythos und Ausdruckserleben sagen sollte, ebenso wie über das Verhältnis von Wissenschaft und Wahrnehmung oder Praxis. (Ein entsprechendes nichtsymbolisches Komplement zum wissenschaftlichen Zeichengebrauch wird in der PhsF allerdings nicht deutlich. Wenn zutrifft, was ich über die konstruktivistischen Theorieanteile auf der Stufe der reinen Bedeutungsformen gesagt habe, ist dieses Fehlen im Rahmen des Stufenmodells zumindest konsequent.) 117 Dass es dieser Klärungen dringend bedarf, hat mir eine Diskussion mit Mitgliedern der von Martina Plümacher und Christian Möckel geleiteten Cassirer-AG am Innovationszentrum Wissensforschung (IZW) der TU Berlin deutlich gemacht, denen ich Auszüge meiner Überlegungen im Dezember 2015 vorstellen durfte. 118 Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in ders.: Schriften (Anm. 98), 93. Cassirer paraphrasiert eine Bemerkung Theodor F. Vischers. Aber wie das so in der Natur des Proteus liegt, heißt es im dritten Band nunmehr vom Bewusstseinsbegriff, dass er »der eigentliche Proteus der Philosophie zu sein [scheint]«, PhsFIII, 53. In gewisser Weise zeigt dieses Schwanken nur von Neuem an, was ich oben in Bezug auf Cassirers ambivalenten symbolic turn gesagt habe: Die PhsF schwankt zwischen den Begriffen des Bewusstseins oder geistiger Strukturen und Zeichen oder symbolischen Strukturen als den Grundbegriffen einer Symbolphilosophie hin und her.

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Verwendungsweisen des Begriffs bei Cassirer unterscheiden 119: Erstens bezeichnet »der Begriff des Symbolischen« 120 einen Grundzug unseres geistigen oder verstehenden Weltverhältnisses, wonach dieses, wie wir auch sagen könnten, wesentlich struktural verfasst ist. Wer versteht, der bewegt sich in Strukturen, der erkennt Zusammenhänge, dem steht die Welt als ein gegliedertes und geordnetes Ganzes offen. Einen symbolischen Ausdruck, ein Ereignis etc. verstehen meint, ihn in Beziehung zu anderen Ausdrücken, Ereignissen etc. zu stellen, oder ihn als in solchen Beziehungen stehend zu erfassen. Cassirer spricht in diesem Sinne immer wieder auch vom repräsentationalen Charakter des Bewusstseins. Ein verstehendes, geistiges oder eben ein symbolisches oder repräsentationales Weltverhältnis hat, wer sich in Erfahrungszusammenhängen bewegt, in denen die Bestimmtheit einer einzelnen Erfahrung wesentlich von ihrer Beziehung zu anderen Erfahrungen abhängt. In diesem Sinne wird der Begriff des Symbolischen bei Cassirer zum Grundbegriff des menschlichen Standes in der Welt. Er kennzeichnet die Lebensform des »animal symbolicum« als solches. Vor diesem Hintergrund kann Cassirer dann sowohl von einer »natürlichen Symbolik« als auch von einer »künstlichen Symbolik« sprechen. 121 Denn wie er im dritten Band der PhsF unter Rekurs auf die Gestaltpsychologie und gegen einen sensualistischen Begriff sinnlicher Empfindungen deutlich macht, bewegen wir uns bereits in der sinnlichen Wahrnehmung (und nicht erst im Umgang mit symbolischen Ausdrücken) in einer »Verweisungsstruktur« 122. Das Symbolische (oder das Repräsentationale) ist kein exklusives Moment höherer kognitiver LeisVgl. hierzu die Ausführungen in Kreis: Cassirer (Anm. 69), 438 ff. Kreis kommt zwar auch zu einer Dreiteilung im Begriff des Symbolischen bei Cassirer. Er begründet diese im Zuge seiner normativistisch-konstruktivistischen Lektüre der PhsF aber in entscheidenden Hinsichten anders. 120 Cassirer: Das Symbolproblem (Anm. 118), 93. 121 Vgl. u. a. PhsFI, 18 ff. Diese Unterscheidung wird von Cassirer nirgends systematisch eingeführt. Im Vorgriff auf die unten noch zu leistende Erläuterung des Begriffs der symbolischen Prägnanz kann man aber sagen, dass es plausibel ist, dass Cassirer den Unterschied nicht zu begründen versucht – denn es gibt ihn streng genommen nicht. Als Wesen, die künstliche Symbole gebrauchen, gewinnt auch diejenige Dimension unseres Weltverhältnisses, die scheinbar zu unserer natürlichen Ausstattung gehört – unsere sinnliche Wahrnehmung –, selbst einen künstlichen, oder im Kontext der PhsF besser: geistigen oder kultürlichen Charakter. Das aber darf uns allerdings nicht zu einer Entdifferenzierung von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken oder zwischen mediengebrauchenden und nicht-mediengebrauchenden Praktiken verleiten, wie dies gerade auch durch den Begriff der symbolischen Prägnanz geschieht, vgl. Abschnitt 3.1.1. 122 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 77. 119

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tungen des Menschen: »Jeder noch so ›elementare‹ sinnliche Inhalt ist [. . . ] niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt ›da‹; sondern er weist in ebendiesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ›Präsenz‹ und ›Repräsentation‹.« (PhsFIII, 143) Dieser globale Gebrauch des Symbolbegriffs erschwert allerdings eine Unterscheidung, wie ich sie zwischen symbolischen Medien und Praktiken einerseits und nichtsymbolischen Praktiken andererseits treffe. Denn aus der Perspektive der PhsF gesprochen handelt es sich bei beiden Praktiken qua ihres strukturalen Charakters um gleichermaßen symbolische Praktiken. Will man indes eine »dynamische Wechselbeziehung« (PhsFIII, 128) zwischen beispielsweise sprachlichen Praktiken und Wahrnehmungspraktiken begrifflich artikulieren, ist es nötig, spezifischere Unterscheidungen im Feld des Symbolischen vorzunehmen. Am ehesten noch scheint man nun die Differenz zwischen in meinem Sinne nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken entlang der Unterscheidung zwischen einer natürlichen und einer künstlichen Symbolik entfalten zu können. Allerdings ist das Begriffspaar ›natürlich /künstlich‹ mit dem (aus Sicht des Artikulationsmodells gesprochen) Makel behaftet, dass es suggeriert, natürliche und künstliche Symbolik wären unabhängig voneinander konstituiert. Es scheint mir daher hilfreich, den globalen Begriff des Symbolischen in Begriffen der Struktur oder der Strukturiertheit zu erläutern, während man den Unterschieden zwischen symbolischen oder Zeichenpraktiken und Praktiken, in denen aktual keine Zeichen oder symbolischen Ausdrücke gebraucht werden, in Begriffen von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken fasst. So lässt sich an einer zentralen Einsicht Cassirers festhalten: dass nämlich das menschliche Weltverhältnis wesentlich struktural verfasst ist; und zugleich gewinnt man eine begriffliche Ressource, die den ko-konstitutiven Zusammenhang verschiedener menschlicher Praktiken zu fassen erlaubt. 123 Während der Begriff des Symbolischen zunächst die strukturale Verfasstheit unseres Welt- und Symbolverstehens als Ganzes bezeichnet, findet sich zweitens eine engere Verwendung des Symbolbegriffs, wonach auch Elemente strukturaler Zusammenhänge als Symbole bezeichnet werden. Jede Einzelwahrnehmung etwa eines zeitlichen Augenblicks gilt Cassirer demnach ebenso als Symbol, wie ein Zahlzeichen oder ein sprachlicher Ausdruck. Stets gewinnen diese Elemente ihren Gehalt aus ihrem Zusammenhang mit anderen Elementen oder aus ihrer Stellung innerhalb einer Reihe, sei es einer Reihe vergangener und künftiger Augenblicke, logisch vorhergehender und nachfolgender Zahlenwerte oder im Rahmen 123

Vgl. dazu auch unten Abschnitt 3.1.

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einer sprachlichen Struktur. Schon in SuF heißt es in dieser Verwendung des Symbolbegriffs: »[D]er einzelne gegebene Eindruck bleibt nicht schlechthin, was er ist, sondern wird zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb derer er steht, und an welcher er in bestimmten Maße teilhat.« (SuF, 303) Neben der erstgenannten globalen Verwendung des Symbolbegriffs stellt aber vor allem Cassirers dritte Verwendung dieses Begriffs, wie sie im titelgebenden Begriff der symbolischen Form Gestalt annimmt, eine Herausforderung dar. In der Cassirer-Forschung herrscht wenig Einigkeit darüber, was eine symbolische Form eigentlich ist; zu dürftig sind Cassirers eigene Bestimmungen, zu vielfältig die Gegenstände, die darunterfallen sollen. 124 Eine der wenigen und zugleich meistzitierten Bestimmungen des Begriffs lautet: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem innerlich zugeeignet werden kann. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen.« 125

Es ist ziemlich unklar, ob diese Bestimmung tatsächlich einen begrifflichen Zusammenhang zwischen den genannten Gegenständen – der Sprache, der mythisch-religiösen Welt und der Kunst – plausibel machen kann. Das lässt sich mit folgender Überlegung knapp verdeutlichen: auch der Mythos, die Kunst oder die Wissenschaft, die in diesem Zitat zwar nicht genannt ist, für Cassirer aber fraglos eine symbolische Form ist, sprechen. Es ist möglich, mythische, künstlerische, wissenschaftliche Weisen des Sprachgebrauchs voneinander zu unterscheiden, und Cassirer tut das auch. So ist etwa der Sprachgebrauch im wissenschaftlichen Diskurs von besonderen Disziplinierungen geprägt, die die Entwicklung intersubjektiv verbindlicher Terminologien befördern sollen, während die Dichtung (einmal etwas holzschnittartig gegenübergestellt), nicht weniger diszipliniert, aber doch eher auf die Prägung eines individuellen sprachlichen Ausdrucks zielt. Es ist dagegen unklar, inwiefern auch die »symbolische Form« der Sprache von jener der Wissenschaft wiederum unter Rekurs auf den Mythos oder die Kunst in einer vergleichbaren Weise zu unterscheiden wäre. Sprache, der zentrale Gegenstand des ersten Bandes der Graeser nennt neben Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft auch Technik, Moral, Recht; vgl. Andreas Graeser: Ernst Cassirer, München 1994. 125 Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: ders.: Schriften (Anm. 114), 67. 124

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PhsF, zeichnet sich gegenüber anderen symbolischen Formen dadurch aus, dass sie sowohl der wissenschaftlichen Theoriebildung als auch z. B. einer Beschwörung von Naturkräften dienen kann. 126 Sprache ist anders gesagt das geteilte Medium wissenschaftlicher und mythischer Praktiken (woraus allerdings nicht folgt, dass wissenschaftliche und mythische Praktiken nur im Medium der Sprache vollzogen werden). Es scheint mir naheliegend, diese Überlegungen in folgende Unterscheidung umzumünzen: Einerseits bezeichnet Cassirer mit dem Ausdruck ›symbolische Form‹ das, was ich symbolische Medien nenne oder Cassirer selbst gelegentlich »verschiedene Zeichensysteme« (PhsFI, 15) nennt. In dieser Hinsicht haben erklärtermaßen Susanne Langer mit ihrer Differenzierung zwischen Formen »diskursiver« und »präsentativer Symbolisierung« und Nelson Goodman mit seiner syntaktischen und semantischen Differenzierung von Symbolsystemen an Cassirer angeschlossen und sich um eine Unterscheidung verschiedener symbolischer Medien verdient gemacht. Andererseits bezeichnet der Ausdruck ›symbolische Form‹ auch das, was man in einem ersten Schritt Formen medialer Praktiken nennen könnte. Man denke hierbei etwa an die Formunterschiede zwischen lyrischem und logischem Sprachgebrauch, wie er jeweils charakteristisch ist für Praktiken der Poesie einerseits und Praktiken der Argumentation andererseits oder an die Verwendung bildlicher Darstellungen in der Modephotographie gegenüber ihrer Verwendung im Rahmen bildgebender Verfahren der Medizin. Symbolische Formen in diesem zweiten Sinne stellen dann je spezifische Ausprägungen medialer Praktiken dar oder typische Arten und Weisen, symbolische Medien zu gebrauchen. Eine Unterscheidung symbolischer Formen in diesem Sinne erläutert, dass und wie mythisch oder religiös sprechen oder auch mit Bildern zeigen anders funktioniert als wissenschaftlich oder im Theater sprechen oder mit Bildern zeigen. Anders gesagt: Es ist das Ästhetische, das Szientifische oder das Sakrale symbolischer Praktiken, das so auf den Begriff gebracht werden soll. Schließlich und drittens geht Cassirer auch über diese eng an den Gebrauch symbolischer Medien gebundene Bestimmung hinaus. Der Begriff der symbolischen Form bezieht sich dann nicht mehr nur auf symbolische Medien gebrauchende Praktiken, sprich: spezifisch geformte sprachliche, bildliche oder musikalische Vollzüge. Das zeigt sich u. a. daran, dass Cassirer über die Bestimmung des ersten Bandes der PhsF hinaus – wo es noch heißt: »die ideelle Form [lies: die symbolische Form, Zur eigentümlichen Rolle der Sprache vgl. auch Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, 67 ff. 126

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CK] wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, derer sie sich zu ihrem Ausdruck bedient« (PhsFI, 16; kursiv, CK) – mit dem zweiten Band nunmehr auch nichtsymbolische Praktiken, z. B. Wahrnehmungspraktiken oder handwerklich-technische Tätigkeiten in die Explikation der jeweiligen symbolischen Form einbezieht. Ich möchte daher vorschlagen, symbolische Formen in dem letztgenannten Sinne als kulturelle Praxiszusammenhänge oder kurz als Praxisformen zu begreifen. Cassirer spricht auch von »Kulturformen« (PhsFI, 10), und mit Blick auf die symbolische Form des Mythos sogar von einer » Lebensform« (PhsFII, 181 ff.). Praxisformen, so wie ich sie verstehe, umfassen symbolische und nichtsymbolische Praktiken. Sie sind, anders gesagt, in spezifischer Weise geformte komplexe Praktiken. Für den Begriff einer solchen Praxisform orientiere ich mich an Georg Bertrams Erläuterung von Kunst als einer eigentümlichen menschlichen Praxis 127: Als eine solche Praxis bildet Kunst »eine komplexe Verbindung von Typen von Praktiken« 128, z. B. diskursiv-interpretativen und leiblich-wahrnehmenden Praktiken. Viele dieser Typen von Praktiken kommen auch in nicht-künstlerischen Zusammenhängen zum Tragen. Es ist die spezifische Verbindung und der spezifische Vollzug solcher Praktiken, die die Form der Praxis ausmacht, die wir Kunst nennen. Cassirers Überlegungen zu den symbolischen Formen des Mythos, der Kunst und auch der Wissenschaft lassen sich ganz ähnlich verstehen: Auch sie stellen jeweils spezifische Verbindungen und Vollzüge verschiedener Typen von Praktiken dar, von Typen von Praktiken wohlgemerkt, die grundsätzlich in verschiedenen Praxisformen zum Tragen kommen können: sprachliche Praktiken sind eben in religiösen wie in wissenschaftlichen Zusammenhängen involviert, ebenso wie es sinnliche Wahrnehmungspraktiken sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft gibt etc. 129 Vgl. Georg W. Bertram: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014. Ebd., 12 und 57. 129 Der dritte Band der PhsF fällt aus dieser Perspektive hinter den Stand der Überlegungen des zweiten Bandes zurück, denn in letzterem werden z. B. leiblich-affektive Aspekte des mythologischen Tuns auf breiter Basis diskutiert. Es ist diese immer wieder durchdringende Tendenz, z. B. leiblich-affektive Dimensionen des menschlichen Weltverhältnisses gegenüber ihren kognitiv-begrifflichen Dimensionen nachrangig zu behandeln, die Merleau-Ponty zu der Einschätzung bewegt, die PhsF gerate letztlich doch zu intellektualistisch; vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, (Anm. 103), 155. Selbst SuF scheint, was das Verständnis von Wissenschaft als einer komplexen Praxis anbelangt, dem Wissenschaftsbegriff des dritten Bandes der PhsF voraus. In SuF wird ja immerhin das Experiment als zentraler Aspekt wissenschaftlicher Praxis diskutiert. 127

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Ich werde den Vorschlag, den Begriff der symbolischen Form in dieser Weise zu differenzieren, im Rahmen dieser Arbeit nicht weiterverfolgen. Interpretatorisch macht diese Differenzierung aber sofort deutlich, wie vielschichtig (um nicht zu sagen disparat) die Inhalte sind, die Cassirer letztlich unter dem Titel einer Philosophie symbolischer Formen bündelt. Doch lässt sich diese Vielschichtigkeit (mit etwas gutem Willen) auch als Konsequenz einer systematisch vielversprechenden Einsicht betrachten, die bei Cassirer allerdings noch nicht in aller wünschenswerten Klarheit zu Tage tritt: Ausgehend von Überlegungen zur Sprache macht sich alsbald die Tendenz deutlich, dass über Sprache hinausdenken muss, wer Sprache erläutern will. Diese Bewegung zielt aber eben nicht bloß, oder besser: kaum auf eine einfache Vielfalt sprachlicher und nichtsprachlicher Medien. Die Idee, dass die PhsF von einer solchen Vielfalt handelt, ist im Lichte der vorgeschlagenen Differenzierung betrachtet vielmehr fragwürdig, da eben kein anderes symbolisches Medium als die Sprache thematisiert wird. 130 Sondern: Um der Sprache willen über Sprache hinausdenken meint vor allem, über nichtsprachliche und nichtsymbolische Aspekte des menschlichen Standes in der Welt nachzudenken, z. B. über seine Wahrnehmungspraktiken oder sein emotional-affektives Erleben. Es ist das Verständnis von symbolischen Formen als Praxisformen, als Formen einer komplexen Praxis, die in der PhsF denjenigen »Ort« markiert, an dem eine Explikation der Konstitution von Bedeutung aus einem Zusammenspiel symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken anknüpfen kann, wie ich sie im vorhergehenden Abschnitt erläutert habe. Wenn Cassirer über wissenschaftliche, künstlerische oder religiöse Formen des Weltverstehens nachdenkt, dann denkt er eben nicht nur über entsprechende Zeichenpraktiken nach, sondern weiß darum, dass jedes Verstehen der Welt auch »erfordert, daß das Ich [. . . ] im Betrachten wie im Tun, eine bestimmte ›Distanz‹ zu ihr gewinnt« (PhsFIII, 320; kursiv, CK). Unser geistiges Weltverhältnis, das scheint Cassirer hier zu sagen, ist auch das eines durch symbolische Medien und Praktiken transformierten Wahrnehmungs- oder Praxisverhältnisses. Auch wenn viele nicht-begriffliche Aspekte experimentellen Tuns auch in SuF nicht zur Sprache kommen – z. B. das genaue, geschulte Beobachten, die Reinigung der Messgeräte etc. – so wird doch in SuF eine Tür aufgestoßen, durch die dann z. B. Lorraine Daston und Peter Galison treten. Unter besonderer Berücksichtigung bildlicher Praktiken zeichnen sie in ihrer beeindruckenden wissenschaftshistorischen Studie Objektivität, Frankfurt /M. 2007 das Bild einer in meinem Sinne komplexen wissenschaftlichen Praxisform. 130 Welche Rolle die Mathematik als von Sprache unterschiedenes symbolisches Medium in der PhsF spielt, müsste genauer untersucht werden.

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Während die Ausführungen des vorangegangen Abschnittes vor allem in systematischer Perspektive gezeigt haben, dass dieser Gedanke eine vielversprechende symboltheoretische Perspektive darstellt, soll nun die interpretatorische These erhärtet werden, dass sich auch Cassirer auf dem Weg zu einer hermeneutischen Symbolphilosophie befindet oder, was im Rahmen dieser Arbeit dasselbe meint, auf dem Weg zu einem Begriff symbolischer Medien und Praktiken als Medien und Praktiken der Artikulation. 2.3.2 Das Urphänomen, das keines ist: der Ausdruck Der zweite Band der PhsF, der seinem durchaus irreführenden Titel zufolge mit dem »mythischen Denken« befasst ist 131, wird von der Cassirer-Forschung vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Sieht man von jenen Arbeiten ab, die sich im Zuge ihrer Beschäftigung mit der von Cassirer im Exil verfassten politiktheoretischen Studie The Myth of the State 132 seinen frühen Überlegungen zum Mythos widmen 133, bleibt jedenfalls der symboltheoretische Ertrag der Überlegungen zum Mythos eigentümlich unterbelichtet. Dass der Band zum Mythos dieses Schattendasein neben den beiden anderen Bänden zur Sprache und zur Wissenschaft fristet, hat verschiedene Gründe. Zum einen ist das sicher einem wie auch immer begründbaren Faible der Fachphilosophie für sprachphilosophische Themen und einem Szientismus unserer Zeit geschuldet. Zum anderen liegen die Gründe in der Verfassung des zweiten Bandes selbst: Cassirer gelingt es hier kaum, sich von den mythologischen Spezialdebatten und dem ausufernden Material der einschlägigen, mit dem Mythos befassten Wissenschaften zu lösen. Hinzu kommt, dass die »Phänomenologie« des sogenannten Ausdruckserlebens allzu dürftig ausfällt. Das erschwert wiederum die Abgrenzung ausdruckshafter Phänomene von Praktiken ihrer mythischen Artikulation. Gerne stützt man sich daher in der Forschung allein auf die »Synopse« des systematischen 131 Um Verstandesakte oder geistige Leistungen in einem engeren kognitiven Sinne, wonach diese Leistungen z. B. auch von einem körperlosen Wesen vollzogen werden könnten, geht es zu weiten Teilen nämlich gerade nicht, sondern um Wahrnehmungsphänomene, kultische Handlungen etc.; vgl. insb. PhsFII, 87 ff. und 258 ff. 132 Ernst Cassirer: The Myth of the State, New Haven /London 1946, ECW XXV [dt.: Der Mythus des Staates, 1978]. 133 Vgl., u. a. Esther O. Pedersen: Die Mythosphilosophie Ernst Cassirers. Zur Bedeutung des Mythos in der Auseinandersetzung mit der Kantischen Erkenntnistheorie und in der Sphäre der modernen Politik, Würzburg 2009.

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Ertrages des zweiten Bandes, die im ersten Teil des dritten Bandes der PhsF geliefert wird (vgl. PhsFIII, 64–117); und in deren Zuge die Ausdrucksphänomene (es ist auch von » Ausdruckswahrnehmung« (PhsFIII, X) oder von » Ausdruckserlebnisse[n]« (ebd., 72) die Rede) reichhaltiger beschrieben und um genuin wahrnehmungstheoretische Überlegungen zu sogenannten Gestaltphänomenen ergänzt werden. Diese Abkürzung ist allerdings nicht ohne Tücken: Man läuft auf diesem Wege Gefahr, die begrifflichen Differenzen zu verkennen, die zwischen den Ausdruckserlebnissen einerseits und dem Mythos als derjenigen Praxisform, für die solche Erlebnisse eine besondere Relevanz haben, andererseits bestehen. Zwar macht der dritte Band der PhsF schon im Vorwort klar, dass man mit der symbolischen Form des Mythos über die »Grenze des ›natürlichen‹ Weltbildes, des Weltbildes der Wahrnehmung und Anschauung«, (PhsFIII, VII) hinaus sei und damit über den Bereich, dem die Ausdrucksphänomene zugehören. Doch in dem Maße, wie im dritten Band der PhsF Ausdrucksphänomene und Mythos dann doch in einem Atemzug abgehandelt werden und der Mythos wiederum als eine vergangene Praxisform dargestellt wird, die etwa von den exakten Wissenschaften als reifere Formen des Weltverstehens abgelöst wird, wird zumindest in Kauf genommen, dass auch die Ausdruckserlebnisse irrigerweise als überholt begriffen werden. Sie hätten dann für eine Explikation nicht-mythischer Weltverhältnisse keine systematische Relevanz. Mit dem Mythos wird so das ausdruckstheoretische Kinde mit dem Bade ausgeschüttet. Denn so sehr der Mythos auch in Ausdruckserlebnissen befangen sein mag (was das heißen kann, werde ich in dieser Arbeit nicht mehr klären): Die Begriffe des Mythos als Praxisform und des Ausdruckserlebens fallen nicht zusammen. Die eher wahrnehmungstheoretisch zu nennenden Ausführungen des dritten Bandes und die eher mythologischen Ausführungen des zweiten Bandes der PhsF je nur für sich genommen verhindern eine klare Sicht auf diese Differenz. Erst die Konfrontation beider Bände macht deutlich, wie wenig Wahrnehmungstheorie im zweiten Band und wie wenig Mythologie im dritten Band der PhsF zu finden sind. Doch über diese unglückliche Verquickung ausdruckstheoretischer und mythologischer Fragestellungen im dritten Band der PhsF hinaus unterläuft Cassirer die Differenz immer wieder auch explizit; so schreibt er etwa: »Ja, auch die Welt unserer unmittelbaren Erfahrung – jene Welt, in der wir alle, sofern wir außerhalb der Sphäre bewußter, kritischwissenschaftlicher Reflexion stehen, beständig leben und sind – enthält eine Fülle von Zügen, die sich vom Standpunkt ebendieser Reflexion nur

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als mythisch bezeichnen lassen.« (ebd., 17) 134 Doch ist eben überhaupt nicht einzusehen, warum alltägliche Erfahrungen, sprich: solche, die nicht unter Experimentalbedingungen methodisch kontrolliert zustande kommen, eben dadurch schon mythische Erfahrungen sein sollen. Polemisch gefragt: Inwiefern sind die Kinder des wissenschaftlich-technologischen Zeitalters, wenn sie ihre Forschungslabore zum Shopping, zur Erholung im Grünen, zum geselligen Beisammen-Sein mit anderen verlassen, mit mythischen Erfahrungen konfrontiert? Wenn mythische Erfahrungen, wie der zweite Band der PhsF deutlich macht, sich dadurch auszeichnen, dass sie wesentlich im Horizont etwa des »Grundgegensatz[es] des ›Heiligen‹ und ›Profanen‹« (PhsFII, 89) erfolgen, oder man alle erfahrenen Einzeldinge, Eigenschaften und Ereignisse durch ein Prinzip der »›Metamorphose‹« (ebd., 58 f.) verbunden wähnt, dann sind alltägliche Erfahrungen einfach keine mythischen Erfahrungen. Alltägliche Erfahrungen können nämlich sein, dass sich die online bestellte, vermeintlich graue Hose daheim als grün herausstellt, dass wir lieber einen Umweg in Kauf nehmen, als uns durch die dunkle Gasse zu wagen, dass ein Witz gut ankommt, dass ein Schilfrohr als Schnorchel taugt usw. Was auch immer wir in der Alltagswelt erfahren (in »jene[r] Welt, in der wir alle [. . . ] beständig leben und sind«), trägt jedenfalls nicht zwingend Züge einer Erfahrung von »mythischen Potenzen und Kräften, von Dämonen und Göttergestalten« (ebd., XIII). Es mögen zwar alltägliche und mythische Erfahrungen vom Standpunkt exakter Wissenschaft aus beide irgendwie diffuse Erfahrungen sein. Sie fallen jedoch nicht in eins. Vor dem Hintergrund dieser mangelnden begrifflichen Differenzierung bei Cassirer selbst erklärt sich auch, warum etwa Kreis meint, Ausdruckserlebnisse aus dem »Bereich des › natürlichen Weltbeg riff s‹« (PhsFIII, 323), »also der [alltäglichen] Lebenswelt« 135, wie auch er erläutert, ausschließen zu können. Denn nur wenn Ausdruckserlebnisse mit mythischen Erfahrungen gleichgesetzt werden, gehören sie tatsächlich nicht zu den im engeren Sinne alltäglichen Erfahrungen und Wahrnehmungserlebnissen unseres Zeitalters. Und als wären der Irritationen damit nicht schon genug, changiert Cassirer in der PhsF durchweg auch noch zwischen historisch-genetischen und konstitutionslogischen Überlegungen. So heißt es ganz zu Beginn des zweiten Bandes der PhsF im historisch-genetischen Sinne: 134 Cassirer zählt zur Ausdruckswahrnehmung u. a. Fremdwahrnehmungen, sprich: die Wahrnehmung von Anderen als bewusste Subjekte (vgl. PhsFIII, 68 ff. und 104 ff.). Auch im wissenschaftlich-technischen Zeitalter gehört die Wahrnehmung von Anderen als beseelte Gegenüber zu unseren alltäglichen Erfahrungen. 135 Vgl. Kreis: Cassirer (Anm. 69), 396.

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»Lange bevor die Welt dem Bewußtsein als Ganzes empirischer ›Dinge‹ und als ein Komplex ›empirischer Eigenschaften‹ gegeben ist, ist sie ihm als ein Ganzes mythischer Kräfte und Wirkungen [lies in diesem Falle zugleich: als ein Ganzes von Ausdruckserlebnissen, CK] gegeben. Und von diesem geistigen Urgrund und Mutterboden vermag auch die philosophische Ansicht und die eigentümliche philosophische Blickrichtung den Weltbegriff nicht unmittelbar abzulösen.« (PhsFII, 1) Die Rede von einem »Mutterboden« oder einem »Urgrund« aber bleibt vom Ganzen der PhsF her betrachtet eben doppeldeutig: Im Zuge einer Entwicklungsgeschichte von Formen des Verstehens der Welt mag der Mythos zwar einen »geistigen Urgrund« bilden derart, dass er eine Praxisform bildet, die u. a. spezifische Praktiken der Artikulation von Welt entwickelt, z. B. den Kult, die dann von anderen Praxisformen, abgelöst wird, etwa Kunst oder Wissenschaft. Etwas anderes ist es aber, Wahrnehmungserlebnisse wie die Ausdrucksphänomene in einem konstitutionslogischen Sinne als grundlegend für unser verstehendes Weltverhältnis zu begreifen, was in der PhsF klarerweise auch geschieht. So bezeichnet Cassirer in diesem Sinne die »reine Ausdrucksfunktion [. . . ] als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funktion, [die] der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung vorausliegt. Ihre Sicherheit und ihre ›Wahrheit‹ ist sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem all jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben.« (PhsFIII, 91)

Als eine in diesem Sinne basale Dimension unseres Weltverhältnisses bildet das Ausdruckserleben einen »Boden« oder einen »Grund«, auf den noch die geistige Urform des Mythos verwiesen ist. Ausdruckserlebnisse können dann aber auch nach dem »Ende des Mythos« als eine irreduzible Dimension des menschlichen Weltverhältnisses begriffen werden und für eine Explikation auch des sprachlichen Verstehens oder des wissenschaftlich-mathematischen Erkennens der Welt in Anschlag gebracht werden. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, herauszuarbeiten, inwiefern die Ausdrucksdimension unseres Weltverhältnisses tatsächlich Cassirers Variante desjenigen nichtsymbolischen Weltverhältnisses bildet, das gemäß dem Artikulationsmodell, wie ich es oben skizziert habe, das »weltverbürgende« Komplement zu unseren artikulativen symbolischen Medien und Praktiken bildet: Im Erleben von Ausdruck sind wir direkt an der Welt orientiert – das ist, was Cassirer mit der »Sicherheit« der Aus-

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drucksfunktion meint; sie liefert unserem Verstehen Halt in der Welt –, und zugleich kann dieses Erleben als ein Erleben von Ausdrucksdifferenzen oder als Wahrnehmung von geordneten und gegliederten Gestalten nur im Zusammenhang mit artikulativen medialen Praktiken begriffen werden. Die Rede von einem Boden oder Grund ist daher mit Vorsicht zu genießen, denn eine einseitige Fundierung symbolischer Praktiken in einer ausdruckshaften Schicht der Wahrnehmung ist dann ausgeschlossen. Bevor ich gleich auf Details zu sprechen komme, kann schon einmal betont werden, dass allein durch die Bestimmung von Ausdruckserlebnissen als vormythische, vorlogische oder vorästhetische Weisen des Weltbezugs (so sehr diese Bestimmungen auch mit Vorsicht zu genießen sind) zumindest das Konstruktionsmodell von Cassirer programmatisch aufgegeben wird: Kann es dem Konstruktionsmodell zufolge die Erfahrung einer bestimmten Welt nur qua Vermittlung durch symbolische Medien geben, soll das Erleben von Ausdruck diesem Gebrauch nun gerade seinerseits zugrunde gelegt werden. Aber nur als selbst schon bestimmte oder differenzierte Erfahrungen können Ausdruckserlebnisse als Basis derjenigen Differenzierungen fungieren, die sich dann in der Kunst, in der Wissenschaft, im Sprechen etc. ausbilden. Nur wenn die Welt im Ausdruckserleben schon als gegliedert oder strukturiert erfahren werden kann, »[finden wir] in unserem natürlichen Ausdruckserleben ein ›Gestaltungspotential‹, an das wir in unseren eigens hervorgebrachten Gestaltungen, also in unseren kulturellen Leistungen, anschließen können« 136. Damit ist man auf die antikonstruktivistische These festgelegt, dass die Welt nicht nur dort bestimmt sein kann, wo sie von uns nach Maßgabe symbolischer Medien bestimmt wird. Vielmehr müssen nun die medialen Bestimmungen unter Rekurs auf eine Bestimmtheit der Welt expliziert werden, wie sie sich jenseits der Sätze, die wir bilden, der Bilder, die wir malen, der Berechnungen, die wir anstellen etc., z. B. ausdruckshaft zeigt. Damit ist allerdings, das soll hier noch einmal betont werden, noch nicht gesagt, dass die Konstitution des Ausdruckserlebens strikt unabhängig von unseren symbolischen Praktiken begriffen werden kann; obwohl Cassirers Rede vom Ausdruckserleben als eines der symbolischen Vermittlung vorausliegenden Weltverhältnisses das zugegebenermaßen etwas unglücklich suggeriert. Es scheint mir aber im ureigensten Interesse Cassirers zu sein, sein Zugeständnis eines Vorsymbolischen gerade nicht in dem Sinne zu verstehen, als würde damit einer Fundierung von symboli136

Oswald Schwemmer: Cassirer (Anm. 122), 50.

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schen Praktiken in einem strikt symbolunabhängigen Weltverhältnis das Wort geredet. 137 Die vorsymbolische Erfahrung der Welt, wie Cassirer sie beschreibt, ist keine Erfahrung, wie sie auch nicht-symbolgebrauchende Wesen machen könnten. Es gilt vielmehr zu zeigen, wie hier der Gedanke eines ko-konstitutiven Verhältnisses von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken greift; und sich so die produktive Rolle symbolischer Medien für das menschliche Weltverhältnis antikonstruktivistisch verteidigen lässt. Ich beginne die Relektüre der PhsF damit, dass ich frage, was Ausdrucksphänomene eigentlich sind. 2.3.2.1 Die affektive Physiognomie der Welt Im Folgenden soll über das Ausdrucksphänomen allerdings nicht um seiner selbst willen nachgedacht werden. Vorrangiges Ziel ist es, den systematischen »Ort« dieses Phänomens im Ganzen der Symbolphilosophie Cassirers zu bestimmen, von der ich insgesamt zeigen will, dass sie einem zugleich antirealistischen wie antikonstruktivistischen Impuls folgt. Wie die konzeptionellen Überlegungen des vorangegangenen Abschnittes gezeigt haben, bedarf es dazu aus systematischer Perspektive eines bestimmten Begriffs nichtsymbolischer Praktiken. Meine interpretatorische These ist, dass Cassirers Ausdrucksphänomene diesen Begriff abwerfen. In diesem Zuge ist es nicht uninteressant, dass Cassirer zwar nur an wenigen Stellen des zweiten Bandes der PhsF aber immerhin auch erwägt, praktische Tätigkeiten, wie ich sie oben diskutiert habe, in diesem Sinne als nichtsymbolische Praktiken in Stellung zu bringen. Cassirer ist mit anderen Worten in durchaus verschiedenen Hinsichten der Gedanke eines genuin nichtsymbolischen Weltverhältnisses vertraut. 138 Zu dieser Lektüre tendiert u. a. Schwemmer, wobei sich in seiner Rekonstruktion der PhsF ganz ähnliche Widersprüche zeigen, wie ich sie unten bei Cassirer selbst ausweise; vgl. ebd., 50 ff. Schwemmer baut den Gedanken einer Fundierung symbolischer Formen in einem Vorsymbolischen später aus, vgl. dazu Schwemmer: Kulturphilosophie (Anm. 1), 144: »Die kulturelle Artikulation beginnt in einem vorreflexiv entstandenen Reich von Formen, mit denen bereits eine primäre Sinnwelt erzeugt worden ist. Kultur ist [. . . ] ein [. . . ] ›Anschlussphänomen‹.« Meine cassirerinterpretatorischen Überlegungen des zweiten Kapitels wollen die PhsF auch vor dieser »realistischen« Lektüre bewahren. Sie bilden darin das Komplement zu dem Versuch, die PhsF (zugleich) vor einer »konstruktivistischen« Lektüre zu bewahren. 138 In Bezug auf solch eine praktische Erschließung der Welt spricht Cassirer im zweiten Band der PhsF von einer Welt von »Gegenständen [. . . ], die unserem unmittelbaren Verlangen und Begehren ›entgegenstehen‹« (PhsFII, 252). Diese bilden eine Ordnung, 137

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Meine Ausführungen lassen sich zudem von der Annahme leiten, dass unter dem Titel der »Ausdrucksfunktion und der Ausdruckswelt« (PhsFIII, 49) eigentlich drei Begriffe diskutiert werden, die es im Folgenden klarer auseinanderzuhalten gilt, als dies bei Cassirer der Fall ist: Zunächst (1) ein Begriff von Ausdruckserlebnissen im engeren Sinne, als Phänomene eines affektiv-emotionalen Weltbezugs, die Cassirer auch als »Grundmomente des Wahrnehmungsbewusstseins« (PhsFIII, 64) bezeichnet; dann (2) der Begriff eines weiteren Grundmomentes unseres Wahrnehmungsbewusstseins, nämlich sinnlich-leiblicher Wahrnehmungen, die Cassirer aufgrund ihres primär gestalthaften Charakters gegenüber dem Sensualismus profiliert; und zuletzt (3) der Begriff eines mythisch artikulierten und damit in spezifischer Weise transformierten Ausdruckserlebens, respektive: mythischer, z. B. sprachlicher oder ritueller Praktiken, der Artikulation des Ausdruckserlebens. Ich beginne mit dem Ausdruckserleben »als solchem« 139. Cassirer behauptet, dass »alle Wirklichkeit, die wir erfassen, in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Ding welt [ist], die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren« (PhsFIII, 82). Mit dem Ausdruck ›Dingwelt‹ wird eine Welt bezeichnet, die alle ausdrucks- oder gestalthaften Züge abgestriffen hat und die wir gewissermaßen nüchtern an der wir unser Tun orientieren, vgl. ebd.: »Das Tun steht unter bestimmten objektiven Bedingungen, von denen es nicht abweichen kann.« Ohne viel Mühe kann man hier auch Parallelen zu den Überlegungen erkennen, wie sie Heidegger in SuZ in Begriffen der »Zuhandenheit« anstellt. Cassirer macht dann auch ganz analog zu Heidegger im Sinne eines Primats des praktischen, des »alltäglichbesorgenden« Weltverhältnisses geltend: »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt.« (PhsFII, 183) Und später fügt er hinzu: »[Z]ur Welt gehört für ihn [den Menschen, CK] ursprünglich nichts anderes als das, was in irgendeiner Weise sein Wollen und sein Tun berührt. [. . . ] Aus der Mittelbarkeit des Wirkens resultiert erst die des Seins, vermöge deren es sich in einzelne aufeinander bezogene und voneinander abhängige Elemente auseinanderlegt.« (ebd., 252 f.) Interessanterweise ist es Heidegger selbst, der in seiner Rezension des zweiten Bandes der PhsF auf ebendiese Passagen in besonderer Weise abhebt, vgl. Martin Heidegger: Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken. Berlin 1925 in: ders.: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt /M. 2010, 255 ff. 139 Es wird deutlich werden, dass die Rede von einem Ausdruckserleben als solchem problematisch ist, da Ausdruckserlebnisse als wesentlich symbolisch artikulierte niemals gewissermaßen »neutral« vorliegen, um dann erst artikuliert zu werden. Was ich mit dem Ausdruckserleben als solchem meine, entspricht wohl noch am ehesten dem mythologisch depotenzierten, aber gleichwohl sprachlich, emotionstheoretisch oder wie auch immer artikulierten affektiv-emotionalen Erleben, wie es für Wesen eines nachmythischen Zeitalters typisch ist.

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distanzieren können. Cassirer hat hier paradigmatisch jene Welt vor Augen, wie sie die mathematisierbaren Naturwissenschaften, allen voran die Physik, beschreiben. Die Welt der Physik und anderer Naturwissenschaften ist eine Welt aus »physischen Körpern«, »die mit bestimmten Eigenschaften, mit physischen [und physikalischen, CK] Qualitäten ausgestattet sind« (ebd., 69) und sonst nichts. Als solche Eigenschaften gelten Cassirer, das habe ich im ersten Kapitel gezeigt, wesentlich messbare, d. h. quantifizierbare Eigenschaften. Während wir es in unserem alltäglichen Umgang mit den Dingen z. B. mit einem Stein zu tun haben, der zu schwer ist, um ihn allein aus dem Weg zu räumen, kommt es im Zuge seiner mathematisch-physikalischen Beschreibung allein darauf an, dass der Stein ein Gewicht von exakt so und so viel Kilogramm hat. Was es heißt, dass der Stein ein praktisches Hindernis darstellen kann, kommt hier zunächst ausdrücklich nicht in den Blick. Die physikalische Welt bildet darüber hinaus kein loses Sammelsurium von messbaren Einzelgegenständen, sondern ist »von streng kausalen Gesetzen beherrscht [. . . ], durch die sie [die Gegenstände, CK] miteinander verbunden sind« (ebd., 69) und durch die sie ihre physikalisch relevanten Eigenschaften streng genommen auch erst haben. 140 Die Wirkwelt, wie man auch sagen könnte, meint dagegen eine Welt, wie sie auf uns sinnlich-wahrnehmende und affektiv-emotional empfindsame Wesen Eindruck macht; die Art, wie uns die Welt affiziert und unsere Aufmerksamkeit erregt. Heidegger spricht davon, dass die Natur uns »überfällt, als Landschaft gefangen nimmt« (SuZ, § 15, 70). Cassirer hat Vergleichbares im Sinn; so spricht er davon, dass uns die Ausdruckserlebnisse »plötzlich und ohne Widerstand, überfallen« (PhsFIII, 102). Ein Problem des zweiten Bandes der PhsF liegt nun darin, dass Cassirer dieses Überwältigt-und-angegangen-Werden von der Welt zunächst in rein quantitativen Begriffen eines Mehr oder Weniger, eines Stärker und Schwächer fasst, um es dann sofort in den Horizont mythischer Artikulationen zu überführen. Im Horizont des Mythos ist dasjenige, was Vgl. hierzu die Ausführungen von Kreis zur Herausbildung eines funktionalen Verständnisses der Natur im Anschluss an Newton, Kreis: Cassirer (Anm. 69), 60 ff. Heidegger hat die Welt, die Cassirer Dingwelt nennt, bekanntermaßen in Begriffen der »Vorhandenheit« erläutert, und kritisiert, dass die »Philosophie seit Descartes« der Dingwelt einen ontologischen Vorrang zumisst. Vgl. dazu SuZ, insb. die §§ 19–21, in denen Heidegger zeigt, inwiefern Descartes Bestimmung des Raums als res extensa eine Vorhandenheitsontologie begründet, wie sie dann von den Naturwissenschaften zur Leitauffassung dessen erkoren wird, was wirklich oder real ist. Vgl. dazu auch Robert B. Brandom: Heideggers Kategorien in »Sein und Zeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 45, Berlin 1997, 531–549. Im Grunde formuliert auch Cassirer, wenn auch ungleich moderater, eine Kritik an diesem ontologischen Vorrang der Dingwelt. 140

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qua Intensität aus dem sonstigen Erleben herausragt, das »Ungemeine« (PhsFII, 88), das sich vom Vertrauten und Gewöhnlichen abhebt, sofort z. B. das Göttliche im Unterschied zum Profanen. Für eine eigenständige Phänomenologie des Ausdruckserlebens bleibt zwischen Intensitätsvokabular und mythischer Auslegung kein Raum. Ausdruckserlebnisse werden zunächst also als Erlebnisse erläutert, die uns aufgrund ihrer relativ zu anderen Erlebnissen besonderen »Intensität« (PhsFII, 88) ergreifen, auffallen, bemerkenswert erscheinen. Sie üben eine »unmittelbare Gewalt« (ebd.) auf uns aus, der wir uns anders als bei anderen Erlebnissen scheinbar nicht willkürlich entziehen können: Aus einem »dumpfen Gefühl«, aus einer »Unbestimmtheit des Gefühls lösen sich nur einzelne Eindrücke heraus, die sich durch ihre besondere Intensität, durch ihre Stärke und Eindringlichkeit von dem gemeinsamen Hintergrund abheben« (PhsFII, 236). Damit könnte aber im Grunde noch alles Mögliche gemeint sein: von besonders markanten musikalischen Figuren, die aus einer monotonen Klangfläche herausragen, über ungewohnt kräftige Tritte des ungeboren Kindes im Mutterleib bis hin zu besonderen landschaftlichen Formationen, die sich vom dem Immergleichen der Umgebung abheben, wie die Oase in der Wüste. Doch Cassirer hat Spezifischeres im Sinn. Nur punktuell aber wird er im zweiten Band der PhsF deutlicher. Es heißt dann etwa, dass Ausdruckserlebnisse »eine bestimmte Regung der Hoffnung oder Furcht, der Begierde oder des Schreckens, der Befriedigung oder Enttäuschung auslösen« (PhsFII, 235.). Damit ist Cassirer über das Intensitätsvokabular klar hinaus. Zieht man die Ausführungen aus dem dritten Band der PhsF klärend hinzu, dann wird die grobe Richtung klar, in die seine Überlegungen zielen, und die von einer eigenständigen Phänomenologie des Ausdruckserlebens ausgearbeitet werden könnte. Cassirer schreibt, dass im Ausdruckserleben Gegenstände »den Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden« (PhsF III, 74) besitzen, oder dass die im Ausdruckserleben erschlossene Welt oder bestimmte ihrer Gegenden und Orte den Eindruck »des Heimischen, des Vertrauten, des Schirmenden und Schützenden« oder des »Unzugängliche[n], des Ängstigende[n], Dumpf-Grausige[n]« (ebd., 102) haben können. Ein kurzer Seitenblick auf Heidegger, der in SuZ in Begriffen der »Befindlichkeit« und der »Stimmung« eine ganz ähnliche Analyse unseres affektiv-emotionalen Weltverhältnisses unternommen hat (vgl. SuZ, §§ 29 f.), zeigt, wie spartanisch Cassirers diesbezügliche Überlegungen ausfallen, aber auch, worauf sie zielen. Während wir uns nach Heidegger im Modus der Befindlichkeit nicht nur die Welt, sondern wesentlich

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auch andere und uns selbst erschließen, kommt Cassirer abgesehen von einigen knappen Bemerkungen zur Fremdwahrnehmung im dritten Band der PhsF (vgl. PhsFIII, 68 ff.) über eine schmale Analyse unseres affektivemotionalen Weltverhältnisses kaum je hinaus. Überlegungen zu einem affektiv-emotionalen Selbstverhältnis sind bei Cassirer nicht zu finden. Anders als Heidegger bemüht Cassirer sich auch wenig darum, den affektiv-emotionalen Weltbezug noch einmal dahingehend zu differenzieren, ob es die Welt als Ganze ist, die gewissermaßen in eine bestimmte Stimmung getaucht ist (wie etwa die Welt des Depressiven, aus der keine handlungsmotivierenden Impulse mehr aufsteigen 141), oder ob es einzelnes »Innerweltliches« (SuZ, 137) ist, wie eine bedrohliche Schlucht oder ein freundliches Gesicht, das uns aus der Welt heraus spezifisch »anblickt«. Und doch deutet sich eine solche Differenzierung vage an: Die Welt hat für Cassirer im Ausdruckserleben einen »ursprünglich ›physiognomische[n]‹ Charakter [. . . ], im ganzen wie im einzelnen, noch ein eigentümliches ›Gesicht‹, . . . « (PhsFIII, 75 f.; kursiv, CK). Nun will ich verdeutlichen, was mit der Auszeichnung einer solchen ausdruckshaften Dimension unseres Weltverhältnisses für die Relektüre der PhsF im Sinne des Artikulationsmodells gewonnen ist. Zunächst: Im Ausdruckserleben sind wir direkt mit der Welt konfrontiert. Cassirer weist verschiedentlich darauf hin, dass das Ausdruckserleben kein Erleben bloß subjektiver Zustände ist: der »Mythos [lies hier: das Ausdruckserleben, CK] bedeutet keineswegs ein ›Umschlagen‹ der objektiven Weltansicht in die subjektive, . . . « (PhsFIII, 78), und: »Wo der ›Sinn‹ der Welt noch als reiner Ausdruckssinn genommen wird, da weist jede Erscheinung in sich selbst einen bestimmten ›Charakter‹ auf, der aus ihr nicht bloß erschlossen oder gefolgert wird, sondern der ihr unmittelbar zukommt. Sie [die Welt, die Erscheinung, CK] trägt in sich die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beunruhigenden oder Furchteinflößenden. Als Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente haften diese Bestimmungen den erscheinenden Inhalten selbst an; sie werden nicht erst auf dem Umweg über die Subjekte, die wir als hinter den Erscheinungen stehend ansehen, aus ihnen herausgelesen. Es ist eine Verkennung der reinen Ausdrucksphänomene, wenn eine bestimmte psychologische Theorie sie erst aus einem sekundären Akt der Deutung entstehen läßt, wenn sie sie als Produkt der ›Einfühlung‹ erklärt.« (PhsFIII, 80) Vgl. dazu auch Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt /M./New York 2015. 141

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Die erlebte Bedrohung z. B. ist kein Erleben eines subjektiven Zustandes, der dann auf die Welt projiziert wird, sondern die Welt oder die »Wirklichkeit selbst weist den Zug des Drohenden auf, und zugleich ist das Drohende die beherrschende Qualität des Erlebens«. 142 Es gibt einen Gegenstand, vor dem wir uns ängstigen oder der uns bedroht, ohne den die Angst oder die Bedrohung, die im Ausdruckserleben erfahren werden, nicht zustande kämen. Ausdruckserlebnisse lassen sich durch eine Einstellungsänderung nicht einfach distanzieren. Wir verfügen nicht darüber, wie sich uns die Welt affektiv aufdrängt. Ausdruckserlebnisse stellen damit neutral gesprochen »eine elementare Vertrautheit mit der Welt« 143 her. 144 Diese elementare Vertrautheit kann zwar unterschiedliche affektiv-emotionale »Färbungen« annehmen. Diese Färbungen sind aber gerade keine bloß subjektive Zutat zur Wahrnehmung der Welt, sondern die Art und Weise, wie uns diese Welt selbst im affektiv-emotionalen Erleben in bestimmter Weise gegeben oder erschlossen ist. In SuZ heißt es in ganz analoger Weise: »Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-Seins aus diesem Selbst auf. [. . . ] Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf ein Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt.« (SuZ, § 29, 136 f.) Als affektiv-empfindsame Wesen richten wir uns entsprechend an der affektiven Physiognomie der Welt aus: Wer auf dem nächtlichen Heimweg gruselige, dunkle Gassen meidet, wer sich im sozialen Miteinander von bestimmten Personen und der Art und Weise, wie sie einen anschauen oder sich einem körperlich zuwenden etc., freundlich aufgenommen fühlt und daher ihre Nähe sucht, der orientiert sich in seinem Agieren direkt an der Welt und ihrer BeschaffenKreis: Cassirer (Anm. 69), 292. Vgl. auch PhsFIII, 81: »Keineswegs gesellt sich dem ›objektiven‹ Inhalt der Empfindung nachträglich und wie zufällig ein bestimmter Ausdruckscharakter als subjektives Anhängsel hinzu, sondern ebendieser Charakter ist es, der zum wesentlichen Bestandteil der Wahrnehmung gehört. Er ist an sich so wenig ›subjektiv‹, daß er es vielmehr ist, der der Wahrnehmung gleichsam die ursprüngliche Farbe der Realität gibt – die sie erst zu einer ›Wahrnehmung von Wirklichkeit‹ macht.« Cassirer kehrt damit gewissermaßen die traditionellen Vorzeichen um, und erklärt das, was die Tradition immer als sekundäre subjektrelative Eigenschaften begriffen hat, zum Ausweis der Wirklichkeit selbst. Von den Ausdruckserlebnissen muss nicht erst auf die Wirklichkeit geschlossen werden, wie es später heißt, denn gerade sie »[tragen] die unmittelbare Farbe der Wirklichkeit an sich«, ebd., 95. 143 Kreis: Cassirer (Anm. 69), 292. 144 In diesem Sinne ist auch Cassirers Formulierung zu verstehen, dass »Wahrneh[mung] das Einzige [ist], was uns Wirklichkeit erschließt, . . . «, Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, (Anm. 97), 118. 142

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heit. Schwemmer formuliert das wie folgt: die »›physiognomische‹ oder ›dramatische‹ Weltgliederung [. . . ] bilden den Ausgangspunkt für das Handeln.« 145 Damit teilen Ausdrucksphänomene ein erstes wesentliches Merkmal jener nichtsymbolischen Praktiken, wie man sie für die Konzeption des Artikulationsmodells braucht: Sie stellen eine in bestimmter Weise an der Welt orientierte Praxis dar. Die Frage, die sich im Anschluss daran dann sofort stellt, lautet: Orientieren wir uns im Ausdruckserleben auch an oder in Strukturen? – Denn dies war, wir erinnern uns, das zweite wesentliche Merkmal der nichtsymbolischen Praktiken von symbolgebrauchenden Wesen. 2.3.2.2 Artikulation des Ausdruckserlebens im Mythos Hier beginnen die Widersprüche: In der PhsF findet man sowohl Aussagen, die behaupten, Ausdrucksphänomene würden als isolierte Einzelepisoden erlebt, als auch solche, die behaupten, dass sich unser Ausdruckserleben in einem ausdruckshaft gegliederten oder strukturierten Raum abspiele. Zu diesem Widerspruch gesellt sich ein zweiter: Er betrifft die Frage, ob das Ausdruckserleben eine unabhängig von mythischen (und anderen symbolischen Praktiken) konstituierte Schicht unseres Weltbezuges darstellt, die derart das Fundament mythischer (und anderer symbolischer Praktiken) bildet oder eben nicht. Auch diesbezüglich votiert Cassirer wahlweise für die eine oder die andere Option. Ich werde zunächst Belegstellen für diese widersprüchliche Textlage anführen und dann zeigen, warum letztlich keine der im Widerspruch sich befindenden Optionen Aussicht darauf hat, den Sieg davonzutragen. Schließlich mache ich einen Vorschlag, wie sich die Widersprüche versöhnen lassen. Damit löse ich die interpretatorische These ein, dass Cassirer an einer Überwindung realistischer und konstruktivistischer Symbolphilosophien zugleich arbeitet, oder, was auf dasselbe hinausläuft, dass er an einer antikonstruktivistischen Verteidigung des Gedankens einer genuinen Produktivität symbolischer Medien arbeitet. Ich beginne mit der Frage der Strukturiertheit unseres Ausdruckserlebens. Cassirer behauptet zum einen, dass Ausdrucksphänomene Phänomene sind, denen ihr Gehalt »unmittelbar zukommt« (PhsFIII, 85). Ausdrucksphänomene hätten »den Charakter echter Präsenz« (ebd., 75), das »was im Gegenstand rein ›ausdrucksmäßig‹ ist, [. . . ] ruht rein in ihm selbst [. . . ], alle Macht, die ein Inhalt [lies: ein Ausdruckserlebnis, CK] 145

Schwemmer: Cassirer (Anm. 122), 73.

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über das mythische Bewusstsein ausübt, ist [. . . ] im Modus des Erscheinens als solchem gegründet und in ihm beschlossen« (ebd., 76). Cassirer grenzt das Erleben von Ausdruck als Erleben einer »physiognomischen Individualität« ausdrücklich von einem Gegenstandsbezug ab, in dessen Zuge der Gegenstand, »was er ist, [. . . ] nur als einzelne Stelle in einem System [. . . ], in einem [. . . ] Gefüge [ist], [. . . ] bloßes Moment in einer durchgehenden und universellen Gesetzesordnung« (PhsFIII, 77; kursiv CK). Mit Blick auf die subjektive Seite des Ausdruckserlebens finden sich ebenfalls Belege dafür, dass Cassirer Ausdruckserlebnisse als »einmalige Erlebnisse« und »unwiederholbare Phänomene« 146 begreift, die »einen einmaligen singulären [Gehalt] haben«, der sich in »singulärer Weise realisiert« 147, wie Kreis erläutert. So heißt es, dass derjenige, der Ausdruckserlebnisse habe, »zwischen ihnen [lies: verschiedenen solcher Erlebnisse, CK] hin und her gerissen wird. Jeder von ihnen nimmt mit seinem Dasein das Ganze des menschlichen Bewußtseins in Anspruch« (PhsFIII¸101). Im Ausdruckserleben vermögen wir demnach den Horizont des je aktualen Erlebens nicht auf andere Erlebnisse hin zu überschreiten. Ein Ausdruckserlebnis ist nicht von einem anderen, z. B. von einem vorausgegangenen Erlebnis geprägt. Wir sind vollkommen eingenommen von der aktualen Präsenz einer einzelnen Erlebnisepisode. Wir erleben ein Ausdrucksphänomen nicht z. B. in Differenz zu anderen solchen Phänomenen als dieses oder jenes, sondern vielmehr als ein einzelnes, als totales Phänomen. Jedes Ausdrucksphänomen steht für sich: Das »reine Ausdruckserlebnis [. . . ] lebt im Augenblick und geht in ihm auf.« (ebd. 128) Daraus folgt, dass uns die Welt im Ausdruckserleben nicht als ausdruckshaft strukturierter Raum eröffnet sein kann. Nun behauptet Cassirer an anderer Stelle aber genau das. In einem zunächst ganz grundsätzlichen Sinne insistiert er darauf, dass wir »[s]oweit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen, an« (ebd., 105). 148 Wenn das gilt und Ausdrucksphänomene bewusste Erlebnisse einer so und so affektiv gestimmten Welt Kreis: Cassirer (Anm. 69), 395 f. S. o. 148 Vgl. dazu auch, PhsFII, 36: »In Wahrheit ist jedoch schon das, was wir die Welt unserer Wahrnehmung nennen, kein Einfaches, . . . «, und Cassirer: Zur Logik des Symbolbegriffs (1938) in: ders.: Schriften, (Anm. 114), 123: »Ich betone auf Schärfste, daß die bloße, die gewissermaßen nackte Wahrnehmung, die frei von jeder Zeichenfunktion wäre [lies: frei von jeder Strukturierung, CK], kein Phänomen ist, das uns unmittelbar, in unserer natürlichen Einstellung gegeben ist.« 146 147

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sind, dann muss auch für unser Ausdruckserleben gelten, dass z. B. das Gruselige gruselig nur in Differenz zum Heiteren ist etc. Und tatsächlich spricht Cassirer dann auch davon, dass in der ausdruckshaft erlebten Welt des Mythos 149 »[a]lles mit allem durch unsichtbare Fäden verknüpft [ist]« (PhsFIII, 80). Schwemmer betont in diesem Sinne, dass sich in der »Urschicht des Ausdruckserlebnisses bereits Gliederungen [ergeben]. [. . . ] In der Ausdruckswelt haben wir es mit praktischen Gliederungen zu tun.« 150 Und noch einmal Cassirer: »[D]ie ›primitive‹ Wahrnehmung [ist] keineswegs ungegliedert oder verschwommen, . . . « (PhsFIII, 68). Kommen wir zunächst zu dem zweiten Widerspruch: Ich habe bereits oben das Zitat angeführt, in dem davon die Rede ist, dass das Ausdruckserleben den vormythischen Boden bilde, auf dem der Mythos aufbaue (s. o., S. 237). Im Sinne einer solchen Fundierungslogik schreibt Cassirer auch an anderen Stellen, dass »die Erlebniswelt des Mythos [. . . ] in reinen Ausdruckserlebnissen fundiert ist« (PhsFIII, 75). In diesen Kontext gehören auch seine Bemerkungen darüber, dass die »›Ausdrucksfunktion‹ ein echtes Urphänomen« (ebd., 98) sei 151 und dass bereits Kleinkinder 152 und Tiere zu Ausdruckserleben fähig seien: »Das seelische Drama, aus dem der Mythos geboren wird, nimmt nicht erst im menschlichen sondern schon im tierischen Bewußtsein seinen Ausgang.« (PhsFIII, 85) Der Rekurs auf das affektive Erleben symbolloser Wesen verdeutlicht, dass Cassirer das Ausdruckserleben als einen vorsymbolisch konstituierten Weltbezug begreift. Damit räumt er aber zugleich ein, was seinen Ausführungen selten mit wünschenswerter Klarheit abzulesen ist: dass nämlich zwischen Ausdruckserleben und mythischen Praktiken begrifflich unterschieden werden muss. Es muss möglich sein, unabhängig von Begriffen mythischer Unterscheidungen zu explizieren, wie sich im Ausdruckserleben die Welt in unterschiedlich affektiv-emotional besetzte Regionen und Vgl. hier erneut Anm. 121. Schwemmer: Cassirer (Anm. 122), 72 f. 151 Vgl. auch PhsFIII, 104. Urphänomene sind dann nicht weiter explizierbare Grundtatbestände unseres Selbst- und Weltverhältnisses. Sie haben denselben unvordenklichen Status, mit dem auch pragmatistische Philosophien ihren Begriff nichtsymbolischer Praktiken ausstatten. 152 Cassirer bezieht sich zustimmend auf die Untersuchungen Kurt Koffkas, eines Mitbegründers der Gestaltpsychologie, vgl. PhsFIII, 71: »›Und schon in der Mitte des ersten Lebensjahres läßt sich ein Einfluß des Gesichtsausdrucks der Eltern auf das Kind feststellen. [. . . ] [D]em Kind [ist] das Gesicht der Mutter schon im zweiten Monat bekannt, und doch reagiert es in der Mitte des ersten Jahres schon anders auf ein freundliches als auf ein ›böses‹ Gesicht, und zwar so anders, dass wir sagen müssen, phänomenal war ihm wirklich das freundliche oder böse Gesicht gegeben und nicht irgendwelche Verteilung von Hell und Dunkel.‹« 149 150

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Gegenstände gliedert und auseinanderlegt, denn dann erst kann gezeigt werden, wie diese affektive Strukturierung die Strukturierung mythischer Praktiken bedingt, wie er behauptet: Aus einer »Unbestimmtheit des Gefühls [. . . ] lösen sich [im Ausdruckserleben, CK] einzelne Eindrücke heraus. Und ihnen entsprechen die ersten mythischen ›Gebilde‹« (PhsFII, 236). 153 Doch auch dazu finden sich wieder diametral entgegengesetzte Aussagen. So behauptet Cassirer nämlich auch, dass »erst der Mythos beginnt, in das unterschiedslose ›indifferente‹ Sein bestimmte Differenzen einzuführen [. . . ]. [Der Mythos, CK] erweist sich als form- und sinngebend, indem er das Einerlei und die Gleichartigkeit der Bewußtseinsinhalte unterbricht – indem er in das Einerlei bestimmte Unterschiede der ›Wertigkeit‹ hineinlegt« (PhsFII, 89; kursiv, CK). Hier bewegt sich Cassirer wieder ganz im bekannten Register des Konstruktionsmodells, demzufolge die Struktur der erfahrenen Welt eben wesentlich auf strukturierende, symbolische Medien und Praktiken zurückzuführen ist. Ja, was denn nun, möchte man fragen: Erleben wir die Welt als in bestimmter Weise ausdruckshaft, bevor wir ihr mit dem Mythos zu Leibe rücken, oder müssen wir erst Götternamen erfinden und Regenzauber vollführen etc., damit wir überhaupt etwas Bestimmtes erfahren und nicht nur ein indifferentes Einerlei? Und: Ist das Weltverhältnis des »animal symbolicum« nun wesentlich struktural verfasst und sein Ausdruckserleben von Differenzen geprägt, oder ist sein Ausdruckserleben an eine »Erlebnisgegenwart« gebunden, die überhaupt keine bestimmten Zusammenhänge zwischen diesem und jenem Erleben kennt, sodass es letztlich auch kein individuiertes, weil nicht unterscheidbares Dieses oder Jenes des Erlebens gibt? Ich werde gleich einen Vorschlag zur Überwindung dieser Widersprüche machen. Zuvor soll aber kurz angedeutet werden, wie die beiden Widerspruchspaare miteinander zusammenhängen: Folgt man zuerst dem Vorschlag, dass das Ausdruckserleben z. B. die Bildung bestimmter Götternamen fundiert, muss man sich im Hinblick auf die Frage, ob unser Ausdruckserleben an Strukturen orientiert ist oder nicht, klarerweise für die erste Option entscheiden. Der Grund ist der folgende: Von einem isoIn einem vergleichbaren Sinne spricht Cassirer auch mit Blick auf unsere nicht ausdruckshafte vorsymbolische Wahrnehmung davon, dass z. B. die »Entfaltung des mythischen Raumgefühls [samt entsprechender Kosmologien, CK] [. . . ] überall von dem Gegensatz von Tag und Nacht, von L icht und Dunkel aus[geht]« (PhsFII, 113), oder davon, dass mythologische »Schöpfungslegende[n] [. . . ] auf das eine Urphänomen – auf das Hervorbrechen des Lichts aus der Nacht zurückgehen« (ebd., 113 f.; kursiv, CK). 153

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liert erlebten Ausdrucksphänomen führt kein bestimmter Weg zu einem anderen solchen isolierten Erlebnis. Als isolierte Erlebnisse zeichnet sie gerade aus, dass sie in keinen bestimmen Beziehungen oder keinem spezifischen Zusammenhang zu anderen Erlebnissen stehen. Nur ein bestimmter Zusammenhang zwischen verschiedenen Ausdruckserlebnissen kann aber das Fundament abgeben für eine spezifische Gliederung etwa der sprachlichen Strukturen, aus denen heraus z. B. verschiedene Götternamen gemäß dem holistischen Credo Gehalt gewinnen sollen. Wenn dem reinen Ausdruckserleben »jede Möglichkeit [fehlt], den Augenblick über sich selbst zu erweitern, über ihn voraus- und hinter ihn zurückzuschauen, ihn als einen besonderen auf das Ganze der Wirklichkeitselemente zu beziehen« (PhsFII, 43), dann wird einfach nicht verständlich, was es heißen soll, dass der Mythos, der eben ein Ganzes solcher Bezüge darstellt, im Ausdruckserleben sein Fundament hat. Wenn »alles Einzelne des Bewußtseins [auch des mythischen, CK] nur dadurch ›besteht‹, daß es das Ganze potentiell in sich schließt und gleichsam im steten Übergang zum Ganzen begriffen ist« (PhsFIII, 43), das Ausdruckserleben aber gerade als ungegliedertes »Mannigfaltiges« gedacht wird, das keine solchen Übergänge kennt, dann können die mythischen Strukturen (z. B. bestimmte Unterscheidungen zwischen heiligen und profanen Gegenständen) nicht im Ausdruckserleben fundiert sein. Dieses unterscheidet einfach nicht. Kurzum: Nur strukturierte nichtsymbolische Praktiken können als Fundament von symbolischen Strukturierungen fungieren. Wenn aber das Ausdruckserleben als strukturiert begriffen werden muss, damit es als Fundament unserer symbolischen Strukturen taugt, dann gerät die Idee unter Druck, dass wir unser Ausdruckserleben mit Kleinkindern und Tieren teilen. Denn gerade in Bezug auf solche Wesen, die keinen oder noch keinen symbolischen Stand in der Welt erreicht haben, betont Cassirer die fehlende Strukturiertheit der Wahrnehmungswelt. Für die tierische Wahrnehmungswelt ergibt sich gerade nicht die für das »animal symbolicum« typische Gliederung: Für das Tier, heißt es bei Cassirer, ist nur »da [. . . ] was einen einzelnen Trieb, wie etwa den Nahrungs- oder Sexualtrieb erregt, was mit ihm, sei es mittelbar oder unmittelbar, im Zusammenhang steht.« Daher »erfüllt dieses Sein immer nur den jeweiligen Moment, in dem der Trieb aktuell erregt, in dem er unmittelbar gereizt wird. Sobald diese Erregung nachläßt, [. . . ] sinkt auch das Sein, sinkt auch die Vorstellungswelt wieder in sich zusammen. Wenn ein neuer Reiz das tierische Bewußtsein trifft, vermag diese Welt wieder zu erstehen: aber sie hält sich stets innerhalb der engen Grenzen der jeweiligen Regung und

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Erregung. Die einzelnen Ansätze füllen immer nur den Moment selbst, ohne sich untereinander zu einer Reihe zusammenzuschließen: . . . « 154

Will man dagegen den Gedanken retten, dass auch Tiere und nichtsymbolgebrauchende Wesen desselben Ausdruckserlebens fähig sind, wie wir, kann man wie Cassirer es ja scheinbar auch erwägt, den Fundierungsgedanken aufgeben und dafür argumentieren, dass sich die fragliche Gliederung der Wahrnehmungswelt erst qua mythischer und anderer symbolischer Praktiken ergibt. Die für unser, nicht aber für das tierische Leben spezifische Strukturiertheit des Ausdruckserlebens und der sinnlichen Wahrnehmung wäre dann als das Resultat einer Strukturierung zu begreifen, zu der nur wir qua Verfügen über symbolische Medien fähig sind. Unglücklicherweise kauft man sich damit erneut all die Probleme des Konstruktionsmodells ein, die wir im ersten Kapitel diskutiert haben. Das bisher Gesagte lässt sich knapp wie folgt zusammenfassen: Cassirer scheint sich zum einen nicht entscheiden zu können, ob unserer Ausdruckserleben in einer affektiv strukturierten Welt erfolgt, und zum anderen, ob das Ausdruckserleben eine vorsymbolisch konstituierte Schicht unseres Weltbezugs darstellt, die dergestalt unsere mythischen und andere symbolische Praktiken fundiert oder nicht. Wenn er dem Fundierungsgedanken folgt, ist er auf den Begriff eines von Strukturen geprägten Ausdruckserlebens verpflichtet; will er an einem Begriff eines Erlebens isolierter Einzelepisoden festhalten, muss er den Fundierungsgedanken aufgeben und sich erneut für das Konstruktionsmodell entscheiden. In dem Maße, wie das Fundierungsmodell mit einem unabhängig von symbolischen Medien und Praktiken als einem in oder an Strukturen orientierten Weltbezug rechnet und das Konstruktionsmodell eben das bestreitet, und Cassirer zwischen beiden Konzeptionen hin und her zu schwanken scheint, schwankt er gewissermaßen zwischen einem eher realistischen und einem eher konstruktivistischen Ansatz in der Symbolphilosophie. Ich meine nun, dass dieses Schwanken keinesfalls eine begriffliche Nachlässigkeit anzeigt, sondern Symptom des Versuches ist, beide Ansätze zugleich zu überwinden. Wie diese Überwindung aussehen könnte und welche Modifikationen der bisherigen Bestimmungen sie verlangt, will ich nun knapp skizzieren: Im Ausdruckserleben ist uns die Welt tatsächlich als affektiv strukturiert erschlossen und auch unser subjektives Erleben von Ausdrucksphänomenen ist von Strukturen und Zusammenhängen geprägt. Wir müssen Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in: ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 10. Aufl., Darmstadt 1994, 107. 154

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dazu weder Götternamen ausrufen oder sonstige symbolische Praktiken vollziehen. Das Ausdruckserleben ist eine strukturierte, nichtsymbolische Weise des Weltbezugs. Allerdings zeigt sich die Welt als affektiv strukturiert nur für Wesen, die in mythische und andere symbolische Praktiken eingeführt sind. Dafür spricht, dass Cassirer Ausdruckserleben und sinnliche Wahrnehmung immer dann als Erleben zusammenhangloser einzelner Episoden erläutert, wenn er von Kleinkindern und Tieren spricht, Wesen also, die gerade keinen oder noch keinen symbolischen Stand in der Welt erreicht haben. Sobald diese aber sprachliche Kompetenzen erwerben, an mythischen und religiösen Ritualen zu partizipieren lernen, ihr musikalisches Gehör schulen etc., beginnt sich auch für sie das affektive Erleben ihrer selbst und der Welt zu strukturieren: »Indem alles Sein und Geschehen auf den Grundgegensatz des ›Heiligen‹ und ›Profanen‹ projiziert wird, gewinnt es in dieser Projektion selbst einen neuen Gehalt – einen Gehalt, den es nicht von Anfang an einfach ›hat‹, sondern der ihm in dieser Form der Betrachtung, gewissermaßen in dieser mythischen ›Beleuchtung‹, erst erwächst.« (PhsFII, 89 f.) Praxisformneutral formuliert: Im Lichte symbolischer Artikulationen, die beispielsweise die dynamischen Verlaufsgestalten von Emotionen musikalisch vorführen, die subtile sprachliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Gemütszuständen zu machen erlauben; »in dem Augenblick, in dem das Symbolbewußtsein als solches erwacht«, wie man in Anlehnung an Cassirer sagen könnte, »taucht auch der neue Horizont« einer affektiv gegliederten Welt »im Bewußtsein des Kindes auf« (PhsFIII, 135). Es beginnt in dem Augenblick, in dem es verstehend mit Zeichen umzugehen weiß, sich auch affektiv, wahrnehmend oder handelnd in einer neuen, d. h. in einer von Strukturen als Strukturen geprägten Welt zu bewegen. Umgekehrt gewinnen auch die sprachlichen Unterscheidungen zwischen z. B. den Ausdrücken ›unheimlich‹ und ›vertraut‹ ihre Bestimmtheit, und musikalische Melodieverläufe etc. ihre Verständlichkeit nur in Bezug auf ein solches affektives Erleben der Welt. In diesem Sinne spricht Cassirer davon, dass sie in diesem Erleben ein vorsymbolisches Fundament besitzen. Genau genommen kann man so jetzt aber nicht mehr sprechen. Denn dieses Vorsymbolische ist kein echtes Fundament und auch nicht im strikten Sinne vorsymbolisch. Es ist ja selbst erst durch symbolische Praktiken artikuliert: Der »Mythos [verdichtet] [die Akt[e] des Affekts] zu bleibenden Gebilden« (PhsFII, 85), wie Cassirer treffend formuliert. Solche Verdichtungen müssen aber als Artikulationen begriffen werden. Und ebenso wenig, wie der Ausdruck ein Fundament bildet, führt der Mythos von sich aus erste »Wertunterschiede« in ein »indifferentes Einerlei« ein, denn symbolische Differenzen sind eben wiederum

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nur in Bezug auf die Differenzen im nichtsymbolischen Erleben der Welt bestimmt. Die Wertunterschiede, die in mythischen Praktiken gemacht werden, sind entlang der Unterscheide entwickelt, die z. B. im affektivemotionalen Umgang mit der Welt zum Tragen kommen. In diesem Sinne verstehe ich die nachfolgende Formulierung Cassirers als Ansatz zu dem Versuch, das Artikulationsmodell am Beispiel des Mythos auf einen Begriff zu bringen; er schreibt: »Die mythischen Gebilde tragen hier unmittelbar die Farbe der vollen, der unmittelbaren Wahrnehmung – und andererseits ist diese selbst wie eingetaucht in das Licht der mythischen Gestaltung« (PhsFIII, 68). Lies: So wenig, wie die mythischen Gebilde losgelöst von ihrem Bezug zu unserer Wahrnehmung der Welt bestimmt sind, ist diese Wahrnehmung unabhängig von diesen mythischen Gebilden konstituiert. 2.3.3 Sprache und Wahrnehmung Mein Vorschlag, die Widersprüche in Bezug auf die Verhältnisbestimmung von mythischen Praktiken und Ausdruckserlebnissen einerseits und in Bezug auf die Frage der Strukturiertheit des Ausdruckserlebens andererseits in Richtung auf das Artikulationsmodell hin zu deuten, hat sicher für sich, dass er diese Widersprüche produktiv zu wenden vermag. Cassirers Position wird dadurch stärker gemacht, als sie dem Buchstaben nach ist. Allein, diese Lektüre bleibt in vielen Hinsichten spekulativ. Der Vorwurf, hier werde die PhsF vor einen fremden Karren gespannt, liegt stets in Reichweite. Der positive Verdacht, dass ein Begriff symbolischer Medien und Praktiken als Medien und Praktiken der Artikulation tatsächlich der theoretische Fluchtpunkt der PhsF ist, lässt sich allerdings erhärten, wenn man die Bestimmungen des Verhältnisses von Sprache und sinnlicher Wahrnehmung genauer betrachtet, wie sie in jenem Abschnitt des dritten Bandes der PhsF erfolgen, der unmittelbar auf die Diskussion des Ausdrucksphänomens folgt. 2.3.3.1 Gestaltwahrnehmung Der im Folgenden zentrale Begriff der sinnlichen Wahrnehmung wird von Cassirer bereits im Abschnitt zu den Ausdruckserlebnissen eingeführt. Allerdings ist nicht ganz klar, welchen Zweck er damit an dieser Stelle verfolgt: Zunächst scheint es, als wolle Cassirer das Ausdrucksphänomen auch gegenüber Phänomenen nicht ausdruckshafter sinnlicher Wahrneh-

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mung als grundlegend auszeichnen. Dieser Versuch läge ganz auf der Linie der Auszeichnung des Ausdruckserlebens als Urphänomen. In diesem Sinne schreibt er: »Die konkrete Wahrnehmung löst sich von diesen [Ausdrucks]charakteren auch dort nicht völlig los, wo sie immer entschiedener und bewußter den Weg der reinen Objektivierung beschreitet. Sie [die konkrete, lies: nicht-affektive sinnliche Wahrnehmung, CK] [. . . ] ist je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt.« (PhsFIII, 74) Zum anderen werden diese Überlegungen auf etwas undurchsichtige Weise von dem Bemühen flankiert, eine sensualistische Auffassung sinnlicher Wahrnehmung zurückzuweisen. Es soll genauer gesagt deutlich werden, dass unsere sinnliche Wahrnehmung gerade keine Wahrnehmung von einfachen »sinnliche[n] Qualitäten – wie hell oder dunkel, kalt oder warm« (PhsFIII, 74) ist. Der Grundbegriff einer Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, so Cassirers Plädoyer, kann nicht der Begriff einfacher und »einzelne[r] Sinnesdaten« (ebd., 163) sein, sondern nur der Begriff einer in-sich-differenzierten »Gesamterscheinung« (ebd. 74). Die frühe Thematisierung unserer sinnlichen Wahrnehmung im Kontext der Auseinandersetzung mit der Ausdruckswahrnehmung hat dann (sofern zutrifft, was ich oben über die Strukturiertheit des Ausdruckserlebens gesagt habe) eher die Funktion, die Ausdruckswahrnehmung als paradigmatischen Fall einer Gestaltwahrnehmung zu profilieren, wie man die Rede von der Gesamterscheinung auch übersetzen kann. Der Akzent läge dann eher auf dem geteilten gestalthaften Charakter der Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung und jener des Ausdruckserlebens. Dieser Zusammenhang impliziert jedenfalls nicht, dass die Ausdruckswahrnehmung irgendwie grundlegender wäre als unsere nicht-affektive sinnliche Wahrnehmung. Cassirers Ausführungen in dem Das Problem der Repräsentation und der Aufbau der anschaulichen Welt benannten Abschnitt, der im dritten Band der PhsF auf den Abschnitt zu den Ausdrucksphänomenen folgt 155, zeigt dann auch, dass sich ein Begriff gestalthafter nicht-affektiver sinnlicher Wahrnehmung ohne Rekurs auf das Ausdruckserleben explizieren lässt. Da zudem eine Auszeichnung des Ausdrucksphänomens als Urphänomen nach meiner Lektüre der PhsF ohnehin nicht sinnvoll ist und es meines Erachtens auch phänomenal wenig überzeugend ist, dass jede Farb-, Geruchs-, oder Tonwahrnehmungen zugleich affektiv »gestimmt« sein soll, begreife ich Cassirers Erwähnung der sinnlichen Wahrnehmung im Kontext seiner Diskussion der Ausdrucksphänomene tatsächlich als Teil seiner antisensualistischen Argumentation. 155

Vgl. PhsFIII, 119–322.

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Cassirer wendet sich in diesem Sinne mit immer neuen Formulierungen gegen die Idee, unsere sinnliche Wahrnehmung »entsteh[e] aus dem Zusammenfluß und aus der assoziativen Verbindung der Impressionen« oder aus einer nachträglichen Verbindung von einzelnen »› Elementen‹ der Sinnesempfindung« (PhsFIII, 73 f.). Vielmehr konfrontiere uns die Wahrnehmung mit komplexen Gestalten, die eine intrinsische Verbundenheit verschiedener Wahrnehmungsqualitäten, etwa von Farb-, Formund Materialeindrücken aufweisen. Für diese Gestalten habe sich der Sensualismus, weil er sich »prinzipiell auf das ›Gegebene‹ der Sinnesdaten [lies: isolierte Gelb-Wahrnehmung, Kalt-Wahrnehmung, CK] ein[engt], [. . . ] wahrnehmungsblind gemacht« (PhsFIII, 220). Die Sensualisten begehen eine Art theoretischen oder intellektualistischen Fehlschluss 156, wenn sie Sinnesdaten als das Gegebene der sinnlichen Wahrnehmung betrachten. Denn tatsächlich nehmen wir niemals einzelne Sinnesdaten wahr. Der Begriff des Sinnesdatums – einer isolierten Farbwahrnehmung etwa, ohne Ausdehnung und Schattierungen, nicht kontrastiert mit anderen Farben, nicht als Oberfläche eines Gegenstandes etc. – ist vielmehr eine bloß theoretische Implikation einer Wahrnehmungstheorie, die die wahrgenommenen Gestalten als »Aggregat[e]« aus solchen einzelnen Sinnesdaten gewissermaßen erklären will. Eine »wahrhafte Phänomenologie der Wahrnehmung« (ebd.) erkennt dagegen den gestalthaften und komplexen Charakter der sinnlichen Wahrnehmung und macht den Begriff solcher Gesamterscheinungen zu ihrem Grundbegriff. Genau besehen erlaubt der Rekurs auf die Gestaltpsychologie und die von ihr diskutierten Gestaltphänomene zwei Anschlüsse, von denen Cassirer allerdings nur einer interessiert. Wie seine Bemerkungen zur Farbwahrnehmung deutlich zeigen, ist Cassirer weniger daran interessiert, mit Blick auf die Gestaltwahrnehmung Fragen eines synästhetischen Charakters unserer Wahrnehmung und infolgedessen Fragen einer Kritik an einer vorausgesetzten Separierung unserer verschiedenen Sinne zu verfolgen. 157 Vgl. ebd., 73. Es ist Merleau-Ponty, der diesen Aspekt ebenfalls im Anschluss an die Ergebnisse der Gestaltpsychologie in aller Breite diskutiert. Den intrinsischen Zusammenhang von Wahrnehmungsqualitäten, die sich in Begriffen einer Addition von nach Sinnesorganen getrennten Wahrnehmungen nicht fassen lässt, bringt er in folgender Weise anschaulich zum Ausdruck, vgl. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Anm. 103), 268 f.: »Die Sinne kommunizieren untereinander, indem sie sich der Struktur eines Dinges eröffnen. Man sieht die Sprödigkeit und Zerbrechlichkeit des Glases, und bricht es mit einem kristallenen Klang, so ist der Träger auch dieses Tones das sichtbare Glas. Man sieht die Elastizität des Stahls, die Bildsamkeit des glühenden Eisens, die Härte der Klinge eines Hobels, die Weichheit der Späne. Die Form der Gegenstände ist nicht ihr geometrischer Umriß: sie hat einen wohlbestimmten Bezug zu ihrem je eigenen Wesen 156 157

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Cassirer zweifelt vielmehr daran, dass eine isolierte Einzelwahrnehmung überhaupt eine bestimmte Wahrnehmung sein kann 158; und profiliert dagegen den strukturalen Charakter auch der sinnlichen Wahrnehmung: »Betrachten wir [. . . ] noch einmal die Welt der Farben und die verschiedenen ›Erscheinungsweisen‹, die die Farbe uns darbietet, so finden wir in ihr durchgängig die Bestätigung unseres allgemeinen Ergebnisses. Man mag die ›Reduktion‹ der Farben noch so weit treiben – man mag die Farbe ihres darstellenden Charakters, ihres repräsentativen Werts für Räumliches und Gegenständliches mehr und mehr entkleiden – so gelingt es doch niemals, sie bis zu einem Punkt zurückzuverfolgen, wo sie zu einem bloß ›Empfundenen‹, ohne alle anschauliche Gliederung würde.« (PhsFIII, 151; kursiv, CK) »Die Farbe [. . . ] erscheint als ein Glied innerhalb einer Mannig faltigkeit abgestufter ›Lichterlebnisse‹. Auch diese Lichterlebnisse weisen noch insofern eine deutliche Formung auf, als sie sich scharf gegeneinander abheben und sich in dieser Abhebung ordnen. [. . . ] [S]ie [besitzen] verschiedene Grade der ›Kohärenz‹, so daß eine Farbe von der anderen durch einen größeren oder geringeren ›Abstand‹ getrennt scheint [. . . ]. Das hier und jetzt gegebene, das momentane und individuelle Rot, [. . . ] ist einer Gesamtreihe von Rotnuancen [. . . ] eingebettet, . . . « (ebd.; kursiv, CK)

Cassirer hebt damit deutlich hervor, dass sinnliche Wahrnehmung im Grunde stets Verhältniswahrnehmung ist oder, wie ich ja auch sagen kann, von Strukturen geprägte Wahrnehmung. Weder folgen einzelne Wahrnehmungen zeitlich gesehen diskret aufeinander, noch stellt unser Wahrnehmungsfeld (von einem solchen Feld zu reden, geht genau genommen und spricht in eins mit dem Sehen unsere sämtlichen Sinne an. Die Form einer Falte im Leinen- oder Baumwolltuch macht uns die Geschmeidigkeit oder Sprödigkeit der Faser, die Kühle oder Wärme des Stoffes sichtbar. In der Schwingung des Zweiges, von dem ein Vogel fortfliegt, sehen wir seine Biegsamkeit und Elastizität, und unmittelbar unterscheidet sich da ein Birkenzweig von dem eines Apfelbaums. Wir sehen die ›Schwere des eisernen Gewichts, das sich in den Sand einbohrt‹, die Flüssigkeit des Wassers, die Zähflüssigkeit des Sirups. In gleicher Weise höre ich im Geräusch eines Wagens die Härte und Holprigkeit des Pflasters, und nicht umsonst spricht man von ›weichen‹, ›dumpfen‹ und ›trockenen‹ Tönen.« 158 Es ist erneut Merleau-Ponty, der gleich zu Beginn der Phänomenologie der Wahrnehmung deutlicher als Cassirer zeigt, dass »[d]ie reine Impression [. . . ] unwahrnehmbar [ist], und folglich undenkbar als Moment der Wahrnehmung«, vgl. ebd., 22. Die Differenz des Wahrgenommen vom Wahrnehmenden (wie auch die Differenz von Figur und Untergrund, wie die Gestaltpsychologie lehrt) sei eine notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt etwas wahrgenommen werden kann. Jede bestimmte Wahrnehmung von etwas setzt damit schon eine Relation zu etwas anderem Wahrnehmbaren voraus, und kann also nicht einfache Impression in strictu sensu sein.

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schon über die Auffassung des Sensualismus hinaus) eine Ansammlung von digitalen Einheiten dar, die Stelle für Stelle registriert werden. Vielmehr steht jede einzelne Wahrnehmung unter dem Einfluss von Kontrasten, von Resonanzen etc. zu anderen Wahrnehmungen etc. Kurz: Auch der Gehalt von sinnlichen Wahrnehmungen (das, was eine Rotwahrnehmung zu einer Rotwahrnehmung macht, sodass wir rote von braunen Pilzen sehend unterscheiden können) ist holistisch konstituiert, nur in Relation zu anderen Wahrnehmungen bestimmt. Damit wiederholt sich auch in Bezug auf unsere sinnliche Wahrnehmung eine theoretische Figur, wie ich sie im ersten Kapitel bei Cassirer insbesondere mit Blick auf begriffliche und sprachliche Strukturen diskutiert habe und wie sie sich ja auch für die Ausdruckswahrnehmung veranschlagen ließ. Es ist nun Cassirer selbst, der die Parallele zwischen einem solchen Holismus des Sprachlichen 159 oder der Bedeutung und der Bestimmtheit (oder dem »Sinn«, wie Merleau-Ponty sagt) der Wahrnehmung dann auch ausdrücklich zieht: »Wie ein bestimmtes Wort der Sprache immer nur im Ganzen des Satzes und aus dem Ganzen des Sinnes, der im Satz seine sprachliche Ausprägung findet, interpretierbar ist: so kann jetzt auch die einzelne Farberscheinung je nach dem Zusammenhang, in dem wir sie nehmen, sehr verschiedenes ›besagen‹. Und diese verschiedene Bedeutungsrelevanz und Bedeutungs präg nanz hält sich durchaus im Kreise der anschaulichen Erlebnisse selbst.« (PhsFIII, 152) 160

Entscheidend für meine Lektüre der PhsF ist nun, dass es nicht bei dieser Analogisierung bleibt, sondern dass Cassirer einen sachlichen oder substantiellen Zusammenhang zwischen Strukturen der Sprache und der Wahrnehmung behauptet. Unsere sprachlichen Praktiken leistet demnach einen konstitutiven Beitrag dazu, dass unsere sinnliche Wahrnehmung in dieser besonderen Weise verfasst ist. (Dass nach Cassirer wiederum auch die Wahrnehmung ihren Beitrag zur Verfasstheit sprachlicher Der sprachliche Zusammenhang, aus dem heraus ein einzelner Ausdruck Bedeutung gewinnt, ist in dem folgenden Zitat allerdings nur der Satz und nicht ein Zusammenhang von Sätzen und anderen sprachlichen Äußerungsformen. Das ändert meines Erachtens aber nichts an der Parallele, die Cassirer im Sinn hat. 160 Indem Cassirer betont, dass sich die »Bedeutungsprägnanz im Kreise der anschaulichen Erlebnisse selbst hält«, macht er geltend, wofür ich oben nur knapp argumentiert habe: dass nämlich die Transformation unserer sinnlichen Wahrnehmung durch symbolische Artikulationen eine phänomenale Dimension hat derart, dass unsere Wahrnehmung für uns nicht nur immer in Reichweite begrifflicher oder anderer symbolischer Artikulationen liegt, sondern uns auch mit andersartigen Erscheinungen konfrontiert, als die Wahrnehmung nichtsymbolgebrauchender Wesen. Vgl. dazu oben, Abschnitt 2.2.2. 159

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Strukturen leistet, wird später auch noch deutlich werden.) Kurzum: Der Holismus der sprachlichen Struktur und der Holismus der sinnlichen Wahrnehmung hängen wesentlich zusammen. Im Folgenden kommt es mir zunächst darauf an, zu zeigen, dass Cassirer den Beitrag der Sprache zu diesem Zusammenhang eben nicht im konstruktivistischen Sinne einer einseitigen Formung oder Strukturierung des Sinnlichen durch das Sprachliche zu begreifen versucht, sondern tatsächlich darüber nachzudenken beginnt, inwiefern Sprache Strukturen der Wahrnehmung artikuliert, oder allgemeiner gesprochen: inwiefern die sinnlichen Strukturen und die sprachlichen Strukturen ko-konstituiert sind. 161 Der Redlichkeit halber werde ich diesen Nachweis aber so führen, dass ich die Ambivalenz derjenigen Stellen offenlege, die ich zur Stützung meiner interpretatorischen These heranziehe. 2.3.3.2 Von der Sprache zur Wahrnehmung und zurück Auch in Bezug auf den Begriff der sinnlichen Wahrnehmung formuliert Cassirer zunächst den aus der Diskussion des Ausdruckserlebens vertrauten Gedanken, dass die Strukturiertheit oder der gestalthafte Charakter Diese Absicht verfolgt in seinen Spätschriften auch Merleau-Ponty, vgl. dazu die Ausführungen in: Bertram et al.: In der Welt der Sprache (Anm. 9), Kap. 5. Es gibt darüber hinaus eine weitere bemerkenswerte Parallele zwischen MerleauPonty und Cassirer: Im zweiten Band der PhsF erwägt Cassirer zumindest in Ansätzen eine Idee, um die sich bekanntermaßen das gesamte Denken des frühen Merleau-Ponty dreht: die Idee nämlich, dass der Leib das wesentliche Konstituens unseres Weltverhältnisses ist. Zwar diskutiert Cassirer nicht die Frage, ob die Struktur unseres Wahrnehmungsbezugs zur Welt durch unsere leibliche Konstitution und unser leibliches SituiertSein in der Welt bedingt ist. Wohl aber behauptet er, dass mythologische Unterscheidungen, wie sie sich etwa in bestimmten kosmologischen Raumauffassungen ausgeprägt haben, einer durch unseren Leib vorgezeichneten Raumorientierung folgen. So heißt es u. a., dass »einzelne ›Gegenden‹ des Raumes und einzelne Richtungen in ihm erst unterscheidbar zu werden [scheinen], indem wir sie an [. . . ] Unterschiede unserer körperlichen Organisation, unseres physischen Leibes anknüpfen« (PhsFII¸122). Auch hier hätte ich aber die Tendenz, dieses »Anknüpfen« im Sinne eines »Artikulierens« von Strukturen unseres leiblichen Agierens in der Welt zu begreifen. Strukturen, die sich eben nur für Wesen ergeben, die einer symbolischen Artikulation ihres leiblichen Situiert-Seins fähig sind, die sich z. B. sprachlich ermahnen können, aufrecht zu stehen, die mithilfe von Zeitlupenaufnahmen Bewegungsstudien machen können, die Statuen betrachten und umrunden etc. Während der frühe Merleau-Ponty den Zusammenhang von Welt und Leib isoliert untersucht und der Cassirer des zweiten Bandes der PhsF isoliert das Verhältnis von Leib und symbolischen Praktiken (Mythos), steuern beide Philosophen letztlich auf die Explikation eines Zusammenhangs der Trias von Welt, Leib und symbolischen Praktiken zu. 161

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der Wahrnehmung unabhängig von symbolischen Praktiken konstituiert sei, und dass er sich als solcher einer weiteren philosophischen Aufklärung entziehe: »Es bleibt auch hier nur übrig, dies symbolische Grundverhältnis [lies: die strukturale Verfasstheit der sinnlichen Wahrnehmung, CK], gleich dem des reinen Ausdrucks, als echtes Urphänomen anzuerkennen, . . . « (PhsFIII, 138) 162, und: »Es ist vergeblich zu fragen, woher diese Sicht [der Umstand, dass wir in der Wahrnehmung an oder in Strukturen orientiert sind, CK] stammt – wir können uns nur vergewissern, was sie in sich selbst ist.« (ebd., 137) Cassirer stellt sich damit erneut auf den quietistischen Standpunkt, den pragmatistische Philosophien in Bezug auf ihren Begriff nichtsymbolischer Praktiken einnehmen: Auch die Konstitution unserer an Strukturen sich orientierenden Wahrnehmungspraktiken wird von Cassirer als »unvordenklich« ausgewiesen. Sie bildet dergestalt den phänomenal gegebenen und nicht weiter explizierbaren Ausgangspunkt einer philosophischen Rekonstruktion unseres wahrnehmenden Weltverhältnisses. Doch genau besehen belässt es Cassirer eben auch dieses Mal nicht bei diesem Quietismus. Vielmehr behauptet er – und hier gilt es, sogleich auf die genaue Wortwahl zu achten: »[d]aß an dieser Art der Akzentuierung und Artikulation [der Wahrnehmung, CK] die Sprache entscheidend mitwirkt, . . . « (ebd., 129; kursiv, CK). Anders gesagt: Die sinnliche Wahrnehmung besitzt eine Gliederung, eine Artikuliertheit oder Strukturiertheit, die unter Rekurs auf Sprache expliziert werden muss. Und es heißt eben nicht, dass die Sprache die Akzentuierung und Artikulation der Wahrnehmung bewirkt, sprich: dass diese im Zuge einer einseitigen Prägung durch die Sprache herbeigeführt oder gestiftet wird, sondern dass Sprache daran mitwirkt, dass sie ihren Anteil daran hat. Nun ist dieser sprachlich spitzfindige Beleg allein, angesichts eines Autors, der sicherlich für kaum etwas weniger gerühmt werden kann als für seine begriffliche Präzision 163, sicher noch zu schlapp, um ihn schon desWenn das Ausdruckserleben und die sinnliche Wahrnehmung beide Urphänomene sind, oder wenn sie mit Heidegger gesprochen gleichursprüngliche Momente unseres verstehenden Weltverhältnisses sind, wird eine Konzeption denkbar, wonach auch Ausdruckserleben und sinnliche Wahrnehmung ihrerseits als ko-konstituiert zu begreifen sind. In diesem Sinne wäre dann noch einmal neu über Cassirers Behauptung nachzudenken, dass auch jede sinnliche Wahrnehmung »auf einen Ausdruckston gestimmt sei«. 163 Folgt man Überlegungen von Sebastian Luft, dann hat die Unklarheit zentraler Begriffe bei Cassirer durchaus Methode; vgl. Sebastian Luft: Kultur als »operativ verschatteter Begriff« bei Cassirer. Was ist das Objekt von Cassirers Kulturphilosophie und was ist die Aufgabe dieser Kulturphilosophie?, in: Journal Phänomenologie, Bd. 42, Würzburg 2014, 78–90. 162

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wegen auf dem Wege zum Artikulationsmodell wähnen zu dürfen. Doch fällt diese Bemerkung in einem textlichen Kontext, der, trotz einer etwas verworrenen Gedankenführung, wenig Zweifel daran lässt, an welcher systematischen Figur Cassirer laboriert. Kurz bevor er die Mitwirkung der Sprache erwähnt, nimmt Cassirer nämlich der Sache nach sowohl auf die eingangs dieses Kapitels erwähnte Humboldtsche Idee der »doppelten Artikulation« (s. o., S. 171), sowie auf Überlegungen Johann Gottfried Herders zum Begriff der Reflexion Bezug, die ihrerseits als Gründungsurkunde einer »transformativen Konzeption des Verhältnisses von Begriff und Anschauung« 164 oder von Sprache und Anschauung gelten können, wie sie in der im weitesten Sinne verstandenen Tradition hermeneutischen Philosophierens dann bis hin zu McDowells Überlegungen zum Begriff der zweiten Natur fortgeschrieben wird. Cassirer übergeht zwar unbekümmert den Umstand, dass Humboldt vor allem über das Verhältnis von Denken und Sprache oder Sprechen, Herder dagegen über das Verhältnis von sinnlicher Anschauung und Sprache nachdenkt. Doch umgreift Cassirer auf diese Weise zwei Momente, die sich für das Artikulationsmodell eben als zentral herausgestellt haben: die Figur der KoKonstitution oder der Interdependenz von Strukturen einerseits und die Transformation der symbolisch artikulierten sinnlichen Wahrnehmung andererseits. Während er im Anschluss an Humboldt auf die »Wechselbestimmung« von Sprache und Denken (oder: sinnlicher Anschauung) und damit auf die Figur der Ko-Konstitution abhebt, kann er im Anschluss an Herder deutlich machen, inwiefern die Korrelation von Wahrnehmung und Sprache erstere in einer spezifischen Weise für die Welt als eine strukturierte empfänglich macht. Die Transformation der sinnlichen Wahrnehmung, die mit dem Erwerb sprachlicher Artikulationsmöglichkeiten einhergeht, preist Cassirer dann auch pathetisch, aber durchaus treffend als »Anbruch eines neuen Weltentages« (PhsFIII, 125). Die eher impliziten Humboldt- und die expliziteren Herderreferenzen fließen in folgender Bemerkung Cassirers eigentümlich zusammen: »Die Grundkraft der ›Reflexion‹ wirkt in jedem ihrer Akte zugleich ›nach innen‹ und ›nach außen‹: Sie tritt auf der einen Seite in der Gliederung des Lautes, in der Artikulation und Rhythmisierung der Sprachbewegung, auf der anderen in der immer schärferen Differenzierung und Abhebung der Vorstellung swelt zutage. Der eine Prozeß wirkt ständig auf den anderen hinüber: Und diese lebendige dynamische Wechselbeziehung ist es, aus der allmählich ein neues Gleichgewicht des Bewußtseins entsteht, aus der ein stabiles ›Weltbild‹ sich herstellt.« (PhsFIII, 128) 164

Lauer: Offenheit zur Welt (Anm. 30), 48.

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Gegenstand dieses Zitats bildet offenkundig der Zusammenhang zwischen der lautlichen Gliederung der Sprache und der gedanklichen Gliederung der geistigen Vorstellungswelt, wie Cassirer ihn von Humboldt her kennt. Und Humboldt »will [. . . ] gerade darauf hinaus«, wie Jung deutlich macht, »dass zwar der Laut ohne den in ›begeistenden‹ Gedanken nichts artikulieren könnte, umgekehrt aber der Geist nur als verkörperter [. . . ] Wirklichkeit gewinnen kann.« 165 Cassirer spricht in diesem Sinne von einer »dynamischen Wechselbeziehung« zwischen gedanklicher und lautlicher Gliederung. Zugleich aber weist er dies als Explikation einer »Grundkraft der Reflexion« aus, die er zuvor unter Bezug auf Herder und zwar unter Bezug auf dessen Überlegungen zur Spezifik der menschlichen Sinnlichkeit diskutiert hat. Nicht nur geraten hier offenbar Fragen des Zusammenhangs von Sprache und Denken einerseits und, wie ich gleich zeigen werde, von Sprache und Sinnlichkeit andererseits durcheinander. Es wird auch eine weitere doppelte und dadurch irreführende Fährte gelegt: Denn zum einen wird die sich in der sprachlichen Lautbildung wie im Denken vollziehende Gliederung auf einen gemeinsamen Ursprung, nämlich die Reflexion zurückgeführt, zum anderen aus deren alleiniger Wechselbeziehung heraus begründet, wodurch der Rekurs auf eine dritte Größe wie die Reflexion eigentlich überflüssig wird. Ich will im Folgenden in groben Zügen darlegen, wie diese Bemerkungen Cassirers meines Erachtens verstanden werden können. Ich gehe dazu zunächst auf den Herderbezug ein. Cassirer will mit Herder die besondere Verfasstheit der menschlichen Wahrnehmung erläutern, wonach wir, wie ich oben schon ausgeführt habe, sowohl auf Distanz zu den sinnlichen Eindrücken gehen können, als auch sinnliche Eindrücke als diese oder jene Eindrücke zu bestimmen vermögen. Beide Aspekte hängen für Cassirer wesentlich damit zusammen, dass uns die wahrgenommene Welt als eine strukturierte eröffnet ist. Sofern nämlich eine einzelne Wahrnehmung stets in Beziehung zu anderen Wahrnehmungen steht, kann die Totalität einer einzelnen Wahrnehmung überschritten werden. Dieses Überschreiten impliziert eine Distanzierung vom je einzelnen Eindruck. Dieses distanzierte Verhältnis zu sinnlichen Eindrücken impliziert wiederum die Möglichkeit, Wahrnehmungseindrücke voneinander zu unterscheiden und sie dadurch als diese oder jene Eindrücke zu bestimmen. Es ist spezifisch für den Menschen, wie Cassirer schreibt, dass es ihm »gelingt, einen sinnlich anschaulichen Inhalt, statt in seiner Gegenwart, in seiner einfachen ›Präsenz‹ aufzuge-

165

Jung: Der bewusste Ausdruck (Anm. 18), 90.

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hen, als Darstellung, als ›Repräsentanten‹ eines anderen zu nehmen, . . . « (PhsFIII, 125). Diesen Gedanken sieht Cassirer bereits in der folgenden berühmten Passage aus Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache 166 formuliert, die er dann auch frei zitiert: »Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei wirkt, dass sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinne durchrauscht, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewusst sein kann, dass sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, dass dies der Gegenstand und kein anderer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen, sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: . . . « 167

Interessanterweise fehlen in Cassirers Wiedergabe dieser Passage die von mir kursiv gesetzten Zeilen. 168 Und zwar aus einem einfachen Grund: Die sich darin bereits bei Herder andeutende holistische oder strukturale Pointe wird Cassirer selbst formulieren. In diesem Sinne schließt Cassirer an seine Wiedergabe der Stelle aus der Abhandlung an, indem er schreibt, dass »das Entscheidende [. . . ] darin [liegt], daß aus diesem Ganzen [der Wahrnehmung, dem Ozean von Empfindungen, CK] nicht nur ein Moment abstraktiv herausgelöst, sondern daß es zugleich als Vertreter, als Repräsentant des Ganzen genommen wird« (ebd.). Kurz: Er hebt das strukturale oder holistische Moment der Wahrnehmung in denselben Begriffen jenes von ihm neugefassten Repräsentationsbegriffs hervor, wie ich ihn oben in Abschnitt 1.4.1. diskutiert habe. Genauer gesagt: in fast denselben Begriffen. Denn tatsächlich tritt der Repräsentationsbegriff hier nicht mehr als eine formalistische, sich selbsttragende Figur auf, sondern bezeichnet das strukturale Moment einer sinnlichen Wahrnehmung, die als solche wesentlich mit sprachlichen Praktiken zusammenhängt. Und genau dieser Zusammenhang ist es ja auch, den Herder der Philosophie ins Stammbuch geschrieben hat. Die Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 2001 [Orig.: 1772]. 167 Ebd., 32. 168 Vgl. PhsFIII, 127 f. 166

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spezifische Einrichtung der menschlichen Sinnlichkeit ist für Herder konstitutiv mit dessen Verfügen über Sprache verbunden; Herder schreibt: »Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden.« 169 Entsprechend konzediert Cassirer: Es gibt eine »innere Bindung, [. . . ] zwischen der Form der Sprache und der Form, unter der wir die anschauliche Wirklichkeit erfassen« (PhsFIII, 130). Dieser Zusammenhang, diese innere Bindung lässt sich meines Erachtens eben in Begriffen der Ko-Konstitution der Strukturen in sprachlichen und in Wahrnehmungspraktiken erläutern. Bevor ich aber etwas genauer verfolge, wie dieser Gedanke bei Cassirer Gestalt gewinnt, muss ich noch einmal auf die eigentümliche Doppeldeutigkeit des eingangs genannten Zitats aus dem dritten Band der PhsF zurückkommen: Die von mir vorgeschlagene (und von Cassirer motivierte) Lesart dieses Zitats, wonach die innere Bindung zwischen der Form der Sprache und der Form der Wahrnehmung, respektive: der Strukturen in sprachlichen Praktiken und Wahrnehmungspraktiken, wie ich sagen würde, als Verhältnis einer wechselseitigen Bestimmung oder Ko-Konstitution zu erläutern ist, steht ja die Suggestion entgegen, dass diese Strukturen gleichermaßen auf eine Grundkraft der Reflexion zurückzuführen seien. Cassirer schreibt in letzterem Sinne auch, dass die Sinnlichkeit und die Sprache des Menschen »zwei Stämmen [gleichen], die derselben geistigen Wurzel entspringen«, die »sich nicht für sich bloßlegen« (ebd., 128) lasse. 170 Betrachtet man diese Bemerkungen als maßgeblich für die Johann Gottfried Herder: Werke in Zehn Bänden, Bd. 1., 722. Der Kantbezug an dieser Stelle ist unübersehbar, schreibt Kant doch bekanntermaßen fast gleichlautend in der KrV, A15/B29, »daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gäbe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.« Es ist wiederum Herder, der in seiner Meta-Kritik der reinen Vernunft Kant vorwirft, dadurch »ein Zwiespalt der menschlichen Natur errichtet« zu haben, »in welchem nicht nur beide Stämme wurzellos als Trauergestalten dastehen, sondern auch der Weg ins Land andrer Zertheilungen, Widersprüche und Doppelgestalten ohn' End und Ziel gebahnt war«, SWS XXI, 314. Kants Formulierung, dass es eine solche gemeinschaftliche Wurzel »vielleicht« gäbe, kann wiederum zum einen als Versuch einer polemischen Distanzierung von einem »Leibniz-Wolff-Baumgart'schen Vermögensmonismus« verstanden werden, »der eine uns bekannte gemeinschaftliche Wurzel aller unteren und oberen Erkenntnisvermögen, die vis repaesentativa universi, annimmt«, vgl. Manfred Baum: Herder über Kants »Verfehlte Kritik der reinen Vernunft« in: Herders ›MetaKritik‹. Analysen und Interpretationen, hg. v. Marion Heinz, Stuttgart 2013, 220, oder als Suchanzeige oder -auftrag, eine solche Wurzel doch ausfindig zu machen. In diesem Sinne hat u. a. Heidegger die 169

170

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von Cassirer entfaltete Konzeption des Zusammenhangs von sinnlichen und sprachlichen Strukturen, dann wäre es nunmehr der Rekurs auf eine ominöse gemeinsame Wurzel – die Grundkraft der Reflexion – die die »Differenzierung [. . . ] der Vorstellungswelt« einerseits und die »Gliederung des Lautes« andererseits (oder im Kontext des Herderreferats auch: die Gliederung der Sprache und jene der sinnlichen Wahrnehmung) erklären müsste. Das Problem ist nur: ein solcher Rekurs erklärt natürlich nichts. Wenn sich die gemeinsame Wurzel nicht für sich bloßlegen lässt, bleibt die Erklärungsleistung dieses Rekurses hinsichtlich der Frage nach der Gliederung von Sprache und Denken oder von Sprache und Wahrnehmung zutiefst spekulativ. Die Frage, woher die Strukturen in der Wahrnehmung wie in der Sprache rühren, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Der bloße Aufweis der Strukturiertheit ist auch Cassirer zu wenig, wiewohl er gelegentlich mit der Idee liebäugelt, diese Strukturiertheit (jedenfalls in puncto Wahrnehmung) als sozusagen unvordenkliches Urphänomen auszuweisen. Doch genau besehen hat Cassirer die echte Alternative zu diesem Quietismus schon formuliert, und zwar am Ende jener kurzen Passage, die mit dem Rekurs auf die Grundkraft der Reflexion beginnt: Dort schreibt er ja, dass der Prozess der Differenzierung der Anschauungswelt (oder der Vorstellungswelt) »ständig auf den« Prozess der Gliederung der Sprache »hinüber[wirkt]« (vgl. PhsFIII, 128) und umgekehrt. Zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Sprache bestehe eine »lebendige dynamische Wechselbeziehung« (ebd.). Wenn sich diese Wechselbeziehung oder dieser Prozess der Wechselwirkung philosophisch verständlich machen lässt, erübrigt sich der Rekurs auf die ominöse gemeinschaftliche Wurzel. Und wenn meine Überlegungen zu den Grundzügen des Artikulationsmodells triftig sind, dann lässt sich eine solche Wechselbeziehung in Begriffen einer Ko-Konstitution von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken tatsächlich verständlich machen. Bevor ich abschließend noch mit einigen wenigen Textbelegen die Spur noch deutlicher nachziehe, die Cassirer in der PhsF auf dem Weg zum Artikulationsmodell hinterlassen hat, will ich ganz kurz noch deutlich machen, wie dann sein Rekurs auf die Grundkraft der Reflexion verstanden werden kann. Denn offenkundig soll er für Cassirer mehr verdeutlichen, als bloß den im Anschluss an Herder profilierten Gedanken, dass wir in Bemerkung Kants aufgegriffen, vgl. dazu Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (Anm. 138), 139ff: Die transzendentale Einbildungskraft als Wurzel der beiden Stämme.

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der Wahrnehmung an Strukturen als Strukturen orientiert sind. Inwiefern also kann man sagen, dass eine Grundkraft der Reflexion in unseren verschiedenen symbolischen wie nichtsymbolischen Praktiken zugleich am Werk ist? Eine Antwort auf diese Frage kann daran erinnern, was oben im Anschluss an David Lauer als ein Formunterschied des menschlichen In-derWelt-Seins bezeichnet wurde (s. o., S. 208): Die Vernunft des Menschen, so Lauer, ist kein Vermögen, das zu unseren sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, die wir mit den Tieren teilen, additiv hinzukommt, sondern bezeichnet die spezifische Verfasstheit eines ganzen Ensembles von Fähigkeiten oder Vermögen des »animal symbolicum«. In ebendiesem Sinne scheint auch Gottfried Seebaß in Bezug auf Herders Begriff der Besonnenheit resp. der Reflexion hervorzuheben, dass der Umstand, dass der Mensch »offen [ist] für die ganze Welt« seine »Grundlage« nicht in einem »über die Tierheit hinausgehende[n] Sondervermögen wie ›Vernunft‹, ›Verstand‹, ›Besinnung‹, ›Witz‹, ›Scharfsinn‹ oder ›Phantasie‹« hat, führt dann aber den Gedanken wie folgt fort: »vielmehr handelt es sich um eine einzige, unterschiedlich ausgeprägte Grundkraft« 171. Seebaß verpasst gewissermaßen die Pointe seiner eigenen Zurückweisung einer vermögenstheoretischen Deutung des Begriffs der Besonnenheit oder der Reflexion. Seebaß weist zwar treffend den Gedanken zurück, dass es sich bei der Besonnenheit nicht um ein Sondervermögen handelt, führt genau diese Idee aber unter der Hand wieder ein, indem er Besonnenheit als eine besondere Kraft hypostasiert, mit der offenbar nur der Mensch ausgestattet ist oder die nur beim Menschen wirkt. Ich meine dagegen, dass es plausibler ist, Besonnenheit als Kennzeichen der spezifischen Verfasstheit, des gesamten Ensembles symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken des Menschen zu begreifen. Der Umstand, dass der »Mensch für die gesamte Welt [offen ist]«, wodurch er sich wiederum »einen eigenen Lebenskreis zu suchen und die für ihn notwendigen Fähigkeiten selbstständig zu entwickeln« vermag – ich würde sagen, sein An-Strukturen-als-Strukturen-orientiert-Sein –, ist Besonnenheit. Besonnenheit begründet die Spezifik unseres In-der-Welt-Seins nicht, unser In-der-WeltSein ist besonnen. In diesem Sinne wirkt die »Grundkraft der Reflexion« überall. Zurück zu der von Cassirer gelegten Spur auf dem Weg zum Artikulationsmodell: Zunächst heißt es in Bezug auf den konstitutiven Beitrag der Sprache zur Verfasstheit unserer sinnlichen Wahrnehmung: »Die Macht der Sprache [. . . ] durchdringt bereits die ›intuitive‹ Weltauffassung und 171

Gottfried Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt /M. 1981, 27.

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Weltgestaltung; sie ist nicht minder als am Aufbau des Reichs der Begriffe am Aufbau der Wahrnehmung und an dem der Anschauung beteiligt.« (PhsFIII, 132) Es sind die sprachlichen Praktiken selbst, die unsere Sinnlichkeit durchdringen, lies: transformieren. Die Strukturiertheit der Wahrnehmung kann (oder muss) unter Rekurs auf die Sprache begriffen werden. Eines Rekurses auf eine ominöse Wurzel bedarf es nicht mehr. Wer in eine sprachliche Praxis eingeführt wird 172, beginnt, seine Sinnlichkeit oder sein wahrnehmendes Verhältnis zur Welt in neuer Weise einzurichten: Der »reflexiv[e] Charakter – im Sinne des Herderschen Begriffs der Reflexion [. . . ], die Anschauung der Dingwelt, [besteht] nicht von Anfang an, sie [. . . ] [muß] von der Sprachwelt aus erobert werden« (ebd., 134). Der »›Namenhunger‹« des Kindes, das eine Sprache lernt, »ist letzten Endes Gestaltenhunger« (ebd., 135). Im Erlernen der Sprache erschließt sich das Kind die anschauliche Welt als strukturierte oder gestalthaft-gegliederte Welt. Qua sprachlicher Artikulationen gewinnt die Welt Artikuliertheit auch im nichtsymbolischen Umgang. Bleibt nur noch, in auch umgekehrter Richtung zu bestätigen, dass die Bestimmtheit der sprachlichen Strukturen für Cassirer unter Rekurs auf die Strukturen in der sinnlichen Wahrnehmung zu erläutern sind. Cassirer schreibt meines Erachtens genau in diesem Sinne: »Aber was in ihr [in diesem Fall der ›hinweisenden Gebärde‹, als nichtsprachlicher Form der Orientierung in der Welt, CK] angelegt ist, das kommt zu klarer und vollkommener Entfaltung erst dadurch, dass die Sprache diese Tendenz aufnimmt und sie in ihre eigenen Bahnen leitet« (ebd., 170). Schwemmer spricht hier davon, dass es zur »›Fortsetzung‹] [eines bestimmten körperlichen Geschehens] [. . . ] in einem anderen, nämlich anders strukturierten, Medium« 173, komme. Und wieder Cassirer: »Vermöge dieses Und dass man in die Sprache als etwas eingeführt wird oder hinwächst, das sich zum einen der eigenen konstruktiven Verfügungsgewalt insofern entzieht, als man immer schon aus einer unverfügbaren sprachlichen Tradition heraus versteht, wie Gadamer geltend machen wird, und die sich zum anderen als unverfügbar in dem Sinne zeigt, dass nicht wir es sind, die Sprache qua Konvention o. ä. sprechend machen, sondern die gewissermaßen immer schon von selbst beredet ist, macht an einer Stelle andeutungsweise auch Cassirer deutlich, vgl. PhsFIII, 131: »Sie [die Sprache] steht dem Menschen, wenn er sich ihr zuerst zuwendet, nicht als ein Gewordenes, sondern als ein Bestehendes gegenüber: nicht als sein Werk, sondern als eine fremde Macht, der er sich unterworfen fühlt und vor der er sich beugt.« Ich lese diese Stelle als weiten Beleg für die antikonstruktivistischen, hermeneutischen Tendenzen des späten Cassirers. Vor diesem Hintergrund wird das Erbe der Cassirerschen Symbolphilosophie gerade verfehlt, wenn man ihr, wie im Falle des von Jeffrey A. Barash herausgegebenen Sammelbandes den Titel gibt: The Symbolic Construction of Reality. The Legacy of Ernst Cassirer, edit. by Jeffrey A. Barash, Chicago /London, 2008. 173 Schwemmer: Cassirer (Anm. 122), 82. 172

Ausblick

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Prozesses gewinnen für uns die einzelnen Raumwerte«, die unser leibliches Orientiert-Sein in der Welt prägen, »eine eigentümliche ›Transparenz‹« (ebd., 177). Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken (seien dies solche, die uns leiblich in der Welt orientieren (»Raumwerte«: das »VorUns« oder »Hinter-Uns«) oder bestimmte sinnlich wahrnehmbare Zusammenhänge), »[werden] sprachlich bemerkt und sprachlich fixiert« (ebd., 171). Ähnliche Überlegungen finden sich bereits im ersten Band der PhsF. Dort spricht Cassirer davon, dass sprachliche Unterscheidungen wesentlich auf solche Unterscheidungen bezogen sind, an denen wir uns als leiblich agierende Wesen orientieren: »Wieder knüpft hier zumeist die [sprachliche, CK] Bestimmung an den eigenen Körper an, aber es sind jetzt nicht mehr seine einzelnen Teile, sondern seine Bewegungen, es ist [. . . ] sein Tun, worauf sich die Sprache stützt« (PhsFI, 163 ). 174 Ich will die Materialsammlung an dieser Stelle nicht unnötig ausweiten. Ich meine jedenfalls, dass die Indizien sich mehr als verdichtet haben, dass Cassirer insbesondere im letzten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen in hermeneutische Fahrwasser umschwenkt. Dass er dabei zugleich den Gedanken eines ko-konstitutiven Verhältnisses von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken folgt, erklärt sich meines Erachtens dadurch, dass er bei allem Bemühen darum, symbolische Praktiken an die Welt rückzubinden, seine antirealistischen Überzeugungen nie preisgibt. Und das Artikulationsmodell ist eben das Modell, das es ihm erlaubt, in modifizierter, antikonstruktivistischer Weise am Gedanken eines genuin produktiven Beitrags symbolischer Medien und Praktiken zum menschlichen Weltverhältnis festzuhalten. Dieser Beitrag besteht ganz knapp gesagt in der Eröffnung für die Welt, die sie leisten. 2.4 Ausblick Das zweite Kapitel war dem Versuch gewidmet, eine Alternative zum Konstruktionsmodell zu skizzieren. Die Tragfähigkeit dieser Alternative bemisst sich sowohl daran, ob sie die Probleme des Konstruktionsmodells vermeiden hilft, als auch daran, ob es ihr gelingt, ihrerseits plausible Antworten auf die zentralen Fragen einer Bedeutungstheorie symbolischer Medien zu geben. Die Liste der im Ausgang vom Konstruktionsmodell In vergleichbarer Weise bezieht Cassirer im dritten Band der PhsF schließlich auch abstrakte geometrische Bestimmungen auf sinnlich-leiblich erfahrene Raumverhältnisse, vgl. PhsFIII, 178. 174

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zu vermeidenden Fallstricke ist lang. Diese Fallstricke konnten nur umgangen werden, indem die begriffliche Ausgangslage massiv verändert wurde: symboltheoretische Probleme konnten einer Lösung nur dadurch zugeführt werden, dass der im engeren Sinne symboltheoretische Boden auf nichtsymbolische Aspekte des menschlichen Standes in der Welt hin überschritten wurde. Diese Ausweitung der theoretischen Reflexionszone hat in Ausschnitten die komplexe Verschränkung verschiedener Aspekte der Lebensform des animal symbolicums offengelegt, oder auch: diese Verschränkung als Spezifikum dieser Lebensform deutlich gemacht. Dass die Rolle symbolischer Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis nur von solchen komplexen, symbolische und nichtsymbolische Aspekte umfassenden Zusammenhängen her begriffen werden kann, hat sich schließlich auch als eine Einsicht Cassirers erwiesen. Der erste Einwand gegen die symboltheoretische Position des frühen Cassirers betraf die formal-holistische Explikation von Symbolverstehen, genauer: die Idee, es lasse sich mit Blick auf die strukturalen Beziehungen, in denen Zeichen untereinanderstehen, allein erklären, wie Zeichen Bedeutung gewinnen. Unter dem Stichwort des Bestimmtheitsdefizits hatte ich gezeigt, dass diese Idee einer strikt wechselseitigen Bestimmung von Elementen einer Struktur unverständlich bleibt. Sie stützt sich auf einen Begriff der Bestimmtheit der Beziehungen in solchen Strukturen, der ihr nicht zur Verfügung steht. Begreift man dagegen solche Beziehungen so, dass sie sich entlang von Beziehungen entwickeln, die in nichtsymbolischen Praktiken zum Tragen kommen, sprich: als Artikulationen dieser Beziehungen, dann bringt man die fraglichen symbolischen Beziehungen oder Strukturen in eine heilsame Verbindung mit Strukturen, deren Bestimmtheit fraglos ist. Fraglos ist sie in dem Sinne, dass praktische Beziehungen zwischen Gegenständen oder Wahrnehmungszusammenhänge für diejenigen, die praktisch in der Welt zugange sind oder die sich dem sinnlichen Gepräge der Welt öffnen, niemals neutral ausfallen: Wer eine Wand anstreicht, wählt zwangsläufig zwischen dieser oder jener Farbe; wen ein Gefühl überkommt, für den ist es stets irgendwie, dieses Gefühl zu fühlen. Indem nun sprachliche Unterscheidungen oder die Komposition von Farbflächen auf Gemälden systematisch mit solchen nichtsymbolischen Unterscheidungen korreliert werden, lässt sich das Bestimmtheitsdefizit ausgleichen. Dieser Zusammenhang von symbolischen Strukturen mit der Welt, wie sie sich in nichtsymbolischen Praktiken stets in bestimmter Weise zeigt, impliziert die Überwindung auch des Formalismus-Problems. Wenn Strukturen in symbolischen Praktiken nur für Wesen bestimmt sind, die in bestimmter Weise nichtsymbolisch in der Welt zugange sind, dann kön-

Ausblick

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nen die symbolischen Strukturen überhaupt nicht mehr als Strukturen begriffen werden, die sich irgendwie jenseits der Welt aufspannen. Da eine solche Ablösung symbolischer Strukturen von der Welt das FormalismusProblem erst heraufbeschwört, kann es im Zuge einer Erläuterung, die auf eine wesentliche Anbindung der Strukturen an die Welt setzt, als erledigt begriffen werden. Die Frage, inwiefern symbolische Strukturen in Kontakt mit der Welt stehen, erweist sich dann als irreführend: Die räumliche Metaphorik des Kontakts beschwört eine falsche Abstraktion von Medien und Welt herauf. Die Welthaltigkeit symbolischer Medien, für die das Artikulationsmodell wirbt, lässt sich in Begriffen der Berührung, des Sich-aufeinander-zu-Bewegens, der Angrenzung etc. von Medien und Welt nicht mehr sinnvoll erläutern. Wie Cassirer in erkenntnistheoretischer Diktion schreibt, dass »die Erkenntnis, sei es als Ganze, sei es mit einem bestimmten Teil ihrer selbst [nicht mehr], in die ›transzendente Gegenstandswelt ›über‹[greift] – noch diese in sie ›hineinzuwandern‹ [vermag]«, gilt auch für eine Explikation des ko-konstitutiven Zusammenhangs von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken, dass »[a]lle diese räumlichen Bilder vielmehr jetzt als Bilder erkannt [werden]« (PhsFIII, 5) müssen. Von McDowell her galt es wiederum verständlich zu machen, inwiefern die Welt im Zuge z. B. von Wahrnehmungspraktiken überhaupt eine Strukturiertheit zeigt, an der wir uns im Zuge z. B. begrifflicher Praktiken orientieren können. Nur eine auch unabhängig von aktualen symbolischen Vollzügen gegliederte und als solche zugängliche Welt, kann ja symbolischen Vollzügen Halt und Orientierung bieten. Mit den Überlegungen zum transformativen Verhältnis von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken habe ich zumindest in Ansätzen gezeigt, wie dieser Gedanke verständlich gemacht werden kann. Die Erläuterungen zum transformierten oder zweitnatürlichen Charakter unserer nichtsymbolischen Praktiken erwiesen sich zugleich als Einlösung der Forderung, dass das theoretische Ausgreifen auf nichtsymbolische Praktiken nicht die Form des Versuches einer Fundierung von symbolischen in nichtsymbolischen Praktiken annehmen darf. Das zweite Kapitel hat zwar gezeigt, dass die begrifflichen Zusammenhänge, derer es bedarf, um die Rolle symbolischer Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis zu bestimmen, viel weiter angelegt werden müssen, als ein symboltheoretischer Konstruktivismus meint. Dabei wurde allerdings die Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken sträflich vernachlässigt. Diese Vielfalt habe ich bisher als ein kontingentes Faktum unseres verstehenden Weltverhältnisses behandelt. Für die Explikation des Artikulationsmodells spielte diese Vielfalt bisher eine

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Zweites Kapitel: Artikulation

ebenso geringe systematische Rolle, wie letztlich für die Explikation des Konstruktionsmodells. Alles, was bisher über den ko-konstitutiven Zusammenhang von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken gesagt wurde, wurde ungeachtet dieser Vielfalt gesagt, sodass man sich gut vorstellen könnte, der sprachphilosophischen Ausarbeitung dieses Gedankens, wie sie sich bei Bertram findet, einfach additiv bildtheoretische, musiktheoretische oder eine auf irgendein anderes symbolisches Medium bezogene Ausarbeitungen dieses Gedankens an die Seite zu stellen. Ohne zu bestreiten, dass dies eine sinnvolle Aufgabe sein kann, will das letzte Kapitel gleichwohl den Versuch unternehmen, aus der Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken für die Frage nach der Rolle symbolischer Medien und Praktiken für das menschliche Weltverhältnis systematisch noch etwas mehr herauszuholen. Dieser Versuch folgt dem Argwohn, dass in den bisher erreichten Diskussionstand von Neuem konstruktivistische Tendenzen einsickern, sofern man es versäumt, sich Rechenschaft darüber abzulegen, warum wir eigentlich viele verschiedene symbolische Medien und Praktiken haben und vollziehen.

Drittes Kapitel Wie die Welt einen Unterschied macht

»Der Unterschied, den die Welt macht, zeigt sich an den Unterscheidungen, die wir machen. Das Verständnis der Unterschiede, die die Welt macht, lässt sich daher nur über den Weg eines Verständnisses der Unterscheidungen gewinnen, mit denen wir uns an ihr versuchen. Wer sich klarmachen will, wie die Welt bestimmt ist, muss sich klarmachen, wie wir sie zu bestimmen vermögen.« – Martin Seel, Kenntnis und Erkenntnis, 213

Das Ziel des letzten Kapitels lautet wie folgt: Es soll gezeigt werden, dass es des Begriffs einer irreduziblen Pluralität symbolischer Medien und Praktiken bedarf, um verständlich zu machen, wie die Welt im Verstehen einen Unterschied machen kann. Das dritte Kapitel lässt sich daher durchaus als erneute Parteinahme für die Sache der Eigenständigkeit der Welt lesen. Tatsächlich werde ich gegen eine neuerliche Verzeichnung dieser Eigenständigkeit argumentieren, die auch im Rahmen des Artikulationsmodells noch droht, sofern man dieses Modell nicht um den Gedanken ergänzt, dass unsere symbolischen Medien und Praktiken wesentlich vielfältig sind. Damit komme ich auf die in der Einleitung gemachte Behauptung zurück, dass eine Überwindung des symbolischen Idealismus oder eines symboltheoretischen Konstruktivismus nur erfolgreich ist, wenn zeitgleich auch der Linguistizismus oder irgendein anderer denkbarer »Monomedialismus« überwunden wird; (s. o., S. 25). Zwar droht vor dem Hintergrund des Artikulationsmodells keine Auferstehung echter idealistischer oder konstruktivistischer Gefahren. Es kann aber doch der Eindruck entstehen, die Welt sei nur Juniorpartner kreativer symbolischer Praktiken. Dass ich mich angesichts dieser Bedrohung nun gerade auf symbolische Medien und Praktiken, respektive auf deren Vielfalt berufe, könnte auf den ersten Blick wie ein fehlgeleitetes Manöver wirken, das die Lage eher verschlimmert. Ich werde deutlich machen, dass dem gerade nicht so ist. Vielmehr kommt darin die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Eigenständigkeit der Welt nur dadurch angemessen gesichert werden kann, dass man zugleich der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken Rechnung trägt. Und dass die Begriffe der Eigenständigkeit der Welt

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Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht

und der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden, sondern vielmehr in eine Konstellation gebracht werden, in der sie sich wechselseitig stützen, ist ja eine der zentralen Pointen des Artikulationsmodells. Diese Pointe soll im dritten Kapitel noch einmal in spezifischer Weise hervortreten. So gesehen nimmt das letzte Kapitel zwar für die Sache der Eigenständigkeit der Welt Partei, aber eben nicht einseitig. Die Ausführungen des dritten Kapitels bleiben gleich in mehreren Hinsichten ausblickhaft: Zum einen werde ich mich auf die Frage beschränken, wie die Welt eine Weiterentwicklung symbolischer Medien und Praktiken anzustoßen vermag. Damit thematisiere ich nur einen sehr spezifischen Aspekt der viel umfänglicheren Problematik, die mit der Frage nach dem Unterschied, den die Welt im Verstehen macht, aufgeworfen ist. Wenn nämlich unser verstehendes Weltverhältnis nur unter Rekurs auf ein komplexes Zusammenspiel von Beschaffenheiten der Welt, nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken erläutert werden kann, dann lässt sich die Frage nach dem besagten Unterschied ja mindestens auch von den nichtsymbolischen Praktiken her aufwerfen. Man könnte entsprechend fragen, inwiefern die Welt auch eine Weiterentwicklung nichtsymbolischer Praktiken anzustoßen vermag; etwa in Form jenes »schlüpfrige[n] kleine[n] Scheißerchen[s]«, wie es der Figur Vivian Ward in Pretty Woman anlässlich einer glitschigen Auster entfährt, oder in Form all der heißen Herdplatten, verfehlten Nägel, der nächtlichen Gewitter, die einen aus dem Schlaf reißen etc. Auch auf dem nichtsymbolischen Parkett kommt es zu vielen folgenreichen Begegnungen zwischen uns als empfindsamen, sinnlich-leiblichen oder praktisch tätigen Wesen und der Welt. Will man allerdings nicht hinter die Einsichten zurückfallen, die das zweite Kapitel erarbeitet hat, dann muss man sofort ergänzen: Auch solche Entwicklungen müssen letztlich im Zusammenhang mit symbolischen Medien und Praktiken begriffen werden. Genau von dieser komplexen Verschränkung handelt noch einmal das dritte Kapitel, wenn auch in einer hoffentlich leidlich unterkomplexen Weise. Es nähert sich diesem Komplex eben nur von einer Seite, von der Seite symbolischer Medien und Praktiken her. Damit entfällt die Verpflichtung, Entwicklungen unserer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, unseres praktischen Geschicks, unseres leiblichen Orientierungsvermögens oder unsere affektiv-emotionale Reifung in entsprechenden emotionstheoretischen, wahrnehmungstheoretischen oder praxeologischen Begriffen zu schildern. Indem ich die Welt als Motor einer Entwicklung symbolischer Praktiken zu profilieren versuche, will ich zum anderen nicht dementieren, dass symbolische Praktiken diese Rolle in bestimmter Hinsicht selbst

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übernehmen können. Georg Bertram hat dieser Frage in Begriffen einer Disziplinierung 1 unseres Sprachgebrauchs qua selbstbezüglicher sprachlicher Praktiken eingehende Untersuchungen gewidmet. 2 Doch scheint mir eben dieses (fraglos bestehende) Selbstgestaltungspotential der Sprache dem Artikulationsmodell auf tendenziell irreführende Weise abgerungen zu werden. Wie ich unten darlegen werde, erwecken Bertrams Überlegungen zuweilen den Eindruck, als würden sie der Sprache die nötigen selbstreflexiven Spielräume auf Kosten des Begriffs nichtsymbolischer Praktiken sichern, wie er für das Artikulationsmodell unabdingbar ist. Mit anderen Worten: Der Versuch, zu zeigen, wie die Sprache »sich von der Welt [partiell] zu entfernen« 3 vermag, wodurch sie kreative Spielräume gewinnt, wirft Fragen bezüglich der Begriffe der Welt und derjenigen, direkt mit den Beschaffenheiten der Welt befassten nichtsprachlichen oder nichtsymbolischen Praktiken auf, die sich im Horizont des Artikulationsmodells so eigentlich nicht mehr stellen sollten. Ich möchte zeigen, dass sich diese Fragen dadurch beantworten lassen, dass man die sprachphilosophischen Überlegungen Bertrams symbolphilosophisch erweitert oder ergänzt. Fragen einer Ko-Konstitution sprachlicher und nichtsprachlicher Praktiken, wie sie Bertram umtreiben, stellen genau besehen nur einen Ausschnitt aus einem größeren Zusammenhang dar, in dem nichtsprachliche Praktiken zugleich mit einer Vielzahl sprachlicher und nichtsprachlicher symbolischer Praktiken ko-konstituiert sind. Diese Komplexität muss zulassen, wer (falsche) idealistische oder konstruktivistische Verdachtsmomente wirksam zurückweisen will. Meine Ausführungen zu solchen multipel zu nennenden ko-konstitutiven Verhältnissen leisten gleichwohl nicht mehr, als nur eine begriffliche Absicherung der Möglichkeit, dass die Welt eine Weiterentwicklung symbolischer Praktiken initiieren kann. Darin liegt vielleicht die bedauerlichste Beschränkung des Schlusskapitels. Es würde allerdings den Umfang dieser Arbeit sprengen, wenn auch noch ausgeführt würde, wie genau solche Anstöße von der Welt in einer Weiterentwicklung symbolischer Praktiken zum Tragen kommen; inwiefern sich etwa eine symbolische Praxis offen zeigen können muss für solche Anstöße, und inwiefern dann z. B. in puncto Sprache gerade selbstbezügliche sprachliche Praktiken Vgl. dazu Bertram: Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006, Kap. V, bes. 228 ff. 2 Für eine über Sprache hinausgehende Diskussion selbstbezüglicher symbolischer Praktiken vgl. die Beiträge in dem Sammelband Die Sinnlichkeit der Künste. Beiträge zur ästhetischen Reflexivität, hg. v. Georg W. Bertram et al., Zürich /Berlin 2012. 3 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 191. 1

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solch eine Öffnung der Sprache für externe Interventionen leisten, und dergleichen mehr. Zuletzt bleiben meine Ausführungen auch deshalb ausblickhaft, weil sie sich vornehmlich darum bemühen werden, einen argumentativen Bogen zu spannen, der ausgehend von Fragen der Differenzierung von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken, über die Frage der Dynamik symbolischer Praktiken hin zum Plädoyer für eine wesentliche Pluralität symbolischer Medien und Praktiken führt. Diese Argumentation wird verfolgt auf Kosten all der am Wegesrand auftauchenden Detailfragen und möglichen Bezüge zu Debatten und Positionen, die von dieser Argumentation berührt werden. Einige dieser Details und Nebenschauplätze werde ich mich aber zumindest zu nennen bemühen. Ich werde meine Argumentation entsprechend in drei Schritten entfalten: Im ersten Schritt soll noch einmal deutlich werden, dass das Artikulationsmodell vor der grundsätzlichen Herausforderung steht, die Differenz von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken zu wahren. Wird diese Differenz verfehlt, droht das Artikulationsmodell insgesamt erneut entweder dem Konstruktivismus oder dem Realismus anheimzufallen; (3.1 Differenz). Im zweiten Schritt der Argumentation komme ich auf eine weitere grundlegende Herausforderung zu sprechen, vor der das Artikulationsmodell wie letztlich jede andere Theorie symbolischer Medien und Praktiken steht: der Erklärung der Dynamik dieser Medien und Praktiken. Mit dem ersten Schritt hängt diese Frage insofern zusammen, als dafür argumentiert wird, dass die Differenzierung von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken allein die Dynamik nicht zu begründen vermag. Insbesondere wird nicht verständlich, wie die Welt als Motor einer Weiterentwicklung symbolischer Praktiken fungieren kann; (3.2 Dynamik). Der dritte Schritt gilt dann dem Nachweis, dass eine solche von der Welt her angestoßene Dynamik im Rahmen des Artikulationsmodells dadurch verständlich gemacht werden kann, dass man dieses Modell multimedial anlegt. Dass wir unsere sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten etwa mit Blick auf Farben z. B. nicht nur im Zusammenhang mit dem Erwerb von Farbbegriffen, sondern auch durch den Gang in die Gemäldegalerie weiterzuentwickeln vermögen, bekommt hier entscheidendes systematisches Gewicht. Erst solche multiplen ko-konstitutiven Verhältnisse machen verständlich, wie die Welt sich als eigenständige Größe behaupten und im Verstehen geltend machen kann; (3.3 Pluralität).

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3.1 Differenz Dass zwischen Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken begrifflich differenziert werden muss, lässt sich auf zwei Wegen begründen: direkt aus der Anlage des Artikulationsmodells heraus – eine entsprechende Differenzierung erweist sich dann als notwendige Bedingung einer Ko-Konstitution von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken –, so wie losgelöst von den Implikationen des Artikulationsmodells, mit Blick auf die Strukturen oder Praktiken selbst. Diese zweite Strategie kann wiederum in positiver wie in negativer Hinsicht auf das Artikulationsmodell bezogen werden. In positiver Hinsicht kann eine genaue und unterscheidende Betrachtung von symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken jene begrifflichen Ressourcen bereitstellen, um die Differenzforderung, die sich aus dem Artikulationsmodell ergibt, material zu erfüllen. In negativer Hinsicht kann eine entsprechende Differenzierung aber auch darauf zielen, die Idee der Ko-Konstitution infrage zu stellen. Die Differenzierung verfolgt dann mit anderen Worten das Ziel, die behauptete Interdependenz des Unterschiedenen aufzukündigen. Dazu will ich kurz etwas mehr sagen. Begreift man z. B. die von McDowell in Geist und Welt entfalteten Überlegungen als Versuch, einen interdependenten Zusammenhang von sinnlichen und begrifflichen Fähigkeiten des Menschen darzulegen, und McDowell insofern als einen Verbündeten in Sachen Artikulationsmodell 4, dann lassen sich wiederum die Einwände, denen sich McDowell seitens der nordamerikanischen Phänomenologie (vor allem vonseiten Hubert L. Dreyfus', aber auch vonseiten Charles Taylors') 5 ausgesetzt sieht, als Realisierung der negativen Subvariante der zweitgenannten Strategie der Begründung der Differenzforderung betrachten. Indem sie McDowell dessen Verkürzungen in Bezug auf den Begriff der sinnlichen Wahrnehmung oder in Bezug auf den Begriff leiblicher Praktiken vorrechnen – der Vorwurf lautet: »Überintellektualisierung« 6 –, argumentieren sie daIn diesem Sinne lässt u. a. Bertram McDowell als Gestalt auf dem Weg zu einer ko-konstitutiven Konzeption des Zusammenhangs von nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken auftreten, vgl. dazu Bertram: Der Zusammenhang von Sprache und Objektivität im semantischen Holismus. Oder: Wie überlebt der Empirismus unter den Bedingungen des Holismus?, in: Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, hg. v. Georg W. Bertram et al., Frankfurt /M. 2006, 187–207. 5 Zur Debatte zwischen McDowell, Taylor und Dreyfus vgl. Markus Wild: McDowell aus der Sicht der Phänomenologie, in: Die Philosophie John McDowells. Ein Handbuch, hg. v. Christian Barth und David Lauer, Münster 2014, 283–303. 6 Vgl. ebd., 285. 4

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für, dass nichtsymbolische Praktiken (sinnliche Fähigkeiten) unabhängig von symbolischen Praktiken (begrifflichen Fähigkeiten) konstituiert sind. Träfe diese Kritik zu, dann wäre auch die Option einer Fundierung symbolischer Praktiken in einem vorsymbolischen Weltverhältnis wieder auf dem Tisch. Diese Option scheint jedenfalls Dreyfus mit seiner McDowellSchelte zu verfolgen. 7 Vergleichbare Ambitionen findet man auch im Umfeld einer von Cassirer inspirierten Kulturphilosophie. Zwar nicht in kritischer Absetzung von Cassirer, sondern vielmehr in affirmativem Anschluss an dessen Begriff der sinnlichen Wahrnehmung. Genauer gesagt: Unter Rekurs auf dessen Begriff der symbolischen Prägnanz wird hier der Versuch unternommen, die menschliche Kultur als ein »Anschlussphänomen« 8 zu erläutern. Von einem alle unsere natürlichen Anlagen tiefgreifend transformierenden Hineinwachsen in die Kultur, wie es McDowell seinerseits in Begriffen der Bildung und der zweiten Natur erläutert 9, ist dort keine Rede. Anstelle der Idee, dass wir als Kulturwesen kultürlich oder zweitnatürlich durch und durch sind, wird hier eher eine Konzeption verfochten, wonach Kultur wie ein Obergeschoss auf ein natürliches, sinnliches Untergeschoss aufgesetzt wird, das wir gemeinsam mit den Tieren bewohnen. Und genau hier kann meines Erachtens eine Gegenkritik ansetzen: Obwohl man z. B. den Kritikern McDowells durchaus zugeben kann, dass dieser unsere sinnliche Wahrnehmung tatsächlich überintellektualisiert 10, folgt daraus mitnichten, dass der Gedanke einer Ko-Konstitution von nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken falsch ist. Vielmehr In diesem Sinne lassen sich z. B. Dreyfus' Überlegungen verstehen, die er u. a. ausführt in: Being-in-the-world. A Commentary on Heidegger's ›Being and Time‹, Cambridge /MA, 1991. 8 Oswald Schwemmer: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005, 143: »Die kulturelle Artikulation beginnt in einem vorreflexiv entstandenen Reich von Formen, mit denen bereits eine primäre Sinnwelt erzeugt worden ist. Kultur ist in einem gewissen Sinn ein, wie man mit Niklas Luhmann sagen könnte, ›Anschlussphänomen‹.« 9 Vgl. McDowell: Geist und Welt, Frankfurt /M. 2001, bes. 91 ff. 10 Allerdings ist bezüglich dieses Vorwurfs insofern eine gewisse Zurückhaltung ratsam, als McDowell, was genuin wahrnehmungstheoretische oder phänomenologische Bestimmungen menschlicher Sinnlichkeit oder Leiblichkeit anbelangt, gar nicht allzu viel sagt. Natürlich impliziert seine Behauptung, dass es in begründungstheoretischer Hinsicht einen direkten Übergang von Wahrnehmungen zu Behauptungen geben kann, eine bestimmte Auffassung sinnlicher Wahrnehmungen. Es wäre allerdings erst im Detail zu prüfen, inwiefern diese Auffassung tatsächlich mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung in Konflikt gerät. Dass sich McDowell so wenig zu wahrnehmungs- und leibtheoretischen Debatten äußert, mag eine wohlwollendere Rezeption seiner Überlegungen in diesen Kreisen erschwert haben. 7

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kann man wiederum gegen entsprechende phänomenologische Einwände einwenden, dass sie ihrerseits unsere sinnliche Wahrnehmung oder unser leibliches Weltverhältnis verkürzt beschreiben. Verkürzt nämlich um genau diejenigen Momente, in denen diese sich als abhängig von begrifflichen oder anderen symbolischen Praktiken erweisen. Ich habe diesbezüglich oben davon gesprochen, dass symbolgebrauchende Wesen in nichtsymbolischen Praktiken an Strukturen als Strukturen orientiert sind, wodurch ihnen die Welt im praktischen Tun, in der sinnlichen Wahrnehmung oder im leiblichen Verhalten in einer besonderen Weise offensteht. Dieses Offenstehen der Welt macht wiederum spezifische nichtsymbolische Vollzüge erst möglich: Nur wer z. B. über begriffliche Unterscheidungen zwischen verschiedenen Farben verfügt, kann die Welt nach entsprechend gefärbten Dingen sehend absuchen; nur wer z. B. anhand von abgründigen Filmfiguren eine Sensibilität für die Ängste und Willensschwächen von Menschen gewonnen hat, kann im Umgang mit anderen praktisch nachsichtig agieren etc. Solche Aspekte aus der Beschreibung unserer sinnlichen Wahrnehmung oder unseres praktischen Tuns zu tilgen, hieße, jene Offenheit für die Welt und die Anderen tilgen, die als differentia specifica des menschlichen Weltverhältnisses begriffen werden kann. 11 Zwar werde ich im Rahmen dieser Arbeit über das im zweiten Kapitel dazu Gesagte hinaus nicht mehr versuchen, diese Gegenkritik auf dem Boden der Wahrnehmungstheorie oder der Leibphilosophie selbst zu leisten. Doch nehme ich zumindest noch einmal indirekt Stellung dazu, indem ich deutlich mache, dass ein Teil der phänomenologisch vielleicht berechtigten Kritik genau dann nicht mehr verfängt, wenn man die Differenzierung von nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken beherzigt, Es ist wiederum Dreyfus, der meines Erachtens in besonders markanter Weise unser nichtsymbolisches Weltverhältnis verkürzt beschreibt, indem er unsere sinnlichen oder leiblichen Weltbezüge in Begriffen einer vorbegrifflichen Adaption an Umweltbedingungen erläutert. Taylor scheint ihm darin zeitweilig zu folgen. Taylors Beispiel für das von Dreyfus sogenannte »everyday coping« lautet: »As I navigate my way along the path up the hill, my mind totally absorbed anticipating, the difficult conversation I'm going to have at my destination, I treat different features on the terrain as obstacles, supports, openings, invitations to tread more warily, or run freely, etc. Even when I'm not thinking of them these things have relevance for me; I know my way about among them.«, Charles Taylor: Foundationalism and the inner-outer distinction, in: Reading McDowell. On Mind and World, hg. v. Nicolas H. Smith, London 2002, 111. Es ist allerdings fraglich, ob dieses Beispiel mehr zeigt, als dass solche Praktiken ohne aktualen Gebrauch von Begriffen vollzogen werden können, sodass man immer noch sagen kann, dass eine entsprechende routinierte, trittsichere Weise des Gehens, bei Kulturwesen wie uns, eine Praxis ist, in die wir erst vermittels symbolischer Praktiken, z. B. der sprachlichen Anweisung, des szenischen Vorführens etc. eingeübt werden müssen, vgl. Anm. 68. 11

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wie sie der Gedanke der Ko-Konstitution ohnehin fordert. Mit anderen Worten: Ich verteidige das Artikulationsmodell, indem ich selbst den Finger auf die Stelle lege, an der man leicht Gefahr läuft, nichtsymbolische Praktiken zu überintellektualisieren. Damit bin ich wieder am Ausgangspunkt angelangt, sprich: bei der erstgenannten Strategie, die darin besteht, die Differenzforderung aus dem Artikulationsmodell selbst heraus zu begründen. Der Gedanke ist im Grunde ziemlich simpel und kann in einer abstrakten Form wie folgt angeben werden: Wenn gilt, dass zwei oder mehrere Strukturen dann ko-konstituiert sind, sofern sie sich wechselseitig bestimmen, und wenn zudem gilt, dass zwei Strukturen S1 und S2, die sich nicht unterscheiden lassen, streng genommen nicht zwei ununterscheidbare Strukturen sind, sondern einfach eine einheitliche Struktur S bilden, dann ist die Differenz oder Unterscheidbarkeit von Strukturen eine notwendige Bedingung dafür, dass von zwei oder mehreren Strukturen behauptet werden kann, sie seien ko-konstituiert. Der Gedanke einer Ko-Konstitution von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken lässt sich also nur denken, wenn man die jeweiligen Strukturen als eigenartig begreifen kann. Sobald z. B. die Strukturen, die in praktischen Tätigkeiten zum Tragen kommen, den Strukturen begrifflich zu sehr angenähert werden, die z. B. für eine begriffliche Artikulation unseres praktischen Tuns relevant sind – beide werden z. B. in einem einheitlichen logischen Vokabular des Schließens und Folgerns gefasst – droht die Ko-Konstitutionsfigur in sich zusammenzufallen. 12 Wie das konkret aussehen kann, möchte ich im Folgenden am Beispiel von Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz zeigen und kritisieren. Ich will vorab noch gesondert darauf hinweisen, dass die folgenden Ausführungen sich unter besonderer Beobachtung stehend wissen: Wer sich nämlich durch die Überlegungen des zweiten Kapitels bisher noch nicht dafür hat erwärmen lassen, Cassirer auf dem Weg zu einer hermeneutischen Symbolphilosophie, respektive auf dem Weg zum Artikulationsmodell zu sehen, könnte sich durch die folgende Kritik an dessen Begriff der symbolischen Prägnanz vollends in seinem Zweifel bestätigt sehen. Denn zeigt nicht der Umstand, dass Cassirer mit diesem Begriff die geforderte Differenz verfehlt, dass er den Gedanken der Ko-Konstitution gar nicht ernsthaft erwägt? Ich will nicht so tun, als ließe sich diese Frage Heideggers vielfach auch kritisch beäugtes Bemühen darum, neue eigenständige Vokabulare z. B. für die Beschreibung des praktischen Tuns einzuführen, kann als eine entsprechende Differenzsensibilität gewertet werden. Dieses Bemühen wird z. B. in Wellmers Rekonstruktion von SuZ, wenn er dort, wie oben zitiert, von »praktischen Wenn-Dann-Relationen« spricht, tendenziell unterlaufen. 12

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mit Bestimmtheit entscheiden. Die interpretatorischen Verhältnisse in Sachen PhsF sind auch jetzt nicht klarer, als sie es im zweiten Kapitel waren. Gleichwohl will ich diese letzte Kritik an Cassirer so nutzen, dass ich bei passender Gelegenheit noch einmal für meine cassirerinterpretatorische These werbe. 3.1.1 Symbolische Prägnanz Cassirers Schwierigkeiten damit, die Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken begrifflich zu unterscheiden, werden mit Blick auf seinen Begriff der sinnlichen Wahrnehmung besonders deutlich, genauer: mit Blick auf seine Behauptung, dass unsere sinnliche Wahrnehmung symbolisch prägnant ist. Cassirer führt den Begriff der symbolischen Prägnanz verhältnismäßig spät ein, nämlich erst im dritten Band der PhsF, und dort auch erst nach den oben besprochenen Abschnitten, die dem Ausdruckserleben und der Frage gewidmet sind, wie sich unser sinnlichanschauliches Weltverhältnis konstituiert. 13 Man kann sagen, dass Cassirer, nachdem er sich Rechenschaft über die »Wechselbeziehung« von symbolischen (z. B. mythischen oder sprachlichen Praktiken) und nichtsymbolischen Praktiken (z. B. Weisen der affektiv-emotionalen Gewärtigung der Welt und Wahrnehmungspraktiken) abgelegt hat, noch einmal gesondert zum Begriff der sinnlichen Wahrnehmung 14 zurückkehrt. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass Cassirer eine ähnliche Prägnanzterminologie bereits zu einem früheren Zeitpunkt gebraucht, nämlich im Zuge der erstmaligen Diskussion des berühmt-berüchtigten Linienzug-Beispiels 15, wie es dann just auch im Abschnitt zum Begriff der symbolischen Prägnanz im dritten Band der PhsF von ihm wieder aufgegriffen wird (vgl. PhsFIII, 228 ff.). Ich werde meine Kritik am Begriff der symbolischen Prägnanz daher auch mit Blick auf dieses Beispiel entfalten. Vgl. PhsFIII, 218–233. Genauer müsste man vielleicht sagen, dass unter den Begriff einer symbolisch prägnanten sinnlichen Wahrnehmung auch nicht im engeren Sinne Wahrnehmungspraktiken zu nennende nichtsymbolische Praktiken fallen, sprich: praktische Tätigkeiten, unser leibliches Agieren, unser affektiv-emotionaler Weltbezug. Dass Cassirer im dritten Band der PhsF diesbezüglich begrifflich nicht genauer unterscheidet, hat auch damit zu tun, dass er in diesem Band vor allem eine Neubestimmung der aus der erkenntnistheoretischen Tradition herrührenden Verhältnisbestimmung von Sinnlichkeit und Verstand (Begriffen) verfolgt. 15 Vgl. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in: ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, hg. v. Marion Lauschke, Hamburg 2009, insb. 96 ff. 13 14

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Es scheint mir in besonderer Weise geeignet zu sein, die Probleme aufzudecken, die aus einer fehlenden Differenzierung zwischen symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken, respektive der Strukturen in diesen Praktiken resultieren. Gemäß einer Einschätzung von Marion Lauschke handelt es sich bei dem Begriff der symbolischen Prägnanz um »das Kernstück der Symbolphilosophie« 16 Cassirers. Eine ähnliche Nobilitierung erfährt dieser Begriff auch bei Schwemmer, der in ihm aber immerhin auch »eines der besonderen Rätsel in der Philosophie Ernst Cassirers« 17 erblickt. Demgegenüber steht die auffällige Marginalisierung dieses Begriffs zugunsten des Begriffs der symbolischen Form u. a. bei Kreis. 18 Der Dissens in Bezug auf den systematischen Stellenwert dieses Begriffs für Cassirers Symbolphilosophie scheint mir symptomatisch zu sein. Es ist der Begriff selbst, der zu diesen konträren Einschätzungen einlädt. Liest man die späteren Überlegungen der PhsF nämlich nicht dezidiert so, dass Cassirer dort den Gedanken der Ko-Konstitution verfolgt und versteht entsprechend auch den Begriff der symbolischen Prägnanz nicht als den (in bestimmten Hinsichten misslungenen) Versuch, eine durch ihren konstitutiven Zusammenhang mit symbolischen Praktiken transformierte Wahrnehmung auf den Begriff zu bringen, dann lässt sich dieser Begriff gerade aufgrund seiner Unklarheit gut vor den Karren so unterschiedlicher Cassirer-Lektüren spannen, wie Kreis und Schwemmer sie exemplarisch verfolgen. Da, wie ich gleich noch zeigen werde, im Begriff der symbolischen Prägnanz nichtsymbolische und symbolische Aspekte unseres Weltverhältnisses ununterscheidbar zusammenzufallen scheinen, kann Kreis darin seine, zugespitzt gesprochen, konstruktivistische Lesart der PhsF ebenso bestätigt finden 19, wie Schwemmer seine Auffassung, dass Cassirer »mit diesem Marion Lauschke: Vorwort, in: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen (s. o.), XI. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Stefan Niklas in: Niklas: Ein etwas rabiater Versuch, den Begriff der Artikulation zu artikulieren, in: Formen der Artikulation. Philosophische Beiträge zu einem kulturwissenschaftlichen Begriff, hg. v. Stefan Niklas und Martin Roussel, München 2013, 23: »Das Theorem der symbolischen Prägnanz bildet mittlerweile das Zentrum der Cassirer-Forschung, da in ihm der Schlüssel zum Verständnis von Cassirers Philosophie der Kultur entdeckt wurde.«. 17 Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, 96. 18 Kreis macht um den Begriff der symbolischen Prägnanz nicht viel Aufhebens. Er ist ihm, gemessen an dem Umfang seiner Überlegungen zum Begriff der symbolischen Form, nur eine »Randnotiz« wert; vgl. Kreis: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010, 245–251. 19 Für Kreis belegt das Theorem der symbolischen Prägnanz der Wahrnehmung nur erneut, »[d]aß sich das Bewußtsein durch Ausdifferenzierung von Gesamtheiten von 16

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Begriff den gedanklichen Ort [markiert], an der dem Prozeß der Symbolisierung seinen Ausgang nimmt und der damit die Schwelle zur Kulturentwicklung zeichnet« 20. Vor der Folie des Artikulationsmodells aber müssen sich diese beiden Lesarten als gleichermaßen unhaltbar erweisen. Und wenn ich mit meiner Cassirer-Interpretation richtig liege, sollten sich Anhaltspunkte dafür auch bei Cassirer selbst finden lassen. Dass eine Inanspruchnahme des Begriffs der symbolischen Prägnanz für die genannten konkurrierenden Lektüren der Symbolphilosophie Cassirers und insbesondere für die konstruktivistische Lektüre nicht zur Verfügung steht, will ich dadurch belegen, dass ich erneut den internen Ungereimtheiten dieses Begriffs und seiner Verwendung bei Cassirer nachgehe. Die Probleme im Begriff der symbolischen Prägnanz begreife ich dann in systematischer Hinsicht wiederum so, dass sie ex negativo die Plausibilität des Artikulationsmodells stützen. Dass es Cassirer im Abschnitt zur symbolischen Prägnanz tatsächlich um einen Begriff der sinnlichen Wahrnehmung geht, machen folgende Formulierungen deutlich, die gemeinhin als so etwas wie eine Definition von symbolischer Prägnanz gehandelt werden: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Es handelt sich hierbei nicht um bloß ›perzeptive‹ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ›apperzeptiven‹ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen.« (PhsFIII, 230 f.; kursiv, CK)

geistigen Vorkommnissen seine repräsentationalen Inhalte selbst gibt, . . . «, vgl. ebd., 247. 20 Vgl. Schwemmer: Kulturphilosophie (Anm. 8), 144.

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Dieser Formulierung voraus geht eine Erinnerung an die Diskussion der Farbwahrnehmung, wie Cassirer sie lang und breit im vorhergehenden Abschnitt der PhsF geführt hatte und ihr folgt wiederum das Beispiel des zeitlichen Erlebens. Beide Beispiele bestätigen auf je ihre Weise, dass es Cassirer mit der Rede von einer symbolischen Prägnanz um die Auszeichnung einer im engeren Sinne nichtsymbolischen Dimension des menschlichen Standes in der Welt geht. Das Zeit-Beispiel macht zudem deutlich, dass der Begriff der symbolischen Prägnanz auch die strukturale Verfasstheit dieses nichtsymbolischen Weltverhältnisses fassen soll: Cassirer erläutert in diesem Sinne den Zukunftsbezug als eine »Hauptrichtung unseres Zeitbewusstseins« (PhsFIII, 231). Unser Erleben z. B. eines gegenwärtigen Momentes muss wesentlich von seinem Bezug zu noch nicht gegenwärtigen, zukünftigen Momenten her begriffen werden. Dieses Bezogen-Sein des gegenwärtigen Momentes auf das Noch-Nicht wird von Cassirer gegen eine Auffassung profiliert, wonach sich in der Zeit je für sich bestimmte, abgeschlossene Jetzt-Momente aneinanderreihen. Unser Zeitempfinden wird auf diese Weise, so Cassirer, phänomenal verfehlt. Tatsächlich sind wir zeitlich an einer über die Gegenwart hinaus sich erstreckenden Spanne differenzierter Momente orientiert. Gegenwärtige Momente erleben wir (als aus vergangenen Momenten herkommend) auf eine Zukunft hin gerichtet. Das Jetzt ist in diesem Sinne stets unabgeschlossen und erst durch den Bezug auf ein Nicht-Jetzt bestimmt. Die Gegenwart ist ein »zukunfterfülltes und zukunftgesättigtes Jetzt« (ebd.). Und ebenso ist die Zukunft wiederum nur unter Bezug auf das Jetzt bestimmt: Die »Zukunft«, schreibt Cassirer, »wird von der Gegenwart her ›vorweggenommen‹« (ebd.). Wie auch immer man diese Überlegungen weiter ausführen müsste, ihre für unsere Diskussion relevante Quintessenz besteht darin, dass erneut ein strukturales Moment unseres nichtsymbolischen Weltverhältnisses, in diesem Falle unserer zeitlichen Orientierung, herausgestellt wird, wie wir es ganz ähnlich für die Ausdrucks- und die Gestaltwahrnehmung schon deutlich gemacht haben. Cassirer fasst diesen Gedanken dann in allgemeiner Form wie folgt: »[Erst] [d]ie ›Teilhabe‹ an diesem Gefüge [der zeitlichen, der farblichen oder einer anderen Ordnung oder Struktur, CK] gibt der Erscheinung ihre objektive Wirklichkeit und ihre objektive Bestimmtheit. Die ›symbolische Prägnanz‹, die sie gewinnt, entzieht ihr nichts von ihrer konkreten Fülle [lies: die Wahrnehmung bleibt durch und durch Wahrnehmung, das Tun bleibt durch und durch ein Tun, CK] – aber sie bildet zugleich die Gewähr dafür, daß diese Fülle nicht einfach verströmt, sondern sie zu einer festen, in sich geschlossenen Form rundet.« (PhsFIII, 233).

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»Jede Wahrnehmung«, oder unsere nichtsymbolischen Praktiken, wie man Cassirers Bemerkung verallgemeinern kann, »schließt einen bestimmten ›Richtungscharakter in sich, mittels dessen sie über ihr Hier und Jetzt hinausweist« (PhsFIII, 232). Das alles ist im Grunde bereits aus der Diskussion des zweiten Kapitels bekannt. Die interessanten Schwierigkeiten beginnen, als Cassirer die Strukturen unserer nichtsymbolischen Praktiken genauer zu bestimmen versucht. Welcher Art sind diese Strukturen z. B. der Farbwahrnehmung, von denen es ja ausdrücklich heißt, dass sie ihr selbst zugehören? Genau hier kommt es zu der problematischen Überformung des Begriffs der Strukturen in sinnlichen Wahrnehmungspraktiken (oder in anderen nichtsymbolischen Praktiken) mit Begriffen derjenigen Strukturen, die in symbolischen Praktiken zum Tragen kommen, die solche Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken artikulieren. Das lässt sich an dem besagten Linienzug-Beispiel verdeutlichen. Auch das Linienzug-Beispiel beginnt damit, dass es die strukturale Verfasstheit der sinnlichen Wahrnehmung hervorhebt. Das phänomenologisch Erste ist nicht die Erfahrung eines ungeordneten, undifferenzierten Sinnlich-Mannigfaltigen, sondern die eines wie auch immer geordneten Wahrnehmungsganzen oder einer bestimmen Gestalt. Cassirer spricht in diesem Sinne noch einmal davon, dass Wahrnehmungen »rein in ihrer phänomenalen Beschaffenheit, schon von der Ordnung abhängig sind, in der sie stehen . . . « (ebd., 230) und davon, dass eine Wahrnehmung »niemals außerhalb einer bestimmten Form der ›Sicht‹ [steht]« (ebd., 228). Das Neue an dem Beispiel ist, dass es zeigen soll, dass wir in der Wahrnehmung an unterschiedlichen Strukturen orientiert sein können, denn die »Sicht« kann variieren oder, wie Cassirer sagt, »›umschlagen‹« (ebd.). Bevor ich genauer beleuchte, wie Cassirer dieses Umschlagen anhand des Linienzuges diskutiert, will ich kurz begründen, warum ein solches Umschlagen bereits eine Differenzierung von Strukturen in symbolische und nichtsymbolische Praktiken erfordert: Wenn wir gemäß Cassirers Begriff der sinnlichen Wahrnehmung bestimmte Wahrnehmungen nur haben können, sofern diese in einer bestimmten »geistigen Sicht« stehen, sprich: sofern Wahrnehmungen in bestimmter Weise miteinander zusammenhängen oder eine Struktur bilden, dann kann man solche Strukturen in Anlehnung an Searles Begriff konstitutiver Regeln auch konstitutive Strukturen nennen. 21 Sie ermöglichen allererst den Vollzug bestimmter Wahrnehmungspraktiken. Nun behauptet Cassirer, dass unsere WahrVgl. dazu u. a. Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, 58 f. und John R. Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt /M. 1971, 54 f. 21

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nehmung von unterschiedlichen solcher konstitutiven Strukturen geprägt sein kann. Wenn ich ihn richtig verstehe, hebt er damit aber nicht darauf ab, dass in phylogenetischer oder kulturgeschichtlicher Perspektive solch ein »Strukturwandel« beobachtet werden kann, sondern dass er sich innerhalb der Perspektive der wahrnehmenden und handelnden Subjekte auf ihr Wahrnehmen und Handeln selbst vollzieht oder ereignet, eben als ein »Umschlagen« ihrer Sicht auf die Dinge. Solch ein Umschlagen – oder, wie man im Anschluss an Wittgenstein vielleicht auch sagen könnte: Aspektwechsel – in der Wahrnehmung ist eine Erfahrung, die wir selbst machen. Ein Umschlagen der Sicht als ein Umschlagen von dieser in jene strukturale Orientierung aber ist nur für Wesen erfahrbar, die sich in irgendeiner Weise ihr praktisches oder wahrnehmendes Orientiert-Sein an Strukturen vor sich bringen können. Anders gesagt: Könnten wir die Strukturen, an denen wir orientiert sind, nicht in ihrer strukturalen Spezifik thematisieren, blieben wir stets distanzlos auf den Vollzug eines Tuns festgelegt, von dem sich, wie ich oben ausgeführt habe, eben gar nicht sagen lässt, dass es an Strukturen als Strukturen orientiert ist. Ein Umschlagen der Sicht wäre für uns nicht erfahrbar, weil unsere Wahrnehmung der Welt genau genommen sichtlos wäre. Ein symbolisch unartikuliertes Tun ist aus der Perspektive des Vollzugs dieses Tuns stets ein kontinuierliches Fortsetzen des immer selben Tuns. Thematisierungen von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken können nun aber durch symbolische Praktiken geleistet werden. Sofern sie eine Thematisierung von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken leisten, müssen sie sich von den thematisierten Praktiken unterscheiden lassen. Die Strukturen, in denen ich mich orientiere, wenn ich sage, was ich tue, können nicht die Strukturen sein, in denen ich mich als praktisch tätiger orientiere, auch wenn die sprachlichen Strukturen entlang der Strukturen entwickelt werden, die in praktischen Tätigkeiten zum Tragen kommen. 22 In diesem Sinne impliziert meines Erachtens die Rede von einem Umschlagen der Sicht oder von einem Wechsel der strukturalen Orientierung eine Differenzierung von Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken. Cassirer verfehlt diese Implikation, was auch damit zu tun hat, wie ich gleich zeigen werde, dass er das Linienzug-Beispiel, an dem er dieses Umschlagen diskutiert, doppeldeutig gebraucht. Dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass Thematisierungen von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken selbst genuin praktisch sind derart, dass sie die Verfasstheit der jeweils thematisierten Praktiken tangieren. Diese »Unschärferelation« ist eine Konsequenz des ko-konstitutiven Zusammenhangs von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken. Insofern lassen sich Thematisierungen nicht als bloße Explikationen von Strukturen in nichtsymbolischen Praktiken begreifen. 22

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3.1.2 Zwei Linienzüge Das Beispiel handelt, wie Cassirer schreibt, von dem »optische[n] Gebilde« eines »einfachen Linienzug[es]« (PhsFIII, 228). Bei der erstmaligen Diskussion dieses Beispiels (während eines Vortrages auf einem Ästhetik-Kongress 1927) ist dagegen noch explizit von der »Zeichnung« 23 eines solchen Linienzuges die Rede. Ich werde auf den Unterschied, den das macht, gleich zu sprechen kommen. »Diese Linie wird nacheinander«, so erläutert Kreis das Beispiel, »mit verschiedenen Bedeutungen verknüpft, die aus dem Repertoire der verschiedenen symbolischen Formen stammen. Verknüpft man mit der Linie einen künstlerischen Sinn, dann nimmt man sie als ästhetisches Ornament war. Setzt man die Linie in den Bedeutungskontext eines sich offenbarenden Heiligen, dann nimmt man sie als mythisches oder religiöses Zeichen wahr. Denkt man sich die Linie schließlich im Koordinatennetz eines Diagramms, dann wird sie zum Graphen einer mathematischen Funktion [. . . ].« 24

Je nachdem, mit »welchen Bedeutungen ich sie [die Linie, CK] verknüpfe« 25, bin ich für andere Gestalteigenschaften der Linie aufmerksam oder treten mir andere ihrer sinnlichen Eigenschaften in den Blick: »Ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte und Weichheit«, so wieder der Wortlaut der PhsF, springen mitunter demjenigen ins Auge, der die Linie ästhetisch betrachtet, während ihre »Relationen und Proportionen«, z. B. das Verhältnis der Oben-UntenAusschläge und die Länge der Intervalle zwischen diesen Ausschlägen zu einer gedachten Abszissen- und Ordinatenachse denjenigen interessieren, der sie als Linie z. B. auf einem Seismographen betrachtet. »Farben, Helligkeitswerte« der Linie hingegen, sind für ihn dann »wie aus dem geistigen Blickfeld verschwunden« (ebd., 229). Die Problematik des Linienzug-Beispiels, die mich interessiert, tritt in dem Moment hervor, als Cassirer die geometrisch-mathematische Perspektivierung des Linienzugs genauer diskutiert. Genau hier zeigt sich, dass er in sachlich unzulässiger Weise Differenzen zwischen dem optischen Phänomen des Linienzugs und der symbolischen, hier: der begrifflich-mathematischen Bestimmung derjenigen geometrischen Verhältnisse, die die Vgl. Cassirer: Das Symbolproblem (Anm. 15), 97. Kreis: Cassirer (Anm. 18), 410. 25 Ich gehe auf das Problematische dieser Redeweise von einem Verknüpfen eines sinnlichen Phänomens mit einer Bedeutung hier nicht noch einmal genauer ein, vgl. dazu oben, Abschnitt 2.1.2. 23

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Linie in diesem Falle darstellen soll, kassiert. Cassirer behauptet nämlich, dass der »Linienzug [. . . ] sobald wir [ihn] als mathematisches Gebilde, als geometrische Figur verstehen [. . . ] zum bloßen Schema [. . . ] für eine allgemeine geometrische Gesetzlichkeit« würde, deren »Gehalt für uns zuletzt in ihrer analytischen Formel aufgeht; sie [die Linie, CK] ist nur noch die Hülle, in die sich ein an und für sich unanschaulicher mathematischer Gedanke kleidet.« (ebd.; kursiv, CK)

Doch diese Erläuterung ist offenkundig widersprüchlich: Die Linie soll zum einen anschauliche graphische Darstellung sein, zum anderen soll ihr Gehalt in dem Gehalt eines unanschaulichen Gedankens aufgehen. Cassirer unterschlägt mit der letzten Behauptung, dass der Linienzug, wie er ja selber sagt, ein »optisches Gebilde« ist. Auch als »graphische Darstellung für eine trigonometrische Funktion« (ebd.) ist und bleibt die Linie stets ein solches optisches Gebilde. Was sollte sie auch sonst sein? Und als Darstellung dieser und nicht jener Funktion, kann ihr Gehalt auch nicht unanschaulich sein. Eine gerade Linie ist nämlich gerade keine Darstellung einer trigonometrischen Funktion. Darstellungen verschiedener Funktionen müssen verschieden dargestellt werden. Der Linienzug als Linienzug hat eine irreduzibel sinnliche Gestalt, mag sie in geometrischer Betrachtung auch noch so arm an relevanten Details sein. Als sinnliche Gestalt ist sie mit anderen Worten – Cassirer liefert selbst das Stichwort der Gestaltpsychologie – wesentlich »Figur«, die sich von einem Hintergrund abhebt und dadurch erst optische Bestimmtheit gewinnt. Eine weiße Linie auf weißem Grund ist keine. Dass die Differenzen zwischen den visuellen oder optischen Strukturen (Figur-Hintergrund-Differenzen etc.), an denen wir in der Wahrnehmung einer graphischen Darstellung orientiert sind, einerseits und den Strukturen einer begrifflich-mathematischen Artikulation derjenigen Strukturverhältnisse, die wiederum die Betrachtung einer Linie orientieren können, andererseits irreduzibel sind, zeigt sich daran, dass man knapp gesagt mit graphischen Darstellungen nicht rechnen kann. Ich kann einen mathematischen Funktionsausdruck F(x2 –4x) nicht einfach durch die Zeichnung derjenigen Parabel ersetzen, die den Werteverlauf, den die Funktion vorschreibt, graphisch darstellt. Inwiefern etwa soll ich in den Graphen an der Argumentstelle x verschiedene Werte einsetzen; wie diesen Graphen in mathematisch bestimmter Weise mit anderen Funktionsausdrücken verbinden? Der Graph hat weder Variablenpositionen, noch gibt es in der Mathematik eine Art Ableitungsverfahren von visuellen Darstellungen auf mathematische Funktionsausdrücke. Einen parabelför-

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migen Linienzug betrachten (und von ihm gegebenenfalls Werte ablesen) ist einfach nicht dasselbe, wie eine Rechenoperation ausführen. Nun scheint dieser Einwand aber zunächst nicht viel mehr zu begründen, als bloß die Forderung nach medialen Differenzierungen oder die Forderung nach einer Unterscheidung verschiedener symbolischer Praktiken. Wer mit Zahlzeichen rechnet, macht eben etwas anderes als derjenige, der Bildzeichen betrachtet oder derjenige, der ein Musikzeichen hört. Eine Begründung der Differenzforderung, wie sie das Artikulationsmodell impliziert, d. h., eine Differenzierung zwischen nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken ist damit noch nicht geleistet. An dieser Stelle möchte ich auf die zwei Versionen des LinienzugBeispiels zurückkommen, die ich oben erwähnte: In der früheren Version spricht Cassirer ausdrücklich von der Zeichnung eines Linienzugs. In der späteren Version fehlt dieser Hinweis und es ist einfach nur noch von einem optischen Gebilde die Rede. Man sieht sofort, dass der Begriff des optischen Gebildes oder Phänomens allgemeiner ist, denn sowohl Zeichnungen als nicht gezeichnete sichtbare Phänomene, wie etwa ein Regenbogen oder die Maserung einer Marmorplatte fallen darunter. Meine These ist: Der Bezug auf den Zeichnungscharakter oder den Zeichenstatus der Linie ist zwar dem Wortlaut nach aus der späteren Version des Linienzug-Beispiels getilgt. Der Sache nach wirkt dieser Bezug aber subkutan fort. Damit wiederholt sich dieselbe Indifferenz im Begriff des Symbolischen, wie ich sie oben bereits diskutiert habe (s. o., Abschnitt 2.3.1). Indem Cassirer im Kontext der Diskussion des Begriffs der symbolischen Prägnanz, der ein Begriff einer nichtsymbolischen Praxis (in Cassirers Begriffen, der Begriff einer an einer »natürlichen Symbolik« orientierten Praxis) ist 26, wieder auf das Linienbeispiel zurückgreift, das in der ersten Fassung gerade das Beispiel einer an einer »künstlichen Symbolik« orientierten Praxis oder kurz einer symbolischen Praxis ist, entsteht eine begriffliche Spannung, die letztlich zu einer Entdifferenzierung von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken führt. Die zwei Linienzüge, die es eigentlich zu unterscheiden gilt, werden unter der Hand zu einem. Das wird besonders deutlich an Kreis' Überlegungen im Anschluss an das Linienzug-Beispiel. In konsequenter Zuspitzung der Ambivalenz des Wäre ein Begriff unserer sinnlichen Wahrnehmung nicht das Ziel von Cassirers Ausführungen zum Begriff der symbolischen Prägnanz, hätte sich auch Schwemmer massiv verlesen, der im Begriff dieser symbolisch prägnanten Wahrnehmung das Fundament für die Entwicklung »künstlicher Zeichen« sieht. Obwohl ich die Idee einer solchen Fundierung nicht teile, teile ich doch die Auffassung, dass es Cassirer im Abschnitt zur symbolischen Prägnanz um etwas anderes als bloß um eine Praxis des Gebrauchs von Zeichen geht. 26

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Linienzug-Beispiels legt Kreis den Schluss nahe, dass symbolisch prägnante Wahrnehmung nichts anderes ist als die Wahrnehmung symbolischer Verhältnisse. Oder: Eine Differenz zwischen der sinnlichen Wahrnehmung von Zeichengegenständen und sonstigen nichtzeichenartigen Gegenständen wird eingezogen, da die sinnliche Wahrnehmung als symbolisch geformte Wahrnehmung erläutert wird und wiederum der Begriff der symbolischen Formung der Wahrnehmung in Begriffen der symbolischen Formen oder Strukturen der Sprache, der Mathematik etc. erläutert wird. Kreis schreibt zunächst in Bezug auf das Linienzug-Beispiel: »Der Kunstbetrachter kann Unregelmäßigkeiten in der Tintenverteilung oder in der Farbgebung sehen, auf die der Mathematiker nicht achtet. Der Mathematiker sieht Verläufe von Punkten mit bestimmten Koordinaten; der Kunstbetrachter sieht Verdickungen und Verdünnungen der Linie und sogar die Feinheit oder Grobkörnigkeit des Papiers.« 27

Die Ausdrücke »Kunstbetrachter« und »Mathematiker« zeigen es an: Kreis legt seinen Ausführungen die erste Version des Beispiels zugrunde, denn der Kunstbetrachter ist z. B. eben derjenige, der ein Kunstwerk und damit einen Zeichengegenstand betrachtet. Kreis macht keine Anstalten, darauf zu reflektieren, dass der Kunstbetrachter auch andere Dinge als Kunstwerke betrachten wird, z. B. die Schuhe, die er schnürt, oder die Winterlandschaft, in der er spazieren geht. Vielmehr generalisiert er das Beispiel und behauptet 28: »Sichtbar [. . . ] kann mir also stets nur etwas durch die Vermittlung einer symbolischen Form sein. Außerhalb jeglicher symbolischen Form [. . . ] kann [ich] überhaupt nichts sehen.« Dass jede Wahrnehmungspraxis »in einer geistigen Sicht steht«, oder wie ich sagen würde, an Strukturen als Strukturen orientiert ist, bedeutet für Kreis, dass jede Wahrnehmungspraxis entweder mathematisch, sprachlich oder sonst wie symbolisch strukturiert ist, denn der Begriff dieser symbolischen Strukturen ist ja der einzige strukturale Begriffe, den er zur Verfügung hat. 29 Der Umgang mit ästhetischen, mathematischen, begrifflichen Zeichengegenständen wird vom Umgang mit sonstigen nicht-zeichenartigen Gegenständen nicht mehr unterschieden, da die Bestimmtheit sinnlicher Wahrnehmungen unter Rekurs auf dieselben Strukturbegriffe erläutert Kreis: Cassirer (Anm. 18), 413. Ebd., 413 f. 29 In einem vergleichbaren Sinne liest Björn Kralemann Cassirers Begriffstheorie: »Die Realität ist für Cassirer ein Bestand von phänomenal gegenwärtigen Symbolen«, vgl. ders.: Die Begriffstheorie Ernst Cassirers. Zur Konstitution bedeutungsvoller Realität, Kiel 2000, 116. 27

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wird, die auch die Bestimmtheit symbolischer Ausdrücke oder von Zeichen erklären sollen. Die fehlende Differenzierung von mathematischbegrifflichen Artikulationen geometrischer Verhältnisse und den Verhältnissen, die die sinnliche Wahrnehmung einer graphischen Darstellung dieser Verhältnisse orientieren, wie ich sie oben kritisierte, kehrt so gesehen in generalisierter Form als fehlende Differenzierung von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken wieder. Doch so wenig wie die Betrachtung eines Graphen eine mathematische Operation ist, so wenig ist die Betrachtung ästhetischer Qualitäten von Gegenständen schon Kunstwahrnehmung. Wer in den Schlaggeräuschen, die die Knöpfe der Jeans verursachen, die an das Metall der Waschtrommel schlagen, rhythmische Abfolgen zu hören vermag, der wohnt deswegen noch lange keiner Percussion-Aufführung bei. Und wer einen Kuchen gerecht in gleich große Stücke aufteilt, vollzieht deshalb noch lange keine Bruchrechnung. Es ist gerade nicht so, dass der »geistige Blickpunkt schon den Wahrnehmungsbestand als solchen bestimmte« 30. Wer die Differenzen zwischen Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken begrifflich nicht einzuholen vermag, verpasst letztlich auch die Produktivität symbolischer Medien und Praktiken, die sich ja nicht (im Sinne des transformativen Verhältnisses von nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken) darin erschöpft, die Schwelle von der Natur zu Kultur zu begründen, sondern die auch darin besteht, innerhalb des einmal eröffneten kulturellen Horizontes immer neue Artikulationen bereitzustellen, und so zu einer fortlaufenden Weiterentwicklung des menschlichen Standes in der Welt beizutragen. 31 Erst wenn der Kunstbetrachter, um einmal bei diesem zu bleiben, nicht überall (in pathologisch zu nennender Weise) nur Kunst sieht, kann die Kunst diejenige produktive Kraft entfalten, die ihr u. a. Goodman treffend zuschreibt (wobei er selbst mit einer Entdifferenzierung von Strukturen in symbolische und nichtsymbolische Praktiken spielt). Er schreibt 32: »Wenn wir eine Stunde in einer Ausstellung abstrakter Gemälde verbracht haben, Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, ECN I, 48 f. Diese, vorsichtig formuliert, zwei Dimensionen der Produktivität symbolischer Medien und Praktiken bedürfen einer genaueren Untersuchung, als dies hier möglich ist. Dass nämlich, wie Cassirer schreibt, durch die Einführungen in symbolische Praktiken oder den Erwerb symbolischer Kompetenzen »eine intellektuelle Revolution statt[findet]«, und in ontogenetischer Perspektive »[e]in neuer Horizont [sich] öffnet und [das Kind] von nun an in diesem unvergleichlich ausgedehnteren und freieren Gebiet [der Kulturwelt, CK] herumstreifen [wird]« (VM, 62) ist das Eine; die alltäglichen kleinen Revolutionen, die Erweiterungen des Wortschatzes, der körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten etc. das Andere. 32 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt /M. 1990, 130. 30

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neigt alles dazu, sich in geometrische Flächen aufzuteilen, in Kreisen zu rotieren, sich zu Texturarabesken zu verweben, sich zu einem SchwarzWeiß zuzuspitzen oder in neuen Farbkonsonanzen und -dissonanzen zu vibrieren.« D. h., wenn wir aus der Galerie auf die Straße hinaustreten, beginnen die Häuserfronten und spitzzulaufenden Dächer, die quer durch das Blickfeld ragenden Stromleitungen womöglich in auffälliger Weise ineinander zu ragen, in ihrer Flächigkeit und geometrischen Geformtheit, kurz: in ihrer bloßen visuellen Konfiguration und Gestalt als solche hervorzutreten. Goodman spricht weiter davon, dass Kunstwerke »unsere eingefahrenen Welten transformieren«, von der »Reorganisation unserer gewohnten Welt«, oder davon, »dass Musik [. . . ] auf die Sphäre des Hörbaren ein[wirkt], . . . « 33 Entgegen der forcierten Rhetorik Goodmans kann man das so verstehen, dass wir eben in Auseinandersetzung mit symbolischen Medien unsere Wahrnehmungsfähigkeiten derart weiterentwickeln, dass wir Gegenstände und Sachverhalte der Welt im Lichte neuer Strukturen wahrzunehmen vermögen, dass wir eine Sensibilität für ebenjene Zusammenhänge in der Welt entwickeln, die auf Gemälden, in sprachlichen Formulierungen, in dramatischen Handlungen, in musikalischen Figuren eine symbolische Artikulation gefunden haben – ohne dass aber dadurch die Welt selbst zum abstrakten Gemälde oder der Gesang der Vögel zur Arie würde. Ohne eine begriffliche Differenzierung zwischen Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken wäre überhaupt nicht einzusehen, wie wir anhand einer Auseinandersetzung mit symbolischen Medien neue »Sichtweisen« auf die Welt gewinnen könnten, weil wir dazu verdammt wären, unablässig oder stets schon in Symbolwelten zu wandeln. 3.2 Dynamik Die Differenzforderung steht in engem Zusammenhang mit einer weiteren Problemstellung, der sich das Artikulationsmodell gegenübersieht: der Frage, wie die Dynamik der Strukturen in nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken erläutert werden kann. Als Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts, des »Zeitalter[s] des Historismus und des historischen Selbstbewusstseins« 34, ist sich auch Cassirer der Veränderlichkeit symbolischer Medien und Praktiken nur allzu bewusst. So spricht er, wie ich Ebd., 130 f. P. M. S. Hacker: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie, Frankfurt / M. 1997, 7. 33

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oben bereits zitierte, mit Blick auf den »Prozeß des Sprechens« von einer »niemals abbrechenden Arbeit der Determination« (PhsFIII, 386) und genereller davon, dass die »Werke des Menschen [. . . ] im geistigen Sinne dem Wandel und dem Verfall ausgesetzt« (VM, 282) sind. 35 Es besteht kein Zweifel daran, dass symbolische Praktiken in kulturgeschichtlicher wie in individualgeschichtlicher Hinsicht in steter Entwicklung begriffen sind: Kein Regisseur etwa wird heute eine Verfolgungssequenz noch so inszenieren wie einst Peter Yates in Bullit die rasante Fahrt von Steve McQueen durch San Francisco. Was 1968 aufregend war, würde heute antiquiert wirken; bestenfalls als ein ironischer Kommentar aufgenommen, auf den nicht mehr steigerungsfähigen Beschleunigungsrausch dieses filmischen Topos. Ebenso wenig artikuliert sich jemand, der ins Rentenalter eintritt, sprachlich noch in derselben Weise, wie als Grundschulkind. Unzählige Gespräche, Lektüren, Streits, linguistische Moden, Erlebnisse, Reisen etc. haben ihre Spuren hinterlassen. Grundsätzlicher noch: Sprache muss, wie alle anderen medialen Kompetenzen, überhaupt erst erworben werden. Analoges lässt sich für nichtsymbolische Praktiken sagen: Niemand wird als Fußballer geboren oder kann von Natur aus, ohne Einweisung und Übung, einen Stuhl schreinern. Doch auch auf dem Boden dieser einmal erworbenen Fähigkeiten bleibt kaum etwas beim Alten: So wurde etwa die einst verbreitete Schersprungtechnik im Hochsprung innerhalb weniger Jahrzehnte, zunächst vom Straddle, bei dem die Latte bäuchlings überquert wird, schließlich beinahe überall vom sogenannten Fursbury-Flop verdrängt. Und wie ließen sich die Reifungsprozesse in Bezug auf unsere Affektkontrolle leugnen oder übersehen, wie Teenager in die Beziehung zur ersten großen Liebe emotional anders involviert sind als Erwachsene beim dritten Anlauf nach der zweiten Scheidung? Lern- und Reifeprozesse, Transformationen und Innovationen sind ein Kennzeichen der symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken, wie wir sie vollziehen. In erneuter Auseinandersetzung mit einigen Details von Bertrams sprachphilosophischen Überlegungen will ich deutlich machen, dass die Differenzierung von nichtsymbolischen und symbolischen Praktiken im Rahmen des Artikulationsmodells zwar einen wichtigen Schritt in der Erläuterung dieser Dynamiken darstellt (wobei ich mich wie gesagt auf die Dynamik symbolischer Praktiken beschränke), dass aber diese Differenzierung zugleich nicht hinreicht, um diese Dynamik als eine verständlich Christoph Demmerling votiert, was die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke angeht, in diesem Sinne ganz ähnlich gegen ein »Vorhandenheitsmodell« und für ein hermeneutisches »Bewegtheitsmodell des Sinns«, vgl. ders.: Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002, 204 ff. 35

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zu machen, die auch von der Welt angestoßen werden kann. 36 Dennoch ist es hilfreich, noch einmal bei dieser Differenzierung anzusetzen: Bertram hebt mit Blick auf das Verhältnis von sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken ausdrücklich hervor, dass die Strukturen in diesen Praktiken nicht »homolog« 37 sind. Die ko-konstituierten Strukturen müssen vielmehr als wesentlich »heteromorph« oder »eigenartig« 38 begriffen werden. Das lässt sich theoretisch dadurch bewerkstelligen, dass man die Erläuterung der jeweiligen Strukturen (natürlich nur dort, wo es die Sache rechtfertigt) in unterschiedlichen Begriffen anlegt, von denen wiederum gilt, dass sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Ich habe oben angedeutet, wie z. B. zwischen mathematisch-begrifflichen Strukturen und visuellen Figur-Hintergrund-Beziehungen oder zwischen Strukturen, die in logischen Schlussverfahren zum Tragen kommen, und solchen, die Abfolgen praktischer Tätigkeiten orientieren, solche irreduziblen Differenzen ausgemacht werden können. Wie genau tragen solche Differenzierungen nun aber zur Erläuterung der Dynamik symbolischer Praktiken bei? Bertram macht folgende für diese Frage relevante Implikationen der Differenzierung deutlich: Wenn zwei ko-konstituierte Strukturen heteromorph sind, dann korrelieren diese Strukturen zum einen nicht-strikt oder locker und zum anderen »weiträumig« 39. Die Lockerheit lässt sich gut in Abgrenzung zur Striktheit der Korrelation erläutern. Eine strikte Korrelation beschreibt Bertram mit dem Bild des »Verschweißtseins« 40 von Elementen dieser Strukturen. Jedem Element einer Struktur S1 ist dann stets genau ein Element einer Struktur S2 zugeordnet. Die Beziehungen etwa zwischen Farbbegriffen müsste dann so begriffen werden, dass ihr »dieselben« Beziehungen in der visuellen Wahrnehmung farbiger Gegenstände korrelieren. Doch aufgrund der begrifflichen Differenzierung zwischen z. B. logisch-begrifflichen Strukturen und solchen farblicher Kontrastierung ist überhaupt nicht verständlich zu machen, was die Rede von »denselben« Beziehungen eigentlich besagen soll. Die Art und Weise, wie der Begriff der »Röte« logisch unterscheidend auf den Begriff des »Grünen« bezogen wird, ist einfach nicht von derselben Ich will noch einmal betonen, dass meine Ausführungen die fraglichen Dynamiken nicht erklären wollen. Alles, was ich zeigen will, ist, wie das Artikulationsmodell ausbuchstabiert werden muss, damit es sich der Erklärung einer von der Welt angestoßenen Dynamik symbolischer Praktiken nicht versperrt. 37 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 188. 38 Ebd., 26. 39 Ebd., 191; kursiv, CK. 40 Ebd. 36

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»Machart«, wie die Art und Weise, wie sich rote von grünen Flächen in unserem Sichtfeld abheben. Das zeigt sich daran, dass ein Zusammenspiel begrifflicher Praktiken und wahrnehmungsgeleiteter praktischer Tätigkeiten typischerweise vor Problemen wie dem folgenden stehen kann: Das Bemühen darum, z. B. der Aufforderung Folge zu leisten, nur die roten Kirschen zu pflücken, scheitert nicht selten daran, dass die sich im Medium der sinnlichen Wahrnehmung vollziehende Praxis des Kirschenpflückens immer wieder mit Kirschen konfrontiert sieht, von denen nicht klar entscheidbar ist, ob sie nun unter die roten Kirschen fallen oder unter die unreifen, grünen. Auch wenn die begrifflichen Zusammenhänge zwischen den Begriffen der Röte, des Grünen, der Reife, der Kirsche etc. sich klar angeben lassen; auf eine Nachfrage des ratlosen Erntehelfers hin, diesem also z. B. deutlich gemacht werden könnte, er solle auch die »halbreifen Kirschen« pflücken, wobei halbrot meint, »mindestens zu 50 Prozent rot«, bleiben die Probleme bestehen. Denn natürlich weist die wahrnehmbare Welt ebenso wenig Klassen von nach bestimmten Eigenschaften exakt halbierten Gegenständen auf, wie sie strikte Differenzen zwischen bestimmten Farbwerten kennt. Wären die Strukturen in begrifflichen Praktiken und die in Wahrnehmungspraktiken isomorph, sollten solche Probleme ausgeschlossen sein, denn dann würde ich mich ja sehend entlang »derselben« Unterschiede bewegen, die ich auch begrifflich zu bestimmen vermag. 41 Begreift man die Strukturen aufgrund ihrer begrifflichen Differenzen aber als zwangsläufig heteromorph, erscheinen solche »Übersetzungsprobleme« dagegen eher als Normalfall. Man kann also sagen, dass es zwischen den ko-konstituierten Strukturen immer eine Art von »Versatz« gibt, ein prinzipiell nicht zur Deckung zu bringendes »Überlappen«, das aus deren kategorialer Differenz herrührt. Dieser Versatz lässt sich nur zum Preis der Entdifferenzierung beider Strukturen aufheben. Die angedeuteten Missverständnisse, Abweichungen, Irritationen, Unschärfen im Vollzug welcher Vollzüge der menschlichen Lebensform auch immer, lässt sich so als Folge der lockeren Korrelation ko-konstituierter Strukturen begreifen. Die Weiträumigkeit der Korrelation lässt sich wiederum als Implikation der lockeren Korrelation erläutern: Wenn nämlich zwei Strukturen Auf einer solchen Idee des Verschweißtseins der Strukturen scheint mir auch Benjamin Whorfs Idee eines sogenannten »linguistische[n] Relativitätsprinzip« zu gründen, wonach »Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen [. . . ] geführt [werden]«, vgl. Benjamin Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek 1963, 20. 41

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nicht fest miteinander verschweißt sind oder nicht strikt korrelieren, dann können Beziehungen und Elemente der einen Struktur mit Beziehungen und Elementen vieler verschiedener Strukturen ko-konstituiert sein. Ko-Konstitutionskorrelationen sind anders gesagt nicht-exklusiv. Die sprachliche Unterscheidung zwischen dem Ausdruck ›grün‹ und dem Ausdruck ›braun‹ kann dann sowohl mit einer Praxis ko-konstituiert sein, in der es darum geht, Kühe auf grünen, aber nicht auf braunen Wiesen weiden zu lassen, als auch mit einer Praxis, in der es darum geht, braune und grüne Fäden zu einem bestimmen Stoff zu verweben, oder grünlichen und bräunlichen Hauttypen mit jeweils unterschiedlichen Kosmetika zu Leibe zu rücken etc. Kurz: »Wer Praktiken der Verbindung sprachlicher Farbausdrücke beherrscht, bewegt sich in einem komplexen Geflecht von Praktiken in der nichtsprachlichen Welt.« 42 Bertram scheint nun in diesen Erläuterungen zur Lockerheit und Weiträumigkeit der Korrelation bereits eine Begründung dafür zu erblicken, dass es zu der fraglichen Dynamik symbolischer Strukturen kommen kann. Am Ende der Passage, in der er diese Erläuterungen vornimmt, heißt es nämlich: »So sind die Beziehungen der Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken in dynamischer Weise mit Strukturen im Verstehen [lies: Strukturen in sprachlichen Praktiken, CK] korreliert (was der Sprache zugleich auch partiell erlaubt, sich von der Welt zu entfernen; . . . ).« 43 Doch genau besehen ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht mehr gegeben worden, als nur eine Begründung dafür, warum die Korrelation der ko-konstituierten Strukturen eben locker und weiträumig ist. Inwiefern dies aber eine Dynamik des Zusammenhangs der Strukturen in Gang setzt, ist damit noch nicht gesagt. Hinzu kommt, dass mit dem Ausdruck ›Dynamik‹ genau besehen zwei Dynamiken bezeichnet werden: Denn zum einen scheint es Bertram um so etwas wie eine »Binnendynamik« sprachlicher Praktiken zu gehen, die in dem Maße denkbar wird, wie sich Sprache von der Welt zu entfernen vermag. Zum anderen scheint es ihm um eine Dynamik der Beziehungen zwischen Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken zu gehen. In diesem Sinne spricht er von einer »dynamischen Beziehungen-Beziehungen-Korrelation« 44. Beide Dynamiken hängen natürlich zusammen: Aufgrund der lockeren und weiträumigen Korrelation der Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken haben Veränderungen der einen Struktur 42 43 44

Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 191. Ebd., 191. Ebd., 189.

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oder Praxis nicht »eins zu eins Auswirkungen« 45 auf die jeweils korrelierte Struktur oder Praxis. Ko-konstituierte Strukturen entwickeln sich nicht unisono. Sie rücken nicht wie zwei Läufer beim Dreibeinlauf stets gemeinsam auf dem Weg der Entwicklung vorwärts. Es kann zu bereichsbezogenen und zeitlichen Verwerfungen kommen. Aus der relativen oder partiellen Entkoppelung der ko-konstituierten Strukturen folgt, dass diese sich prinzipiell unabhängig voneinander entwickeln können, dass sie eine echte Binnendynamik entfalten, auch wenn damit noch nicht gesagt ist, was diese Binnendynamik in Gang setzt. Der modebewusste Viehwirt etwa entwickelt so seine begrifflichen Unterscheidungen in Bezug auf Farben im saisonalen Rhythmus neu erscheinender Kollektionen weiter, doch in Bezug auf seinen Umgang mit Kühen und Weideflächen bleibt alles beim Alten. Und nur dadurch, dass sie solche echten Binnendynamiken entfalten – echt sind sie eben in dem Sinne, dass sie nicht automatisch eine entsprechende Dynamik der jeweils korrelierten Praktiken implizieren – wird verständlich, wie die Korrelation der Strukturen selbst dynamisch sein kann. Erst wenn die Entwicklungen der jeweils kokonstituierten Strukturen nämlich unabhängig voneinander und damit auch unterschiedlich ausfallen können, entsteht ein Potential zu wechselseitigen Anstößen dieser Strukturen. Erst Differenzen erzeugen die nötige Reibung. Bleibt die Frage, wie sich die Binnendynamiken begreifen lassen. Bisher ist ja begrifflich sozusagen nur »Raum« für eine von Differenzen geprägte dynamische Korrelation von Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken geschaffen worden. Der Fortgang von Bertrams Überlegungen in Die Sprache und das Ganze lassen sich so verstehen, dass er Fragen einer solchen Binnendynamik für sprachliche Praktiken zu klären versucht. Darin werde ich ihm noch ein kleines Stück weit folgen. Allerdings mit dem »häretischen« Ziel, deutlich zu machen, dass eben diese Überlegungen zum einen den Argwohn wecken, hier werde die Dynamik der Korrelation von nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken, respektive der Strukturen in diesen Praktiken einseitig erläutert derart, dass diese Dynamik nur von der Sprache angestoßen werden kann. Was zum anderen die Frage aufwirft, wie eine Erläuterung aussehen müsste, die ein entsprechendes Potential auch nichtsprachlichen Praktiken (und von diesen her der Welt) zuschreiben kann. Es wird sich zeigen, dass eine Theorie, die sich auf Fragen des Zusammenhangs von nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken beschränkt, hier an ihre Grenzen kommt – aber alles der Reihe nach. 45

Ebd., 191.

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3.2.1 Wie die Sprache sich von der Welt löst . . . Die Differenzierung der Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken scheint eine Kehrseite zu besitzen. Dem positiven Ertrag der Differenzierung, der darin besteht, dass sie konzeptionell Platz schafft für die wechselseitige Emanzipation der Entwicklung der Strukturen in den jeweils ko-konstituierten Praktiken, steht der Verdacht gegenüber, dass eben dadurch der Kerngedanke der Ko-Konstitution untergraben wird. Das lässt sich anhand von Bertrams Überlegungen zur Entwicklung sprachlicher Praktiken verdeutlichen. Bertram behauptet, wie bereits erwähnt, dass die Sprache sich »partiell« von der Welt »zu entfernen« vermag. Dies geschieht im Zuge diverser Formen ihres selbstbezüglichen, aber auch ihres fiktionalen Gebrauchs: »Mit Sprache lassen sich eine Menge Dinge machen, die nichts (sic!) mit der Beschaffenheit der Welt zu tun haben.« 46 Diese Behauptung scheint an die Grundfesten des Artikulationsmodells zu rühren, denn unverzüglich stellt sich die Frage, wie denn die sprachlichen Strukturen, die sich in solchen sprachlichen Praktiken ergeben, als bestimmt gedacht werden können. Wie können vor dem Hintergrund des Gedankens einer wesentlichen Ko-Konstitution von Strukturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken, sprachliche Strukturen je nichts mit den Beschaffenheiten der Welt zu tun haben? Wie sollten die Gehalte der sprachlichen Ausdrücke, die sich im Zuge solcher Strukturierungen ergeben, überhaupt noch als von Grund auf welthaltig verstehen lassen? Um es in einem Bild darzustellen: Befinden sich sprachliche Beziehungen, die mit keinen Beziehungen von Gegenständen und Sachverhalten in der Welt, wie sie in nichtsprachlichen Praktiken zum Tragen kommen, zusammenhängen, nicht in derselben prekären Lage, wie jene allseits bekannten Comicfiguren, die über den Abgrund hinausgelaufen sind? Droht auch dem Begriff solcher sprachlichen Praktiken, was den Comicfiguren droht: dass sie, sobald sie sich über ihre Lage klar werden, abstürzen? Die Pointe der Ko-Konstitution bestand ja gerade darin, dass die Bestimmtheit sprachlicher Strukturen sich nur unter Rekurs auf deEbd., 229. So pauschal wie die Formulierung ist das von Bertram ganz sicher nicht gemeint. Denn natürlich hat auch Fiktion verdammt viel mit der Welt zu tun. Wer daran zweifelt, braucht sich nur anschauen, wie etwa Thomas Piketty in: Das Kapital im 21. Jahrhundert immer wieder die Romane Honoré de Balzacs zur Erläuterung seiner Berechnungen heranzieht oder welche Skandale Filme und fiktionale Bühnenhandlungen seit eh und je heraufbeschwört haben, ganz zu schweigen von den wiederkehrenden Versuchen, der »Fiktion« politisch den Mund zu verbieten. 46

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ren Zusammenhang mit nichtsprachlichen Strukturen begreifen lässt und dass aufgrund dieses Zusammenhangs sprachliche Gehalte dem Formalismus entkommen. Und da selbstbezügliche oder fiktionale sprachliche Praktiken ja sicher bestimmte sprachliche Praktiken sind, sollte doch dieser Zusammenhang mit nichtsprachlichen Praktiken und ergo mit der Welt auch für diese Praktiken gelten. Bertram sagt es ja selbst 47: »Da wiederum Strukturen im Verstehen [lies: Strukturen in sprachlichen Praktiken, CK] durch ihren Zusammenhang mit Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken bestimmt sind, impliziert jedes Verstehen grundsätzlich eine Korrelation mit nichtsprachlichen Praktiken.« Dennoch meint er, dass man an einer grundsätzlichen Verbindung festhalten, sie zugleich aber »partiell« lockern oder lokal aufkündigen kann. 48 Bertram sieht sofort, dass dadurch das »Bild von zwei verschiedenen Potentialen [der Sprache, CK] [evoziert]« 49 wird. Etwas polemischer formuliert könnte man sagen, dass damit der Eindruck geweckt wird, es werde konzeptionell eine Unterscheidung wieder eingeführt, wie sie im ersten Kapitel meine Kritik auf sich gezogen hat: nämlich die Unterscheidung zwischen sprachlichen Gehalten, die wesentlich von ihrem Weltbezug her begriffen werden müssen, und solchen, für die das nicht gilt. Sofort würde sich dann aber die Frage stellen, wie diese unterschiedlich konstituierten sprachlichen Gehalte im Rahmen einer sprachlichen Struktur zusammenhängen können. Ich bin nicht sicher, ob Bertram den Eindruck eines Auseinanderklaffens zweier verschiedener sprachlicher Haushalte im Zuge seiner Erläuterung wirksam verscheucht. Er beruft sich dazu jedenfalls erneut auf die dynamische Verknüpfung der Strukturen oder Beziehungen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken: »Die Beziehungen hängen so zusammen, dass die Elemente, die in ihnen stehen, räumlich und zeitlich unabhängig voneinander auftreten. Diese Unabhängigkeit bedeutet, dass Sprache ihre Welthaltigkeit auch bewahrt, wenn weit und breit keine nichtsprachlichen Praktiken samt der sie orientierenden Gegenstände und Sachverhalte in Reichweite sind. Sprache funktioniert [. . . ] immer auch bei Abwesenheit der Sachen, die zur Sprache kommen. Sie verliert damit nichts von ihrer Welthaltigkeit . . . « 50 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 204; kursiv, CK. An dieser Stelle ist vielleicht der sprachlich etwas spitzfindige Hinweis darauf angebracht, dass »sich von der Welt partiell entfernen«, nicht dasselbe besagt, wie »nichts [. . . ] mit der Welt zu tun haben«. Distanzieren heißt nicht Ablösen. 49 Ebd., 229. 50 Ebd. 47 48

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Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht

Das ist sicher richtig. Allein, es löst das Problem nicht, vor dem wir stehen. Denn daraus, dass es keine räumliche und zeitliche Koinzidenz des Gebrauchs oder des Auftretens der Elemente der Strukturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken geben muss – ganz sicher muss niemand aktual mit einem Löffel hantieren, wenn er auf verständliche Weise von Löffeln sprechen oder den Ausdruck ›Löffel‹ gebrauchen will –, folgt ja nicht, dass bestimmte sprachliche Praktiken bestimmt und zugleich mit überhaupt keinen Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken ko-konstituiert sein können. Doch Bertram scheint genau das für die selbstbezüglichen sprachlichen Praktiken zu reklamieren. Eine naheliegende Lösung des Problems bestünde nun darin, dass man noch einmal auf den Gedanken der Weiträumigkeit der Korrelation zurückkommt. Man könnte dann einfach sagen, dass sprachliche Beziehungen sich in dem Sinne von der Welt zu entfernen vermögen, als sie sich zwar nicht in Korrelation mit diesen nichtsprachlichen Praktiken weiterentwickeln, wohl aber in Korrelation mit jenen. »Partiell« hieße dann aber nicht, dass Teile der Sprache überhaupt nicht mit nichtsprachlichen Praktiken ko-konstituiert sind, sondern nur, dass Teile der Sprache mit bestimmten Teilen der nichtsprachlichen Praxis nicht ko-konstituiert sind. Eine Entfernung sprachlicher Praktiken von der Welt wäre dann immer nur relativ zu bestimmten anderen Korrelationen von Sprache und Welt möglich. Die »Nähe« des Zusammenhangs von Strukturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken kann sich dann »hier« bis zur vermeintlichen Ununterscheidbarkeit beider Strukturen steigern – Bertram diskutiert solche Fälle im Anschluss an Merleau-Ponty in Begriffen eines Paradoxes des Ausdrucks 51 – wie umgekehrt, die »Entfernung« des Zusammenhangs »dort« bis zur Unkenntlichkeit. So wie das Paradox des Ausdrucks aus dem Eindruck resultiert, sprachliche Artikulationen seien der Welt derart passend auf den Leib geschneidert, dass man meinen könnte, sprachliche Strukturierungen seien »im Nichtsprachlichen bereits angelegt« 52, zeigen gerade Fälle des Aneinandervorbeiredens, des hartnäckigen Streits etc., dass sprachliche Artikulationen im Nichtsprachlichen nicht angelegt sein können. Sie zeigen dies zuweilen so »gut«, dass deren Zusammenhang überhaupt fraglich werden kann. So wundersam treffsicher, beinahe naturwüchsig aus der Welt herkommend die Sprache zuweilen funktioniert, so unscharf und ungenügend erweist sie sich an anderer Stelle. Dadurch kann der zum Paradox des Ausdrucks gegenteilige Eindruck entstehen, dass sprachliche Beziehungen sich losgelöst 51 52

Vgl. dazu ebd., 203 ff. Ebd., 205.

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von der Welt ausbilden. Je ausdifferenzierter Lebens- und Praxisformen und entsprechende sprachliche Praktiken sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir solche Erfahrungen einer Disparatheit des Ausdrucks, wie man vielleicht sagen könnte, machen. 53 Doch genau besehen entwickeln sich alle sprachlichen Artikulationen nur relativ unabhängig von diesem oder jenem Ausschnitt der Welt oder von diesen oder jenen Praxiszusammenhängen weiter. Oder etwas anders formuliert: Sofern Sprache nur irgendwo eine »Artikulationsfläche« 54 in nichtsprachlichen Praktiken behält, kann sie sich jederzeit und überall (wenn auch nicht überall zugleich) von der Welt entfernen. Doch ich fürchte, das ist nicht das, was Bertram vorschwebt. Er will durchaus auf etwas anderes hinaus. Nämlich darauf, dass die sprachliche Praxis sich in einem echten Sinne für sich weiterentwickelt, d. h. unabhängig von der Welt und unabhängig von nichtsprachlichen Praktiken. Seine Überlegungen zu verschiedenen Formen selbstbezüglicher sprachlicher Praktiken, wie explikative oder grammatische Formen des Sprachgebrauchs, werden von ihm dann auch einer Sphäre der »Selbstgestaltung« 55 des Verstehens oder der Sprache zugerechnet. Und es kommt vielleicht auch nicht von ungefähr, dass er diese Überlegungen so einführt, dass sie den vorangegangenen Überlegungen zur Interdependenz von Medien und Welt, die seiner Auskunft nach geeignet waren, »realistische Intuitionen zufrieden« 56[zustellen], gewissermaßen als Gegengewicht gegenübergestellt werden. Ich möchte allerdings ausdrücklich darauf hinweisen, dass Bertram nun nicht dazu ansetzt, »konstruktivistische Intuitionen« zufriedenzustellen, wenn dies hieße, die Idee zu verfolgen, dass die, noch einmal in dem Comic-Bild gesprochen, über dem Abgrund hängenden sprachlichen Beziehungen nun von oben, von einer geistigen Instanz, nämlich unseren »Intentionen« 57 aufgefangen und bestimmt werden. Vielmehr soll gezeigt werden, dass auch unsere Wünsche, Absichten etc., die wir im Zuge Man könnte zur Erklärungen solcher lokalen Disparitäten zusätzlich darauf zu sprechen kommen, dass der holistische Grundgedanke, dem diese Arbeit verpflichtet ist, einen nicht auf die Behauptung festlegt, dass die Struktur, aus der heraus symbolische und nichtsymbolische Elemente Gehalt oder Bedeutung gewinnen, durchgängig sein muss. Vgl. dazu u. a. die Beiträge in dem Sammelband Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, hg. v. Georg W. Bertram und Japser Liptow, Weilerswist 2002; und insb. den Beitrag von Martin Seel: Für einen Holismus ohne Ganzes, die 30–40. 54 Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 204. 55 Ebd., 214. 56 Ebd., 228. 57 Vgl. dazu ebd., 204 ff. 53

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Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht

des Gebrauchs eines explikativen oder reflexiven Vokabulars artikulieren, nicht unabhängig von ebensolchen besonderen sprachlichen Praktiken gegeben sind. Man kann daher sagen, dass auch intentionale oder geistige Strukturen so begriffen werden, dass sie mit sprachlichen Strukturen kokonstituiert sind. Aufs Ganze betrachtet ergibt sich dadurch eine komplexe Verschränkung von Strukturen in nichtsprachlichen, in sprachlichen und in geistigen Praktiken, die, wenn ich richtig sehe, von Bertram in Die Sprache und das Ganze aber nicht mehr ausbuchstabiert wird. Doch um das Fehlen einer Erläuterung auch dieser Zusammenhänge geht es mir gar nicht. Ich habe Bertrams Überlegungen zu einem Selbstgestaltungspotential der Sprache vor allem deshalb angerissen, weil sie in der Weise, wie sie den Abschluss seiner Überlegungen bilden und wie sie in der grundsätzlichen Stoßrichtung präsentiert werden, die Frage geradezu provozieren, ob es ein komplementäres Potential nichtsprachlicher Praktiken gibt, sich für sich weiterzuentwickeln, d. h., losgelöst von sprachlichen Praktiken. Als Frage formuliert: Kann es sprachlich unartikulierte nichtsprachliche Praktiken geben? Diese Frage ist keine unbedeutende Frage. Sie zielt auf mehr als bloß eine Ergänzung des theoretischen Bildes. Von ihrer Beantwortung hängt ab, ob plausibel wird, dass die Welt im Verstehen einen Unterschied machen kann. Der begriffliche Zusammenhang lässt sich wie folgt umreißen: Wir haben gesagt, dass sich gehaltvolle symbolische Praktiken nur aus einem konstitutiven Zusammenhang dieser Praktiken mit nichtsymbolischen Praktiken ergeben. Diese nichtsymbolischen Praktiken sind direkt mit der Welt befasst. Die Verständnisse, die wir im Vollzug symbolischer Praktiken gewinnen, können daher als von Grund auf welthaltige Verständnisse begriffen werden. Die im Umgang mit symbolischen Medien sich einstellenden Verständnisse verändern sich wiederum in dem Maße, wie sich auch die symbolischen Praktiken oder die Strukturen in diesen Praktiken verändern. Veränderungen wiederum bedürfen eines Anstoßes. Sie ergeben sich nicht von allein. Bisher wurden nur selbstbezügliche sprachliche Praktiken als Motoren einer Entwicklung der Strukturen in sprachlichen Praktiken erläutert, und diese selbstbezüglichen sprachlichen Praktiken wiederum unter Rekurs auf geistige Strukturen. Kurz: Eine Veränderung unserer Verständnisse erfolgt bisher nur auf die geistige Initiative des symbolgebrauchenden Subjekts hin. Will man dagegen zeigen, dass eine solche Veränderung auch von der Welt angestoßen werden kann, muss man zeigen, wie sich auch Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken für sich weiterentwickeln können. Kann man solche Entwicklungen nicht verständlich machen, geht der eigenständige Beitrag der Welt zur Dynamik des Verstehens verloren. Denn die Welt ist ja nur qua der

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durch den Zusammenhang mit sprachlichen Praktiken in spezifischer Weise für die Welt geöffneten nichtsprachlichen Praktiken an der Konstitution der Verständnisse beteiligt, die wir gewinnen. Noch einmal anders: Wenn nur auf Initiative der symbolgebrauchenden Subjekte hin sich neue sprachliche Strukturen ergeben, die wiederum in Korrelation mit nichtsprachlichen Praktiken diese nichtsprachlichen Praktiken dann auch in neuer Weise für die Welt zu öffnen vermögen, bleibt letztlich der Unterschied, den die Welt im Verstehen machen kann, doch auf die Initiative des symbolgebrauchenden Subjekts angewiesen. Zwar wird nicht der »selbstständige Status der Welt aufgekündigt« 58 – wo und wann sich etwa in der Wahrnehmung grüne und rote Gegenstände zeigen, obliegt weiterhin der Verfasstheit der Welt. In diesem Sinne macht die Welt grundsätzlich einen Unterschied. Dass aber unsere Wahrnehmungspraxis sich von einer an Unterscheidungen von roten und grünen Gegenständen als roten und grünen Gegenständen orientierten Praxis zu einer Praxis wandelt, in der vielleicht ganz andere Unterscheidungen leitend werden, bleibt letztlich Angelegenheit der Kreativität der Sprachbenutzer. Die Welt oder die Welt qua nichtsprachlicher Praktiken scheint keinen Einfluss auf die Veränderung der sprachlichen Strukturen zu haben. Sie verleiht sprachlichen Strukturen zwar Halt und empirischen Gehalt, sofern es zu Verstehen kommt. Sie vermag sprachliche Strukturen aber nicht von sich aus zu irritieren. Dazu müssten an bestimmten Strukturen orientierte nichtsprachliche Praktiken denkbar sein, denen keine sprachlichen Artikulationen korrelieren. Wie das möglich sein soll, ist bisher aber vollkommen unklar. So wird der Eindruck geweckt, dass die Welt sich nur im Rahmen derjenigen Strukturen zeigen kann, für die wir qua entsprechender sprachlicher Artikulationen in nichtsprachlichen Praktiken immer schon offen sind. Darüber kann der Konstruktivist ins Frohlocken kommen. Das muss verhindert werden. 3.2.2 . . . und die Welt sich von der Sprache? Die im vorherigen Abschnitt aufgeworfene Frage, inwiefern Sprache auf Distanz zur Welt gehen kann und so Spielräume für selbstinitiierte Entwicklungen sprachlicher Praktiken eröffnet werden können, ist die naheliegende Frage einer Sprachphilosophie, die die Bestimmtheit der Strukturen in sprachlichen Praktiken wesentlich von der Einbettung dieser Praktiken in nichtsprachliche Lebensvollzüge und die Beschaffenheiten 58

Ebd., 192.

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Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht

der Welt her erläutert. Sie ist es deshalb, weil sie sich damit von ihrer Grundtendenz her in einer Tradition hermeneutischen Nachdenkens über Sprache bewegt, die zuweilen Begriffe von Sprache vorgeschlagen hat, die solche Spielräume in problematischer Weise unterbelichtet lassen. So heißt es etwa bei Gadamer, dass »die Sprache [. . . ] gegenüber der Welt, die in ihr zur Sprache kommt, kein selbstständiges Dasein behauptet.«, dass sie »ihr eigentliches Dasein nur darin hat, daß sich in ihr die Welt darstellt.« 59 Gadamer verlängert damit eine Vorlage Heideggers. Zeigt doch auch dieser immer wieder die Tendenz, sprachliche Bedeutung in einem vorgängigen nichtsprachlichen Verstehen zu gründen. So heißt es etwa: »[N]ur sofern solche Verständlichkeit – Bedeutung – zum Dasein schon gehört, kann diese sich lautlich so äußern, daß diese Verlautbarungen Worte sind, die nun so etwas wie Bedeutung haben«, oder: »[D]ieser primären Bedeutung kann jetzt ein Wort zufallen.« 60 Liest man diese Bemerkungen als diejenige Polemik gegen konstruktivistische oder formalistische Sprachbegriffe, als die sie durchaus gemeint sind, mag man ihnen vorbehaltlos zustimmen. Doch sobald man sich diesbezüglich erst einmal auf hermeneutischem common ground bewegt, können Zweifel laut werden, ob die Anbindung der Sprache an die Welt dann nicht doch etwas zu eng begriffen wird. Wenn Gadamer nämlich hinzufügt, dass »Verständigung über die Sprache nicht der eigentliche Fall von Verständigung [ist], sondern der Sonderfall einer Vereinbarung über ein Instrument, ein Zeichensystem, . . . «, und er gegen solche mit Zeichensystemen selbst befassten Praktiken und Verständnisse die Welt, als diejenige Größe, »die alles umschließt, worüber Verständigung erzielt wird« auszuspielen beginnt, kann man zurecht, wie Bertram dies tut, reflexive sprachliche Praktiken als genuine Bestandteile der Sprache zu verteidigen versuchen. Diese Verteidigung kann man dann so verstehen, dass sie gegen die hermeneutische Tradition, eine von Kant her sich tradierende konstruktivistische Intuition im Spiel zu halten versucht, die darin besteht, in der Sprache eine Instanz zu sehen, die die subjektive Bedingtheit unseres Weltverhältnisses markiert. Oder, wie das bei Bertram noch eher der Fall ist: eine von Hegel her sich tradierende Intuition, die darin Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. Aufl., Tübingen 1990, 447. Es wäre allerdings Aufgabe einer gesonderten Auseinandersetzung mit Gadamer und auch Heidegger, zu klären, wie genau diese Bemerkungen einzuordnen sind. Denn immerhin habe ich beiden Autoren ja auch Kredit auf dem Weg zum Artikulationsmodell gezollt. 60 Martin Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt /M. 1995, 150/151. 59

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besteht, in der Sprache ein Medium zu sehen, in dem sich Subjektivität allererst konstituiert. Begreift man schließlich diese Instanz oder dieses Medium als eine historische Größe, wie dies bei Cassirer der Fall ist, lässt sich die Sprache zudem auch erst richtig als Instanz der Kritik derjenigen sprachlichen Erschließungen von Welt profilieren, in denen wir uns der Hermeneutik zufolge immer schon bewegen. Eingedenk dieser Vorbemerkungen stellt sich mit Blick auf die behauptete dynamische Ko-Konstitution von Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken dennoch die Frage, ob nicht auch nichtsprachliche Praktiken eine Weiterentwicklung sprachlicher Praktiken anstoßen können. Dieser Frage wird in Bertrams Sprachphilosophie kein Platz eingeräumt. Auf den ersten Blick scheint sie dann sogar eine abschlägige Antwort erteilt zu bekommen. So heißt es ja, dass »[n]ichtsprachliche Praktiken [sich] nicht unabhängig [. . . ] von sprachlichen Praktiken begreifen [lassen]« 61, oder dass sich nur derjenige »[i]n der nichtsprachlichen Welt in [. . . ] Strukturen [bewegt], die diese Strukturen sprachlich zu artikulieren vermag.« 62 Wenn das aber der Fall ist (und ich sehe nicht, wie man vor dem Hintergrund der bisherigen Erläuterungen zum Artikulationsmodell davon abrücken könnte), dann scheint ausgeschlossen zu sein, dass nichtsprachliche Praktiken sich in bestimmter Weise weiterentwickeln, ohne dass zugleich entsprechende Artikulationen dieser Praktiken entwickelt werden. Salopp gesagt: Entweder kann ich irgendwie auch sagen, was ich tue, oder ich tue das, was ich da tue, nicht auf verständige, d. h. in einer an Strukturen als Strukturen orientierten Weise. Damit bekommt die Erläuterung der Dynamik der Beziehungen-Beziehungen-Korrelation eine Unwucht. Es scheint so, als könne diese Dynamik nur durch sprachliche Praktiken und damit einseitig in Gang gehalten werden. Die unproblematische und reibungslose Korrelation der Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken kann nur von der Seite der Sprache her irritiert werden, da nur dort eine Thematisierung von Strukturen möglich ist und damit eine »Praxis der Strukturierung« 63 vollzogen werden kann, die auf Um- oder Neustrukturierung zielt. Die Tendenz, sprachliche Praktiken zum alleinigen Motor der Entwicklung des Weltverhältnisses verstehender Wesen zu erklären, ist allerdings gleich in doppelter Weise motiviert: Zum einen ist es eben so, dass 61 62 63

Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 180. Ebd., 182. Ebd., 183.

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Drittes Kapitel: Wie die Welt einen Unterschied macht

das transformative Verhältnis von nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken, wie ich es oben in Abschnitt 2.2.2 erläutert habe, nur von jemandem begriffen werden kann, der bereits »in die Sprache eingeweiht« oder »eingeführt« 64 ist. Erst vom sprachlichen oder begrifflichen Stand in der Welt aus lässt sich sagen und begreifen, wie sich durch ebendiese Fähigkeit zum Sagen und Begreifen die »Sinnlichkeit von Begriffsverwendern [. . . ] verändert.« 65 Weil die Kulturgeschichte des Menschen ohne das »belebende Prinzip« der Sprache (und anderer symbolischer Praktiken) nicht erzählt werden kann, genauer: weil es diese Geschichte nicht gäbe, »die menschliche Welt taubstumm bleiben [würde]« (VM, 64), liegt es nahe, das Irritations- und Transformationspotential grundsätzlich in der Sprache zu verankern. Doch liegt dieser Gedanke eben nur nahe, zwingend ist er nicht. Denn sobald ein sprachlicher Stand in der Welt erreicht ist, stellen sich die Verhältnisse für den Sprechenden doch auch immer so dar, dass er angesichts der Welt, mit der er es auch praktisch, wahrnehmend, empfindend zu tun hat, immer wieder um die passenden Worte ringen und suchen muss, dass er sich von der Welt her genötigt fühlen kann, bestimmte sprachliche Züge nicht mehr zu vollziehen etc. Die sprachliche Erschließung der Welt funktioniert nicht reibungslos. Die Sprache kann den Verhältnissen in der Welt hinterherhinken. Sie kann an Strukturen orientiert sein, die sich gerade nicht mehr gut als Artikulationen der Strukturen begreifen lassen, in denen wir in nichtsprachlichen Praktiken tatsächlich orientiert sind. Die Sprachkrise, von der der berühmte Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals berichtet, 66 verweist in diesem Sinne durchaus auf mehr als bloß eine poetologische Krise. In ihm reflektiert die Sprache darauf, wie sie von der Welt und nichtsprachlichen Praktiken infrage gestellt und irritiert wird. Doch haben wir die begrifflichen Mittel bei der Hand, diese Irritation zu erklären? Denn selbst dann, wenn man sich dazu herausgefordert sieht, den Gedanken einer sprachunabhängigen Weiterentwicklung nichtsprachlicher Praktiken zu verteidigen, zeigt sich die Nobilitierung der Sprache in Sachen Initiierung von Dynamiken noch aus einem anderen Grund gut McDowell: Geist und Welt (Anm. 9), 152. Bertram: Der Zusammenhang von Sprache und Objektivität (Anm. 4), 197. 66 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: ders.: Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe, hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt /M. 1991, 45–55. Dass Hofmannsthal diesen Text in einer Zeit verfasst, die zudem vom einem Aufblühen nichtsprachlicher Künste geprägt ist, denen eine angemessenere Artikulation etwa unseres emotionalen Erlebens zugetraut wurde, ist mit Blick auf die Überlegungen des Schlussabschnitts dieser Arbeit durchaus von Interesse. 64

65

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motiviert: Es gibt auf der Ebene nichtsprachlicher Praktiken keine den explikativen oder anderen selbstbezüglichen sprachlichen Praktiken analoge Instanzen der Selbstthematisierung. 67 Wer jemandem, der Nägel krumm und schief in die Wand hämmert, bloß in den Arm greift, legt damit noch lange nicht die Strukturen offen, an denen das Hämmern orientiert sein sollte. 68 Dazu braucht er vielmehr Sprache. Die Rede davon, dass sich auch nichtsprachliche Praktiken für sich weiterentwickeln, scheint nur metaphorisch zu sein. Die Frage ist daher, wie man auf das Fehlen eines solchen Selbstgestaltungspotentials nichtsprachlicher Praktiken reagieren kann. Nun könnte man ja durchaus auf den Gedanken kommen, dass die nichtsprachlichen Praktiken sich insofern unabhängig von sprachlichen Artikulationen dieser Praktiken weiterentwickeln, als sie natürlich als nichtsprachliche Praktiken direkt mit der Welt befasst sind. In dem Maße, wie uns die Welt tagein tagaus mit neuen Sachverhalten und Gegenständen konfrontiert, müssen wir auch im nichtsprachlichen Umgang mit der Welt stets in neuer und anderer Weise agieren lernen. Wenn die einst kollegiale Stimmung im Betrieb kippt und nur mehr Missgunst und Konkurrenz regieren, werde ich vielleicht noch eine Weile im Vertrauen auf alte Bande weitermachen, doch irgendwann werde auch ich mein Verhalten ändern und in neuer Weise justieren müssen. Es ist der Umgang mit der Welt, aus dem heraus sich nichtsprachliche Praktiken weiterentwickeln, und in dieser Welt müssen sie sich bewähren. Nichtsprachliche Praktiken wollen an der Welt geübt sein: wer nur Ratgeberbücher zum Heimwerken liest und nie den Hammer in die Hand nimmt, wird nie lernen, den Nagel gescheit auf den Kopf zu treffen. Warum also nicht die Welt-Praxis-Korrelation zum Ort einer Weiterentwicklung nichtsymbolischer Praktiken erklären? Doch dieser prima facie naheliegende theoretische Zug steht uns nicht offen: Zum einen würde damit erneut der Grundgedanke der Ko-Konstitution unterlaufen werden. Die Verfasstheit unserer nichtsprachlichen Vgl. dazu auch Bertram: In der Welt der Sprache (Anm. 1), 194. Sobald er beginnt, langsam und immer wieder in besonders ausgestellter Weise vorzumachen, wie das mit dem Hämmern geht, er einzelne Arbeitsschritte, wie das Anpeilen des Nagelkopfes etc. aus der ganzen Bewegung herausgelöst als Teilschritte vorführt etc., wird die Sache kompliziert, denn dadurch wird die Handlung des Hämmerns gewissermaßen in eine szenische Konfiguration gebracht und durchaus in ihrer Strukturiertheit vorgeführt, wie man das von gängigen Handlungsmedien wie dem Theater oder dem Film her ja auch kennt. Genau genommen wird dann bereits eine mediale oder eine symbolische Praxis im Medium des Leibes selbst vollzogen. Diesen Punkt verdanke ich Manuel Scheidegger, der diese These im Rahmen seiner Promotion entwickelt. 67

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Praktiken würde dann nämlich so erläutert werden, dass sie sich unabhängig von symbolischen Artikulationen ergibt, allein durch den sinnlichen, praktischen oder sonst wie nichtsymbolischen Umgang, den wir mit der Welt pflegen. Damit wäre die Strukturiertheit dieser Praktiken etwas Gegebenes, zu der die Sprache schließlich nur noch hinzutritt. Sprache würde ersichtlich keinen »irreduzible[n] Beitrag zur Konstitution der Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken« leisten. 69 Solche unabhängig von sprachlichen Praktiken konstituierten nichtsprachlichen Praktiken sind aber im Artikulationsmodell gerade nicht vorgesehen. Zum anderen können die nichtsprachlichen, mit der Welt befassten Praktiken ohne einen Zusammenhang mit sprachlichen Artikulationen gar nicht als an Strukturen als Strukturen orientierte Praktiken begriffen werden. Denn erst sprachliche Praktiken machen ja die Strukturen, an denen wir in nichtsprachlichen Praktiken orientiert sind, »greifbar«. Ohne Möglichkeiten der Artikulation sinken unsere praktischen Vollzüge auf ein Tun herab, das nur von außen den Eindruck der Strukturiertheit vermitteln kann. Von innen her, d. h. aus der Vollzugsperspektive dieser Praktiken, bleiben diese Praktiken hinsichtlich ihrer Strukturiertheit, wenn man denn überhaupt noch so sprechen darf, opak. Wenn die Weiterentwicklung nichtsprachlicher Praktiken aber wesentlich eine solche der Weiterentwicklung der Strukturen in diesen Praktiken ist, dürfen diese Strukturen für den, der diese Praxis vollzieht und weiterentwickelt, gerade nicht opak bleiben. Was auch immer sich an Veränderungen ereignen würde; für denjenigen, der diese veränderten Praktiken vollzieht, wären sie sonst nicht als Veränderung der Strukturen erfahrbar, an denen er orientiert ist. Schließlich wird bei dieser Strategie auch mit einem Begriff der Welt operiert, deren Bestimmtheit sich offenbar unabhängig davon angeben können lassen muss, wie sie in nichtsymbolischen Praktiken erschlossen wird. Kurz: Man fällt auf einen im schlechten Sinne realistischen Weltbegriff zurück. Das Problem ist damit noch einmal zusammengefasst das folgende: Wenn man nichtsprachliche Praktiken als Motor der Entwicklung sprachlicher Praktiken begreifen will, dann muss man nichtsprachliche Praktiken als Praktiken begreifen, die sich unabhängig von sprachlichen Artikulationen in bestimmter Weise weiterentwickeln können. Der Raum für diese Weiterentwicklung oder diese echte Binnendynamik nichtsprachlicher Praktiken ist durch die Differenzierung der Strukturen in sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken geschaffen worden. Was offenbar fehlt, ist ein Begriff, der analog zum Begriff der disziplinierenden sprachli69

Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 181 f.

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chen Praktiken verständlich macht, wie denn eine Binnendynamik nichtsprachlicher Praktiken in Gang gesetzt werden kann. Es ist, anders gesagt, unklar, wie der durch die begriffliche Differenzierung eröffnete Spielraum auch vonseiten nichtsprachlicher Praktiken genutzt werden kann. Das Fehlen selbstbezüglicher nichtsprachlicher Praktiken kann nicht dadurch kompensiert werden, dass man die Sprache ganz außen vor lässt und stattdessen eine von Sprache isolierte, allein von der Welt angestoßene Entwicklung nichtsprachlicher Praktiken behauptet. Streicht man die Sprache nämlich aus dem Bild unserer nichtsprachlichen Auseinandersetzung mit der Welt heraus, wird der Gedanke der Ko-Konstitution aus den Angeln gehoben. Man könnte vielleicht auch sagen: man fällt dann in einen »semantischen Objektivismus« zurück, weil man die Entwicklung der sprachlichen Praktiken dann so erläutert müsste, dass sie nur aufgreift, was unabhängig von Sprache im Nichtsprachlichen bereits entwickelt und angelegt ist. Verzichtet man aber aufgrund dieser Schwierigkeiten ganz auf die Option, dass die Welt qua nichtsprachlicher Praktiken eine Entwicklung sprachlicher Praktiken anstößt, droht wiederum ein Rückfall in »konstruktivistische« oder »idealistische« Ansichten, weil dann nur Sprache die Dynamik der Beziehungen-Beziehungen-Korrelation in Gang hält. Kurzum: Es fehlt eine begriffliche Ressource, die eine sprachunabhängige Entwicklung von Strukturen in nichtsprachlichen Praktiken zu denken erlaubt. An dieser Stelle hilft es, sich in Erinnerung zu rufen, dass »[d]er Raum des Sinns weiter [ist] als der Raum der Sprache.« 70 3.3 Pluralität Die fehlende Ressource bildet der Begriff einer irreduziblen Pluralität symbolischer Medien und Praktiken. Um verständlich zu machen, dass und wie nichtsprachliche Praktiken unabhängig von sprachlichen Artikulationen in bestimmter Weise weiterentwickelt werden können, muss man das begrenzte Terrain der Sprachphilosophie verlassen. Das Konzept der Ko-Konstitution von Strukturen in nichtsprachlichen und sprachlichen Praktiken muss genauer gesagt symbolphilosophisch ergänzt werden. Die Strukturen, an denen wir etwa in der Wahrnehmung oder im Vollzug praktischer Tätigkeiten orientiert sind, können insofern unabhängig von sprachlichen Artikulationen dieser Strukturen weiterentwickelt werden, 70

178.

Emil Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2011,

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als sie mit Strukturen in nichtsprachlichen symbolischen Praktiken kokonstituiert sind. Kurz gesagt: Wenn die Sprache aussetzt, springen andere symbolische Praktiken ein. Die oben zitierte Bemerkung, dass, wer sprachliche Praktiken beherrscht, sich in einem komplexen Geflecht von Praktiken in der nichtsprachlichen Welt bewegt 71, kennt eine entsprechend inverse Variation: Wer sich auf nichtsprachliche Praktiken versteht, der bewegt sich ebenso in einem komplexen Geflecht von symbolischen Artikulationen dieser Praktiken. Mit Heidegger (und über ihn hinaus) könnte man auch sagen, dass wir, »[w]enn wir zum Brunnen, wenn wir durch den Wald gehen« nicht nur »schon immer durch das Wort ›Brunnen‹, durch das Wort ›Wald‹ hindurch[gehen], auch wenn wir diese Worte nicht aussprechen und nicht an Sprachliches denken.« 72 Sondern, dass wir ebenso gut durch Akira Kurosawas »Wald der Dämonen« hindurchgehen, wie er in Rashomon Tatort einer umstrittenen Vergewaltigung und eines ebenso umstritten Mordes ist oder durch den Verzauberten Wald Francesco Germinianis, ein Stück Programmmusik aus dem Jahr 1754. Durch die Erweiterung des theoretischen Bildes um nichtsprachliche symbolische Medien und Praktiken läuft eine Explikation der Binnendynamik nichtsprachlicher Praktiken nicht mehr Gefahr, hinter die Einsichten des Artikulationsmodells zurückzufallen. Der fruchtlose Rekurs auf eine symbolisch unvermittelte, »blanke« Konfrontation von Welt und nichtsprachlichen Praktiken wird obsolet, sobald die »eigenständige« Weiterentwicklung nichtsprachlicher Praktiken, als Weiterentwicklung entsprechender Praktiken eines nicht nur Begriffe gebrauchenden »animal rationale« oder eines nur Sprache gebrauchenden »zoon logon echon«, sondern eines verschiedene symbolische Medien gebrauchenden »animal symbolicums« begriffen wird; wohlgemerkt eines artikulationstheoretisch oder hermeneutisch gewendeten animal symbolicums. Das Irritationspotential der Welt oder der Welt qua nichtsprachlicher Praktiken in Bezug auf eine Weiterentwicklung sprachlicher Praktiken speist sich so durchaus aus einem vor- oder außersprachlichen Bereich. Dieser Bereich verbleibt aber stets im Horizont symbolischer Artikulationen überhaupt. »Die Nichtsprachlichkeit des Verstehens bedeutet« damit »ebenso eine Grenze, wie eine Entgrenzung.« 73 Sie begrenzt den Raum des sprachlichen und begrifflichen Verstehens, den Raum der Gründe, und gewinnt Vgl. Bertram: Die Sprache und das Ganze (Anm. 1), 191. Martin Heidegger: Wozu Dichter?, in: ders.: Holzwege, Frankfurt /M. 1957, 310/286. 73 Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn (Anm. 70), 221. 71 72

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zugleich dem Verstehen all die nichtsprachlichen, nichtpropositionalen Gebiete hinzu. Das gilt jederzeit auch umgekehrt oder besser: in alle Richtungen. Die Frage, wie z. B. Strukturen in bildlichen Praktiken durch nichtbildliche Praktiken irritiert werden können, ruft wiederum sprachliche oder andere nichtbildliche, z. B. musikalische Praktiken auf den Plan usw. usf. – und zwar durchaus in einem doppelten Sinne: Bestimmte symbolische Praktiken können ja sowohl indirekt durch entsprechend durch andere symbolische Praktiken artikulierte nichtsymbolische Praktiken herausgefordert werden als auch direkt, sozusagen in Form intermedialer Auseinandersetzungen, wie im Sprechen über Bilder, im Tanzen zur Musik, im Bebildern von Texten etc. Darauf komme ich unten gleich noch einmal zurück. Für den Moment lässt sich aber schon einmal festhalten: Jede Weiterentwicklung nichtsymbolischer Praktiken bleibt immer Moment einer Weiterentwicklung des ko-konstitutiven Zusammenhangs symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken als solchem. Denn nichtsymbolische Binnendynamiken, etwa Veränderungen in unserem praktischen Weltverhältnis oder Neujustierungen unseres emotionalen Selbstverhältnisses entbehren nirgends zumindest irgendeiner symbolischen Artikulation. Die Unabhängigkeit dieser Entwicklungen ist stets nur relativ zu anderen möglichen symbolischen Artikulationen. Als Weiterentwicklungen von Praktiken, die an Strukturen als Strukturen orientiert (und insofern erst Praktiken im vollen Sinne) sind, bleiben sie stets innerhalb des Raums des Verstehens, der durch die wechselseitige Korrelation symbolischer und nichtsymbolischer Praktiken eröffnet ist. Sie leisten eine Transformation der Lebensform des animal symbolicum aus der Mitte dieser Lebensform heraus. Innerhalb des Raums des Verstehens kommt es dabei weder zu einer feinsäuberlichen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen symbolischen Praktiken, noch läuft deren Zusammenspiel stets reibungslos ab. 74 Der Umstand, dass wir uns nichtsymbolisch in einem komplexen Geflecht symbolischer Artikulationen bewegen, heißt zum einen vielmehr, dass nichtsymbolische Praktiken auf multiple Weise mit verschiedenen symbolischen Praktiken ko-konstituiert sein können. Solche multiplen kokonstitutiven Verhältnisse sind dabei zum anderen zwischen dem Pol Dass symbolische Artikulationen spannungsreich aufeinander bezogen sein können, hat im Grunde schon Cassirer gesehen. Gleich zu Beginn des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen merkt er dazu an, vgl. PhsFI, 11: »Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist.« 74

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der Harmonie einerseits und dem des Konflikts andererseits angesiedelt: Während z. B. die Praxis des Origami-Faltens davon getragen sein kann, dass ihr sprachliche Anleitungen ebenso Kontur verleihen, wie YoutubeTutorials (die verschiedene Handgriffe und Bewegungsabfolgen aus diversen Perspektiven filmisch vorführen) oder Handbücher (die mithilfe von Zeichnungen den Vorgang in einzelne Arbeitsschritte auseinanderlegen, qua Strichelung gedachter Falzlinien, der transparenten Darstellungen verdeckter Teile des Papiers etc. bestimmte Aspekte des Faltpapiers und -prinzips offenlegen), sind wiederum z. B. modische Praktiken nicht selten ein umkämpftes Feld, auf dem sich tradierte sprachliche Artikulationen, wie »Grün und Blau schmückt die Sau«, und Fotostrecken in Modezeitschriften gegenüberstehen, die diese Geschmacksregel farblicher Kombinatorik in Hochglanz brechen. Verschiedene Artikulationen können mehr oder weniger kooperieren und mehr oder weniger kollidieren. Austragungsort dieses Zusammenspiels sind die nichtsymbolischen Praktiken, die jeweils artikuliert werden. Das führt mich zu der Frage zurück, wie genau das Verhältnis verschiedener symbolischer Medien und Praktiken zueinander zu bestimmen ist. 3.3.1 In Vielfalt geeint Die Debatten über die Verhältnisbestimmung verschiedener symbolischer Medien und Praktiken sind so alt wie mittlerweile uferlos. Dabei hat die Reflexion auf das Verhältnis von Sprache und Bild traditionell einen Großteil der Aufmerksamkeit der schwerpunktmäßig nicht ästhetisch orientierten Debatten auf sich gezogen. 75 Der Wettstreit der Künste, wie er seit der Renaissance sowohl theoretisch als auch praktisch ausgetragen wurde, hat dagegen auch andere als sprachliche und bildliche Medien und Praktiken einbezogen. Während die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Bild seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die kulturkritische Diagnose einer sogenannten »Bilderflut« neuen Auftrieb bekommen hat, die, wie einige meinen, reflexive Potentiale und aufklärerische Errungenschaften sprachlicher und begrifflicher Praktiken hinwegzuspülen droht 76, wurde im Zusammenhang mit Debatten der InVgl. dazu u. a. Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer, München 1995; sowie Bilder – Denken. Bildlichkeit und Argumentation, hg. v. Barbara Naumann und Edgar Pankow, München 2004. 76 Vgl. dazu u. a. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007. 75

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ter-, Trans-, oder Multimedialität 77 in den Künsten auch die ParagoneFrage neu belebt. 78 Ich sehe mich allerdings außerstande, im Rahmen dieser Arbeit zu diesen Debatten oder zu einzelnen der in ihnen vorgenommenen Verhältnisbestimmungen verschiedener symbolischer Medien und Praktiken Stellung zu nehmen. Worauf es mir im Folgenden allein ankommt, ist eine knappe Darlegungen eines minimalen Bestandes an Überzeugungen, mit denen man ausgehend vom Artikulationsmodell zu diesen Debatten Stellung nehmen könnte. Im Kern handelt es sich dabei um die zwei Überzeugungen, dass erstens die Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken irreduzibel ist, woraus aber zweitens kein Medienrelativismus folgt, demgemäß die irreduzible Vielfalt unterschiedlicher symbolischer Artikulationen der Welt einen Verlust der Einheit der Welt nach sich ziehen würde. Für beide Überzeugungen will ich kurz Gründe geben. Für eine Irreduzibilität der Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken lässt sich unter Rekurs auf die strukturale Konstitution des Gehalts symbolischer Ausdrücke argumentieren: Wenn nämlich einzelne Zeichen oder symbolische Ausdrücke – Worte, Sätze, Bilder, Bildausschnitte, Songs, musikalische Figuren, Zahlen etc. – ihren Gehalt wesentlich den Beziehungen verdanken, die sie zu anderen solchen Zeichen oder Ausdrücken unterhalten, und diese Beziehungen, wie oben im Abschnitt 1.4.3 dargelegt, wiederum u. a. im Medium unterschiedlicher sinnlicher Modalitäten konstituiert sind, dann gibt es Grenzen der Übersetzbarkeit der jeweils struktural konstituierten Gehalte einerseits und der Übertragbarkeit der Strukturen andererseits. Einen Ton verstehen heißt, diesen wesentlich in seinen hörbaren Beziehungen zu anderen Tönen wahrnehmen. Ein Bild verstehen heißt, es sehend in Bezug zu anderen Bildern zu setzen. Zwar lassen sich tonale Verhältnisse mathematisch angeben und bildliche Verhältnisse sprachlich beschreiben, aber arithmetische Verhältnisse klingen nicht und sprachliche Beschreibungen zeigen nichts im buchstäblichen oder besser vielleicht: im bildlichen Sinne. Und nur wenn die Differenzen symbolischer Medien und Praktiken als irreduzibel begriffen werden, lässt sich der Gedanke verteidigen, dass die Welt gegenüber unserem symbolischen Zugriff eine Eigenständigkeit behauptet. Denn ließe sich ohne Abstriche sagen, was Bilder zeigen, oder 77 Vgl. dazu u. a. Intermedialität – Analog /Digital. Theorien, Methoden, Analysen, hg. v. Joachim Paech und Jens Schröter, München 2007. 78 Vgl. dazu u. a. Tufan Acil: Grenzüberschreitungen (in) der Kunst. Eine praxisbezogene Ästhetik, Bielefeld 2017, sowie Andreas Schnitzler: Der Wettstreit der Künste. Die Relevanz der Paragone-Frage im 20. Jahrhundert, Berlin 2007.

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berechnen, wie Musik klingt, wäre eine einzige homogene symbolische Praxis, z. B. eine nur sprachliche Praxis denkbar, die allein die Aufgabe der Artikulation unserer nichtsymbolischen Praktiken stemmen könnte, während all die anderen nichtsprachlichen symbolischen Praktiken auf dem Müllhaufen der Kulturgeschichte landen würden. Damit käme aber auch die soeben erarbeitete begriffliche Ressource abhanden, die es uns erlaubt, Entwicklungen sprachlicher Praktiken oder die besagte Dynamik der Beziehungen-Beziehungen-Korrelation in anti-konstruktivistischer Weise so zu denken, dass sie auch von der Welt angestoßen und in Gang gehalten werden kann. Aus der irreduziblen Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken folgt aber wiederum nicht, dass die Welt sich in einen bunten Strauß inkommensurabler Perspektivierungen auflöst, wie ich in der Einleitung sagte. Zwar ist es sicher richtig, dass es keine bestimmten Übergänge zwischen verschiedenen symbolischen Medien und Praktiken geben kann derart, dass etwa ein Bild einer Aussage logisch widerspricht – Bilder als Bilder sind einfach nicht aussageförmig, obwohl man natürlich aussagen kann, dass sie dieses oder jenes darstellen – oder dass die Notation einer bestimmten Tonfolge mit dem Thema einer Fuge nicht harmonisch zusammenklingt – Notationen haben als Notationen einfach keine lautlichen Qualitäten, auch wenn natürlich Notationen für die musikalische Praxis von unschätzbarem Wert sind, z. B. um die Zeitkunst Musik über die Zeit zu retten. Dadurch ist aber eine »Kommunikation« zwischen den verschiedenen Medien und Praktiken und somit ein grundsätzlicher Zusammenhang verschiedener symbolischer Artikulationsformen nicht ausgeschlossen. Denn das geteilte Medium, in dem diese »Kommunikation« stattfindet, sind die nichtsymbolischen Praktiken und der geteilte Gegenstand, das Worüber all dieser unterschiedlichen symbolischen Praktiken, ist die Welt, die wir im Zuge symbolisch artikulierter nichtsymbolischer Praktiken ebenso erschließen, wie wir sie im Zuge von durch den Zusammenhang mit nichtsymbolischen Praktiken bestimmten symbolischen Praktiken benennen, darstellen, besingen, berechnen etc. Kurz: Die Welt als die eine und einheitliche Größe ist nicht das, was durch die irreduzible Vielfalt symbolischer Medien und Praktiken verloren geht, sondern gerade das, was deren Zusammenhang verbürgt. Die Welt ist der einigende Grund. Als konstitutiv von ihrem Zusammenhang mit direkt mit der Welt befassten nichtsymbolischen Praktiken her zu begreifende Praktiken sind symbolische Praktiken in Vielfalt geeint durch die Welt, die in ihnen zum Ausdruck kommt, wie man mit etwas europäischem Pathos sagen könnte. Angehrn fasst diesen Gedanken so:

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»Durchgehend aber haben wir das Gefühl, dass Verstehen ein irgendwie zusammenhängendes Feld in unserem Weltbezug bildet, dass zwischen den Weisen des Aufnehmens und Erfassens bei einem Gespräch, einer Geste, einem Gefühl, einem musikalischen Ausdruck, einer bildlichen Gestalt und einer Tanzfigur eine Art Gemeinsamkeit besteht. Wir haben das Gefühl, dass in all diesem Formen die Welt sich uns öffnet und wir die Dinge erschließen.« 79

Bei der bloßen Feststellung eines solchen Gefühls muss im Ausgang vom Artikulationsmodell theoretisch nun nicht mehr bleiben. Der Zusammenhang verschiedener Medien der Bedeutung oder die Einheit des Symbolverstehens kann nunmehr unter Rekurs auf den wesentlichen Weltbezug aller gehaltvollen symbolischen Medien und Praktiken begründet werden. Darin liegt durchaus auch ein interessanter Impuls für die Intermedialitätsdebatte: Im Lichte der Überlegungen zur Ko-Konstitution von Strukturen in symbolischen und nichtsymbolischen Praktiken erweisen sich Diskussionen intermedialer Verhältnisse in dem Sinne als durchaus formalistisch, als sie Fragen der Intermedialität paradigmatisch an Phänomenen einer raumzeitlich simultanen Präsentation verschiedener Formen des symbolischen Ausdrucks diskutieren und darüber vergessen, dass die »fusionierten« symbolischen Strukturen nicht aus sich heraus bestimme Größen sind. Aus den vorangegangenen Überlegungen ließe sich dazu durchaus ein Korrektiv ableiten, das darin bestünde, verstärkt darüber nachzudenken, wie Fragen der Intermedialität als Fragen der indirekten Konfrontationen symbolischer Medien und Praktiken, nämlich über den Umweg der je verschiedentlich artikulierten nichtsymbolischen Praktiken, auf neue Weise diskutiert werden könnten. Beliebte Fragen wie z. B.: »Können Bilder argumentieren?« 80, erweisen sich dann nämlich als elliptische Verkürzungen der Frage, wie sich verschiedene symbolische Praktiken auf dem Feld der symbolisch artikulierten nichtsymbolischen Praktiken ins Gehege kommen. Denn, wie auch Kreis an einer Stelle ganz richtig schreibt: »Der Widerspruch, der zwischen einigen der symbolischen Formen besteht, kann [. . . ] nicht ausschließlich ein logischer Widerspruch zwischen Urteilen sein. Er muß vielmehr als praktischer Widerspruch zwischen Handlungen verstanden werden.« 81 Als Begegnungsund Austragungsort der Intermedialität sind die nichtsymbolischen Praktiken selbst in den Blick zu nehmen. 79 80 81

Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn (Anm. 70), 220. Vgl. dazu u. a. Naumann /Pankow: Bilder-Denken (Anm. 75). Kreis: Cassirer (Anm. 18), 330.

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Damit bekommt aber auch die philosophisch-begriffliche Reflexion, wie sie hier unternommen wird, ihre Grenzen aufgezeigt: Als begriffliche Artikulation ist auch sie immer schon Teil der Praxiszusammenhänge, die sie artikuliert, oder ganz allgemein gesprochen: eine Form des Vollzugs der menschlichen Lebensform. Ihr Begreifen der angedeuteten praktischen Widersprüche, kann dann aber ebenso praktisch angefochten werden, wie der Buchstabe irgendeiner heiligen Schrift mit einer Zeichnung karikiert werden kann. Die Herausforderung begrifflicher Artikulationen des menschlichen Standes in der Welt durch an nichtbegrifflichen oder besser durch an anderen symbolischen Praktiken geschulte nichtsymbolische Praktiken lässt sich durch die Philosophie aber nicht wiederum vollends einholen. Dazu müsste sie in einem neutralen Verhältnis zu den von ihr artikulierten Verhältnissen stehen. Als in dieser Weise neutrale Artikulationspraxis wäre sie aber fruchtlos, weil unbestimmt. Jede begriffliche Artikulation praktisch sich zeigender Widersprüche stellt ein Eingreifen in ebendiese Praxis selbst dar und kann von dort her in unbegrifflicher Form herausgefordert werden. Die Philosophie treibt ihrerseits die Dynamiken voran, von denen sie dann selbst auch wieder eingeholt werden kann. Damit ist das Schlusswort dieser Arbeit eingeläutet: Es will noch einmal unterstreichen, dass der Gedanke, dass die Welt oder der wesentliche Weltbezug symbolischer Medien und Praktiken die Einheit des Verstehens verbürgt, nicht impliziert, dass uns die Welt als homogenes Ganzes erschlossen ist. 3.3.2 Welt als Differenzphänomen Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: »Wir leben [. . . ] nicht in einer Welt, die als ein Ganzes gefügt ist«, wie Dieter Henrich in seinem Versuch über Kunst und Leben schreibt. »Unsere primäre Erfahrungswelt ist zwar eine einzige und auch insofern ein Gefüge, als sich in sich einig und die Sphäre ist, in der uns alles begegnet, was derart wirklich ist, daß wir es gewahren können. Was wir aber gewahren, begegnet uns in ebenso vielfältigen, wie in ihren Beziehungen zueinander und in ihrer Bewandtnis dunklen Zuordnungen.« 82

Dieter Henrich: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst, München /Wien 2001, 22. 82

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Dies kann man vielleicht auch so ausdrücken, dass man sagt, dass die Welt ein Differenzphänomen ist. Oder noch genauer auf meine Arbeitshypothese hin gewendet: Die Welt zeigt sich als eigenständige Größe gerade in den wechselseitigen Herausforderungen, die – jetzt abgekürzt gesprochen – verschiedene symbolische Artikulationen füreinander darstellen. Die Weiterentwicklungen, zu denen verschiedene symbolische Praktiken einander anstoßen können, verlangen zwar eine Offenheit und Kreativität aufseiten der symbolgebrauchenden Subjekte (die eigens erläutert werden müsste). 83 Indem wir die Anstöße aufgreifen, die für uns als Sprachbenutzer von Bildern oder für uns als Bildbetrachter von Musik etc. ausgehen, versuchen wir aber im Grunde, dem gegenüber der Welt noch Unabgegoltenen gerecht zu werden, wie es sich vermittels jeweils anderer symbolischer Artikulationen je schon zeigt. Die Dynamiken unserer symbolischen Praktiken sind so nicht subjektiven Weisen eines kreativen Symbolgebrauchs geschuldet. Kreative Weisen des Symbolgebrauchs sind vielmehr eine Weise des Antwortens auf die Welt, wie sie sich in je anderen symbolischen Artikulationen meldet. So wird die Eigenständigkeit der Welt gemäß des diesem Kapitel vorangestellten Mottozitats immanent erläutert. Die Welt macht sich nicht von außerhalb des qua symbolisch artikulierter nichtsymbolischer Praktiken erschlossenen und in symbolischen Praktiken artikulierten Horizontes geltend. Sie tritt vielmehr als Differenzphänomen innerhalb des spannungsreichen Zusammenhangs differenter Weltbezüge oder im konfliktreichen Zusammenspiel verschiedener Ausprägungen der BeziehungenBeziehungen-Korrelation in Erscheinung. Was auch immer ein solches Außerhalb nämlich wäre, es bliebe in seinem Irritationspotential unverständlich. Wenn der Welt etwas Bestimmendes zukommen soll, mit Blick auf die Strukturen, aus denen heraus sich unsere Verständnisse der Welt generieren, dann muss sie selbst eine bestimmte Welt sein. Bestimmt ist die Welt für uns aber eben nur dadurch, dass wir sie in symbolisch artikulierten nichtsymbolischen Praktiken zu greifen bekommen, was diese wiederum nur zustande bringen als symbolisch artikulierte Praktiken, die durch diesen Zusammenhang wiederum erst in den Stand gesetzt sind, die Welt zu symbolischem Ausdruck zu bringen. Kurzum: Die Welt macht einen Unterschied im Verstehen in Form der Unterschiede, die wir zu machen uns »genötigt« sehen. Die Eigenständigkeit ist nicht in Begriffen eines das Symbolische transzendierenden Eigensinns oder in BegrifVgl. hierzu die Ausführungen zu Gadamers Begriff der Offenheit der Erfahrung in: Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002, 68 ff. 83

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fen eines sich der symbolischen Artikulation konstitutiv Entziehenden zu erläutern. Auch als eigenständige steht die Welt vielmehr immer »in unserem Zeichen«. Dies aber in verschiedenster Weise. Weil sprachliche Artikulationen von Welt etwas irreduzibel anderes leisten als etwa bildliche Artikulationen von Welt, weil Mathematik nicht durch Musik vertreten werden kann etc., bleibt die Welt stets eine umstrittene und immer neu zu artikulierende Größe. Wir kommen in unserem Bemühen, die Welt zu verstehen, an kein Ende, weil immer neue und andere symbolische Praktiken Welt neu und anders zu artikulieren vermögen. Die Welt ist der Inbegriff dieses immer wieder neu und anders Artikulierten und Artikulierbaren. Als solche gibt sie kein Maß und kein Kriterium ab, das es uns erlauben würde, die intermedialen Spannungen zu schlichten. Dies setzte voraus, aus den symbolischen Vermittlungen heraustreten zu können und von außen die Passung zwischen dieser oder jener symbolischen Artikulation und der Welt bestimmen zu können. Welt ist aber eben nur als symbolisch vermittelte. Und in dem Maße, wie etwa die Sprache zu artikulieren versucht, was das Bild zeigt, kann sich eine mit sprachlichen Praktiken korrelierte nichtsymbolische Praxis ergeben, die auch das bildliche Zeigen von Neuem herausfordert. Und so geht es immer weiter. Die Welt zeigt sich so wesentlich im Entzug, einem Entzug, der gleichwohl ein je spezifischer und bestimmter Entzug ist. Die Welt als verstandene wandert von symbolischer Artikulation zu symbolischer Artikulation und immer bleibt ein in deren wechselseitigem Verhältnis unübersetzbarer Rest: »Die Lebenswelt, die den Horizont allen Erkennens und Handelns bildet, ist die Welt des Sinns, der aber nicht in reiner Positivität, sondern als Differenzphänomen erfahren wird« – doch nicht, wie Angehrn fortfährt, »als Sinn der konstitutiv auf sein Anderes, den Nicht-Sinn und die Grenze des Sinns, bezogen ist« 84, sondern vielmehr als der Taler, der während er von einer Hand zur nächsten wandert (von einer symbolischen Artikulationen zur nächsten), immer wieder umgeprägt wird und seinen Wert ändert. Der Entzug des Sinns ist nur im relativen Sinne zu begreifen; die Sprache verstummt, aber nur angesichts eines Bildes, das in bestimmter Weise mehr zeigt, als sich im Moment sagen lässt. Dass unser Symbolverstehen nicht in sich zur Ruhe kommen kann, ist nun nicht als dessen Makel und Mangel zu begreifen. Und diese Dynamik kann auch nicht mehr den Verdacht nähren, die Welt sei nicht zu greifen, oder sich zu der Skepsis auswachsen, dass die »wirkliche Wirklichkeit« 84

Angehrn: Sinn und Nicht-Sinn (Anm. 70), 243.

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für uns unerreichbar ist. Im Gegenteil: Vielmehr zeigt das Ausbleiben des Stillstands, das unablässige Ringen um den symbolischen Ausdruck, dass die Welt zugegen ist und an unserem Verstehen mitarbeitet. Der Stachel im Fleisch eines einzelnen sich vermeintlich selbst und der Welt genügenden symbolischen Mediums ist in Form der Herausforderungen, die jeweils andere symbolische Medien und Praktiken darstellen, die Welt selbst. Damit laufen meine Überlegungen am Ende auf folgende vielleicht »antiskeptisch« zu nennende These hinaus: Dass die Welt wirklich ist, erfahren wir nur zu dem Preis, dass unser Verstehen nie an ein Ende kommt.

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