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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Berndt Hamm (Erlangen) Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Münster) Eva Schlotheuber (Düsseldorf )
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Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation Herausgegeben von
Johanna Haberer und Berndt Hamm
Mohr Siebeck
Johanna Haberer, geboren 1956; Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Theologie; seit 2001 Professorin für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg; seit 2003 Universitätspredigerin; seit 2006 Vizepräsidentin der Universität mit dem Aufgabengebiet Lehre und Studium. Berndt Hamm, geboren 1945; Studium in Heidelberg und Tübingen; 1975 Promotion; 1981 Habilitation; seit 1984 Professor für Neuere Kirchengeschichte an der Universität ErlangenNürnberg.
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung in Köln ISBN 978-3-16-151735-8 / eISBN 978-3-16-158608-8 unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren aus der Bembo gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert eine Tagung, die unter dem Thema ‚Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz – die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation‘ vom 29. bis 31. Oktober 2010 im Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg stattfand. Alle 19 Vorträge werden hier nun in meist erweiterter Form präsentiert. Die Fragestellung dieser interdisziplinären und internationalen Tagung galt dem Medienverständnis und der Medienpraxis der Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es ist in der Forschung unbestritten, dass die Erfolge der Reformation im deutschen Reich und in Europa wesentlich mit ihrem Charakter als Medienereignis zusammenhängen. Höchst kontrovers diskutiert wird allerdings, wie innovativ die Medialität der Reformation im Verhältnis zum Spätmittelalter, zum Renaissance-Humanismus und innerhalb des allgemein-kulturellen Medienwandels des 15. und 16. Jahrhunderts war. Umstritten ist auch, in welchem Maße und in welcher Weise die Medienverwendung der unterschiedlichen Reformationsrichtungen ihre religiös-kirchlichen Programme inhaltlich beeinflusste und umgekehrt: wie stark bestimmte Inhalte zu einer spezifischen Medienpraxis und einem veränderten Medialitäts- und Publikationsverständnis drängten. Die Tagung fügt sich so ein in die gegenwärtig sehr intensiv geführte Wissenschaftsdebatte über die kulturellen und religiösen Implikationen von Medienwandel, Medienwechsel und Medienfunktionen. Im September 2008 fand in Zug/Schweiz unter vorwiegend germanistisch-kulturwissenschaftlicher Gesamtleitung (Zürich/Amsterdam) eine disziplinär weit gefächerte Tagung zum Thema „Medialität des Heils im späten Mittelalter“ statt. Der gleichnamige Tagungsband, herausgegeben von Carla Dauven-von Knippenberg, Cornelia Herberichs und Christian Kiening, erschien in Zürich 2009.Während sich das Zuger Symposion auf das Spätmittelalter konzentrierte, rückte unsere Tagung die Frühe Neuzeit und in ihr thematisch die Reformation ins Zentrum der Debatte. Damit stellte sich die wichtige Frage, wie viel von der im ausgehenden Mittelalter aktuellen Medialitätskultur im Reformationszeitalter präsent bleibt, welche Medialitätsweisen einfach nur fortgesetzt, welche verstärkt, welche tiefgreifend verändert und welche – in einer Art Kulturbruch – abgeschafft werden.Wie ist also die mediale Innovation der Frühen Neuzeit und der Reformation im Spektrum von Medienrevolution, Medienkontinuität und allmählichem Medienwandel genauer zu bestimmen? – möglicherweise als Kombination dieser drei diachronen Verlaufsformen. Über die einzelnen Medien der Reformation ist bereits intensiv geforscht worden, insbesondere über Bibelübersetzungen in die Volkssprache, Predigten, Flug-
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Vorwort
schriften, Flugblätter, Bildpropaganda, Gemeindelieder, performative Mündlichkeit, Aktions- und Inszenierungsformen, Bekenntnisse und Kirchenordnungen. Auch gibt es medienthematische Gesamtdarstellungen zur Frühen Neuzeit und zur Reformation. Allerdings zeigen solche Überblicksdarstellungen drei gravierende Schwächen: 1. Das Reformationszeitalter wird zu stark vom Spätmittelalter abgekoppelt und damit in einseitig-überzogener Weise als Medienrevolution stilisiert. 2. Die Wahrnehmung der Medienvielfalt wird zu stark auf die Druckphänomene eingeengt. 3. Die auf die Medialität einwirkende, impulsgebende Dynamik von Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit, also die medienverändernde Kraft religiöser Inhalte, wird unterschätzt. Der vorliegende Band hingegen wirkt derartigen reduktionistischen Sichtweisen entgegen, indem er 1. Spätmittelalter, Renaissance-Humanismus und frühneuzeitliche Reformation medienthematisch zueinander in Beziehung setzt; 2. durch die Fächerung der Themen und die Auswahl der Verfasser/Verfasserinnen die gedruckte, handschriftliche, mündliche und aktionale Medienvielfalt präsentiert; 3. dem Wechselspiel von medientechnischen, religiösen, sozialen, institutionellen, ökonomischen und politischen Faktoren gerecht zu werden versucht. Der Mehrwert dieses Bandes gegenüber den bisherigen Studien zu einzelnen Medienbereichen der Reformation liegt darin, dass er eine vielperspektivische und nicht reduktionistische Gesamtsicht des Medienereignisses Reformation ermöglicht. Dieser Zielsetzung dient die dreigliedrige Struktur des Bandes: Der Mittelteil ist wichtigen Einzel-Medienbereichen der Reformation gewidmet (die Beiträge von Grosse, Burger, Magin, Griese, Wegmann, Schneider-Ludorff, Arnold, Simon, Rittgers, Friedrich); er wird von einem Teil eröffnender (Haberer, Kaufmann, Hamm, Sandl, Litz) und einem Teil abschließender Gesamtperspektiven (Köbele, Leppin, Zecherle, Ohst) umschlossen. Diese Gesamtperspektiven stellen die Verknüpfungen zwischen den Epochen, den Medienbereichen und Medialitätstypen her und fragen nach dem besonderen Medialitätscharakter der Reformation zwischen Mittelalter und Neuzeit und im Ringen der konfessionellen Mächte. Dabei wird sowohl in den speziellen Beiträgen als auch in den Synthesebeiträgen jeweils berücksichtigt, dass die unterschiedlichen Reformations- und Konfessionsparadigmen (städtische und ländliche Reformation, Gemeindereformation und obrigkeitliche Reformation, lutherische, reformierte, täuferische und spiritualistische Reformation im Gegenüber zur katholischen Reform) z.T. gemeinsame, z.T. sehr unterschiedliche Vorlieben für bestimmte Medien und zunehmend divergierende Profile des Medialitätsverständnisses ausbildeten. Besonders interessieren hier die protestantischen Einstellungsvarianten gegenüber den Bildmedien und den gottesdienstlichen Ritualen. Ein spezifisches thematisches Gewicht legt der Band auf die Spannungsverhältnisse zwischen Medialität und Unmittelbarkeit und damit auf spezifisch reformatorische Verständnisweisen von Gnadennähe, Heilspräsenz und Vergegenwärtigung des Transzendenten in der Abkehr von spezifisch katholischen Medienkonzeptionen und -praktiken sakraler Vergegenwärtigungen (wie Kultbil-
Vorwort
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der, Reliquien, Sakramente, Sakramentalien, Ablässe, heilige Personen, Räume, Rituale und Materialien). Leitend für alle Beiträge des Bandes ist daher die Frageperspektive: Wie thematisiert die Reformation in ihren verschiedenen Protagonisten, Strömungen und Phasen das spannungsreiche Verhältnis von unmittelbarer Präsenz und medialer Vermittlung, um der traditionellen Kirche des Mittelalters eine genuin christliche Wirklichkeit von Gnaden- und Heilsnähe entgegenzusetzen? Welche Konflikte werden durch diese Unmittelbarkeitkeits- und Vermittlungsproblematik nicht nur in der Konfrontation mit den Altgäubigen, sondern gerade auch innerhalb der Reformation selbst hervorgerufen? Und inwiefern zeigt sich darin – trotz vielfältiger Aspekte des Umbruchs gegenüber dem Mittelalter – auch das Weiterwirken einer spätmittelalterlichen Veränderungsdynamik und -divergenz in Kirche, Theologie, Frömmigkeit, Gesellschaft und Kultur? Im Blick ist zwar bei solchen Fragen intentional stets das Kommunikationsgeschehen der Reformation insgesamt, sofern wir einen weiten Medienbegriff voraussetzen: ‚Medialität‘ als zeichengestützte Mitteilungs- und Vermittlungsweise in einem Kommunikationsgeschehen. Doch konzentriert sich der Band innerhalb dieses Rahmens – religiöse Kommunikation als Kommunikation des ‚Evangeliums‘ – speziell auf die sehr komplexe Beziehung zwischen forcierten Konzeptionen göttlicher Unmittelbarkeit, Nähe und Präsenz und bestimmten Formen einer geistigen, sinnlich-körperlichen, personalen, materiellen und performativen Vermittlung des Heils. Thema des Bandes ist daher nicht nur die aufsehenerregende Medienverwendung der Reformation, sondern auch ihre eigene Reflexion über die Medialität dieser Medien und die Grenzen des Vermittelbaren – eine Grenze, die z. B. durch den Hinweis auf die göttliche Prädestination bzw. die verweigerte Prädestination zum Heil gezogen wird. In dieser thematischen Zuspitzung untersucht der Band eine Medienpraxis und Medientheorie, welche die Reformation zur Antriebskraft der Moderne und zur kritischen Kraft innerhalb der Moderne machte – mit Nachwirkungen bis hinein in die gegenwärtigen Konfessionskulturen und aktuelle religiöse wie auch säkularisierte Kommunikationsformen. Die Verantwortung für die Konzeption und Durchführung der Tagung und die Gestaltung dieses Tagungsbandes lag in den Händen einer Medienwissenschaftlerin und eines Kirchenhistorikers. Wir sind sehr dankbar für dieses wechselseitig inspirierende Zusammenwirken. Allen Autorinnen und Autoren des Bandes danken wir herzlich für ihre Beiträge, die nun den reichen Ertrag der Tagung auf „alterungsbeständigem Werkdruckpapier“ sichern. Ein besonderer Dank gebührt unseren studentischen Hilfskräften Franziska Gruber, Magnus Löfflmann und Annalena Graf, die sich mit großer Sorgfalt der redaktionellen Bearbeitung der Texte und der Anfertigung der Register widmeten. Den Kolleginnen und Kollegen im Herausgeberkreis der Reihe ‚Spätmittelalter, Humanismus, Reformation‘ danken wir herzlich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ebenso wie dem Verlag Mohr Siebeck, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Bettina Gade, für die bewährte zuverlässige Betreuung der Drucklegung. Unser großer
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Vorwort
Dank gilt nicht zuletzt auch der Fritz Thyssen Stiftung und der Universität Erlangen-Nürnberg, deren finanzielle Unterstützungen die Tagung erst ermöglichten. Der Fritz Thyssen Stiftung verdanken wir zudem einen namhaften Druckkostenzuschuss. Erlangen, im Oktober 2011
Johanna Haberer und Berndt Hamm
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johanna Haberer Distribution – Partizipation – Individualisierung. Grundsätzliche Beobachtungen zum Mediengeschehen des 16. Jahrhunderts in der Perspektive moderner Medienentwicklung . .
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Thomas Kaufmann Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Berndt Hamm Augustins Auffassung von der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens und die reformatorische Medialitätsproblematik . . . . . . .
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Marcus Sandl Sinn und Präsenz in der frühen Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gudrun Litz Die Depotenzierung traditioneller Gnaden- und Heilsmedien . . . . . . . . .
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Sven Grosse Fundamentalkommunikation – Luther, Karlstadt und Sebastian Franck im Disput über die Medialität der Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Burger Spätmittelalterliche und reformatorische Marienpredigten . . . . . . . . . . .
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Christine Magin Soli Deo gloria? Inschriftliche Medien der Reformationszeit . . . . . . . . .
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Sabine Griese Der ‚Herzmahner‘ – ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Susanne Wegmann Die Sichtbarkeit der Gnade – Bildtheorie und Gnadenvermittlung auf den lutherischen Altären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gury Schneider-Ludorff Reformatorische Epitaphkultur: Vergegenwärtigung des Heils im Totengedenken und Stiftungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthieu Arnold Gottes Nähe und Gottes Allmacht in den Briefen Martin Luthers und Martin Bucers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Simon Reformatorische Modi des Amtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ronald K. Rittgers „Got neher machen.“ Das Gnadenmedium des Leidens am Beispiel der Flugschrift Lazarus Spenglers Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten (1521). . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhold Friedrich Heilsvergegenwärtigung durch Bildung: Schule, Unterricht und Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susanne Köbele Metaphysik und Metapher. Spielräume der Argumentation bei Meister Eckhart und Sebastian Franck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Leppin Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung und ihre Bedeutung für die reformatorische Entwicklung Martin Luthers . . . . . . . . . . . . . . .
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Andreas Zecherle Die Verantwortung der Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums aus der Sicht Luthers und seiner Anhänger. Aspekte der frühen Diskussion im Spannungsfeld von Immediatisierung und Remediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Ohst Gottes Nähe und Gottes Ferne in der Theologie Martin Luthers . . . . . . .
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johanna Haberer
Distribution – Partizipation – Individualisierung Grundsätzliche Beobachtungen zum Mediengeschehen des 16. Jahrhunderts in der Perspektive moderner Medienentwicklung
I. Reformation als Medienereignis Der Zusammenhang des Reformationsgeschehens und der Medienrevolution, die mit dem Buchdruck mit beweglichen Lettern die öffentliche Kommunikation um die Jahrhundertwende vom 15. zum 16. Jahrhundert grundlegend veränderte, ist historisch gut beleuchtet und differenziert analysiert. Das gilt sowohl für die Wirkung einzelner Medien, wie Flugschriften oder Pamphlete,1 als auch für die Analyse der deutschen Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung.2 Mein Erlanger Kollege Berndt Hamm, der in einem glänzenden Aufsatz die Reformation als Medienereignis in ihrer Gesamtwirkung analysiert hat,3 weist zu Recht darauf hin, dass erst das Zusammenwirken vieler Medien und das Ineinandergreifen mannigfaltiger Kommunikationsformen diese gewaltige öffentliche Wirkung entfalten konnte, die dann eine neue Form der Öffentlichkeit modellierte. Hamm beobachtet den Wechsel einer öffentlichen Kommunikation von Belehrung und Ermahnung, der Tröstung und Erbauung hin zu einer programmatischen, polemischen, propagandistischen, agitatorischen Form der Kommunikation, eine neue Öffentlichkeit, die auf Aktualität setzt und sich losgelöst von Hierarchien und Herrschaftsverhältnissen organisiert.4 Das Thema Medialität in seinen vielen Dimensionen hat Berndt Hamm, wie am Thema dieses Symposiums an der Neige seiner aktiven Zeit als Hochschullehrer zu sehen ist, nicht mehr losgelassen und ich will nun – ohne mich in reformationshistorische Details und Diskurse zu begeben – die Perspektive publizistischer bzw. medien- und kommunikationswissenschaftlicher Kategorien auf die Reformation als Medienereignis öffnen. Die neue Öffentlichkeit – nennen wir sie reformatorische Öffentlichkeit oder konfessionelle Öffentlichkeit? – ist durch den Markt der neuen Drucktechnik und 1 Vgl. Franz-Heinrich Beyer: Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit, Frankfurt am Main 1994. 2 Vgl. Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002. 3 Vgl. Berndt Hamm: Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für biblische Theologie 11: Glaube und Öffentlichkeit, Neukirchen-Vluyn 1996, S.137–166. 4 Vgl. ebd., S.166.
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Johanna Haberer
ihrer raschen Verbreitung zum einen von der theologischen Auseinandersetzung geprägt, zum anderen ist sie durch den Markt aber auch ökonomisch geprägt. Man kann in den Jahren der Reformation beobachten, wie sich ein konfessioneller Meinungsmarkt und damit ein differenzierter Medienmarkt entwickelt: Der ökonomische Wettbewerb um die wertvolle Ressource der Aufmerksamkeit, um die konfessionelle Deutungshoheit über religiöse Sachverhalte und gesellschaftliche Ereignisse generiert zugleich eine Öffentlichkeit, die unabhängig von Schicht und Bildungslevel jeden einzelnen Menschen und seine Heilspartizipation meint. Diese religiösen Mediendiskurse entwickelten sich in kürzester Zeit hinein in die Breite eines immer größer werdenden Publikums: Das zeigt beispielsweise die kurze Story der Publikation der 95 Thesen. Aus einer theologischen Gelehrtenöffentlichkeit traten die relevanten Inhalte und Anliegen der lutherschen Theologie rasch in das Licht einer neuen Öffentlichkeit, die sich durch die Kontroverse modellierte. Luthers Thesen kamen in lateinischer Sprache gedruckt im Dezember 1517 in Leipzig, Basel und Nürnberg auf den Markt und waren im Januar 1518 bereits in Nürnberg auf Deutsch erhältlich und im Jahr 1518 in 16 Auflagen auf dem Markt. Luther schob, um der breiteren Verständlichkeit willen, gleich im März 1518 den „Sermon von Ablass und Gnade“5 hinterher, um den thetischen Argumentationsduktus dieses Werks in einen Argumentationszusammenhang zu stellen. Es ist schwer rekonstruierbar, inwiefern zu diesem Zeitpunkt bereits ein systematisches Verfahren des Veröffentlichungsprozesses beschrieben werden kann. Es gab wohl die ersten Anfänge von Lizenzkontrolle und Zensur, wobei die Zensur von kommunalen und kirchlichen Repräsentanten verantwortet wurde. Für Luthers Thesen gilt es in jedem Fall festzuhalten, dass er die einschlägigen Institutionen in Nürnberg widerspruchslos passierte. Caspar Nützel, ein Patrizier und Repräsentant der Stadt, übertrug wenig später die Thesen in Nürnberg auf eigene Verantwortung in die deutsche Sprache; wer die Thesen wo in Nürnberg druckte ist nicht ganz klar. Aber damit war die Voraussetzung geschaffen für den Disput in die Breite eines neuen Publikums, das durch die neuen Inhalte, die neu genutzten Publikationswege und die neuen Diskursmöglichkeiten entstand. Besonders die Flugblätter und Flugschriften, die sogenannten Pamphlete, intervenierten in scharfer Form in einer immer öffentlicher und kontroverser werdenden Debatte und wirkten sich nicht nur auf die politische Kultur Europas aus, sie wurden auch in die politische Kultur eingetragen6 und sie wurden und sind bis heute ein Muster für die massenmediale Auseinandersetzung in ihren unterschiedlichen Genres: Aktualität der Information, Relevanz der Information, Öffentlichkeit als ein Ort der Meinungsbildung, die Kommentierung von Sachverhalten jenseits der Exper5
WA 1, S. 239–246. Vgl. Olaf Mörke: Pamphlet und Propaganda. Politische Kommunikation und technische Innovation in Westeuropa in der frühen Neuzeit, in: Michael North (Hg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln 1995 (= Wirtschafts- und sozialhistorische Studien 3), S.15–32. 6
Distribution – Partizipation – Individualisierung
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tenmeinung, das Darlegen von Argumenten im Essay und die derbe Satire in Karikaturen, Liedern etc. Sie wurden auch Muster für die Mythenbildung, die den Weg der Gestalt Luthers vom originellen, engagierten Wittenberger Gelehrten zum heroischen Kämpfer gegen die herrschenden Machtstrukturen beschrieb, in meinen Kategorien: vom Impulsgeber einer Nachricht zur „Eliteperson“, die als Gegenüber des Papstes in Szene gesetzt wurde. Die Aneignung des Heils geschieht nach reformatorischer Überzeugung durch den Heiligen Geist in der Erkenntnis der Rechtfertigung für den Einzelnen und durch den Einzelnen. Die Reformation geht also von einer Individualisierung der Heilsaneignung aus, die sozusagen synästhetisch wahrnehmbar wird – das bedeutet: mit allen Sinnen, d. h. durch die Medien der Musik, der Kunst, der Rede und der Predigt, durch die heilige Schrift und deren eigenständig gelesene und gehörte Lektüre, komplettiert durch die Vielfalt, Kraft und Erreichbarkeit der veröffentlichten Argumente und Überzeugungen. Insofern erkennen wir bereits in der Reformation das Muster einer Individualisierung durch Medien, die mit einer Diversifizierung der Distribution einher geht oder umgekehrt: eine Diversifizierung der Distribution, die mit einer Individualisierung der Rezeption einhergeht und mit dem Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu den konkurrierenden theologischen und gesellschaftlichen Lesarten und Deutungsangeboten. Wir finden erst 500 Jahre später im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts mit der Verbreitung des „world wide web“ einen ähnlichen medialen Quantensprung hin zur Individualisierung der Kommunikation, hin zu einem Selbstermächtigungsschub in der Aneignung von modernen Kulturtechniken und hin zu einer Entzauberung bislang unbestrittener Autoritäten. Mit dem einen entscheidenden Unterschied: Heute hat sich die Möglichkeit der Distribution von Inhalten so unermesslich gesteigert, dass die Frage nach der Menge und der Qualität des verbreiteten Inhalts und nach der Orientierung in der Vielfalt zu einer Leitfrage der Kultur wird, während das reformatorische Thema der Aneignung des Heils in reformatorischen Zeiten ein höchst relevanter, nach Verbreitung drängender Inhalt gewesen ist. In der Reformation hat der „content“, wie wir heute sagen, der drängende Inhalt der Gnadenbotschaft, den Distributionsschub erst ermöglicht und ausgelöst. Übrigens war der Buchdruck eine Technik, die von den Religionsrepräsentanten ausdrücklich begrüßt wurde, auch das hat er mit dem Internet gemeinsam7. Die folgende mediale Entwicklung hin zum Zeitungsdruck, dem Film bzw. dem Rundfunk waren technische Entwicklungen, die immer mit der mahnenden und warnenden Kritik der Kirchen einhergingen, die diese Entwicklung der Massenmedien und der damit verbundenen Deutungsmacht weniger Monopolisten als Konkurrenz im Wettbewerb um die Deutung der Gesellschaft und der Welt identifizierten. Lassen Sie mich am Rande erwähnen, dass das gesellschaftliche Emotionalisierungspotential von Religion immer noch und nach wie vor äußerst hoch ist – wie man an der Sarrazindebatte sehen kann – und dass gerade in den letzten Jahren 7
Vgl. Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert (wie Anm. 2), S. 62.
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der Selbstvergewisserung in der christlichen Kultur die großen Leitmedien in der deutschen Zeitungslandschaft Religion und Theologie als Diskursthema erster Klasse entdeckt haben. Es gibt Sonderhefte des SPIEGEL und des STERN, es gibt neue Zeitungsrubriken wie „Glaube und Zweifel“ in der ZEIT und es ist bekannt, dass jede konfessorische Äußerung in Sachen Religion auch und gerade konfessionell pointierte Fluten von Leserbriefen auslösen. Neben der Individualisierung der medialen Heilsvermittlung gab die Reformation auch das Muster ab für die protestantische Perspektive auf die Selbstermächtigung des Einzelnen zum medialen Diskurs. Die Reformation, die ja theologisch das „Hören“ als den Empfangssinn für Gott beschreibt und das Ohr als das wichtigste Organ, leitete eine bis dahin nie da gewesene Epoche der Schriftlichkeit in deutscher Sprache ein. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen, die an den religiösen und politische Diskursen Anteil nehmen wollten, die dazu gehörigen Kulturtechniken erlernen mussten: das Prinzip der Selbstermächtigung für den öffentlichen Diskurs und der dazu nötigen Kompetenz. Der daraus resultierende Bildungsschub, der sich in der Alphabetisierung zeigt, weist sich ebenfalls als kulturprägendes Muster in der Reformation aus. Der Individualisierung folgt die Frage der kulturellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten der Partizipation am öffentlichen Diskurs. Die Emanzipation von Dogmen und Gesetztem, die Emanzipation von weltlichen und geistlichen Hierarchien und die Eröffnung einer Gegenöffentlichkeit gegenüber den die Öffentlichkeiten und die Distributionswege dominierenden Machtstrukturen durch den professionellen Mediengebrauch sind ein weiteres Muster der Reformation, sowie die Hinterfragbarkeit der Autoritäten, die Kontaminierung der fraglosen Annahme ihrer Deutungsautorität und die Selbstverantwortlichkeit für das Heil. Zu der Selbstverantwortlichkeit für die eigene Wahrnehmung und für die eigene Bildung gehören auch die Partizipation am Diskurs innerhalb der verschiedenen Öffentlichkeiten und der Abschied vom Expertenwesen. Zur Partizipation wurden die unterschiedlichen „Laien“ ermutigt.Auch theologische Fachdiskurse wie z. B. die Disputation zu Leipzig zwischen Dr. Luther und Dr. Eck oder Luthers Auftritt zu Worms wurden in den Kreisen der Anhänger Luthers sofort in Flugschriften „journalistisch“ eingeordnet und bewertet und dabei weit über den Kreis der Gelehrten hinaus mit entsprechender Kommentierung an eine „reformatorische“ Öffentlichkeit vermittelt. Dabei spielten die unabhängigen Drucker und die mächtigen Auflagen, die dort erzielt wurden, sowie die ökonomische Ressource, die in den Stars der Reformation verborgen lag, eine große Rolle. So klagt Martin Luther in einem Brief an Georg Spalatin vom 11. Juli 1523 seinen Medienüberdruss: Er wolle eigentlich nichts mehr publizieren, weil er vom vielen Schreiben müde sei. Lukas (da ist wohl Lucas Cranach d. Ä. gemeint, der in dieser Zeit gerade erst seine Druckerei geöffnet hatte und dringend Aufträge benötigte) brauche aber etwas, so dass er, Luther, sich zum Sklaven der Gewinnsucht anderer machen lasse.8 8
WA.B 3, S.109,18–110,21 (Nr. 633).
Distribution – Partizipation – Individualisierung
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Weiterhin bildete die Reformation das Prinzip der Personalisierung ab, wie sie im heutigen Mediengeschäft je länger je mehr ein wichtiges Prinzip der Nachrichtenwerte darstellt. Die Konzentration auf Martin Luther und seine Begabung für mediale Events, wie etwa die spektakuläre, wohl kalkulierte Verbrennung der Bannandrohungsbulle, deren Initiative je länger, je mehr Luther sich selbst zurechnete, oder die blitzschnelle kommentierende mediale Veröffentlichung seines Auftritts in Worms, zeigen, wie die Reformatoren mit den sich neu eröffnenden medialen Möglichkeiten virtuos zu spielen wussten, die Medien benutzten, um einen öffentlichen Druck zu erzeugen und damit die bisher herrschenden Autoritäten in Frage zu stellen und den neuen Autoritäten auf den Sockel zu helfen. Der Einsatz vielfältiger Medien diente einer Partizipationsbewegung und einer Emanzipationsbewegung weg von den bislang herrschenden religiösen und politischen Autoritäten.Auch entstand das Muster einer öffentlichen Streitkultur, flankiert von Karikaturen und Spottversen, von Disputationen und Schmähliedern. Der Papst in Rom fand sich Anfang des 16. Jahrhunderts in einem Gewitter medialer Infragestellungen wieder, wie das heute schwer denkbar ist. Im Vergleich dazu sind die Mohammedkarikaturen, die vor einigen Jahren solchen Staub aufwirbelten, geradezu Lappalien. Es dauerte nur vier Jahre, bis die katholische Hierarchie geistlicher und weltlicher Provenienz die gefährliche Relevanz dieser neuen, individualisierten Diskursöffentlichkeit erkannte. Als sie sie erkannte, war die neue Kommunikationskultur nicht mehr rückgängig zu machen. Erst mit dem Wormser Edikt lässt die verwirrte kirchliche und weltliche Hierarchie der alten Ordnung erkennen, dass sie die revolutionäre Relevanz des theologischen und geistlichen Marketingereignisses Reformation begriffen hat: Penibel befasst sich das Wormser Edikt9 mit der Frage medialer Veröffentlichung und mit den Rezipienten medialer Veröffentlichung. Zur Erinnerung die Formulierungen des Wormser Edikts: „Ferrer gebieten wir Euch allen und Eur jedem insonders bei den vorgeschrieben Poenen [= Strafen], daß Eur keiner des obgenannten Martin Luthers Schriften, von unserm Heiligen Vater Papst, wie obsteht, verdammt, und all ander Schriften, die in Latein und Deutsch oder in ander Sprach bisher durch ihne gemacht sein oder hinfür gemacht werden, als bös, argwöhnig und verdächtlich und von einem offenbarn, hartnäckischen Ketzer ausgegangen, kauf, verkauf, lese, behalt, abschreib, druck oder abschreiben oder drucken lasse, noch seiner Opinion [= Ansicht] zufall, die auch nit halt, predig noch beschirme, noch das in einig ander Weg, wie Menschensinn das bedenken kann, unterstehe, unangesehen, ob darin etwas Gutes, den einfältigen Menschen damit zu betriegen, eingeführt wäre. Dann wie die allerbeste Speis, so mit einem kleinen Tropfen Gifts vermischet, von allen Menschen gescheuet, so viel mehr sollen soliche Schriften und Bücher, in den so manig [= manch] der Seelen Gift und Verdammnus eingeführt sein, von uns allen nit allein vermieden, sonder auch die von aller Menschen Gedächtnus abgetan und vertilgt werden, damit sie niemands schaden oder ewiglich töten.“
In diesen Bestimmungen des Wormser Edikts ist ein differenziertes Zensurprogramm verborgen, das sich auf den Besitz, den Erwerb, den Vertrieb, die Verbrei9 Martin Luther: Das Wormser Edikt 1521, in: Deutsche Reichstagsakten (RTA), Jüngere Reihe. Bd. 2, Gotha 1899 (Nachdruck: Göttingen 1962), S. 643–661.
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Johanna Haberer
tung, die Weitergabe, die Aufforderung zum Druck, die Arten der Vervielfältigung, die Erscheinungsweise und die Erscheinungssprachen bezieht. Die reformatorische Grundidee von der Gnade, die umsonst und geschenkt ist, wird mit einem Tropfen Gift verglichen, der die ganze Speise durchdringt. Die Schriften Martin Luthers sollten auf diesem Wege vom Erdboden verschwinden und aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt werden. Zu spät. Die lutherischen Ideen und ihre Verbreitung in Wort und Bild, in Predigt und Lied, in Sprache und Musik waren in der reformatorischen Öffentlichkeit nicht mehr aufzuhalten, die literarische Verbreitung nicht mehr einzudämmen, weil sich die Zensurversuche nicht mehr realisieren ließen. Daniel Meier hat herausgearbeitet, dass dieser ökonomisch orientierte konfessionelle Medienhype produktiv mit den modernen Kategorien der Nachrichtenwerte erfasst werden kann.10 Die Nachrichtenwerttheorie versucht seit Mitte des vorigen Jahrhunderts die Kriterien herauszuarbeiten, die im wettbewerblich organisierten Medienmarkt eine Nachricht zur Nachricht werden lassen. Diese Kategorien spielen auf ganz unterschiedlichen Ebenen und beschreiben ganz unterschiedliche Aspekte des Medienmarktes. Nach diesen kommunikationswissenschaftlichen Kategorien erfüllt das Reformationsereignis eine Menge von Vorraussetzungen, um auch nach den Kriterien moderner Nachrichtenkommunikation zum Event zu werden. Meier hält fest, dass die reformatorische Botschaft nicht hätte erfolgreich sein können, wenn sie von der Bevölkerung nicht für relevant erachtet worden wäre. Die besondere Intensität dieser Relevanz dürfte darin gelegen haben, dass sie sowohl die gesamtgesellschaftlich-kulturelle und universell-globale als auch die individuelle, vor allem aber die existenzielle Dimension der Relevanz umfasst hat. Der Faktor der Negativität bezog sich vor allem auf den negativen Kontext der kirchlichen Zustände, welche die Reformatoren bekämpfen wollten. Vor allem die antipäpstliche wie antilutherische Polemik zeichnete den jeweiligen Gegner dabei anhand negativer Aspekte. Das gewisse Gegensatzpaar der Nachrichtenfaktoren Konsonanz und Überraschung findet seine Entsprechung auch in der Reformationsgeschichte. Einerseits bewegten sich die Reformatoren in der Lebens- und Glaubenswelt des Spätmittelalters mit dessen Erwartungshorizont, andererseits zeichneten sie sich durch eine teilweise überraschende Radikalität aus, die bei den einzelnen Strömungen der Reformation unterschiedlich stark ausgeprägt war.Vor allem das Thema Ablass war bereits vor Luther auf die kirchlich-gesellschaftliche Agenda gesetzt, so dass diesbezüglich der Nachrichtenfaktor der Kontinuität zum Tragen kommen konnte. Die Bedeutung der Faktoren Personalisierung und Prominenz ist hinsichtlich der Reformationszeit selbstredend. Freilich gilt bereits für die Reformationszeit, dass Prominenz stets auch (massen-)medial konstruiert wird, dies gilt nicht zuletzt 10 Daniel Meier: Kirchengeschichte in der Perspektive der Kommunikationswissenschaft. Das Beispiel der Nachrichtenwerttheorie, in: Berndt Hamm u. a. (Hg.): Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58), S.13–26.
Distribution – Partizipation – Individualisierung
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für Martin Luthers Entwicklung vom Mönch zu einer Art frühneuzeitlichem ‚Medienstar‘, der selber in ausgeprägter Weise über jene Fähigkeit verfügte, die heute ‚Medienkompetenz‘ genannt wird. Neben einer prominenten Person als Träger der Reformation dürfte nicht zuletzt ausschlaggebend gewesen sein, dass mit Deutschland jener Nachrichtenfaktor berücksichtigt wurde, den die Pioniere der Nachrichtenforschung als Elite-Nation bezeichnet haben11. Nicht zuletzt kann deren Formulierung des Faktors Eindeutigkeit12 als ein Grund für den Erfolg der Reformation ausgemacht werden: Anhand einer strikten Dichotomisierung zwischen reiner Wahrheit und reiner Perversion wurde Komplexität reduziert und normativ zentriert und damit medial verwertbar. Diesem letzten Gedanken möchte ich in einem zweiten Teil ein wenig gründlicher nachgehen.
II. Die normative Zentrierung, die Medien und der Wandel der Aufmerksamkeit Seit zwanzig Jahren beschreibt Berndt Hamm Kontinuität und Wandel in der Reformationszeit hilfsweise mit dem Begriffskonstrukt „normative Zentrierung“. Ein Begriff, der zu fassen versucht, wie im Zeitalter der Reformation durch die konzentrierten, zusammenfassenden, ja schlagwortartigen Botschaften der Reformation eine Antwort auf die Erfahrung wachsender Komplexität und Individualisierung der Lebensbereiche gegeben wurde und wie zugleich gerade durch die Verschlagwortung und Vereinfachung der theologischen Grundaussagen die Tendenzen zur Partikularisierung oder in meiner Sprache „Diversifizierung“ noch verschärft wurden.13 Ich will diesen Begriff der „normativen Zentrierung“ heute ins Gespräch bringen mit einem anderen Begriff, der in den vergangenen Jahren in kulturwissenschaftlichen, kunsthistorischen, medienwissenschaftlichen und philosophischen Debattenansätzen immer wieder ein Rolle gespielt hat (von Assmann bis Waldenfels, von Franke bis Türcke) und der die kommunikationstheoretischen und medienwissenschaftlichen Modelle der Beschreibung von kulturellem und medialem Wandel durch spirituelle, ästhetische, ethische und pädagogische Aspekte ergänzt und inhaltlich füllt. Ich möchte den Begriff der „normativen Zentrierung“ zusammen denken mit dem Begriff der „Aufmerksamkeit“. 11 Vgl. Johan Galtung/Mari Holmboe Ruge: The Structure of Foreign News.The presentation of the Congo, Cuba and Cyprus crises in four Norwegian newspapers, in: Jeremy Tunstall (Hg.): Media Sociology. A Reader, London 1970, S. 259–298, hier S. 265: „The more the event concerns élite nations, the more probable that it will become a news item.“ 12 Vgl. ebd. S. 263: „The less ambiguity the more the event will be noticed.“ 13 Vgl. Berndt Hamm: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: Jahrbuch für biblische Theologie 7: Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft, Neukichen-Vluyn 1992, S. 241–279; ders.: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S.163–202; jetzt in: ders.: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich/Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), S. 3–40.
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Der Kunsthistoriker Jonathan Crary versucht in seinem inspirierenden Werk „Wahrnehmung und moderne Kultur“14 zu zeigen, „wie die westliche Moderne seit dem 19. Jahrhundert von Individuen verlangt, sich im Sinne eines Vermögens der Aufmerksamkeit zu definieren und zu formen, [. . .] wie sie verlangt, sich auf eine begrenzte Anzahl isolierter Reize zu konzentrieren“.15 Er versucht, in einem weiten Bogen, der letztlich die Subjektivität des Betrachters zum Thema hat, die Rolle zu reflektieren, die ein neues System „von Quantifizierung und Distribution“ spielte, „ein System“, das „primär für eine Weitergabe und Rezeption im Sinne von abstrakten Prozessen entworfen war, bei nur geringer oder fehlender Definition eines vorgängigen Inhalts“.16 Die neuen Bildmedien am Ende des 19. Jahrhunderts, die Fotografie und der Film, sind für ihn eine Art Aufmerksamkeitsdikatoren, die die Wahrnehmung selektieren und die Wahrnehmung der Menschen von sich selbst und ihrer Mitwelt vollständig verändert haben. Ich denke, es könnte produktiv sein, die Reformation und ihre medialen Voraussetzungen und Folgen unter dem Begriff des „Aufmerksamkeitswandels“ zu bedenken, wobei, um Crary aufzunehmen, das sich in der Reformation entwickelnde Mediensystem und das sich entwickelnde System medialer Gattungen, dieses neue System der Quantifizierung und Distribution, auf eine religiös, politisch und gesellschaftlich explosive Botschaft traf, die in ihrer normativen Zentrierung auf wenige Grunderkenntnisse ideal medial verbreitet werden konnte. Die normative Zentrierung ist das Geheimnis des medialen Erfolgs der Reformation. Diese normative Zentrierung hat einen Aufmerksamkeitswandel zu Folge. Wie Crary richtig beobachtet, kommt das Thema Aufmerksamkeit parallel zu der Entstehung neuer Bildmedien philosophisch, psychologisch und empirisch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die wissenschaftliche Debatte. Aleida Assmann gab bereits 1996 einen Sammelband zu dem Thema heraus, in dem sie den Begriff der Aufmerksamkeit und die unterschiedlichen menschlichen Aufmerksamkeiten als kulturelles Phänomen verfolgt und zwischen einer strategischen und einer transzendierenden Aufmerksamkeit unterscheidet, wobei die erstere das Ergebnis von Inszenierungen und die andere das religiöse Staunen beschreibt.17 Schon Augustinus intonierte ein theologisches Nachdenken über Aufmerksamkeit, indem er die menschliche Aufmerksamkeit als wandelbares Phänomen beschreibt im Unterschied zur göttlichen „intensio“, die eine unwandelbare Aufmerksamkeit Gottes auf seine Schöpfung ist: „Seine Aufmerksamkeit geht nicht von einem Gedanken zum anderen über, sondern seine unkörperliche Anschauung hält alles zugleich wissend umfasst“.18 Das Problem der Aufmerksam14 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit.Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002 (übersetzt von Heinz Jatho); engl.: Suspension of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, London 1999. 15 Ebd. (dt.), S.13. 16 Ebd., S. 34. 17 Vgl. Aleida Assmann: Einleitung, in dies./Jan Assmann (Hg.): Aufmerksamkeiten, München 2001 (= Archäologie der literarischen Kommunikation 7), S. 20ff. 18 Augustinus: Werke, hg. von Wilhelm Thimme, Zürich 1955, Bd. 2, S. 33.
Distribution – Partizipation – Individualisierung
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keit des Menschen wird hier festgemacht an der Beobachtung der sich verändernden Gedankenrichtungen. Der Philosoph Bernhard Waldenfels versucht dem Begriff und dem Wesen der Aufmerksamkeit auf die Spur zu kommen. Er bescheinigt der menschlichen Aufmerksamkeit etwas zunächst ganz und gar Unverfügbares.Aufmerksamkeit ist ausgespannt zwischen einem unwillkürlichen und einem willentlichen Akt. Sie liegt ausgespannt zwischen der Ästhetik und der Ethik, zwischen dem Sein und dem Sollen.Wobei die Aufmerksamkeit nicht moralisiert werden kann und dennoch immer einen ethischen Unterton hat: „Was uns auffällt, lässt uns nicht gleichgültig.“19 Die Beachtung, die etwas oder jemand findet, ginge damit über in eine Achtung, die geschuldet ist und die wir schenken oder verweigern. Denn Aufmerksamkeit hat immer eine soziale Konnotation. Aufmerksamkeit führt zur Beachtung. Beachtung, die wir schenken, kann zu Achtsamkeit führen, zu Rücksicht und Respekt. Das niederländische Wort für Aufmerksamkeit ist im Übrigen „aandacht“.20 Aufmerksamkeit hat also eine zutiefst spirituelle Dimension. Die Reformation eröffnet theologisch in unterschiedlichen Dimensionen eine neue, eine andere Aufmerksamkeit auf das Heil. Der einzelne Mensch wird unmittelbar erreicht: singend, lesend, hörend auf die Predigt des Wortes, die unmittelbare Nähe zu der Barmherzigkeit Gottes, die es nun nicht mehr zu erringen gilt in der Aufmerksamkeit auf eine unüberschaubare Heilsökonomie, auf ein komplexes Regelwerk von Heilsvorschriften, sondern die medial angeeignete unmittelbare Gnadenwirkung wird allein durch die Schrift und den Glauben an die Gnade Gottes durch Jesus Christus erreicht. Somit wandelt sich die Aufmerksamkeit des Einzelnen vom eigenen Heil hin zum Wohl der Gesellschaft und der Kultur. Die durchaus ungesunde „Vertikalspannung“, wie der Philosoph Peter Sloterdijk sagen würde, die das „üben“, „üben“, „üben“, die Perfektionierung des eigenen Heilszugangs als Wahrnehmungsanordnung hatte, wird entspannt.21 Das Gottesverhältnis entspannt sich. Die geistliche Aufmerksamkeit, die eine mediale Heilsaneignung eröffnet, wandelt die aktive wie passive Aufmerksamkeitsstrategie. Die Menschen erfahren als Einzelne die Aufmerksamkeit Gottes, für deren Wahrnehmung sie selbst verantwortlich sind. Aktiv richten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Aneignung des Heils durch den Glauben, den sie im Lesen der Schrift, im Hören der Predigt immer wieder erneuern.Wobei ihre Aufmerksamkeit zentriert ist auf die Zusage der ewigen Barmherzigkeit Gottes. Diese zentrierte und gelenkte Aufmerksamkeit setzt nun einen Wandel frei hin zu einer öffentlichen Aufmerksamkeit. Die normative Zentrierung setzt einen Aufmerksamkeitswandel in Gang, der aus der Furcht um das eigene Heil befreit und die Gestaltung des Alltags, des individuellen und des sozialen, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Gottes barmherzige Aufmerksamkeit gilt es geistlich anzunehmen, um frei zu werden für eine Aufmerksamkeit auf die zu gestaltende 19 20 21
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Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt/Main 2005, S. 261. Ebd., S. 261–269. Vgl. Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/Main
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Welt hin. Vielleicht liegt in diesem Aufmerksamkeitswandel das Geheimnis der Zentrierung, die zugleich eine Diversifizierung des kulturellen und politischen Lebens intoniert.
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Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation I. Die Themenformulierung dieses Beitrages erscheint erklärungsbedürftig. Denn sie steht in – zugegebenermaßen nicht unbeabsichtigter – Spannung zu der verbreiteten, profiliert etwa von Karant-Nunn vertretenen Auffassung, dass die Reformation, freilich in gradueller Abstufung ihrer lutherischen und ihrer reformierten Auslegungsgestalt, cum grano salis einen Prozess der Entsinnlichung und Entemotionalisierung des Christentums, also einer Zurückdrängung der affektiven religiösen Ausdruckformen, eingeleitet habe. Ziel der Reformation sei es gewesen, die „Heftigkeit des Gefühlsausdrucks zu reduzieren, manche Gefühlsäußerungen ganz zu unterdrücken“1 und sakrale Objekte zu eliminieren bzw. zu delegitimieren, die durch sinnliche, primär haptische, visuelle oder geruchliche Apperzeption Heiligkeit in materieller Gestalt erfahrbar machten. Durch die Reformation seien „gefühlsbetonte, somatisch engagierte Frömmigkeitsformen“2 zurückgedrängt und unterdrückt worden. Körperliche und seelische Interaktionsformen mit dem Heiligen oder dem Göttlichen, wie sie etwa über die Leidensnachfolge möglich waren, seien abgeschafft worden, da „ein intellektuelles Konzept“3, nämlich Christi stellvertretendes Strafleiden für den Büßer, der sich seiner Sünde bewusst werden solle, an die Stelle des Interesses an einem gefühlsmäßig erfassbaren Schmerz getreten sei. Der Vergeistigung des Gottesbildes korrespondiere im Protestantismus eine Rationalisierung im Verhältnis des Gläubigen zur Gottheit und eine Disziplinierung und Maskulinisierung der vor allem auf den Gehorsam und die Moral fokussierten Gefühlskultur. So zutreffend die These hinsichtlich der reformatorischen Restriktionen gegenüber affektiv-theatralischen religiösen Gebärden sein dürfte, so wenig freilich leuchtet die Entsinnlichungshypothese als ganze ein. Die 1 Susan C. Karant-Nunn: „Gedanken, Herz und Sinn“. Die Unterdrückung der religiösen Emotionen, in: Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttingen 1999 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), S. 69–95; in überarbeiteter Form eingegangen als Kap. 2, in: Dies.: The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010, S. 63–100. 275–289. 2 Karant-Nunn: Gedanken (wie Anm.1), S. 72. 3 Ebd., S. 81. Im Hintergrund dieser Bewertung des Protestantismus als einer „entsinnlichten Religion“ (Hans Belting: Bild und Kult, 6. Aufl., München 2004, S. 510; ähnlich 517) steht natürlich vor allem der „Bildersturm“ (s. dazu die Hinweise unten Anm. 66).
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Persistenzen des bei Karant-Nunn hinsichtlich der Wertungen freilich invertierten Troeltsch-Weberschen Modernisierungs- und Rationalisierungsnarrativs sind in diesem Konzept unübersehbar. In ihrem unlängst erschienen Buch „The Reformation of Feeling“ hat Karant-Nunn diese Tendenz allerdings zugunsten einer stärkeren Rückbindung der reformationszeitlichen Transformationen an spätmittelalterliche Entwicklungen abgeschwächt4 und unter Rekurs auf das Konfessionalisierungsparadigma5 die Parallelität der ‚entsinnlichten‘ Entwicklungen in den konfessionell ‚multiplen Modernitäten‘ betont. Bevor ich meinen jedenfalls partiellen Widerspruch in der Gegenthese einer eminenten Sinnlichkeit der Heilsaneignung in der lutherischen und der radikalen Reformation entfalte, scheinen mir allerdings einige allgemeinere Bemerkungen zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit bzw. ihrer wissenschaftlichen Deutung in einigen exemplarischen und wirkungsreichen Interpretationen, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Sinne, notwendig zu sein. Dass die spätmittelalterliche Frömmigkeit schwerlich auf ‚einen Nenner‘ zu bringen, sondern als hochgradig spannungsvoller, ambivalenter, ja polarer Sachverhalt zu beschreiben ist, stellt eine Art Konsens der einschlägigen Forschung spätestens seit Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ dar. Huizinga beobachtete neben dem „Schlendrian einer ganz veräußerlichten Religion“ „inbrünstige Erregungen leidenschaftlicher Frömmigkeit, die immer wieder spasmisch das Volk“6 ergriffen hätten; von diesem Wechsel, diesen „heftigen Gegensätzen und 4 Karant-Nunn: Reformation (wie Anm.1), S. 65. Aus der Fülle der Literatur zu den Reformationsdeutungen Ernst Troelschs und Max Webers sei lediglich verwiesen auf: Wolfgang Schluchter/ Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus, Tübingen 2005; Hartmut Lehmann: Die Entzauberung der Welt. Studien zu Themen von Max Weber, Göttingen 2009 (= Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung 11), sowie die Einleitungen zu den Bänden: Volker Drehsen/Christian Albrecht (Hg.): Ernst Troeltsch. Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), Berlin/New York 2004 (= Kritische Gesamtausgabe 7); Trutz Rendtorff/Stefan Pautler (Hg.): Ernst Troeltsch. Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), Berlin 2001 (= Kritische Gesamtausgabe 8). 5 Vgl. Karant-Nunn: Reformation (wie Anm.1), S. 245–255. Die Konfessionalisierungsdebatte scheint nunmehr in die Phase ihrer handbuchartigen Thesaurierung einzutreten, vgl. nur: Thomas Kaufmann: Art. Konfessionalisierung, in: Enzykopädie der Neuzeit, Bd. 6 (2007), Sp.1053–1070 [Lit.]; ein instruktiver Literaturbericht (Teil III) ist erschienen von: Heinz Schilling: Konfessionalisierung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), S. 348–359, sowie die kompakte Darstellung dess.: Early Modern European Civilization and its Political and Cultural Dynamism, Hanover/London 2008 (= The Menaham Stern Jerusalem Lectures). 6 Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters, hg. von Kurt Köster, 11. Aufl., Stuttgart 1975 (= Kröners Taschenbuchausgabe 204), S. 246 (Kasus z.T. von mir geändert, Th. K.); zu Huizinga vgl. Christoph Strupp: Johann Huizinga. Geschichtswissenschaft als Kulturgeschichte, Göttingen 2000, S.134ff.; Wilhelm Frijhoff: The Relevance of Dutch History, or: Much in Little? In: Bijdragen en Medelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 125 (2010), S. 7–44, besonders S. 7–11; zu Huizingas Bild des späten Mittelalters s. auch: Hans Gerhard Senger: Eine Schwalbe macht noch keinen Herbst. Zu Huizingas Metapher vom Herbst des Mittelalters, in: Jan A. Aertsen/Martin Pichavé (Hg.): Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 2004, S. 3–24; William C. Courtenay: Huizinga’s Heirs: Interpreting the Late Middle Ages, in: ebd., S. 25–36.
Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation
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[. . .] starken Spannungsübergänge[n]“ zwischen „naive[r] Äußerlichkeit“ und „inbrünstigem Überschwang“, sei nicht nur die „Masse“, sondern seien auch die „Gebildeten“7 berührt worden; in dem scharfen „Dualismus“8 von Gottes Reich und sündiger Welt habe die spätmittelalterliche Frömmigkeit ihr religiöses Movens besessen; auch im einzelnen Menschen konnten diese Spannungen, selbst in paradox anmutender Weise, verbunden sein. Bei Willy Andreas stellt sich die spätmittelalterliche Frömmigkeit in einer Polarität von Individualisierung und Kollektivierung, unter dem Einfluss der Mystik gewonnener „Sehnsucht nach persönlicher Vergewisserung des Heils“9 und „Häufung“ und „Massenhaftigkeit“10, dar. Während der erstgenannte Zug mit einer tendenziellen Verselbstständigung und Entfremdung von der kirchlich-institutionellen Heilsvermittlung einhergegangen sei, lebte sich der zweitgenannte Zug zur Massenhaftigkeit, zum Dinglichen und zum Quantitativen, in „kirchliche[m] Betätigungsdrang“11 aus. „Geistiges“ und „Grobkörniges“, „Inbrunst“ und „Verflachung“12, letzteres vor allem an den zu „zügellosen Massenwanderungen“13 degenerierten Wallfahrten und der „bis zum Materialismus gehende[n] Versinnlichung und Vervielfältigung des Reliquienwesens“14 aufgewiesen, hätten die Kräfte in einer brodelnden Spannung gehalten, die erst durch den aus den „Tiefen deutscher Innerlichkeit“ schöpfenden „religiöse[n] Genius“ und geborenen „Führer“15 aus Wittenberg gelöst werden konnte. Unter Abschwächung der Wertungen und Preisgabe des traditionellen protestantischen Teleologismus in Bezug auf die Beschreibung des Kirchenwesens um 1500, das angeblich mit innerer Notwendigkeit auf die Reformation zugetrieben sei, hat Bernd Moeller in einem wirkungsreichen Aufsatz des Jahres 1965 die These zweier „vielfach gegensätzliche[r] Tendenzen und Stimmungen“, des „Zug[es] zur Massenhaftigkeit“ und der Neigung zum „Individualismus“, des „Hang[es] zur stillen Innerlichkeit und innigen Schlichtheit“16 erneuert. Allerdings wurde von Moeller das Engagement der Laien für die Neuordnung des kirchlichen Lebens insbesondere in den Städten – anknüpfend an die Thesen aus „Reichsstadt und 7
Huizinga: Herbst (wie Anm. 6), S. 248f. Ebd., S. 251. Willy Andreas: Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, 6. neu überarb. Aufl., Stuttgart 1959, S.138; vgl. den Art.Andreas, Willy von Bernard Laxy, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 29 (2008), Sp. 46–75. 10 Andreas, Deutschland (wie Anm. 9), S.143. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 200. 13 Ebd., S.174. 14 Ebd., S.168. 15 Ebd., S. 201. Der Passus ist aus den früheren Auflagen (von mir eingesehen: 4., neu durchgesehene Aufl. Stuttgart/Berlin 1943, S. 223f.) in die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene unverändert übernommen worden. 16 Bernd Moeller: Frömmigkeit in Deutschland um 1500, zuerst in: Archiv für Reformationsgeschichte 56 (1965), S. 5–30, danach wiederabgedruckt in: Ders.: Die Reformation und das Mittelalter, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S. 73–85. 307–317. Ein Verweis auf Andreas’ Werk unter den Gesamtdarstellungen, in denen das Thema „wertvoll“ behandelt sei, ebd., S. 307, Anm. 2. 8 9
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Reformation“17 – besonders akzentuiert18; in Bezug auf den von Heilssehnsucht geprägten „Subjektivismus der Frömmigkeit“ betonte Moeller einen versteckt emanzipatorischen Zug: „man wählt sich seine Heilsmittel“19. Ansonsten hob er die Kirchlichkeit20, „die äußerste Steigerung der mittelalterlich-kirchlichen Devotion“21, hervor; eine möglicherweise subkutan kirchen- bzw. institutionskritische Dimension der individualistischen praxis pietatis wurde von ihm hingegen – im Unterschied zu Huizinga – eher an den Rand geschoben. Berndt Hamms breit rezipiertes Konzept der „Frömmigkeitstheologie“ setzt, wenn ich recht sehe, eine vergleichbare Spannung oder besser ‚Polarität‘ von „sakralinstitutioneller“ und „interiorisierender“22 Frömmigkeit voraus. Der praktisch-ethische und erbauliche Charakter der Frömmigkeitstheologie liefert gleichsam eine integrale Antwort auf die frömmigkeitskulturellen Antinomien; sie bahnt einen auf praktische Frömmigkeit hin konzipierten theologischen Lösungsweg, auf dem dann auch die Reformation, ungeachtet theologischer Umorientierungen und Transformationen, strukturell fortschreitet. Unlängst hat auch Volker Leppin, anknüpfend vor allem an Hamm, die skizzierte Polarität als Grundsignatur der spätmittelalterlichen Frömmigkeit bestätigt: „Die objektive Quantifizierung eines 17 Vgl. dazu meine Einleitung zu dem Neudruck: Bernd Moeller: Reichstadt und Reformation. Neuausgabe, mit einer Einleitung hg. von Thomas Kaufmann, Tübingen 2011. 18 Moeller: Frömmigkeit (wie Anm.16), S. 81f. 19 Ebd., S. 83. 20 Ebd., S. 81 der Spitzensatz: „Man darf es, meine ich [sc. Bernd Moeller], wagen, das späte 15. Jahrhundert in Deutschland eine der kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters zu nennen.“ Auch Andreas: Deutschland (wie Anm. 9), S. 201 hatte „die Deutschen“ als „schwerfällige[s] [. . .] obrigkeitsgläubige[s], kirchenfromme[s] Volk“ bezeichnet. Die beiden anderen heutigentags merkwürdig anmutenden Adjektive tauchen übrigens im Schlusssatz des Moellerschen Aufsatzes, ebd., S. 85, wieder auf. Gegen diese Sicht hat Winterhager formuliert: „Das Hohelied, das die neuere Geschichtsschreibung nach der Melodie ‚Kein frömmer Land‘ über die Zustände im spätmittelalterlich-vorreformatorischen Deutschland singt, erscheint unter diesen Prämissen [sc. mentale Orientierungskrise; Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche] allzu harmonisch und gleichförmig.“ Wilhelm Ernst Winterhager: Ablasskritik als Indikator historischen Wandels vor 1517. Ein Beitrag zu Voraussetzungen und Einordnung der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1999), S. 6– 71, hier: 63. Winterhager selbst operiert zur Beschreibung der ‚frömmigkeitsgeschichtlichen Gesamtsituation‘ mit der Polarität von „archaisch-dingliche[r] Frömmigkeit und rationale[m] Aufbruch, naive[m] Traditionsglaube[n] und reflektierende[m] Zweifel“, S. 56. 21 Moeller: Frömmigkeit (wie Anm.16), S. 85. 22 Berndt Hamm: Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung. Methodischhistorische Überlegungen am Beispiel von Spätmittelalter und Reformation, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 74 (1977), S. 464–497, hier: 487; ders.: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (= Beiträge zur historischen Theologie 65), S. 6–11.132–138. Hamms zentrales, auch für die Deutung der Reformation entscheidendes Anliegen besteht darin, die produktiven theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Impulse des Spätmittelalters in Bezug auf die weitere Entwicklung aufzuzeigen. Dies wird in nichts deutlicher als in der wissenschaftsgeschichtlichen Selbstpositionierung: „Johan Huizingas Herbstmetapher – ‚ein Absterben dessen, was dahingeht‘ [s. Huizinga: Herbst (wie Anm. 6), S. VII = Vorwort des Herausgebers mit Lebenserinnerung Huizingas] – war ebenso einseitig-irreführend wie die katholisch-protestantische Allianz in der Deutung des 14. und 15. Jahrhunderts als Epoche des kirchlichen, theologischen und spirituellen Niedergangs.“ Berndt Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller/Horst Weigelt/Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern Bd.1, St. Ottilien 2000, S.159–211, hier: 162.
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Heilsgewinns“ sei im späten Mittelalter „ebenso intensiviert [worden] wie die subjektive Heilsaneignung“23, die Hamm vor allem am Begriff der „nahen Gnade“24 aufgewiesen hat.Auch Francis Rapp25, und im Anschluss an diesen Arnold Angenendt, sprechen von einer „Doppelgesichtigkeit“ spätmittelalterlicher Frömmigkeit, die zwischen „Vulgarisation“ und „Belehrung“ oszilliere, auf den „Gipfel der Spiritualität“ führe oder in einen „Ozean der Volksfrömmigkeit“26 hinabstürze. Die Liste der Referenzautoren ließe sich mühelos verlängern, ohne an dem skizzierten Gesamtbild einer basalen frömmigkeitstypologischen Polarität ‚um 1500‘ allzu viel zu ändern. Die These einer bipolaren Grundstruktur spätmittelalterlicher Frömmigkeit, mit einer tendenziell zum Individuellen und Innerlichen strebenden, vergeistigten, entsinnlichten, jedenfalls nicht an gegenständliche Objekte und äußerliche Vollzüge gebundenen praxis pietatis einerseits und einem Zug zum Äußerlichen und Ritualistischen, auf Gegenständliches, die Verehrung und quantifizierbare Heilsnutzung auratischer Objekte, heiliger Orte und mirakelhafter Sachverhalte ausgerichteten Frömmigkeitspraxis andererseits, stellt einen common sense der Forschung dar. Strittig mag allenfalls sein, ob die polare Struktur in besonderem Maße für Deutschland gilt oder die Signatur der lateineuropäischen Frömmigkeitsgeschichte ‚um 1500‘ im Ganzen geprägt hat.27 Vor dem Hintergrund dieser polaren Konzepte spätmittelalterlicher Frömmigkeit ist nun von vornherein zu erwarten, dass die eine, die verinnerlichende Ten23 Volker Leppin: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, Stuttgart/Leipzig 2008 (= Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Kl., Bd.140, H. 4), S.11; an einem Anwendungsbeispiel ist diese auf „Transformation“ – Leppins neues sprachliches Kleid für den ‚reformatorischen Wandel‘ – fokussierte Perspektive vorgeführt in: Ders.: Luthers Vaterunser-Auslegung von 1519. Die Transformation spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu reformatorischer, in: Ulrike Hascher-Burger/August den Hollander/Wim Janse (Hg.): Between Lay Piety and Academic Theology. Festschrift für Christoph Burger, Leiden/Boston 2010, S.175–190. 24 Berndt Hamm: „Die nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit, in: Aertsen/Pichavé (Hg.): Herbst des Mittelalters? (wie Anm. 6), S. 541–575; ders.: „Gott berühren“: Mystische Erfahrungen im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs, in: Ders./Volker Leppin (Hg.): „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation 36), S.111– 137. 25 Francis Rapp: L’Église et la vie religieuse en Occident à la fin du Moyen Age, Paris 1971, besonders S. 296–314 (in der Perspektive Volksfrömmigkeit und Elitenspiritualität); ders.: Christentum IV. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart 2006 (= Die Religion der Menschheit 31), S.178–240. 26 Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, hier: S.72. 27 Vgl. die Hinweise von Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 73f.; zu frömmigkeitstypologischen Differenzen insbesondere zwischen Süd- und Nordeuropa vgl. Diarmaid MacCulloch: Die Reformation 1490–1700, München 2008, S. 27–40. Es darf vielleicht auch daran erinnert werden, dass in den epochalen Werken der römisch-katholischen Spätmittelalter- und Reformationshistoriographie, bei Johannes Janssen und Joseph Lortz, dem laikalen Bildungsaufschwung und den etwa im Bereich der Frömmigkeitsliteratur erkennbaren, freilich z.T. in „Subjektivismus“ übergehenden Formen verinnerlichter individueller Heilssorge und -aneignung eine nicht unerhebliche historische Bedeutung beigemessen wurde; vgl. etwa Johannes Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd.1, 16. Aufl., Freiburg i. B. 1892, besonders S. 6–8. 42–59; passim; Joseph Lortz: Die Reformation in Deutschland, Bd.1, 2. Aufl., Freiburg i. B. 1941, S. 9–12. 119–122 u. ö.
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denz in Bezug auf die Reformation von positiv-förderlicher, die andere von vornehmlich negativer Bedeutung gewesen sein könnte.Von den seit nunmehr etwa drei Forschergenerationen erarbeiteten Bildern der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur her muss jedenfalls die Vorstellung eines primär sinnlich-affektiv geprägten Mittelalters gegenüber einem rationalistisch-kargen Protestantismus zumindest als einseitig eingeschätzt werden. Sollte diese Vorverständigung im Recht sein, wäre auch klar, dass die an der Ablehnung kultischer Vollzüge, heiliger Objekte und sensueller Heilsapperzeptionen aufzuweisende Tendenz zur ‚Entsinnlichung‘ in der Reformation kein frömmigkeitsgeschichtliches Novum darstellt, sondern an einen bestimmten Strang vorreformatorischer Frömmigkeit mehr oder weniger direkt anschließen dürfte.
II. Ein Vorzug der skizzierten Sichtweisen auf die spätmittelalterliche Frömmigkeit besteht sicher darin, dass sie einen weiten Adlerblick auf das Ganze bzw. auf die dieser zugrunde liegende systemische Logik eröffnen. Dass sich freilich aus der Perspektive des gelebten Frömmigkeitsvollzugs und der rechtlichen Bedingungen christenmenschlicher Existenz um 1500 die Polarität von Quantifizierung und Subjektivierung, von Äußerlichem und Innerlichem nicht als Widerspruch darstellen dürfte, ja vielleicht vielfach oder gar in der Regel nicht einmal als Spannung empfunden wurde, scheint mir aber gleichfalls plausibel.Wenn deutschsprachige Mystikerinnen aufgrund präzis gezählter Gebetsleistungen zu exakten Berechnungen über die in die Millionen gehende Anzahl der von ihnen aus dem Fegefeuer erlösten Seelen gelangten28 und auch Vertreter der Devotio moderna wie Gabriel Biel oder Thomas a Kempis eine nach der Zahl der Wunden Jesu quantifizierte Menge an Gebeten29 empfahlen, scheint die mathematisch exakte Berechnung 28 Vgl. Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 582; ders. u. a.: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S.1–70, besonders S. 40–45. 63–70 (zum Zusammenhang von Zählen und Internalisierung). Eindrucksvolle Beispiele für eine quantifizierend-merkantile Handlungslogik, die irdische Investitionen in ‚gute Werke‘ mit himmlischen Erträgen korreliert, bietet Berndt Hamm: Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 21 (2006), S. 239–275. Am Beispiel des Gebetsverhaltens hat Thomas Lentes gezeigt, dass das Frömmigkeitsideal im Spiegel normativer Vorstellungen der Geistlichkeit darauf abzielte, äußeres Ausdruckgebaren und innere Haltung in Übereinstimmung zu bringen; seit dem 14. Jahrhundert freilich verstärkte sich die vom Interesse an ‚Verinnerlichung‘ bzw. ‚Aneignung‘ und ‚Verstehen‘ geleitete Kritik an äußeren Vollzügen, die mit einem Bedeutungsrückgang des äußeren Bildes als Instrument der Vergegenwärtigung eines inneren Sachverhaltes einhergegangen sei. Thomas Lentes: ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Jussen/Koslofsky (Hg.): Reformation (wie Anm.1), S. 29–67. 29 Vgl. Heiko A. Oberman/William J. Courtenay (Hg.): Gabrielis Biel Canonis Misse Expositio. Pars secunda, Wiesbaden 1965 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 32), S. 329f. Ziel des auf 5475 Wunden berechneten Gebetsquantums an Vaterunsern (365 Tage à 15 Gebete, bzw. entsprechender Psalmenverse) ist es, dass der Beter „pro quolibet vulnere versum unum in gratiarum actione rependit“ (a. a. O., S. 329).
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eines äußerlichen Vollzugs als Mittel einer forcierten Interiorisierungsstrategie wirksam geworden zu sein. Wenn andererseits Meister Eckhart dazu ermahnte, dass ein im Geiste der völligen Preisgabe der Eigenwillens gesprochenes Ave Maria dem Heil nützlicher sei als 1000 Psalter30, dann relativierte dies natürlich die Wertigkeit bestimmter Gebetsquanten als solcher, schloss aber natürlich nicht aus, dass mehrere im rechten Geiste gesprochene Mariengebete wertvoller sein könnten als nur eines. Und wenn Erasmus in seinem Enchiridion militis christiani wirkungsvoller als alle anderen Reformer gegen eine veräußerlichte Ritualpraxis polemisierte, dann ging es ihm nicht darum, den Kult als solchen abzuschaffen, sondern dessen geistlichen Sinn zu profilieren: „Vielleicht besuchst du täglich die Messe und lebst doch dir allein, und die Sorgen deines Nächsten berühren dich nicht. So bist du noch im Fleische des Sakraments. Doch wenn du dich bei der Messe bemühst, das zu sein, was jener Genuss bedeutet, nämlich ein Geist mit dem Geiste Christi, Körper mit dem Körper Christi, so bist du ein lebendiges Glied der Kirche.“31 Nicht das Zählen möglichst vieler Messbesuche als solches wird von ihm problematisiert, sondern das ethisch und spirituell folgenlose Verharren im Äußerlichen geißelt er.32 Der im äußeren Vollzug des Messopfers abgebildete Tod Christi soll zum Vehikel der inneren Nachfolge, zum Ausdruck des eigenen Absterbens gegenüber der Welt, des eigenen Selbstopfers für Christus werden. Nicht die Verehrung der Heiligen und die Freude an der Berührung ihrer Reliquien sei anstößig, sondern dabei stehen zu bleiben und dem „Beste[n], was sie überliefert haben, d[em] Beispiel des eigenen Lebens“33, nicht nachzueifern. „Hälst du es für etwas Großes, mit der Kutte des Franziskus begraben zu werden? Die ähnliche Kleidung im Tode nützt dir nichts, wenn die Gewohnheiten im Leben verschieden waren.“34 Im Lichte der hier propagierten praxis pietatis erscheint das Verhältnis von Innerlichkeit und subjektiver Heilsaneignung einerseits, quantifizierend-massenhafter Ritualität andererseits nicht als prinzipiell spannungsreich oder gar gegensätzlich. Vielmehr soll das Äußerliche spirituell und sittlich sublimiert und auf eine höhere Qualitätsstufe des Christlichen gehoben werden, ist also Teil des – nach 30 Meister Eckhart: Reden der Unterweisung 11, ed. von Josef Quint, in: Meister Eckharts Traktate; Stuttgart 1963 (= Deutsche Werke Bd. 5), S. 516; vgl. Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 583. 31 Zit. nach der zweisprachigen Ausgabe von Werner Welzig: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften Bd.1, Darmstadt 1968, S.199. 32 Ebd., S.198f. 33 Ebd., S. 201. Dass man allerdings – unbeschadet der Kritik an bestimmten Erscheinungen des Heiligenkults – keinen Gegensatz zwischen Humanismus und Heiligen-, ja auch Reliquienverehrung konstruieren sollte, hat Hamm in Bezug auf Hieronymus herausgearbeitet (Berndt Hamm: Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation, in: Kenneth Hagen (Hg.): Augustine, the Harvest, and Theology [1300–1650]. Essays Dedicated to Heiko Augustinus Oberman, Leiden u. a. 1990, S.127–235) und Signori allgemein und umfassend begründet (Gabriela Signori: Humanisten, heilige Gebeine, Kirchenbücher und Legenden erzählende Bauern. Zur Geschichte der vorreformatorischen Heiligen- und Reliquienverehrung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 [1997], S. 203–244). 34 Ebd., S. 203.
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einer glücklichen Formulierung Berndt Hamms – gradualistischen Gnadensystems35 der spätmittelalterlichen Theologie. In dieser Perspektive erscheint das Sinnliche als das Vorläufige, als das, was verfeinert und weiterentwickelt werden muss, was der Vergeistigung und Versittlichung bedürftig, dieser aber auch fähig ist. Die Vorstellung einer durch die Reformation zerstörten affektiv-glutvollen, emotional-ursprünglichen Sinnlichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter, die das Heilige schmeckte, roch, schaute, hörte und befühlte und es sich individuell-innig oder kollektiv-exaltiert aneignete, dürfte mit den dynamischen und spannungsreichen Realitäten der gradualistischen Struktur spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis nicht sehr viel zu tun haben.Wie also steht es um die Sinnlichkeit der Heilsaneignung in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit? Ich beginne mit einigen, wie es scheint doch nicht allgemein bekannten Beobachtungen zur Messe. Folgt man nämlich Karant-Nunn, so hat man sich eine spätmittelalterliche Messe als Feuerwerk der Sinnlichkeit vorzustellen: Die „Feier der Eucharistie“ sei als „ein Drama“ „inszeniert worden, das die Atmosphäre gleichsam elektrisierte. Jede priesterliche Gebärde, jeder liturgische Partikel deutete auf das Wiedererleben des Christusopfers am Kreuze hin“36. „Die Laien“, so fährt sie fort, „konnten dieses Wunder nicht nur bezeugen, sondern sie konnten oft auch durch die Aufnahme des gegenwärtigen, wahren Leibes des Herrn daran teilnehmen.“37 Dieses Bild emphatischer katholischer Sinnlichkeit im Zusammenhang mit der Eucharistie hat, soweit ich sehe, mit den Realitäten spätmittelalterlicher Kommunionspraxis nicht sehr viel zu tun. Nichts deutet nämlich darauf hin, dass die im IV. Laterankonzil kodifizierten Mindestpflichten christenmenschlicher Betätigung – die jährliche Pflichtbeichte38 und -kommunion39 – in nennenswertem Maße breitenwirksam überschritten worden wären. Sowohl Unterschreitungen – wie etwa im Falle einer schwarzwäldischen Pfarrei, wo ein Pfarrer 1499 feststellte, dass „200 seiner Schäflein ihrer Osterpflicht nicht nachgekommen waren, was wohl einen nicht unwesentlichen Teil seiner Herde ausmachte“40, als auch Über35 Vgl. nur: Berndt Hamm: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozess normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), S. 7–81, hier: 76f.; ders.: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Ders./Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien, Göttingen 1995, S. 57–127, besonders 69f. 36 Karant-Nunn: Gedanken (wie Anm.1), S. 84. 37 Ebd. 38 Grundlegend und wegweisend: Martin Ohst: Pflichtbeichte, Tübingen 1995 (= Beiträge zur historischen Theologie 89). 39 Josepho Alberigo u. a. (Hg.): Conciliorum Oeconomicorum Decreta, 3. Aufl., Bologna 1973, S. 245 (IV. Lat., const. 21); auch in: Karl Mirbt/Kurt Aland: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 6. Aufl., Tübingen 1967, Nr. 604, S. 314; DS 812. 40 Rapp: Christentum IV (wie Anm. 25), S. 221; vgl. Ludwig Andreas Veit: Volksfrommes Brauchtum und Kirche im deutschen Mittelalter, Freiburg i. B. 1936, S. 87–90.; in der gesamten Diözese Eichstätt sollen es um 1480 lediglich ca. 100 Personen gewesen sein, die häufiger als ein Mail im Jahr an Ostern kommunizierten, Veit: ebd., S. 88; vgl. zum Thema auch: Peter Browe: Die häufige Kommunion im Mittelalter, Münster 1938, besonders S. 25f.; ders.: Die Pflichtkommunion im Mittelalter, Münster 1940, S. 27f.; 109f.; zur rituellen Gestalt der Kommunion für die Gläubigen nach wie vor instruktiv: Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia Bd. 2, Wien 1948, S. 454–475.
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schreitungen – „wer aber im Mittelalter auf Häufigkeit [der Kommunion] drängte, machte sich eher verdächtig und konnte sogar die Inquisition auf sich ziehen“41 – waren eher an den häresieverdächtigen Rändern der una sancta angesiedelt. Eine Sehnsucht nach der physischen Teilnahme an der Kommunion und deren Erfahrung als sinnliches Ereignis kann für breite Kreise der spätmittelalterlichen Christenheit nicht vorausgesetzt werden. Die kultischen Reinheits- und Beichtvorschriften, die sexuellen Enthaltsamkeitspflichten der Laien in Fest- und Fastenzeiten, schließlich die nicht zuletzt durch das Fronleichnamsfest42 geförderte Augenkommunion, auch die vor allem unwürdige und missbräuchliche Nießungen ahndenden Hostienwunder43, schließlich die immer weiter um sich greifenden Privat- und Stillmessen, die vor allem denen, für die sie gestiftet waren, Heilseffekte sicherten, aber vollständig mechanisiert ex opero operato und ohne Präsenz oder gar Kommunion funktionierten – all dies mag dazu beigetragen haben, dass die Messe im späten Mittelalter jedenfalls eines nicht wahr, nämlich ein den Geschmackssinn nennenswert oder gar überhaupt affizierendes Mittel der Heilsaneignung. Die Heilserwartungen in Bezug auf die Messe waren zweifellos gigantisch.Angenendt hat formuliert: „Von ihr versprach man sich eigentlich alles.“44 Die propitiatorische Wirkung des Messopfers ermöglichte und beförderte bekanntlich ihre multiple, individuell variable und bedürfnisorientierte Nutzung durch jeden beliebigen Besteller und ihre schrankenlose Kommerzialisierung. Die Taxierung ihres Wertes orientierte sich freilich an den Tarifen für die Zeiten des Bußfastens, sodass sich in den Bußbüchern entsprechende Verrechnungen finden: eine Messe konnte mit zwölf Tagen, zwanzig mit sieben Monaten, dreißig mit einem Jahr verschärfter Bußzeit verrechnet werden.45 Auch sonst wurden die Wirkungen der Messe in 41 Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 509; vgl. A. M. Koeniger: Ein Inquisitionsprozess in Sachen der täglichen Kommunion, Bonn/Leipzig 1923; Alfred Schröder: Die tägliche Laienkommunion in spätmittelalterlicher Auffassung, in: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 6 (1925), S. 609–629; vgl. Browe: Die häufige Kommunion (wie Anm. 40), S. 32–48. 42 Die vor allem durch die Prozessionen bestimmte Praxis hat – so scheint es – zu einem gegen die ursprüngliche Intention, nämlich die Belebung der Kommunion, gerichteten Effekt geführt, vgl. Josef Lamberts: Art. Fronleichnamsfest, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 3 (2000), Sp. 398f.; André Goossens: Résonances eucharistiques à la fin du Moyen Âge, in: André Haquin (Hg.): Fête-Dieu (1246–1996), Louvain-la Neuve 1999, S.173–192; zu Augenkommunion und Kommunionshäufigkeit instruktiv: Miri Rubin: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, Cambridge 1991, ND 1993, S. 63f.; 148–155. Charles Zika hat die zentrale Bedeutung der Hostie als Sakralobjekt, das die der Reliquien im 14. und 15. Jahrhundert überbot, als Fokus von Regulierungsstrategien des Klerus erwiesen, vgl. Hosts, Processions and Pilgrimages. Controlling the Sacred in Fifteenth-Century Germany, in: Past and Present 118 (1988), S. 26–64 (zu Fronleichnamsprozessionen besonders S. 37ff.; zur Evolution der Augen- bzw. Schaufrömmigkeit im Sinne gesteigerter Adoration der als machtvoll gewerteten Hostie besonders S. 31ff. [mit weiterführenden Quellenhinweisen]). 43 Vgl. die Beispiele bei Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 506ff.; vgl. Peter Browe: Die eucharistischen Wunder des Mittelalters, Breslau 1938 (= Breslauer Studien zur historischen Theologie. Neue Folge 4). 44 Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 494; vgl. Goossens: Résonances (wie Anm. 42), S.175–180. 45 Angenendt: ebd., S. 495.
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der Lehre von ihren ‚Früchten‘ systematisiert, wobei sehr allgemeine Beteuerungen ihres schlechterdings überragenden Wertes – eine Messe solle mehr bewirken als „das flehentliche Gebet der ganzen Welt“46 – mit sehr präzisen Angaben konkreter Wertigkeiten changierten – in jeder Messe werde eine Seele aus dem Fegefeuer erlöst, ein Sünder bekehrt und ein Gerechter vor den Todsünden bewahrt, heißt es etwa in einer St. Gallener Handschrift des früheren 15. Jahrhunderts.47 Auch in bezug auf die Frage, wodurch die Früchte der Messe wirksam würden, durch den Vollzug des Werkes (ex opero operato) oder in Hinblick auf die Devotion dessen, dem sie zugewendet werde, herrschte alles andere als theologische Klarheit.48 Dass im Zusammenhang mit bestimmten Messen Ablässe gespendet wurden49, unterstreicht das Bedürfnis, aber auch die Notwendigkeit, den soteriologischen Effekt des zentralen Kultmysteriums der römischen Kirche zu taxieren. Der Aneignungsmodus des durch die Messe vermittelten Heils war weniger eine Sache des Geschmacks als eine des Gehörs oder des Gesichts. Und überdies kann vorausgesetzt werden, dass dieselben Heilswirkungen, die von der Messe ausgehen konnten – also etwa die Befreiung einer Seele aus dem Fegefeuer an einem privilegierten Altar – auch anderen Praktiken, etwa der Spende für die Armen, zugeschrieben wurden.50 Am Beispiel des äußerst populären Bildtyps der Gregorsmesse, mit deren anbetender Betrachtung häufig bestimmte Ablassgnaden verbunden waren51, wird deutlich, dass die Heilswirkungen der Messe von der sinnlich-gegenständlichen Präsenz des eucharistischen Ritus völlig gelöst werden konnten. 46
Ebd., S. 515. Ebd., S. 497. 48 Vgl. dazu Angenendt: ebd., S. 497–499; Erwin Iserloh: Der Wert der Messe in der Diskussion der Theologen vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kirche und Theologie 83 (1961), S. 44–79; ders.: Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther, Münster 1952 (= Katholisches Leben und Kämpfen 10), S.12f. vor allem mit dem Hinweis auf die bei Robert Holcot und Pierre d’Ailly u. a. nachgewiesene Überzeugung, „je größer die Zahl derer, für die das Opfer dargebracht wird, umso geringer ist die Frucht für den einzelnen“ (S.12). 49 Vgl. Nikolaus Paulus: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, 2. Aufl., Darmstadt 2000, S. 369. 50 Vgl. das Altarretabel aus St. Pölten, um 1480, in: Peter Jezler (Hg): Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, 2. Aufl., München 1994, Abb.13, S. 23; vgl. Christine Göttler: „Jede Messe erlöst eine Seele aus dem Fegefeuer“. Der privilegierte Altar und die Anfänge des barocken Fegefeuerbildes in Bologna, in: ebd., S.149–164. 51 Vgl. Jezler: Himmel (wie Anm. 50), Nr. 55, S. 240f.; Nr. 61, S. 246; vgl. Hartmut Boockmann: Über Ablass-„Medien“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 34 (1983), S. 709–724, besonders 717f.; zum Ablass als Medienereignis vor allem auf der Basis von Einblattdrucken grundlegend: Falk Eisermann: Der Ablass als Medienereignis. Kommunikationswandel durch Einblattdrucke im 15. Jahrhundert. Mit einer Auswahlbibliographie, in: Rudolf Suntrup/Jan. R. Veenstra (Hg.): Tradition and Innovation in an Age of Change – Tradition und Innovation im Übergang zur Frühen Neuzeit, Frankfurt/M., Berlin 2001 (= Medieval to Early Modern Culture – Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 1), S. 99–128 (in leicht überarbeiteter englischer Version: The Indulgences as a Media Event. Developments in Communication Through Broadsites in the Fifteenth Century, in: Swanson: Notes [wie Anm. 52], S. 309–330); zur Gregorsmesse im Spiegel reproduktionstechnologischer Massenmedialität: Gunhild Roth: Die Gregoriusmesse und das Gebet ‚Adoro te in cruce pendentem‘ im Einblattdruck, in:Volker Honemann u. a. (Hg.): Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts: Probleme, Perspektiven, Fallstudien, Tübingen 2000, S. 277–324; vgl. Wegmann: Auf dem Weg (wie Anm.152), S. 263–274. 47
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Auch das mit Ablässen verbundene Medium der Lehrtafeln52 vermittelte Heil durch das Gesicht: Das angeschaute und im Gebet aneignend bedachte Bild wirkte Gnaden. Anhand dieser Bild- und anderer Textmedien, deren Apperzeption lange vor der Reformation Heilswirkungen zugeschrieben werden konnten53, wird deutlich, dass sich die Wege der Heilsaneignung im späten Mittelalter fortschreitend diverzifiziert hatten und dass auch lehrhaften Aneignungsformen, insbesondere der Predigt, eine wachsende Bedeutung zugeschrieben wurde. Die Überzeugung, dass das vor allem durch die Predigt vermittelte Wort auf dem zum Heil führenden Weg der Erkenntnis Gottes und der Tugend nicht nur nicht weniger nützlich sei54 als die Messe, sondern den Nutzen dieser sogar überwog55, lässt sich 52 Vgl. Ruth Slenczka: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Stadtkirchen, Köln/Weimar/ Wien 1998 (= Pictura et Poesis 10); das Beispiel einer andächtigen Bildbetrachtung, deren Vollzug zur Erlösung armer Seelen aus dem Fegefeuer führt, bietet Jezler: Himmel (wie Anm. 50), Abb.144, S. 398. Vgl. zu dem Themenkomplex auch: Gabriela Signori: Räume, Gesten, Andachtsformen. Geschlecht, Konflikt und religiöse Kultur im europäischen Mittelalter, Ostfildern 2005, S. 36ff.; Michael Camille: Seeing and Reading. Some Visual Implications of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Art History 8 (1985), S. 26–49, besonders 32ff. Zum Zusammenhang von Sehen und Lesen in der Laienliteratur: Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: Hagen Keller/ Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter, München 1992 (= Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 211–229. Dass die Liturgie der großen Ablasskampagnen auch ein sinnlicher Event, ein Spektakel, war, sei freilich betont; vgl. die eindrücklichen Schilderungen der Peraudi-Kampagne aus Anlass eines Türkenkreuzuges in Bremen von Ende 1503 auf der Basis einer Schilderung des Bürgermeisters Daniel von Büren in: Andreas Röpke: Geld und Gewissen. Raimund Peraudi und die Ablassverkündigung in Norddeutschland am Ausgang des Mittelalters, in: Bremisches Jahrbuch 71 (1992), S. 43–80; zu Braunschweig vgl. Thomas Vogtherr: Kardinal Raimund Peraudi als Ablassprediger in Braunschweig (1488–1503), in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 77 (1996), S.151–180, hier: 161ff.; zur ‚Liturgie‘: Hans Volz: Die Liturgie der Ablassverkündigung, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 11 (1966), S.114–125 (Edition einschlägiger liturgischer Ordnungen Peraudis u. a.); instruktiv auch: Norman Housley: Indulgences for Crusading, 1417–1517, in: Robert N. Swanson (Hg.): Promissory Notes on the Treasury of Merits. Indulgences in Late Medieval Europe, Leiden/Boston 2006 (= Brill’s Companions to the Christian Tradition 5), S. 277–307, hier: 292ff.; Bernd Moeller: Die letzten Ablasskampagnen. Luthers Widerruf gegen den Ablass in seinem geschichtlichen Zusammenhang, in: Ders.: Reformation (wie Anm.16), S. 53–72; 295–307; hier: 62ff. 53 In der Lübecker Postille von 1493 finden sich Wendungen, die auf einen unmittelbaren Konnex zwischen der Lektüre eines Laien und seiner Seligkeit hinauslaufen: „Schäme dich, du Mensch, der du nicht kannst lesen in diesen Tagen und die Seligkeit deiner Seele versäumst, welche Seligkeit du in der Kunst [des Buchdruckens] suchen kannst, die Gott in diesen Tagen offenbart hat.“ Zit. nach Signori: Räume (wie Anm. 52), S. 35; vgl. einen ähnlichen Katalog, der die ‚Früchte des Lesen‘ in einer Vorrede zur Geilerschen Evangelienpostille aufzählt, in: Thomas Kaufmann: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S.138–174, hier: 146f. 54 Signori zitiert ein Wort Kardinal Francesco Zabarellas (1360–1417): „praedicare non est minus quam corpus Christi“, in: Räume (wie Anm. 52), S. 24.Von dem Eichstätter Bischof Gabriel von Eyb zitiert sie folgendes in der Urkunde für eine Prädikaturstiftung überliefertes Wort: „Damit nun der mensch in seinem verstand zu erkenntnis göttlicher ding erhöhet wurde und in (den) wegen der tugend nit abnehme, ist vor allen dingen nutz und gute das wort gottes, das nit weniger frucht bringet als der leichnam Christi [. . .].“ Ebd. 55 Als Argument für die Höherwertigkeit des Predigt gegenüber der Messe wird im Zusammenhang der Umwidmung einer Mess- in eine Prädikaturstiftung angeführt, dass „die ler, das ist das gottzwort, vil mer besser, nuttzer und nottdurftiger ist dann die andern geistlichen werch, wann unser lieber herr Jesus Christus in menschlicher person dasselb werch hier uff erden ouch allermeist hat geübt und volbracht“. Zit. nach Signori: Räume (wie Anm. 52), S. 24.
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nicht nur in abgelegenen Stiftungsurkunden für Prädikaturen belegen, sondern findet sich etwa auch programmatisch in dem verbreitetsten praktisch-theologischen Handbuch des späten Mittelalters, dem Manuale curatorum des Ulrich Surgant, ausgeführt56: Die Predigt nütze für das Heil mehr als die Eucharistie („Plus enim proficit [sc. die Predigt] ad salutem quam eucharistia“).57 Sollte es ein Zufall sein, dass die sich unter den Laien des 15. Jahrhunderts wachsender Beliebtheit erfreuenden Frömmigkeitspraktiken des Predigthörens und des erbaulichen Lesens, soweit ich sehe58, zu den nicht sehr zahlreichen frommen Werken des späten Mittelalters zählten, die nicht mit dem Ablass verbunden waren?!
56 Zu Surgant, dem in der Forschung auch eine erhebliche Bedeutung für die Ausbildung einer reformatorischen Position Zwinglis zugeschrieben worden ist (neben dem Basler Theologen und Parteigänger der Reformation Thomas Wyttenbach [vgl. Erich Wennecker: Art. Wyttenbach, Thomas, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd.14 (1998), S. 264–266 mit Lit.]), s. etwa: Fritz Schmidt-Clausing: Zwingli, Berlin 1965 (= Göschen Bd.1219), S. 27ff.; ders.: Johann Ulrich Surgant, ein Wegbereiter des jungen Zwingli, in: Zwa 11, 1961, S. 287–320; vgl. Dorothea Roth: Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant, Basel 1956 (= Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 58), S.150ff.; zum Kontext knapp: Isnard W. Franck: Art. PredigtVI, in: Theologisches Reallexikon, Bd. 27 (1997), S. 248–262, hier: S. 256f.; Willem Frederick Dankbaar: Die Liturgie des Predigtgottesdienstes bei Johann Ulrich Surgant, in: Martin Greschat/J. F. Gerhard Goeters (Hg.): Reformation und Humanismus. Festschrift für Robert Stupperich, Witten 1969, S. 235–254; vgl. zu Surgant auch: Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Bd. 2, 2005, S.1313 (mit Lit.). 57 Ulrich Surgant: Manuale curatorum predicandi prebens modum: tam latino quam vulgari sermone practice illuminatum [. . .] (zuerst Basel 1503); benutzter Druck: Straßburg, Johann Schott 1516; Ex. SUB Göttingen 8 Th past 57/50; VD 16 S10236; Lib. 1, cons. 1, S.1r. Die zitierte These wird von Surgant durch Traditionszeugen begründet. Es schließt sich die Aussage an: „Est autem praedicatio officium praecipuum et privilegatum.“ Ebd. In der Homiletik Reuchlins ist dieser Zug nicht erkennbar; hier dominiert eine auf die Hinwendung des Volkes zu den „meliores mores“ ausgerichtete Funktionsbestimmung der Predigt, vgl. Johannes Reuchlin: Liber Congestorum de arte praedicandi [. . .], Pforzheim 1508; VD 16 R 1251; Ex SB München ‚digit‘., a 1v. In der Definition der Predigt halten sich die salutarische und die moralische Funktionsbestimmung die Waage: „ars praedicandi, est facultas hominem alliciendi ad virtutes & contemplationem divinam, et sanctarum scripturarum promulgatione“; a 2r. In einem Andachtsbuch wie dem „Großen Seelentrost“ (Margarethe Schmitt [Hg.]: Der Große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts, Köln/Graz 1959 [= Niederdeutsche Studien 5], S. 74, 31–75,5; weitere Hinweise bei Signori: Räume [wie Anm. 52], S.19) ist die Höherwertigkeit der Predigt gegenüber der Messe schon für das 14. Jahrhundert zu belegen, und zwar in einem für Laien bestimmten Text. Allerdings ist hier „noch die Mendikantenpredigt“ (Signori: Räume [wie Anm. 52], S.19) gemeint. Bei dem Dominikaner Hermann Rab aus Leipzig (1504–1521 [vgl. über ihn: Library of theology, 3. Aufl., Bd. 8 (1999), Sp. 788; Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen, Bd. 2 (2005), S.1079]) ist die These, dass die Predigt notwendiger sei als die Messe, gleichfalls zu belegen, vgl. Ambrosius Esser: Art. Dominikaner, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 9 (1982), S.127–136, hier: S.129; Klaus-Bernward Springer: Die deutschen Dominikaner in Widerstand und Anpassung während der Reformationszeit, Berlin 1999 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F. 8), S. 200–204 (zu Rab). In Bezug auf die Rolle der Predigt im Wirken der vorreformatorischen Mendikanten urteilt Springer: „Der Wechsel zur Predigt als Zentrum von Gottesdienst und Frömmigkeit war eine der wichtigsten Weichen für den Erfolg der Reformation.“ Ebd. S. 38. 58 Vgl. die Ausführungen von Paulus: Geschichte des Ablasses (wie Anm. 49), S. 362–378 (zu den „[m]annifaltige[n] Ablasswerke[n]“); zur Krise des Ablassinstituts in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Ablassstreites grundlegend: Winterhager: Ablasskritik (wie Anm. 20).
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Auch unter dem Gesichtspunkt der Sinnlichkeit der Heilsaneignung waren die Wege der hochgradig diversifizierten spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur alles andere als einlinig. Heilsame Wirkungen wurden den verschiedensten Frömmigkeitsübungen zugeschrieben. In vielen Fällen, etwa bei Wallfahrten, Messen, Prozessionen, Heiltumsschauen u. a. erfolgte die Aneignung des Heils nicht unmittelbar über die sinnliche Apperzeption des Gläubigen, sondern gleichsam ‚hintersinnig‘ und indirekt, nämlich vermittels eines kirchlich-institutionellen Zuschreibungsaktes, der die Wertigkeit gemäß den Bußtarifen taxierte. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der sinnlichen Erfahrung der Gläubigen und dem Heil kann man freilich im Falle der Predigt und der frommen Lektüre nachweisen, ohne dass hier allerdings eine Taxierung des Heilswertes vorgenommen wurde. Immerhin deutet die vergleichende Relationierung des Wortes der Predigt mit der Messe auf eine herausragende Bedeutung des Kanzelwortes hin – auch über den städtischen Raum hinaus.59 Welchem der beiden spirituellen Sinne, dem Gesicht oder dem Gehör, der Vorrang gebühre, stellte sich unter mittelalterlichen Theologen nicht nur in Bezug auf das ewige Leben als umstritten dar – für Meister Eckhart etwa war die Seligkeit des ewigen Lebens nicht mit dem Sehen, sondern mit dem Hören verbunden, für Thomas von Aquin war die visio beatifica der Inbegriff der Seligkeit.60 Einen Vorrang des Gehörs vor dem Gesicht zu vertreten, war im späten Mittelalter also ebenso wenig abwegig, wie den größeren geistlichen Nutzen der Predigt gegenüber der Messe zu behaupten. Dass darin eine in ihrer Bedeutung schwerlich zu überschätzende religionskulturelle Voraussetzung der Reformation zu sehen ist61, darf als selbstverständlich gelten. Doch die Exklusivität, mit der Luther allein die Ohren Organe des Christenmenschen nannte62, dürfte in ihrer Einseitigkeit vielleicht doch neu gewesen sein. Sie war der Zentrierung seines Heilsverständnisses auf den Glauben, der allein aus dem Hören kommt, geschuldet.
59 Instruktiv die Befunde bei Signori: Räume (wie Anm. 52), S. 28–35. Luther setzte in durchaus zeittypischer Manier 1519 das geistliche Bedenken des Leidens Christi in einen Gegensatz zur Quantifizierung geläufiger Frömmigkeitspraktiken, wenn er schrieb: „Wer alßo gottis leyden, eyn tag, eyn stund, ja eyn viertel stund bedecht, von dem selben wollen wyr frey sagen, das er besßer sey, dan ob er eyn gantz jar fastet, alle tag eynn psalter bettet, ja das er hundert messen horet, dann dißes bedencken wandelt den menschen weßenlich, und gar nah wie die tauffe, widderumb new gepiret.“ WA 2, S.139,11–15. Das Ziel Luthers war es, das „alleyn auff die brieff unnd an die wend“ (142,8) gemalte Leiden Christi im Leben der Christen zu aktualisieren. 60 Vgl. Wolfgang Reinhardt: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 96. Eine soziologisch angelegte, breit ansetzende Studie zur Sache hat vorgelegt: Hartmann Tyrell: Religiöse Kommunikation. Auge, Ohr und Medienvielfalt, in: Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter, München 2002, S. 41–93; reiche Beispiele für sinnliche Metaphern vor allem zur Beschreibung der eschatologischen Seligkeit bei Hamm: Gott berühren (wie Anm. 24). 61 Vgl. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, 2. Aufl., Berlin 2010, S. 62–92. 62 „Ideo solae aures sunt organa Christiani hominis, quia non ex ullius membri operibus, sed de fide iustificatur, et Christianus iudicatur.“ WA 57, S. 222,7–9 (Hebräerbriefvorlesung).
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III. Nach lutherischem Verständnis wirkt Gott durch Wort und Sakrament den vor ihm gerecht machenden und heilsamen Glauben. Das Heil wird vermittels sinnlich anzueignender Instrumente – des gesprochenen bzw. geschriebenen Wortes, des Brotes und Weines, des Wassers – wirksam. Die Heilswirkung der Heilsmittel basiert auf ihrer wesensgemäßen und insofern sachgerechten Apperzeption: das Wort soll gehört werden; Brot und Wein sind in Verbindung mit dem Hören der Verheißungsworte zu essen und zu trinken; das Taufwasser hat den Täufling fühlbar zu benetzen. Da Gott durch die Heilsmittel wirkt, erfolgt die Zuwendung und Aufnahme des Heils sinnlich unmittelbar. Ihre Wirkung setzt Präsenz voraus: Wer eine Predigt nicht hört und an der Mahlgemeinschaft nicht teilhat, verspielt die Möglichkeit des Einwirkens von Wort und Sakrament auf seinen Glauben. Heilsaneignung ist nur unter der Bedingung räumlich-zeitlicher Unmittelbarkeit, qua Kommunikation unter Anwesenden, möglich. Die theologische Exklusivierung der heilsamen Präsenz Gottes im Christus incarnatus korrespondiert mit einer Präzisierung dessen, wo, wann und inwiefern der Christ seiner Gegenwart in heilsamer Weise teilhaftig werden kann. Im Unterschied zu der portionierenden Vermittlung von Heilsgnaden im Bann der Logik der römischen Tarifbuße, die die „Zuspitzung des ganzen Bußverständnisses allein auf die Absolution“63 verhinderte, gibt sich Christus nach lutherischem Verständnis da, wo er sich gibt, nämlich in Wort und Sakrament, bedingungslos, vollständig und so, dass er die Bedingung seiner heilsamen Aneignung, den Glauben, selbst schafft. Die sinnliche Apperzeption des Heils bzw. Christi selbst, ist die notwendige, aber auch die hinreichende Bedingung seines Wirksamwerdens. Das Heil wird nach lutherischem Verständnis nicht angeeignet, um in einem gradualistischen Aufstiegs- und Progressionssystem höhere Heilsstadien zu erlangen; das im Hören, Essen und Trinken sinnlich angeeignete Heil wird dem lutherischen Christen immer wieder neu und ganz und gar zuteil und ist nicht zu überbieten. Die Einführung des Laienkelchs im Zuge der reformatorischen Neuordnungen64, die sich nach partiellem anfänglichen Widerstreben auf Seiten der Laien mit rasanter Geschwindigkeit und großer Einhelligkeit als liturgisches Erfolgsmodell durchsetzte, zielte freilich nicht darauf ab, das Spektrum sakraler Heilsaneignungen durch Trinken zu erweitern, sondern restituierte die einsetzungsgemäße äußere Form des Abendmahls. Innerhalb der reformatorischen Vielfalt der Abendmahlstheologien wurde die Frage, ob die äußere Nießung von Brot und Wein ein Modus der Heilsaneignung sei, bekanntlich unterschiedlich beantwortet. Die Einführung des Laienkelches als solche indiziert also noch keine Versinnlichung der Heilsaneignung. Im Kontext der lutherischen Theologie verstärkte sie allerdings den unveräußerlichen Konnex des Heils mit sinnlichen Zu- und Aneignungsformen. 63
Ohst: Pflichtbeichte (wie Anm. 38), S. 266. Vgl. Thomas Kaufmann: Abendmahl und Gruppenidentität in der frühen Reformation, in: Martin Ebner (Hg.): Herrenmahl und Gruppenidentität, Freiburg/Basel/Wien 2007 (= Questiones disputatae 221), S.194–210. 64
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Die Exklusivierung der heilsamen Kommunikation von Gott und Mensch in Wort und Sakrament ging mit einer prinzipiell destruktiven Grundhaltung auch der Lutheraner gegenüber denjenigen sakralen Bildern, Orten oder Objekten einher, die als Träger einer heiligen Aura und als Vermittler von Heil galten. Die dann im lutherischen Protestantismus üblich gewordene Nutzung von Bildmedien zu didaktischen Zwecken knüpfte natürlich an entsprechende Funktionsbestimmungen in der spätmittelalterlichen Lehr- und Frömmigkeitspraxis an.65 Ob den im lutherischen Kirchenraum verbleibenden und zum Teil purgierten vorreformatorischen oder den neugeschaffenen reformatorischen Bildern im religiösen Vollzug eine über didaktisch-memorialkulturelle Zwecke hinausgehende sinnlich-ästhetische religiöse Qualität zukam, dürfte schwer zu entscheiden sein. In der Regel wird man aber davon ausgehen können, dass die Bilder nur dort verblieben, wo sie als Mittel sinnlicher Heilsaneignungsversuche diskreditiert und entmachtet waren.66 Die theologisch präzise Versinnlichung der Heilsaneignung im lutherischen Protestantismus ging mit einer sprachlich-semantischen Versinnlichung in der Darstellung des Wesens und des Ausdrucksvermögens der Glaubens einher, bei der insbesondere Luther selbst an ihm vertraute mystische Sprachtraditionen anknüpfte.67 Die 65 Siehe besonders die Arbeiten von Slenczka: Bildtafeln (wie Anm. 52) und Signori: Räume (wie Anm. 52). 66 Vgl. nur: WA 18, S. 78,12–83,25; siehe zum jüngeren Forschungskontext: Peter Blickle u. a. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002 (= HZ Beiheft 33); Gudrun Litz: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 35); Cécile Dupeux/Peter Jezler/Jean Wirth (Hg.): Bildersturm – Wahnsinn oder Gottes Wille? Zürich 2000; zur sukzessiven Etablierung einer Bildtheologie im Kontext der lutherischen Konfessionskultur s. Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherisches Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 29), S.157–204. Dass die internalisierende Verlagerung der Heilsvergegenwärtigung in den inneren Menschen hinein eine wesentliche Voraussetzung für die Abwertung und Vernichtung der Bilder in der Reformationszeit darstellt, hat im Anschluss an Norbert Schnitzler (Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996) Thomas Lentes nachdrücklich betont: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späteren Mittelalters, in: Schreiner (Hg.): Frömmigkeit (wie Anm. 60), S.179–220, bes. 212f. Zur didaktischen Funktion der Bilder im reformatorischen Kontext grundlegend: Joseph Leo Koerner: The Reformation of the Image, London 2004, besonders S. 252ff. und 282ff. 67 Zu Luther und der Mystik siehe zuletzt: Hamm/Leppin (Hg.): „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“ (wie Anm. 24), darin besonders Hamms Aufsatz: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 237–287, nachgedruckt in: Ders.: Der frühe Luther, Tübingen 2010, S. 200–250 (mit Lit.), sowie: Volker Leppin: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: Hamm/ders. (Hg.): ebd., S.165–185. In der neueren protestantischen Literatur ist eine Öffnung gegenüber dem Begriff der Mystik zu beobachten, die in einem deutlichen Gegensatz zu der etwa von Ritschl, Harnack und den Vertretern der Dialektischen Theologie geübten Distanzierung gegenüber der mystischen als einer dezidiert ‚katholischen‘ Frömmigkeit steht. Mit Köpf sei immerhin an folgende Grundspannung erinnert: „In der Tat haben die Reformatoren in ihrem Wirkungsbereich zumindest mit der herkömmlichen myst[ischen] Praxis gebrochen. Ihre tragenden Voraussetzungen wurden verworfen, unter anderem die Auffassung vom Aufstieg zu Gott [. . .] und die Vorstellung von einer Annäherung an Gott und Vereinigung mit ihm, von Vergottung u. ä. Andererseits führten sie manche Linien aus der ma [d. i. mittelalterlichen] M[ystik] fort, lasen und verwerteten viele m[ystische] Texte.“ Ulrich Köpf: Art. Mystik 3b) Mittelalter bis Neuzeit, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 5 (2002),
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Erfahrungswelt des seiner Geschöpflichkeit innegewordenen Glaubenden mithilfe sinnlicher und emotionaler Begriffe zu beschreiben, zugleich aber auch die Unterschiedenheit des geistlichen Fühlens, Schmeckens und Sehens von dem der Sünde und des Fleisches zu markieren, blieb durchgängig ein zentrales Anliegen des Reformators. Gemäß seiner kosmologischen Stellung zwischen Engeln und Tieren habe der Mensch mit ersteren den Verstand, mit letzteren das „Fühlen“68 gemein. Der leiblichen Konstitution des Menschen entspreche es, dass er „gehet und stehet [. . .] sihet, höret, greyfft und fület“69, d. h. als Sinneswesen existiert und nur aufgrund des Gefühls und der Erfahrung zu glauben bereit ist.70 Vernunft und Natur richteten sich nach dem, was sie fühlen, d. h. unmittelbar verifizieren können71; sofern das Wort Gottes dem „fülen“72 der Vernunft widerspreche, ist sie bereit, es fahren zu Sp.1663–1671, hier: Sp.1670. Zur Sache auch: Volker Leppin: Mystisches Erbe auf getrennten Wegen. Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter Humanismus Reformation 39), S.153–169; ders.: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 7– 25; ders.: Art. Mystik, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, 2. Aufl., Tübingen 2010 (= UTB 3416), S. 57–60; zum allgemeinen historischen Kontext: Heinrich Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption, Gütersloh 2003 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 75). Zur Verwendung sinnlicher Termini wie schmecken, leiden, empfinden bzw. von Adjektiven wie sauer, süß oder bitter für die Beschreibung seelischer Internalisierungsvorgänge und der kontemplativen Aneignung des Leidens Christi in der Luther ja besonders vertrauten „Theologia deutsch“ s. Hermann Mandel (Hg.): Theologia deutsch, Leipzig 1908 (= Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 7), S. 8,13–15; 20,4; 24,8; 37,4; 38,10; 40,10ff.; 97,6; 97,13; 100,11.22; Christian Peters: Art.Theologia deutsch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 33 (2002), S. 258– 262; zur sinnlichen Metaphorik in der Beschreibung der Seligkeit in der mystischen Literatur vgl. Hamm: Gott berühren (wie Anm. 24). Eine hervorragende Zusammenfassung des Forschungsstandes und der literarischen und inhaltlichen Probleme der „Theologia deutsch“ bietet Andreas Zechele: Die ‚Theologia deutsch‘. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat, in: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 36), S.1–96. 68 WA 10 III, S.143,22; Luther beruft sich auf Gregors des Großen Auslegung des ‚Evangeliums aller Kreatur‘ (Mk. 16,15; vgl. die Kompilation aus homil. 29,1f. und expos. Iob. 20f. in Alufus’ Expositio Novi Testamenti, MPL 79, col. 1198); zu Luther und Gregor I. vgl. Johannes Schilling: Luther und Gregor der Große, in: Leif Grane/Alfred Schindler/Markus Wriedt (Hg.): Auctoritas Patrum, Mainz 1993 (= Veröffentlichung des Instituts für europäische Geschichte Mainz 37), S.175–184. Die zeitgenössisch wohl einflussreichste Aufnahme des Motivs findet sich im Eingang von Giovanni Picos berühmter Oratio de dignitate homines, hg. und eingel. von August Buck, Hamburg 1990 (= Philosophische Bibliothek 427), S. 2–7; zum Kontext noch immer: Charles Trinkaus: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., London 1970, besonders Bd. 2, S. 505ff.; zu Luthers theologischer Anthropologie vgl. nur Wilfried Joest: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967; Eilert Herms: Art. Mensch, in: Beutel (Hg.): Luther Handbuch (wie Anm. 67), S. 392–402; Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 256–264. 69 WA 12, S. 366,16; vgl. 10 I 2, S. 362,3; 10 I 1, S.150,3; 10 III, S. 345,15; 24, S. 67,24. 70 WA 10 I 1, S. 611,19; 11, S.124,20; 12, S. 569,28. 71 WA 19, S. 588,26. 72 WA 17 I, S. 213,24; zur reformatorischen Auseinandersetzung um die Möglichkeiten der Vernunft in Hinblick auf die natürliche Gotteserkenntnis vgl. Thomas Kaufmann: Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation, in: Jörg Lauster/Bernd Oberdorfer (Hg.): Der Gott der Vernunft, Tübingen 2009 (= Religion in Philosophy and Theology 41), S. 61–92.
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lassen. Unter den natürlichen Sinneskräften kommt dem Gesicht bei Luther ein gewisser Vorrang zu: „das auge oder das sehen [ist] das scherffest glied am menschlichen leibe“73. In Bezug auf das Gottesverhältnis aber hätten alle Sinne hinter das Gehör zurückzutreten: „Diess ist nun der underschied zwischen den Christen und Heiden, das ein Gottloser und Heide hingehet wie ein Kuhe, sehen, urtteiln und richten alles nach der altten geburt, als was sie fhulen und greiffen. Ein Christ aber folget dem nicht, so er sihet, sondern folget dem, so er nicht sihet oder fhulet, und bleibet bei dem Zeugniss Christi, höret, was Christus redet, dem folget er ins finsternis hinein.“74 Während „fleisch und blut nicht weiter dencket, denn es sihet und fulet“75 und im Gekreuzigten nicht mehr als einen verlorenen Menschen wahrnimmt, lässt sich der Glaube durchs Wort aufrichten, erkennt im Geist, dass Christus durch sein Leiden und Sterben lebendig wird und ist als „newe Creatur ynn Christo mit newem, geistlichen erkentnis begabt.“76 Gerade weil der Glaube sich nicht an die Dinge hält, die der Mensch sieht und fühlt77, also in der sinnlichen Unmittelbarkeit seiner natürlichen Beschaffenheit rezipiert, sondern auf das vertraut, was ihm verheißen ist, was er aber nicht sieht, ist ihm ein neuer Kosmos der Sinnlichkeit eröffnet: er „schmeckt“ die „geburt Christi“78; er fühlt im Beten die „sussikeyt der verheyssunge Gots“, die „mut und [ein] tröstlich hertz [. . .] macht“79; er fühlt und ‚erfährt‘ Christus80; er fühlt im Herzen, dass das Evangelium recht sei und wird so „gewis“81. Das Wort dringt darauf, sich zu ‚versinnlichen‘, Erfahrung zu eröffnen: „Einß ist daß hören, Daß ander die Erfarung, Daß horen muß schmecken und fulen die gunst Gotteß, Wie das Evangelium lauttet, Sunst ist eß umb sonst gehört [. . .].“82 Die Intensität der im Herzen empfundenen Gewissheit steht für Luther der der sinnlich erfahrenen Liebe in nichts nach.83 Im Herzen fühlt der glaubende Mensch den Heiligen Geist, der macht „Gott sueß und lieblich“84; er „schmeckt“ 73
WA 47, S. 21,24. WA 47, S. 35,6–11. In den Invokavitpredigten heißt es bereits: „Das reych Gottes stehet nit in aüsserlichen dingen, das mann greiffen oder empfinden kann, sonder im gläuben.“ WA 10 III, S. 43,5f. = LuStA 2, S. 549,6f. 75 WA 26, S. 312,24f.; in Bezug auf die Vernunft, die nach dem urteilt, was sie sieht, vgl.WA 12, S. 637,11; WA 10 I 2, S. 222,25; WA 21, S.149,15. 76 WA 26, S. 312,31f.; vgl.WA 50, S. 514,5. 77 WA 8, S. 357,20; 376,1; 233,23; WA 10 III, S.131,21f. 78 WA 17 II, S. 305,5–7: „Niemandt aber wirdt es [sc. das Weihnachtsevangelium] leichtlich gelauben, dann wer da gefület hat, was seyne geburt sey, Wer sein elend nicht fület, dem schmeckt dise geburt Christi nicht [. . .].“ (Fastenpostille 1527). 79 WA 17 I, S. 251,15f. 80 WA 37, S. 50,13f.: „Das ist nu Dieser Jhesus Christus, Welchen ich hie im glauben bekenne und auch mit der that füle und erfare, das seine gewalt nicht aus ist [. . .].“ 81 „Denn es ist ein gut zeychen, das das Evangelion recht sey, wie wir ytzt auch sehen, wo mans veracht und verfolget [. . .] Das gewisse zeichen ist, das es ym hertzen gefühlt wird, das man sein gewis wird [. . .].“ WA 24, S.136,26–29. 82 WA 45, S. 380,34–36. 83 „Es muß alles ym herzen empfunden werden, da fulet das gewissen ym glawben alle solch sicherheytt, lust und liebe in der gerechticheyt, die ein kind an seyner mutter und eyn man an seyner newen brautt finden mag.“ WA 10 I 1, S. 297,13–16. 84 WA 10 I 2, S.172,1–3: „Wenn dißer glaub des Evanglion recht ym hertzen ist, ßo ist gott suß und lieblich; denn das hertz fulet eyttel gunst und gnade bey yhm ynn aller tzuversicht [. . .].“ 74
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und „fühlt“ das Evangelium85 und den Gottesgeist.86 Auch der Glaube wird „geschmeckt und gefület“87; die Schrift „recht verstehen“ bedeutet, sich das Wort von Herzen „schmecken“88 zu lassen. Der Trost des Evangeliums wird nicht nur mit Worten, sondern „mit erfarung geschmackt und empfunden“89. Noch ist der Glaube auf ein „geistliches sehen“90 angewiesen, auf ein „erkennen“ mit „geistlichen augen“91, das aber „gewisser ist denn das leibliche sehen“92. Bis zum Jüngsten Tag währt die Dominanz des Gehörs; doch wenn Christus erscheint, „da wirth allis offen stehenn, alle hertzen, alle ding: [. . .] da wirt man nymmer predigen noch glewben, da wirt yederman sehen unnd fulen [. . .].“93 Den Gott, „den wyr itzt ym glawben sehen“, d. h. „vorporgen“, werden wir dann „unverporgen“94 schauen. Im Zusammenhang mit Taufe und Abendmahl illustriert Luther die Versinnlichung des Wortes, die dem Hörenden zum Gefühl wird, folgendermaßen: „Den im gantzen Christentumb haben wir nichts hohers noch grossers denn das wortt. Das sausen des windes höret man, und die heilige schriefft helt uns allenthalben das wortt fhur, als in der Tauffe, do ist das wortt das Heubtstucke, denn man höret das wortt und fhulet das wasser, und ohne das Wort ist die Tauffe nichts. Denn was kann wasser ohne das wortt gottes thun? Also auch im abendmal ist das brodt und der wein nichts ohn das wortt. Denn do bliebe brod fur und fur brod, auch wein bliebe wein, aber wen das wortt an das Sacrament der Tauffe und des abendmals gefasset wirt, das thuts, dan fhulet mans, wie man das Sausen des windes fhulet, den wenn das wort gehort wirt, so fulen wir den schall des wortts fur unsern ohren.“95 Indem sich das Wort im Element des Sakraments versinnlicht, wird es dem Hörenden zu einer sinnlichen Erfahrung. Aufgrund des Wortes Christi wird im Abendmahl die Vergebung der Sünden ausgeteilt und im Modus des glaubenden Essens angeeignet.96 Freilich gibt das Abendmahl nichts, was nicht auch allein 85
WA 6, S. 361,14–17; WA 10 II, S. 23–7–9. WA 10 III, S. 262,14; WA 10 I 1, S. 333,18. 87 WA 10 III, S. 329,11. 88 WA 21, S. 250,7. 89 WA 10 I 2, S. 75,33f.; zur „Erfahrung“ in der Reformationsliteratur vgl. Thomas Kaufmann: ‚Erfahrungsmuster‘ in der frühen Reformation, in: Paul Münch (Hg.): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001 (= Historische Zeitschrift, Neue Folge, Beiheft 31), S. 281–306. 90 WA 10 I 2, S. 358,4–6: „Da meynete die Juden [sc. in Lk. 10,23ff.], er redete von eim leyplichen sehen, Aber Christus redett von dem geistlichen sehen, damit in all fromme christliche Hertzen ehe er geborn ward, gesehen haben [. . .].“ 91 WA 51, S. 506,2. 92 WA 46, S. 713,34. 93 WA 10 I 1, S. 44,12–14; zum Sehen bzw. Schauen am Jüngsten Tag vgl. auch WA 10 I, S.127,10: „[. . .] da werden wyr sehen, was wyr ym glawben empfangen und besessen haben.“ Vgl. WA 33, S. 222,39; WA 10 I 2, S. 223,5; 383,23; WA 30 II, S. 520, 14. 94 WA 10 I 1, S. 323,15–17. 95 WA 47, S. 33,18–28; vgl.WA 52, S. 350,15 (zur Unsichtbarkeit der Wirkung des sichtbaren Wassers). 96 „[. . .] Darumb sagen wir, ym abendmal sey vergebung der sunden nicht des essens halben, odder das Christus daselbs der sunden vergebunge verdiene odder erwerbe, sondern des worts halben, dadurch er solche erworbene vergebung unter uns austeilet und spricht ‚das ist mein leib, der fur euch gegeben wird‘, Hie hörestu, das wir den leib als fur uns gegeben essen und solchs hören und gleuben ym essen, drumb wird vergebung der sunden da ausgeteilet, die am creutz doch erlanget ist.“ WA 26, S. 294,30–36; vgl.WA 2, S.111, 36; WA 15, S. 503,13; WA 18, S.125,11; WA 23, S. 87,34. 86
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der Glaube im Wort empfängt; es gibt dies nur in anderer, leiblicher Weise. Entscheidend freilich ist der Geschmack, d. h. der Glaube: „Quando credo, so esse ich von Christo, so weidet und stercket sich die seel, schmeckt nach der selickeit, vita aeterna, remissione peccatorum.“97 Auch wenn es qua communicatione idiomatum sachgerecht ist, zu sagen: „wer das brod sihet, der sihet den Leib Christi“98, so ist es missbräuchlich und unzureichend, im Sinne der ‚papistischen‘ Praxis das Sakrament anzusehen und anzubeten.99 Denn durch diese Entsinnlichung des leiblich zu apperzipierenden Sakraments wird sein einsetzungsgemäßer Gebrauch verfehlt und dem Wort Christi widersprochen. Aus Luthers Perspektive hatte sich also in der römischen Kirche eine problematische Entsinnlichung der Heilsaneignung breitgemacht. Nach seinem Urteil war auch bei seinen Gegner zur ‚Linken‘, den sogenannten „Schwärmern“, das Verhältnis des Heils zur Sinnlichkeit des Menschen falsch bestimmt. Im Zusammenhang mit Karlstadts Kritik an der leiblichen Realpräsenz warf er diesem vor, er wolle „nicht gleuben, was Gotts wort sagt, sondern was er sihet und fület, O ein schöner glaube“100.Wo die sinnliche Wahrnehmung und die Evidenz der natürlichen Vernunft zum alleinigen Maßstab des Gott Möglichen gemacht werden, kann von einer sinnlich vermittelten Aneignung des Heils in diesem irdischen Leben stricto sensu keine Rede mehr sein. Denn wenn die „Göttliche gewalt und weisheit nicht weiter ist, denn unser augen sind, und nicht mehr vermag, denn wir leiblich mit augen sehen und richten und mit fingern tappen mügen“101, wie Luther als erkenntnistheoretischen Basiskonsens derjenigen, die die leibliche Realpräsenz der menschlichen Natur Christi in den Abendmahlselementen bestritten, herausstellt, dann führe dies eo ipso dazu, Gott die Fähigkeit abzusprechen, sich irdischer Vermittlungsinstanzen als vehicula salutis zu bedienen. Indem die „Schwärmer“ aus dem Gebot des geistlichen Gebrauchs der leiblichen Gabe folgerten, dass auch das Bezugsobjekt – der Leib Christi – „spirituale“102 sein müsse, verkennten sie, dass Gott in einer den Rezeptionsbedingungen seiner sinnlichen Geschöpfe entsprechenden Weise mit ihnen handele und dass es das Wort sei, dass die sinnlich wahrnehmbare leibliche Gegenwart Christi konstituiere.103 Gerade die Entsinnlichungswut habe Müntzer und Karlstadt schließlich dazu geführt, ganz im Fleischlichen zu ersaufen. Denn sie hätten grundlegend verkannt, dass Gott kein Wort oder Gebot gebe, ohne es leib-
97
WA 36, S.188,31–33. WA 26, S. 442,30f.; vgl.WA 8, S. 525,8; WA 15, S. 503,12; WA 19, S. 99,20; WA 23, S. 87,34. 99 WA 52, S. 359,5; WA 10 II, S.19,19; WA 6, S. 230,2; 231,23; 363,16; WA 13 II, S. 305,24. 100 WA 18, S. 207,2f.; ähnlich in Bezug auf die sessio ad dextram: WA 28, S.141,26–34. 101 WA 26, S. 318,34–36. 102 „Sintemal Christus fleisch, Es sey wo es wolle, ym geistlichen odder leiblichen wesen, sichtbarlich odder unsichtbarlich, so ist warhafftig natürlich leiblich fleisch, das man greiffen, fulen, sehen und hören kan, von eym weibe geborn, am creutze gestorben, Sondern daher heisst es ‚geistlich‘, das es vom geist kompt und wil und mus von uns geistlicher weise genossen sein. Objectum non est semper spirituale, Sed usus debet esse spiritualis.“ WA 23, S.185,1–6; vgl. 203,3–11; 243,10–17. 103 WA 23, S. 261,5–9. 98
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lich einzufassen.104 Im Gegenüber zu Rom und zu seinen innerreformatorischen Gegnern sah Luther also in der exklusiven sinnlichen Vermittlung des Heils in Wort und Sakrament das Proprium des Christentums.
IV. Luthers Behauptung, die „Schwärmer“, also die Vertreter der sogenannten ‚radikalen Reformation‘, hätten Gottes Welt- und das menschliche Gottesverhältnis spiritualisiert, ist cum grano salis nicht unzutreffend. Allerdings wäre es irreführend, meinte man, dass sinnliche Aneignungsmodi des Heils in den radikalen Milieus überhaupt keine Rolle gespielt hätten. Zwar wird man bei ihnen Belege für die Vorstellung, das äußere Schriftwort bzw. die Predigt oder die sakramentalen Zeichen Wasser, Brot und Wein bewirkten Heil, schwerlich finden. Gleichwohl scheint es mir in Bezug auf einige Theologen wie Thomas Müntzer, Hans Hut oder Ludwig Hätzer plausibel, dass sie dem physischen Leiden des Christus nachfolgenden Bekenners die Bedeutung eines Heilsmittels zuschrieben. Sie standen damit in dem breiten Traditionsstrom spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit.105 Allerdings dürfte in bezug auf die genannten Theologen weniger die vor allem im monastischen Kontext situierte asketische Selbstabtötung in der Nachfolge des irdischen Jesus oder die affektiv-mystische, bisweilen methodisierte, empfindsam nachfühlende Leidensnachfolge vor allem der franziskanischen Tradition, als vielmehr eine an die Spiritualisierung der Passionsnachfolge bei Tauler, Seuse oder Meister Eckhart106 anschließende Deutungslinie einschlägig gewesen sein.An Lu104 „Das [sc. Oekolampads spiritualisierende Auslegung der Einsetzungsworte] ist noch der same von des Müntzers und Carlstads geist, die auch nichts eusserlichs wollten leiden, bis das sie gantz und gar ym fleisch ersoffen. Gott aber keret das umb und gibt uns kein wort noch gebot fur, da er nicht ein leiblich eusserlich ding einfasse und uns furhalte.“ WA 23, S. 261,9–13. 105 Vgl. dazu nur: Walter Haag/Burghart Wachinger (Hg.): Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, Tübingen 1993 (= Fortuna vitrea 12); Petra Seegets: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, Tübingen 1998 (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 10), besonders S. 267–286; Thomas E. Bestuhl: Texts of the Passion. Latin Devotional Literature and Medieval Society, Philadelphia 1997; Ulrich Köpf: Art. Passionsfrömmigkeit, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 27 (1997), S. 722–764; Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), besonders S. 537–541. Zur Positivierung von Leib- und Sinnlichkeit des Mitleidens mit Christus in der Frauenmystik vgl. Otto Langer: Leibhafte Erfahrung Gottes. Zu compassio und geistlicher Sinnlichkeit in der Frauenmystik des Mittelalters, in: Schreiner (Hg.): Frömmigkeit (wie Anm. 60), S. 439–461; die immense Präsenz der am leidenden Christus orientierten Frömmigkeitskultur dokumentiert im Modus ihrer blasphemischen Kontrafrakturen: Gerd Schwerhoff: Christus zerstückeln. Das Schwören bei den Gliedern Gottes und die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit, in: Schreiner (Hg.): ebd., S. 499–527. 106 S. Angenendt: Geschichte (wie Anm. 26), S. 540; vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3, München 1996, S. 437f.; 440f.; S. 494–496; Bd. 4, München 1999, besonders 189ff.; 231f. In der Theologia deutsch spielt die Alleinwirksamkeit Gottes, der der gläubige Mensch leidend entspricht, eine wichtige Rolle: „[. . .] alßo das Gott allein, thu und wurck und ich leide yhn und sein werck und seinen willen.“ Ed. Mandel (wie Anm. 67), S.12,3f. Das Leiden gilt dem Verfasser der Theologia deutsch als umfassende Existenzbestimmung: „Aber wer got leiden sol und will, der muß und
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thers maßgeblichen literarischen Beitrag zur Passionsfrömmigkeit, seinen Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519), scheinen sie hingegen, soweit ich sehe, nicht angeknüpft zu haben. Das Ziel, das Luther mit dem „bedenken“107 des Leidens Christ verfolgte, nämlich auf das von Gott selbst geschenkte108 „erschrecken“109 über seinen wegen der je individuellen Sünde110 entbrannten Zorn abzuheben, d. h. Christi Leiden als Mittel der Selbsterkenntnis zu verstehen111, spielte, soweit ich sehe, bei den Radikalen keine entscheidende Rolle. Luther lokalisierte das Erleiden der Marter Christi im „gewissen“.112 Er ging davon aus, dass das Bedenken des Leidens Christi als eines stellvertretenden Strafleidens „für mich“ eine wesentliche Verwandlung des Menschen bewirke.113 Die ‚Radikalen‘ aber lehnten die Sühnopfertheorie und die lutherische Rechtfertigungs-
sol alles leiden, das ist got und sich selber und alle creaturen, nichtz auß genomen.“ Ebd., S. 44,13–16; vgl. 48,29–49,2; 83,27–84,5. Eine Verbindung mit Gott ohne Leiden ist ausgeschlossen: „Und wer leiden widerstet und sich des weret, der will und mag got nit geleiden.“ S. 88,20–22. Die Verbindungen, die sich insbesondere von der Theologia deutsch zu den Leidenskonzeptionen der ‚Radikalen‘ aufweisen lassen, sind meines Erachtens evident. 107 WA 2, S.136,3; S.139,14; s. oben Anm. 59. 108 WA 2, S.139,1ff.; S.139,19f. 109 WA 2, S.137,11; 137,37 (Anschluss an Bernhard von Clairvaux); 137,17; 138,34; zu Bernhard von Clairvaux und Luther vgl.: Theo Bell: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 148); dazu: Ulrich Köpf: Bernhard von Clairvaux im Werk Martin Luthers, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 18 (1999), S. 225–233; Franz Posset: Pater Bernhardus. Martin Luther and Bernhard von Clairvaux, Kalamazoo/Mass. 1999 (= Cistercien Studies Series 168); Ulrich Köpf: Wurzeln reformatorischen Denkens in der monastischen Theologie Bernhards von Clairvaux, in: Athina Lexutt/Volker Mantey/Volkmar Ortman (Hg.): Reformation und Mönchtum, Tübingen 2008 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 43), S. 29–56. 110 WA 2, S.137,10ff. 111 WA 2, S.138,16f. 112 WA 2, S.138,22. Besonders in Bezug auf die ethischen Konsequenzen (vgl.WA 2, S.141,14ff.) der Passionsbetrachtung und ihrer Fundierung im „pro nobis“ seines stellvertretenden Sühnetodes sehe ich starke Parallelen zwischen der Lutherschen und der Spenglerschen Passionsmeditation, s. Lazarus Spengler: Schriften Bd.1, hg. von Berndt Hamm u. a., Gütersloh 1995 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 61), S. 227,25–229,21. Dasselbe gilt auch für Staupitz: Ein Buchlein von der nachfolgung des willigen sterbens Christi . . ., Leipzig, M. Lotter 1515; VD 16 S 8697, Ex. BSB München ‚digit.‘, bes. C1vf; C3r; E1v; ed. von Joachim Karl Friedrich Knaake (Hg.): Johann von Staupitz, Sämmtliche Werke, Bd.1: Deutsche Schriften, Potsdam 1867, S. 50–88, hier: 66f.; 68; 79f.; vgl. dazu: Albrecht Endriß: Nachfolgung des willigen Sterbens Christi. Interpretation des Staupitztraktates 1515 und Versuch einer Einordnung in den frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext, in: Joseph Nolte u. a. (Hg.): Kontinuität und Umbruch, Stuttgart 1978 (= Spätmittelalter und Frühneuzeit 2), S. 93–141; Berndt Hamm: Johann von Staupitz (ca. 1468–1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 6–42, 19ff.; Markus Wriedt: Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (= Veröffentlichung des Instituts für europäische Geschichte Mainz 141), S. 240ff. (zur Anfechtung bei Staupitz und Luther); zu Staupitz’ Schrift vgl. auch Franz Posset: The Front-Runner of the Catholic Reformation. Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot 2003 (= St. Andrews Studies in Reformation History), S.156–162, der zu Recht betont, dass nicht das Motiv der Rechtfertigung in Staupitz’ Traktat zentral ist; vgl. auch: Martin Anton Schmidt: Rechtfertigungslehre in Staupitz’ „Nachfolgung“, in: Nolte (Hg.): ebd., S.142–144. 113 WA 2, S.139,13f.; s. oben Anm. 59.
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konzeption vor allem wegen deren ihres Erachtens fatalen ethischen Konsequenzen ab.114 Im literarischen Werk Thomas Müntzers spielte die Vorstellung, das Leiden stelle den entscheidenden Modus der Heilsaneignung dar, seit 1521 eine wesentliche Rolle. In seinem Prager „Sendbrief“115 heißt es: „Dan Goth redt alleine in die leidligkeyt der creatüren, welche dye hertzen der ungleubigen nicht habn.“116 Der Weg des Glaubens ist der der Konformität mit dem leidenden Christus.117 Soweit ich sehe wird man nicht davon auszugehen haben, dass Müntzer dabei ausschließlich an spirituelle Leiden wie etwa geistliche Anfechtungen, Verzweiflung oder Versuchung118 gedacht hat, sondern dass für ihn ein physisches Leiden impliziert war.119 Die Aneignung des Heils vermittels des von Gott gesandten Leidens bildete bei Müntzer eine soteriologische Alternativkonzeption zu der von ihm abgelehnten Wittenberger Rechtfertigungstheologie.120 Das Erdulden der 114 Vgl. dazu: Thomas Kaufmann: Doctrina in der Radikalen Reformation, demnächst in: Ders.: Der Anfang der Reformation [erscheint in SMHR], Tübingen 2012; zur täuferischen Rechtfertigungstheologie vgl. Hans-Georg Tenneberger: Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, Calw 1999 (= ChTM R. B/17), S.152ff. (zum Leiden bei Hut etc.). 115 Zu diesem Gattungsbegriff, aber auch zur Frage nach dem historischen Entstehungszusammenhang, vgl. Günter Vogler: Anschlag oder Manifest? Überlegungen zu Thomas Müntzers Sendbrief von 1521, in: Ders.: Thomas Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit, Mühlhausen 2003 (= Thomas-Müntzer-Gesellschaft,Veröffentlichungen 4), S. 38–54. 116 Thomas Müntzer: Schriften und Briefe, hg. von Günther Franz, Gütersloh 1968 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 33), S. 499,19–21. 117 In der lateinischen Fassung des ‚Prager Sendbriefs‘ heißt es: „Nequaquam impius passione sua vult conformis Christo fieri, unde clavem scientiae quaerentibus aufert.“ Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 507,26f. Die längere deutsche Fassung lautet: „Der ungleubige wil durch keinen wegk mit seinem leiden Cristo gleichformick werden, er wils nur mit honigsussen gedancken ausrichten.“ Ebd., S. 499,24–26; vgl. 234,23f. 118 Vgl. dazu Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 411,28–33; 237,31–33; 431,5f. (Müntzer gibt gegenüber Friedrich von Sachsen das Erdulden „unuberwintliche[r] anfechtung“ und „vorzweiflung des herzen[s]“ als Kriterien wahren Christseins an). Für diejenigen, „dye zu unserern zeyten sollen rechtthun“, sei „anfechtung“ unumgänglich S. 435,16f. Diese Zeit ist „zeyt der anfechtung“, S. 435,4. Das mystische Konzept der Anfechtung ist bei Müntzer aber apokalyptisch zugespitzt; zu Mystik und Apokalyptik bei Müntzer vgl. nur: Hans-Jürgen Goertz: Innere und äußere Ordnung in der Theologie Thomas Müntzers, Leiden 1967 (= Studies in the History of Christian Thought 2), bes. S. 39ff.; Wolfgang Rochler: Ordnungsbegriff und Gottesgedanke bei Thomas Müntzer. Ein Beitrag zur Frage „Müntzer und die Mystik“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 85 (1974), S. 369–382; Dieter Fauth: Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990, S. 89–123; Hans-Jürgen Goertz, Apokalyptik in Thüringen.Thomas Müntzer – Bauernkrieg – Täufer, in: Ders. (Hg.): Radikalität der Reformation, Göttingen 2007 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 93), S. 97–118; ders.: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit. Modernes Zeitverständnis im „apokalyptischen Saeculum“. Thomas Müntzer und Martin Luther, Mühlhausen 2002 (= Thomas-MüntzerGesellschaft, Veröffentlichungen 3). 119 Müntzer unterscheidet innere und äußere Leidenserfahrung: „Do peiniget mich Got mit meinem gewissen, mit unglawben, vertzweyflung und mit seiner lesterung. Von außwendig werde ich uberfallen mit kranchheyt, armut, iamer und aller nodt, von bößen leutten etc.“ Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 237,31–34. 120 „Des ziels wirt weyt gefeylt, so man predigt, der glaub muß uns rechtfertig machen und nicht die werck. Ist ein unbescheidene rede. Do wirt der natur nicht furgehalten, wie der mensche durch Gotis werck [sc. die von Gott auferlegten Leiden, ebd., S. 233,27–31; 234,9; vgl. 237,21] zum glauben
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Zuchtrute Gottes reinige den Einzelnen121 und übe die Gemeinde122, dass sie auf dem ihr von Christus gewiesenen Weg vorangehe.123 Auch das Wort Gottes müsse erlitten werden, solle es denn heilsam sein.124 Allein das Leiden, das sich auf den ‚bitteren‘, nicht den honigsüßen Christus der Schriftgelehrten beziehe125, mache den Menschen für Gottes Werk und Wort empfänglich.126 Denn niemand könne an Christus glauben, der ihm nicht zuvor „gleich“127 geworden sei. Das Leiden sei jener „Schlüssel Davids“ ( Jes. 22,22), der den Sinn der Schrift erschließe;128 auch das Strafleiden, dem das Volk von Gott unterworfen werde, bilde die Bedingung dafür, dass es zu einem ‚ernsten‘ Glauben finde.129 Allein das Leiden erschließe die rechte christliche Erkenntnis. „Dan das herz muß von dem ancleben disser welt durch iamer und smerzen abgeryschen werden, bys das eyner dissem leben ganz und gar feyndt wyrt.“130 kompt, welchs er muß vor allen und uber alle ding wartten.“ S. 235,29–32. Zur Interpretation der Rechtfertigungslehre als eines Instruments zur Sistierung des repressiven hierarchischen Verhältnisses von Klerus bzw. Gelehrten und Laien vgl. S. 238,3–20. 121 „Nein, lieber mensch, du must erdulden und wissen, wie dir Got selbern dein unkraut, disteln und dorner aus deinem fruchtbaren lande, das ist aus deinem hertzen, reutet.“ Ebd., S. 233, 29–31. 122 Ebd., S. 98,6–8. 123 „Ein unversuchter mensch, das der mit Gotis worten vil puchen will, wirt nichts außrichten dan windfangen. Nachdem das Got alle seine außerwelten auffs höchste vom anbegynne versucht hat und sunderlich seines einigen sones nicht geschonet hat, auff das er das rechte tzil der seligkeyt sollte sein und weysen den eynigen engen wegk, den die wollustigen schriftgelerten nicht finden mögen ewiglich.“ Ebd., S. 218,21–27; vgl. zum engen Weg Christi auch: S. 235,1–5 und 236,30: „[. . .] ir kunt durch keynen andern wegk erleuchtet werden denn mit hocher betrubnis Jois am 16 [Joh. 16,20f.].“ Ebd., S. 409,16–18 (= Thomas Müntzer: Briefwechsel, hg. von Siegfried Bräuer/Manfred Kobuch, Leipzig 2010 [= Thomas-Müntzer-Ausgabe, Bd. 2], 281,5f.). 124 „Darumb hats vil zu thun, das wir Got lassen regiren; das wir vorwaer wissen, das unser glawb uns nicht betreugt umb das, dz wir die wirkung des lebendigen worts erlyden haben unde wissen den unterscheyt des götlich wercks und der creaturn.“ Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 23,23–26; vgl. zum Erleiden des Wortes als Beginn heilsamer Läuterung auch ebd., S. 237,22; zum Erleiden der Rechtfertigung ebd., 212,35. 125 Vgl. ebd., S. 222,22 und S. 234,23f. 126 Vgl. S. 222,19–13. „Man mus alle augenblick yn der ertodtung des fleysches wandelen [. . .].“ Ebd., S. 402,16f. (= Müntzer: Briefwechsel [wie Anm.123], 244,4f.). „[. . .] yhr [sc. Christoph Meinhard in Eisleben] müst lernen, durch das leiden Gottes werk ym gesetz erklert und zum ersten die augen eroffnet werden müssen.“ Ebd., S. 402,8–10 (= Müntzer, Briefwechsel (wie Anm. 123), S. 243,1–3). 127 Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 224,4. 128 „[. . .] er [sc. der Glaubende] muß erwarten, das sie [sc. die Bibel] yme eröffnet werde mit dem schlusses Davidis auff der keltern, do er zuknyrschet wirt in alle seiner angenomen weiße, das er also armgeystig wirt, das er gar keinen glauben bey yme befindet dan allein, das er gerne wolt recht glewben. Das ist dann der glaube, der so cleine wirt wie ein senffkorn. Do muß der mensch sehen, wie er das werck Gottis erdulde [. . .].“ Ebd., 224,26–31; vgl. zum ‚Schlüssel Davids‘ außerdem: 498,19f.; 527,13; 208,13; 394,15–21 (= Müntzer: Briefwechsel [wie Anm.123], S.197, 6–11): „schlussel der kunst Gots“; vgl. 234,2–18.Vgl. auch die gleichnamige anonyme Flugschrift Der Schlüssel Davids [Basel A. Petri] von 1523, ed. in: Adolf Laube (Hg.): Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), Bd. 2, Berlin 1983, S. 797–814. Zu der stark an Müntzer erinnernden Verwendung des ‚Schlüssels Davids‘ bei Hätzer s. u. Anm.156. 129 „Auch muß vorhin das volck gantz hart gestrafft werden umb der unördenlichen lust wegen, die also üppig die zeyt verkurtzweylen, on alle eynbleybenden muth zur ernsten betrachtung des glaubens.“ Müntzer: Schriften (wie Anm. 116), S. 300,25–31. 130 Ebd., S. 419,10–12. (= Müntzer: Briefwechel [wie Anm.123], S. 307, 5–7).
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Die Gleichförmigkeit mit Christus steht für Müntzer nicht am Ende, sondern am Anfang des Heilsweges: „Dan gleich so wenig wie der agker one die pflugschare vormagk vormanigfeldigten weytzen zu tragen, gleich so wenig mag einer sagen, das er ein christ sey, so er durch sein creutzs nicht vorhin entpfinlich wirt, Gottes wergk und wort zu erwarthen.“131 Nur, wenn die Auserwählten „christformig werden und mit mancherley leyden und zucht Gottis werck in achtung haben“132, gibt es Trost für die Kirche.133 Müntzers Appell an die Martyriumsbereitschaft im Kampf gegen die Gottlosen134 stellt eine konsequente Applikation seiner die leiblich-sinnliche Sphäre nicht ausschließenden Konzeption einer leidenstheologischen Heilsaneignung dar.Taufe und Abendmahl sind keine sinnlichmateriellen Träger des Heils; sie symbolisieren den heilsbestimmenden Leidensprozess, der Christi ekklesialem Leib widerfährt. Im Abendmahl gedenkt die Gemeinde der Trübsal, „auff das unser sele vorschmachte und hungerig werde nach der speyse des lebens“135. In der Taufe wird ihr vor Augen geführt, dass Christus zu „uns ersoffnen menschen“136 gekommen sei und uns aus den Fluten des Verderbens durch Leiden herausführe.137 Bei Müntzer klingt bereits die Vorstellung an, dass die Erlösung durch Leiden eine universale, auch den Nichtchristen ohne Schrift138 anhand der Beobachtung des Ordo rerum139 erkennbare140 und zuteil werdende göttliche Ordnung bildet. 131 Ebd., S. 218,8–11. „Do [sc. in Mt 16] wirstu finden, das niemant in Cristum glawben kann, er muß yme zuvorn gleich werden.“ S. 224,3f. 132 Ebd., S. 227,7f. Müntzer denkt die conformitas passionis Christi als Vorgang der Menschwerdung, vgl. S. 318,22–37. Es ist also das Leiden, das die mystische Geburt Jesu in der Seele inauguriert. Die Geburt des Sohnes durch den Vater erfolgt „in uns on unterlaß“, und zwar durch die vom Geist gewirkte Erklärung des Gekreuzigten in Betrübnis, S. 211,1f. 133 In Polemik gegen die ‚Schriftgelehrten‘ aus Wittenberg betont Müntzer, dass allein die „traurigkeyt des hertzens“ (S. 324,28f.) den Grund darstellt, auf dem der Trost des Heiligen Geistes verstanden werden kann. 134 Vgl. etwa ebd., S. 413,30–414–2 (= Müntzer: Briefwechsel [wie Anm.123], S. 271, 18–26). 135 Müntzer: Schriften (wie Anm. 116), S. 211,11. 136 Ebd., S. 214,19f. 137 Ebd., S. 214,11–215,6. 138 Vgl. den Passus ebd., S. 276,34–280,39, in dem Müntzer die Wittenberger These, die Schrift gebe den Glauben, zurückweist und ihr die Funktion einer Bezeugung des aus dem Geist gewonnenen Glaubens beimisst. Die These einer allgemeinen Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis ohne Bibel lautet knapp und prägnant: „Wenn eyner nu seyn leben lang die biblien wider gehöret noch gesehen het, kündt er woll für sich durch die gerechten lere des geystes eynen unbetrieglichen christenglauben haben, wie alle die gehabt, die one alle bücher die heylige schrifft beschriben haben.“ Ebd., S. 277,25– 33. Ähnlich heißt es dann im unübersehbaren Anschluss an Müntzer bei Hans Hut: „Dann die ganntz welt mit allen creaturen ist ein buch, darinn man im werckh sicht alles, was im gschribnen buch glesen wirt. Dann all auserwölte menschen von anfanng der welt bis auf Mosen haben inn disem buch aller creaturn den willen Gotes gestudiert und dargegen wargenomen des verstands, so von natur in inen beschriben was.“ Hans Hut: Anfang eines rechten christlichen Lebens, in: Heinold Fast/Martin Rothkegel/Gottfried Seebaß (Hg.): Briefe und Schriften oberdeutscher Täufer 1527–1555. Das ‚Kunstbuch‘ des Jörg Probst Rotenfelder gen. Maler, Gütersloh 2007 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 78/Quellen zur Geschichte der Täufer 17), S.184f. 139 Zum Ordo rerum bei Müntzer vgl. besonders die Studien von Goertz: Ordnung (wie Anm.118). 140 Vgl. Müntzer: Schriften (wie Anm.116), S. 222,24–26; 399,1–5; 535,1–7; 223,6–14.
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Diese Linie wurde in Hans Huts Lehre von dem in allen Kreaturen erkennbaren Evangelium systematisch ausgearbeitet.Während sich die „Schriftgelehrten“ dem von Gott auferlegten Leiden entzögen und einen „valschen und erdichten glouben“ propagierten, „daraus gantz und gar kein pesserung volgt“141, gehe Christus mit seinen „außerwölten inn d[ie] schul aller truebsal“142; das Absterben der Welt sei unumgänglich143; jeder einzelne müsse persönlich leiden „bis das leiden Christi erstatet wird“.144 Denn das Leiden Christi gehe an seinem ekklesialen Leib bis zum Ende der Zeiten fort.145 Erst durch die individuelle Kreuzesnachfolge im Leiden werde der Mensch vor Gott gerechtfertigt.146 Denn Christus müsse „inn allen glidern“ leiden, nicht, wie die Schriftgelehrten lehrten, nur „als das houbt“, das es allein „aus[ge]tragen und ausgericht“147 habe. Diese universale Gottesordnung der Erlösung durch Leiden illustriert Hut an der Lebenswelt und den Erfahrungszusammenhängen des gemeinen Mannes.148 Wie der Acker bearbeitet wird, bevor der Bauer einsät, die Bäume gefällt werden, ehe der Zimmermann daraus ein Haus baut, die Tiere getötet und gebraten werden, ehe sie dem Menschen zur Speise dienen, so müssen auch wir zuvor durch Leiden gereinigt und geläutert und vor unrechtem Wandel und dem Missbrauch der Kreaturen durch Pein bereitet werden, ehe wir von Gott erlöst werden können.149 Nicht zuletzt die Erschließung des leidenstheologischen ‚Evangeliums 141
Fast/Rothkegel/Seebaß (Hg.): Kunstbuch (wie Anm.138), S.169. Ebd., S.170. 143 „Also muessen wir ouch zufor der welt absterben und inn Got leben.“ Ebd., S.185; vgl. 193 und 197. 144 Ebd., S.195. 145 „Dann wie Jesus, das lemli, von anfanng der welt getödt ist, also wirt es noch creutzigt bis zum end der welt, bis der leib Jesu zusamengfüegt wirt, Eph. 4, nach der lenng, praithe, tüeff und höch, inn der fölle Gotes.“ Ebd. 146 „Der gloub, wölchen man aus dem ghör uberkompt, wirt gerechnet zur rechtfertigkeit, bis der mensch underm creutz gerechtfertigt und gereinigt wirt. Als dann wirt ein solcherr gloub gleichförmig dem glouben Gotes und ainig mit Christo.“ Ebd. Bei Denck scheint das Leiden eher als innerlicher Vorgang gedacht zu sein: „Sol er [sc. der Mensch] mit Gott eynß werden, so muß er leiden, was Gott von anbegin in im wirken will [. . .].“ Hans Denck: Schriften, 2. Teil. Religiöse Schriften, hg. von Walter Fellmann, Gütersloh 1956 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 24/Quellen zur Geschichte der Täufer 6/2), S. 94,25f.Wirken und Leiden geschehen durch das im Anfang in Gottes Geist geborene Wort (ebd., S. 94,28f.), sind also nicht sinnlich vermittelt. In Dencks Widerruf findet sich übrigens die traditionelle Satisfaktionslehre der stellvertretenden Genugtuung für aller Menschen Sünde durch Christi Leiden, die allerdings mit dem Appell zu sittlicher Bewährung verbunden ist, ebd., S.106,20–31. 147 Fast/Rothkegel/Seebaß (Hg.): Kunstbuch (wie Anm.138), S.175. 148 Ebd., S.178–181. 149 Ebd., S.182f.; vgl. zum ‚Evangelium aller Kreatur‘: Gottfried Seebaß: Müntzers Erbe.Werk, Leben und Theologie des Hans Hut, Gütersloh 2002 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 73), S. 400–412; zu Hut auch: Schubert: Täufertum (wie Anm.151), S. 208ff.; zu den Müntzerschen Wurzeln des Konzepts vgl. bes. Seebaß: ebd., S. 409–412. Eine stärker in der Tradition des ‚liber naturae‘ stehende Perspektive auf die Natur und die ‚Gewalt‘ unter Tieren findet sich übrigens bei dem wohl mit Hut in Verbindung stehenden Jörg Haugk von Jüchsen. Dabei geht es allerdings um die Erkenntnis einer Seinsordnung, nicht darum, Leiderfahrungen als theologisch notwendig zu erweisen. Die Tiere lehren den Menschen, „das die forcht der weg sey, zu Gottes weyßheit zukommen“ (Adolf Laube [Hg.]: Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich [1526–1535], 142
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aller Kreatur‘ durch Beispiele aus der Natur und der beruflichen Alltagswelt von Bauern und Handwerkern lässt wohl kaum einen Zweifel daran, dass es sich bei Hut um ein Konzept sinnlicher Heilsaneignung handelt.150 Ihre wohl eindrucksvollste Verdichtung hat die radikalreformatorische Konzeption einer leidenstheologischen Heilsaneignung bei Ludwig Hätzer gefunden. In dem auf Hätzer zurückgehenden illustrierten Flugblatt des Kreuzgangs (Abb.2, Seite 40) von 1528/9151 ist der durch das Leid führende Heilsweg in eine prägBd.1, Berlin 1992, S. 669,23f.). Dass der Fuchs das Huhn, der Wolf das Schaf frisst, zeige nach Jüchsen allerdings nicht, „das es recht sey, oder daz Gott den menschen feynd sey“ (ebd., S. 670,5f.). Sollte sich in Gedankengängen wie diesen eine theologische Weiterentwicklung des Müntzerschen Ordo rerum-Konzepts zeigen, die die tendenziell Gewalt und Unterdrückung legitimierenden Implikationen des Hutschen ‚Evangeliums aller Kreatur‘ korrigierte? Nachwirkungen des ‚Evangeliums aller Kreatur‘ finden sich bei Leonhardt Schiemer: An die Gemeinde in Rattenberg, in: Fast/Rothkegel/ Seebaß (Hg.): Kunstbuch (wie Anm.138), S. 265, und Hans Schlaffer: Ein kurzer Unterricht zum Anfang, in: Lydia Müller (Hg.): Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, Leipzig 1938 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 20/Quellen zur Geschichte der Täufer 1), S. 85– 88 und in der wohl zu Unrecht (vgl. Thomas Kaufmann: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008 [= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 97], S. 204) Jakob Dachser zugeschriebenen Schrift Eine göttliche und gründliche Offenbarung (hier: Laube: ebd., S. 783,8ff.; 785,7ff.; 788,24ff.). Die wichtigsten bio-bibliographischen Informationen zu den genannten Personen sind zusammengestellt bei Fast/ Rothkegel/Seebaß: ebd., S. 242ff. (zu Schiemer); S. 344 (zu Schlaffer); Laube: ebd., S. 682f. (zu Haugk von Jüchsen); vgl. auch Seebaß: Müntzers Erbe (siehe oben), Register. 150 In der von Johannes Landsperger hg. Schrift Hans Huts (Christliche Unterrichtung, ed. in: Laube: Flugschriften, Bd.1 [wie Anm.149], S. 687–701) lässt sich in Bezug auf die Leidensaussagen eine gewisse Internalisierungs- bzw. Spiritualisierungstendenz erkennen, etwa wenn es heißt, ich müsse die „ernst gerechtigkeit des gecreützigten sun Gottes“ „in mir“ „erdulden“, S. 688,24–26; ähnlich 688,16; vgl. auch: S. 688,25f.; 688,32; 690,2f.; 691,15; 693,31; 695,7; 691,14.24.40f.; 692,30ff.; 694,1f.15. Zum Leiden des ekklesialen Leibes Christi vgl. 691,1; 691,8–13.38. Aber in Reihungen wie „leyden, ellend und armut“ (S. 690,3) oder in Wendungen wie „das creutz Christi, welches wir tragen müssen und in den fußstapffen Chrisit Christo volgen“ (S. 692,10f.), oder in der Charakterisierung des Gleichförmigwerdens mit Christus durch die Trostlosigkeit des Kreuzes (S. 693,26f.; ähnlich 694,13f.) wird deutlich, dass das physische Leiden mit im Blick ist. Das ‚Evangelium aller Kreatur‘ ist in der Christlichen Unterrichtung nicht explizit ausgeführt, was mit der von Seebaß allerdings nur im Zusammenhang apokalyptischer Gehalte (Müntzer Erbe [wie Anm.149], besonders S. 239; 366; 430) beobachteten Arkandisziplin, die Hut praktizierte, zu tun haben könnte oder den Überlieferungsumständen des Textes, dessen Drucklegung ja von Hut nicht beeinflusst wurde, zuzuschreiben sein dürfte. 151 Einschlägige Argumente für die Zuschreibung an Hätzer hat schlüssig vorgetragen: Alejandro Zorzin: Ludwig Hätzers „Kreuzgang“ (1528/29): Ein Zeugnis täuferischer Bildpropaganda, in: Archiv für Reformationsgeschichte 97 (2006), S.137–164 (Abb. S.144f.). Der unmittelbare Anlass des Blattes ist unklar; Zorzins Hinweis auf die Hinrichtung des Trinitätsleugnes Thomas Saltzmann in Straßburg am 20.12.1527 (ebd., S.157) ist wohl – gegen Anselm Schubert: „Heiligung des Namens“. Zu den jüdischen Anfängen täuferischer Martyriumstheologie, in: Mennonitische Geschichtsblätter 67 (2010), S. 9–24 – kaum so zu verstehen, dass diese der „unmittelbare Anlass des Flugblatts“ (ebd.) gewesen sei. Meines Erachtens gehört das Blatt in den Kontext von Hätzers Wandermission; eines unmittelbaren Anlasses bedurfte es nicht. Die folgenden nicht eigens ausgewiesene Zitate im Haupttext beziehen sich auf dieses Blatt. Seither hat sich auch Schubert mit dem Blatt beschäftigt und auf mögliche Verbindungen zwischen dem Gottesnamen bzw. dem Tetragramm und der kabbalistischen Sefiroth-Lehre hingewiesen: Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation, Gütersloh 2008 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 81), S. 91ff.; sowie zuletzt: ders.: „Heiligung des Namens“ (wie oben); zu Hätzer zuletzt: Alejandro Zorzin: Ludwig Hätzer als täuferischer Publizist (1527–1528), in: Mennonitische Geschichtsblätter 67 (2010), S. 25–49; ders.: Art. Hätzer, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 5, 2010 (www.mennlex.de).
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nante visuelle Darstellung eingegangen.Auf dem kompositorisch an Erhard Schöns Großen Rosenkranz152 (ca. 1515; Abb. 1, Seite 38) erinnernden Bild ist die mit einer Reihe von lateinischen, deutschen und hebräischen Worten bezeichnete, ungegenständliche, jenseitige Gottheit ins Bildzentrum gerückt. Bildet der Sühne wirkende Gekreuzigte inmitten der Apostel, Propheten und Heiligen das Zentrum des Schönschen Blattes, so ist es bei Hätzer die nur in ihrem Namen greifbare Gottheit selbst. Die göttlich-himmlische Sphäre ist von einem kreisförmigen Gang umgeben, auf dem vier in Lorbeer umkränzte Medaillons das Wort „CRUX“ ergeben; er kann also als Kreuzgang identifiziert werden. Innerhalb des Ganges sind Martyrien bzw. sieben Tötungsarten (Enthauptung, Ertrinken, Verbrennen, Erhängen, Erstechen, Ausweiden, Steinigen) dargestellt. Die Verbindung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Sphäre bildet eine enge Pforte, durch die der sein Kreuz tragende Christus hindurchkriecht. Unterhalb des Bildes sind zwei jeweils achtzeilige Strophen gedruckt, die zum einen tendenziell ‚antitrinitarische‘153 Aussagen über Gott, zum anderen Ausführungen über den „Mittler Emanuel“ enthalten: „So du dann wolltest bey mir sein / | In mynem hoff gehen uß und ein. | Zu solchem mag dir ein ding dienen | Das findst bey Christo und sunst nyenen | Nemlich dein creütz / solts uff dich nemen | Und dich mins namens nyenen bschämmen | Dann wer mit Christo nit hie leidt | Dem sag ich zu / er daussen bleibt. |“ Das parallel zum Bild gedruckte und dieses erläuternde Sendschreiben Hätzers hebt die entscheidenden Bildelemente hervor, eingeleitet übrigens mit der vor dem Hintergrund von Hätzers Bildkritik154 interessanten Bemerkung, dass „geschrifft und Figuren“ der Schwachheit des menschlichen Gedächtnisses aufhelfen und wie „alle creaturn wol und recht ein buch sint“. Zur Bedeutung Christi führt der Sendbrief aus, dass er „das Wort des vaters im fleysch“, der „grosse schatz der Gottheit im leymen Geschirr“, und der „weg“ sei, „uff das mann wandle wie er gewandelt hat“. Wer Christus nachlebe, werde „den tod nit sehen“. Durch den „crützgang / durch 152 Abb. der deutschen Fassung (Geisberg 1133) in: Susanne Wegmann: Auf dem Weg zum Himmel. Das Fegefeuer in der deutschen Kunst des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 2003, Abb. 30; Analyse des Blattes und des Forschungsstandes im Katalogteil des Buches unter Nr. 3.11, S. 249–251. 153 J. F. Gerhard Goeters: Ludwig Hätzer (ca. 1500 bis 1529), Spiritualist und Antitrinitarier. Eine Randfigur der frühen Täuferbewegung, Gütersloh 1957 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 25), besonders S.125–147. 154 Ludwig Hätzer: Ein Urteil Gottes, wie man es allen Götzen und Bildnissen halten soll, ed. in: Laube: Flugschriften (wie Anm.128), Bd.1, S. 271–283; siehe zu der Schrift auch Goeters: Hätzer (wie Anm.153), S. 22–26. Im Vorwort zu einer in der bisherigen Hätzerforschung übersehenen Flugschrift von 1528, die im Wesentlichen eine Übersetzung von Baruch 6, dem Brief des Jeremia an die nach Babylon Deportierten, enthält und vor den Götzendiensten der persischen Metropole warnt (Ein sendbrief jeremia des Propheten / zu den gefangenen Juden inn Babel gschriben / die ubergroß abgötterei der bilder / betreffene [Basel, Thomas Wolff] 1528; VD 16 B 4172; Ex. SuStB Augsburg 4 Aug 554; s. Zorzin: Publizist [wie Anm.151], S. 40 Nr.18; S. 37; S. 49 mit Anm. 59) hatte Hätzer noch 1528 ausdrücklich vor „den Gräueln und abgöttischen diensten / der stummenden unnützen götzen“ gewarnt und das nahe bevorstehende Gericht Gottes beschworen: „Hei / so helffe das blutdurstig Schwert Gottes / welches der HERR schon in der hand hat / sauber außpolirt und schliffen (wie der prophet Jeheskiel sagt) alles gottloß wesen heymzusuchen / und die teuffelische pflantzung außzujetten.“ [a2r]. Am Schluss bietet Hätzer noch einige Leseempfehlungen zu biblischen Texten gegen die Götzen [b1vf].
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Abb.1: Erhard Schön, Der große Rosenkranz; 40,1 ҂ 29,8 cm (ohne Text); Einblattholzschnitt um 1515
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Der Text oberhalb des Bildes enthält Angaben über das von zwei Päpsten, Alexander VI. und Leo X., Kardinal Peraudi und weiteren Prälaten mit insgesamt 107 Jahren, 100 Quadragen und 320 Tagen Ablass privilegierte Rosenkranzgebet. Unterhalb des Rosenkranzes ist das Fegefeuer dargestellt; der durch den Blütenkranz eingegrenzte Himmelsstaat repräsentiert die um den Gekreuzigten gesammelte Heilsgemeinschaft der Erlösten.
die enge port“ gehe Christus zum Leben ein; in seinen irdischen Gliedern, also dem ekklesialen Leib Christi, werde sein Leiden vollendet: „Hie ist die streng gerechtigkeit Gottes / unnd der weg den alle usserwelten fründ Gottes gewandlet und fürter wandlen müssen alle jünger Christi / ja alle gschwistrige / alle Kinder gottes.“ Abendmahl und Taufe werden als symbolische Verweise auf den Leidensweg der Nachfolge bezogen, wie man es von Müntzer her kennt.155 Gott erlege aber niemandem mehr Leides auf, als er tragen könne; die Lorbeerkränze verweisen auf den Sieg der Leidenden. Die „züchtigung und infürung in [den] crützgang“ wird als „ordnung Christi“ bezeichnet. Der immense Anspruch des Blattes, die „gantz summ und vermögen der heyligen Bibel“ darzustellen, dürfte sich vor allem auf die hermeneutische Erschließungskraft des Leidens, die bei Hätzer im Anschluss an Müntzer eine zentrale Rolle spielt, beziehen.156 155
S. oben Haupttext bei Anm.135f. In seiner Baruch-Vorrede (VD 16 B 3727, Ex. SB München Catech 224/2) formulierte Hätzer unter Aufnahme der Kreuzgang-Metapher: „Darauff sag ich frei dise warheyt imm Herren Gott / das keyn mensch / er sei wie gelert er immer wölle / eynige schrifft verstehen mag / er hab sie dann zuvor selb in der warheyt mit der that imm abgrundt seiner seelen erlernet. hat eyner lang imm Creutzgang spatzieret / so verstehet er destomehr schrifft / Ist aber eyner nie darein kommen / so verstehet er ja nitt eynen buchstaben / sondern ist alles nun eyn vermessener wohn / unnd redet von allen graden deß glaubens / wie der blinde von der farben. Derhalben / wer die schrifft wöll verstehen / der gehe in die rechte schul Christi / da wirt er sie lernen / er darff weder auff alter noch newer Papisten geschwürm und schulen studiren / da man gar nichts götlicher kunst lernet noch ergreifft / sonder ie lenger ie erger / ie gelerter ie verkerter [. . .]. Der schlüssel Davids muß dir alle schrifft auffschliessen / Die züchtigung muß vorlesen / die mag dir alleyn das hertz reynigen / das du die lebendig stimm Gottes vernemen magst [. . .].“ 4r/v. Der nach Apg. 3,7 wohl christologisch ausgelegte ‚Schlüssel Davids‘ ( Jes. 22,22), der auf seine Schulter gelegt ist, dürfte das Kreuz sein. (In der Vorrede zu der in seiner Offizin erschienenen Prophetenübersetzung Hätzers griff Peter Schöffer die Metapher vom Schlüssel Davids auf: Gott wolle „uns diese und alle zeugnuß der warheyt / mit dem schlüssel Davids eröffnen / durch Jesum Christum / Amen.“ Zit. nach Alejandro Zorzin: Peter Schöffer d. J. und die Täufer, in: Ulman Weiß (Hg.): Buchwesen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Helmut Claus, Epfendorf/Neckar 2008, S.179–213, hier: S.192.) Das scheint mir auch der Sinn des Schlüssels Davids bzw. des Schlüssels der Kunst Gottes bei Müntzer zu sein (vgl. etwa: Müntzer: Schriften [wie Anm.116], S. 209,9 und 394,14 [= Müntzer: Briefwechsel [wie Anm.123], S.197,6]); eine vollständige Zusammenstellung der Belege bietet: Ingo Warnke: Wörterbuch zu Thomas Müntzers deutschen Schriften und Briefen, Tübingen 1993 (= Lexicographica Ser. Maior 50), S.192; 345 s. u. „Kunst“; s. oben Anm.128. „Kunst Gottes“ ist ein Schlüsselbegriff Thomas Müntzers, vgl. nur Müntzer: Schriften, ebd., S. 228,20f.; 208,9; 210,30; 245,15; 246,22; 261,22; 286,26; 295,6f.; 298,17; 308,28; 394,15 (= Müntzer: Briefwechsel [wie Anm.123], S.197,5); S. 394,19f. (= ebd., S. 201,6); S. 402,2 (= ebd., S. 24,1); S. 423,1 (= ebd., S. 321, 9.); S. 423,12 (= ebd., 321, 19); zur Deutung des Schlüssels Davids und der Kunst Gottes bei Müntzer anregend: Rolf Dismer: Geschichte Glaube Revolution. Zur Schriftauslegung Thomas Müntzers, Diss. theol. Hamburg 1974, S.16–164; S. 205–207.Von einem direkten persönlichen Kontakt zwischen Hätzer und Müntzer ist, soweit ich sehe, nichts bekannt. Unter dem Brief Grebels und seiner Genossen an Müntzer vom 5. 9.1524 (vgl. Müntzer: Schriften, Nr. 69, 156
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Abb. 2: Hans Weiditz, Kreuzgang [Straßburg, Johann Prüss d. J.], 1528/9; linke Seitenhälfte eines zweiteiligen Flugblattes; 15,7 ҂ 21 cm (ohne Text); Text: [Ludwig Hätzer]
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Das von dem Tetragramm und acht in vier Doppelpaaren angeordneten Gottesnamen geprägte Bildzentrum ist von einem Kreuzgang umgeben, in dem insgesamt sieben Martyrien dargestellt sind. In der Leidensnachfolge des sich durch die enge Pforte schleppenden Kreuzträgers Christus geht der Gläubige in Gott ein. In kompositorischer, wie in inhaltlicher Hinsicht könnte der Kreuzgang eine Kontrafraktur der Rosenkranzdarstellung sein (s. auch Zorzin, Publizist, wie Anm.151, S. 45 Anm. 33). Nicht der stellvertretend leidende Christus begründet das Heil, sondern der Weg in seiner Leidensnachfolge verbürgt es; nicht aus den durch Papst und Kaiser repräsentierten Ständen, sondern aus dem gemeinen Mann speist sich die kleine Gemeinde seiner wahren Nachfolger. An die Stelle des thronenden Gottvaters ist der ungegenständliche Gottesname getreten.
S. 437–474; Siegfried Bräuer: „Sind beyde diese Briefe an Müntzer abgeschickt worden?“ Zur Überlieferung der Briefe des Grebelkreises an Thomas Müntzer vom 5. Septermber 1924, in: Mennonitische Geschichtsblätter 55 [1998], S. 7–24; zu den Anfängen des Zürcher Täuferkreises zuletzt: C. Arnold Snyder: The Birth and Evolution of Swiss Anabaptism [1520–1530], in: Mennonite Quarterly Review 80 [2006], S. 501–645; Urs B. Leu/Christian Scheidegger [Hg.]: Die Zürcher Täufer 1525– 1700, Zürich 2007, S.18ff.; Andrea Strübind: Eifriger als Zwingli. Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz, Berlin 2003) fehlt Hätzers Name; er wird (so auch Goeters: Hätzer [wie Anm.153], S. 46– 51) damals von Zürich abwesend, wohl noch in Augsburg gewesen und nicht vor Oktober 1524 nach Zürich zurückgekehrt sein. Eine weitere indirekte Verbindung zwischen Hätzer und Müntzer könnte über seinen Landsmann Ulrich Hugwald, den Müntzer um die Jahreswende 1524/5 in Basel getroffen hatte (Müntzer: Schriften, S. 544,15; vgl. Gerhard Hammer: D. Martin Luther, Operationes in Psalmos 1519–1521, Teil I, Köln/Wien 1991 [= Archiv für die Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 1], S. 267), bestanden haben, ansonsten – sofern glaubwürdig – durch die persönlichen Begegnungen des Täuferkreises mit Müntzer, von denen Bullinger berichtet (vgl. dazu: Heinold Fast: Heinrich Bullinger und die Täufer. Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie des 16. Jahrhunderts, Weierhof/Pfalz 1959, S. 84; 90 mit Anm. 428; 92ff.; Wiland Held/Siegfried Hoyer: Quellen zu Thomas Müntzer, Leipzig 2004 [= Thomas-Müntzer-Ausgabe Bd. 3], S.195 Nr.127), schließlich natürlich über den mit Müntzer verbundenen Hans Denck (vgl. nur die Hinweise in: Walter Elliger: Thomas Müntzer. Leben und Werk, 3. Aufl., Göttingen 1975, S. 628; 696), der nach einer glaubhaften Nachricht Oekolampads im April 1525 im thüringischen Mühlhausen gewesen sein soll (Ernst Staehelin: Briefe und Akten aus dem Leben Oekolampads, Bd.1, Leipzig 1927 [= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 10], ND/New York/London 1971, S. 365 [Oekolampad an W. Pirckheimer, 22. [25.? so Scheible, s. u.] 4.1525], vgl. Willibald Pirckheimer: Briefwechsel, Bd. 5, hg. von Helga Scheible, München 2001, Nr. 936, hier: S. 397,61f.; zu Müntzer und Denck s. auch: Georg Baring: Hans Denck und Thomas Müntzer in Nürnberg 1524, in: Archiv für Reformationsgeschichte 50 [1959], S.145–182, besonders 178f.). Über Martin Borrhaus-Cellarius (Irene Backus: Martin Borrhaus (Cellarius) [Bibl. Diss. II/BBAur 87], Baden-Baden 1981, S.12 [Zürich 1524/5]; Disputation mit Hätzer in Straßburg), den Hätzer wohl aus Zürich kannte und der mit dem Müntzer zeitweilig nahe stehenden Markus Thomae genannt Stübner verkehrt hatte (s. Thomas Kaufmann: Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen 2010 [= Thomas-MüntzerGesellschaft-Veröffentlichung 12], passim), aber auch über Hubmaier (s. nur Balthasar Hubmaier: Schriften, hg. von Gunnar Westin/Torsten Bergsten, Güterloh 1962 [= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 29/Quellen zur Täufergeschichte 9], S. 24; 33f.; 224f.; 237f.; 252), war Hätzer mit weiteren Personen in Kontakt, die Verbindungen zu Müntzer unterhielten. Nach einer Nachricht in Marcus Wagners in mancher Hinsicht dubioser Schrift über Nikolaus Storch (Einfeltiger Bericht wie durch Nikolaum Storken die Auffruhr in Thüringen / und umbligenden Revir / angefangen sey worden [. . .], o. O., O. Dr., 1596; VD 16 W 125; Ex. ULB Halle PonZe 6607; über Wagner sind die wichtigsten weiterführenden Hinweise zusammengestellt in: Kaufmann: ebd., S.19–21 mit Anm. 38; zum Quellenwert des Berichtes passim) habe „Münster [sc. Müntzer] zu Alstett / Pfeiffer um Heldrungen / und Schloß Vippach / und Hetzer umb Müllhausen / in der Stadt Eysenach / D. Jacob Strauß“ (S.10r) agitiert bzw. den Aufruhr geschürt. Da die mit dem Namen Pfeiffers und Strauß‘ verbundenen Ortsangaben zutreffend sind (vgl. zu Pfeiffer die Studien von Thomas T. Müller: Müntzers Werkzeug oder
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Der jeder Vergegenständlichung und jeder Verbindung mit der Sinnenwelt entrückte Gottesgedanke Hätzers, der „das götlich wesen und unausprechlich unsaglich unerforschlich einig gut / den anfang und end aller ding“ betonte, ließ jede Verbindung menschlicher „zungen“, „alles gehörd und alles gesicht“, d. h. jede sinnlich vermittelte Interaktion zwischen Gott und Mensch unmöglich werden („erliggen“). Mit der Transzendentalisierung der Gottesvorstellung korrespondierte eine leidentheologische Versinnlichung der Heilsaneignung. Zu dem fernen, übermächtigen Gott, dessen Geißel die Insignien der Mächtigen – Zepter, Hirtenstab, Schreibfeder – in „unaussprechlich[er] straff“ zerschmetterte, führte nur die enge Pforte, der Weg, auf dem Jesus „gewandelt“ war. Für das lutherische wie für das radikal-reformatorische Verständnis der Vergegenwärtigung des Heils war die sinn- und leibliche Apperzeption gleichmaßen, wie wohl in sehr unterschiedlicher Weise, konstitutiv.
V. 1. In der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeitspraxis herrschten erhebliche Unklarheiten darüber, ob und inwiefern bestimmte Rituale und Praktiken als heilsrelevant einzuschätzen seien. Die geläufige Form der Anerkennung und Appropriierung eines Heilswertes eines bestimmten rituellen Handelns bestand in der Gewährung von an den Bußtarifen orientierten Ablässen durch Vertreter der kirchlichen Hierarchie. 2. Die verbreitete Vorstellung, der mittelalterliche Christenmensch habe in einer unmittelbareren sinnlichen Beziehung zum Heil gestanden als der reformatorische Gläubige, ist problematisch. Die Dominanz visueller Aneignung im Zusammenhang mit der spätmittelalterlichen Praxis der eucharistischen Frömmigkeit trägt Züge einer signifikanten Entsinnlichung des Sakraments. 3. Die lutherische Reformation hat die Aneignung des Heils auf die sinnlichen Vermittlungsinstanzen Wort und Sakrament fokussiert, den Glauben aber zugleich dauerhaft an den sinnlichen Modus seiner Konstitution gebunden. 4. Für die lutherische Reformation wurde die Sinnlichkeit der Heilsaneignung exklusiv gültig; sie war alternativlos und unumgänglich. Gegenüber einem pluralen und diffusen Nebeneinander sinnlicher und unsinnlicher Möglichkeiten charismatischer Anführer? Heinrich Pfeiffers Rolle im Thüringer Aufstand von 1525, in: Günter Vogler [Hg.]: Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart 2008 [= Historische Mitteilungen im Auftrag der Ranke Gesellschaft 69], S. 242–259; ders.: Ein lutherischer Mönch und die Legende vom vergifteten Wein. Die Burg Scharfenstein im Bauernkrieg, in: Josef Reinhold/Günther Henckel (Hg.): 800 Jahre Burg Scharfenstein 1209–2009, Duderstadt 2009, S. 33–44; zu Strauß: Stephen E. Buckwalter: Art. Strauß, Jakob, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32 [2001], S. 246– 249, besonders S. 247), könnte vielleicht auch die Hätzer betreffende Nachricht erwägenswert sein. Ob es möglich ist, die im Ganzen spärlichen Angaben zu Hätzers Biographie zwischen der Vertreibung aus Zürich Ende Januar 1525 und seiner Tätigkeit bei Silvan Otmar in Augsburg (Goeters: Hätzer [wie Anm.153], S. 53–57) mit einem Aufenthalt in Mühlhausen zu verbinden, mag in unserem Zusammenhang auf sich beruhen bleiben.
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der Heilsaneignung im späten Mittelalter bedeutete die lutherische Reformation eine ebenso definitive wie theologisch präzise Versinnlichung des Christentums. 5. Die Absage an asketische Lebensorientierungen hat im lutherischen Christentum Impulse eines schöpfungsfrommen Weltverhältnisses freigesetzt, das sinnlich-ästhetischen Erfahrungen religiöse Dignität zubilligen konnte. 6. Bei Vertretern der radikalen Reformation, die in einen scharfen Gegensatz zur Weltförmigkeit der etablierten Reformatoren geraten waren, kam dem Leiden als sinnlicher Aneignungsform des Heils eine zentrale Bedeutung zu. 7. Die These einer Entsinnlichung der Heilsaneignung im Zuge der Reformation dürfte in Bezug auf den reformierten Protestantismus eine gewisse Plausibilität besitzen. Das für die reformierte Theologie und Frömmigkeit im ganzen charakteristische „finitum non capax infiniti“-Axiom ließ allenfalls Parallelitäten zwischen äußeren Elementen (Wort und Sakrament) und Wirkungen des Geistes zu157, schloss aber eine instrumentelle oder substantiell-kommunikative Verbindung des Geistes oder Christi mit der sinnlich-materiellen Welt aus.
157 Heiko A. Oberman: Die ‚Extra‘-Dimension der Theologie Calvins, in: Heinz Liebing/Klaus Scholder (Hg.): Geist und Geschichte der Reformation. Festgabe Hanns Rückert, Berlin 1966 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 38), S. 323–356.
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Augustins Auffassung von der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens und die reformatorische Medialitätsproblematik Im Folgenden geht es mir in einem großen Überblick mit einigen Tiefenbohrungen um einen Dreischritt von Augustin über bestimmte mittelalterliche Konzeptionen zur Vielfalt der Reformation. Beginnen möchte ich mit einer zentralen Beobachtung zur Frühreformation Luthers, Karlstadts, Zwinglis und Bucers: Eine der wesentlichen Antriebskräfte dieser reformatorischen Anfänge war das drängende Insistieren auf der Unmittelbarkeit aller Glaubenden zu Gott, auf einer Immediatisierung ihrer Gottesbeziehung. Dies ist hervorzuheben angesichts der Tatsache, dass die Reformation in eklatanter Weise ein Medienereignis war:1 im Zusammenspiel von Predigten, Flugschriften, Flugblättern, Bildern, Gemeindeliedern, Bibelübersetzungen, Gottesdienstformularen etc. Stets ging es in dieser eminenten reformatorischen Medienpräsenz um eine neue Unmittelbarkeit zu Gottes Wort, Geist und Gnade – im Widerspruch gegen den traditionellen Anspruch der klerikalen Hierarchie, aufgrund ihrer exklusiven Weihesakralität Gnade und Heil besonders wirkungsvoll vermitteln zu können. Ja noch mehr: Die reformatorische Fundamentalunterscheidung zwischen Gott und Kreatur stellte in Verbindung mit dem Ruf nach geistlicher Unmittelbarkeit die gesamte heilsvermittelnde Potenz des äußeren Kirchenwesens, seiner Sakramente und Worte, seiner Ämter und Heiligen, zur Disposition. Das gesamte, vielperspektivische Drängen der reformatorischen Veränderungsimpulse nach religiöser Unmittelbarkeit ist theologisch nicht zu verstehen ohne das hohe Maß an Augustin-Rezeption, das hier auf sehr unterschiedliche Weise zur Geltung kam. Diese divergierende Augustin-Rezeption ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der innerreformatorischen Pluralität und Gegensätzlichkeit. So gesehen war die Reformation in ihrem Verständnis von Medialität, Unmittelbarkeit und Präsenz des Heils ein Kampf um Augustin mit der altgläubigen Seite und im eigenen Lager. Daher blicke ich zunächst auf den historischen Augustin und auf die Komplexität seiner Haltung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gnadenwirken des Hl. Geistes und den Heilsmitteln der ecclesia visibilis, ihrer Wortverkündigung und ihrer Sakramente. 1 Vgl. in diesem Band die Beiträge von Johanna Haberer und Marcus Sandl sowie zuletzt ders.: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation, Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 18).
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I. Augustins Konzeption von der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens2 Auffallend ist zunächst, wie stark Augustin in den verschiedenen Phasen seines Schrifttums die pure, nicht äußerlich vermittelte, Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens in der Seele des Menschen hervorhebt. Charakteristisch für ihn ist die Akzentuierung der Unmittelbarkeit als Selbsthandeln Gottes: „Deus ipse sanctificat.“3 Das „Deus ipse“ bedeutet immer ein „per se ipsum“4. Christus selbst wirkt durch den Hl. Geist im menschlichen Herzen Glauben, Hoffnung und Liebe. Diese betonte Hervorhebung der souveränen Urheberschaft Gottes – Souveränität verstanden als Transzendenz und Unmittelbarkeit – bedeutet, dass der weltüberlegene Gott immer eine gewisse Distanz zu den sog. Heilsmitteln der Kirche wahrt und gerade so die personale Direktheit seines Gnadenhandelns erweist. So kommt es zu der typisch augustinischen Unterscheidung zwischen dem Wirkungsbereich der institutionellen Amtskirche und der göttlichen Gnadenwirkung in ihr, die nur einigen Getauften widerfährt. Ich kann nun wegen der gebotenen Kürze nur knapp skizierend auf die drei Hauptfaktoren eingehen, die diese spiritualisierende Distanz zu den äußeren, sinnlichen Heilsmitteln der Kirche bei Augustin ausgeformt hat: Erstens ist seine frühe, neuplatonische Seinslehre von Gewicht, die den Bereich der materiell-sinnlichen Zeichen durch eine ontologische Kluft von den geistigen Wirkungen der göttlichen Trinität in der geistigen Seele getrennt sieht; allenfalls eine vorbereitend-anregende Relevanz im Vorfeld der eigentlichen spirituellen Effizienz kann den äußeren Worten und Handlungen der Kirche zukommen. Zweitens spielt bei der Ausprägung dieser augustinischen Distanzierung zwischen 2 Zur folgenden Augustin-Deutung vgl. insgesamt Berndt Hamm. Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens und kirchliche Heilsvermittlung bei Augustin, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 78 (1981), S. 409–441 (mit Literatur). Die seitdem erschienene Augustin-Literatur hat zu dieser Thematik keine neuen Gesichtspunkte hinzugefügt, die mich zu einer Revision meiner damaligen Deutung nötigten. Erstaunlich ist, dass in dem großen neuen Überblickswerk von Volker Henning Drecoll (Hg.): Augustin Handbuch, Tübingen 2007, dieses so zentrale Augustinthema der Gnadenunmittelbarkeit und Heilsvermittlung nirgendwo eigens (mit Literaturhinweisen) behandelt wird – was ein Indiz dafür sein könnte, dass die jüngste internationale Augustinforschung auf diesem Feld nicht über das subtile Problembewusstsein der fünfziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinausgekommen ist, es möglicherweise sogar aus den Augen verloren hat. Vgl. dazu auch unten Anm. 26, neuerdings hingegen die Arbeit von Cary Philipp: Outwards Signs.The powerlesness of external things in Augustine’s thought, Oxford 2008. 3 Vgl. z. B. De baptismo 6,25,47 (PL 43,214; CSEL 51, 324,3–8): „Deus adest evangelicis verbis suis, sine quibus baptismus Christi consecrari non potest, et ipse sanctificat sacramentum suum, ut homini, sive antequam baptizetur sive cum baptizatur sive postea quandoque veraciter ad se converso, id ipsum valeat ad salutem, quod ad perniciem, nisi converteretur, valeret.“ Tract. in evang. Ioannis 5,6 (PL 35,1417; CChr 36,43,4): „ipse dominus“; ebd. 5,18 (PL 35,1424; CChr 36,51,22): „ipse [Christus] potestate“; Contra litteras Petiliani 3,49,59 (PL 43,379; CSEL 52,212,11f.): „ipse [Christus] abluit, ipse mundat“; Tract. in epist. Ioannis ad Parthos (PL 35,2026): „ipse est spiritus dei.“ 4 Vgl. z. B. Quaestiones evangeliorum 2,40,3 (PL 35,1355; CChr 44B,99,44–46): „Vitia [. . .] per se ipsum interius in conscientia et intellectu dominus sanat et corrigit.“ De baptismo 5,21,29 (PL 43,191; CSEL 51,287,22–26); De gratia Christi et de peccato originali 1,13,14 (PL 44,367; CSEL 42,136,15–20).
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exteriora und interiora die kirchliche Frontstellung gegen die Donatisten eine große Rolle. In Abwehr der donatistischen Verquickung der Heilswirksamkeit der kirchlichen Sakramente, insbesondere der Taufe, mit der persönlichen Lebensheiligkeit der kirchlichen Amtsträger liegt Augustin alles daran, trennscharf zwischen der Gültigkeit der institutionellen kirchlichen Amtshandlungen und der unmittelbar und innerlich durch den Hl. Geist gewirkten Heiligkeit des Menschen zu differenzieren. Typisch für diese Unterscheidung ist eine stereotype polare Formulierungsweise, die Augustin im Konflikt mit dem Donatismus entwickelt, indem er ein „aliud-aliud-Schema“ anwendet. So sagt er z. B.: „Ostenditur aliud esse sacramentum baptismi, aliud conversionem cordis“ („Es wird gezeigt, dass etwas Anderes das Sakarament der Taufe ist, etwas Anderes die Bekehrung des Herzens“)5 oder: „In ipso verbo [scil. baptismi] aliud est sonus transiens, aliud virtus manens“ („Im Wort [der Taufe] ist etwas Anderes der vorübergehende Laut, etwas Anderes die bleibende geistliche Kraft“)6 – wobei es Augustin entscheidend darauf ankommt, dass die innere Herzensbekehrung, d. h. die geistliche Kraft im Wiedergeborenen, und die Sündenvergebung direkt von Gott selbst als „donator“ kommen und eben nicht durch die Person des Taufpriesters und seine sakramentale Handlung instrumental-kausal und kooperierend vermittelt werden7. Im gleichen Sinne sagt er im Blick auf die Eucharistie: „Aliud videtur, aliud intelligitur“ („Etwas Anderes wird gesehen, etwas Anderes verstanden“)8. Drittens wird durch die antipelagianische Frontstellung in Augustins letzter Schaffensperiode die Kluft zwischen dem äußeren Handeln der Kirche und dem inneren Gnadenhandeln Gottes nochmals vertieft. Denn der radikalen Unbedingtheit dieser Innendimension des göttlichen Geistwirkens entspricht es, dass Augustin nun verstärkt die exklusive Externität des Gnadenlichtes betont: Es kommt allein von außen her in die Dunkelheit der Sünde und findet nicht wie bei Plotin eine seinsmäßige Entsprechung in einem inneren Licht der Seele9. Das Gnadenlicht kommt allein von Gott her in das Innerste des Menschen, ohne eine kreatürliche Disposition der Seele vorauszusetzen und ohne sich einer kreatürlichen Vermittlung zu bedienen, weder der kirchlichen Verkündigung noch der Sakramente. Un5
De baptismo 4,25,32 (PL 43,176; CSEL 51,260,13f.). Tract. in evang. Ioannis 80,3 (PL 35,1840; CChr 36,529,11f.). 7 Vgl. Augustins Formulierung: „Alius est enim baptizare per ministerium, aliud baptizare per potestatem.“ Ebd. 5,6 (PL 35,1417; CChr 36,43,7f.); und dazu die Sätze: „Non sibi arroget minister plus quam ut minister. Alius est donator, alius ministrator.“ Sermo 266,3 (PL 38,1226). 8 Sermo 272 (PL 38,1247). Das „videre“ bezieht Augustin hier auf die signa Brot und Wein, das „intelligere“ auf das Bezeichnete: nicht etwa auf eine realistisch verstandene Präsenz von Leib und Blut Christi, sondern auf das mit „corpus Christi“ gemeinte Mysterium der Einheit des geistigen Leibes, dessen Glieder durch die caritas mit ihrem Haupt Jesus Christus und damit auch untereinander verbunden sind.Vgl. Walter Simonis: Ecclesia visibilis et invisibilis. Untersuchungen zur Ekklesiologie und Sakramentenlehre in der afrikanischen Tradition von Cyprian bis Augustin, Frankfurt/M. 1970 (= Frankfurter theologische Studien 5), besonders S.112–116; Egon Franz: Totus Christus. Studien über Christus und die Kirche bei Augustin, Diss. theol. Bonn 1956, S.175–188. 9 Vgl. z. B.Tract. in evang. Ioannis 35,3 (PL 35,1658; CChr 36,318,18–319,30); vgl. dazu Ulrich Duchrow: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 5), Tübingen 1965, S. 215–222. 6
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mittelbar – „per se ipsum“ – leuchtet es im Herzen auf 10. So erweist Gott seine weltüberlegene Souveränität auch gegenüber den sog. „Heilsmitteln“ der Kirche. Alles was ich bisher über Augustin gesagt habe, bildet aber bekanntlich nur die eine Seite seiner Ekklesiologie, jene Seite, die vor allem von der älteren protestantischen Dogmengeschichtsforschung – zu einseitig! – hervorgehoben worden ist11. Denn andererseits macht Augustin mit unerbittlicher Schärfe das Heil von der Zugehörigkeit zur ecclesia catholica abhängig. In diesem Sinne unterstreicht er die unbedingte Heilsnotwendigkeit von Taufe und Abendmahl und hebt er die Autorität von Hl. Schrift und Verkündigung hervor, indem er sie an die Autorität der kirchlichen Hierarchie sowie an das Gewicht der bischöflichen Sukzession bindet. Die traditionelle katholische Forschung hat das mit Recht betont12. In der Tat ist Augustin der Überzeugung, dass kein Prädestinierter außerhalb der katholischen Kircheninstitution stirbt13. Zwar kennt Augustin auch prädestinierte Heilige, die außerhalb der sichtbaren Kirche verharrten, darunter nicht nur Angehörige des Alten Bundes, sondern auch selige Heiden14; doch zeigt eine genaue Prüfung der Texte, dass diese Menschen alle vor Begründung der ecclesia catholica, d. h. vor der Passion Christi15, lebten, z. B. Hiob und Melchisedek16. Nach 10 Vgl. Rudolph Lorenz: Gnade und Erkenntnis bei Augustin, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 75 (1964), S. 21–78, hier S. 78; zur Spannung zwischen der innerlich wirksamen Gnade Gottes und den ‚signa‘ der Kirche, die im antipelagianischen Spätwerk Augustins lediglich Zeichen ohne zum Heil führende Kraft sind, vgl. Gaetano Lettieri: L’altro Agostino. Ermeneutica e retorica della grazia dalla crisi alla metamorfosi del De doctrina christiana, Brescia 2001 (in der Reihe: Letteratura cristiana: Studi). 11 Zu nennen sind insbesondere Hermann Reuter, Adolf von Harnack, Reinhold Seeberg und Friedrich Loofs; Literaturbelege bei Hamm: Unmittelbarkeit (wie Anm. 2). Aber auch noch Duchrow: Sprachverständnis (wie Anm. 9) steht im Bann dieser Tradition, die einseitig Augustins Entwertung des äußeren kirchlichen Apparats gegenüber Gottes unmittelbarem Gnadenwirken in seinen Erwählten hervorhob. Zu einem ausgewogeneren Standpunkt, der in die Richtung meiner im Folgenden vorgeschlagenen Augustindeutung weist, kam auf protestantischer Seite vor allem Alfred Schindler: Artikel ‚Augustin‘, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 4 (1979), S. 692–698, hier besonders S. 678,16–20 und 679,49–52. 12 Vgl. besonders Fritz Hofmann: Der Kirchenbegriff des hl. Augustinus in seinen Grundlagen und in seiner Entwicklung, Tübingen 1933, und Simonis: Ecclesia visibilis (wie Anm. 8). 13 Vgl. Hofmann (wie Anm.12), S. 242f.; aus der Fülle der Augustinus-Belege vgl. z. B. Contra Julianum 5,4,14 (PL 44,792): „Absit enim, ut praedestinatus ad vitam sine sacramento mediatoris [scil. die Taufe] finire permittatur hanc vitam.“ 14 Vgl. z. B. Epist. 102, besonders n.12 (PL 33,574; CSEL 34,554,11–555,6); De praedestinatione sanctorum 9,17 (PL 44,973f.); Retractationes 1,13,3 (PL 32,603; CSEL 36,58,12–15): „Res ipsa, quae nunc christiana religio nuncupatur, erat et apud antiquos nec defecit ab initio generis humani, quousque Christus veniret in carne, unde vera religio, quae iam erat, coepit appellari christiana.“ Weitere Stellen und ihre Deutung sind zu finden bei Hofmann: Kirchenbegriff (wie Anm.12), S. 212–221; Johannes Beumer: Die Idee einer vorchristlichen Kirche bei Augustinus, in: Münchener theologische Zeitschrift 3 (1952), S.161–175. 15 Vgl. z. B.Tract. in evang. Ioannis 9,10 (PL 35,1463; CChr 36,96,33–36). 16 Stellen bei Beumer: Idee (wie Anm.14), S.165, Anm. 35 und 36. Augustin denkt bei diesem Personenkreis der Prädestinierten vor Christus vor allem an die Gottesfürchtigen aus dem Volk Israel und daneben an vereinzelte Heilige unter den Heiden, die zwar nicht zum Gottesvolk gehörten, aber im Alten Testament genannt werden wie Hiob (aus dem Lande Uz, Hiob 1,1) und Melchisedek (der König von Salem, Gen. 14,18).Augustins Perspektive wird also bei dieser Frage durch den Alten Bund und die typologische Struktur seiner „signa et sacramenta“, vor allem der Beschneidung, bestimmt,
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dem Kommen Jesu aber ist für Augustin diese Heilsmöglichkeit „extra ecclesiam“ ausgeschlossen, wie insbesondere seine konsequente Lehre von der Verdammnis der ungetauften Kinder17 zeigt. Man kann also sagen: Dem souveränen partikularen Heilswillen Gottes, der das Heil an die Prädestination bindet, entspricht ein institutioneller Heilspartikularismus, der alle außerhalb der katholischen Kirche Verharrenden von den Wirkungen des Hl. Geistes ausschließt. Allerdings garantiert die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nicht die Eingliederung in den spirituellen Leib Christi; daher bildet die Liebesgemeinschaft der Prädestinierten einen kleinen konzentrischen Kreis innerhalb des großen, umfassenden Kreises der Institution. Die spannende Frage, auf die ich hinführen wollte, lautet aber nun, wie Augustin das innere Gnadenwirken Gottes, dessen Unmittelbarkeit ihm so wichtig ist, dem äußeren institutionellen Rahmen der Kirche zuordnet.Wie begründet er theologisch die unbedingte Notwendigkeit der Predigt, der Sakramente und der Kirchenzucht für die Erwählten? Das entscheidende Begründungsargument liegt bei Augustin im Hinweis auf den göttlichen Willen: weil Gott es so gewollt bzw. anders nicht gewollt hat („voluit“, „noluit“). Kraft seiner potentia divina hätte er dem Sünder alle Gnadenwirkungen schenken können, ohne ihn dem verkündigenden und unterweisenden Dienst von Menschen, dem „ministerium hominis“, und den Zeichenhandlungen der Sakramente anzuvertrauen. Er hätte es gekonnt, aber er wollte es nicht, „potuit, sed non voluit“ – eine immer wieder vorkommende Argumentationsfigur Augustins18. Gott hat damit, wie er ausführen kann, Rücksicht auf das Verfallennicht aber wie in der apologetischen Tradition eines Justin oder Klemens von Alexandrien (oder im universalistischen Denken des späteren Renaissance-Humanismus) durch die Faszination griechischrömischer Philosophie. Nur ganz am Rande kommen bei ihm auch selige Heiden außerhalb des biblischen Horizonts in den Blick – so z. B., wenn er bei der erythräischen (oder cumäischen) Sibylle erwägt, dass sie wohl der „civitas dei“ zuzurechnen sei: „[. . .] ut in eorum numero deputanda videatur, qui pertinent ad civitatem dei.“ De civitate dei 18,23 (PL 41,580; CChr 48,614,65–70). 17 Vgl. Hofmann: Kirchenbegriff (wie Anm.12), S. 465, Anm.118; Hans-Werner Müsing: Augustins Lehre von der Taufe, Diss. theol. Hamburg 1969, S.198–201. 18 Vgl. Textbelege mit Erläuterungen bei Hamm: Unmittelbarkeit (wie Anm. 2), S. 427–431. So kommt Augustinus zu der prinzipiellen Aussage über das Verhältnis Gottes zur Heilsgeschichte: „[. . .] multa possit et non velit, nihil autem velit, quod non possit.“ Enchiridion 24,95 (PL 40,276; CChr 46,99,22f.). So könnte Gott viele retten, die er aber faktisch nicht retten will; ebd. 24,95 (PL 40,275f.; CChr 46,99,17–23). Schon Adam und Eva hätte er in seiner Allmacht vor der Sünde bewahren können: „Posset plane. Cur ergo non fecit? Quia noluit. Cur noluerit, penes ipsum est.“ De Genesi ad litteram 11,10 (PL 34,434; CSEl 28/I,342,23–343,1). Ebenso hätte Gott alles Heilsnotwendige den Menschen unmittelbar oder durch einen Engel mitteilen können, aber er wollte mit Rücksicht auf die „humana condicio“ (siehe dazu im Folgenden) sein Wort den Menschen durch den Dienst von Menschen zuteil werden lassen; De doctrina christiana, prooemium 6f. (PL 34,17f.; CChr 32,4,83–5,114); zum prinzipiellen Charakter dieses Prooemiums im Rahmen der augustinischen Hermeneutik vgl. Karla Pollmann: Doctrina christiana. Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana, Fribourg 1996 (= Paradosis 41); Lettieri: L’altro Agostino (wie Anm.10); vgl. auch die in Anm. 20 genannte Literatur zur Zeichentheorie Augustins.Vgl. weitere Augustin-Textbelege zur Dialektik posse – velle/nolle bei Berndt Hamm: Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977 (= Beiträge zur historischen Theologie 54), S. 491–493.
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sein des Menschen an die Sinnlichkeit nach dem Sündenfall genommen19. Den sinnlichen Zeichen kann daher nach Gottes Willen eine propädeutische, anregende und admonitive Funktion zukommen, um uns zu den eigentlichen, geistigen und ewigen Sachverhalten hinzuführen20 – ebenso wie es auch der Wille Gottes ist, dass die „sancti“, die Erwählten, ihre Liebe auf die sichtbare Gemeinschaft der ecclesia catholica beziehen und ihr ganzes inneres Streben auf sie hin ausrichten21. Daher steht für Augustin fest: Wer die sichtbaren Sakramente verachtet, kann unmöglich die unsichtbare Gnade empfangen haben22. Man kann also resümierend sagen: In seiner souveränen Allmacht und Freiheit hat sich Gott mit seinem unsichtbaren Wirken gewissermaßen an die sichtbare Kirche gebunden: Er will Gnade und Heil nicht ohne die Beteiligung der institutionellen Kirche schenken. Sprachlich kommt diese Zuordnung von Innerem und Äußerem sehr schön in der augustinischen Verwendung der Begriffe adsistere und adesse zum Ausdruck, etwa in den Formulierungen: „Sacramento suo divina virtus adsistit“ – „Gott steht mit seiner virtus seinem Sakrament bei“23; oder: „Deus adest sacramentis et verbis suis“24. Mit dem ad-esse und ad-sistere ist zugleich der Gegensatz zu einem in-esse, einer den Worten und Sakramenten inhärierenden spirituellen Qualität, angesprochen25. Das heißt: Gott wirkt zwar seine Gnade nicht 19 Vgl. in Anm.18 das Stichwort „humana condicio“ und dazu Hamm: Unmittelbarkeit (wie Anm. 2), S. 435f. (mit Literatur). 20 So wie für Augustin beim Erkenntnisvorgang äußere „admonitio“ und „commemoratio“ durch die sinnlichen Zeichen und „notitia intus“ (das formende Vermögen des Geistes als Erleuchtung durch den inneren Lehrer Christus) zusammenkommen, so sieht er die Begnadung des Menschen durch die äußere „vocatio“ des Predigtwortes und die „gratia interior“ (auch hier: die Erleuchtung durch den inneren Lehrer Christus) konstituiert.Vgl. dazu immer noch am besten Lorenz: Gnade (wie Anm.10), S. 46–59 und zur Zeichentheorie Augustins vor allem Duchrow: Sprachverständnis (wie Anm. 9); Cornelius P. Mayer: Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie des jungen Augustinus, Würzburg 1969 (= Cassiciacum 24/1); ders.: Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins, Teil 2, Würzburg 1974 (= Cassiaciacum 24/2); Guy H. Allard: L’articulation du sens et du signe dans le De doctrina christiana de s. Augustin, in: Studia Patristica 14 (1976), S. 377–388. 21 Zu diesem ekklesiologischen Aspekt der „caritas“ vgl. Hamm: Unmittelbarkeit (wie Anm. 2), S. 437 (mit Textbelegen und Literatur). 22 „Contemptor eius [scil. sacramenti visibilis] invisibiliter sanctificari nullo modo potest.“ Quaestiones in Heptateuchum 3 (Lev.), 84 (PL 34,713; CChr 33,228,1914f.). 23 De baptismo 3,10,15 (PL 43,144: assistit; CSEL 51,205,28: adsistit). 24 Ebd. 5,20,27 (PL 43,190; CSEL 51,285, 6f.).Vgl. ebd. 6,25,47; zit. oben Anm. 3. Ebd. 5,20,28 (PL 43,190; CSEL 51,285,26f.): „sacramentis suis deus adesse dignetur.“ Contra epist. Parmeniani 2,15,34 (PL 43,76; CSEL 51,88,26f.): „Sed quod pertinent ad baptismi sanctitatem, adest deus qui det et homo qui accipiat.“ Tract. in evang. Ioannis 12,3,5 (PL 35,1486; CChr 36,123,15f.): „[. . .] in spiritu nascimur verbo et sacramento. Adest spiritus, ut nascamur; spiritus invisibiliter adest, unde nasceris, quia et tu invisibiliter nasceris.“ 25 Vgl. besonders Tract. in evang. Ioannis 80,3 (PL 35,1840; CChr 36,529,9–12): gegen eine „virtus manens“ in sacramentis, für eine „virtus manens“ in den Herzen der Glaubenden. – Die augustinische Terminologie des adsistere/assistere und adesse hat eine lange Nachwirkung in der franziskanischen und franziskanisch beeinflussten Theologie des 13. bis 15. Jahrhunderts, bis sie uns schließlich 1520 bei Luther in der Formulierung begegnet: „[. . .] statuunt nihil esse virtutis in sacramentis, sed gratiam a solo deo dari, qui assistit ex pacto sacramentis a se institutis.“ WA 6, S. 531,33f.; Martin Luther Studienausgabe, Bd. 2, S. 214,14–16 (De captivitate Babylonica). Damit charakterisiert Luther ein Sakraments- und insbesondere Taufverständnis, wie es z. B. von Johannes Duns Scotus und Gabriel Biel
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ohne den vorausgehenden, gleichzeitigen oder nachfolgenden Dienst von Menschen, ihres verkündigenden und sakramentalen Handelns. Aber diese äußeren Wort- und Tatzeichen werden nicht zu instrumentalen Vermittlern der inneren Gnade, nicht zu kausalen Trägern einer von Gott durch sie selbst weitergegebenen Gnadenkraft. Sie sind – scholastisch gesprochen – „causa sine qua non“ und „causa occasionalis“ der unsichtbaren Gnade, aber nicht „causa efficiens instrumentalis“. Inneres und Äußeres bleiben ontologisch und operational getrennt. Seine Gnade wirkt Gott selbst immer kraft purer Unmittelbarkeit im Inneren des Menschen26.
II. Die dreifache Umgestaltung der augustinischen Konzeption im Mittelalter Diese augustinische Konzeption, die das interne Geistwirken und die externe Kirchlichkeit auseinanderhält und doch intensiv einander zuordnet, erfuhr eine bedeutende Rezeptionsgeschichte in der scholastischen Theologie seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, vor allem im Franziskanerorden seit Johannes Bonavertreten worden ist. Er unterscheidet es von der thomistischen Tauflehre, die er so zusammenfasst: „Arbitrati sunt quam plurimi esse aliquam virtutem occultam spiritualem in verbo et aqua, quae operetur in anima recipientis gratiam dei.“ WA 6, S. 531,31f.; Studienausgabe ebd., S. 214,12–14 (hier in Anm. 296f.Textbelege bei Biel, Duns Scotus und Thomas von Aquin). Zu dieser scholastischen Kontroverse vgl. unten S. 52–54. 26 Wie bereits oben in Anm. 2 angesprochen, erreicht das neue Augustin Handbuch in seinen Artikeln nicht die differenzierende Problemdurchdringung, die bei dieser Thematik desVerhältnisses von innerer Gnadenwirkung Gottes in der Seele und der Notwendigkeit der äußeren Kirchengemeinschaft mit ihrer Zeichenstruktur von Sakramenten und Worten geboten wäre und in der früheren Forschung schon einmal erreicht war.Vgl. in dem Handbuch z. B. den blassen Artikel von Pamela Bright über ‚Ekklesiologie und Sakramentenlehre‘ (S. 506–518) mit dem weder falschen noch richtigen Schlusssatz: „Für Augustin sind die Sakramente wirksame Zeichen solcher Einheit unter den Gliedern des Leibs und zwischen dem Leib und dem Haupt; denn des Leibes Ursprung, Quelle und Haupt ist Christus.“ Auch Volker Henning Drecoll kommt in seinen wesentlich substantielleren Beiträgen zur ‚Liturgie bei Augustin‘ (S. 224–232) und zu ‚Querbeziehungen im Denken Augustins‘ (S. 547–556) nicht über Aussagen wie „Die gottesdienstlichen Versammlungen versinnbildlichen [. . .] das gnadenhafte, durch Zeichen und Dinge vermittelte Handeln des gegenwärtigen Gottes“ (S. 226) und die – völlig zutreffende, aber unzulängliche – Beobachtung der „Parallelstruktur von außen und innen“ hinaus. Zu letzterer sagt er (S. 555): „Die Zeichen vermögen zwar den Menschen zu beeinflussen, letztlich sind sie aber nur ein wesentlicher Aspekt eines umfassenden Geschehens, zu dem ein inneres Geschehen simultan ablaufen muß.“ Das trifft die augustinische Sicht nicht ganz korrekt, denn Augustin ordnet mittels der von Gott gegebenen und gewollten Heilsordnung der „ecclesia visibilis“ das Innere dem Äußeren und umgekehrt so zu, dass keine Simultaneität nötig ist, sondern auch ein Vorher und Nachher möglich sein kann: Gott kann die Zeichenhandlungen der Kirche seinem inneren Gnadenwirken vorausgehen oder folgen lassen oder beides, was die Regel ist, simultan zusammenfallen lassen – je nach dem, wie es seinem souveränen Wollen entspricht. Paulus und Cornelius nennt Augustin als biblische Beispiele dafür, dass Gott manchmal seine bekehrende Gnade auch ohne kirchliche Vermittlung – „etiam sine homine“ – schenkt. Beide hat Gott aber, wie Augustin betont, danach der menschlich-kirchlichen Vermittlung zugeführt. Paulus wurde dem Ananias, Cornelius dem Petrus anvertraut, um das Taufsakrament zu empfangen. So hält Augustin auch in solchen Ausnahmefällen an seiner prinzipiellen Regel fest: Gott führt – nach Christi Passion – keinen Menschen zum Heil, der nicht irgendwann in seinem Leben der kirchlichen Verkündigung begegnet und die kirchlichen Sakramente empfängt.Vgl. dazu die Textbelege (insbesondere zu Paulus und Cornelius) bei Hamm: Unmittelbarkeit (wie Anm. 2), S. 432f.
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ventura27 – wobei gerade in dieser Hinsicht der Pariser Theologe und Bischof Wilhelm von Auvergne eine Schlüsselrolle für den Lehrmodus der Franziskaner gewann, wie sich Bonaventura Jahre später, 1251/2, in seinem Sentenzenkommentar erinnert28.Thema dieser kontroversen Pariser Diskussion war die Wirksamkeit der Sakramente. In Weiterführung Wilhelms von Auvergne bezog Bonaventura eine Zwischenposition, die an Augustins Mittelposition zwischen einem radikalen Spiritualismus und einem massiv sakralinstitutionellen Denken erinnert29. Denn Bonaventura wendet sich einerseits gegen die häretischen Arnoldisten, Waldenser und Amalrikaner, die das heilvolle Gnadenwirken Gottes völlig von der Vermittlung durch die kirchlichen Sakramente und Priester abkoppelten30. Andererseits bezog er eine deutliche Gegenposition gegen eine ganze Gruppe kirchlicher Theologen, welche die kausale Verbindung von Sakrament und rechtfertigender Gnade aus einer den sakramentalen Zeichen inhärierenden geschaffenen 27 Zur Hochschätzung Augustins an den Universitäten des 13. Jahrhunderts vgl. allgemein Ulrich Köpf im Augustin Handbuch (wie Anm. 2), S. 592–600 (mit Literatur). In dem anschließenden Beitrag von Volker Leppin über ‚Augustinismus im Spätmittelalter: Heinrich von Gent, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham‘ (S. 600–608) findet sich auch ein Abschnitt (3., S. 605–607) über die ‚Immediatisierung des Gott-Mensch-Verhältnisses‘. Damit ist eine theologische Ausrichtung gemeint, die anknüpfend an Augustin gegenüber „einer rein ontologischen Deutung Gottes“ und vor allem gegen die aristotelische „Festlegung Gottes durch Kausalketten“ den Willen im Gottesbild hervorhebt und damit die souveräne Freiheit Gottes, seine Gnade den Menschen unmittelbar ohne Bindung an eine substanzontologisch zu verstehende kausale Vermittlung durch Menschen oder irdisch-kreatürliche Zeichen und Materialien der Kirche zu schenken.Vgl. auch ders.: Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007 (= Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen I/11), S. 96–151 über die Spannungen zwischen Aristotelisierung und Augustinorientierung in den theologischen Konzeptionen des 13. und 14. Jahrhunderts, von Alexander von Hales und Johannes Bonaventura bis zu Gregor von Rimini und Thomas Bradwardine – auch hier mit der pointierten Hervorhebung der „Immediatisierung des Gottesbildes“ (S.128–147) und des „immediatisierten Gottesverhältnisses“ (S.148–151) im Zusammenhang eines spezifischen Rückgriffs auf den Augustin des unmittelbaren Gnadenwirkens. Dass dieser Rückgriff bereit seit dem frühen 13. Jahrhundert, vor allem bei Wilhelm von Auvergne (gest. 1249, seit 1228 Bischof von Paris) und Johannes Bonaventura (gest. 1274, seit 1257 Generalminister des Franziskanerordens), geschah, wird im Folgenden deutlich. 28 Vgl. Bonaventura: Sentenzenkommentar III, dist. 40, dub. 3 (Opera omnia, Ausg. Quaracchi 1882–1902, Bd. 3, S. 895f.); Bonaventura führt hier seine Lehrweise über die Kausalität der Sakramente auf Wilhelm von Auvergne zurück, der diese Lehrposition einst im Pariser Franziskanerstudium unter Anwesenheit von Alexander von Hales für gut befunden habe: „Hunc modum dicendi et huius quaestionis determinationem plures sustinent bene intelligentes. Et dominus Guillelmus, Parisiensis episcopus, in determinando in Scholis Fratrum Minorum approbavit istum modum dicendi coram fratre Alexandro bonae memoriae.“ Vgl. dazu Ephrem Longpré: Guillaume d’Auvergne et l’École Franciscaine de Paris, in: La France Franciscaine 5 (1922), S. 426–429. Zum Verständnis der freien Unmittelbarkeit und Selbstbindung Gottes in seinem Gnadenwirken bei Wilhelm von Auvergne, dem von ihm beeinflussten Pariser Franziskanermagister Odo Rigaldi und dem sowohl von Wilhelm als auch von Odo literarisch abhängigen Bonaventura vgl. Hamm: Promissio (wie Anm.18), S.135–170 (Wilhelm), 171–213 (Odo) und 213–245 (Bonaventura). 29 Zu Bonaventuras Lehre vom Wirkmodus der Sakramente im Sinne einer ex-pacto-Kausalität vgl. Hamm: ebd., S. 479–483; zur entsprechenden Position Wilhelms von Auvergne vgl. ebd., S. 483f. 30 Zu den Arnoldisten und Waldensern vgl. Herbert Grundmann: Ketzergeschichte des Mittelalters, Göttingen 1963 (= Die Kirche in ihrer Geschichte II G 1), S. G 19 und G 29f. Zu den Amalrikanern vgl. Karl Albert: Amalrich von Bene und der mittelalterliche Pantheismus, in: Miscellanea Mediaevalia 10 (1976), S.193–212.
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Qualität herleiteten. Diese geistliche Qualität oder „virtus“ der Sakramente begründet nach Meinung von Wilhelm von Auxerre, Alexander von Hales, Albertus Magnus oder Thomas von Aquin in seinem Sentenzenkommentar eine dispositive Kausalität der Sakramente hinsichtlich der rechtfertigenden Gnade31, nach Meinung von Stephan Langton, Hugo von St. Cher und Thomas in seiner Summa theologiae – um nur einige repräsentative Namen zu nennen – sogar eine instrumentale Kausalität32. So legte Thomas in letzterem Sinne dar, dass die „virtus principalis agentis“, also die Wirkkraft der göttliche Primärursache, durch die instrumentale virtus der Sakramente hindurch auf die menschliche Seele einwirke33. Thomas vertritt damit eine deutliche Gegenposition zur augustinischen Ablehnung eines „in-esse“ der göttlichen Gnadenkraft in den Sakramenten34. Bonaventura hingegen führt Augustins Konzeption des „ad-sistere“ und „adesse“ und Augustins Berufung auf die göttliche Willensanordnung weiter, indem er nun die sakramentale Theorie einer vertraglichen Anordnung Gottes entfaltet35: Durch einen Vertrag oder einen vertraglichen Beschluss, lat. pactio, pactum, decretum oder institutio, habe sich Gott „gewissermaßen dazu verpflichtet“36, dem gläubigen Empfänger der ordnungsgemäß ausgeteilten Sakramente die Gnade zu schenken. Wenn man also von einer Gnadenkausalität der Sakramente spricht, dann nicht im Sinne einer immanenten Kraft und eigenen Instrumentalqualität der sakramentalen Zeichen, sondern nur im Blick auf eine äußere Zuordnung „ex pacto“ und „ex decreto“, die einen causa-sine-qua-non-Zusammenhang zwischen dem unmittelbaren Gnadenhandeln Gottes an der Seele und dem sakramentalen Handeln des Priesters herstellt. Sofern Gott, wie Bonaventura mit Augustin betont, stets allein in unmittelbarer Direktheit die Gnade in die Herzen gießt, kann der Franziskanergeneral sagen, dass „Gott seine Gnade nicht an die Sakramente gebunden hat“37. Sofern aber durch das Vertragsdekret Gottes eine feste und verläss31
Vgl. Hamm: Promissio (wie Anm.18), S. 480f. mit Anm. 518–524. Vgl. ebd. S. 481 mit Anm. 525–528. Summa theologiae III, quaestio 62, art.1, besonders ad 2. 34 Vgl. oben S. 50f. Daher wendet sich Thomas auch ausdrücklich gegen die augustinisch-franziskanische Auffassung, dass Gott bei der korrekten Austeilung der Sakramente die Gnade aufgrund seiner Willensverfügung („ex ordinatione“, „sola voluntate“) unmittelbar-direkt in der Seele wirke: „Quidam tamen dicunt, quod [sacramenta] non sunt causa gratiae aliquid operando, sed quia deus sacramentis adhibitis in anima gratiam operatur.“ Ebd., responsio. 35 Zum Folgenden vgl. Bonaventura: Sentenzenkommentar, zahlreiche Belege bei Hamm: Promisso (wie Anm.18), S. 479f., Anm. 514; Breviloquium 6,1 (Opera omnia [wie Anm. 28], Bd. 5, S. 265f.). 36 „[. . .] ex tali pactione dominus astrinxit se quodam modo“; Sentenzenkommentar IV, dist. 1, pars 1, art. un., quaestio 4, responsio (Opera omnia, Bd. 4, S. 24a). 37 „Huiusmodi sacramenta dicuntur gratiae vasa et causa, non quia gratia in eis substantialiter contineatur vel causaliter efficiatur, cum in sola anima habeat collocari et a solo deo habeat infundi, sed quia in illis et per illa gratiam curationis a summo medico Christo ex divino decreto oportet hauriri, licet deus non alligaverit suam gratiam sacramentis.“ („Die Sakramente werden Gefäße und Ursache der Gnade genannt, nicht weil die Gnade in ihnen auf substantielle Weise enthalten wäre oder durch sie auf kausale Weise bewirkt würde, denn allein in der Seele ist sie – die Gnade – zu verorten und von Gott allein ist sie einzugießen, sondern weil man aufgrund des göttlichen Dekrets in ihnen – den Sakramenten – und durch sie die heilende Gnade von dem höchsten Arzt Christus empfangen muss, auch wenn Gott seine Gnade nicht an die Sakramente gebunden hat.“) Breviloquium 6,1 (Opera 32 33
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liche Verknüpfung zwischen andächtigem Sakramentsempfang und göttlicher Gnadeneingießung gestiftet wird, eine ex-opere-operato-Struktur, sprechen Bonaventura und die von ihm beeinflussten Franziskanertheologen wie Duns Scotus und die Skotisten ebenso wie dann auch viele spätmittelalterliche Theologen außerhalb des Franziskanerordens von einer freien Selbstbindung Gottes38. Gott hätte alles, was er in Verbindung mit den Sakramenten wirkt, in seiner Allmacht auch ohne sie wirken können, aber er hat in freier Entscheidung bestimmte Modi seines Gnadenwirkens vertraglich an die Austeilung der Sakramente gebunden, so dass man sagen kann: Gott wirkt durch den Priester mehr als ohne ihn39. Es dürfte deutlich sein, wie Bonaventura und seine Nachfolger mit ihrer Theorie der sakramentalen ex-pacto-Kausalität bestimmte Züge der signifikativen Wort- und Sakramentstheologie Augustins fortschreiben, insbesondere das religiöse Interesse an der souveränen Unmittelbarkeit des göttlichen Geistwirkens, die Gegenüberstellung von Können und Wollen Gottes und das Insistieren auf der gnadentheologischen und ekklesiologischen Verbindlichkeit der äußeren Zeichen. Bemerkenswert ist aber auch die Entfernung der Franziskanertheologen, insbesondere der Skotisten und Ockhamisten, von Augustin: Der reife, antipelagianische Augustin macht das göttliche Gnadenwirken in Verbindung mit den Sakramenten, z. B. mit der Taufe, von der Alleinwirksamkeit der göttlichen Erwählung abhängig: Wer nicht prädestiniert ist, dem nützt die Taufe ebenso wenig wie die priesterliche Buß-Rekonziliation. Es gibt keine Disposition des natürlichen Menschen im Stand der Todsünde auf den Empfang der rechtfertigenden Gnade. Genau dieses Dispositionsdenken aber wird von den Franziskanertheologen forciert, in der Sakramentstheologie vor allem von den Skotisten des 14. und 15. Jh.s: Die ex-pacto-Kausalität des Bußsakraments entfalten sie – gegen die Intention Augustins – im Sinne einer massiven ex-opere-operato-Theorie, indem sie sagen: Wenn der Sünder ein gewisses Minimum an eigener Bußbemühung der Reue und Beichte erbringt, lässt die priesterliche Absolution unfehlbar durch den Vollzug des Sakraments, eben „ex opere operato“, in seine Seele die rechtfertigende omnia [wie Anm. 28], Bd. 5, S. 265b). In diesen Sätzen kommt das augustinische Interesse Bonaventuras an der Freiheit Gottes gegenüber dem Bereich der Schöpfung, d. h. gegenüber den signa corporalia, deutlich zum Ausdruck. Der Verweis auf die Bindung Gottes durch ordinatio, institutio, decretum und pactio ermöglicht es ihm, sowohl die Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens als auch die unumstößliche Relevanz der kirchlichen Sakramentenausteilung zu betonen. 38 Zu dieser Wirkungsgeschichte der im 13. Jahrhundert von den Franziskanertheologen ausgebildeten Theorie der ex-pacto-Kausalität der Sakramente über die Vermittlung des Duns Scotus und der Skotisten in breitere theologische Kreise des Spätmittelalters hinein vgl. Hamm: Promissio (wie Anm.18), S. 487f., und ders.: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (= Beiträge zur historischen Theologie 65), S. 274f.: hier zum Einfluss dieser Kausalitätstheorie auf den Erfurter Augustinereremiten Johannes von Paltz und sein Werk ‚Supplementum Coelifodinae‘ (1504). 39 So zugespitzt formuliert es Paltz (siehe vorausgehende Anm.), kurz bevor Luther sein Mitbruder im Erfurter Augustinerkonvent wurde: „Ex quibus patet, quod deus est magis misericors in culpis remittendis per sacerdotem mediantibus sacramentis, quam sine sacerdote et sacramentis, propter pactum, quod fecit nobiscum in sacramentis [. . .].“ Supplementum Coelifodinae, hg. und bearb. von Berndt Hamm unter Mitarbeit von Christoph Burger und Venicio Marcolino, Berlin – New York 1983 (= Johannes von Paltz: Werke 2), S. 62,10–12.
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Gnade strömen; es entsteht so die Umwandlung seiner unvollkommenen in eine vollkommene Reue, und die Sündenschuld wird ihm alsbald vergeben. So hat es Gott in seiner Freiheit verbindlich angeordnet: ex pacto et decreto!40 Überblicken wir die Zeitspanne von der Ära Bonaventuras und Thomas von Aquins bis zum Beginn der Reformation, dann kann man drei Grundtypen der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen dem göttlichen Gnadenwirken und dem sakramentalen und verkündigenden Zeichenhandeln der kirchlichen Sakralinstitution unterscheiden. Es sind zugleich drei Grundtypen der Augustinrezeption. Es gibt erstens den Typ, den ich im Blick auf Thomas von Aquin als Inhärenztheorie charakterisiert habe: Gott gibt den Sakramenten und Priestern eine inhärierende Kraft, eine institutionelle Sakralität, die sie zu wirksamen Instrumenten seiner übernatürlichen Gnadenkausalität macht. Sie sind „vasa gratiae“41. Als Schüler Augustins verstehen sich diese Theologen darin, dass sie sehr stark die Kluft zwischen der übernatürlichen Gnade und dem natürlichen Seinsbereich der Kreaturen akzentuieren, damit verbunden aber auch die sakralhierarchische Diastase zwischen Priestern und Laien. Den Gegentyp zu dieser Konzeption bildet eine spiritualistische Vorstellung vom unmittelbaren Kontakt zwischen Gott und Seele, die den Weg des Menschen zum Heil prinzipiell von einer sakramentalen Vermittlung abkoppelt und von einer Mittlerstellung der Priester unabhängig macht. Das muss nicht eine häretische Verachtung der kirchlichen Sakramente und Ämter bedeuten wie in der „Frei-Geist-Häresie“ des 14. und 15. Jahrhunderts und bei den spätmittelalterlichen Waldensern und Nikolaiten oder bei einer prophetischen Einzelgestalt wie dem ‚Pfeifer von Niklashausen‘42, sondern kann einfach eine stark mystisch ge40 Vgl. Valens Heynck: Zur Lehre von der unvollkommenen Reue in der Skotistenschule des ausgehenden 15. Jahrhunderts, in: Franziskanische Studien 24 (1937), S.18–58; ders.: Der hl. John Fisher und die skotistische Reuelehre, in: ebd. 25 (1938), S.105–133; ders.: Die Stellung des Konzilstheologen Andreas de Vega O. F. M. zur Furchtreue, in ebd., S. 301–330; ders.: Die Reuelehre des Skotusschülers Johannes de Bassolis, in: ebd. 28 (1941), S.1–36; ders.: Attritio sufficiens. Bemerkungen zu dem Buch von H. Dondaine O. P. „L’attrition suffisante“, in: ebd. 31 (1949), S. 76–134; ders.: Contritio vera. Zur Kontroverse über den Begriff der contritio vera auf der Bologneser Tagung des Trienter Konzils, in: ebd. 33 (1951), S.137–179. Seit Heyncks grundlegenden Aufsätzen wurde diese Thematik nicht mehr mit vergleichbarer Präzision und Quellennähe dargestellt. 41 Die vasa-Theorie wurde durch Hugo von St. Viktor im 12. Jahrhundert begründet, siehe besonders: De sacramentis 1,9,4 (PL 176,323B).Vgl. Heinrich Weisweiler: Die Wirksamkeit der Sakramente nach Hugo von St. Viktor, Freiburg i. Br. 1932, S.11–22. 42 Zur ‚Frei-Geist-Häresie‘ vgl. Robert E. Lerner: The Heresy of the Free Spirit in the Later Middle Ages, Berkeley 1972; Eleanor C. McLaughlin: The Heresy of the Free Spirit and Late Medieval Mysticism, in: Medievalia et Humanistica. NS 4 (1973), S. 37–54. Zum Waldensertum im Spätmittelalter vgl. Lit. im Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, Sp.1955 und Dietrich Kurze: Märkische Waldenser und Böhmische Brüder. Zur brandenburgischen Ketzergeschichte und ihrer Nachwirkung im 15. und 16. Jahrhundert, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig, hg. von Knut Schulz, Köln – Wien 1976, S. 273–305. Zu der „seit dem Ende des 15. Jahrhunderts über Teile Böhmens und Mährens zerstreuten tschechischsprachigen Laiengemeinschaft der Nikolaiten“, „einer Parallelerscheinung zu den Böhmischen Brüdern“, vgl. Kaufmann: Thomas Müntzer (wie Anm. 72), S.15–17 (mit Lit.). Zu Hans Behem, dem ‚Pfeifer von Niklashausen‘, vgl. Klaus Arnold: Niklashausen 1476. Quellen und Untersuchungen zur sozialreligiösen Bewegung des Hans Behem und zur Agrarstruktur eines spätmittelalterlichen Dorfes, Baden-Baden 1980 (= Saecula spiritalia 3).
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artete Relativierung der äußeren kirchlichen Heilsmittel sein, ein völlig unpolemisches Beiseiteschieben der sakramentalen und sakralinstitutionellen Dimension – wie etwa bei Johannes Tauler43 oder Johannes von Staupitz, dem Ordensvorgesetzten und Mentor Martin Luthers, der sich theologisch ganz auf die direkte persönliche Beziehung der Seelen zu ihrem Bräutigam Christus konzentriert, um – gut augustinisch – alles Gewicht darauf zu legen, dass Gott selbst, der zum Heil Prädestinierende, alles Heilsame in der Seele des Menschen wirkt44. Den dritten Typus, den ich bereits als Zwischenposition gekennzeichnet habe, bildet die Theorie Bonaventuras, wie sie sich vornehmlich im Franziskanerorden und in einer spätfranziskanisch geprägten Theologie wie der Gabriel Biels45 durchsetzte. Dieser Typus der ex-pacto-Kausalität kann sich ebenfalls als gut augustinisch deklarieren – in welchem Sinne, haben wir gesehen. So wird deutlich, dass alle drei Typen ihren eigenen Augustinus konstruierten und sich so zugleich vom historischen Augustin entfernten – am wenigsten noch Staupitz mit seinem emphatisch rezipierten antipelagianischen Augustin.
III. Die Medialitätsproblematik der Reformation: drei Typen der Augustinrezeption in Analogie zu den drei Kausalitätsarten des Mittelalters Bevor ich nun abschließend zeige, wie unterschiedlich die Reformation das Verhältnis von göttlichem Gnadenwirken und äußerer kirchlicher Medialität bestimmte, möchte ich kurz eine vierfache reformatorische Gemeinsamkeit hervorheben, die man als forcierte Immediatisierung der Gottesbeziehung des Menschen in Weiterführung und Zuspitzung Augustins verstehen kann: 1. Im Kampf gegen jegliche Art von ‚Kreaturvergötterung‘ betonen alle reformatorischen Strömungen, dass nichts Kreatürliches aus sich heraus, aus eigener Qualität und Potenz, Gnadenmedium sein kann: weder irgendeine menschliche Disposition noch irgendeine andere irdische Beschaffenheit. Damit hängt 2. zusammen, dass nach Auffassung der Reformatoren keine menschliche Kausalität die unendliche Kluft zwischen Gott und allem weltlichen und sündigen Wesen zu überbrücken vermag, sondern dass der erwählend-prädestinierende Gott allein in einseitigschenkender Bewegung auf die erbärmliche Welt zu diese Kluft überbrücken kann 43 Vgl. Volker Leppin: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S.189–204; Steven E. Ozment: Homo spiritualis. A comparative study of the anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509–16) in the context of their theological thought, Leiden 1969 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 6), S.11–46. 44 Vgl. Hamm: Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 38), S. 234–243; ders.: Artikel ‚Staupitz, Johannes von‘, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32 (2001), S.119–127 (mit Lit.). 45 Zur ex-pacto-Kausalität in Biels Sakramentsverständnis vgl. Gabriel Biel: Collectorium circa quattuor libros Sententiarum IV, dist. 1, quaestio 1: „Utrum sacramenta novae legis sint causae effectivae gratiae. An in eis sit ponenda virtus spiritualis“ (Ausg. von Wilfrid Werbeck/Ulrich Hofmann, Bd. IV/1, Tübingen 1975, S. 23–27, H 1–120).
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und daher alleinige Wirkursache des Heils ist. 3. Es gibt nach reformatorischem Verständnis auch keine von Gott verliehene gnadenhafte Heiligkeitsqualität, keine sakrale virtus, die von ihm auf Personen oder Dinge übertragen würde und in ihnen als Kraft der Heiligen und Priester, als Kraft des Sakraments oder als Kraft des Wortes habituell-inhärent enthalten wäre46; vielmehr wirkt Gottes Heiligkeit durch die lebendige Kraft des Hl. Geistes stets kontingent-ereignishaft und daher unmittelbar im Sinne einer völlig unverfügbaren, sich jeweilig zueignenden Aktualpräsenz des Hl. Geistes selbst. Die Auffassung von einer spezifisch priesterlichen Qualität der Gnadenvermittlung kraft eines unzerstörbaren Weihehabitus wird damit ebenso hinfällig wie die Vorstellung von einer Mittlerstellung der Heiligen. 4. Scharf abgelehnt wird damit aber auch die mittelalterliche Vorstellung von einer besonderen ex-opere-operato-Wirksamkeit der Sakramente, die den Sakramenten einen objektiven, rituell-standardisierten Gnadeneffekt zuschreibt, den Gott unmittelbar – ohne die vis sacramenti – nicht zur Wirkung kommen lässt. Insofern gewinnt die reformatorische Immediatisierung der Gottesbeziehung den Grundcharakter eines dezidierten Antisakramentalismus, der an die Stelle des aus sich heraus wirksamen Rituals die unmittelbare personale Beziehung zwischen Glaube und heilvoller Gottespräsenz setzt. Vor diesem Hintergrund einer reformatorischen Gemeinsamkeit kann nun deutlicher werden, wie verschiedenartig die Zuordnung von innerem Geistwirken und sinnlicher Medialität in der Reformation ist und wie unterschiedlich damit Augustin rezipiert bzw. überboten wird47. Dabei zeigt sich eine interessante Analogie zu den drei Kausalitätstypen des Mittelalters. Ich beginne mit Martin Luther und der wittenbergisch-lutherischen Vorstellung von einer instrumentalen Gnadenwirkung des äußeren, sinnlich gesprochenen und lesbaren Evangeliumswortes und der Sakramente Taufe und Abendmahl – prägnant formuliert etwa in Confessio Augustana Art. 5 (De ministerio ecclesiastico): „Denn durch Wort und Sakramente wird gleichwie durch Instrumente der Heilige Geist gegeben [. . .].“48 Damit zeigt das Luthertum auf den ersten Blick eine gewisse Verwandtschaft zum thomistischen Typ der sakramentalen Instrumentalkausalität. Blickt man aber genauer hin, dann entdeckt man bei Luther selbst eine eigentümliche Kombination zweier Gedankenstränge: Wie Augustin kann Luther einerseits sagen, dass Gott dem sündigen Menschen Gnade und Heil auch ohne jede Vermittlung durch Wort und Sakrament – in unmittelbarem Geistwirken – schenken könnte; doch hat er es mit Rücksicht auf unsere condicio humana anders
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Siehe unten S. 58f. mit Anm. 53. Immer noch unentbehrlich zu dieser Problematik ist das scharfsinnige und gut aus den Quellen dokumentierte Buch von Richard H. Grützmacher: Wort und Geist. Eine historische und dogmatische Untersuchung zum Gnadenmittel des Wortes, Leipzig 1902. 48 „Nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est deo, in his, qui audiunt evangelium [. . .].“ Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 12. Aufl., Göttingen 1998, S. 58b. 47
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gewollt und beschlossen49. Mit solchen Gedankengängen nimmt Luther die franziskanische Traditionslinie der ex-pacto-Kausalität und einer freien Selbstbindung Gottes auf 50. Andererseits aber bestimmt Luther im Kampf gegen den innerreformatorischen Spiritualismus, gegen die sog. „Schwärmer“, diese so gewollte Bindung des göttlichen Gnadenwirkens an Wort und Sakrament auf instrumentale Weise: Der Hl. Geist bedient sich der äußeren, sinnlichen Medien, um im Menschen Glaube und Liebe zu wecken und zu erhalten. Das „verbum externum“ des Evangeliums sowie Taufe und Abendmahl sind bei Luther nicht nur „causa sine qua non“ der Gnadenwirkung, sondern Gott wirkt durch und in der sinnlichen Medialität und Instrumentalität dieser Medien am Menschen51; die äußeren „media salutis“ erhalten durch Gottes freie Selbstbindung die schöpferische Kraft, als Träger des Geistes bis ins Innerste der Seele hineinzuwirken52 – eine völlig unaugustinische Auffassung und auch konträr zu Bonaventura und der von ihm begründeten Lehrrichtung, allerdings auch konträr zur thomistischen Konzeption einer inhärierenden Sakralität von heiligen Personen, Worten, Gegenständen, Sakramenten und Sakramentalien. Die Dynamik des Hl. Geistes, wie Luther sie versteht, kreiert keine spirituelle Kraft, die dauerhaft im Buchstaben und Wortlaut des 49 Vgl. z. B.WA 5, S. 505,31–34 (2. Psalmenvorlesung, 1519–21): „Qui [scil. deus] etsi omnia per se possit, non tamen nisi ministerio verbi facere statuit, ut fidei locus sit et nostrae infirmitati consulatur, quae ferre non potest divina nisi verbo involuta, quo velut in utero suo nos portat, ut Isa. 46 [V. 3] dicit.“ WA 46, S. 582,17–20 (Predigt über Joh. 1,6f. vom 4. Aug. 1537): „Denn Gott hat beschlossen, das niemand sol und kan gleuben noch den heiligen Geist empfahen one das Euangelium, so mue ndlich geprediget oder geleret wird, wie denn die erfarung mit Juden und Heiden es ausweiset.“ Weitere Textbelege bei Luther, in denen die Heilsmedialität von Wort und Sakrament durch Gottes Wollen, Anordnen und Beschließen begründet wird, finden sich bei Grützmacher: Wort und Geist (wie Anm. 47), S. 36 und 10–15. 50 Daher ist es durchaus treffend, wenn Grützmacher (ebd., S.15) den Zusammenhang der Ausführungen Luthers über das Verhältnis von Wort und Geist mit der „scotistischen Sakramentslehre“ beobachtet. Er hätte ebenso gut auf den Zusammenhang mit Gabriel Biels Lehre von der ex-pactoKausalität der Sakramente verweisen können; vgl. oben Anm. 25. 51 Vgl. z. B.WA 9, S. 632, 32–633,2 (Predigt ‚In die annunciationis Marie‘, 23. März 1521): „Goth gibt uns von ersten das worth, damit er uns erleuchtet, darnach den H. Geyst, der in uns wircket unnd den glawben anzcundt. Nun alspald man am worth still helth und lesset es eingehn, folgt so bald, das wir erleuchtet werden, und kummeth der heyllige geyst, der durch das worth wircket.“ WA 46, S. 57,21–25 (Das XVI. Capitel S. Johannis gepredigt und ausgelegt, zu Joh. 16,13): „Hie machet er den heiligen Geist zu einem prediger, damit man nicht nach jm hinauff gen himel gaffe [. . .] und von dem mue ndlichen Wort oder predig ampt scheide, sondern wisse und lerne, das er bey und mit dem wort sein wil und durch dasselbige jnn alle Warheit uns leiten, das wir den Glawben desselben haben [. . .].“ Zu weiteren Textbelegen bei Luther, in denen er von der Vermittlung des Geistwirkens „durch“/ „per“ das äußere Wort und die Predigt spricht, vgl. Grützmacher: Wort und Geist (wie Anm. 47), S.16f., 23, 32, 37. Zu den Begriffen ‚instrumentum‘, ‚werkzeug‘, ‚mittel‘, ‚vehiculum‘ und ‚wagen‘ als Bezeichnungen für die Geist-Medialität des sinnlichen Wortes vgl. ebd. S.17f. und S. 21, Anm.1. 52 Vgl. z. B.WA 19, S. 489,9–13 (Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister, 1526): „Item ich predige das Euangelion von Christo, und mit der leiblichen stim bringe ich dir Christum yns hertz, das du yhn ynn dich bildest.Wenn du nu recht glewbist, das dein hertz das wort fasset und die stim drinne hafftet, so sage mir, was hastu ym hertzen? Da mustu sagen, du habest den warhafftigen Christum [. . .].“ Bemerkenswert ist, dass Luther hier gegen die Bestreitung der sakramentalen Realpräsenz des Leibes Christi die Medialität von Wort und Stimme mit der des Brotes gleichsetzt: Die sinnlichen media salutis bringen Christus ins Herz hinein.Vgl. dazu Grützmacher: Wort und Geist (wie Anm. 47), S.18f.
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Evangeliums und im Wasser, Brot und Wein der Sakramente haftet, sondern bewirkt in jeweiliger Aktualpräsenz („in usu“) durch Wort und Sakrament den Glauben53. Zunächst war Luther noch in der augustinischen Auffassung verhaftet, dass das gesprochene und geschriebene ‚äußere Wort‘ nur die Körpersinne des Menschen erreichen, nicht aber als Instrument und Transportmedium des Hl. Geistes54 bis ins Herz hinein dringen kann. Dorthin gelangt allein der Hl. Geist selbst, wenn er dem sinnlichen Lesen und Hören des Gotteswortes durch sein unmittelbares internes, fruchtbringendes Wirken ‚assistiert‘55. Allmählich fand Luther dann in Auseinandersetzung mit seinen spiritualistischen Gegnern, vor allem mit Thomas Müntzer56, zu seiner eigenen Position jenseits der augustinischen Zeichen-, der spätfranziskanischen pactum- und der thomistischen Inhärenztheorie. Jetzt bestand er auf der konstitutiven Einheit – und nicht nur kooperierenden Verbundenheit – von Innerem und Äußerem, von Geist- und Wortwirken im Heilshandeln Gottes an der Seele des Menschen57. 53 Vgl. z. B. WA 5, S. 505,29–31 (2. Psalmenvorlesung, 1519–21): „Non enim cessandum est unquam a verbo, sed semper in usu, motu, volatu esse debet, ut dominus ipse semper volare movereque in nobis fidem possit.“ WA 6, S. 533,14f. (De captivitate Babylonica, 1520): „Ita nec verum esse potest sacramentis inesse vim efficacem iustificationis seu esse ea signa efficacia gratiae.“ Mit Recht hebt Grützmacher (ebd., S. 32) hervor, dass Luther nicht nur bei den Sakramenten, sondern auch beim Wort eine immanente Gnadenkraft ablehnte – und dies im Unterschied zur späteren lutherischen Theologie. Daher verstand Luther unter ‚Evangelium‘ auch weniger das schriftlich fixierte Buchstabendokument, „sondernn mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt“ (WA 12, S. 259,10–13; Ausl. der Epistel S. Petri, 1523), einen „vivae vocis sonus“ (WA 5, S. 537,17f.; 2. Psalmenvorlesung, 1519–1521), wobei die schöpferische Lebendigkeit des erklingenden Wortes erst dann entsteht, wenn sich mit ihm Gottes Geist performativ – jeweils dann, wenn er durch das Wort in einer menschlichen Seele den Glauben wirken will – verbindet. 54 Zu dieser später gegen die Spiritualisten verwendeten Terminologie Luthers vgl. oben Anm. 51. 55 Vgl. z. B.WA 1, S.124,10–13; Predigt zu Matth. 2,11 vom 6. Jan. 1517): „Nam hoc ipso differunt doctrina per hominem et doctrina Dei per se ipsum, quod praedicator potest dicere et ad aures usque sonare nec ultra, Deus autem intus ad cor sonat et docet, imo facit statim facere intus et foris.“ Vgl. dazu (mit weiteren Textbelegen) Grützmacher: Wort und Geist (wie Anm. 47), S.12f. 56 Vgl. unten Anm. 73. 57 Luther lehrt die Einheit und das Ineinander von Geist- und Wortwirken: Der Hl. Geist wirkt immer nur so gnadenhaft in der Seele des Glaubenden, dass er sich der sinnlichen Medialität des Evangeliums und der Sakramente bedient. Dagegen gibt es aus seiner Sicht nicht umgekehrt die Einheit von Wort/Sakrament und Geist, weil die Wortverkündigung und die Austeilung der Sakramente bei vielen Menschen ohne geistliche Wirkung bleiben; in diesen Fällen macht Gott also das äußere kirchliche Medium nicht zum Medium seines Geistes, sondern verweigert seine kreative Medienpräsenz entsprechend dem „ubi et quando visum est deo“ (oben Anm. 48). Es gilt also die Regel: Wenn Gott seinen Geist wirken lässt, dann immer nur durch die Instrumente von Wort und Sakrament; aber nicht immer, wenn das Evangelium in Wort und Sakrament erklingt, wird es zum Medium des Hl. Geistes, der den Glauben weckt und erhält. Mit dieser Regel hängt unmittelbar Luthers – auch im Konflikt mit den Spiritualisten festgehaltene – Vorstellung zusammen, dass der Hl. Geist zwar mit Hilfe des sinnlichen Wortes ins Herz des Menschen dringt, dass aber die schöpferische Kraft selbst, die den Glauben weckt und erhält, immer allein beim Hl. Geist und nie bei den kreatürlichen Worten liegt: „Huc disce, non esse in nostris viribus situm Christum recte predicare. Ita concionandum est, ut spiritus sanctus impellit. Ille solus est, qui hominum corda penitus cognovit. Corda hominum nemo hominum cognovit. Ergo spiritus solus corda tangit et accendit.“ (WA 9, S. 469,34–470,3; Predigt vom 28. Mai 1520, hier zu Act. 2,4). Dieser Aspekt der Lehre Luthers wird von Grützmacher: Wort und Geist
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Für alle anderen reformatorischen Positionen in der Verhältnisbestimmung von Gottes Gnadenwirken und äußerem Wort und Sakrament, wie sie im Folgenden darzustellen sind, gilt die Beobachtung, dass eine gewisse ‚spiritualisierende‘ Distanzierung von Geist und sinnlichen Zeichen der Kirche geschieht, entweder als behutsam-gemäßigte Entkoppelung bei den Schweizern und Oberdeutschen (zweiter Typ) oder als radikale Trennung bei den Spiritualisten (dritter Typ). Huldrych Zwingli konnte sich gegenüber Luther und den Lutheranern als der treuere Schüler des authentischen Augustin positionieren. Auf den ersten Blick zeigen er und die von ihm beeinflussten Theologen wie vor allem Martin Bucer eine große Nähe zu Bonaventuras – von Duns Scotus aufgenommenen – Grundimpuls, die geistige Gnade Gottes nicht an eine Instrumentalität der „körperlichen Zeichen“ zu binden58. Zwingli macht sich in Weiterführung der scotistischen Position59 zum leidenschaftlichen Anwalt des augustinischen Pathos der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens in der geistigen Seele des Menschen. Allerdings radikalisiert Zwingli die augustinische Signifikationshermeneutik, indem er mit der Konzeption der göttlichen Souveränität und Freiheit, Ungebundenheit und Unmittelbarkeit gegenüber aller Kreatur60 nicht die Auffassung von einer freien Selbstbindung Gottes an die Heilsnotwendigkeit der äußeren Medien kombiniert61. Gott bleibt für ihn mit seiner erwählenden Freiheit und pneumatischen Unmittelbarkeit immer ungebunden, d. h. er schenkt auch ungetauften Kindern und Menschen außerhalb der sichtbaren Kirche das Heil: „etiam (wie Anm. 47), S. 8–47 nicht klar genug dargestellt und völlig unbeachtet gelassen von Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 46–61: über Luthers Verständnis der Evangeliums-Promissio, deren ‚Zusage‘ zutreffend als performative Zuneigung der Heilsgabe charakterisiert wird, während ausgeblendet bleibt, dass das schöpferisch-effektive Ankommen der Zusage im Glauben des Empfangenden allein das Werk des Hl. Geistes ist, der sich der Medialität der Zusage bedient. 58 Zu Bonaventuras Terminologie des „non alligare“ vgl. oben Anm. 37. Zur Ablehnung der Auffassung, Gott habe seine „potentia“ und „gratia“ an geschaffene Zeichen wie die Sakramente gebunden („alligavit“), in der franziskanischen Theologie nach Bonaventura vgl. Hamm: Promissio (wie Anm.18), S. 416, und Werner Dettloff: Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre, Werl 1954 (= Franziskanische Forschungen 10), S. 73, Anm. 216 mit Zitat aus Duns Scotus: Report. Paris. I, dist. 17, quaestio 1, responsio: „Deus [. . .] potentiam suam non alligavit sacramentis nec per consequens aliis formis creatis.“ Diese franziskanische Ablehnung einer ontologischen Bindung ist allerdings, wie oben (bei Anm. 37– 39) gezeigt wurde, mit dem Gedanken einer vertraglichen Selbstbindung Gottes gekoppelt. 59 Vgl. Daniel Bolliger: Infiniti contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismusrezeption im Werk Huldrych Zwinglis, Leiden u. a. 2002 (= Studies in the History of the Christian Thought 107); Berndt Hamm: Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, S.134f. 60 Vgl. z. B. Zwinglis Einwand gegen Luthers Sakramentsverständnis: „Auf diese Weise wäre die Freiheit des göttlichen Geistes angebunden, der sich doch einem jeden nach Belieben mitteilt, d. h. wem, wann und wo er will.“ („Nam hac ratione libertas divini spiritus alligata esset, qui dividit singulis, ut vult, id est quibus, quando, ubi vult.“) Commentarius de vera et falsa religione (1525), Huldrich Zwingli: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 761, 4f.; dazu Hamm: Zwinglis Reformation (wie Anm. 59), S. 41–43: zu Zwinglis Konzeption der freien Ungebundenheit des Hl. Geistes, in der terminologisch die traditionelle franziskanische Wendung gegen das „alligare“ (vgl. oben Anm. 58) eine wichtige Rolle spielt. 61 Vgl. Hamm: ebd., 43f.
Augustins Auffassung von der Unmittelbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens
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extra ecclesiam“62 – eine Perspektive, die (für Luther ein Gräuel!) über Bucer63 bis zu Calvin weiterläuft64. Genauso wichtig aber wie diese kreatürlich ungebundene Freiheit Gottes ist für Zwingli der andere Lebensnerv seiner Theologie: dass wir Menschen innerhalb des biblischen Offenbarungsbereichs unbedingt gebunden sind an die heilige Autorität der göttlichen Zeichen, an die Hl. Schrift, das Verkündigungswort von Evangelium und Gesetz, an Gottesdienst, Kindertaufe und Nachtmahl65. Darum Zwinglis ganzes Ringen um eine verbindliche erneuerte Gestalt der Kircheninstitution und um Kirchenzucht, sein Eifer für schriftgemäße Predigt, Bibelübersetzung und eine am Urtext arbeitende Bibelexegese in der Züricher „Prophezei“. Gott selbst ist nicht gebunden an diese kirchlich-externe Medialität. Aber er hat die Menschen an sie gebunden, insbesondere an die normative Autorität des Bibelwortes als des schriftgewordenen Offenbarungszeugnisses seines Geistwirkens in den Propheten und Aposteln66. Denn der Hl. Geist widerspricht sich nicht.Was er den Seelen der Erleuchteten eröffnet, muss mit dem Geistzeugnis der Heiligen Schrift übereinstimmen. Für die Gläubigen kann es daher keine andere verbindliche Gottesoffenbarung geben als die des Alten und Neuen Testaments. Gott hat es für den Geltungsbereich der christlichen Religion so geordnet, dass der heranwachsende Mensch erst nach dem Kennenlernen des Evangeliums und in der Vertrautheit mit ihm den Hl. Geist empfängt und nur in enger Bindung an den Offenbarungsgehalt der Bibel zum Heil gelangt. In diesem Sinne haben auch aus Zwinglis Sicht die äußeren Zeichen einer Kirche, die sich an der Richtschnur des Bibelwortes orientiert, Rang und Würde von „media salutis“. Das gilt in noch höherem Maße auch für Martin Bucer und Johannes Calvin, die ebenfalls ontologisch eine unendliche Kluft zwischen der unmittelbar wirkenden Geistsphäre Gottes und aller endlichen Kreatürlichkeit sehen, ohne doch ekklesiologisch zu Spiritualisten zu werden67. 62 Vgl. Rudolf Pfister: Das Problem der Erbsünde bei Zwingli, Leipzig 1939 (= Quellen und Abhandlungen zur schweizerischen Reformationsgeschichte II/9), S. 41–45: zur Nicht-Verdammnis der ungetauft sterbenden Kinder bei Zwingli (im Gegensatz zu Augustin, vgl. oben bei Anm.17); ders.: Die Seligkeit erwählter Heiden bei Zwingli. Eine Untersuchung zu seiner Theologie, Zürich 1952; Hamm: ebd., S. 38–41. 63 Vgl. Martin Bucers Begründung für seine Ablehnung der Heilsnotwendigkeit der äußeren Wassertaufe (im Unterschied zur inneren Geisttaufe): denn „es bindt gott sein gnad nit an wasser“; Grund und ursach (1524), Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd.1, Gütersloh 1960, S. 257,31. Vgl. dazu Stephen E. Buckwalter: Die Entwicklung einer eigenen Position: Bucer und die innerprotestantische Abendmahlskontroverse bis zum Tod Zwinglis und Oekolampads, in: Wolfgang Simon (Hg.): Martin Bucer zwischen den Reichstagen von Augsburg (1530) und Regensburg (1532), Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 55), S. 98–107: hier S.101–103. 64 Vgl. Heiko A. Oberman: Die ‚Extra‘-Dimension der Theologie Calvins, in: Heinz Liebing/ Klaus Scholder (Hg.): Geist und Geschichte der Reformation, Festgabe für Hanns Rückert, Berlin 1966 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 38), S. 323–356. 65 Vgl. besonders Zwinglis Schrift ‚Der Hirte‘ (1524), eine Abhandlung über das Amt des Pfarrers, und dazu wie zum Folgenden Hamm: Zwinglis Reformation (wie Anm. 59), S. 29–34. 66 Vgl. W. Peter Stephens: The Theology of Huldrych Zwingli, Oxford 1986, S.132–138. 67 Zu Bucer vgl. Buckwalter: Entwicklung (wie Anm. 63), S.107, und Gottfried Hammann: Martin Bucer: Zwischen Volkskirche und Bekenntnisgemeinschaft, Stuttgart 1989 (= Veröffentlichun-
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Die Haltung Zwinglis und der Reformierten zu den äußeren „media salutis“ kann man wie die Augustins in der Alten Kirche und wie die der franziskanisch geprägten Lehrrichtung des Mittelalters als eine Mittelposition beschreiben: eine Betonung der Unmittelbarkeit der geistlichen Gnadenwirkungen, die sich mit einer Hochschätzung der externen Kirchenstrukturen verbindet und mit einer volkskirchlichen Gestaltungsenergie, die Innen und Außen intensiv zusammenhält. Anders der dritte, spiritualistische Typ, der vom Spätmittelalter in das 16. Jahrhundert hinüberläuft und uns hier in der neuen Gestalt eines reformatorischen Spiritualismus begegnet, bei so unterschiedlichen Theologen wie Thomas Müntzer, Hans Denck, Hans Hut, Ludwig Hätzer, Kaspar von Schwenckfeld und Sebastian Franck68. Bei ihnen werden nun die äußeren kirchlichen Medien der Lehre, der Wortverkündigung und Sakramente, besonders aber auch die Bibel in ihrer Schriftgestalt zugunsten des inneren Berührtwerdens der Seele durch Gottes Geist entwertet. Halten Zwingli und mit deutlichen Abstrichen auch noch Karlstadt das reformatorische sola scriptura und das solus spiritus sanctus eng zusammen, so wendet sich nun bei den Spiritualisten das Geistprinzip gegen das Schriftprinzip. Sie polemisieren gegen die neuen Schriftgelehrten in Wittenberg und Zürich69 und gegen den neuen „papiernen Papst“ in Gestalt der biblischen Schrift70 und sehen sich so als die konsequenteren Antipapisten im Kampf gegen jede Kreaturvergötzung, auch die des Buchstabens. An die Stelle der Bindung des geistgewirkten Glaubens an die äußere Gestalt von Kirchengemeinde, Gottesdienst, Sakramente und Kirchenzucht tritt nun die Proklamation der Freiheit des inneren Menschen und des inspirierenden Hl. Geistes von aller Medialität des Kreatürlich-Äußeren. Jeder geisterfüllte Mensch wird nun zum Empfänger göttlicher Offenbarung, die ihn auf eine Ebene mit den geistbegabten Propheten und Aposteln stellt. In der Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zu Gott geht die Offenbarung weiter.Wo hier Grenzen gezogen werden und welche Rolle als Kriterium gen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 139), S.147–206, besonders 170f. – Zu Calvins Ekklesiologie vgl. im Calvin-Handbuch, hg. von Herman J. Selderhuis, Tübingen 2008, vor allem die Artikel ‚Kirche‘ von Georg Plasger (S. 317–325), ‚Ethik und Kirchenzucht‘ von Guenther H. Haas (S. 326–338) und besonders ‚Sakramente‘ von Wim Janse (S. 338–349), der in Calvins Lehre sowohl zwinglische und spiritualisierende als auch lutherische Akzente aufweist; vgl. auch ders.: Calvin’s Eucharistic Theology: Three Dogma-Historical Observations, in: Herman J. Selderhuis (Hg.): Calvinus sacrarum literarum interpres. Papers of the International Congress on Calvin Research, Göttingen 2008 (= Reformed Historical Theology 5), S. 37–69, und in demselben Tagungsband den Beitrag von Lyle Bierma: Baptism as a Means of Grace in Calvin’s Theology: A Tentative Proposal, S.142–148. 68 Zum reformatorischen und nachreformatorischen Spiritualismus vgl. den sehr informativen Überblick von Gustav Adolf Benrath: Die Lehre der Spiritualisten, in: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, hg. von Carl Andresen, Bd. 2, Göttingen 1980, S. 560–610 (= 6. Teil, Kap. I); Stephen E. Ozment: Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the Sixteenth Century, New Haven – London 1973; Werner O. Packull: Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement 1525–1531, Scottdale 1977 (= Studies in Anabaptist and Mennonite History 19). 69 Vgl. z. B. Thomas Müntzer: Schriften und Briefe, unter Mitarbeit von Paul Kirn hg. von Günther Franz, Gütersloh 1968 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 33), S. 496,17– 24 (Prager Manifest, erweiterte deutsche Fassung). 70 Vgl. z. B. Sebastian Franck: Chronica. Zeitbuoch und Geschichtbibell, Ulm 1536 (Nachdruck Darmstadt 1969, Erstausgabe 1531), fol. 84r. Vgl. auch unten S. 109 mit Anm. 54.
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dabei das Bibelwort doch noch behält, ist bei den einzelnen Vertretern und Gruppen dieser sog. „Schwärmer“ völlig unterschiedlich. Charakteristisch für den reformatorischen Spiritualismus ist besonders die Auffassung, dass die Gnaden- und Heilszueignung des göttlichen Geistes und die Heilsaneignung des wahrhaft glaubenden Menschen prinzipiell unabhängig von Bibel, kirchlicher Verkündigung und Sakramenten sind, auch wenn der unmittelbar aus dem Hl. Geist gewonnene Glaube sich dann schriftlich, mündlich, sakramental und jedenfalls in einer geistlichen Lebensführung bezeugen kann und in den biblischen Schriften seine wichtigste Bestätigung findet. Diese Unabhängigkeit des geistlichen Menschen findet z. B. bei Müntzer die Ausdrucksform: „Wenn eyner nu sey leben lang die biblien wider [= weder] gehöret noch gesehen het, kündt er woll für sich durch die gerechten lere des geystes eynen unbetrieglichen [= untrüglichen, aufrichtigen, echten] christenglauben haben, wie alle die gehabt, die one alle bücher die heylige schrifft beschriben [= aufgeschrieben, verfasst] haben.“71 Zugleich aber will Müntzer nichts sagen und schreiben, was er nicht durch biblische Texte belegen und durch diese transsubjektive Wahrheitsnorm verifizieren kann. Damit grenzt er sich gegenüber dem Zwickauer Tuchknappen und Spiritualisten Nikolaus Storch und dessen vom Wahrheitskriterium der Hl. Schrift völlig losgelöster Berufung auf die neue Wahrheitsressource eigener Träume und Visionen ab72. Der hermeneutische Schlüssel zum rechten Bibelverständnis und zum Gebrauch der Schrift als Kontrollinstanz liegt für Müntzer aber nicht – wie für Luther, Zwingli und Bucer – im ‚klaren‘ äußeren Schriftwort selbst und in einem sprachgelehrten Bemühen um die Erkenntnis seiner ‚Grammatik‘, sondern exklusiv in dem vom äußeren Wort unabhängigen Geistbesitz, der daher auch „ohne und vor“ der Kenntnis des biblischen Wortes möglich ist73. 71 Müntzer-Ausgabe von Franz (wie Anm. 69), S. 277,25–33 (Ausgedrückte Entblößung, 1524). Vgl. Dieter Fauth: Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher Sicht, Ostfildern 1990= Köln – Weimar – Wien 1993; ders.: Träume bei religiösen Dissidenten in der frühen Reformation, in: Ders./Daniela Müller (Hg.): Religiöse Devianz in christlich geprägten Gesellschaften.Vom hohen Mittelalter bis zur Frühaufklärung, Würzburg 1999, S. 69–105. 72 Zu dieser Differenz zwischen Müntzer und Storch sowie dem Wittenberger Studenten Marcus Stübner vgl. jetzt Thomas Kaufmann: Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen 2010 (= Thomas-Müntzer-Gesellschaft. Veröffentlichungen 12), S. 92–94. Das Beispiel der „Uttenreuther Träumer“ zeigt, dass sich in der Reformation die Berufung auf das unmittelbare Wahrheitsmedium eigener Träume durchaus mit einer hohen Wertschätzung der Hl. Schrift als Wahrheitskriterium im Sinne Müntzers verbinden konnte: Für diese Träumer galten nur diejenigen Träume als von Gott eingegebener Blick in die Zukunft, die mit dem biblischen Zeugnis übereinstimmten. Vgl. Anselm Schubert: Der Traum vom Tag des Herrn. Die „Träumer von Uttenreuth“ und das apokalyptische Täufertum, in: Archiv für Reformationsgeschichte 97 (2006), S.106–136. 73 Vgl. Martin Luthers Kritik an Müntzer in seinen ‚Schmalkaldischen Artikeln‘ (Druckfassung 1538): „Und jnn diesen stue cken, so das mue ndlich, eusserlich wort betreffen, ist fest darauff zu bleiben, das Gott niemand seinen Geist oder gnade gibt on durch oder mit dem vorgehend eusserlichem wort, damit wir uns bewaren fur den Enthusiasten, das ist geistern, so sich rhue men, on und vor dem wort den geist zu haben, und darnach die Schrifft oder mue ndlich wort richten, deuten und dehnen jres gefallens, wie der Mue ntzer thet und noch viel thun heutigs tages, die zwisschen dem Geist und Buchstaben scharfe richter sein wollen und wissen nicht, was sie sagen oder setzen.“ WA 50, S. 245,1–12 und dazu Werner Führer: Die Schmalkaldischen Artikel, Tübingen 2009 (= Kommentare zu Schriften Luthers 2), S. 340–345.
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Grundsätzlich ist auffallend, dass bei Zwingli, Bucer und den Reformierten das innere Zeugnis des Hl. Geistes in der Seele ihre Bindung an das äußere Zeugnis der biblischen Schrift verstärkt, während umgekehrt bei den Spiritualisten die Wirkung des inneren Geistwortes die Bindung an das äußere Schriftwort abschwächt. Das reformatorische Schriftprinzip forcierte offensichtlich durch seinen exklusiv normierenden Anspruch das Bedürfnis nach einem Spiritualismus der vom Buchstaben befreiten, unvermittelten Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch. Resümierend kann ich festhalten: Von Augustins Leitidee der souveränen Gnadenunmittelbarkeit Gottes her kam es im Mittelalter zu drei Hauptströmen einer theologischen Beurteilung der äußeren kirchlichen Medialität. In vergleichbarer Weise kam es dann auf der Grundlage einer forcierten reformatorischen Immediatisierung der Gottesbeziehung – mit der prinzipiellen Wendung gegen die Kleriker und Heiligen als heilsvermittelnde Mediatoren – ebenfalls zur Ausbildung von drei Hauptrichtungen im Umgang mit der äußeren Zeichen- und Symbolgestalt der Kirche. Dabei erwiesen sich vor allem Zwingli, Bucer und Calvin als besonders treue Augustinschüler, die in neuen Kontexten seine via media fortsetzen wollten.
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Sinn und Präsenz in der frühen Reformation I. Die Frage nach dem Verhältnis von unmittelbarer Präsenz und medialer Vermittlung in der Reformation scheint auf den ersten Blick irritierend. Sie rückt ein Spannungsverhältnis in den Mittelpunkt, das bislang nicht nur in der Reformationsgeschichtsschreibung insgesamt wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, sondern bis heute auch die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte kaum beschäftigt.Allzu dominant scheint für den Beginn, Verlauf und Erfolg der Reformation die mediale Vermittlung, allen voran natürlich die durch den Buchdruck, zu sein. Auch wenn die Rolle des Buchdrucks immer wieder relativiert und mit Blick auf die Multimedialität der Reformation differenziert wurde, die Reformation gilt als ein Medienereignis, in welchem Schriftlichkeit eine zentrale Bedeutung gewinnt. Schriftlichkeit jedoch lässt sich nicht auf die Seite der Präsenz schlagen; im Gegenteil, sie definiert sich, so ein zentrales medientheoretisches Axiom, geradezu als ihr Antipode. So haben die Gründungsväter der jüngeren Medientheorie, angefangen von Eric Havelock über Walter Ong bis Jack Goody, schon im Übergang von der Oralität zur Literalität einen zentralen Bruch in der Mediengeschichte identifiziert.1 Im Vergleich zu mündlichen, auf körperlicher Präsenz und Sinnlichkeit beruhenden Kulturen zeichnen sich Schriftkulturen, so ihre These, durch ihre Fähigkeit zur Abstraktion, Interpretation und Theoriebildung aus. Entsprechend wurde Schriftgeschichte als „Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins“ definiert, deren Verlauf sich durch die „wachsende[ ] Aufmerksamkeit für das innere Wesen der autonomen Person“ auszeichne.2 Im Medium der Schrift trennten sich demnach das „innere Wesen“ des Menschen und die Welt in ihrer Materialität und äußeren Ordnung. Die Welt war nun nicht mehr, wie in oralen Kulturen, das Gegebene und in seiner Präsenz Unhintergehbare, dem der Mensch fraglos zugehörte, sondern sie rückte in die Verfügungsgewalt des Menschen ein, der sie zum Gegenstand seines Interpretationsvermögens und seiner Aneignungsstrategien machte. „Das Schreiben“, so erklärte Walter Ong, „führt Trennung und Entfremdung, aber ebenso eine höhere Einheit ein. Es beflügelt das Selbstgefühl 1 Vgl. u. a. Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution,Weinheim 1990; Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987; als Überblick über die sogenannte „Kanadische Schule“ vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S.100ff. 2 Walter Ong: Oralität und Literalität, in: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 4. Aufl., Stuttgart 2004, S. 95–104, hier S.103.
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und begünstigt eine bewusstere Interaktion zwischen Personen. Schreiben ist Bewusstseinserweiterung.“3 Von Marshall McLuhan und seinen Nachfolgern wurde vor diesem Hintergrund dann die „typographische Revolution“ zum Paradigma aller mediengeschichtlichen Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte erklärt.4 Die Drucktechnologie potenzierte demnach alle genannten Attribute der Schriftlichkeit ins Unendliche und begründete damit ein Zeitalter des wissenschaftlichen Fortschritts und der geschichtlichen Veränderung. Auch die Reformation fügte sich in diesen Erklärungsansatz ein, partizipierte sie doch an der neuen Qualität der Schriftlichkeit, indem sie sich der drucktechnischen Möglichkeiten der Standardisierung, Rationalisierung und potentiell unendlichen Verbreitung bediente. Darüber hinaus verankerten die Reformatoren ihre theologischen Grundsätze auch inhaltlich in der Faktizität des neuen Mediums, indem sie die (Heilige) Schrift in den Mittelpunkt der Heilsvergewisserung stellten. Die für die Schriftlichkeit reklamierten Verinnerlichungstendenzen fanden hier insofern eine valide historische Begründung.5 Die jüngere Geschichtsschreibung hat auf diese medientheoretischen Überlegungen zurückgegriffen, wobei sich mittlerweile zwei Interpretationsansätze herausgebildet haben. Der erste Ansatz tendiert dazu, die Reformation gänzlich mit der Geschichte der Drucktechnologie zu verrechnen und damit das Medium als das historisch Primäre zu setzen. In der Tat ist der Schritt von den medientheoretischen Überlegungen zur typographischen Revolution zu einer technikdeterministisch konzipierten, monokausalen Erklärung der Reformation nicht weit.6 „Die Modernität der Reformation“, so konnte Johannes Burkhardt in einer vor einigen Jahren erschienenen Überblicksdarstellung über das „Reformationsjahrhundert“ vor diesem Hintergrund erklären, „floß aus dem neuen typograpischen Informationssystem, dessen Hauptanwender sie wurde. Die wahre Vorgeschichte der Reformation ist darum diese neue Kunst, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts erfunden wurde.“7 Im Falle des zweiten Ansatzes werden medientheoretische Überlegungen dagegen in einem weiteren, kulturgeschichtlichen Kontext reformuliert. Dabei stehen weniger die technischen Implikationen der Mediengeschichte im Mittelpunkt, als vielmehr das, was in der Logik des Medialen als kulturelles und historisches Formationsprinzip virulent ist. Am pointiertesten hat diese kulturgeschichtliche Wendung in jüngerer Zeit Hans Ulrich Gumbrecht 3
Ebd., S.104. Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968, sowie ders.: Die Magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1968. 5 Vgl. insbesondere Elizabeth L. Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, 2 Bde., Cambridge 1979, sowie Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1998. 6 Paradigmatisch für einen solchen Ansatz sind Medientheoretiker wie Vilém Flusser, Paul Virilio oder Friedrich A. Kittler.Vgl. dazu Mersch: Medientheorien (wie Anm.1), S.131. 7 Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung, Stuttgart 2002, S.17. 4
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vollzogen, indem er mit Blick auf den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Epochenbruch die Unterscheidung zwischen zwei kulturellen Formationen einführte, die jeweils bestimmte mediale Implikationen besitzen.8 Gumbrecht unterschied zwischen einer mittelalterlichen, im Kern mündlichen Präsenz- und einer neuzeitlichen, schriftbezogenen Sinnkultur.9 Auch wenn er selbst die Reformation hierbei nicht ausführlich behandelte, so ist doch offensichtlich, dass sie sich als eine Bewegung, die die Verinnerlichungs-, Interpretations- und letztlich Sinnpostulate von Schriftlichkeit realisierte in diese Konzeption hervorragend einfügt. Durch ihren Bezug auf die Schriftlichkeit nämlich setzte die Reformation tatsächlich an die Stelle des Körpers den Geist als dominanten Gegenstand des Selbstbezugs, an die Stelle der kosmologischen Ordnung die Subjektivität und an die Stelle der Selbstentbergung der Welt die Interpretation.10 Die Reformation also ist im Sinne Gumbrechts Sinn- und nicht Präsenzkultur, ja sie ist der Siegeszug der Sinngegen die Präsenzkultur. Wenngleich die Unterscheidung zwischen Sinn- und Präsenzkultur, wie Gumbrecht selbst betont, allzu holzschnittartig erscheint, stellt sie doch ein geeignetes begriffliches Raster dar, das Verhältnis von unmittelbarer Präsenz und medialer Vermittlung in der Reformation in den Blick zu nehmen. Anders als ein rein technikzentrierter Ansatz verweist sie auf verschiedene, theologische wie historische, theoretische wie praktische und diskursive wie materielle Faktoren, die in der Interpretation Berücksichtigung finden müssen.11 Ausgangspunkt ist auch in dieser Perspektive erst einmal die These, dass die Reformation ein Medienereignis ist, also ein Ereignis, das gerade durch mediale Vermittlung seine spezifische Signatur und seine historische Gestalt gewinnt und dies zudem durch das Schriftprinzip theologisch auch einholt.12 Heilspräsenz oder Unmittelbarkeit haben ihre Selbstverständlichkeit dementsprechend in der Reformation verloren. Darin ist allerdings keine triviale Differenz zwischen medialer Vermittlung und Unmittelbarkeit zu sehen. Die Reformation nämlich bezieht sich, wie im Anschluss an Gumbrechts Begriff der Sinnkultur gezeigt werden kann, reflexiv auf die mittelalterlichen Präsenzkonzeptionen.Wenngleich sie theologisch dabei in der Tat die 8 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. 9 Ebd., S. 98ff. 10 Vgl. ebd., S.100f. 11 Grundsätzlich dazu vgl. Christian Kiening: Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte, in: ders. (Hg.): Mediale Gegenwärtigkeit, Zürich 2007 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 1), S. 9–70, sowie ders.: Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 39 (2007), S. 285–352. 12 Damit ordnet sie sich in einen in den letzten Jahrzehnten breiten Forschungsdiskurs zur Medialität der Reformation ein.Vgl. v.a. Bernd Moeller: Die frühe Reformation als Kommunikationsprozess, in: ders.: Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001, S. 73–90, sowie Berndt Hamm: Die Reformation als Medienereignis, in: Jahrbuch für biblische Theologie 11 (1996), S.137–166; ders.: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter, in: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2009 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 21–60.
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überkommenen Formen von Heilspräsenz radikal infrage stellt, so gewinnt sie, so die These, ihren Sinn letztlich doch dadurch, dass sie die Dimension der Präsenz unter Bedingungen der Schriftlichkeit auf der Ebene des historischen Geschehens wieder einführt. Zwar treten Sinn und Präsenz theologisch in einen unüberbrückbaren Widerspruch, historisch jedoch gehören sie in der Reformation zusammen.
II. Zunächst ist festzustellen, dass die Antithetik von reformatorischer Sinn- und mittelalterlicher Präsenzkultur an reformatorische Selbstbeschreibungen anknüpfen kann, die seit den 1520er Jahren die Auseinandersetzungen mit dem römischen Gegner begleiteten und strukturierten.Von Beginn an gab es bei den Reformatoren, allen voran bei Luther, eine hohes Bewusstsein, dass sich die reformatorischen Einsichten einer bestimmten Medienpraxis verdankten. Sie waren das Ergebnis einer neuen Art der Lektüre, die die äußere Ordnung der Buchstaben transzendierte, um den Sinn des Textes als transzendentale Instanz der Gottesbeziehung zu etablieren. „Die Homogenität des gedruckten Wortes erlaubte es“, so lautet Manfred Schneiders medientheoretische Erklärung dieses Umstands, „das göttliche Zeichen wieder im Zeichen einer Bedeutung, des einfachen Sinns, der Ursprungswahrheit erscheinen zu lassen. Der gedruckte Signifikant war damit auch auf der Seite des Signifikats konzentriert und trennscharf gemacht worden.“13 In der reformatorischen Emphase der Lektüre waren demnach zwei Annahmen impliziert: Die erste besagte, dass es die Theologie nicht mit isolierbaren Zeichen und festen Korrespondenzen zu tun habe, sondern mit der Selbstevidenz und Kohärenz eines Textes. Die zweite, damit verbundene Annahme verortete diese Selbstevidenz in der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat und machte es damit zur Aufgabe, Theologie und Frömmigkeitspraxis als Einheit dieser Differenz zu entwerfen. In dem Postulat, diese Einheit herzustellen, gründete die reformatorische Emphase des Glaubens. Der Glauben organisierte die Sinne im Hinblick auf den einen Sinn des Textes und korrespondierte damit, darauf hat wiederum Manfred Schneider hingewiesen, mit der drucktechnischen Materialität der heiligen Zeichen: „Aufgeheizt wurden diese Buchzeichen durch die Konzentration auf der Seite des Signifikats. Denn da die Theorie aussagt, dass diese im Druck homogenisierten Worte des Herrn keine Zeichen seien, dass der Leser durch dieses Medium einen unmittelbaren Zugang zur Verheißung selbst gewinnen kann, ist ein solcher schwarzer Signifikant spiritualisiert. Diese Spiritualisierung verdankt sich im Vollzug der Lektüre der annihilierenden Suggestion des Glaubens. Anders gesagt: Der Glaube ist die Energie, welche den Signifikanten 13 Manfred Schneider: Luther mit McLuhan. Zur Medientheorie und Semiotik heiliger Zeichen, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.): Medien, Opladen 1987 (= Diskursanalysen 1), S.13–25, hier S.19.
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zum Glühen bringt, bis er seine mediale Tatsächlichkeit auflöst.“14 Gegen den Sinn des Gotteswortes, so konnte Luther 1521 seinen katholischen Gegnern entgegenhalten, war kein römisches Kraut gewachsen: „Der heylig geyst ist der aller eynfeltigst schreyber und rether, der ynn hymmel und erden ist, drumb auch seyne wortt nit mehr denn eynen einfeltigsten synn haben kunden, wilchen wir den schrifftlichen odder buchstabischen tzungen synn nennen.“15 Seine sinnzentrierte Lektürepraxis profilierte Luther nun vor allem dadurch, dass er ihr die rituellen Handlungen der römischen Messe, die den Prinzipien einer unmittelbaren Begegnung mit dem Heiligen unter Bedingungen körperlicher Anwesenheit folgten, gegenüberstellte.16 Seine Kritik entfaltete sich also im Prinzip aus der Antithetik von Lektüre und Anwesenheitskommunikation als zwei unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Formen der Frömmigkeitspraxis.17 Der reformatorische Sinn kontrastierte damit mit der Sinnlichkeit des spätmittelalterlichen Gottesdienstes, die sich vor allem im liturgischen Beiwerk manifestierte, das „die augen vnd das hertz / [. . .] leychtlich ynn ein falschen synn und wahn vorfüret“.18 Die Sinne vermittelten also nicht den wahren, sondern den falschen Sinn, und sie brachten den Menschen der Heilsgewissheit nicht näher, sondern entfernten ihn davon. Sie ließen sich nämlich täuschen und führten dazu, dass, wie auch andere Reformatoren feststellten, in der Messe „alles Christlich wesen / auff eusserlichen scheyn deß larvenwercks gezogen“ sei und „der Teuffel die hertzen mit eusserlichen scheynenden dingen“ blende.19 So glaubten die Menschen, dass sie „Got [. . .] loben / mit heulen / singen / pfeyffen / glocken / 14
Ebd., S. 20. Martin Luther: Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort. Darin auch Murners, seines Gesellen, gedacht wird (1521), WA 7, S. 621–688, hier S. 650, 21–24. 16 Vgl. zu dieser Gegenüberstellung in ihrem mediengeschichtlichen Zusammenhang Günther Lottes: Medienrevolution, Reformation und sakrale Kommunikation, in: Stephan Kronenburg/Horst Schichtel (Hg.): Die Aktualität der Geschichte. Historische Orientierung in der Mediengesellschaft. Siegfried Quandt zum 60. Geburtstag, Gießen 1996, S. 247–261. Zur Geschichte der Auseinandersetzung um die Messe vgl. Erwin Iserloh: Der Kampf um die Messe in den ersten Jahren der Auseinandersetzung mit Luther, Münster 1952 (= Katholisches Leben und Kämpfen im Zeitalter der Glaubensspaltung 19), sowie Hans Bernhard Meyer: Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum Meßwesen des späten Mittelalters, Paderborn 1965 (= Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 11). Zur mittelalterlichen Messe selbst vgl. Adolph Franz: Die Messe im deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens, Freiburg i. Br. 1902 (Neudruck: Darmstadt 1963), sowie allgemein Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997. 17 Zum Begriff der Anwesenheitskommunikation unter soziologischen Perspektiven vgl. André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a. M. 1999. Sein historiographisches Potential wurde jüngst dargelegt von Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S.155–224. 18 Martin Luther: Eyn Sermon von dem newen Testament/das ist von der heyligen Messe, Wittenberg 1520, Aiijr. [VD 16 L 6409] 19 Wenzeslaus Linck: Die letzten drey Psalmen von Orgelen / Paucken / Glocken vnd der gleychen eüsserlichen Gotßdienst / ob vnd wie Got darynnen gelobt wyrdt, Zwickau 1523, Aijr. [VD 16 L 1811] 15
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orgelen etc. one bewegung vnd springen yres hertzen durch den glauben des worts Gottes“.20 Lieferte sich der Gläubige der Synästhetik der Anwesenheitskommunikation aus, so blieb er nach Überzeugung der Reformatoren also an den äußeren Vollzugsformen, an der Materialität und Körperlichkeit der Medien hängen und verfiel dem Wahn, er könne Gott durch „kleydungen / farben / gürteln / schuhen / hauben / fasten / feyern / wallen / weihen / essen / trincken / singen [vnd] clingen“ ehren. Das „reich gottes“ jedoch war „in vns“ selbst.21 Die von den Reformatoren postulierte Verinnerlichung des Gottesreichs verlangte demnach eine andere, eben an der Schrift orientierte Medienpraxis. Nicht in der körperlichen Präsenz und Übung des Gläubigen, so der reformatorische Tenor, sondern in seinem Vermögen, den Sinn der biblischen Botschaft lesend zu erkennen und hörend zu ergreifen, sich ihn zu Herzen zu nehmen und zu verinnerlichen, lag der Schlüssel zur Heilsgewissheit. Nur im schriftlich niedergelegten und in der Predigt verkündeten Wort Gottes ließ sich der eine Sinn, nämlich der Sinn der Heilsbotschaft, realisieren: „Christum höret man / wenn das Euangelion gepredigt wird. Christum sihet man / wenn man dem gepredigten Euangelion glawbt.“22 Nach diesem Prinzip musste also auch der Gottesdienst umgestaltet werden. „Wollen wir recht meß halten und vorstahn“, so lautete deshalb Luthers Forderung, „ßo mussen wir alles faren lassen / was die augen und alle synn in dißem handel mugen zeygen vnd antragen / es sey kleyd / klang / gesang / tzierd / gepett / tragen / heben / legen / odder was da geschehen mag yn der meß“.23 In der Antithetik von Sinn und Sinnlichkeit fanden die Reformatoren mithin den Ansatzpunkt für eine fundamentale Kritik des Vorhergehenden. Sie brachten die Medien ins Spiel, das heißt sie verwiesen auf die Formen medialer und ritueller Produktivität und entlarvten vor diesem Hintergrund das Subjekt mittelalterlicher Frömmigkeitspraxis als Substrat einer materiellen Konfiguration und als Oberflächeneffekt eines Spiels von Identitäten, das mit den wahren Glaubensinhalten nichts zu tun hatte, ja diese zerstörte und damit jede Möglichkeit der Heilsgewissheit konterkarierte.Auf diese Einsicht in die Eigenlogik medialer Konfigurationen antwortete der reformatorische Primat der Lektüre dann in zweierlei Hinsicht. Er unterstellte zum einen eine uneinholbare Eigenlogik des Gotteswortes als des einzig wahren Heilsmediums und machte zum anderen diese Einsicht zum Prinzip der richtigen Subjektkonstitution.Wenn sich der Gläubige dem Sinn des Gotteswortes nicht verschloss, konstituierte er sich als dessen Adressat, und das hieß: als Gerechtfertigter. In der Antithetik von Sinn und Sinnlichkeit spiegelte sich somit eine Antithetik zweier medialer Konfigurationen wider, die gleichzeitig zwei Ebd., Aiiijr. Urbanus Rhegius: Das Blatten / Kutten / Kappen / Schern / Schmern / Saltz / Schmaltz / vnd alles der gleichen / Gott abschewlich seindt / finstu grüntlich anzeygung der geschrifft, Worms [1525], Aijr. [VD 16 R 1758] 22 Johannes Bugenhagen: Des Pomern bedencken von der Messe, in: ders., Philipp Melanchthon: Etlich Christliche bedencken von der Mess vnd andern Cerimonien, Wittenberg 1524, Aijr–v, hier Aijr. [VD 16 B 9320] 23 Luther: Eyn Sermon von dem newen Testament (wie Anm.18), Aiijr. 20 21
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Formen der Subjektkonstitution beinhalteten. Es entstand das Bild des Mittelalters als einer Epoche, die auf die unmittelbare Gegenwärtigkeit und Anwesenheit des Heiligen abstellte und dabei der Sinnlichkeit denVorrang vor dem Sinn einräumte.
III. Die Opposition von Sinn und Präsenz, mit welcher Gumbrecht den mittelalterlich-neuzeitlichen Epochenbruch beschreibt, brachten also bereits die Reformatoren ins Spiel. Mediengeschichtlich im engeren Sinne ist sie überaus erhellend, historiographisch indes greift es, wie einleitend schon angedeutet wurde, zu kurz, von dieser Opposition aus einfach auf die reale Dialektik eines historischen Prozesses zu schließen oder gar die revolutionäre Kraft einer Medientechnik zur alles begründenden Ursache geschichtlichen Wandels zu erklären.Tatsächlich durchschnitt der reformatorische Sinn zwar wie eine Transversale das bestehende Feld medialer Erscheinungsformen und historischer Semantiken des Heiligen, er folgte dabei jedoch zunächst nicht der Logik eines realen historischen Bruchs, sondern der Eigenlogik des Schriftmediums. Nicht nur die reformatorische Emphase des Sinns nämlich, sondern auch das reformatorische Verdikt gegen die Präsenz erhielten ihre Plausibilität in verschriftlichter Form. Die reformatorische Opposition von Sinn und Präsenz war also eine schriftlich konstituierte. Innerhalb des Zeichensystems der Schrift re-formuliert wurde die Präsenz des Heiligen den hier geltenden Sinnpostulaten unterworfen und in ihrer Differenz und Defizienz beschrieben. Im Bezug auf diese Operation ließ sich dann die Schrift auf sich selbst transparent machen und in dieser Selbstreflexivität als Sinn- zum Heilsmedium erklären. Eine Beschreibung, die nicht zwangsläufig die Kriterien und Teleologien der reformatorischen Selbstbeschreibungen reproduzieren will, muss demnach zunächst die Schrift und ihren medialen Eigensinn in den Mittelpunkt rücken. Schon vor der Reformation war es bekanntermaßen zu einer rasant zunehmenden Verschriftlichung der Frömmigkeitspraxis gekommen. Im Gegensatz zur Reformation ging es dabei nicht darum, Konzeptionen der Heilspräsenz durch Schrift zu ersetzen.Vielmehr wurde versucht, die Schrift als Komplementär- oder Repräsentationsmedium von Anwesenheitssituationen zu nutzen. Umso klarer jedoch sind hier jene medialen Aporien zu erkennen, die in der reformatorischen Antithetik von Präsenz und Sinn explizit gemacht wurden. Um die medialen Implikationen des reformatorischen Schriftprinzips aufzudecken, ist es insofern sinnvoll, zunächst diese spätmittelalterlichen Aporien näher in den Blick zu nehmen. Die Verschriftlichung vor der Reformation vollzog sich, angefangen von der privaten Andacht über den Reliquienkult bis hin zum Ablasswesen, auf verschiedenen Feldern der Frömmigkeitspraxis.24 Auch die Messe wurde im ausgehenden 15. Jahr24 Vgl. u. a. Christian Kiening: Hybriden des Heils. Reliquie und Text des „Grauen Rocks“ um 1512, in: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York 2009 (= Germanistische Symposien. Berichtsband 28), S. 371–410.
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hundert immer häufiger Gegenstand schriftlicher Darstellungen. Neben lateinischen, meist in kleiner Auflage kursierenden Messkommentaren entstanden volkssprachige Texte, die einzelne Teile der Liturgie oder die Messe insgesamt behandelten.25 1482 erschien eine erste vollständige und umfassende deutschsprachige „Auslegung des Amts der heiligen Messe“ in Nürnberg im Druck. Die erklärte Absicht dieses Drucks war es, die Liturgie für die Gläubigen transparenter zu machen, gleichzeitig aber auch disziplinierend sowohl im Hinblick auf die Gläubigen als auch auf die ausufernde Vielfalt der liturgischen Formen zu wirken.26 Ausführlich wurde dabei auf die Metaphysik der Präsenz eingegangen und insbesondere die Bedeutung der Sinne hervorgehoben. Gesicht und Gehör, Geschmack und Geruch waren demnach konstitutive Bestandteile der liturgischen Interaktion.27 Begründet wurde dies mit der Vorstellung, dass Gott selbst im Kultus unmittelbar anwesend sei. „[G]ot der herre“, so hieß es, „legt vnd setzt in die kirchen seinen namen, seine augen, seine oren vnd sein hertze“.28 Auch die Heiligen galten als physisch präsent, so dass man mit ihnen im Laufe der Liturgie in Kontakt treten konnte. In ihrer körperlichen Anwesenheit waren sie wie die Gläubigen der perzeptiven Ordnung der Interaktionssituation unterworfen und ließen sich in Akte des gegenseitigen Aushandelns, Vergleichens und Tauschens, also in Heilsgeschäfte verwickeln. Selbst Gott konnte sich der Wirkung eines laut artikulierten Gebets nicht entziehen. Er musste den Gläubigen buchstäblich erhören, da man sich einer Kommunikation unter den gegebenen Umständen gegenseitiger Wahrnehmbarkeit nicht verweigern konnte: „[. . .] so hat das gebet die kraft, das der mensch so hoch gewaltig wirt, das er gebeut über die hymelischen ding das er got zwingt, das doch wunderberlich zu sagen ist, das got dem menschen vntertenig wirt.“29 Je häufiger deshalb die Interaktion zwischen Gott, seinen Heiligen und den Gläubigen stattfand, desto größer konnte der dabei erhoffte Mehrwert ausfallen.30 25 Vgl. zum Messkommentar v.a. Thomas Lentes: Textus Evangelii. Materialität und Inszenierung des textus in der Liturgie, in: Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine (Hg.): Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216), S.133–148, sowie ders.: A maioribus tradita. Kommunikation von Mythos und Ritus im mittelalterlichen Messkommentar, in: Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation (wie Anm. 24), S. 324–370, hier S. 326. 26 „Nun wirt hie nach der anfang der messe vnd von allen stucken in der messe biß an das ende der text im latein in grosser geschrifft geschriben, vnd darnach in teutsch auch yeglichs stuckes bedeutunge. Nicht darumb das die leyen sollen dar von oder dar mit messe lernen vnd die zu haben. Sunder das wir lernen andechtiglich messe hören, das der got zu lobe vnd eren kum, vnd vnser sel zu trost.“ Auslegung des Amts der heiligen Messe, Nürnberg 1482, o. P. (S. 41). 27 Vgl. dazu Thomas Lentes: ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘. Das religiöse Ausdrucksverhalten, in: Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400– 1600, Göttingen 1999 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 188), S. 29–67. 28 Auslegung des Amts (wie Anm. 26), o. P. (S. 26). 29 Ebd., o. P. (S. 31f.). 30 Ebd., o. P. (S. 9). Dementsprechend lautete die Aufforderung an den Priester dann auch, er solle „offt messe lesen darumb das er so groß vnd so vil mit schaffet“ (ebd.). Vgl. dazu v.a. Arnold Angenendt u. a.: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts der Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Berlin/New York 1995, S.1–71, sowie Angenendt: Religiosität im Mittelalter (wie Anm.16), S. 581ff.
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Die expressive und sensorische Ordnung, an welcher das Gelingen der Interaktion zwischen den Gläubigen, Gott und den Heiligen hing, wurde vor diesem Hintergrund im Detail beschrieben. Die gesungene beziehungsweise gesprochene Rezitation der lateinischen Perikopentexte, die Bewegungen im Raum, der Wechsel zwischen Abwendung von beziehungsweise Zuwendung des Priesters zur Gemeinde, Aufstehen und Niederknien erschienen als Grundbestandteile der Messe durch einen unmittelbaren Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit geprägt. Körperliche Bewegungen und geistliche Bedeutungen standen in einem Verhältnis unmittelbarer Entsprechung.31 Dies betraf nun nicht nur die Handlungen der an der Interaktion Beteiligten, sondern auch die Schrift, die in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder buchstäblich zum Einsatz kam. So machte der Priester nach dem „deo gracias“ beispielsweise ein „kreutz in das buch auf das ewangeli das er gesungen hat“.32 Auch einzelne Buchstaben erhielten in der liturgischen Präsenzsituation eine körpernahe, mimetische Dimension, die ihren Zeichencharakter einhegte. Insbesondere wurde das ‚T‘ im Rahmen des Kanons immer wieder mit perzeptiven Entsprechungen aufgeladen: „Aber das thaw [. . .] bedeut das kreutz Cristi Jhesu an dem er vns mit seynem bitternn leyden vnd sterben erlöst hat. [. . .] Vnd darumb so molet man gewönlich an den ende in das meßbuch zu dem Canon eyn crucifix.“33 Schrift besaß demnach nicht den Charakter eines dem Ritual entgegengesetzten Sinnmediums.Vielmehr war sie in der ihr eigenen Materialität ein konstitutiver Bestandteil des Ritus, also ein Kultgegenstand, der sich durch seine mimetische und symbolische Aufladung in die für die Liturgie insgesamt konstitutive Einheit von Ausdrucksform und Sinngehalt integrierte.34 Die „Auslegung der Messe“ beschrieb also auch ihren eigenen medialen Status, nämlich den Status der Schrift im Kontext der synästhetischen Konstellation einer Präsenzsituation. Die Art und Weise, wie sie dies tat, stand jedoch in einer
31 So wurde beispielsweise erläutert, dass der Priester, wenn er im Rahmen der Eucharistiefeier „seyn beyd hend vnd arm auf übersich hebt gegen dem hymel“, eine Assoziationsfeld von der Auferstehung Jesu bis zur Erhebung des Herzens zu Gott eröffnete. Auslegung des Amts (wie Anm. 26), o. P. (S. 91). 32 Ebd., o. P. (S. 73). 33 „[. . .] Das thaw hat drey stuck, vnd das eyn stuck bedeut die stercke des gelaubens. Das ander die Hoech der hoffnung. Das dritte bedeut die breyte der liebe gotes vnd vnsers nechsten.“ Ebd., o. P. (S.109). 34 Zur materialen Dimension des mittelalterlichen Manuskripts und zur Intermedialität von Schrift und Ritual vgl. Jan-Dirk Müller: Ritual, pararituelle Handlungen, Geistliches Spiel. Zum Verhältnis von Schrift und Performanz, in: Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Wien 2001 (= Schriften des kunsthistorischen Museums Wien 6), S. 63–72; Klaus Schreiner: Das Buch im Nacken. Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche, in: ebd., S. 73–96; Horst Wenzel: Ohren und Augen – Schrift und Bild. Zur medialen Transformation körperlicher Wahrnehmung im Mittelalter, in: Manfred Faßler/Wulf R.Halbach (Hg.): Geschichte der Medien, München 1998, S.109–140; ders.: Hören und Sehen – Schrift und Bild. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte audiovisueller Medien. Antrittsvorlesung an der Humboldt Universität zu Berlin (= Öffentliche Vorlesungen, Heft 6), Berlin 1995.
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medial bedingten Spannung zu dieser Beschreibung. Aufgrund ihrer spezifischen Diskursivität bildete sie das, was sie beschrieb, nämlich nicht einfach ab, sondern machte es immer auch der Reflexion zugänglich. Das lag zum einen durchaus in der Intention der Auslegung, ging es doch darum, das Beschriebene in seiner Bedeutung zu fixieren. Zum anderen jedoch präformierte der Text als Text gegen die Intention der Auslegung einen im Prinzip gänzlich anderen Gebrauchszusammenhang als den, der beschrieben wurde.Als Text nämlich forderte die Auslegung von ihrem Rezipienten einen lesenden und verstehenden, also sinnbezogenen Umgang. Der Rezipient konnte den Inhalt der Schrift nur dann begreifen, wenn er von der unmittelbaren Präsenz, von welcher die Schrift handelte, absah und sie als im Textraum stehende Zeichen verstand. Die Auslegung konterkarierte mithin das, was sie im Hinblick auf die Materialität und Medialität von Schrift innerhalb der Messe postulierte – und zwar dadurch, dass sie vom Rezipienten, der dies zu verstehen versuchte, einen gänzlichen anderen, nämlich einen sinnzentrierten Umgang mit der Schrift verlangte.35 In dieser Spannung von schriftlicher Bedeutungskonstitution und dargestellter ritueller Vollzugsform werden die Aporien deutlich, die prinzipiell in der Verschriftlichung von Präsenzsituationen lagen. Die normativ zu fixierende Anwesenheitskommunikation geriet immer wieder mit der Form ihrer Festschreibung in Widerspruch – ein Widerspruch, der dazu zwang, die Beschreibungsebene zu verlassen und eine Reflexionsebene einzuziehen. Das geschah dadurch, dass einzelne Akte nicht nur in ihrem Vollzug, sondern auch hinsichtlich ihres Bedeutungshorizonts beleuchtet wurden. Ließen sich dabei die semantischen Überschüsse noch dadurch einhegen, dass sie jeweils auf einen gegebenen Situationsrahmen bezogen wurden, so funktionierte dies im Hinblick auf den Text als ganzen nicht mehr. Die Auslegung insgesamt entwickelte somit einen narrativen Eigensinn, der nicht mehr durch eine konkrete Pragmatik gebändigt wurde. Dieser Eigensinn appellierte an ein verstehendes Subjekt, das sich deutlich von jenem unterschied, das in den beschriebenen rituellen Vollzugsformen der Messe adressiert wurde. Es war ein reflexives Subjekt, dessen innere Anteilnahme und verstehender Nachvollzug letztlich dazu tendierte, die Metaphysik der Präsenz aufzulösen und die Materialität und äußere Form ihrer Herstellung zum Problem werden zu lassen. Letztlich konterkarierte der Text als Zeichenzusammenhang damit selbst das Dargestellte. Er ersetzte Evokation durch Signifikation, Anschaulichkeit durch Lesbarkeit und äußere Ordnung durch Verinnerlichung.
35 „Als Papier und Bücher in zunehmendem Maße zur Verfügung standen und entsprechend die Lesefähigkeit stieg“, so stellt Thomas Lentes in seiner Studie über die spätmittelalterliche Andacht fest, „veränderte sich auch der Umgang mit dem Text, und die Verbindung von Quantität und Qualität begann sich zu lösen. [. . .] Seit über verstehbare Gebetstexte verfügt werden konnte, wurde das quantifizierende Beten obsolet.“ Lentes: ‚Andacht‘ und ‚Gebärde‘ (wie Anm. 27), S. 44.
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IV. Die Reformatoren setzten mit ihrer Kritik der Messe offenkundig bei den Aporien an, die durch die vorangegangene Verschriftlichung immer weiterer Felder der Frömmigkeitspraxis entstanden waren. Im Medium der Schrift explizierten sie das Problem einer den Sinnen verfallenen äußeren Ordnung, das sich vorher bereits angedeutet hatte. Gleichzeitig ging es ihnen um die Lösung dieses Problems. Und diese Lösung bestand nach Überzeugung der Reformatoren darin, in einer inversiven Wendung gegen die kritisierte Präsenzsituation die der Schriftlichkeit eigenen Sinnpostulate zu hypostasieren und damit die Schrift selbst zum Heilsmedium zu machen. In der Schrift formierte sich also nicht nur die reformatorische Kritik an der bestehenden Frömmigkeitspraxis, sondern in ihr entfalteten sich auch alle Möglichkeiten, das Kritisierte zu ersetzen und einen alternativen Heilsweg einzuschlagen. Die Schrift wurde damit gewissermaßen auf sich selbst bezogen und sie erhielt in dieser Selbstreferentialität die Signatur eines absoluten Mediums. Betrachtet man die reformatorische Antithetik von Sinn und Präsenz vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Entwicklungen, so zeigt sich, wie oben angesprochen, dass sie zunächst weniger einer historischen als einer medialen Logik gehorchte. In ihr manifestierte sich mit anderen Worten zunächst nicht ein realer Gegensatz zweier historischer Epochen, sondern eine Epistemologie der Schriftlichkeit, die durch die Reformation entfaltet wurde. Diese Epistemologie lässt sich historiographisch allerdings nicht auf einen bestimmten Bereich, beispielsweise die Theologie, einschränken und von anderen Feldern des historischen Wandels abgrenzen. Das Besondere nämlich war, dass die Epistemologie der Schrift auch die Art und Weise, wie die theologischen Ideen der Reformatoren zirkulierten und historische Gestalt und Wirkkraft gewannen, prägte. Vor allem die frühe Reformation war in ihrer engen Verbindung mit dem Druckmedium eben ein schriftliches Ereignis. Und insofern beinhaltete das Schriftprinzip immer auch jene ‚reale‘ historische Wendung, die Gumbrecht mit seiner Unterscheidung von mittelalterlicher Präsenz- und neuzeitlicher Sinnkultur im Blick hat. In diesem, aber nur in diesem Sinne ist die Antithetik von Sinn und Präsenz tatsächlich konstitutiv für den reformatorischen Epochenbruch. Um den damit angesprochene Zusammenhang von Medialität und Historizität näher zu bestimmen, muss im Folgenden noch einmal anders, nämlich beim Medienereignis Reformation und seinen drucktechnologischen Voraussetzungen eingesetzt werden. Damit ist zugleich ein Perspektivwechsel verbunden. Es geht nun nicht mehr um die von den Reformatoren entfaltete Epistemologie der Schriftlichkeit, sondern um die Schriftlichkeit als epistemologische Form, in welcher der Reformation ihre historische Gestalt gewann. Dies kann allerdings nur kurz und mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf den ersten Jahren der Reformation geschehen. Schon Martin Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie eng die Verbindung von Schriftlichkeit und Reformation war. Luthers Thesen wurden bekanntermaßen zunächst handschriftlich ver-
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schickt, sehr bald jedoch von dem ein oder anderen Empfänger in den Druck gegeben.36 Die gedruckten Thesen zirkulierten dann unter Gelehrten im Rahmen humanistischer Briefnetzwerke und fanden schließlich den Weg in eine breitere, zunächst städtische Öffentlichkeit. So lösten sie schnell eine allgemeine Diskussion über die herrschende Frömmigkeitspraxis und den richtigen Weg zur Heilsgewissheit aus. Auch diese Diskussion fand wiederum im Medium des Drucks statt, ja sie führte in den folgenden Jahren geradezu zu einer Explosion von im Wesentlichen reformatorischen Büchern, Flugschriften und Flugblättern. Buchstäblich alles, was passierte, wurde nach 1518 auch publiziert: Im Druck erschienen Predigten und Auslegungen Luthers sowie Berichte über die stattfindenden Disputationen; die Dokumente des beginnenden römischen Prozesses wurden gedruckt und im Druck polemisierte Luther gegen die Missstände der Kirche und den Papst.Allein für das Jahr 1520 lassen sich Luther 27 Titel in 270 Auflagen zuweisen. Das waren 900 Druckseiten, die in einer halben Million Druckschriften vervielfältig wurden.37 Ein Charakteristikum dieser regelrechten Explosion an Druckschriftlichkeit bestand darin, dass die Schriften das Geschehen nicht einfach abbildeten, sondern selbst zum Handlungsträger wurden.38 So wurden Ereignisse zum einen von vornherein prospektiv im Hinblick auf die gedruckte Berichterstattung inszeniert. Das geschah beispielsweise bei der Verbrennung der päpstlichen Bannbulle durch Luther und Wittenberger Studenten 1520, der Luther sofort einen gedruckten Bericht, „warumb des Bapsts und seiner Jungern Bucher von Doctor Martino Luther vorbrannt sein“, folgen ließ.39 Dabei wurde nicht nur die symbolische Vernichtung des päpstlichen Schriftstücks sofort massenmedial verbreitet, sondern auch das vernichtete Schriftstück wurde drucktechnisch reproduziert und wieder in Umlauf gebracht.40 Zum anderen wurden durch die Drucklegung auch Ereignisse, in welchen Luther von Angesicht zu Angesicht auf seine römischen Gegner traf, überformt und als Reformatorische reinszeniert. So triumphierte in den gedruckten Akten der Leipziger Disputation von 1519, die eigentlich mit einer klaren Niederlage des Wittenberger Professors gegenüber seinem Kontrahenten Eck geendet hatte, die Reformation.41 36 Zu Luthers Thesen vgl. Walther Köhler: Luthers 95 Thesen samt seinen Resolutionen sowie den Gegenschriften von Wimpina-Tetzel, Eck und Prierias und den Antworten Luthers darauf, Leipzig 1903; Kurt Aland (Hg.): Die 95 Thesen Martin Luthers und die Anfänge der Reformation, Gütersloh 1983; Volkmar Joestel: Luthers 95 Thesen. Der Beginn der Reformation, Berlin 1995. 37 Vgl. zu diesen Zahlen Burkhardt: Reformationsjahrhundert (wie Anm. 7), S. 44. 38 Vgl. zum Folgenden ebd., S.17ff. 39 Martin Luther: Warumb des Bapsts vnd seyner Jungernn bucher von Doct. Martino Luther vorbrant seynn. Lasz auch anczeygen wer do wil. warumb sie D. Luthers bucher vorprennet habenn, Wittenberg 1520 [VD 16 L 7366]. 40 Dies war durchaus kein Einzelfall. Die Reformatoren ließen immer wieder auch die Dokumente der römischen Gegner (teils unkommentiert) vervielfältigen. 41 Vgl. u. a. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M. 2009, S. 233ff., sowie Volker Leppin: Martin Luther, Darmstadt 2006 (= Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S.144ff.
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Der Druck war zu Beginn der Reformation also ein Medium, das alles umfasste und dieses alles zu einem Reformatorischen machte. In Vorreden und Widmungsschreiben bestimmten die Reformatoren den Zweck der jeweiligen Schrift und verwiesen auf ihre Kontexte, im Text selbst nahmen sie Bezug auf das vorangegangene Geschehen und auf frühere Schriften. So fügten sich in den Druckschriften die Geschehnisse, die Bedingungen ihrer Erkenntnis und die Möglichkeiten zu handeln zusammen. In einem epistemologischen Sinne gab es damit kein Jenseits des Schriftmediums. Während unter den Bedingungen der Anwesenheit das Geschehen einer sequentiellen Logik folgte und es eindeutige Zurechnungsmöglichkeiten von Intentionen, Handlungen und Ereignissen gab, konstituierte sich die Reformation mit anderen Worten eher als ein poetisches Ding: als eine Fülle von Informationen und Daten, eine Mannigfaltigkeit von gedruckten Worten und sukzessive auch Bildern, die sich nicht ohne weiteres und schon gar nicht für die Leser zur Persistenz eines dauerhaften empirischen Objekts fügten. Und ebenso wie dieses Objekt fehlte, fehlten im Grunde auch die Akteure, jedenfalls in einem ontologischen, substanziellen und historisch stabilen Sinne. Martin Luther oder häufig auch abgekürzt M. L. oder D. M. L. war die Chiffre für einen Autor. Er produzierte Schriften und war selbst Gegenstand weitere Schriften. Auch wenn er wie im Falle der Verbrennung der Bannbulle als Handelnder adressiert wurde oder im Falle der ersten Abbildungen seit 1519 als Reformator mit einem Gesicht und einem Körper in Erscheinung trat, so waren dies doch Effekte der medialen Verbreitung.42 Alle für das historische Ereignis „Reformation“ relevanten Referenzen standen und entstanden in einem inner- und intertextuellen Verweisungszusammenhang und sie realisierten sich deshalb nur im Rahmen schriftbezogener semantischer Operationen und narrativer Verfahrensweisen. Hinsichtlich dieser Textimmanenz des frühen Reformationsgeschehens gab es im Grunde nur eine Ausnahme. Das waren die ersten Thesendrucke. Sie nämlich enthielten noch keine ihre Bedeutung erhellenden Paratexte. Es gab keine inhaltliche, sondern nur eine numerische Gliederung, auch keinen typographischen Hinweis auf besonders heikle und explosive Textstellen durch Kursivierung oder eine andere Art der Hervorhebung. Allein als gedruckter Text hatten die Thesen noch keine Zeitform. In ihrer Materialität erscheint die mit schwarzen, gleichmäßigen Lettern eng bedruckte Seite geradezu hermetisch. Nur im Falle des Leipziger Drucks von 1517 findet sich in der Überschrift ein kurzer Hinweis darauf, dass die Thesen ursprünglich für eine akademische Disputation verfasst worden waren. Denjenigen, so heißt es, die nicht anwesend sein und deshalb mit Worten verhandeln könnten [„verbis presentes nobiscum disceptare“], sollte es durch die Verschriftlichung ermöglicht werden, dies in Abwesenheit mit Buchstaben zu tun [„agant id literis absentes“]. Nicht Schrift bildete hier also den Bezugsrahmen, sondern eine Interaktion unter körperlich Anwesenden, in welcher nach klar elaborierten Regeln die Tragfähigkeit des schriftlich Niedergelegten erprobt werden 42 Zu den vervielfältigten Lutherbildern vgl. Martin Warnke: Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt a. M. 1984.
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Abb.1: Martin Luther: 95 Thesen über Ablass und Gnade. Einblattdruck, Leipzig 1517. ZStA Dienstst. Merseburg, Rep 13 Nr. 4–5a, Fasz. 1. – Druck B [Leipzig: Jakob Thanner] 1517.
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sollte. Dass sie als Schriftstück eine historische Wirkung zeitigten, die weit über ihren ursprünglich vorgesehenen Verwendungskontext hinausging, lässt sich nur anhand eines überlieferten Exemplars erkennen (vgl. Abb.1).43 In einer Notiz am oberen rechten Rand wurde hier handschriftlich festgehalten, dass mit den am 31. Oktober 1517 veröffentlichten Thesen die Ablässe zum ersten Mal bekämpft worden seien: „Anno 1517 ultimo Octobris, vigilie Omnium sanctorum, indulgentie primum inpugnate“. Mit dieser Marginalie ordnete Luther selbst den Thesendruck im Wissen um seine Folgen in jenen schriftlichen Ereigniszusammenhang ein, der die frühe Reformation prägte.
VI. Damit noch einmal zurück zur Antithetik von Sinn und Präsenz. Nicht nur im Hinblick auf die theologischen Inhalte, sondern auch für die historischen Verlaufsformen der Reformation war Schriftlichkeit konstitutiv.Theologisch wurde dieser Umstand durch das Schriftprinzip reflexiv gemacht. Im Grunde besagte das Schriftprinzip, dass Heilsgewissheit und Schriftsinn miteinander in eins fallen, wenn man sich reflexiv auf das bezieht, mit was man reflektiert. Genau diese Selbstreferentialität trennte die Schrift von der Anwesenheitskommunikation der überkommenen Frömmigkeitspraxis. Insofern die Reformation auch in ihrer historischen Ereignishaftigkeit auf Schriftlichkeit gründete, konnte sie an dieser Wendung gegen die Metaphysik der Präsenz partizipieren. In dem Maße, in dem die Reformation als historisches Geschehen Sinn machte, war auch sie ein Erlösungsgeschehen. Um allerdings Sinn zu machen, bedurfte es hier Erzählstrukturen, die die Dimension von Anwesenheit und Präsenz nicht ausklammerten, sondern einschlossen. Mit Heilspräsenz im engeren Sinne hatte dies freilich zunächst nichts zu tun. Vielmehr ging es um die Lösung eines Problems, das sich durch die drucktechnisch induzierte Dynamik der ersten Reformationsjahre ergeben hatte. Da die frühe Reformation weder einen klar zu definierenden Gegenstand noch historisch stabile Akteure besaß, ließen sich auch Wirkungen nicht auf Ursachen oder Schriftstücke auf Ereignisse und diese wiederum auf konkrete Personen und deren Intentionen zurückrechnen. Es existierte mit anderen Worten ein Zurechnungsproblem, in dem es um nichts weniger als den Sinn der Reformation ging. Zur Lösung dieses Problems kam es im Jahr 1521 auf dem Wormser Reichstag. Er ist für den weiteren Verlauf der Reformationsgeschichte insofern von zentraler Bedeutung, als sich die Reformation hier im Spannungsfeld von Druckmedien und 43 ZStA Dienstst. Merseburg, Rep 13 Nr. 4–5a, Fasz. 1. – Druck B [Leipzig: Jakob Thanner] 1517. Zu diesem Druck und zu Luthers handschriftlicher Bemerkung vgl. Reiner Groß/Manfred Kobuch/Ernst Müller (Hg.): Martin Luther 1483–1546. Dokumente seines Lebens und Wirkens, Weimar 1983, S. 72, sowie Jutta Kraus/Günter Schuchardt (Hg.): Aller Knecht und Christi Untertan. Der Mensch Luther und sein Umfeld. Katalog der Ausstellung zum 450. Todesjahr 1996, Wartburg/ Eisenach 1996, S.198f.
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Anwesenheitskommunikation zu einem Gegenstand, und zwar einem historischen Gegenstand mit klaren Zurechnungsmöglichkeiten von Subjekt, Medium und Ereignis, ausbildete. Im Mittelpunkt stand dabei eine Präsenzsituation, in welcher es, so zumindest die daran geknüpften reformatorischen Narrative, zu einem unmittelbaren Eintritt des Gotteswortes in die Welt kam. Was sich von Luthers Ankunft in Worms am 16. April bis zu seiner überstürzten Abreise zehn Tage später ereignete, ist in zahlreichen zeitgenössischen Berichten überliefert, von welchen eine Vielzahl schon während des Reichstags selbst erschien.44 Das was in Worms geschah, ereignete sich also innerhalb des durch die Druckmedien bestimmten Rahmens, eines Rahmens allerdings, der sich in der Logik der Anwesenheitskommunikation veränderte, transformierte und neu bestimmt wurde. Um diese Transformation in den Blick zu bekommen, muss man die Emergenz dessen, was in Worms geschah, also das „Wie“ und nicht das „Was“ näher betrachten. Dieses „Wie“ war wesentlich dadurch geprägt, dass die reformatorischen Schriften in den Verhandlungen nicht als Text, sondern in ihrer konkreten Materialität zum Handlungsträger wurden. Entgegen den Erwartungen des Wittenbergers hatte man ihn nämlich nicht als Disputanten nach Worms gerufen. Als Luther einen Tag nach seiner Ankunft vor den Kaiser und die Reichsstände trat, fand er einen Tisch mit den Drucken seiner wichtigsten Schriften vor, deren Titel einzeln auch noch einmal verlesen wurden.45 Vor den ausliegenden Büchern wurde er vom Trierer Offizial von Ecken aufgefordert, zu diesen Schriften in zweierlei Weise Stellung zu nehmen: Er sollte zunächst die Urheberschaft der Schriften, die unter seinem Namen an zahllosen Orten im Reich erschienen waren, öffentlich bestätigen.46 Anschließend sollte er sich zu deren Inhalt äußern, das Anerkannte als seine Meinung aufrechterhalten oder etwas davon widerrufen. Es ging mithin um Zuschreibungsfragen. Ziel dieses Verfahrens war es, die Identität der Schriften und ihres Urhebers herzustellen, um gegebenenfalls beides im Rahmen eines Prozesses aus der Welt zu schaffen. Aus dieser Spannung heraus entwickelte sich die folgende Dynamik, ohne jedoch die von der kaiserlichen Seite intendierte Wendung zu nehmen. Luther 44 Eine Auswahl ist unter dem Titel „Verhandlungen mit D. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms (1521)“ abgedruckt in WA 7, S. 816–887. Vgl. ergänzend auch Eva-Maria Steltzer (Hg.): Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms. 12 Flugschriften, Köln 1983, sowie Otto Clemen: Eine Wormser Flugschrift vom 14. Mai 1521, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 20 (1900), S. 445–452, und Gisela Möncke: Eine neu entdeckte zeitgenössische Flugschrift über Luther in Worms, in: Archiv für Reformationsgeschichte 80 (1989), S. 24–46. Grundlegend zum Wormser Reichstag ist Fritz Reuter (Hg.): Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, Worms 1971. 45 Im konkreten Falle handelte es sich um Basler Drucke. Darunter befanden sich schon mehrere ‚Werkausgaben‘, d. h. Sammlungen seiner lateinischen bzw. deutschen Schriften, die bereits zwischen 1518 und 1520 gedruckt wurden.Vgl. dazu Bernd Moeller: Das Berühmtwerden Luthers, in: ders.: Luther-Rezeption (wie Anm.12), S.15–41, hier S. 41. 46 „Principio, ob libros hactenus tuo nomine vulgatos agnoscas hic coram, si tui sint, Deinde, iam agnitos an omnes pro tuis haberi an quicquam ex eis revocare velis?“ Acta et res gestae D. Martini Lutheri in Comitiis Principum Wormatiae (1521), WA 7, S. 825–857, hier S. 828, 4–6. Dieser Bericht wurde auf der Basis von Luthers eigenen Aufzeichnungen angefertigt, was sich u. a. daran zeigt, dass in der Wiedergabe von Luthers Rede die erste Person beibehalten wurde.
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bestätigte zunächst seine Autorschaft, erbat sich jedoch im Hinblick auf die zweite Frage mit Hinweis auf ihre Bedeutsamkeit für das Seelenheil Bedenkzeit.47 Trotz der Bemerkung von Eckens, dass dieses Erbieten für einen so berühmten Theologieprofessor erstaunlich sei, wurden die weiteren Verhandlungen auf den folgenden Tag verschoben.48 Damit folgten die weiteren Ereignisse einer neuen Dramaturgie. Ob gewollt oder ungewollt, mit der Bestätigung der Urheberschaft einerseits und der Bitte um Bedenkzeit den Widerruf betreffend andererseits war es zu einer Verdoppelung des Autors in der Materialität des gedruckten Buches und der Materialität des Körpers gekommen. Luther bestätigte zwar zunächst die formale Verantwortung für die Schriften, konterkarierte jedoch den Versuch einer einsinnigen Zurechnung des Gedruckten zu seiner Person. Die Urszene des Wormser Reichstags, ja die Urszene der Reformation folgte am nächsten Tag den Gesetzen einer Anwesenheitskommunikation; sie ereignete sich in den Beziehungen zwischen Körpern, Bewegungen und Gesten, Büchern, Worten und Gegenständen, zwischen Akteuren, Zuschauern – und Lesern.Als der Wittenberger zum vereinbarten Zeitpunkt zum Hof des Kaisers kam, wurde er noch einmal aufgefordert, seine Schriften zu widerrufen. Luther antwortete, wie es hieß, in bescheidener, doch aufrechter, entschlossener, seine Gegner beeindruckender Weise.49 Er bekräftigte zunächst noch einmal seine Antwort vom Vortag, „esse videlicet eos libros meos meoque nomine a me evulgatos“.50 An Stelle einer kurzen Antwort auch auf die zweite, die aus Sicht der Versammlung entscheidende Frage nach dem Widerruf gab Luther zunächst eine längere Erklärung über die unterschiedlichen Gattungen seiner Schriften ab. In allen Fällen jedoch lehnte er den Widerruf ab, es sei denn, er werde „scripturis propheticis et Euangelicis“ widerlegt.51 Luthers Stellungnahme sorgte für Unruhe, denn es war nun offensichtlich, dass die Strategie der kaiserlichen Partei nicht aufging. Luther hatte eine Aufhebung der Differenz von Schriften und Person dadurch verweigert, dass er sie als TextCorpus behandelte und forderte, nach Kriterien innertextueller Verfahren, dem Schriftvergleich, zu beurteilen. Die folgende, ungehaltene Reaktion des „Orator Imperii“ zielte noch einmal auf die klare Zurechnung der Bücher zur anwesenden Person des Reformators. Er forderte Luther auf, „simplex, non cornutum“ zu sagen, ob er widerrufen wolle oder nicht.52 Luther antwortete nun kurz und apodiktisch: „Nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente [. . .], victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit. Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.“53 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 829, 5–10. Ebd., S. 831, 6–7. Vgl. ebd., S. 831, 11–13. Ebd., S. 832, 16–17. Ebd., S. 834, 21. Ebd., S. 837, 1–2. Ebd., S. 838, 4–9.
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Luther legte damit ein Bekenntnis ab. Er berief sich auf sein Gewissen, das im Wort Gottes gefangen sei – überwunden durch die Schrift – und betonte, dass er gegen dieses Gewissen nicht handeln könne. Und er machte deutlich, dass er, wenngleich aufgrund der menschlichen Irrtumsfähigkeit nicht für die Wahrheit des Gedruckten, so doch für diese Gewissensentscheidung mit seiner ganzen Person, seinem Körper und seinem Leben einstehen würde. Als einem objektiv vorhandenen Werk trat Luther also seinen Büchern gegenüber, und er bestimmte sein Verhältnis zu diesem Werk in einem Akt innerer Reflexion. Die Überzeugungskraft dieses Bekenntnisses entfaltete sich offensichtlich nicht auf der Basis der Feststellung einsinniger Zurechnungen, weder der von Personen und Schriften, noch der von Aussagen und Gegenständen. Luther nahm zunächst die in der Logik des Druckmediums liegende Trennung zwischen Werk und Autor auf, transformierte sie jedoch dadurch, dass er in einem performativen Akt eine Selbstbeziehung ins Spiel brachte, also gewissermaßen den Raum des Textes verließ, um als konkrete Person für das Werk einzustehen. Dazu gehörte die gegenseitige Wahrnehmung, das Wechselverhältnis von Ereignis und Beobachtung, von Akteuren und Zuschauern. Der Augenblick war ausschlaggebend, die Anordnung der Gegenstände und Personen, die Öffentlichkeit der versammelten weltlichen und geistlichen Würdenträger des Reiches, auch der Statisten vor den Türen und Fenstern. In diesem Bekenntnisakt bekam die Beziehung zwischen Büchern und Autor also eine konkrete Zeitform: sie ereignete sich auf der Ebene der Materialität, der Körperlichkeit von Menschen, Dingen und gedruckten Büchern. Das Titelbild eines Augsburger Drucks von 1521 zeigt das lutherische Bekenntnis als Interaktionszusammenhang (vgl. Abb. 2).54 Im Vordergrund ist der gestikulierende Luther im Mönchsgewand zu sehen, im Disput mit einem Vertreter der römischen Kirche, dessen Gestik und Mimik ebenfalls die sich auf der Ebene der Körperlichkeit abspielende Dramaturgie betonen. Begleitet und unterstützt werden beide Akteure durch ihre jeweiligen Anhänger, die sich im Bildvordergrund jeweils dicht hinter den beiden Kontrahenten versammelt haben. Der Anlass und gleichermaßen der Handlungsträger der Wormser Ereignisse ist im Bildmittelpunkt abgebildet: Es sind die Schriften Luthers, die gewissermaßen die Bühne bereiten, auf welcher sich die Kontrahenten begegnen. All das spielt sich vor einer Öffentlichkeit ab, die sich gleichsam zwischen den im Bildhintergrund befindlichen Vertretern des Kaisers und Reichs einerseits und dem Bildbetrachter selbst andererseits konstituiert. Das Bild stellt das Ereignis in seiner konkreten Materialität vor Augen jener Betrachter, die nicht anwesend waren, um sie damit zu Beteiligten zu machen, zu Zeugen eines Geschehens, dessen Verlauf im Text im Einzelnen geschildert wurde.
54 Martin Luther: Doctor Martini Luthers offentliche verhör zu Worms im Reychstag / Red vnnd widerred / am 17. tag Aprilis / im jar 1521. Beschechen Copia ainer Missiue / Doctor Martinus Luther nach seinem abschid zu Worms zu rugck an die Churfürsten / Fürsten / Vnd stend des Reichs daselbst verschriben gesamlet hatt, Augsburg 1521, AIIv [VD 16 L 3655].
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Abb. 2: Doctor Martini Luthers offenliche Verhör zu Worms [. . .]. Augsburg 1521, Titelholzschnitt. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: [A: 151.25 Theol. (6)].
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Als Manifestation des Gewissens ereignete sich das Bekenntnis, das brachte der Holzschnitt zum Ausdruck, zu einem konkreten Zeitpunkt, an einem konkreten Ort und vor den Augen einer Öffentlichkeit. Die Transformation von Gewissen in Gewissheit verlangte die Ereignishaftigkeit eines Geschehens, eben den tatsächlichen Vollzug einer Setzung. Erst im Vollzug einer Setzung wurde etwas geschaffen, was über die Subjektivität des Bekennenden hinauswies. Erst der Vollzug brachte die Materialität ins Spiel, stiftete eine tatsächliche, konkrete Beziehung zwischen Wörtern und Dingen, Personen und Büchern. Die Materialität des Zeigens und Sich-Zeigens des Bekenntnisaktes transformierte das Sagbare und das Zeigbare in etwas historisch konkretes und einmaliges, in dem sich jedoch etwas Grundsätzliches offenbarte: Das im Wort Gottes begründete Gewissen ließ das, was drucktechnisch seit den Thesen gewissermaßen als historische Option der Reformation ins Spiel gebracht wurde, Wirklichkeit werden. Es gab einen klaren Zusammenhang zwischen innerer Gewissensüberzeugung, der drucktechnischen Verbreitung reformatorischer Schriften und historischer Veränderung. Und dieser Zusammenhang wurde von den Zeitgenossen als ein unmittelbarer Eintritt des Gotteswortes selbst in die Geschichte interpretiert. In Worms also kam die Unmittelbarkeit des Gotteswortes, die Präsenz des Transzendenten zum Ausdruck. Als Präsenz des Transzendenten bekam das Bekenntnis Luthers vor Kaiser und Reich freilich wiederum erst im Zusammenhang mit der massenhaften Verbreitung gedruckter Berichte seine tatsächliche historische Wirkmächtigkeit. Gemeinsam war diesen Berichten die Umsetzung der Wormser Interaktionssituation in Narrationsmuster und Bilder, die die Bedeutung von Texten und Aussagen an Situationen banden, in welchen Personen unter konkreten Umständen nach ihrem Gewissen handelten. Das Bekenntnis, das Luther in Worms abgelegt hatte, verlieh von nun an allen weiteren reformatorischen Schriften ihren Sinn.Auch sie besaßen Bekenntnischarakter und materialisierten sich immer wieder auch ganz konkret in Bekenntnissen, also in Akten, die in und durch die Geschichte Wirkungskraft entfalteten.55 Aber auch der Beginn der Reformation erhielt im Lichte des Wormser Bekenntnisses seinen Sinn. Das Narrativ von Luthers Thesenanschlag, das noch vor Luthers Tod in reformatorischen Kreisen entstand und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auch die historiographischen Reformationsdarstellungen prägte, explizierte eine dem Wormser Geschehen analoge Konstellation von Anwesenheit und Druckmedium, von unmittelbarer Präsenz und medialer Vermittlung.56 Auch in ihm wurde ein Spannungsfeld von Zeigen und Sich-Zei55 Vgl. dazu grundsätzlich Irene Dingel: Bekenntnis und Geschichte. Funktion und Entwicklung des reformatorischen Bekenntnisses im 16. Jahrhundert, in: Johanna Loehr (Hg.): Dona Melanchthoniana. Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, S. 61–81. Zur späteren Bekenntnisgeschichte vgl. Robert Kolb: Confessing the Faith. Reformers Define the Church 1530–1580, St. Louis 1991. 56 Zur Geschichte dieses Narrativs sowie zur kürzlich wieder aufgeflammten Diskussion, ob es den Thesenanschlag tatsächlich gab, vgl. Erwin Iserloh: Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Münster 1966, sowie Joachim Ott/Martin Treu (Hg.): Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9).
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gen entworfen, in welchem sich Schriftstücke, Subjekte und Handlungen zu einem wirkungsmächtigen historischen Zusammenhang fügten. Im 16. Jahrhundert war dieser Zusammenhang nichts anderes als die Chiffre für die Präsenz des Transzendenten, nämlich ein Beweis dafür, dass Gott, wie es der Lutherbiograph Johannes Mathesius ausdrückte, den Wittenberger als „ein außerwelten werckzeug zu seinem werden wort erwecket/vnd mit seinem freydigen vnd vnerschrocken geyste gestercket/das er sein Christliche vnd bestendige bekentnus frey vnd getrost gethan“.57 Das Narrativ des Thesenanschlags explizierte damit ein für die Reformation insgesamt charakteristisches Verhältnis von unmittelbarer Präsenz und medialer Vermittlung.
57 Johannes Mathesius: Historien / Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes / Doctoris Martini Luthers / anfang / lehr / leben vnd sterben / Alles ordendlich der Jarzal nach / wie sich alle sachen zu jeder zeyt haben zugetragen / Durch den Alten Herrn M. Mathesium gestelt / vnd alles für seinem seligen Ende verfertigt, Nürnberg 1566, Giiijr [VD 16 M 1490].
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Die Depotenzierung traditioneller Gnaden- und Heilsmedien „Christus ist allein ein mitler zwischen Gott und uns [. . .] Ist Christus unser erloe sung vom tod, teüffel, hel und sünd, so mag auch er unß allein fürohyn vor des teüfels gespae nst erhalten, on [= ohne] alle mittel [. . .].“1
Wäre mit der gut reformatorischen Hyperpotenzierung des solus Christus und der damit verbundenen Wertlosigkeit aller Medien, wie Eberlin von Günzburg es hier mit den Worten „on alle mittel“ formuliert, die Rolle aller traditionellen Gnadenund Heilsmedien zutreffend geklärt, könnte ich meine Ausführungen gleich wieder beenden. Dass sich der Sachverhalt bei näherer Betrachtung allerdings komplizierter darstellt, wird im Folgenden zu erläutern sein. Oft schon wurde versucht, die Veränderungen im religiösen und kirchlichen Leben, die durch die Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hervorgerufen wurden, in Erklärungsmodelle oder Kategorien zu fassen. Ich erwähne nur die Schlagwörter „Kontinuität und Umbruch“2, „renovatio und innovatio“3, Kulturelle Reformation der Sinnformationen4, Transformationen5 oder zuletzt das Emergenz-Modell6. Unter „Depotenzierung“ steht hier nun die Kategorie einer radikalen Entmachtung, Entwertung, eines „umbstossen[s]“7 oder unum1 Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel eins Christlichen lebens [. . .], in: Johann Eberlin von Günzburg. Sämtliche Schriften, Bd. 3, hg. von Ludwig Enders, Halle a. S. 1902 (= Flugschriften aus der Reformationszeit 18), S. 97–109, hier: S.104. 2 Vgl. dazu den aus dem Tübinger SFB 8 hervorgegangenen Tagungsband von Josef Nolte/Hella Tompert/Christof Windhorst (Hg.): Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit in Flugschriften und Kleinliteratur an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, Stuttgart 1978 (= Spätmittelalter und Reformation 2); Stephen E. Buckwalter/Bernd Moeller (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199). 3 Vgl. Berndt Hamm: Wie innovativ ist die Reformation?, in: ZHF 27 (2000), S. 481–497 [auch in: Andreas Holzem (Hg.): Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion, Darmstadt 2004, S.141–155]. 4 Vgl. Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttingen 1999 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145). 5 Vgl. Volker Leppin: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 140 (2008), S. 5–45. 6 Vgl. Berndt Hamm: Die Emergenz der Reformation, in: Ders./Michael Welker (Hg.): Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, S.1–27. 7 Lazarus Spengler: Schriften, Bd.1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525, hg. von Berndt Hamm u. a., Gütersloh 1995 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 74), S. 381,6 (Verantwortung und Auflösung, 1523).
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kehrbaren Abbruchs im Vordergrund, der an einigen Beispielen der traditionellen Gnaden- und Heilsmedien verdeutlicht werden soll. An dieser Stelle möchte ich auch kurz auf die traditionelle Terminologie der „Gnaden- und Heilsmedien“ eingehen: Das Heil selbst ist die himmlische Seligkeit, in der es keine Medialität mehr gibt, sondern nur die geistige Unmittelbarkeit der Schau Gottes; Gnade hingegen ist die von Gott kommende Kraft, die den Menschen zum Heil führt. „Während das himmlische Heil selbst in der puren Unmittelbarkeit zu Gott besteht, ist für die Gnade auf dem Weg zum Himmel die Medialität, die zeichengebundene Gnadenvermittlung, charakteristisch.“8 Heilsmedien sind daher streng genommen Gnadenmedien, die zum Heil führen.
I. Gnaden und Heilsmedien im ausgehenden Mittelalter Um auf die Depotenzierung in der Reformationszeit eingehen zu können, soll ein kurzer Blick auf die Macht der traditionellen Gnadenmedien in der Zeit davor geworfen werden. Mittels welcher Gnadenmedien konnte der Gläubige bislang seinem Ziel näherkommen? Dass das späte Mittelalter eine sehr fromme Zeit in dem Sinne war, dass die Menschen das Heilige in irdischen Personen und Gegenständen als präsent und erlebbar empfanden, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Dies führte in der frömmigkeitsgeschichtlichen Praxis nicht nur zur Intensivierung der Formen der Gnaden-/Heilsaneignung des Einzelnen, sondern auch zur Verstärkung der objektiven Quantifizierung des Gnaden- und Heilsgewinns9. Verschieden können dabei die Wege sein: Was Berndt Hamm mit dem Konzept der „nahen Gnade“ vorgestellt hat10, beschreibt einerseits die Phänotypen des unmittelbaren Wegs in der Tradition der Mystiker, andererseits auch die vielfältigen Formen, die mittels der Vertreter der kirchlichen Hierarchie oder mittels vielfältiger neuer Medien den Weg zum Heil ebneten. „Die Nahvergegenwärtigung der Gnade und die Entwicklung einer neuartigen Medialität stehen in enger Wechselbeziehung und verstärken einander.“11 Die neuartige Medialität bedient sich neuer Arten zeichengestützter Mitteilung und Vermittlung in dem Kommunikationsgeschehen, in welchem das göttliche Heil an den Menschen herangetragen wird. Zu den neuen Formen dieser Medalität gehörten etwa die in enorm großer Anzahl auf8 Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich und Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), Kap.14, S. 513–543: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität, hier: S. 515. 9 Vgl. Leppin: Wittenberger Reformation (wie Anm. 5), S.11–14; Ders.: Repräsentationsfrömmigkeit.Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Mario Fischer/Margarethe Drewsen (Hg.): Die Gegenwart des Gegenwärtigen. Festschrift für Gerd Haeffner, Freiburg i. Br./München 2006, S. 376– 391. 10 Vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), Kap.15, S. 544–560: Die „nahe Gnade“ – innovative Züge der spätmittelalterlichen Frömmigkeit. 11 Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), S. 513.
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tretenden Ablässe, Wallfahrten, Prozessionen, Gebete (Rosenkränze, Stundengebete) oder Meditationen (z. B. Passionsmeditationen), Messen, Stiftungen, die Erzeugnisse der neuen Drucktechniken wie kleine Erbauungsschriften, etwa der Ars moriendi, oder die Zunahme von Bildmedien. Gerade die beiden letztgenannten Medien, Text und Bild, wurden im Druck nun oft kombiniert. Das innovativste Medium einer solchen Kombination bildete seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der illustrierte Einblattdruck12. Die entscheidende Frage ist nun, wie man diese mediale Kontaktsphäre zwischen Mensch und Gott beschreiben kann.Wie wird die Präsenz Gottes mit der Art der Vermittlung des Heils verbunden? Berndt Hamm hat dazu erst jüngst eine Typologisierung der Gnadenmedialitäten vorgelegt13, die ich kurz skizzieren möchte: 1.) Christus gilt im Mittelalter als Gnadenmedium erster Ordnung. Gott tritt durch seine Inkarnation und Passion und damit als Medium der Leibhaftigkeit des Erlösers in die innigste leiblich-seelische Kommunikation zum Menschen. Seit dem Hochmittelalter, vor allem seit Bernhard von Clairvaux, wird der nahpräsente Erlöser, das Christkind und der Schmerzensmann, zum Gnaden- und Heilsmedium schlechthin, am mannigfachsten in der Ikonographie seiner Leiden dargestellt und in passionsfrömmigkeitlichen Schriften, Erbauungstexten oder Gebeten vertreten. Bekannt sind beispielsweise die Darstellungen mit der Symbolik des aus der Seitenwunde auf die andächtig-meditierende Gestalt des Stifters oder der Stifterin herabfließenden Blutes; so soll eine größtmögliche Nähe der Gnade Gottes zum Betrachter versinnbildlicht werden. Dazu zählen auch die Bilder des SichHerabneigens des Erlösers, des Umarmens, mit dem Christus den Menschen in Liebe umfängt, des Schmeckens und Küssens, die alle auf eine verinnerlichende Nah-Vergegenwärtigung in der Kontaktsphäre der Meditation zielen. Diese Basismedialität des Kommunikationsgeschehens zwischen Gott und Mensch in Christus wird allerdings nach mittelalterlichem Verständnis noch um die gnadenreiche Mitwirkung Marias, der Heiligen und der Engel erweitert. Denn wie Volker Leppin gezeigt hat, sind die Heiligen als Repräsentanten Christi mit Christus zusammen Heilsmittler14 und bilden durch ihre mitleidende und passionsförmige Heiligkeit zusammen mit Christus die Ursprungskommunikation der Gnadennähe. 2.) Davon kann man als Gnadenmedialität zweiter Ordnung die Partizipationsmedialität unterscheiden.Wenn die Menschen in Kontakt zur gnadenreichen Heiligkeit der Basismedialität treten und sich Heil aneignen wollen, gebrauchen sie 12 Vgl. dazu jetzt die materialreiche Studie von Sabine Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 7). 13 Zum Folgenden vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), S. 513–543 (mit ausführlichen Literaturangaben). 14 Vgl. Leppin: Repräsentationsfrömmigkeit (wie Anm. 9), S. 382–386; ders.: Christus nachfolgen – Christi Nähe erfahren – Christus repräsentieren, in: ZKG 118 (2007), S. 320–335.
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Medien wie die Heilige Schrift, Heiligenlegenden, Erbauungstexte, Meditation, Gebet, Glaubensbekenntnis, Predigten, Sakramente (wie Buße, Eucharistie und Krankensalbung) und Sakramentalien (wie beispielsweise Weihwasser und Kräuter), Reliquien, Ablässe, Gnaden- und Kultbilder (wie etwa die ‚Vera icon‘ in Rom und ihre zahlreichen Repliken), Wallfahrten (in die Ferne und Nähe) und vermittelnde Personen der kirchlichen Hierarchie. Dabei kann es auch zur Verbindung verschiedener Partizipationsmedien kommen, so etwa, wenn Gläubige aufgefordert werden, vor einem Kultbild niederzuknien und ein bestimmtes Gebet zu sprechen, wofür ihnen ein Ablass in bestimmter Höhe versprochen wird. Eine ungelöste Frage blieb im Mittelalter allerdings, „welche Qualität und Aktivität, Mühe und Würdigkeit vom Menschen gefordert sind, um der Gnadenschätze Christi und der Heiligen teilhaftig werden zu können“15. Das Problem war also, dass die für den Menschen nötige Partizipation an der Gnade, z. B. der Weg nach Rom oder die Empfindung einer wahren Reue, für ihn sehr schwierig, aufwendig und unsicher sein konnte. 3.) Als Gnadenmedialität dritter Ordnung wird daher eine Art von Erleichterungs- oder Hilfsmedialität angeboten. Im Vordergrund stehen dabei Medien, die den Zugang zu der durch die Partizipationsmedien vermittelten Teilhabe an rettender Gnade und Heiligkeit erleichtern sollen; möglichst vielen Menschen bieten sie eine „nahe Gnade“ ohne großen Aufwand an Mühe, Zeit und Geld. So ermöglichten die erwähnten Darstellungen der ‚Vera Icon‘, d. h. Vervielfältigungen des angeblich originalen Abbildes des Antlitzes Christi auf dem in der Peterskirche zu Rom aufbewahrten Schweißtuch der Veronika, den mühelosen und kostengünstigen Zugang zu einer Gnade, die sonst nur durch den strapaziösen Weg über die Alpen zu erreichen war. Als weitere Beispiele für solche Hilfsmedien können hier auch die Nahwallfahrten oder Heiltumsweisungen erwähnt werden, die Reliquien und Gnadenbilder für viele in leicht erreichbare Nähe rückten – so wie auch die Elevation den visuellen Zugang zum Leib Christi in der täglich zu besuchenden Messfeier vor Ort erleichterte. Darüber hinaus waren es aber vor allem die Einblattdrucke mit oder ohne begleitende Inschrift, die durch ihre kostengünstige und vervielfältigte Verbreitung den Zugang zu Andachtsbildern und -texten und Ablässen erleichterten.Auch handelnde Bilder, wie der Palmesel, die Himmelfahrtstaube oder die Grablegungen der Christusfigur, geistliche Spiele und geistliche Lieder können zu diesem Typus gezählt werden16. 15
Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), S. 526. Vgl. Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsgeschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 1996; Cécile Dupeux/Peter Jezler/Jean Wirth (Hg.): Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Katalog zur Ausstellung des Bernischen Historischen Museums, Bern 2000, S. 218–243, Kat.-Nr. 74–92 (Handelnde Bilder im Kirchenjahr); Dorothea Freise: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsfeld, Göttingen 2002 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178); Ulrike Hascher-Burger/Hermina Joldersma (Hg.): Music in the Spiritual Culture of the Modern Devotion, Leiden/Boston 2009 (= Church History and Religious Culture 89). 16
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II. Exemplarische Textquellen Im zweiten Teil möchte ich nun anhand einiger weniger Quellentexte aus der frühen Reformationszeit prüfen, wie sich dort die Depotenzierung oder Entmachtung der traditionellen Heilsmedialität darstellt und welchen Wandel es im Verständnis der „media salutis“ gegeben hat17. Vor allem stütze ich mich dabei auf die Flugschrift ‚Ein schöner Spiegel eines christlichen Lebens‘ des Eberlin von Günzburg18. Der ehemalige Franziskanermönch und begeisterte Anhänger der evangelischen Bewegung war nach seiner Ausweisung aus Ulm 1521 und einem ersten Aufenthalt in Wittenberg 1522/23 ab dem Sommer 1523 als Wanderprediger in der Schweiz und in Süddeutschland unterwegs. Bei einem vierwöchigen Besuch in Rheinfelden in der Schweiz (Nähe von Basel) finanzierte man ihm im Gegenzug zu sonntäglichen Predigten und Bibel-Vorlesungen unter der Woche eine Kur im dortigen Solebad. Angestachelt durch Intrigen der altgläubigen Geistlichen musste Eberlin Rheinfelden allerdings im Unfrieden verlassen, blieb aber weiterhin mit den evangelischen Anhängern verbunden.Vermutlich im Spätsommer/Herbst 1523 widmete er „allen frommen Christen zu Reynfelden“ die kurze Schrift mit „etlich sententz heyliger geschrifft [. . .] als ein spiegel, in dem sich tae glich jung und alt besehen sollen, zu gleicher weiß, als gott gebotten hat im alten testament im buo ch der andern Ee im vj. unnd xj. capitel, da er spricht: ‚Setzt dise meine wort in ewere hertzen und in ewer gemue t und henckent sye zuo einem zeychen in den henden und setzen sye für ewere augen, leren [= lehret] ewere sue n [= Söhne], das sye sye betrachten!‘ [Dtn. 6,6–9 und 11,18–20].“19
Nach dem Baseler Erstdruck von 1523, dem der Drucker Pamphilius Gengenbach einen Anhang beigab, erlebte die Schrift noch zwei Nachdrucke in Straßburg 1524 und Braunschweig 152520. Eberlin fasste in dieser kleinen Schrift katechismusartig die wichtigsten Punkte der reformatorischen Botschaft zusammen. Zu jedem Punkt folgen Bibelstellen und eine conclusio, wie seiner Meinung nach die Lehre praktisch umzusetzen ist („Folget darauß“). Zunächst wird die Rechtfertigung allein aus dem Glauben behandelt21. Der sündige Mensch werde ohne eigene Verdienste und ohne eigenes Zutun gerechtfertigt. Daraus ergebe sich die Konsequenz, dass „kein Englisch [= Engel], kein menschen werck, auch die aller untadelichsten, moe gen [= können] die mindst tae glich sünd abnemen“22. Der Entwertung der Menschenwerke und der Beihilfe 17 Vgl. exemplarisch den Tagungsband: Berndt Hamm/Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58). 18 Vgl. Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1); zu Eberlin vgl. auch Christian Peters: Johann Eberlin von Günzburg, Gütersloh 1994 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 60), S.185–197; Hans-Christoph Rublack: „. . . hat die Nonne den Pfarrer geküßt“. Aus dem Alltag der Reformationszeit, Gütersloh 1991, S. 29–31. 19 Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S. 98. 20 Nach Peters: Eberlin von Günzburg (wie Anm.18), S.192f. und S. 35f. (Nr. 57–59). 21 Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S. 99,1–17. 22 Ebd., S. 99,15–17.
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der Engel folge aber auch der Abbruch des durch die Priester erteilten Bußsakramentes23. Der Sünder soll vielmehr dem göttlichen Willen dienen, welcher sich in der Hl. Schrift „und [sich] sunst in keinem buo ch“ findet24. Medientechnisch betrachtet wendet sich Eberlin dann dem Partizipationsmedium ‚Gebet‘ zu25. Christus lehre dem Menschen und weise ihn dazu an, richtig zu beten, „dann das gebet ist nicht anders dann ein erhoe bung des gemue ts zuo Gott“26. Das Medium wird also nicht entwertet, aber verinnerlicht und strikt auf die Basismedialität Christus reduziert. Folglich gelten solche Partizipationsmedien wie Rosenkränze, Stunden- oder Tagzeitgebete, Psalter, Vigilien etc. als überflüssig und können abgeschafft werden27. Gott legt auch keinen Wert auf stundenlanges „blapperen“, ihm genügt ein „kurtzes gesprae ch“28. Und um zu beten, muss man auch keinen geheiligten Ort aufsuchen; das Gebet zwischen „gewei[c]hten mauren“ stimmt Gott nicht gnädiger. Der Besuch des Gotteshauses am Sonntag genügt, „blibst am wercktag wol daheym an deiner arbeit, hast neüt [= nichts] in der kirchen zuo schaffen“29. Ein ähnliches Quellenbeispiel dieser Entmachtung von traditioneller Raumheiligkeit findet sich in einer Predigt des Diepold Peringer, des „Bauern von Wörd“, im Kitzinger Raum im Jahr 152430, wenn er sagt: „Denn Gott ist dir ebenso ein gnädiger Gott im Kuhstall wie in der Kirche.“31 Einschränkend soll aber auch erwähnt werden, dass eine solche Depotenzierung von Raumheiligkeit nicht ganz neu ist, sondern bereits mittelalterliche Vorbilder, vor allem in der mystischen Theologie eines Meister Eckhart, gefunden werden können32. Und auch die Mahnung Eberlins, bei seiner Arbeit zu bleiben, ist schon bei Eckharts Schüler Johannes Tauler zu finden, wenn er die alltägliche 23 Ebd., S. 99,18–29.Vgl. auch die ähnliche Formulierung des Nürnberger Ratsschreibers Lazarus Spengler: „Haben sie uns nit dieselben leerer unzalbar vil scrupel in unsern herzten allain mit der weitleüffigen, ungeschickten ordnung des peichtens, auch den unerkanten namen, töchtern und umbstend der sünden – darein sie auch die seligkait der menschen vil mer oder zum wenigsten so statlich als in das bereüwen, darvon alle gschrifft meldung thuo t, ergrindt haben, darumb das inen die beichtpfenning den beütel gefült – verursacht?“ Lazarus Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 7), S. 90,15–91,6 (Schutzrede für Luthers Lehre, 1519). 24 Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.100,4–7. 25 Ebd., S.100,8–22. 26 Ebd., S.100,22f. 27 Ebd., S.100,12–14. Vgl. auch Lazarus Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 7), S.118,1–3: „Das auch alles gute werck und Got annehmlich seien, die der mennsch durch vassten, peten, walfarten, wachen und anndere dergleichen eusserliche casteiung und ubung deß leibs seins gefallens furnimpt“ (Widerfechtung und Auflösung, 1520); ebd., S. 249,11–25 (weitere Gnadenmedien: Prozessionen, Kirchgang, Glocken, Fahnen, Monstranzen). 28 Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.100,9.14–16. 29 Ebd., S.101,4–10. 30 Zu Diepold Peringer vgl. Günter Vogler: Nürnberg 1524/25. Studien zur Geschichte der reformatorischen und sozialen Bewegung in der Reichsstadt, Berlin/Ost 1982, S.135–151. 31 Rublack: „. . . hat die Nonne den Pfarrer geküßt“ (wie Anm.18), S. 28.Vgl. auch Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.100,23–101,3. 32 Vgl. Burkhard Hasebrink: Die Antropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart, Vortrag auf der Tagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft 2010, erscheint in: Meister-Eckhart-Jahrbuch.
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Erwerbsarbeit als Berufung Gottes gleichrangig neben die monastische Existenz stellt: „Der eine kann spinnen, der ander der kann schuoch machen, und etliche die kunnen wol mit disen uswendigen dingen, das si wol geschefftig sint, und das enkan ein ander nut. Und dis sint alles gnaden, die der geist Gotz wurket.“33 Doch zurück zum ‚Spiegel eines christlichen Lebens‘. Es folgen Punkte zum Zusammenleben der Menschen untereinander aus dem Glauben34, zur Unterweisung der Kinder, bei der der Vater der Bischof und Prediger seiner Kinder sein soll („Ein vatter ist seines kindts Bischoff und prediger“35), und zur Steuer- und Abgabenpflicht36. In unserem Zusammenhang sind noch zwei Gesichtspunkte der Heilsmedialität interessant, zum einen der Angriff Eberlins auf die angeblich gnadenvermittelnde Tätigkeit der geistlichen Würdenträger bzw. ihrer Institutionen, zum anderen der ebenso fundamentale Angriff auf den vermeintlichen Heilswert von Menschenwerken. Diese beiden Zentralaspekte werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt, da es in Eberlins Schrift oft Doppelungen und Überschneidungen gibt. „Ist Christus unser frumkeit [= Gerechtigkeit], so gilt nichts aller kloe ster unnd styfften wesen, dardurch man understadt frumm [= gerecht] zuo werden oder bey der frumbkeitt erhalten werden.Wenn [= denn] solchs allein durch Gottes krafft uß dem glauben geschichtt [. . .]. Es mag [= kann] auch durch kein wychwasser [= Weihwasser] ein tae glich sünd abgenommen werden. Ist Christus unser wyhung oder heyligung, folgt, das der menschen wyhe nüt [= nichts] thuo t; wann die seel gewyhet ist durch den glauben, ist auch der lyb ein heiliger tempel Gottes von der glae ubigen seel wegen.“37
So lehnt Eberlin den Seeldienst der Geistlichen in Form von Chorgebet und Messelesen ebenso ab wie das ständige Messehören der Laien38 und verurteilt den Bettel der Bettelorden – den er ja aus eigener Erfahrung kannte – genauso wie den Müßiggang allgemein39. Er verurteilt die Geistlichen, die den Menschen falsche Fastengebote beigebracht haben, aber auch diejenigen, die diese Fastengebote einhalten40. „Auß dem teüfel kompt die lere von erkiesung der speisen.“41 Auch die Jungfräulichkeit der Priester, Mönche und Nonnen wird depotenziert, da die Ehelosigkeit der Kleriker zu Unrecht als verpflichtendes Gebot Gottes gelehrt 33 Johannes Tauler: Predigt 42; Ausgabe von Ferdinand Vetter: Die Predigten Johannes Taulers, Berlin 1910, S.177,19–22. – Noch weiter geht der Nürnberger Handwerkerdichter Hans Rosenplüt, gen. Schnepperer (gest. um 1460), wenn er in einem Gedicht jedem Schweißtropfen eines Handwerkers Heilsrelevanz zumisst und daher seine Arbeit als den „geistlichsten Orden“ bezeichnet, „der je auf Erden gestiftet worden ist“; zit. bei Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), S. 295f. 34 Vgl. Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.103,4–22. 35 Ebd., S.103,27f. 36 Ebd., S.103,29–104,2. 37 Ebd., S.104,12–22. 38 Ebd., S.101,29–102,10 und S.102,37. 39 Ebd., S.101,9–28. 40 Ebd., S.102,11–24 und S.102,36–103,3. 41 Ebd., S.102,13. Mit ‚erkiesung‘ ist die durch die Geistlichen festgelegte Auswahl bestimmter Speisen gemeint, die an bestimmten Tagen oder zu bestimmten Zeiten nicht gegessen werden durften. Vgl. die Schrift von Huldrych Zwingli: Von erkiesen und fryheit der spysen (April 1522), in: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke (= Z), Bd.1 (1905), S. 74–136.
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werde42. Der geistliche Stand wird also vollkommen in Frage gestellt, seine falschen Lehren entlarvt und seine Gelübde verworfen. Der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler verwarf diesen falschen Weg in seinen ‚Hauptartikeln‘ von 1522 mit derselben Schärfe: „Derselb [Mönch; Anm. d. Vf.] ist (nach yhrer red) ym stand der volkomenheyt, und dennocht nitt volkomen [. . .] Dann unter tausend geystlichen wue rdest du nicht eynen finden, des gemue t nicht stehe [= welcher der Meinung sei], [. . .] durch seyn zerschnitten pantoffel [= Sandalen mit Riemen], kutten, strick und platten tragen, durch seyn regel hallten, nit fleysch essen und viel syngens und pettens Gott neher dann ich oder eyn ander ley zuo komen oder den weg der selickeyt dadurch eher dann eyn ander gemeyner christen außerhalb yhres stands zu erlangen. Das ist yhe [= ganz gewiß] on mittel alleyn auff die werck gepawt. [. . .] Und nach volbrachtem gelue bden wue rdet demselben g[e]lober durch den obern furgesagt: ‚So du das hellst, verheyß ich dyr das ewig leben‘. Da schaw eyn yder des tollen, ungeschickten und unchristlichen furnehmens der geystlichen! [. . .] Dann welcher geystlicher dafur hellt, so er yn eyn kloster kompt oder geystlich wirt, das er Christum eher dann yn eynem andern stand suchen und finden will, do ist schon der sauerteyg der phariseer [. . .] vor augen, dann derselb [. . .] hellt auch auß der nott dafur, das Christus zuo seyner selickeytt noch nit gnuo g gethan hab. [. . .] Das ist die hoe chst gotslesterung.“43
Ebenso benötigt der Mensch nach Eberlin auch keine äußeren, heilsvermittelnden Zeichen, Riten, Gegenstände und Werke mehr wie Wallfahrten, geweihtes Wasser, geweihte Kräuter, das Brennen von Kerzen, Reliquien oder Bräuche, die nicht durch die Bibel legitimiert werden44. Letztlich ist Christus allein der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Daher benötigt der Mensch nur ihn als Fürsprecher, als „trost und süssigkeit“, und außer ihm keine Heiligen45. Damit komme ich auf die eingangs zitierten Worte Eberlins über Christus als alleinigen Mittler zurück. Angesichts des von ihm in seinem ‚Spiegel‘ genannten Beispielen von Heilsmedien und heiligen Aktivitäten des bisherigen Kirchenwesens könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass mit der reformatorischen Reduktion auf den alleinigen Mediator Christus als Basismedium und die Heilige Schrift als Partizipationsmedium alle sonstigen „mittel“ entwertet, entmachtet, depotenziert wurden. Tatsächlich sind die an Eberlins Schrift gemachten Beobachtungen typisch für den grundlegenden Medialitätswechsel und Medialitätsabbruch, der für alle reformatorischen Strömungen charakteristisch ist. Sie alle reduzieren die heilvolle Medialität in der Christenheit auf Christus, seinen Heiligen Geist, sein biblisches Wort sowie die Verkündigung dieses Wortes (Gesetz und Evangelium) und die Zeichen des Neuen Bundes Taufe und Abendmahl – wobei es über die Art der Medialität von Wort und Sakrament unterschiedliche Auffassungen unter Lutheranern, Reformierten und Spiritualisten gab46. Zwar ist es richtig, dass die grundlegende Basismedialität allein auf Christus reduziert und fokussiert wird, aber der Blick auf die Partizipationsmedien zeigt sofort, wie sorgfältig man in der Reformationszeit zwischen Abwertung und Um42 43 44 45 46
Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.102,25–35. Lazarus Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 7), S. 334,22–335,22 (Hauptartikel, 1522). Eberlin von Günzburg: Ein schöner Spiegel (wie Anm.1), S.104,25–29. Ebd., S.104,36–105,16, Zitat: S.105,1; vgl. auch ebd., S.105,33–106,9. Vgl. in diesem Band die Beiträge von Berndt Hamm und Thomas Kaufmann.
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wertung der Medien unterscheiden muss. Es kam nämlich nicht nur zur völligen Abwertung bzw. radikalen Reduktion der traditionellen Partizipations- und Erleichterungsmedien, von denen gerade die Rede war, sondern es gab auch unterschiedliche Abstufungen innerhalb dieser Entmachtungen, die nur noch kurz skizziert werden sollen.
III. Verschiedene Formen der Depotenzierung innerhalb der Reformation Hinter den genannten und in allen reformatorischen Strömungen zu findenden Depotenzierungen steht als Ursache das veränderte Heiligkeitsverständnis: War bei den Altgläubigen die Vorstellung von einer inhärierenden Heiligkeit dominant, d. h. die Auffassung, dass Gottes Geist den geweihten Personen, Dingen, Ritualen, Räumen und Zeiten eine dauerhaft innewohnende Sakralität und den wahren Christen die habituelle Qualität der eingegossenen Gnade (gratia infusa) mitteilt, wird im reformatorischen Lager die Heiligkeit nicht mehr als dauerhaft einwohnende Qualität angesehen, sondern aktualisiert und als Relation, Beziehung zwischen Gott und dem Menschen verstanden. Als Beispiel für das neue Verständnis von Heiligkeit als aktuellem Geschehen und Relation können die Sakramente herangezogen werden, die im Vergleich zur Siebenzahl der mittelalterlichen Kirche auf zwei, Taufe und Abendmahl, reduziert werden. Beim Blick auf das Abendmahlssakrament aber treten uns innerhalb der reformatorischen Bewegungen gleich die Unterschiede im Streit zwischen realpräsentischem und symbolischem Verständnis entgegen. Luther und seine Anhänger schreiben diesem Partizipationsmedium weiterhin ein Gegenwärtigwerden der Gnade in Brot und Wein während der Dauer der Abendmahlsfeier (in usu) zu, aber nicht danach. Außerhalb des Gottesdienstes sind Brot und Wein keine heilskräftigen Medien mehr; daher benötigt man künftig auch keine Sakramentshäuser mehr. Insofern wird die Heiligkeit und Gnade des Altarsakraments gottesdienstlich-gemeindlich aktualisiert. Zwingli und anderer reformierte Theologen lehnen eine heilsvermittelnde Kraft des Sakraments völlig ab. Brot und Wein werden auch beim Akt der Abendmahlsfeier mit der Gemeinde nicht zu Heilsmedien. Zwingli betont zwar trotzdem die Notwendigkeit dieses Sakraments – wie auch des Taufsakraments –, da Gott beide Zeichenhandlungen in der Heiligen Schrift eingesetzt habe, allerdings nicht als Medien der göttlichen Gnade, sondern als Erinnerungszeichen der handelnden Gemeinde. Die Spiritualisten können dem Sakrament gleichgültiger gegenübertreten, da das Heil völlig abgekoppelt wird von äußeren Zeichen wie Sakrament, Schrift oder Bildern. Ihnen ist wichtig, dass Gnade und Heil immer unmittelbar als „innerliche Speise“ durch das Wirken des Geistes und nicht durch kreatürliche Medien gegeben werden47. Uneinheitlichkeit zeigt sich auch beim Partizipationsmedium der Heiligen Schrift. Dieses wird in keiner der reformatorischen Richtungen depotenziert. Luther und 47 Zum reformatorischen Spiritualismus vgl. die beiden Beiträge von Berndt Hamm und Sven Grosse in diesem Band.
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seine Mitstreiter steigerten deren „Heiligkeit“ sogar noch, da die Schrift zum exklusiven Heilsmedium wird.Auch bei den Reformierten bleibt das Wort Gottes absolut heilig, weil der Heilige Geist in den Verfassern beim Niederschreiben der Texte gewirkt habe und dieser, der sich dem Menschen immer unmittelbar kundgebe, nie sich selbst widersprechen könne. So bleibt der Mensch immer auf die Heilige Schrift als alleinige Norm seines Glaubens verwiesen.Trotzdem aber geschieht bei Zwingli, Bucer oder Calvin eine gewisse Depotenzierung, weil die Heilige Schrift für sie kein effektives Instrument und Transportmittel des Geistwirkens ist. Sie kann Gnade nicht wirklich vermitteln, sondern der Geist selbst wirkt unmittelbar in der Seele des Menschen.Trotzdem ist die Heilige Schrift notwendig für den Menschen, um normierende Orientierung über das Evangelium und das Gesetz Gottes zu gewinnen. Noch diffiziler wird es beim Partizipationsmedium der Bilder. Anders als bei Wort und Sakrament wird hier eine Heilsvermittlung in allen reformatorischen Richtungen negiert. Aber bei nicht allen Neubewertungen ist man sich dabei so einig wie etwa bei dem Gnadenbild der Madonna in Santa Maria del Popolo48. Da Marias gnadenreiche Mitwirkung zum Heil, also ihre Basismedialität im oben dargestellten Sinne, völlig depotenziert wurde, war auch keine Wallfahrt mehr nach Rom zum Marienbild als Partizipationsmedium anzustreben, und daher war es auch überflüssig, sich eine Kopie dieses Kultbildes zu besorgen, da auch diese Erleichterungs- oder Hilfsmedialität abgebrochen wurde. Dass sich ansonsten aber beim Umgang mit den Bildern eine durchaus große Spannbreite zeigt, liegt auf der Hand. Im Luthertum konnte sich geradezu eine neue Bildtheologie herausbilden, immer natürlich bezogen auf die Basismedialität Christus und das Partizipationsmedium Heilige Schrift49. Gotteshäuser wurden beispielsweise mit Darstellungen der biblischen Szenen, von Gesetz und Gnade aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. neu geschmückt50. Als Extrembeispiel sei nur der Mömpelgarder Altar erwähnt51. Konnte Zwingli Bilder außerhalb 48 Zu diesem Gnadenbild vgl. Hamm: Religiosität (wie Anm. 8), S. 528, Anm. 38; Griese: Text-Bilder (wie Anm.12), S. 318–330. 49 Zur Bildtheologie Luthers vgl. Hans Frhr. von Campenhausen: Die Bilderfrage in der Reformation, in: ZKG 68 (1957), S. 96–128; Gudrun Litz: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 35), S. 21– 27 (Lit.); Christoph Weimer: Luther, Cranach und die Bilder. Gesetz und Evangelium – Schlüssel zum reformatorischen Bildgebrauch, Stuttgart 1999 (= Arbeiten zur Theologie 89); Thomas Lentes: Zwischen Adiaphora und Artefakt. Bildbestreitung in der Reformation, in: Reinhard Hoeps (Hg.): Handbuch der Bildtheologie, Bd.1: Bild-Konflikte, Paderborn u. a. 2007, S. 213–240. 50 Vgl. dazu Gesetz und Gnade. Cranach, Luther und die Bilder. Kat. zur Ausstellung in Eisenach und Torgau im Cranach-Jahr 1994, hg. von der Wartburg Stiftung Eisenach, bearb. von Günter Schuchardt, Eisenach 1994; zuletzt ausführlich Heimo Reinitzer: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, 2 Bde., Hamburg 2006 (Lit.). 51 Vgl. Thomas Packeiser: Lehrtafel, Retabel, Fürstenspiegel? Füllmaurers Tafelaltäre im Prozeß der württembergischen Reformation – ein Ortungsversuch, in: Sönke Lorenz/Peter Rückert (Hg.): Württemberg und Mömpelgard. 600 Jahre Begegnung, Leinfelden-Echterdingen 1999 (= Schriften zur südwestdeutschen Landesgeschichte 26), S.191–250; ders.: Umschlagende Fülle als Autorität des Einen.Abundanz, Inversion und Zentrierung in den Tafelaltären Heinrich Füllmaurers, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hg.): Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004 (= Pluralisierung & Autorität), S. 401–446.
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des Kirchenraumes dulden und sogar an dem Titelholzschnitt zu der Flugschrift ‚Beschreibung der göttlichen Mühle‘ 1521 mitwirken52, wenn Bilder im richtigen Raumkontext, mit dem passenden Medium und als Träger der ‚wahren‘ Botschaft auftraten, blieben sie doch im gottesdienstlich-kultischen Raum ein Tabu. Religiöse Bilder sind für Zwingli „nit ein mittelding“53, da sie durch ihre suggestive Macht den Menschen zum Götzendienst und Abfall von der wahren Gottesverehrung verführen können54. Was Zwingli und mit ihm auch Martin Bucer darüber hinaus anders als Luther ebenfalls ablehnt, ist die positive Lehr- und Andachtsfunktion der Bilder: Von Bildern könne man nichts lernen, was für den Glauben wichtig ist, denn Bilder seien immer missverständlich und verführerisch55. In der Tradition des alttestamentlichen Bilderverbots und des augustinischen Platonismus entwickelten diese Theologen eine bildlose Erkenntnis- und Glaubenslehre.Wahre Gottesverehrung ist nur ohne Bilder möglich, mit der Bildlichkeit ist eine Vergötzung der Kreatur und damit die Entehrung Gottes verbunden; an die Stelle des unsichtbaren Gottes wird das „Geschaffene“ gesetzt. Daher sind auch Christus-Bilder abzulehnen, da sie nicht die beiden Naturen Christi, sondern nur die menschliche darstellen können und damit den alleinigen Mediator Christus amputieren und horizontalisieren56. Mit diesen kurzen Hinweisen dürfte klar geworden sein, dass in der Kategorisierung des reformatorischen Medienverständnisses eine alleinige Reduktion und Fokussierung auf die grundlegende Basismedialität Christus zu kurz greift. Der Blick auf die Partizipationsmedien Heilige Schrift, Predigt, Lied, Abendmahl, Taufe und Bild zeigt deutlich, wie sorgfältig man in der Reformationszeit zwischen radikaler Abwertung, modifizierter Umwertung oder sogar verstärkender Aufwertung der traditionellen Gnadenmedien unterscheiden muss. Es gab nicht nur die völlige Abwertung der Partizipations- und Erleichterungsmedien, von denen bei Eberlin die Rede war, sondern es gab auch unterschiedliche Abstufungen innerhalb dieser Entmachtungen und die Neupotenzierung von Bibel, Predigt und Gemeindelied als ‚media salutis‘.
52 ‚Beschribung der götlichen müly so durch die gnad gottes angelassen‘, Zürich: Christoph Froschauer d. Ä., Frühjahr 1521; vgl. dazu Berndt Hamm: Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, S. VI mit Abb. und Lit. 53 Z 2,708.22–24 (Akten der Zweiten Züricher Disputation, 1523). 54 Vgl. dazu und zum Folgenden Litz: Bilderfrage (wie Anm. 49), S. 27–40. 55 Eindeutige Klarheit schafft nach Zwingli allein die Hl. Schrift; Z 4,120,8–26 (Antwort an Valentin Compar, 1525): „[. . .] Warumb schickend wir denn nit die bilder zu den ungleubigen, das sy den glouben daran lernind? Oder wie kumpt es, das wir alle das krütz vor uns so vil jaren habend gehebt, und habend aber nütz dester mee in gott vertruwet, sunder unsere tröst anderschwohyn gehebt? Wenn du glych ietz einem ungleubigen oder unverstendigen kind die bilder fürstellest, so muo stu inn mit dem wort darmit leren, oder aber er sicht das bild vergeben. Also erfindt sich, das man mit dem wort leren muo ß, nit mit den götzen.“ 56 Zur Nutzung von Bildmedien durch die Spiritualisten vgl. den Beitrag von Thomas Kaufmann in diesem Band.
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Fundamentalkommunikation – Luther, Karlstadt und Sebastian Franck im Disput über die Medialität der Bibel 1. Hinführung „Unmittelbare Präsenz“ und „mediale Vermittlung“ sind, genauer betrachtet, nicht schlichtweg Gegensätze. Sie können sehr wohl miteinander verbunden sein, und zwar so, dass das zweite das erste bedingt: Die Präsenz gibt es dann nur durch das Medium. Wenn das Medium seine Aufgabe erfüllt – nämlich zu vermitteln – dann ist Präsenz da. Man nimmt dann gar nicht mehr wahr, dass es eines Mediums bedurfte, damit diese Präsenz entsteht. Die erfahrene „Unmittelbarkeit“ der Präsenz beruht dann gerade auf Vermittlung. Für „Präsenz“ kann man auch sagen: Zugang, Erreichbarkeit, Nähe. Der Verzicht auf ein Medium, das Trachten nach einer solchen Unmittelbarkeit, welche das Medium überspringen will, wird dann gerade dazu führen, dass man das nicht erreicht, nach dessen unmittelbarer Nähe man trachtet. Diese Dialektik von Medialität und Nähe wird in besonders scharfer Weise deutlich an der Kontroverse, welche in der Reformationszeit über die Medialität des heiligen Buches geführt wurde, der Bibel. Ich will diese Kontroverse darstellen, indem ich die beiden wohl extremsten Positionen einander gegenüberstelle: Martin Luther und Sebastian Franck. Für Luther ist Christus, ist das Heil im Buch der Bibel bzw. im ‚Evangelienbuch‘ in gewisser Weise materiell enthalten. „Wenn du nun das Evangelienbuch auftust, liest oder hörst“, schreibt er in seiner Kirchenpostille von 1522, „dann sollst du dadurch die Predigt oder das Evangelium vernehmen, durch welches er zu dir kommt oder du zu ihm gebracht wirst“1. Christus kommt also durch das Öffnen des Buches, durch das Lesen oder Vorlesen daraus zu dem lesenden oder hörenden Menschen. Sebastian Franck hingegen weist eine solche Vorstellung weit von sich: „Ich bin völlig der Meinung, dass der Geist des Herrn nicht einfach so zwischen den Buchdeckeln der Schrift liegt [. . .]“, erklärt er in seinem am 4. Februar 1531 in Straß-
1 „Wenn du nu das Evangeli buch aufftuist, lisest odder horist, solltu da durch vornehmen die predigt odder das Euangelium, durch wilchs er tzu dyr kommet odder du tzu yhm bracht wirdist.“ Kirchenpostille von 1522: Ein klein Unterricht, was man in den Evangeliis suchen und gewarten soll, WA 10/I,1, S.13,19–22. Mit „Evangeli buch“ ist hier das ganze Neue Testament gemeint, s. ebd., S. 8– 10.Vgl. dazu Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, S. 42–47.
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burg verfassten Brief an Johannes Campanus2. Die Schrift, meint er in der Vorrede zur Chronik der römischen Ketzer in seiner ‚Geschichtsbibel‘, „kann doch kein böses Herz ändern oder lebendig machen.“3 Dies hängt laut Franck damit zusammen, dass die Bibel als Kommunikationsorgan untauglich ist. Denn der Geist des Herrn ist „nicht für jedermann so leicht zu verstehen [. . .], dass ich nicht eher glaube, dass er mit sieben Siegeln verschlossen [. . .] ist. [. . .] Denn Gott verbirgt seine Weisheit unter der Decke der Gleichnisse und Parabeln der Buchstaben dermaßen, dass sie von niemand als von denen, die von Gott selbst gelehrt sind, verstanden werden kann.“ Er verbirgt seine Geheimnisse „zwischen den Deckeln“ des heiligen Buches. Dieses dient also nicht als Medium der Kommunikation der Wahrheit und des Heils, sondern vielmehr als Medium des Verbergens des Heils, weil ausschließlich die von Gott selbst Gelehrten es begreifen können4. Wollen wir uns zunächst einmal Luthers Auffassung von der Schrift als Medium des Heils zuwenden
2. Luther Für Luther macht es dabei keinen entscheidenden Unterschied, ob es sich um Schrift, um das Buch der Bibel handelt oder um die mündliche Rede5. Es han2 Sebastian Franck: „Ich aber meine gentzlich, das der sinn des herren nit so eben im bast der schrift liget . . .“, In der hochdeutschen Übersetzung des verloren gegangenen lateinischen Originals in: Quellen zur Geschichte der Täufer 7: Elsaß, I. Teil: Stadt Straßburg 1522–1532. Mit Benutzung der von Johann Adam hinterlassenen Materialsammlung bearb. von Manfred Krebs/Hans Georg Rott, Gütersloh 1959 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 26), S. 323, 31–33. Eine Übersetzung in modernes Hochdeutsch findet sich in: Heinold Fast (Hg.): Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962 (= Klassiker des Protestantismus 4), S. 219–233, hier S. 232, woraus auch im Haupttext zitiert wird. 3 „dann die schrifft / wie guo t sie ymmer zuo r seligkeit ist / kan sie doch kein böß hertz endern oder lebendig machen [. . .].“ Chronica, Zeytbuo ch vnd geschychtbibel von anbegyn biß inn diß genwertig M.D.xxxi. jar [. . .] Durch Sebastianum Francken von Wörd [. . .], (ohne Ort) 1531 (UB Basel, EA I 31), S. 337 r (mm r); Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 245. Franck fügt zwar die Parenthese ein „wie gut sie immer zur Seligkeit ist“, aber an dem Hauptsatz wird doch deutlich, dass die Schrift Entscheidendes zur Seligkeit nicht beizutragen vermag. 4 Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 233, Fortsetzung des Zitats von Anm. 2: „[. . .] das ist, nit jedermann so liecht zu verstehn ist, das ich nit eh glaube, das er mit siben sieglen beschlossen sey vnd niemandt kündig denn dem lämblin. Denn dermaassen verbirgt gott sein weißheit vnterm decken der gleichnus vnd parablen der buchstaben, das sie von niemandt, denn die von gott selbst gelehrt seint, verstanden mag werden, vnd eröffnet nit so liechtlich der gottlosen welt vnd allen buben seine geheimnus, sonder verbirgt sie vnter den bast, das allein die gottgelerten, wie ich gesagt hab, sie begreiffen mögen.“, Quellen zur Geschichte der Täufer 7/I (wie Anm. 2), S. 323,34–324,9. 5 Martin Luther: Predigt über das Evangelium am Tage der heiligen drei Könige, Mt. 2,1–12, Kirchenpostille von 1522, WA 10/I,1, S. 627,1–21. Dazu Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 70–72. Luther erklärt zwar zu Beginn dieses Abschnitts, es sei ein Gebrechen des Geistes, dass man hat müssen Bücher schreiben. Doch erklärt er damit nicht das Buch der Bibel als etwas, das weniger Geist hat als die mündliche Verkündigung. Das Geschrieben-Sein ist vielmehr eine Bewahrung der mündlichen apostolischen Verkündigung, welche die Gemeinde schützt, wenn ihre Hirten sich gegen diese Verkündigung wenden und Falsches lehren. Man hat also aus der Bibel dasselbe zu erwarten wie aus der rechten mündlichen Verkündigung.
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delt sich beidemal um das Wort Gottes, und Luther kann so von dem Wort Gottes – als Predigt oder als Schrift – sprechen, dass der Unterschied zu dem ewigen oder dem fleischgewordenen Wort Gottes – Jesus Christus – dahinschmilzt: Er spricht dann von einem „verbatus“ bzw. „praedicatus deus id est verbum dei“6, und kann schließlich sagen: „die heilige Schrift, das ist Gott selbs“7. Spricht er differenzierter, dann unterscheidet er etwa zwischen dem Wort und der Gnade: „Willst du die Gnade erlangen, so siehe zu, dass du das Wort Gottes gespannt hörest oder sorgfältig bedenkest. Das Wort, sage ich, und das Wort alleine ist das Fahrzeug der Gnade Gottes“8. Oder es werden Glaube, Heiliger Geist und äußerliches Wort einander so zugeordnet, dass der Glaube sowohl durch den Heiligen Geist als auch durch das äußerliche Wort kommt9. Das äußere Wort dient dabei dem Geist als Medium, und in einer Wendung gegen die „Rottengeister“, die Schwärmer, erklärt Luther: „Wir dürfen nicht [. . .] uns vornehmen, dass uns Gott ohne Mittel und ohne sein Wort im Herzen tröste. Es geht ohne äußerliches Wort nicht zu.“10 Dies beruht auf einer Festsetzung Gottes in seiner potentia ordinata: er könnte anders, er hat es aber so gewollt, dass der Geist nur durch das Wort kommt11. Geist und Wort sind dabei so eng miteinander verbunden wie Stimme und Atem12. Zugleich bestimmt Luther eine zeitliche Reihenfolge: zuerst kommt das Wort und dann der Geist, durch den das Wort aufgeht wie ein Hefeteig, der das Wort aufbläst, damit es wirksam ist13. Auch diese Unterscheidungen zeigen, dass der Geist sich nie vom äußeren Wort trennt. Dementsprechend wendet sich Luther immer wieder gegen die Schwärmer, die Geist und Buchstaben, also Geist und Wort voneinander trennen wollen14. Luther gibt indes noch eine tiefere Begründung der Zuordnung von Geist und Wort als alleine die, dass Gottes es eben so verfügt habe. Einer Begegnung mit 6 Martin Luther: Kleinere Arbeiten über die Psalmen, 1530–32, über Ps. 51, WA 31/I, S. 511,29, im Unterschied zu „in natura sua deus“, ebd., Z. 28, desgleichen De servo arbitrio, 1525, WA 18, S. 685.Vgl. Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 362f. 7 Martin Luther: Vorrede zum Bd.1 der Wittenberger Ausgabe seiner Werke, 1539, WA 50, S. 657,26f. 8 „Si vis gratiam consequi, id age, ut verbum dei vel audias intente vel recorderis diligenter: verbum, inquam, et solum verbum est vehiculum gratiae Dei.“ Kleiner Galaterkommentar (1519), WA 2, S. 509,13–15. 9 „[. . .] das der glaube nicht auffgehen mage, denn durch den heiligen Geist, und dasselbige doch nicht ohne dz eusserliche wort.“ Martin Luther: Fastenpostille 1527, Ain ander kurtzer Sermon am tage, da Maria zu Elisabeth gieng, Luce i., WA 17/2, S. 459,36f. 10 „Denn wir müssen nicht, wie die rotten geister, uns fur nemen, das uns Gott on mittel und on sein wort jm hertzen troste, Es gehet on eusserlich wort nicht zu.“ ders.: Auslegung des 118. Psalms: Das schöne Confitemini, 1530, WA 31/I, S. 99,23–100,1. 11 Martin Luther: De servo arbitrio, 1525, WA 18, S. 695,22–31. 12 Ders.: Predigt vom 23. März 1521 über Lk. 1, WA 9, S. 633,5–7. 13 Siehe die in Anm. 9 genannte Stelle, sowie die Fortsetzung, WA 17/II, S. 460,1–6; Wider die himmlischen Propheten, 2. Teil, 1525, WA 18, S.136–139; Predigt am 6. April 1523 über Lk. 24,23ff., WA 12, S. 496,32–497,8; Auslegung des 118. Psalms: Das schöne Confitemini, 1530, WA 31/I, S.100,1.Vgl. Althaus: Theologie Martin Luthers (wie Anm.1), S. 43–47. 14 Außer der in Anm.10 genannten Stelle etwa Schmalkaldische Artikel (1537), Von der Beichte, WA 50, S. 245; Martin Luther: Predigt vom 11. August 1532 über 1. Kor. 15, WA 36, S. 500,23–501,8.
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Gott in seiner unverhüllten Majestät könnte der Mensch nicht standhalten, erstens, weil er Geschöpf, zweitens, weil er Sünder ist. Wer könnte, fragt Luther in ‚Von den Konziliis und Kirchen‘, in seinem sündigen, armen Fleisch die bloße, unverhüllte Majestät Gottes erleiden? Wo doch Gott zu Mose spricht, dass kein Menschen ihn sehen und leben wird? Wie könnte man mit den schwachen Augen die Sonne der göttlichen Majestät und ein strahlendes Angesicht ertragen? Darum will Gott durch erträgliche, freundliche, liebliche Mittel sich dem Menschen nahen, Mittel, die von uns, erklärt Luther, nicht besser könnten erwählt werden. Diese Mittel sind: dass ein frommer, gütiger Mensch mit uns redet, predigt, die Hände auflegt, Sünde vergibt, tauft, Brot und Wein gibt zu essen und zu trinken15. Luthers Beharren auf dem äußerlichen Wort, sei es der Bibel, sei es der Predigt oder auch der Sakramente, hat also sachliche Gründe. Der eine Grund ist die Liebe Gottes zu uns, der uns nicht durch die Heiligkeit seiner Majestät verzehren will. Der andere ist die Niedrigkeit des Menschen, als Geschöpf und als Sünder, die der Heiligkeit Gottes nicht standhalten würde.Allein mit der Wahl eines Mittels, eines Mediums für den Verkehr zwischen Gott und Mensch wird also bereits etwas kommuniziert.Wenn diese Kommunikation, man könnte sagen: diese fundamentale Kommunikation, nicht vollzogen wird, dann wird das Medium auch nicht seinem Zweck dienen, konkret etwas mitzuteilen. Die elementaren Aussagen dieser Fundamentalkommunikation sind: 1. Gott übersteigt alles, was geschaffen ist, 2. Er ist heilig, 3. Der Mensch ist Kreatur, 4. Er ist Sünder, 5. Darum würde der Mensch in der Gegenwart, der Präsenz Gottes zunichte werden, 6. Gott liebt aber den Menschen und will sein Heil, 7. Darum entscheidet sich Gott dafür, durch ein Medium und nicht ohne ein Medium dem Menschen nahe zu treten. – Man sieht, das, was durch die konkreten Medien – Bibel, Predigt, Sakramente – mitgeteilt wird, sind nur Ausgestaltungen dieser Botschaft, die bereits dadurch kommuniziert wird, dass Gott überhaupt Mittel für seine Kommunikation wählt. Damit diese Botschaft ihr Ziel erreicht, ist aber auch eine gewisse Einstellung des Empfängers erforderlich. Er muss ebenso von der Hoheit Gottes wie von der eigenen Niedrigkeit überzeugt sein und er muss bereit sein, Gott als liebenden Gott sich nahe kommen zu lassen. Nötig sind also die Demut des Menschen, wenn er auf sich selbst blickt, und der Glaube, das Vertrauen des Menschen, wenn er auf Gott blickt. Wenn das alles der Fall ist, dann wird er auch dafür empfänglich sein, dass Gott ihm durch ein Mittel gegenwärtig werden will und nicht unmittelbar. Gottes Kommunizieren durch Mittel – durch das äußere Wort, durch die Sakramente – steht in Analogie zu der Fleischwerdung des ewigen Wortes. Sowohl der junge Luther der Hebräerbrief-Vorlesung als auch der Luther einer Tischrede 15 „[. . .] denn wer kündte die selbige [die blosse, erscheinende, helle Maiestet Gottes] in solchem sundlichen, armen fleisch ein augenblick leiden? Wie Moses sagt: ‚Non videbit me homo et vivet‘ [Ex 33,20], [. . .] wie wolten sie mit solchen blöden augen die Sonn seiner göttlichen maiestet und klares angesicht gelidden haben? Sondern er wils thun durch leidliche, seuberliche, liebliche mittel, die nicht wol von uns selbs kündten besser erwelet werden, Als das ein from, gütig mensch mit uns redet, predigt, die hende aufflegt, sunde vergibt, teuffet, brot und wein gibt zu essen und zu trinken.“ Von den Konziliis und Kirchen, 1539, WA 50, S. 647,7–27.
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von 1542 erklären16: Will der Mensch nicht scheitern in seinem Versuch, Gott zu erkennen, so muss er bei der Menschheit Christi anfangen; er darf nicht versuchen, speculative Gott zu erkennen17. Dadurch, dass das ewige Wort Fleisch annimmt, macht es sich zu einem von unseren Ohren hörbaren Wort18. Das Konzept der heilbringenden Präsenz Gottes durch das Medium des leiblichen, äußeren Wortes, das ich hier anhand von Schriften vor allem der 1520er und -30er Jahre nachgezeichnet habe, findet sich bereits in Luthers erstem großen Werk angelegt, den ‚Dictata super Psalterium‘19. Luther lehrt dieses Konzept bereits dort, obgleich er hier Geist und Buchstabe einander in einer Weise entgegensetzt, die an die Schwärmer erinnert, von denen er sich später so scharf abgrenzen wird. „In der Heiligen Schrift“, erklärt Luther zu Beginn der ersten Psalmenvorlesung, „ist es das beste, den Geist vom Buchstaben zu unterscheiden. Das nämlich macht einen zum Theologen.“20 Der Gegensatz von Geist und Buchstabe ist der zwischen dem Verborgenen und dem, worin etwas verborgen ist21. So stehen Zeichen und Bezeichnetes einander entgegen22. Gott gibt, was er gibt, durch das, was seiner Gabe entgegensetzt ist. Zeichen und Bezeichnetes stehen im Widerspruch zueinander.Wer also dem Augenschein nach – auf der Ebene des Zeichens, des Buchstabens – erniedrigt und getötet wird, der wird innerlich – auf der Ebene des Bezeichneten, des Geistes – erhöht23. Er wird getröstet und lebendig gemacht. Das Wort des Apostels, 2. Kor. 3,6: Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig, wird konkret so verstanden, dass im Töten des Buchstabens, darunter verborgen, der Geist lebendig macht. Mit diesem Gedanken ist aber das 16 Vgl. die Fragestellung bei Thomas Kaufmann: Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), S.187–205. 17 WA 57/III, S. 99,1–10: „Notandum quoque, quod prius humanitatem Christi quam divinitatem recitet, ut eo ipse regulam illam approbet Deum fideliter cognoscendi. Humanitas enim illa sancta scala est nostra, per quam ascendimus ad Deum cognoscendum, [folgen Gen. 28,11; Joh. 14,6; 6,44; 10,7] Igitur qui vult salubriter ascendere ad amorem et cognicionem Dei, dimittat regulas humanas et metaphisicas de divinitate cognoscenda et in Christi humanitate se ipsum exerceat [. . .]“; WA.TR 5, Nr. 5658a, S. 294,24f.27–29.34: „Heb von vnten an, ab incarnato Filio [. . .] Deus enim [. . .] venit de coelo, ut te [. . .] certissimum faceret [. . .] Christus wirt dich bringen ad absconditum Deum.“ Dazu: Sven Grosse: Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie, in: Berndt Hamm/Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), S.187–235, hier S. 214. 18 Martin Luther: Sermo in Natali Christi, 1515 (gehalten am 25.12.1514),WA 1, S. 25,14–29, dazu Erich Seeberg: Grundzüge der Theologie Luthers, Stuttgart 1940, S.138–142. 19 Dazu Gerhard Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, 2. Aufl., Tübingen 1964, S.110–119. 20 „Item in Scripturis Sanctis optimum est Spiritum a litera discernere, hoc enim facit vero theologum.“ WA 55/I1, S. 4,25f. 21 „Spiritus enim latet in litera“, wobei Luther so fortfährt: „que est verbum non bonum, quia lex ire. Sed spiritus est verbum bonum, quia verbum gratie.“ WA 3, S. 256,28f. 22 „Igitur omnia dicta et facta legis sunt velut verba et signa tantum: verba autem et facta Evangelii sunt opera et res ipsa significata.“ WA 3, S. 258,8f. 23 „[. . .] quiat [Deus] dat sub contrariis, et discordat signum a signato [. . .] Quis enim cognosceret, quod qui humiliantur [. . .] occiduntur visibiliter, maxime simul intus exaltentur [. . .] vivificentur, nisi spiritu per fidem doceretur?“ WA 4, S. 82,17–21.
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gedeutet, was wir bereits in Luthers Konzept medialer Kommunikation angetroffen hatten: der Mensch muss sich demütigen lassen, wenn er sich auf Zeichen, auf Medien einlässt, die weit entfernt sind von der wahren Größe und Majestät Gottes.Wenn er sich auf diese Weise demütigen lässt, dann kommt die Botschaft bei ihm an, dann empfängt er Gottes Liebe, dann wird er dadurch getröstet und zu einem neuen Leben erweckt24. Das hier bereits im Keim enthaltene Konzept hat Luther in der Folgezeit entfaltet. Auch wenn er gelegentlich ein „on mittel von dem heiligen geyst“25 betont, ist dies immer auf das leibliche Wort bezogen26. Luthers Konzept medialer Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen beruht auf der Voraussetzung eines Konzeptes, das man als mystisch bezeichnen kann. Luther hat dieses Konzept in den Grundzügen von mystischen Theologen der vorreformatorischen Zeit übernommen, unter denen an dieser Stelle Bernhard von Clairvaux hervorzuheben ist. Nach diesem Konzept muss der Mensch auf seinem Weg zu Gott mit dem hörbaren Wort anfangen so wie mit der Menschheit Christi. Erst von dort aus kann er zum Schauen gelangen, zum Schauen der Gottheit Christi und der Gottheit des Vaters. „Die Stufe zum Sehen“, erklärt Bernhard, „ist das Hören.“27 Dieses mystische Konzept bleibt für Luthers Konzept von Medialität grundlegend. Denn gerade weil der Mensch so niedrig ist vor Gott, als Geschöpf und mehr noch: als Sünder, muss er mit dem anfangen, was auf der Stufenleiter am niedrigsten ist: also mit dem leiblichen, äußeren Wort, so wie er auch mit dem Glauben anfangen muss und nicht mit der Liebe, weil der Glaube unter der Liebe steht28.Würde diese Stufenfolge nicht mehr gegeben sein, dann würde Luthers Wort-Konzept gar keinen Sinn mehr haben29. Weil das leibliche 24 Alles Weitere ergibt sich daraus: Christi Herrlichkeit ist verborgen. Nur durch das Wort der Verkündigung wird sie offenbar: WA 4, S. 450,39–451,27; der Glaube, weil er das glaubt, was nicht in Erscheinung tritt, glaubt und erschließt dieses Wort: ebd., S. 272,22–24; S. 376,13–16. 25 Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521), WA 7, S. 546,25, vgl. S. 548,11f. 26 Dies zeigt der Kontext der zitierten Stelle aus der Magnificat-Auslegung selbst: „Denn es mag niemant got noch gotes wort recht vorstehen / er habs denn on mittel von dem heyligen geist.“ Die Betonung des „solus Spiritus“ richtet sich dabei oft gegen den Vermittlungsanspruch der Träger des geistlichen oder auch des gelehrten Amtes, wie aus Luthers Schrift An den Christlichen Adel Deutscher Nation hervorgeht, WA 6, S. 460,30–40. Siehe dazu Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479– 1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube. Mit einer Edition von Gudrun Litz, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 25), S.124–134. 27 „Gradus est auditus ad visum.“ Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica Canticorum 41, II,2, in: Bernardi Opera, Bd. 2, hg. von Jean Leclercq/Henry Maria Rochais/Charles Howell Talbot, Rom 1958, S. 29,28f. Siehe Grosse: Der junge Luther (wie Anm.17), S. 215. 28 Vgl. Berndt Hamm: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens?, in: Bernd Moeller/Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation als Umbruch.Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S.105. 29 Wenn Volker Leppin: Mystisches Erbe auf getrennten Wegen: Überlegungen zu Karlstadt und Luther, in: Bultmann/Leppin/Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe (wie Anm.16), S.153– 169, hier S.165, ähnlich S.168, ein Gegenüber von Mystik und schrifttheologischer Begründung der Heilszueignung sieht, wird übersehen, dass dieses Konzept der mystischen Theologie – einer bestimmten Stufenordnung des Seins und des Aufstiegs zu Gott auf diesen Stufen – die Voraussetzung dieser schrifttheologischen Begründung der Heilszueignung ist und bleibt.
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Wort aber unten steht, drängt es den Menschen, der es angenommen hat, es anzueignen, es zu verinnerlichen, es zu vergeistigen. Das Wort ist eben nicht mehr als Eingangsstufe – es soll und es will weiterführen. Bei Luthers Ausgestaltung dieses mystischen Konzepts will lediglich beachtet sein, a) dass im leiblichen Wort das Ziel, zu dem hin der Mensch unterwegs ist, bereits präsent ist: eben so, wie ein Ziel, das man noch nicht erreicht hat, präsent sein kann: nämlich als fest zugesicherte Verheißung. und b) dass der Mensch, bevor er am Ziel angelangt ist, immer auf das Wort angewiesen bleibt. Im Bild gesprochen: wenn er mittels einer Leiter sehr weit hoch gestiegen ist und deshalb meint, die Leiter herabstoßen zu können, würde er mit der Leiter hinunterfallen.
3. Karlstadt Bevor wir uns nun Sebastian Franck als dem Antipoden Luthers zuwenden, wollen wir noch einen Blick auf Andreas Karlstadt werfen. Karlstadt hat nämlich im Umgang mit einer Schrift, die für Luther sehr wichtig war30, an einer Stelle eine Weichenstellung anders vollzogen als Luther und ist dadurch auf einen anderen Weg geraten als er, einen Weg, den mit äußerster Konsequenz dann Sebastian Franck gegangen ist. Es handelt sich um Augustins ‚De spiritu et littera‘ und um Karlstadts Kommentar dazu. In ‚De spiritu et littera‘ erklärt Augustin, dass die Stelle 2. Kor. 3,6, „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie so aufzufassen ist, dass bestimmte Stellen in der Bibel nicht so, wie der Buchstabe lautet, sondern figürlich aufgefasst werden müssten und dass durch diese geistige Einsicht der innere Mensch genährt werde. Vielmehr sei hier der „Buchstabe“ in erster Linie als das Gesetz zu verstehen, das Gesetz, mit dem Gott die Sünde verbietet, die aber gerade durch den Damm, den das Gesetz ihr entgegenstellt, sich in ihrer zerstörerischen, tötenden Kraft steigert31.Augustin vollzieht damit eine Verschiebung von einer Fragestellung nach dem metaphorischen Verständnis der Bibel, geordnet nach den Koordinaten von Sinnlichkeit und Geist, hin zu der Fragestellung, wodurch der Mensch angesichts der Macht der Sünde und des anklagenden Gesetzes gerettet werden könnte32. Karlstadt hat, herausgefordert durch Luthers Berufung auf Augustin, sich mit ‚De spiritu et littera‘ auseinandergesetzt, am 26. April 1517 eine Reihe von 151 Thesen zu der Thematik dieser Schrift veröffentlicht und in den Jahren 1517–19 einen 30 Von Luthers Hochschätzung kündet schließlich noch seine Bemerkung in seinen Lebensbericht im ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Werke von 1545, WA 54, S.186,14–20. 31 Spir. et litt. IV,6–V,7, CSEL 60, 157–160/Aurelius Augustinus: Schriften gegen die Pelagianer, hg. v. Adalbero Kunzelmann/Adolar Zumkeller, Bd.1, lat.-dt., Würzburg 1971 (= Augustinus, Lehrer der Gnade 7), S. 308–313. 32 Dazu Sven Grosse: Geist und Buchstabe.Variationen eines biblischen Themas in der Theologiegeschichte, in: Jahrbuch für biblische Theologie (2009), S.157–178.
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Kommentar zu ihr herausgebracht33. In diesem Kommentar vollbringt Karlstadt genau die umgekehrte Bewegung zu Augustin: dass die Sünde durch das Gesetz tötet, ist nur eine Konkretion der Aussage, dass der Buchstabe tötet, der Buchstabe eben als das Geschriebene und darum vom Geist zu Scheidende34.Während man den Predigern die hörenden Ohren, den Buchstaben die lesenden Augen zuwendet, soll man in einem parallelen, übergeordneten Vorgang das Herz Gott zuwenden, der vorausgehend inwendig das wahre Wort einhaucht35. Schrift und mündliches Wort sind also nicht Vermittlung der Gnade. Denn, wie Karlstadt in einer eigenen Glosse schreibt: „Quae foris sunt non salvant.“36 / „Was draußen ist, das macht nicht heil.“37
4. Sebastian Franck Bei Sebastian Franck finden wir nun die Ergebnisse der Weichenstellung in Richtung auf die Scheidung von Geist und Buchstabe in reiner Form. Ich wende mich hier seinem theologischen Hauptwerk zu, den ‚Paradoxa‘ von 153438. Franck erklärt schon in der Vorrede: „Der Buchstabe der Schrift, das Schwert des Antichristen, tötet Christus.“39 – Christus – also nicht den Sünder! Es ist die nach dem Buchstaben verstandene Schrift, die gegen Christus streitet: „Wie die Figur wider die Wahrheit, also streitet das Gesetz wider das Gesetz“, d. h. das Gesetz des Buchstabens gegen das Gesetz des Geistes40. Franck denkt zwei feindliche Heerlager. 33 Siehe Ernst Kähler: Karlstadt und Augustin. Der Kommentar des Andreas Bodenstein von Karlstadt zu Augustins Schrift De spiritu et litera, eingeführt u. hg. von dems., Halle/Saale 1952 (= Hallische Monographien 19). Zur Entstehungsgeschichte s. S. 3*–37*. 34 Kähler: Karlstadt und Augustin (wie Anm. 33), S. 41*, 40*–43* im Ganzen. 35 „Levamus itaque ad predicatores aures opplendas, ad litteras oculos informandos, sed cor ad solum deum caeli et terrae creatorem, qui intrinsecus ‚verax verbum‘ ‚omnia opera‘ precedens inspirat et cor tangit.“, Ebd., S. 27,28–31. 36 Ebd., S. 84, Anm. k. 37 Über den weiteren Weg Karlstadts nach dieser Weichenstellung s. Leppin/Bultmann/Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe (wie Anm.16), S.166f. 38 Paradoxa ducenta octoginta. Das ist CC.LXXX Wunderred / und gleichsam Rhaeterschafft / auß der H. Schrift / so vor allem flaisch ungläublich und unwar sind / doch wider der gantzen welt wahn vnd achtung / gewiß vnd war. Item aller in Got Philosophierenden Christen rechte / Götliche Philosophei / vnd Teütsche Theologei / voller verborgner Wunderred vnd gehaimnüß / den verstandt allerlay frag / vnd gemayne stell der H. Schrifft betreffende / auch zur scherpffung ded vrthails über auß dienstlich / entdeckt / außgefürt / vnd an den tag geben / Durch Sebastianum Francken / von Wörd, ohne Jahr, ohne Ort, ohne Drucker, Exemplar: UB Basel, Aleph E IX 46a. In modernem Hochdeutsch in der Ausgabe von Siegfried Wollgast: Sebastian Franck. Paradoxa, hg. und eingel. von dems., Berlin 1966, welche auf der gegenüber der ersten wenig differierenden zweiten Auflage von 1542 beruht. – Zu den folgenden Ausführungen vgl. die gleichlaufenden von Otto Langer: Inneres Wort und einwohnender Christus. Zum mystischen Spiritualismus Sebastian Francks und seinen Implikationen, in: Jan-Dirk Müller (Hg): Sebastian Franck (1499–1542), Wiesbaden 1993 (= Wolfenbütteler Forschungen 56), S. 55–69, hier S. 56–61, der auch andere Schriften Francks heranzieht. Verwiesen sei auch auf Alfred Hegler: Geist und Schrift bei Sebastian Franck, Freiburg/Breisgau 1892, S. 255. 39 „Litera Scripturae Antichristi gladius, occidit Christum.“ Paradoxa (wie Anm. 38), S.1v. 40 „Wie die Figur wider die warhait ist / also streit das gesatz wider das gesatz.“ These von Paradoxon Nr.175, S. CIXv (S. cv)/Wollgast: Franck (wie Anm. 38), S. 293; „Das gesatz des gaists wider das gesatz des Buo chstabens“, S. CXr (S. c iir)/ebd., S. 294.
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Für das eine stehen synonym die Begriffe „Altes Testament“, „Gesetz“, „Schrift“, „Buchstaben“ sowie „grammatischer Sinn“41. Auf der anderen Seite stehen die Begriffe „Sinn“ oder „Verstand der Schrift“42, „Christus“, „Neues Testament“, „Evangelium“, „Wort Gottes“. So sagt Franck: „Das Evangelium, Gottes Wort, Christus, das Neue Testament etc. ist keine Schrift, kein Buchstabe, sondern der heilige Geist, eine lebendige, wesentliche Kraft Gottes, die den Menschen erneuert, in sich zieht. Ihre Kraft steht in keinem äußerlichen, vorgeschriebenen, hergesagten Wort oder Dienst, sondern in der unsichtbaren Kraft des lebendigen Wortes Gottes, das in uns empfunden wird und den heiligen Geist mit sich bringt, ja, er selbst ist.“43
Oder: „Das neue Testament und Evangelium ist kein Buch, keine Schrift, kein Gesetz, keine Ordnung etc., sondern der Bund des heiligen Geistes, eines guten Gewissens mit Gott, ja der heilige Geist selbst.“44 Eine ähnliche scharfe Gegenüberstellung von Geist und Buchstabe ist uns auch bei dem jungen Luther in der ersten Psalmenvorlesung begegnet.Wir müssen genauer hinsehen und schauen, was Franck unter „Geist“ und „Buchstabe“ hier versteht. Auch wenn Franck gelegentlich seine Aussagen mit Bibelzitaten begründet, die man offenkundig ihrem primären, sozusagen „buchstäblichen“ Sinn nach nehmen soll, um ihre argumentative Funktion zu verstehen, meint er, die Bibel sei vom Buchstaben her überhaupt gar nicht zu verstehen, weder so, dass man beim buchstäblichen Sinn stehen bleibt, noch, dass man von ihm ausgeht und von ihm zu einer allegorischen Deutung kommt45. Nach dem Buchstaben, d. h. nach dem grammatischen Sinn gelesen, könne die Bibel nur missverstanden werden46. Dies liege an der Unvereinbarkeit von Geist und Buchstabe. „Der heilige Geist“, erklärt Sebastian Franck, „lässt sich nicht regeln, noch die Wahrheit in Buchstaben verfassen noch Gottes Wort reden.“47 So komme man nur zu Missverständnissen, wenn man die Schrift nach dem toten Buchstaben versteht48. „Buchstabe“ ist also 41
Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 2v; 3v/Wollgast: ebd., S. 6; 8. Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 2v; 4r: „Christus hat den sinn der schrifft für sich / Antichristus den Buo chstaben“/Wollgast: ebd., S. 5; 10. 43 „Das Evangelium / Gottes wort / Christus / das new Testament / etc. ist kein Schrifft oder buo chstab / sonder der Heilig geist / ein lebendige / wesentliche krafft Gottes / die den menschen vernewt / inn sich zückt.“, Erläuterung zu Paradoxa 171–174, S. CVIIv (S. d iiiv)/Wollgast: ebd., S. 288f. 44 „Das new Testament vnd Euangelium ist kain buo ch / Schrifft / gesatz / ordnung / etc. sonder der Bunt des hailigen Gaistes / ains guo ten gewissens mit got / ya der hailig gast selbs.“ Erläuterung zu Paradoxa 232–235, S. CXXXVIIv (S. mv)/Wollgast: ebd., S. 366. 45 Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 2v/Wollgast: ebd., S. 6, mit einer Verwerfung der Allegorik des Origenes. 46 „Den buo chstaben haissen sie den Grammatischen dinn / vnd alles was on den gaist vnd gnad / vom flaisch / bluo t / weltweisen / etc. in der Schrifft verstanden würt / geredt / oder gesagt mag werden.“ Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 3v/„Den Buchstaben hießen sie den grammatischen Sinn und ebenso alles, was ohne den Geist und die Gnade vom Fleisch und Blut, von den Weltweisen usw. in der Schrift verstanden wird, geredet oder gesagt werden mag.“ Wollgast: Franck (wie Anm. 38), S. 8. 47 „Der Hailig gaist läßt sich nit regeln / noch die wahrhait im buo chstaben verfassen / noch gottes wort reden.“, Erläuterung zu Paradoxa 119–123, S. LXXIII (S. Tr)/Wollgast: ebd., S. 200. 48 Erläuterung zu Paradoxon 83–85, S. XLVIIr–v (S. M iiir–M iiiv)/Wollgast: ebd., S.135f. 42
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für Franck menschliche Rede – sei es mündlich oder schriftlich – durch die etwas Verständliches mitgeteilt werden kann, sei es durch ihren primären Sinn, sei es durch einen übertragenen, metaphorischen Sinn. „Buchstabe“ meint einfach kreatürliche Medialität. Dies übersteigt noch den Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und menschlicher Geistigkeit. „Geist“ ist hier allein der Geist Gottes. Dass man die Bibel – auf kreatürliche Weise – nicht verstehen kann, ist aber für Franck nun gerade, wie wir schon an seinem Brief an Campanus gesehen haben, die Absicht Gottes. Die Bibel ist dabei auch für Sebastian Franck ein von Gott eingegebenes Buch. Doch ist die Absicht Gottes hier, Unverständlichkeit bzw. Missverständlichkeit zu erzeugen: „Gott hat absichtlich den Buchstaben der Schrift also misshellig gestaltet, in die Feder angegeben und diktiert und seinen Sinn mit dem Buchstaben zugedeckt, damit wir nicht daran vergnügt, einen Abgott daraus machten, den wir in allen Glaubensfragen um Rat frügen, sondern dass wir ihn [also Gott] darum grüßen und gelassen den Verstand [also das Verständnis, den Sinn der Schrift] suchten, damit wir seiner immerzu bedürfen und er das Schwert in der Hand behalte und allein Meister und Lehrer bleibe und durch keine Kreatur uns lehre, selig mache, erleuchte oder in unser Herz steige.“49
Die Bibel ist also auch für Franck ein Medium, durch das Gott etwas mitteilt, jedoch auf indirekte Weise. Dadurch, dass er sie für menschliche Verstehensmöglichkeit missverständlich gemacht hat, teilt Gott durch sie mit, dass die Menschen allein bei ihm, bei seinem Geist Erkenntnis und Heil suchen sollen. Dabei spricht Franck auch davon, dass die Schrift für den Menschen verständlich wird. „Der Sinn Christi und des Geistes“, sagt er, „der, der allein ist Gottes Wort und macht lebendig, wenn er den Buchstaben in unseren Herzen lebendig macht, auslegt und anwendet.“50 Es gibt also eine rechte Auslegung des Buchstabens. Der tote und tötende Buchstabe wird lebendig. Dies geschieht aber wiederum allein im Herzen. Das heißt, der verstandene und lebendig gemachte Buchstabe lässt sich nicht in menschlicher Sprache mitteilen. Ganz konsequent sagt Franck: „Gottes Wort ist ein Wind und Geist, dessen Hauchen man wohl hört im Grunde der gelassenen stillen Seelen, niemand weiß aber woher und wohin. Es lässt sich nicht meistern, fördern,
49 „Vnd Got hat mit fleiß den Buo chstaben der schrifft also mißhällig gestelt / in die feder angeben vnd dictiert / vnd sein sinn mit dem Buo chstaben zuo deckt / das wir nicht daran vernügt / ainen Abgot darauß machten / den wir in allen spänen rhatfrageten / sonder das wir jn darumb grüssen / vnd gelassen den verstande suo chen / damit wir sein immerzuo dörffen / vnd er das schwert in der Handt behalt / vnd allain maister vnd lerer bleib / vnnd durch kain creatur vns lere / sälig mach / erleücht / oder in vnser hertz steig.“ Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 2v–3r/Wollgast: Franck (wie Anm. 38), S. 6; desgleichen in der Vorrede zur Chronik der römischen Ketzer: „Gott wil an der schrifft ein solich mittel geben haben / dz wir sein nit vergessen / damit wir nit den buo chstaben für dz war lebendig wort achtend / yn auß dem mittel stossen [. . .]“, (wie Anm. 3) S. cccxxxviir (S. mmr)/„Gott will uns mit der Schrift ein solches Mittel gegeben haben, dass wir sein nicht vergessen, damit wir nicht den Buchstaben für das wahre lebendige Wort achten und ihn aus dem Mittel stoßen.“ Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 245. 50 „Der sinn Christi vnd des gaists / der / der allain ist Gottes wort / vnnd macht lebendig/so er den Buo chstaben inn vnseren hertzen lebendig macht / auß vnd anlegt [. . .]“, Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 3v/Wollgast: Franck (wie Anm. 38), S. 8.
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wehren oder in jemanden nötigen und ja weder reden noch schreiben, sondern in sich selbst gelassen und still hören und empfinden.“51
Es ist klar, dass diese doppelte mediale Bedeutung der Bibel, in ihrer heilsamen Unverständlichkeit und in ihrer verinnerlichten Verständlichkeit, sich nur denen erschließt, die sich in diesem Sinne von Gott selbst lehren lassen. Alle anderen halten die Bibel für ein dem Buchstaben nach, also menschlich, verständliches Buch, und geraten eben dadurch in Missverständnisse. „Was macht“, fragt Franck, „alle Ketzerei in der Schrift, als dass einer den ungereimten Buchstaben der Schrift da ansticht, der andere dort für sich nimmt und niemand auf die einhellige Auslegung und den Verstand des friedsamen Geistes achtet, sondern jedermann Gott und Gottes Wort für seinen Apollo achtet [. . .]“52. Das „buchstabische Wort“, erklärt er, betet „die jetzige evangelische Welt als das lebendige Wort“ an53. Damit übertrifft Sebastian Franck noch das bekannte, ihm zugeschriebene Wort von der Bibel als dem „papiernen Papst“54. Dem Buchstaben nach betrachtet, ist die Bibel für ihn ein Abgott und der Sitz des Antichristen55, der Christus und die wahren Christen verfolgt. Sie ist in dieser Hinsicht kein Medium des Heils, sondern des Unheils. Sebastian Francks Konzept einer Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen ist also in äußerster Konsequenz das Konzept einer medienlosen Kommunikation. Gott, der Heilige Geist, das göttliche Wort selbst, ist es, wodurch sich Gott mitteilt und sein Heil schenkt, ohne den Gebrauch eines nicht-göttlichen Mittels56. Das Medium Bibel kann nur in der beschriebenen, indirekten bzw. nicht menschlich-kommunizierbaren Art Verwendung finden. Und auch diese Verwen51 „Gottes wort ist ain windt vnd gaist / des hauchen man wol hört / im grund der gelassenen / stillen seelen / niemandt waiß aber woher / oder wohin / Es läßt sich nit maistern / fürdern / wehren / oder in jemandt nöten / vnd ya weder reden / noch schreiben / sonder in jm selbs gelassen / vnd still hören / vnd empfinden / Sap. 81.“ Erläuterung zu Paradoxa 279f., S. CLXXIr–v (S. v iiir– v iiiv)/Wollgast: ebd., S. 454f. 52 „Was macht alle ketzerei in der Schrifft / dann das den vngereiimpten Buo chstaben der schrifft einer da ansticht / der ander dort für sich nimpt / vnd der ainhelligen außlegung vnd verstandt des fridsamen gaists niemandt acht / sonder yederman für sein Apollinem / gott / vnd gots wort acht.“ Paradoxa, Vorrede, S. 3r/Wollgast: ebd., S. 6f. 53 Erläuterung zu Paradoxa 279f./Wollgast: ebd., S. 454. 54 In der ‚Vorrede zur Chronik der römischen Ketzer‘ sagt Franck, der Antichrist habe sich zunächst in dem Papst verkappt, dann aber, nachdem er diese Maske beinahe aufgebraucht habe, sich anders verkappt und in den Buchstaben der Schrift gesetzt: (wie Anm. 3) S. 337 (S. mmr)/Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 245. Vgl. oben S. 62 mit Anm. 70. 55 Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 4r/Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm. 38), S. 9. 56 Dem entspricht auf der Ebene der Christologie eine Position, die der Luthers entgegengesetzt ist. Nicht die Menschheit, also auch die Geschichtlichkeit Jesu Christi ist der Weg zum Heil, sondern das zu aller Zeit schon vollzogene Opfer des Lammes (Apg. 13,8: „Das Lamb ist vom anfang der welt in Abel erwürgt.“ Franck bezieht also das „von der Schöpfung der Welt an“ am Ende des Satzes auf das „Lamm, das ist geschlachtet ist“, was auch unmittelbar davor steht, und nicht auf das GeschriebenSein im Buch des Lebens). Nur für Menschen, die am Zeitlichen haften – also solchen, welche die Schrift nach dem Buchstaben verstehen – ist Christus zeitlich geworden, also Mensch geworden: Erläuterung zu Paradoxa S. 83–85, S. XLIIIIr–XLVIIv, dort besonders S. XLIIIIv; XLVIIr/Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm. 38), S.128–136; 128; 135. Dazu Otto Langer: Inneres Wort (wie Anm. 38), S. 62–69, der die Übereinstimmungen mit Meister Eckhart herausarbeitet.
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dung ist notwendig eine sekundäre: Du sollst, schreibt Franck an Campanus, „die Schrift zum Zeugnis Deines Gewissens und Deiner Conscienz auslegen, so dass sie dem Herzen zeugt und nicht dagegen; auch dass Du nicht auf Grund der Schrift etwas glaubst oder annimmst, und Gott in Deinem Herzen der Schrift weichen muss. Eher sollte sie dem Antichristen bleiben.“57
5. Luther und Sebastian Franck im Vergleich Wie bei Luther findet auch hier eine Art Fundamentalkommunikation statt: Gott kommuniziert bereits dadurch etwas, dass er es verschmäht, ein kreatürliches Medium zu seiner Kommunikation zu wählen. Auch hier finden sich die Sätze von der Hoheit und Heiligkeit Gottes auf der einen Seite, der Niedrigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen auf der anderen. Auch von Gottes Liebe zu dem Menschen muss gesprochen werden: eben weil Gott den Menschen liebt, gibt er ihm kein kreatürliches Medium zur Kommunikation, gibt er es ihm nur in einer indirekten Weise: um durch die Untauglichkeit des Mediums Bibel die Unfähigkeit des Menschen aufzudecken, aus eigenen Mitteln zu Gott zu gelangen. Es ist Liebe Gottes zu den Menschen, die ihn selbst in das menschliche Herz einziehen lässt, ohne Mittel. Stellen wir nun Sebastian Franck und Martin Luther einander gegenüber, dann werden bei einem noch genaueren Hinsehen aber auch die Unterschiede darin deutlich, wie das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen und die Liebe Gottes aufgefasst wird58. Denn Luther zufolge könnte der Mensch es nicht aushalten, wenn Gott unverhüllt ihm nahe kommen, ja, in sein Herz einziehen würde. 57 Sebastian Franck: „solstu die schrifft zu gezeugnus deiner conscientz vnd deins gewissens auslegen, das sie dem hertzen zeugen vnd nit gegen ihm, item das du nit durch die schrifft bericht etwas glaubest oder annemest vnd gott in deinem hertzen der schrifft weichen must, sonder sie eh des entechrists bleibe.“ Brief an Campanus, Quellen zur Geschichte der Täufer 7 (wie Anm. 2), S. 322,26–323,5. 58 Es soll hier jedenfalls verwiesen werden auf die direkten Stellungnahmen, die beide Männer gegeneinander machten. In dem Vorwort, das Luther zu Freders gegen Franck gerichteten ‚Dialogus dem Ehestand zu Ehren‘ (1545) verfasst hat, schreibt Luther: „On so viel ich dem geruch meiner nasen nachspüren und urteilen kan, so ist er [Franck] ein Enthusiast oder Gaister, dem nichts gefellet denn Gaist, Gaist, Gaist, der vom Wort, Sacrament, Predigtampt nichts helt, sondern nach dem Gaist sol man leben . . . [folgt Vergleich mit Müntzer und seinen Bauern] das sie keinen Buchstaben, ja kein Buch noch Schrifft weder sehen noch hören wolten und uns und die unsern Schrifftgelerten und Buchstabeler hiessen, spotteten unser, wo sie ein Buch in unsern henden sahen, und so wir mit jnen reden wolten, stopfften sie die ohren zu und sprachen, Sie hetten den Gaist, kündten unser wort nicht hören. Das heisst ein leben, da ein jeglicher sein selbs Meister ist und thut, was er wil und was jn gut dünkt, muss als denn alles recht und wohl gethan und der Gaist heissen, Alles ander muss stincken und nichts sein denn eitel Flaisch, Flaisch, Flaisch.“ WA 54, S.173,1–13.Vgl.WA.TR 4, Nr. 4966 und Nr. 5121. – Während Luther in diesem Vorwort sich zu einer äußerst deftigen Polemik gegen Franck aufschwingt, hat dieser unter dem Stichwort „D. Martinus Lutherus“ in seiner Geschichtsbibel mit ausdrücklicher Enthaltung von einem eigenen Urteil über Luther berichtet und seine Lehren widergegeben, auch die seinen eigenen entgegengesetzten: „Probir alle ding / vnd was guo t ist / das behalt er / doch / das er den geyst nicht außlesch / vnd keines prophecey veracht / oder vor der zeyt vrteyl.“ Chronik der römischen Ketzer (wie Anm. 3), S. ccccxixv; der Artikel im Ganzen: S. ccccxixr–ccccxviiir.
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Franck meint offenbar, dass der Mensch – oder jedenfalls der Mensch, zu dem Gott kommt – nicht in einem solchen Grade oder einer solchen Qualität sündig ist, wie es Luthers Überzeugung entspricht. Darüber hinaus muss man voraussetzen, dass im Grunde der Seele des Menschen etwas Göttliches ist, so dass die Seele des Menschen durch die Einwohnung Gottes nicht versehrt wird59. Was die Liebe Gottes betrifft: nach Franck muss sie nicht Gott so weit treiben, wie Luther es sieht. Sie kann wohl Gott auch nicht so weit treiben: dass sich Gott durch sie herabbeugt, dass er menschliche Natur annimmt und in menschlichen Worten – die verständlich sind, wie menschliche Worte verständlich sind – von sich redet. Die Liebe und Demut Gottes auf der einen Seite, die Demut und das Zutrauen des Menschen auf der anderen Seite sind nach Luther nun doch etwas qualitativ anderes als bei Franck. Aber achten wir zunächst noch auf mehrere Punkte, an denen Luther und Franck mehr Gemeinsamkeiten haben, als es auf den ersten Blick scheint. Ein dritter Blick zeigt dann wieder die Gegensätze auf. Ein leitender Gedanke Luthers ist der der Akkomodation. Gott passt sich dem Fassungsvermögen des Menschen an, weil er dem Menschen sonst gar nicht präsent werden, nicht nahe kommen könnte. Dieser Gedanke findet sich auch bei Sebastian Franck. In dem Brief an Campanus sagt er, Gott habe „der Kirche in ihrer Jugend die äußerlichen Zeichen zugelassen“ – jetzt sei es aber längst Zeit, diese abzulegen60. In der Vorrede von den ‚Paradoxa‘ spricht er darum davon, dass den Sinn der Schrift erst die der Milch und der Mutterbrust entwöhnten Christen verstehen61. Der Buchstabe steht doch in dem Verhältnis einer Analogie zum Geist: „Es ist alles nur ein Bild und Schatten davon, was man reden, regeln, schreiben oder lesen kann, von weitem entworfen.“62 Weil wir Gott nicht erfassen können, wie er an sich ist, stellt die Schrift ihn uns so vor, wie wir von den Dingen denken. Gott selbst ist unveränderlich; wir stellen ihn uns durch die Schrift veränderlich vor usw. Die Schrift wird in diesem Sinne von Franck ein „Pflaster“ genannt. Sie soll also, recht verstanden, auch eine Wegweisung sein, die von dieser mehr unähnlichen als 59 So sagt denn auch Franck: „Gott hat seiner weyßhait art vnd wesens ain muster / zundel / gespür / liecht / vnd bild / in des menschen hetz gelegt / darinn sich gott selbs sihet.“. Er folgert daraus: „Also / das wir Gottes fähig . . . sind.“ Erläuterung zu Paradoxa 101–102 (wie Anm. 38), S. LXIIIr/ Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm. 38), S.175. Dahinter steht eine Rezeption Taulerscher Mystik, s. Horst Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation. Die Reformation im Spiegel des Werkes Sebastian Francks, in: Wollgast (Hg.): Sebastian Franck (wie Anm. 38), S. 39–53, hier S. 44, vgl. S. 48.Vgl. auch den Aufsatz von André Séguenny: Le spiritualisme de Sebastian Franck: ses rapports avec la mystique, le luthéranisme et l’Humanisme, in: ebd., S. 87–102. – Franck selbst erklärt: „Taulerus der best Theologus vnder den alten.“ Erläuterung zu Paradoxa 135–137, S. LXXXVIv, Glosse; vgl. Wollgast: Sebastian Franck, S. 234. 60 Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 227f./„Gott hat zugelassen, iha gegeben die eusserliche zeichen eben als ein poppen dem kind der kirchen in ihr iugent . . .“, Quellen zur Geschichte der Täufer 7 (wie Anm. 2), S. 316. 61 Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede/Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm. 38), S. 6. 62 „Es ist alles nur ein bild vnnd schatt dauon / was man reden / reglen / schreiben oder lesen kan / von weittem entworffen.“ Erläuterung zu Paradoxa 119–123, S. LXXIIIr (S. Tr)/Wollgast: ebd., S. 200.
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ähnlichen Vorstellung von Gott zu der rechten, rein geistigen, aber letztlich auch nicht mehr menschlich ausdrückbaren Vorstellung von Gott führt63. Luther meint offenbar, dass das andauert, was Franck eine unreife Kindheit der Kirche nennt. Das liegt für ihn am Geschöpf-Sein und am Sünder-Sein des Menschen, auch noch des Gerechten. Sodann wird man überlegen müssen, ob Luther wirklich ein, wenngleich erst eschatologisch eintretendes Überwinden und Abstreifen alles Menschlichen an Gottes Wort gelehrt, christologisch also eine DeInkarnation vertreten hätte. Der ganze Duktus seiner Theologie spricht dagegen64. Dies zeigt sich auch noch an einem zweiten Punkt einer vorläufigen Gemeinsamkeit zwischen Luther und Franck. In seiner Schrift an die Ratsherren deutscher Städte nennt Luther die Schrift bzw. die Sprachen, in welchen die Schrift verfasst ist – also das Hebräische und das Griechische – die „scheyden, darynn dis messer des geysts stickt.“ (Eph. 6,17)65 Eben deswegen sollen diese Sprachen auch studiert werden. Sebastian Franck kennt diese Metapher auch: die Schrift bzw. der Buchstabe der Schrift sind „nur [. . .] Scheide“, „Gottes Wort aber, der Heilige Geist“ ist das „Schwert“66. Bei Luther ist es eine Steigerung des Werts, dass die Schrift bzw. die Sprachen der Schrift Scheide des Heiligen Geistes sein dürfen, bei Franck sind sie eben nur Scheide, und das Schwert gehört aus der Scheide herausgezogen. Für Luther ist, wie wir gesehen haben, die Niedrigkeit und Schwachheit des Menschen der Grund, weshalb Gott die Bibel als Medium wählt, um mit ihm zu verkehren. Franck sieht durchaus, dass die Christen unter dem Kreuz stehen. Das ist für ihn geradezu das „Erkennungszeichen des Evangeliums und der Wahrheit“. Die „Rechten“, d. h. die wahren Christen werden von allen anderen am meisten gehasst; sie sind in den Augen der Welt die rechten Ketzer67. In seinem Lied ‚Von den vier zwieträchtigen Kirchen‘ lehnt Franck sowohl die Papisten als auch die 63 „Darauff sieht vnd redet die Schrifft / die ein pflaster ist auff vnser herz / wie es in vns ist / vnd würdt der vnbeweglich Got inn / vnd mit vns beweglich / nimpt vnser affect an sich / vnd zaygt vns einen weg an / wie wir jhn wieder güttig sollen finden vnd machen / das jn seiner straff wider rhew / vnd er sein zorn (den er ye inn vns muo ß haben / vnd der er ya sein muo ß) wider ablege / so wir jm dann folgten / so finden wir jn / wie er an jm selbst ist / guo t/die lieb selbs / vnd vnbeweglich.“ / „Darauf sieht und redet die Schrift, die ein Pflaster ist auf unser Herz, wie es in uns ist, und wird der unbewegliche Gott inne und mit uns beweglich, nimmt unsere Affekte an sich und zeigt uns einen Weg an, wie wir ihn wieder sollen finden und machen, dass ihn seiner Strafe wieder [reue] und er seinen Zorn (den er stets gegen uns haben muss und der ja sein muss) wieder ablege; so wir ihm dann folgen, finden wir ihn wie er an sich selbst ist, gut, die Liebe selbst und unbeweglich.“ Ebd., lateinisch, in der Formulierung von Paradoxon 119: „emplastrum“, desgleichen S. LXXIIIv (S. T iiv)/Wollgast: ebd., S. 204. 64 Siehe dazu Sven Grosse: Der Messias als Geist und sein Schatten, in: Analecta Cisterciensia 58 (2008), S.170–222, hier insbesondere S. 219–222, mit den Typen der irenäischen und der origeneischen Auffassung vom Logos. Luther steht in Übereinstimmung mit dem irenäischen Typ, wonach die Inkarnation nie rückgängig gemacht wird. 65 Martin Luther: An die Ratsherren aller Städte deutschen Lands (1524), WA 15, S. 38,8f. 66 „So es [das Fürwort kann sich auf die ‚Schrifft‘ oder auch auf den ‚Buo chstaben der schrifft‘ beziehen] doch nur ein . . . schaid [. . .] Gots wort aber / der H. Gaist [. . .] schwert [. . .] ist“, Paradoxa (wie Anm. 38), Vorrede, S. 3r/Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm. 38), S. 7. 67 „allermeist müssen die rechten härhalten. Diß seindt die rechten ketzer die der welt in augen wehe thuo ndt Sap ii. [Weish 2,10ff] das ein gwiß glück vnd kreid ist des Euang. vnd der warheit Matth. X (Mt. 10,17f.)“, Vorrede zur Chronik der römischen Ketzer (wie Anm. 3), S. cccxxxvir/Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 240.
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Lutheraner als auch die Zwinglianer und schließlich auch die Wiedertäufer ab; von diesen aber meint er, dass sie Gott näher seien als die drei anderen Haufen, weil sie am meisten unter diesen vieren Verfolgung erleiden (Str. 4). Von seinem eigenen Weg schreibt er68: „Wer nun in Gottes Reich will gohn, der flieh davon! Nach Christo soll er trachten. Er bleibt in Demut und Geduld, such Christi Huld, laß sich die Welt verachten: Ob ihm schon feind, all Menschen seind, die Welt ihm gram um Christi Nam, sein Kron wird nicht verschmachten.“
Franck weiß sehr wohl, dass menschliche Demut die Bedingung ist, unter der Gott erst mit den Menschen kommunizieren kann.Aber genauer betrachtet, sieht man, dass diese Demut bei ihm einen anderen Grund hat als bei Luther. Bei dem Wittenberger Reformator entsteht diese Demut aus dem Wissen des Menschen, als Geschöpf und als Sünder vor Gott zu stehen. Bei Franck ist es Demut, weil man vor der Welt verachtet, abgelehnt und verfolgt wird. Damit zeichnet sich auch der Gegensatz ab, der zwischen Luther und Franck in ihrem Bild von der Geschichte, genauer der jüngsten Geschichte, der Reformationsgeschichte besteht. Welches Bild entwirft sich von der Geschichte der Reformation, je nachdem, ob man die Bibel als das Medium betrachtet, durch das Gott mit seinem Heil den Menschen nahe kommen will, oder ob man davon überzeugt ist, dass Gott sich nur selbst, ohne Mittel, dem Menschen vermittelt und die Bibel als Buchstabe nur Medium des Unheils ist? Mit dieser Frage wollen wir uns nun zum Schluss befassen. Franck schreibt in seiner ‚Chronik der römischen Ketzer‘: „Der Papst hat dieses Zeugnis der Schrift unter die Bank gestoßen – wir heben es schier über Gott, ja machen aus dem tötenden Buchstaben (den wir in allen Nöten um Rat fragen und zum Meister haben und Gott dabei verachten) zum Abgott.“69 Der Antichrist hat zunächst unter der Kappe des Papstes sein Unwesen getrieben. Diese Möglichkeit hat er fast aufgebraucht – Franck gibt also dem Papsttum 1531 nur noch eine ge68 Von der vier zwieträchtigen Kirchen, deren jede die andre hasset und verdammet, ca. 1531, Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 246–248; Philipp Wackernagel (Hg.): Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd. 3, Leipzig 1870, S. 817f. (Nr. 965), Str. 6: „Wer nun In Gottes Reich will gohn, / der flieh darvon, / nach Christo soll Er trachten. / Er bleib in demut vnnd gedult, / such Christi huldt, / lass sich die welt verachten: / Ob ihm schon feind / all Menschen feind, / die Welt im gram / vmb Christi Nam, / sein Kron wirdt nit verschmachten.“ 69 „Der bapst hat diß zeügnis der schrifft gar vnder die banck gstossen so heben wirs schier über got / ja machen auß dem tödteten buo chstaben (den wir in allen nöten mit verachtung gots rats fragen / vnd zum meister haben) ein abgot [. . .]“, Chronica (wie Anm. 3), Stichwort ‚Antichristus‘, S. cccxlviv.
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ringe Chance weiterzuwirken. So schlüpft der Antichrist nun unter die Kappe der Schrift, wie sie nach dem Buchstaben verstanden wird70. Damit erzeugt er absichtlich überall heillose Verwirrung, denn die Bibel hat, buchstäblich verstanden, überhaupt kein einheitliches Urteil, soll es nach Gottes Absicht auch gar nicht haben. Das Ergebnis ist also eine Art babylonischer Sprachverwirrung mit tödlichem Ausgang, eine Vielzahl einander hassender, verdammender, bekämpfender „Kirchen“. Was später von Seiten eines romtreuen Bischofs von den Protestanten behauptet wurde71 – bei ihnen herrsche eine „concordia discors“ – ist bereits Sebastian Francks Ansicht. „Concordia“ besteht nur in der Berufung auf die Bibel, diese Eintracht kann nur eine rein formale sein; bei der Bestimmung des Inhalts der Bibel flammt sogleich die Zwietracht auf. Es ist alles nur, wie Goethe, wohl indirekt unter dem Einfluss Francks, sagen sollte72, ein verworrener Quark, wie auch die Kirchengeschichte nichts ist als ein Mischmasch von Irrtum und Gewalt73. Der wahre Weg, so Franck, führt zwischen den einander reibenden Mühlsteinen hindurch. Man darf nirgendwo Partei nehmen, glaubt keinem menschlichen Wort von Gott und zieht sich in eine reine, unaussprechliche Innerlichkeit zurück74. Auch für Luther ist die Geschichte ein Kampf zwischen Gott und dem Teufel. Die vorreformatorische Epoche charakterisiert Luther in ‚Von den Konziliis und 70
S. oben Anm. 54 und 55. So Wilhelm von der Linden (Gulielmus Lindanus), Bischof von Roermond, im Titel seiner Schrift: Concordia discors. Sive quaerimonia Catholicae Christi Jesu ecclesiae, Köln 1583, zit. bei: Dorothea Wendebourg: Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: Berndt Hamm/ Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 30–51, hier S. 32, Anm. 2, desgleichen die Rede von der Protestanten „zerrissens, vilhauptigs Regiment“, Johann Baptist Fickler: Censur oder Urteil der Orientalischen Kirchen und ihre Patriarchen zu Constantinopel/iber die Augspurgische Confession . . ., Ingolstadt 1583, S. a IIIr, zit. ebd., bei Anm. 3. 72 Indirekt, weil vermittelt durch Gottfried Arnolds ‚Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie‘. Zu der Übereinstimmung zwischen dem Programm Francks und dem Arnolds s. Fast (Hg.): Der linke Flügel (wie Anm. 2), S. 219. 73 „Es ist die ganze Kirchengeschichte/Mischmasch von Irrtum und Gewalt.“ Zahme Xenien (9), Johann Wolfgang Goethe: Werke, Bd.1, Frankfurt/Main 1981, S. 308. 74 Es dürfte deutlich genug geworden sein, wie die Linien von Sebastian Franck aus weiter auszuziehen sind. Siegfried Wollgast zitiert am Schluss seiner Ausgabe der ‚Paradoxa‘ zustimmend das Urteil Wilhelm Diltheys: „In hundert Rinnsalen fließen die Ideen Francks der modernen Zeit entgegen.“ Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, Bd. 2, Leipzig/Berlin 1929, S. 85/Wollgast: Sebastian Franck (wie Anm.38), S. 457, Anm.1. So schreibt Schleiermacher: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte“, Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. An die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), 2. Rede, in der Ausgabe von Rudolf Otto, 6. Aufl. Göttingen 1967, S. 92f. Und wenn Emanuel Hirsch am Schluss seiner großen Studie über die Lehre Martin Luthers vom Gewissen schreibt: „Die Lehre einer Kirche, die auf Grund des Schriftprinzips öffentliche Geltung und Anerkennung für sich verlangt, ist ein merkwürdiges Mittelding zwischen der Wahrheitserkenntnis des persönlichen Glaubens an das Evangelium und der mit Recht in ihrem Kreise geltenden allgemeinen menschlichen Vernunft. Das Verhältnis des Gewissens zur Wahrheit gewinnt an Durchsichtigkeit, wenn der Glaube an das Evangelium nicht mehr genötigt ist, neben dem persönlichen Verhältnis zu dem ewigen Gott auch noch das Dasein eines solchen Mitteldings zu begründen.“, dann geht er damit nicht auf den Bahnen, die Luther, sondern denen, die Sebastian Franck eröffnet hat: Emanuel Hirsch: Lutherstudien, Bd.1. Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen, Gütersloh 1954, S. 220. 71
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Kirchen‘ dadurch, dass der Teufel Gott nachahmt, der eine Kirche geschaffen hat, zu der äußerliche Dinge gehören, als da sind Taufe, Wort, Sakrament, Amt der Schlüssel usw.75 Die Nachahmungen des Teufels sind eine beliebig verlängerbare Reihe sakramentaler Medien: Weihwasser, das von der Sünde reinigt, Weihesalz, Glockengeläut, Antoniusmesser, gesegnete Kräuter, bestimmte Segenssprüche und Briefe usw. usf. Das sind alles Dinge, die keine Kraft haben, die Sünde zu vergeben und die Menschen heil zu machen76. Diese Medien haben nach Luther gegenüber den äußeren Zeichen der wahren Kirche den Vorteil einer wesentlich stärkeren Wirksamkeit. Sie bringen in viel größerem Maße Nähe und Präsenz mit sich. So urteilt der Teufel in den Worten Luthers: „[. . .] Christus Sakramente wircken auffs künfftige und unsichtbarliche wesen, im geist, das man seine Kirchen und Bisschove kaume von ferne ein wenig riechen kan, und der Heilige Geist sich so stellt, als sey er nicht da, lesst sie alles unglück leiden und für meine Kirchen als Ketzer gehalten müssen werden. Indes“, spricht der Teufel, „ist meine Kirche nicht allein so nahe, das man sie wol greiffen mag, sondern meine werck folgen auch bald, Das jdermann denkt, sie sey die rechte Gottes Kirche, Solch vorteil hab und kan ich.“77 Der Vorteil des Teufels ist also die nahe Gnade. Die wahre Gnade wird zwar auch durch äußerliche Dinge vermittelt, aber mit viel weniger Erfolg in der Präsenz. Luther charakterisiert demgegenüber die erste Phase seiner eigenen reformatorischen Wirksamkeit als Protest gegen diese Nachahmung der Medien Gottes: solche – man betone solche – äußerlichen Dinge vermögen nicht selig zu machen. Der Teufel hat freilich seinen nächsten Schachzug schon parat: die Reformationsgeschichte vollzieht sich in einer Dialektik: „Da wir durchs Evangelion anfiengen“, erklärt Luther, „zu leren, das solch eusserlich ding nicht selig machen kündte, weil es schlechte [schlichte], leibliche Creaturn weren, und der Teuffel offte zur zeüberey gebrauchte, filen die Leute, auch gros und gelerte Leute, dahin, das die Tauffe als ein eusserlich wasser, das Wort als ein eusserlich Menschliche rede, die Schrifft als ein eusserlicher buchstabe von tinten gemacht, das Brot und Wein als vom Becker gebacken, solten schlecht [schlicht] nichts sein, denn es weren eusserliche vergengliche ding. Also gerieten sie auff das geschrey: Geist, Geist, der geist mus thun, ‚der Buchstabe tödtet‘.“78 75 WA 50, S. 644,30ff., insgesamt umfasst der hier referierte Abschnitt S. 644–648, dazu gehört auch der oben schon bei Anm.15 zitierte Abschnitt S. 647,7–27. Er folgt den Ausführungen über die sieben notae ecclesiae. 76 WA 50, S. 644,12–646,8. Luther wendet sich dabei nicht unbedingt gegen diese Bräuche selbst, sondern gegen ihre Überschätzung, die allerdings in den meisten Fällen den Brauch erst hervorgebracht hat. Handelt es sich um so etwas wie ein Tischgebet, könnte er es gelten lassen: „Nu were das wol fein, wenn man Gottes wort, segen oder gebet uber die Creatur spreche, wie die Kinder uber tissche thun, und uber sich selbst [. . .] davon S. Paulus sagt: ‚Alle Creatur ist gut und wird geheiliget durchs wort und gebet.‘ (1. Tim. 4,5), Denn daraus kriegt die creatur kein neue kraft, sondern wird bestetigt in jrer vorigen krafft.“ WA 50, S. 644,24–29. 77 WA 50, S. 646,18–24. 78 WA 50, S. 646,25–33. Im Folgenden bezieht Luther dies auf Müntzer, s. dazu WA 50, S. 646, Anm. a.
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Es wird also deutlich, dass Luther an zwei Fronten kämpft. An der ersten steht er gegen eine Äußerlichkeit schlechthin, gegen die Selbstlegitimation der religiösen Medien durch die Kraft der Präsenz, durch welche verdrängt und vergessen wird, was da vermittelt wird, was da präsent wird – die Sakramente Gottes oder die des Satans. Hier wendet er sich wie Sebastian Franck gegen die Verführungskraft des Buchstabens, des menschlich Fasslichen-Allzu Fasslichen, das eben so vom Wahren und Wesentlichen wegführt. An der zweiten Front steht Luther gegen eine Innerlichkeit ohne Medium, in der sich Gott bloß und nackt selbst vermitteln würde.Was gegen diesen Weg steht, wurde oben schon skizziert: dass Gott faktisch schon einen anderen Weg gewählt hat, einen Weg, dessen Merkmal eine doppelte Demut ist: die Demut Gottes, der Mensch wird und menschliche Sprache und andere kreatürliche Dinge wählt, um sich mitzuteilen – und die Demut des Menschen, der sich eingestehen muß, dass er so ist, dass Gott sich ihm anders gar nicht mitteilen kann. Aus Francks Sicht ist Luthers Beharren auf der Schrift und ihren Buchstaben allerdings ein besonders krasses Beispiel für ein doktrinäres, rechthaberisches Festhalten an einer bestimmten Einzelaussage oder einer Linie von Einzelaussagen in der Bibel – ohne dorthin durchzudringen, was ihr Sinn, ihr Verständnis im Geist ist. Luthers Bibelverständnis wird nur dann nicht von diesem Einwand getroffen, wenn die Kommunikation durch das Medium Bibel begleitet wird von der Einsicht auf Seiten des Empfängers, welche die Gründe mit vollzieht, die Gott genau diesen Weg einer Kommunikation hat wählen lassen, der Einsicht also gerade in die Niedrigkeit des Menschen vor Gott, in die Hoheit und Heiligkeit Gottes, aber auch die Bereitschaft, sich von Gottes Liebe erreichen zu lassen. Es muss also das stattfinden, was ich hier Fundamentalkommunikation genannt habe. Ich hatte mit einer Überlegung darüber angefangen, dass die Präsenz einer Person oder eines Sachverhalts gerade durch das Ein-Setzen, das Dazwischen-Setzen eines Mediums erreicht wird. Die Ausführungen sowohl Luthers als auch Francks zeigen, dass der Gebrauch eines Mediums auch zu dem entgegengesetzten Ergebnis führen kann. Es ist dann nicht mehr ein Medium in dem Sinne eines Materials, durch welches Licht dringen kann, so dass etwas, das dahinter liegt, überhaupt erst sichtbar wird. Das Medium ist dann vielmehr etwas DazwischenGestelltes, eine Barriere, die hindert, zu dem zu gelangen, was dahinter liegt. Das wäre der Fall des tötenden Buchstabens. Entgegensetzt dazu ist der Fall einer scheinbar medienlosen Kommunikation. Diese aber misslingt, weil diese Kommunikation eben doch ein Medium braucht. Damit das Medium aber kommunikationstauglich wird, muss eine Übereinstimmung zwischen dem Mitteilenden und dem Empfangenden bestehen, dass die Kommunikation gerade über ein Medium erfolgen soll, ein Mitvollzug des Weges, den der Mitteilende zu dem Empfänger der Botschaft nimmt.
Christoph Burger
Spätmittelalterliche und reformatorische Marienpredigten 1. Ein Mittler, Jesus Christus, und die vielen Mittler hin zu Gott Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts sind sich trotz aller Unterschiede darin einig, dass Jesus Christus selbst das zentrale Medium der Gnade Gottes ist.1 Damit melden sie zugleich dagegen fundamentalen Protest an, dass andere Mittler hin zu diesem Mittler in Frömmigkeit und Theologie der spätmittelalterlichen Kirche Nordwesteuropas so bedeutende Rollen spielen. Die Reformatoren wollen neben dem einen Mittler Jesus Christus keine weiteren Mittler dulden. Er allein hat ihrer Überzeugung nach Schöpfer und Geschöpfe miteinander versöhnt. Demnach bedarf es keiner weiteren Mittler. Zur Debatte steht ganz besonders die Rolle Marias. Denn die Mutter Jesu steht ja nach Auffassung sowohl der einfachen Christen als auch der akademischen Theologen dicht unterhalb der Trinität und damit höher als alle Erzengel, Märtyrer und Heiligen.Wird sie doch als die ‚neue Eva‘ verehrt, die durch ihre Demut den Hochmut der Eva wiedergutgemacht habe, wie ihr Sohn Jesus Christus als der ‚neue Adam‘ die Übertretung Adams gesühnt habe. Maria wird als die wichtigste Mittlerin hin zum Mittler betrachtet, als mediatrix ad mediatorem. Ich erinnere nur an die zahlreichen Abbildungen, die die sogenannte ‚Heilstreppe‘ zeigen: ein Bittsteller wendet sich an einen Heiligen, dieser an Maria, Maria an ihren Sohn und Christus an seinen Vater. An Predigten über Maria läßt sich deswegen besonders deutlich machen, wie fundamental sich die Auffassungen zwischen Frömmigkeit und Theologie durch die Reformation geändert haben, beispielsweise in Predigten.
2. Der Priester als Mittler des Heils, der Pfarrer als bloßer Vermittler der Heilsbotschaft In Frömmigkeit und Theologie der altgläubigen Kirche spielt unterhalb der Mittlerin hin zum Mittler Jesus Christus, Maria, der Klerus eine sehr wichtige Rolle. Der Augustinereremit Johannes von Paltz, Hochschullehrer der Theologie in Er1 Berndt Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter, in: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2009, S. 21–59, spricht im Hinblick auf spätmittelalterliche Vorstellungen von Christi erlösendem Tun und Leiden als von einer Medialität erster Ordnung, die grundlegend sei, und in die die gnadenreiche Mitwirkung Marias einbezogen sei, hier: S. 34 und 36. Die Reformatoren wendeten sich scharf gegen eine Mitwirkung Marias.
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furt, schreibt 1502 in einem seiner beiden Hauptwerke: „Gott, der Herr, ist barmherziger und freigebiger durch Vermittlung der Priester als ganz unmittelbar, wenn man einmal nicht über seine Natur spricht, sondern über die Wirkung und Zueignung. Denn er eignet mehr Wohltaten durch Vermittlung von Priestern zu als ohne sie.“2 Ganz besondere Bedeutung haben die Angehörigen des Klerus als Vermittler bei der Verwaltung der Sakramente. Können sie doch kraft der ihnen verliehenen Weihegewalt durch das Aussprechen der Einsetzungsworte die Elemente Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi wandeln. Sie gehören zum priesterlichen ‚ordo‘, der den Rang eines Sakraments hat. Sie können über Christi ‚corpus mysticum‘ verfügen. Der Pfarrer einer reformatorischen Gemeinde hat bei der Zueignung der Sakramente, die im Augsburger Bekenntnis des Jahres 1530 in einem Atemzug mit der Predigt des Evangeliums genannt werden, im Vergleich mit dem Priester der altgläubigen Kirche eine fundamental weniger wichtige Rolle. Dennoch kommen auch die Reformatoren nicht ohne Vermittler des Glaubens an den einen Mittler aus. Die Rolle des Pfarrers in einer reformatorischen Gemeinde bei der Spendung der Sakramente ist sehr viel weniger prominent als die des Priesters in der römisch-katholischen Kirche. Gerade dadurch hat für ihn die Predigt desto mehr Gewicht. Der Paraklet, der Heilige Geist, bedient sich auch nach reformatorischer Überzeugung der Menschen, um Glauben zu schaffen. Der Glaube kommt laut Röm. 10, 17 aus dem Hören, im Wortlaut der Biblia Vulgata: fides ex auditu, auditus autem per verbum Christi, und dieses Hören wird in erster Linie als das Hören auf die Predigt verstanden. Nach Überzeugung der Reformatoren gibt Gott selbst den Glauben ins Herz. Das Augsburger Bekenntnis formuliert so: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er, als durch Mittel, den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket . . .“3 Ein Mensch kommt also nur dann zum Glauben, wenn es Gott gefällt. Es ist nicht etwa der Prediger, der Glauben in einem anderen zustande bringt. Da nun aber nach reformatorischer Überzeugung Jesus Christus das eine Wort Gottes ist und da die Texte der Bibel dieses eine Wort bezeugen, so besteht die Aufgabe des Predigers lediglich darin, die bezeugenden biblischen Texte auszulegen. Und doch muß ein Prediger sich bemühen, einen biblischen Text so auszulegen, dass die Hörerinnen und Hörer von dem medial vermittelten Zeugnis angesprochen wer2 Johannes von Paltz: Coelifodina; Johannes von Paltz: Werke 1, hg. von Christoph Burger/ Friedhelm Stasch unter Mitarbeit von Berndt Hamm/Venício Marcolino, Berlin/New York 1983, S. 264,6–9; eigene Übersetzung. 3 Augsburger Bekenntnis, deutsche Fassung. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Redaktion: Hans Lietzmann, Berlin 1930, S. 57, 2–7. Der lateinische Text von Confessio Augustana 5 lautet: „Ut hanc fidem consequamur, institutum est ministerium docendi evangelii et porrigendi sacramenta. Nam per verbum et sacramenta tamquam per instrumenta donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in his, qui audiunt evangelium [. . .].“ Ebd., S. 57,2–58,1.
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den.4 Ist er auch kein Heilsmittler, so ist er doch ein Vermittler des biblischen Wortes, das von dem einen Wort Gottes, Jesus Christus, Zeugnis ablegt. Unter den Funktionen, die der Pfarrer einer reformatorischen Gemeinde wahrnimmt, ist die Aufgabe, zu predigen, besonders wichtig. Damit sollen natürlich seine Rollen als Sakramentsspender, Seelsorger und Katechet nicht geleugnet werden.Wohl aber wird behauptet, dass der Umgang mit der Bibel und die Predigt, die daraus schöpft, seine zentrale Aufgabe darstellen. Als Prediger ist der Pfarrer Bibelausleger. Weil er selbständig die Bibel lesen und auslegen soll, muß er studieren. Deswegen muß er alte Sprachen lernen. Er ist verpflichtet zum Umgang mit dem Bibeltext in der Ursprache und zur Originalität der Auslegung in der Predigt. Er darf nicht einmal anerkannt gute Predigten von Augustinus, Gregor dem Großen oder Bernhard von Clairvaux in der Volkssprache vorlesen, geschweige denn sich mit einer Predigthilfe begnügen. Nein, auch wenn es der Heilige Geist ist, der Glauben schaffen muß, der Pfarrer muß das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders durch Christus predigen. Am Beispiel einiger Marienpredigten will ich aufzuweisen versuchen, wie Reformatoren des 16. Jahrhunderts als Prediger eben doch recht massiv Einfluß zu nehmen versuchen, wie sie das Zeugnis von dem einen Mittler Jesus Christus, dem auch und gerade seine Mutter Maria keine Konkurrenz machen darf, weitergeben und wie sie definieren, wie rechter Glaube aussehe, obwohl ihn doch Gott schenken muß. Um die enorme Differenz in der Sicht Marias zwischen altgläubiger Theologie und reformatorischer Theologie zu verdeutlichen, zitiere ich einleitend einige Aussagen bedeutender mittelalterlicher Theologen über Maria als Mittlerin des Heils.5
3. Aussagen über Maria in hoch- und spätmittelalterlichen Predigten: Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor, Jean Gerson Bernhard von Clairvaux († 1153) erklärt die Demut geradezu als heilsnotwendig und stellt Maria als Beispiel dieser Tugend heraus. In einer seiner Predigten ‚Zum Lob der jungfräulichen Mutter‘ sagt er: „Wenn du schon nicht die Jungfräulichkeit in Demut nachahmen kannst, so ahme doch die Demut der Jungfrau nach! 4 Jan Hermelink faßt Luthers Sicht folgendermaßen zusammen: „Die ‚innerliche‘, Glauben schaffende Wirkung des Wortes Gottes vollzieht sich nicht ohne das sinnlich wahrnehmbare, ‚äußerliche Wort‘.“ Art. Predigt III. Konfessionell. 3. Evangelisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6 (2003), Sp.1595f. 5 Ausführlicher hierzu: Christoph Burger: Maria muß ermutigen! Luthers Kritik an spätmittelalterlicher Marienverehrung und sein Gegenentwurf in seiner Auslegung des ‚Magnificat‘ (Lk. 1,46b– 55) aus den Jahren 1520/21, in: Matthieu Arnold/Rolf Decot (Hg.): Piété et Spiritualité. L’impact de la Réformation aux XVIe et XVIIe siècles = Frömmigkeit und Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. und 17. Jahrhundert, Mainz 2002 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 54), S.15–30, und ders.: La polémique de Luther contre la vénération de Marie, in: Matthieu Arnold (Hg.): Annoncer l’Evangile (XVe –XVIIe siècle). Permanences et mutations de la prédication.Actes du colloque international de Strasbourg (20–22 novembre 2003), Paris 2006, S. 71–85.
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Jungfräulichkeit ist eine lobenswerte Tugend. Doch Demut ist notwendiger. Jene wird lediglich angeraten. Diese gebietet [Gott.] [. . .] Du kannst gerettet werden, ohne ein jungfräuliches Leben geführt zu haben. Ohne demütig gewesen zu sein, kannst du es nicht.“6 Bernhard stellt damit Demut als eine Bedingung dafür dar, selig zu werden. Der Regularkanoniker Hugo von St. Viktor († 1141) schreibt: „Zu Recht bezeugt Maria, Gott habe in ihr allein die Demut angesehen. Denn in Maria gewann menschliches Wesen die Versöhnung mit Gott durch Demut zurück. Durch Hochmut hatte es sie in den Voreltern verloren.“7 Damit erklärt der Viktoriner Maria zur Miterlöserin neben ihrem Sohn, weil sie den Fehltritt der Eva gesühnt habe. Einer der bedeutendsten Frömmigkeitstheologen, der Pariser Hochschullehrer der Theologie und Universitätskanzler Jean Gerson († 1429), predigt in der französischen Volkssprache am Tage der Verkündigung an Maria, dem 25. März, wohl im Jahre 1397: „Gegrüßt seist du, Maria! (. . .) Das ist ein sehr schöner Gruß und ein sehr angenehmer Segen, denn durch diesen Gruß, durch dieses ‚Gegrüßt seist du!‘, wurde der Fluch über das menschliche Geschlecht hinweggenommen, der durch Eva gekommen war.Weggenommen wurde das ‚Wehe!‘, der Schaden dauernden Verdammtseins, der über uns verhängt war.“8 Gerson fährt fort mit einer direkten Anrede Marias: „Euch, Jungfrau, durch die uns Heil und Rettung erschienen ist.“9 Zusammenfassend kann man sagen, dass Maria von diesen hier beispielhaft genannten Theologen, aber durchaus nicht nur von ihnen, als die neue Eva betrachtet worden ist, als Mittlerin des Heils in einem theologisch nicht wirklich durchreflektierten Verhältnis zu ihrem Sohn. Denn gewiß wollte keiner der genannten Theologen die Mittlerschaft Jesu Christi relativieren. Maria wurde ihrem Sohn beigeordnet, ohne dass diese Theologen in diesen Predigten darin ein Problem gesehen hätten. Mir ist sehr bewußt, dass Beichtväter von Nonnen und Beginen, um den Bedürfnissen ihrer Hörerinnen entgegen zu kommen, in ihren Predigten oft genug andere Aspekte der Mariologie betont haben, die stärker zur Identifikation mit der jungfräulichen Mutter einluden. Doch geht es dabei weniger um Marias Demut und um ihre Rolle als Mittlerin des Heils, deswegen können sie hier außer Betracht bleiben.
6 Bernhard von Clairvaux: In laudibus virginis matris, homilia 1, in: Jean Leclercq (Hg.): Opera omnia. Editiones Cistercienses, Bd. 4, Rom 1966, S.17,23–18,1. 7 Hugo de Sancto Victore: Explanatio in Canticum Beatae Mariae; Patrologiae cursus completus. Ed. Jacques-Paul Migne, Series Latina 175, 423A. 8 Jean Gerson: Pour l’annonciation; Oeuvres complètes, ed. P. Glorieux, Bd. 7*, Paris etc. 1968, S. 538 (eigene Übersetzung): „Je te salue Marie, etc. Moult bel salut icy a et moult agreable beneisson quer par iceluy salut par tel Ave fut destruicte la maudisson de l’umain lignage qui vinte par Eve, fut osté le Ve, le meschief de pardurable dampnacion se a nous ne tient.“ 9 Ebd., S. 538f.: „A vous, Vierge tres digne, [. . .] par laquelle nous est venue joie, nous est apparu salut et salvation [. . .].“
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4. Aussagen bedeutender Reformatoren über Maria in Predigten Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts standen vor der Aufgabe, zu erklären, ob der Mutter Jesu noch eine besondere Rolle zugebilligt werden könne, wenn doch ihr Sohn nach reformatorischer Überzeugung der einzige Mittler war. Wenn Maria noch eine herausgehobene Rolle zugebilligt wurde, dann mußte sie möglichst unmißverständlich zur Trinität hin abgegrenzt werden. Ferner mußten sie deutlich machen, welche Rolle der Predigt eines reformatorischen Pfarrers im Prozeß der Vermittlung des Glaubens zukomme. a) Martin Luthers Marienpredigten Nach Luthers Überzeugung will das Wort Gottes, das in der Predigt jeweils von neuem konkret zugesprochen wird, die Menschen zum Glauben anhalten, locken und reizen.10 Die Predigt hat deswegen für ihn große Bedeutung. Luther hat ausgiebig über Maria gepredigt. Ich beschränke mich auf Zitate aus seinen Predigten über Marias Lobgesang, das Magnifikat, laut Lukas 1. Schon 1516 betont er, Maria habe ein Beispiel echter Demut und Dankbarkeit gegeben. Sie habe ja nicht etwa deswegen behauptet, man werde sie selig nennen, weil sie es als eine Leistung betrachtet habe, dass sie zugestimmt hat, Mutter des Sohnes Gottes zu werden.11 „Sie rühmt sich keines Verdienstes, sie zählt kein Werk auf, sie bekennt lediglich, dass sie passive Mutter und Empfängerin guter Werke sei, nicht deren [aktive] Bewirkerin.“12 Gott allein ist mächtig.13 Im Unterschied zu der Einstellung, die unter Menschen üblich sei, zählt bei Gott nicht der, der viel geleistet hat, sondern der, der viel entgegengenommen hat.14 Maria verfügt über nichts, was nicht auch Luther selbst und seine Predigthörer als einfache Christen hätten.15 Und doch kann Luther in dieser Predigt Maria anrufen, um sie zu bitten, seiner und anderer Christen zu gedenken. In seiner Übersetzung und Auslegung des Magnifikat (1520/21) wird Luther ausführlicher schreiben, in welchem Sinne ein Christ seiner Ansicht nach Maria um ihre Fürbitte anrufen sollte.16 10 Vgl. Albrecht Beutel: Art. Predigt III. Geschichte der Predigt. 3. Reformation, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 6 (2003), Sp.1587. 11 Vgl. Luther: Sermo in festo Adscensionis Mariae vom 15. 8.1516, WA 1, S. 77,28–32. 12 Luther: ebd., WA 1, S. 77,31f. (eigene Übersetzung). 13 Vgl. Luther: ebd., WA 1, S. 78,3. 14 Vgl. Luther: ebd., WA 1, S. 78,20f. 15 Vgl. Luther: ebd., WA 1, S. 78,40. 16 Luther: ebd., WA 1, S. 79,6f.: „O felix mater! O dignissima virgo! memento nostri, fac ut et nobis haec magna faciat Dominus.“ – In seiner Übersetzung und Auslegung des Magnifikat wird Luther dann schreiben: „Sie thut nichts, got thut alle ding. Anruffen sol man sie, das got durch yhren willen gebe und thu, was wir bitten, also das auch alle andere heyligen antzuruffen sind, das das werck yhe gantz allein gottis bleybe.“ (WA 7, S. 574,35–575,3). Zu dieser Schrift Luthers vgl. Christoph Burger: Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk. 1, 46b–55) aus den Jahren 1520/21, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 34).
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1520 polemisiert Luther ausdrücklich gegen die Auffassung, Maria sei auf eine verdienstliche Weise demütig gewesen: „Es ist nicht so zu verstehen, als ob der Herr sie [Maria] wegen des Verdienstes ihrer Demut erwählt hätte, wie die Verdienstler plappern, sondern weil des Herrn Auge die Höheren übersieht und auf die Niedrigen gerichtet ist.“17 Nicht Maria war auf verdienstvolle Weise demütig, sondern Gott hat auf ihren geringen, verachteten Stand hingesehen.18 Demnach hat nicht etwa Maria es ‚verdient‘, Gottes Mutter zu werden! Doch sagt Luther andererseits auch, Maria sei auf Erden von höchster Heiligkeit gewesen.19 Da aber Gott nicht einmal gewollt hat, dass Menschen vor Christi Majestät erschrecken sollten, um wieviel weniger dürfen sie sich dann Maria so vorstellen, dass ihre Vollkommenheit sie erschreckt!20 Deswegen berichte die Bibel auch so gut wie nichts von ihrem Leben.21 Maria hat nach Luthers Überzeugung stets die Ehre ihres Sohnes gesucht, nicht die eigene Ehre.22 In einer Predigt des Jahres 1523 betont Luther, dass Gottes Ehre nicht etwa durch zu ausbündiges Lob Mariens verkürzt werden dürfe, folgendermaßen: „Seht, was für ein gänzlich armes Mädchen sie gewesen ist! Und doch hat Gott ihre Niedrigkeit angesehen. Sie wird ganz nackt ausgezogen und Gott allein wird gepriesen [. . .].“23 Termini wie ‚leer sein‘ und ‚bloß sein‘, die Mystiker verwenden, um auszudrücken, wie Menschen sich auf den Empfang der Gnade Gottes vorbereiten, deutet Luther um: Maria ist eben ‚leer‘ und ‚bloß‘ gewesen, sie hat sich nicht etwa leer oder bloß gemacht: „Sieh doch, die Mutter Gottes ist ganz leer gewesen und hat nichts gehabt [. . .].“24 Sechzehn Jahre später, 1539, spricht Luther weniger abgesichert: „Auch dies ist ein Wunderwerk, dass die Jungfrau nicht hochmütig wird.“25 Ist sie doch eine Frau, die auf Erden nicht ihresgleichen hat.26 In dieser Predigt beschäftigt sich Luther ausgiebig mit dem Problem der Undankbarkeit. Das mag dazu geführt haben, dass er nun die Demut erneut aufwerten kann, die er doch zuvor, wenn man sie als Tugend betrachtete, die vor Gott möglicherweise geltend gemacht werden könnte, so gefährlich gefunden hatte.27
17 Luther: In Visitatione Beatae Mariae Virginis; wohl gehalten am 2. 7.1520, WA 4, S. 633,23– 25 (eigene Übersetzung). 18 Vgl. Luther: ebd. S. 635,5f.: „‚respexit humilitatem ancillae suae‘ i.[d] e.[st] vilitatem, abiectionem fortunaeque parvitatem [. . .].“ 19 Vgl. Luther: ebd. S. 634,3f. 20 Vgl. Luther: ebd. S. 634,9–12. 21 Vgl. Luther: ebd. S. 634,12–14. 22 Vgl. Luther: ebd. S. 634,17–19. 23 Luther: Sermon auf das Evangelium Lucae 1 ‚Maria stand auf‘ vom 2. Juli 1523, WA 12, S. 613,10–12 (eigene Übersetzung). 24 Luther: ebd., WA 12, S. 614,4–5 (eigene Übersetzung). 25 Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, nachmittags, 2. 7.1539, WA 47, S. 832,2f. (eigene Übersetzung). 26 Vgl. Luther: ebd. S. 832,6f. 27 Vgl. Luther: ebd. S. 836,5–7: „Sic Deo non solum sumus undanckbar fur leib und seel etc. sed etiam pro verbo nihil Sacerdotibus dantes. Die ingratitudo wird dem fas den boden ausstossen.“
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In einer Predigt des Jahres 1544 betont Luther, Maria sage, „nicht mich werden sie ansehen, sondern Gott, weil er mich angenommen hat [. . .].“28 Erneut fordert er dazu auf, sich mit dem sozialen Status zufrieden zu geben, in dem man sich nun einmal befinde: „Wer es vermag, der lerne deswegen humilitatem und sei zufrieden im geringen Stand [. . .].“29 Ein Predigthörer, der sonst keine Gelegenheit gehabt hatte, Luther zu hören, mochte sich an die altvertraute Verehrung von Marias heilbringender Demut erinnern. Zusammenfassend kann man sagen, dass es Luther sehr daran gelegen ist, Maria auf keinen Fall neben ihren Sohn zu stellen, sondern trotz aller ihrer Vorzüglichkeit neben andere Christen und Christinnen. Sie ist ein Beispiel für Gottes HinSehen auf sozial Niedrige. b) Huldrych Zwinglis Marienpredigt Von Huldrych Zwingli ist eine einzige Predigt erhalten geblieben, die ausdrücklich von der angemessenen Weise, Maria zu verehren, handelt. Diese Marienpredigt ist im Herbst des Jahres 1522 im Druck erschienen.30 Zwingli hat diese Predigt wirklich gehalten, für den Druck hat er sie jedoch überarbeitet und wahrscheinlich erheblich erweitert.31 Denn die gedruckte Predigt vorzutragen würde etwa anderthalb Stunden erfordern, und es ist wenig wahrscheinlich, dass die wirklich gehaltene Predigt so lange gedauert hat.32 Das Datum der Predigt ist nicht exakt zu ermitteln, Zwingli predigte vermutlich in der zweiten Hälfte des Monats Juli oder in der ersten Hälfte des Monats August 1522.33 Evangelium des Tages war Lk. 1, 39–50; freilich macht Zwingli in seiner gedruckten Predigt diesen Abschnitt nicht als ganzen zum Thema, um nicht zu ausführlich zu werden. Zwingli muß sich durch diese Predigt gegen die Anschuldigung wehren, er habe Maria die schuldige Ehre verweigert. Hatte er es doch gewagt, den Gruß des Engels Gabriel anders zu übersetzen, als es in der Volksfrömmigkeit gebräuchlich 28 Luther: Predigt am Tage Mariä Heimsuchung, 2. 7.1544, WA 49, S. 498,19f. (eigene Übersetzung). Es geht um eine Nachschrift der Predigt Luthers von Stoltz, vgl.WA 49, S. XXXVII. 29 Luther: ebd. S. 498,16f. (eigene Übersetzung). Es geht um eine Nachschrift der Predigt Luthers von Rörer, vgl.WA 49, S. XXXVII. 30 Im Frühsommer dieses Jahres war eine Auseinandersetzung um die Heiligenverehrung und um das Mönchtum in Zürich aufgebrochen. Am 2. Juli 1522 fand eine vom Rat der Stadt angeordnete Disputation statt.Vgl. Hans Schneider: Zwinglis Marienpredigt und Luthers Magnifikat-Auslegung. Ein Beitrag zum Verhältnis Zwinglis zu Luther, in: Zwingliana. Beiträge zur Geschichte Zwinglis, der Reformation und des Protestantismus in der Schweiz 23 (1996), S.105–141, hier: S.107, Anm.19. Diese Predigt ist die einzige, in der Zwingli sich ausdrücklich mit Maria beschäftigt; vgl. Emidio Campi: Zwingli und Maria. Eine reformationsgeschichtliche Studie, Zürich 1997, S.15. 31 Vgl. Schneider: ebd., S.109 und 112. 32 Eine Übersetzung in heutiges Deutsch aus der Feder von Martin Hirzel nimmt im modernen Druck 36 Seiten ein: Eine Predigt über die ewigreine Jungfrau Maria, die Mutter Jesu Christi, unseres Erlösers, in: Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S. 99–146. Die Vorlage findet sich in: Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd.1 (Corpus Reformatorum 88 = Z 1), hg. von Emil Egli u. a., Berlin 1905, S. 399–428. 33 Am 15. 8. wurde Mariä Himmelfahrt gefeiert, das legt die Vermutung nahe, dass Zwingli die Predigt an diesem Tag gehalten hat.Vgl. Schneider: Zwinglis Marienpredigt (wie Anm. 30), S.110.
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war. Das Gebet, das mit den Worten ‚Ave Maria!‘ beginnt, endet seit dem Konzil von Ephesus 431 mit der Bitte an Maria um Fürsprache: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, nun und in der Stunde unseres Todes! Amen.“ Im ausgehenden Mittelalter war das ‚Ave Maria‘ das volkstümlichste Mariengebet.34 Dieses sehr bekannte und vielen Christen liebgewordene Gebet wurde millionenfach gebetet und war deswegen emotional hoch besetzt.35 Zwingli hatte vermeiden wollen, dass Maria als eine Frau verstanden werden könnte, die aktiv voller Gnade sei. Schon in einer Zusammenstellung von Beschwerden des Chorherren Konrad Hofmann, die Alfred Schindler auf Ende 1521 datiert hat, tadelt dieser Zwinglis Deutung des Ave Maria.36 In der gedruckten Predigt erklärt Zwingli ausführlich, wie er verstanden werden wolle. Er wolle sagen, das ‚Ave Maria‘ sei kein Gebet, sondern ein Gruss und ein Lob. Man könne es deuten wie den Gruß: „Gott grüsse dich, Anna oder Grete!“ Aus Zwinglis ‚Anna‘ oder ‚Grete‘ wird im Referat der Gegner das Wort ‚Mätzi‘.37 ‚Mätzi‘ konnte man als Vornamen eines Mädchens, als ‚Püppchen‘, aber eben auch pejorativ als ‚leichtes Mädchen‘ verstehen. Seine Gegner warfen ihm vor, er habe Maria, die Mutter Jesu Christi, verunehrt.38 Zwingli muß sich also mit diesem Vorwurf auseinandersetzen. Der Ehre Marias Abbruch zu tun war brandgefährlich, selbst wenn man sich nur dem Verdacht aussetzte, man habe sie ‚Püppchen‘ genannt. Den Gruß des Engels übersetzt Zwingli in seiner Marienpredigt nun so: „Gott grüße dich, du voller Gnaden! Der Herr ist mit dir. Hochgelobt bist du unter allen Frauen.“39 Er stützt sich auf die philologische Beobachtung, dass das griechische Wort ‚kecharitoméne‘ in Lk. 1, 28 ein Partizip Perfekt Passiv ist. Demnach begrüßt der Engel Maria als eine Begnadete, als eine von Gott mit Gnade Beschenkte. Den Gruß der Elisabeth (Lukas 1, 42) übersetzt Zwingli in seiner Predigt als: „hochgelobt bist du über alle Frauen“. Dafür kann er sich erneut auf den philologischen 34 Es kombiniert die Verse Lk. 1, 28 und Lk. 1, 42 miteinander und wurde sehr oft an das Vaterunser angefügt. 35 Vgl. Josef Andreas Jungmann: Art. Ave Maria, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd.1 (1957) [Sonderausgabe 1986], Sp.1141. 36 Vgl. Alfred Schindler: Die Klagschrift des Chorherrn Hofmann gegen Zwingli, in: Heiko A. Oberman u. a. (Hg.): Reformiertes Erbe. Festschrift für Gottfried W. Locher, Bd.1, Zürich 1992, S. 325–359, hier: S. 349,3–14. In Zeile 6 ist das Ave Maria genannt. 37 Vgl. Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S.124 mit Anm. 55. „Mätzi“ kann als „Fräulein“ gedeutet werden. Rudolf Gwalther freilich übersetzte als „scortillum“, kleine Nutte, Hure. Ebd. S.118 mit Anm. 41: Zwingli wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe Maria eine ‚trüll‘ genannt, eine leichtfertige Frau. 38 Schneider: Zwinglis Marienpredigt (wie Anm. 30), S.110f.: Laut einem Bericht des Churer Pfarrers Jakob Salzmann habe der vornehme Zürcher Soldat Jakob Stapfer in Chur das Gerücht verbreitet, Zwingli habe auf der Kanzel behauptet, das Ave Maria sagen heiße: „Gott grutz dich Grettlin!“ Die relevante Passage aus der gedruckten Predigt Zwinglis (Originaltext: Corpus Reformatorum 88 = Z 1, S. 408,28–S. 409,6) ist auch abgedruckt bei Schneider ebd., S.111, Anm. 53, in heutiges Deutsch übersetzt (durch Hirzel) bei Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S.124. Vgl. dazu auch Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S.119 mit Anm. 42. 39 Zwingli: Marienpredigt. Übersetzung von Martin Hirzel, in: Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S.120.
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Befund berufen, in diesem Fall auf die Bedeutung der griechischen Vokabel ‚eulogeméne‘, ein Partizipium Perfekt Passiv des Verbs ‚eulogéo‘, das in der Regel als ‚loben, preisen, Gutes über jemanden sagen‘ übersetzt wird. Marias Aussage nach Lk. 1, 49: „Der Mächtige hat große Dinge an mir getan“, paraphrasiert Zwingli ausführlich. Er nennt einerseits Maria die Braut Gottes, betont aber andererseits, Gott habe durch Maria nicht aufgrund eines Verdienstes gewirkt, das sie erworben hätte, sondern durch seine Gnade.40 Zwingli liegt also daran, Maria nicht als Mittlerin neben dem einen Mittler zu betrachten, sondern als Empfängerin der Gnade Gottes. Für moderne protestantische Leser überraschend ist es jedoch, welche Attribute Marias er andererseits auch beibehält. So betont er beispielsweise, Maria sei vor, während und nach der Geburt Jungfrau geblieben.41 Es ist außerordentlich spannend, wie geradezu einander entgegengesetzt sich im Hochdeutschen und im Schweizerdeutschen die Bezeichnungen ‚Magd‘ und ‚Jungfrau‘ entwickelt haben. Der Konstanzer Generalvikar Fabri warf Zwingli vor, Maria eine Magd genannt zu haben. Er ging dabei von der Annahme aus, auch im Schweizerdeutschen bezeichne man mit ‚Magd‘ ein Dienstmädchen. Anhänger Zwinglis replizierten, Fabri verstehe eben nichts vom Schweizerdeutschen, in dem gerade eine ‚Jungfrau‘ eine Dienstmagd bezeichne, während man mit der Vokabel ‚Magd‘ eine jungfräuliche Frau benenne.42 Zwingli kann Maria in seiner Predigt auch ‚Mutter Gottes‘43 und ‚Gottesgebärerin‘44 nennen. Zum Zeitpunkt der Empfängnis Jesu war Maria nach Zwinglis Ansicht frei von Erbsünde und frei von aktuellen Sünden. Zusammenfassend kann man sagen, dass Zwingli einerseits Maria sehr entschieden die Funktion einer Mittlerin hin zu dem einen Mittler abspricht: Sie ist nicht in dem Sinne „voll der Gnaden“, als ob sie selbst Gnade schenken könnte. Andererseits aber betrachtet Zwingli Maria keineswegs als eine gewöhnliche Christin, sondern als eine herausgehobene Zeugin für die Gnade, die Gott schenkt. c) Heinrich Bullinger zum ‚Ave Maria‘ in einer Predigt und in einer Schrift zum Läuten von Glocken Auch Zwinglis Nachfolger in Zürich Heinrich Bullinger protestiert, philologisch abgesichert, gegen eine Mittlerinnen-Rolle Marias. Bullingers Predigten waren beispielsweise auf den Schiffen der niederländischen Ostindischen Kompanie greifbar und prägten dadurch die zahlreichen Offiziere, Passagiere und Matrosen. 40
Vgl. ebd. S.128. Vgl. Schneider: Zwinglis Marienpredigt (wie Anm. 30), S.113; das Zitat im Original: „dann sy ein reine unverserte magt vor der geburt, in und nach der geburt, ia in ewigkeit blybt.“ Corpus Reformatorum 88 = Z 1, S. 402,1f.Vgl. auch ebd. S. 424,7–10. 42 Vgl. Campi: Zwingli und Maria (wie Anm. 30), S.112 und S.113, Anm. 31. 43 Vgl. Schneider: Zwinglis Marienpredigt (wie Anm. 30), S.114, Anm. 77. 44 Vgl. ebd. S.114, Anm. 78: Z 1, 399,1 (im Predigttitel): „Ein predig von der reinen gotzgebärerin Maria“. 41
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Bullinger schreibt: „Was aber die Sache selbst betrifft, leugnen wir keineswegs, daß die selige Jungfrau voll der Gnaden Gottes sei.Was der Engel zu ihr gesagt hat, lesen wir: ‚Ave gratia plena‘, Lukas sagt auf Griechisch: ‚Chaire kecharitomene‘, was wörtlich heißt: ‚Gegrüßt, Begnadete!‘ Denn ‚kecharitomene‘ ist Partizipium passivum, hergeleitet von ‚charito‘, was Paulus im 1. Kapitel des Epheserbriefs gebraucht: ‚Er hat uns zur Annahme an Sohnes Statt bei sich selbst durch Jesus Christus vorherbestimmt zum Lobe der Herrlichkeit seiner Gnade‘ (Eph. 1, 6) (echaritosen hemas), wie der alte Übersetzer sagt: ‚gratificavit‘, das heißt: er hat uns angenehm gemacht und angenommen durch den Geliebten (oder: im Geliebten). Der Übersetzer, der sich näher an den Wortlaut des Epheserbriefs anschließt, weicht weit ab von der Wortbedeutung, wenn er den Engelsgruß übersetzt: ‚Ave gratia plena‘, wo er wortgetreu hätte übersetzen müssen: ‚Ave gratificata‘, das heißt: ‚Gegrüßet, die du Gnade empfangen hast und umsonst von Gott geliebt bist.‘“45 Zum ‚Ave Maria‘ schreibt Bullinger an anderer Stelle auch: „Die Grußworte, die du sprichst, wird ein anderer als Gebet verstehen, auch wenn du es für etwas anderes hältst. (. . .) Und erkennst du auch, dass du sie grüßest, ohne einen Auftrag von Gott dazu zu haben . . .?“46 d) Eine Predigt Johannes Calvins Im Jahre 1562 erschienen 65 Predigten im Druck, die Calvin in der französischen Volkssprache von 1559 an bis zum 17. November 1560 über die biblischen Texte gehalten hat, die er in seiner Evangelienharmonie zusammengestellt hatte.47 Ich konzentriere mich hier erneut auf Aussagen über Maria in einer Predigt über Lk. 1, das Loblied der Maria. Den für die Marienfrömmigkeit besonders wichtigen Vers Lk. 1,48 überträgt Calvin so, dass es ausgeschlossen ist, ihn im Sinne der vorherrschenden Marienverehrung der altgläubigen Kirche zu interpretieren: „il [Dieu] a regardé la petitesse de sa servante.“48 Als Übersetzung kommt dann nur in Frage: „Gott hat hingesehen auf die Kleinheit seiner Dienerin.“ Keine Rede davon, dass es sich hier um tugendhafte Demut handeln könnte, um eine Leistung Marias, durch die sie es verdient haben könnte, dass Gott sie gnädig ansah, betont der Prediger.49 Maria selbst anerkennt ja, dass Gott allein es verdient, verherrlicht zu werden.50 Durch 45 Heinrich Bullinger, hier zitiert nach: Walter Tappolet/Albert Ebneter: Das Marienlob der Reformatoren, Tübingen 1962, S. 294f. Der von Tappolet benutzte Frühdruck (Drucker: Froschauer, 1558) war mir nicht zugänglich, es dürfte um die laufende Nummer 192 auf S. 95f. gehen in: Heinrich Bullinger Bibliographie, Bd.1, bearbeitet von Joachim Staedtke, Zürich 1972. 46 Heinrich Bullinger: Das Glockenläuten, 1571, in: ders.: Schriften 6, hg. von Emidio Campi/ Detlef Roth/Peter Stotz, Zürich 2006, S. 479. 47 Jean Calvin: Harmonie évangelique, dixième sermon. Auslegung von Lukas 1, 45–48; Corpus reformatorum 46, Sp.109–122. – ders.: Harmonia evangelica; Corpus reformatorum 45, Sp. 36–43. 48 Calvin: Harmonie évangélique, dixième sermon; Corpus reformatorum 46, hier: Sp.110. 49 Vgl. Calvin: ebd. Sp.117: „on a pensé que c’estoit une vertu . . . mais ç’a esté un abus par trop lourd.“ 50 Calvin: ebd. Sp.113: „il n’y a que Dieu seul qui merite d’estre glorifié [. . .].“
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ihren Lobgesang predigt sie, was jeden Hörer dazu anreizen soll, Gott die verdiente Ehre zu geben.51 Für sich selbst beansprucht Maria nichts. Sie vernichtet sich selbst geradezu (anéantit). Will sie doch, dass Gott allein geehrt werde und dass ihre eigene Seligkeit sich daraus ableite.52 Ebenso eindeutig, wie Calvin ‚tapeinosin‘ übersetzt hat, geht er nun bei „apo tou nyn“ vor. Er überträgt mit: „dores enavant“, „von nun an“. Calvin schließt auf diese Weise aus, dass man das lateinische „ex hoc“ der Biblia Vulgata so versteht, als ob Maria hier sage, ihre Entscheidung, sich dem Ratschluss Gottes zu fügen, werde dazu führen, dass man sie in Zukunft selig preisen werde. Man soll Gott so loben, dass man sich selbst keinerlei Tugend zubilligt.53 Die Papisten, tadelt Calvin, schmückten Maria mit törichten, selbsterdachten Würden und schätzten gar nicht, was sie an Gutem von Gott empfangen habe.54 Sie behaupten, Maria sei die Königin der Himmel, ein Stern, der die armen Irrenden leite, Heil der Welt, Hoffnung und Klarheit.55 Sie übertragen auf Maria, was die Heilige Schrift über Gott sagt. Maria selbst will nicht als Königin der Himmel gepriesen werden. Die Papisten besitzen den Himmel nicht, es liegt also nicht in ihrer Macht, Maria zur Herrin des Himmels zu machen. Sie machen Maria gerade durch ihr Lob zur Lügnerin.56 Wer Maria zu seiner Advokatin macht, beraubt Jesus Christus seiner Ehre.57 Am Jüngsten Tage wird Maria Gott bitten, sie an den Papisten als an ihren Feinden zu rächen.58 Ein echter Lehrling der Jungfrau Maria ist, wer bekennt, dass er nichts ist und dass er sich ganz der Güte Gottes anbefehlen muss. Die Papisten dagegen trauen Maria sogar zu, sie könne ihrem Sohn Christus gebieten.59 Die Konsequenz ist deutlich: Wenn Maria ihrem Sohn gebieten kann, dann ist es sinnvoller, sich mit dem eigenen Anliegen an die Mutter zu wenden als an den Sohn. Denn im Gegensatz zu ihrem Sohn wird Maria ja durchgehend als milde betrachtet und niemals als Weltenrichterin. Calvin wehrt diese Sichtweise entschieden ab: In Maria erhöben die Papisten eine
51 Calvin: ebd. Sp.113: „Elle presche donc en general ce qui doit inciter à rendre à Dieu l’hommage qu’il merite.“ 52 Calvin: ebd. Sp.117: „elle s’aneantit et veut que Dieu seul ait toute preeeminence, et que sa felicité soit tenue de là.“ 53 Calvin: ebd. Sp.118: „Voila donc la vraye façon de bien louer Dieu, c’est de n’avoir nulle opinion de nulle vertu ou dignité qui soit en nous . . .“ 54 Calvin: ebd. Sp.111: „Or donc nous avons à retenir que la singuliere vertu qui a este en ceste saincte Vierge, c’est que par foy elle a receu la promesse qui luy estoit donnée, et n’a point douté que Dieu ne fust fidele [. . .].“ 55 Calvin: ebd. Sp.119 : „Royne des cieux, Estoile pour guider les povres errans, le salut du monde, Esperance, et Clarté [. . .].“ 56 Calvin: ebd. Sp.120: „Il est certain qu’ils la veulent faire menteuse [. . .].“ 57 Calvin: ebd. Sp.120f.: „Nous despouillons donc Iesus Christ de son honneur quand la vierge Marie sera appellée nostre advocate [. . .].“ 58 Calvin: ebd. Sp.121: „Ainsi donc il est certain que la vierge Marie accusera les Papistes au dernier iour à cause de l’outrage qu’ils luy font auiourd’huy.“ 59 Calvin: ebd. Sp.120: „ils l’exaltent par dessus nostre Seigneur Iesus Christ, et veulent qu’elle luy commande, comme à son enfant [. . .].“
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schwache und fehlbare Kreatur und machten sie zu einem Abgott.60 Gott bedarf keiner Helfer. Er handelt souverän.61 Calvin lehnt es schroff ab, Maria als Mittlerin des Heils zu betrachten. Die mariologischen Ehrentitel zählt er nur auf, um sie abzuweisen.
5. Zusammenfassung Reformatoren des 16. Jahrhunderts betonen zuallererst einmal, dass Maria keine Mittlerin des Heils ist. Christus allein ist es, der das Verhältnis zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen wiederherstellt. Es ist aber – zum ersten – erstaunlich, was sie über Maria aussagen, sobald sie zunächst einmal betont haben, dass sie nicht Heilsmittlerin ist.Wenn man sich ansieht, welche Ehrentitel und welche außerordentlich positiven Adjektive Luther in Predigten über Marias Loblied laut Lukas 1, das Magnifikat, Maria zuerkennt, dann ist man zunächst einmal einfach erstaunt. Dasselbe gilt für Huldrych Zwinglis Marienpredigt aus dem Jahre 1522. Es ist also zu konstatieren, dass Maria zwar theologisch sehr grundsätzlich zur Mitchristin herabgestuft wird, dass sie aber unterhalb dieser Ebene von Luther und Zwingli mit Ehrentiteln und auszeichnenden Adjektiven belegt wird, als hätte sich an ihrer Verehrung nichts geändert. Zum zweiten ist es erstaunlich, wie viel die Reformatoren eben doch über den Glauben zu sagen wagen, den doch nach ihrer Überzeugung Gott allein schenken kann. Wenn die Predigt wirklich nur verkündigen kann, während es Gottes Sache ist, den Glauben ins Herz zu senken, dann ist es doch allerhand, was sie inhaltlich über den Inhalt des Glaubens auszusagen wagen. Das Medium der Predigt hat eben offenbar doch erhebliches Gewicht, auch wenn es nur menschliche Auslegung des Bibelwortes ist, das seinerseits von Gottes einem Wort Zeugnis ablegt.
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Calvin: ebd. Sp.119: „ils veulent magnifier une creature fragile et caduque, et en font une idole
[. . .].“ 61 Calvin: Corpus reformatorum 45, Sp. 40: „Intelligit ergo Maria, Deum sua unius virtute contentum nullos adhibuisse operis socios [. . .].“
Christine Magin
Soli Deo gloria? Inschriftliche Medien der Reformationszeit Das früheste und zugleich wirkmächtigste Motto der Reformation war eine Aussage über die absolute Geltung des göttlichen Wortes: Verbum domini manet in aeternum (I Pt. 1,25 bzw. Is. 40,8).1 Auch inschriftlich lässt sich diese Devise in lateinischer und deutscher Sprache an verschiedenen Objekten nachweisen.2 Bildlichen Medien hingegen wurde durch die lutherische Theologie Unmittelbarkeit und Sakralität abgesprochen. Sie sollten vielmehr Zeichen für oder Verweise auf Glaubensinhalte sein, pädagogische und didaktische Hilfsmittel also.3 Für Martin Luther selbst war die Bilderfrage kein fundamentales Anliegen: Bilder zählten zu den nicht heilsnotwendigen Adiaphora oder Mitteldingen, deren Wert nicht durch ihre schiere Existenz, sondern durch ihren angemessenen oder miss1 Zu dieser Devise Joseph Leo Koerner: The Reformation of the Image, Chicago 2008, S. 284f. Auch Frederic John Stopp: Verbum Domini Manet in Aeternum – The Dissemination of a Reformation Slogan, in: Siegbert S. Prawer/R. Hinton Thomas/Leonard Forster (Hg.): Essays in German Language, Culture and Society, London 1969, S.123–135. – Ich danke meiner Kollegin Dr. Christine Wulf, Inschriftenkommission Göttingen, ebenso wie Dr. Henning P. Jürgens, Institut für europäische Geschichte Mainz, für zahleiche Anregungen und Hinweise.Auch den Volontären der Greifswalder Arbeitsstelle Alexander von Weber und Bettina Preuße (Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege, Jugendbauhütte Stralsund/Szczecin) bin ich zu Dank verpflichtet, weil sie mich bei der zeitaufwändigen Durchsicht von Inschriftenbänden unterstützt haben. 2 Besonders häufig scheint die Devise an Bauwerken vorzukommen, sehr früh etwa in Hannoversch Münden: DI 66 (Landkreis Göttingen), Nr.144, aus dem Jahr 1540 in lateinischer Sprache, Nr.161 aus dem Jahr 1554 in Niederdeutsch. Des Weiteren war die Devise für Glocken beliebt; vgl. etwa DI 78 (Stadt Baden-Baden, Landkreis Rastatt), Nr. 319 (1562, zweisprachig), DI 62 (Landkreis Weißenfels), Nr.144† (1558). Für Kanzeln wurde sie offenbar seltener gewählt; vgl. unten, S. 159, ebenso DI 65 (Kärnten 2), Nr. 478 (1573, lateinisch in einer katholischen Pfarrkirche). In niederdeutscher Sprache auf einem Mörser im Kulturhistorischen Museum Stralsund (FALLENTIN • FREDDERICK / GADES WORT BLIFT • EVC / 1549). Die Inschriften der Stadt Stralsund werden gegenwärtig bearbeitet von Christine Magin. Zur Zitierweise von Inschriftenbänden und einzelnen Inschriften vgl. Anm. 8. 3 Dazu Thomas Kaufmann: Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Peter Blickle/ André Holenstein (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002 (= Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 33), S. 407– 454, hier S. 421; auch Christine Wulf: Bildbeischriften im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext – Funktionswandel von Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken vom hohen Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert, in: Christine Magin/Ulrich Schindel/Christine Wulf (Hg.): Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext.Vorträge der 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik, Greifswald 9. bis 12. Mai 2007, Wiesbaden 2008, S. 37–54, hier S. 48. „Luther erwartet von (. . .) Wandgemälden nicht, daß sie Glauben hervorrufen, sondern daß sie bereits vorhandenen Glauben wachhalten.“ Margarete Stirm: Die Bilderfrage in der Reformation, Heidelberg 1977 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 45), S. 87.
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bräuchlichen Gebrauch bestimmt wurde.4 Er riet, den an sich vieldeutigen Bildern Beischriften beizugeben, um ein den Glauben förderndes Bildverständnis sicherzustellen.5 Trotz der – verglichen mit der Zeit vor der Reformation – größeren Zurückhaltung im Luthertum gegenüber kirchlichem Bildschmuck wurde dieser „ein selbstverständliches und im Horizont seiner interkonfessionellen Strittigkeit in wachsendem Maße angeeignetes Moment seiner religionskulturellen Identität“.6 Die nicht nur diesem Bildschmuck, sondern auch anderen Objekten sowohl der Kirchenausstattung als auch des Alltagslebens7 oft beigegebenen Inschriften sind historische Quellen, die zunächst formal bestimmt sind: meist in der Öffentlichkeit zu findende Texte in lateinischer oder deutscher Sprache, auf mehr oder weniger dauerhaften Materialien wie Stein, Stuck, Holz, Putz, Goldschmiede- und Metallgussarbeiten sowie Textilien angebracht.Von der handschriftlichen und gedruckten Quellenüberlieferung unterscheiden Inschriften sich dadurch, dass sie in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Objekt stehen, auf dem sie ange-
4 Misbrauch und falsche zuuersicht an bilden habe ich alle zeit verdampt und gestrafft, wie yn allen anderen stücken. Was aber nicht misbrauch ist, habe ich ymer lassen und heissen bleiben und halten, also das mans zu nützlichem und seligem brauch bringe; WA 10/2, S. 459, Betbüchlein (1522). Eine ähnliche Äußerung des Jahres 1529 bei Burkhard Kunkel: Rezeption – Renovation. Reformatorisches Gestalten mittelalterlicher Ausstattungen pommerscher Kirchen zwischen Ästhetik und Katechese, in: Gerhard Eimer/ Ernst Gierlich/Matthias Müller (Hg.): Ecclesiae ornatae. Kirchenausstattungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zwischen Denkmalwert und Funktionalität, Bonn 2009 (= Kunsthistorische Arbeiten der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 6), S. 269–289, hier S. 273 Anm.13. 5 Präzise zusammengefasst und historisch eingeordnet wird die Haltung Luthers zu Bildern bei Gudrun Litz: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 35), S. 21–27. Vgl. auch Stirm: Bilderfrage (wie Anm. 3), S. 87f., 117–119. 6 Zitat Kaufmann: Bilderfrage (wie Anm. 3), S. 414. Vgl. dagegen Carola Jäggi: Die Bilderfrage im Kontext des reformierten Protestantismus, in: Matthias Freudenberg/Georg Plasger (Hg.): Erinnerung und Erneuerung.Vorträge der fünften Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, Wuppertal 2007 (= Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 10), S. 29–54. Die auf der Basis schlesischen Materials entwickelte, jedoch generelle Geltung beanspruchende Aussage, „[d]ie an die Wände und Emporenbrüstungen gemalten Bibelzitate machten oft das wichtigste oder sogar das einzige Schmuckmotiv der lutherischen Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts aus“, muss bezweifelt werden; vgl. Jan Harasimowicz: Kunst als Glaubensbekenntnis. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Reformationszeit, Baden-Baden 1996 (= Studien zur deutschen Kunstgeschichte 359), Zitat S. 44. 7 Nicht nur mit Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs wie Öfen bzw. Ofenkacheln oder Kleidung, sondern auch mit der Um- und Neugestaltung von Kirchenausstattung und ganzen Kirchenräumen befassen sich seit etwa zehn Jahren auch Kolleginnen und Kollegen der christlichen sowie der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Archäologie weit über den deutschsprachigen Raum hinaus.Vgl. dazu etwa zahlreiche Beiträge in den drei Sammelbänden von David Gaimster/Roberta Gilchrist (Hg.): The Archaeology of Reformation 1480–1580. Papers given at the Archaeology of Reformation Conference, February 2001, Leeds 2003 (= The Society for Post-Medieval Archaeology, Monograph 1); Carola Jäggi/Jörn Staecker (Hg.): Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur, Berlin, New York 2007 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 104); Barbara Scholkmann u. a. (Hg.): Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts, Büchenbach 2009 (= Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3), hier im Wesentlichen die Beiträge der Sektionen 2 und 4.
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bracht sind.Weil die Gesamtaussage einer Inschrift stets durch ihren situativen und funktionalen Kontext mitbestimmt wird, lassen sich Inschriftenträger auch als Quellen verstehen, die Brücken zwischen der rein schriftlichen und der materiellen Überlieferung bilden. Wesentliche Quellengrundlage für die folgenden Ausführungen war die mittlerweile knapp achtzig Bände umfassende Reihe des Akademie-Vorhabens ‚Die deutschen Inschriften‘ (DI). In jedem einzelnen Band werden alle mittelalterlichen und frühneuzeitlichen (in aller Regel bis zum Jahr 1650), lateinischen und deutschen Inschriften einer Stadt oder eines Landkreises erfasst, wiedergegeben, kommentiert und durch Register erschlossen. Die gesamte Reihe kann somit als Basis für systematisch-vergleichende und themenbezogene Fragestellungen dienen.8 Vorreformatorische, „papistische“ Kirchenausstattung wurde im Gefolge der Reformation oft nicht einfach entsorgt und durch Neues ersetzt, sondern weiterverwendet, dabei aber unter Umständen neuen Glaubensinhalten und einem veränderten Bildverständnis angepasst.9 Erstaunlich häufig wurde dabei ein Minimalprogramm verfolgt: So viel wie nötig und so wenig wie möglich wurde verändert. In Goslar wurde ein mittelalterliches Tabernakel mit der Inschrift hic • deu(m) • adora nach der Reformation zum Spendenkasten umfunktioniert,10 und bekanntermaßen wurde für das Abendmahl in beiderlei Gestalt oft die Cuppa spätmittelalterlicher Kelche vergrößert. Bei aller Zurückhaltung gegenüber allzu pauschalen Urteilen, die regionale Spezifika vernachlässigen, sind bewahrende Charakterzüge des Luthertums11 also evident – vielleicht im Norden Deutschlands deutlicher als im Süden. 8 Ein aktuelles und vollständiges Verzeichnis der in Buchform erschienenen, teilweise auch online zugänglichen und in diesem Beitrag abgekürzt zitierten Inschriftenbände bietet die Homepage des Projekts ‚Die deutschen Inschriften‘ (DI): http://www.inschriften.net/projekt/publikationen.html. Die Kreuze (†) hinter einer angeführten Katalognummer bezeichnen nicht mehr im Original erhaltene Inschriftenträger. Einzelne Inschriften werden zitiert nach den Richtlinien der DI-Reihe: Die Textwiedergabe erfolgt buchstabengetreu, fehlerhafte Originalbefunde werden nicht emendiert. Aufgelöste Abkürzungen stehen in runden Klammern, Ergänzungen in eckigen Klammern. Textverlust unbestimmbaren Umfangs wird durch [– – –], miteinander durch eine Ligatur o. ä. verbundene Buchstaben werden durch Unterstreichungen gekennzeichnet, Zeilenumbrüche am Original durch einen Schrägstrich, der Wechsel auf ein anderes Inschriftenfeld durch zwei Schrägstriche. 9 Dazu etwa Kunkel: Rezeption (wie Anm. 4), S. 269–289. Dieser Beitrag macht auch deutlich, dass im heutigen Vorpommern „Kirchensäuberungen“ des 19. Jh. sehr viel mehr als reformatorischer Eifer des 16. Jh. für den Verlust mittelalterlicher Ausstattungsstücke verantwortlich zu machen sind. Ähnlich argumentieren verschiedene Autoren in: Johann Michael Fritz (Hg.): Die bewahrende Kraft des Luthertums, Regensburg 1987, so etwa ders.: Die bewahrende Kraft des Luthertums. Mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, S. 9–18, hier S.13; Gottfried Seebaß: Mittelalterliche Kunstwerke in evangelisch gewordenen Kirchen Nürnbergs, S. 34–53, besonders S. 45, 49f.; Eike Wolgast: Die Reformation im Herzogtum Mecklenburg und das Schicksal der Kirchenausstattungen, S. 54–70, besonders S. 67. 10 DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 41 (15. Jh.?). 11 Der Titel von Fritz: Die bewahrende Kraft des Luthertums (wie Anm. 9) suggeriert einen bewussten, aktiven Impetus, vorreformatorischen Kirchenschmuck zu erhalten. Es ist jedoch meiner Ansicht nach für diesen an sich unstrittigen Umstand deutlich auf akzidenziell-pragmatische Ursachen hinzuweisen, etwa Geldmangel und damit verbunden die Ausführung von möglichst geringfügigen und daher kostengünstigen Adaptationen überkommener Kunstwerke an lutherische Vorgaben. Auch
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Dieser Beitrag befasst sich jedoch mit neu geschaffenen inschriftlichen Medien der Reformationszeit, also des 16. Jahrhunderts seit dem Wirken Martin Luthers. Angesichts der Vielfalt und Menge des zu sichtenden Materials ist die epigrafische Forschung erst im Begriff, vorläufige Beobachtungen und daran anschließende Fragen allgemeiner Art zu dieser Epoche zu formulieren. Um die Relevanz dieser Beobachtungen und Fragen – und damit letzten Endes auch den Aussagewert unserer Quellen – zutreffend beurteilen zu können, sind wir auf das disziplinübergreifende Gespräch mit den Fachhistorikerinnen und -historikern angewiesen, das dieser Beitrag intensivieren möchte. Objekte und Inschriften, die man im Hinblick auf ihre konfessionelle Prägung betrachten kann, sind Altaraufsätze,12 Kanzeln und Kanzelaltäre,13 Kelche14 und Taufbecken,15 also Gegenstände mit liturgischen oder gottesdienstlichen Funk-
konnte die korporative und familiäre Traditionspflege dazu führen, dass etwa von bestimmten Zünften oder Familien gestiftete Ausstattungsstücke auch dann weiterhin gepflegt wurden, nachdem der Nebenaltar, auf dem ein Retabel aufgestellt war, aufgehoben worden war. Die schlichte Wertschätzung künstlerisch hochstehender Arbeiten lässt sich ebenso belegen. Daher sind die Kategorien „Weiternutzung, Umnutzung und Nichtnutzung“ zwar zur ersten Orientierung hilfreich, scheinen angesichts des vielfältigen Umgangs mit vorreformatorischer Kirchenausstattung aber zu schematisch.Vgl. Frank Schmidt: Die Fülle der erhaltenen Denkmäler. Ein kurzer Überblick, in: Fritz (Hg.): ebd. (wie Anm. 9), S. 71–78, Zitat S. 71. 12 In vielerlei Hinsicht aufschlussreich ist die lange virulente, aber von falschen Voraussetzungen ausgehende Interpretation des sog. Dinkelsbühler Retabels (1537) im Sinne des übermächtigen Wort-Prinzips, das das Bild als Medium abgelöst habe. Das Retabel wurde von kunsthistorischer Seite als frühester Schriftaltar, als „Epoche machende protestantische Ikone des Wortes“ bezeichnet. Diese Interpretation widerlegte Dietrich Diederichs-Gottschalk: Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland. Eine kirchen- und kunstgeschichtliche Untersuchung zu einer Sonderform liturgischer Ausstattung in der Epoche der Konfessionalisierung. Mit Farbaufnahmen von Ulrich Ahrensmeier, Regensburg 2005 (= Adiaphora 4), S. 21–25, Zitat S. 21. Die Deutung des angeblichen Retabels als Wortikone ist nicht mehr haltbar, weil es nur die Predella des einstigen Altaraufsatzes darstellt; die ältere Deutung z. B. im Ausstellungskatalog: Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, hg. von Gerhard Bott, Frankfurt a. M. 1983, Nr. 540 S. 402f. In St. Nikolai, Stralsund, wurde das um 1430 entstandene Retabel der Riemer und Beutler, auf dem Heilstaten Christi und die Kreuzigung Christi durch die Tugenden dargestellt sind, offenbar noch im 17. Jh. verwendet, wie Bibelzitate in Fraktur auf der Predella zeigen. 13 Ein besonders aufschlussreiches Beispiel stellt das kurz nach 1600 errichtete Kanzelaltarretabel in Niedereichstädt (Sachsen-Anhalt) dar, in das ältere Retabelteile integriert wurden. Diese um 1435 entstandenen Reliefs zeigen Darstellungen der Zwölf Apostel, die einzelne Sätze des Credo sprechen; DI 64 (Landkreis Querfurt), Nr. 30 mit Abb. 33–37.Allgemein zum Thema Hartmut Mai: Der evangelische Kanzelalter. Geschichte und Bedeutung, Halle a. d. Saale 1969.Vgl. auch DI 73 (Hohenlohekreis), Nr. 806 (1630, Retabel mit deutscher Stifterinschrift). 14 Siehe etwa DI 66 (Landkreis Göttingen), Nr. 28 (2. Hälfte 14. Jh., 1633); DI 62 (Landkreis Weißenfels), Nr. 28 (um 1400?, 1637). Allgemein zum Thema Johann Michael Fritz: Das evangelische Abendmahlsgerät in Deutschland.Vom Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches, Leipzig 2004. 15 Taufen des 16. Jh. mit reformatorischen Programmen bieten beispielsweise die Bände DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 97 (1573): u. a. niederdeutsche Beischriften zu Szenen, die alttestamentliche Vorbilder der Taufe zeigen; DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 358 (1547): keine Bibelzitate als Bilderklärungen, sondern nur Angabe von Bibelstellen; DI 61 (Stadt Helmstedt), Nr. 96 (1590, 1772). Allgemein zum Thema Ulrike Mathies: Die protestantischen Taufbecken Niedersachsens von der Reformation bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Regensburg 1998.
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tionen, sowie Malereien an Wänden und Brüstungen.16 Zu fragen wäre, inwiefern diese Objekte und ihre Inschriften zweifelsfrei die Rezeption reformatorischer Lehren und evangelischer Theologie erkennen lassen.17 Bedeutsam sind in dieser Hinsicht natürlich auch Grabmäler, die nur in Ausnahmefällen ganz ohne Inschriften auskommen. Des Weiteren bieten sich zahlreiche systematische Themen an, die nicht einzelne Objektgruppen zum Gegenstand haben, sondern größere Zusammenhänge untersuchen, etwa die – vielfach aus unterschiedlichen Perspektiven behandelten – reformatorischen Bildmedien und -inhalte18 oder der noch kaum in den Blick genommene evangelische Stiftungsgedanke.19 Ein Thema an sich wäre ferner die architektonische, sozial und theologisch bedingte Gliederung von Kirchenräumen durch die Geistlichkeit, die Obrigkeit und die Gemeinde, in der Ordnungs- und Rangvorstellungen sichtbar werden.20 In dazu vorliegenden 16 Malereien im Inneren von Häusern, an Wänden und Decken, sind naturgemäß oft schlecht erhalten, vgl. aber DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 84 (1561): Aposteldarstellungen mit erläuternden Beischriften; DI 76 (Lüneburger Klöster), Nr.153 (1593): Ausmalung der Zelle einer Stiftsdame im Kloster Wienhausen. Zu Hausinschriften, vor allem an Fassaden, vgl. Sabine Wehking/Christine Wulf: Hausinschriften, in: Gertrud Mras/Renate Kohn (Hg.): Epigraphik 2000. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik Klosterneuburg, 9.–12. Oktober 2000, Wien 2006 (= Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 335; Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe der Inschriften des deutschen Mittelalters 10), S.185–205. 17 Hieran schließt sich allerdings die Frage an, was ein Epitaph, auf dem heilige Märtyrer dargestellt sind, zu einem lutherischen Epitaph macht: doch nicht die Ikonographie, sondern der Standort in einer evangelischen Pfarrkirche bzw. der lutherische Glaube des Verstorbenen. Der veränderte theologische Hintergrund (Heilige als Vorbilder, aber nicht mehr als Heilsvermittler) ist an einem solchen Denkmal zunächst nicht ablesbar – vielleicht abgesehen von dem Negativbefund, dass die Heiligen nicht mehr als Vermittler zu Gott angerufen werden.Vgl. Franz Jäger: Vorreformatorische Heiligenlegenden als Exempel lutherischer Ars moriendi. Das Epitaph des Laurentius Hoffmann aus der Ulrichskirche in Halle (Saale), in: Magin/Schindel/Wulf (Hg.): Traditionen, Zäsuren (wie Anm. 3), S. 205–230. 18 Exemplarisch zuletzt Koerner: Reformation (wie Anm.1); Kaufmann: Bilderfrage (wie Anm. 3); Sergiusz Michalski: The Reformation and the Visual Arts.The Protestant Image Question in Western and Eastern Europe, 2. Aufl., London u. a. 2001 (= Christianity and Society in the Modern World); Harasimowicz: Kunst als Glaubensbekenntnis (wie Anm. 6). – Weniger ergiebig im hier interessierenden Zusammenhang ist der Band Rahmen-Diskurse: David Ganz/Georg Henkel (Hg.): Kult-Bilder im konfessionellen Zeitalter, Berlin 2004. 19 Ein aufschlussreiches Beispiel für die durch die Reformation veränderte Haltung zu Stiftungen bietet das Testament der Anna Büring, der äußerst vermögenden Witwe eines Hamburger Bürgermeisters, die 1535 ihr bereits dreißig Jahre altes Testament im Sinne der lutherischen Lehre überarbeitete. Statt wie ursprünglich vorgesehen Seelgerätstiftungen zugunsten der Verstorbenen im Fegefeuer vorzunehmen, wollte sie nun in erster Linie Kranke, Arme und Bedürftige versorgen. Damit wollte sie ausdrücklich nicht ihr eigenes Seelenheil befördern, sondern vertraute vielmehr ihre Seele der Barmherzigkeit des allmächtigen Gottes an; Ausstellungskatalog: Martin Luther (wie Anm.12), Nr. 587 S. 427f. 20 Dazu beispielsweise die Beiträge in: Evelin Wetter (Hg.): Formierungen des konfessionellen Raumes in Ostmitteleuropa, Stuttgart 2008 (= Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig 33). Zahlreiche Beiträge zum Thema enthält auch der Band: Vera Isaiasz/Monika Mommertz/Matthias Pohlig (Hg.): Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen, Frankfurt, New York 2007 (= Eigene und fremde Welten 4).Vgl. auch die etwas irreführend betitelte Studie von Renate Dürr: Politische Kultur in der Frühen Neuzeit. Kirchenräume in Hildesheimer Stadt- und Landgemeinden 1550–1750, Heidelberg 2006 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 77). Auch die archäologische Forschung widmet sich diesem Themenkomplex; vgl. dazu Anm. 7.
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Studien werden jedoch die Inschriften entweder unterschlagen oder von Fall zu Fall behandelt, aber nie grundsätzlich und als essenzieller Bestandteil der Gesamtaussage eines Objekts berücksichtigt. Der regionale Schwerpunkt der Arbeiten liegt zudem auf Süd- und Südwestdeutschland sowie auf den sächsischen Territorien.21 Nicht nur städtische, sondern auch ländliche Kirchenräume bieten sich als kaum erforschte Untersuchungsgegenstände in besonderem Maße dann an, wenn sie unverändert erhalten sind und somit noch den Gestaltungswillen ihrer Urheber erkennen lassen. Aus meinem Arbeitsgebiet, dem Bundesland MecklenburgVorpommern, ist hier an die Patronatskirchen des mecklenburgischen Adels mit ihrem teilweise einzigartigen Ausstattungsprogramm in Wort und Bild zu denken, konkret etwa an die von Hahn’schen Kirchen in Basedow und Bristow nahe der Müritz, die in den letzten Jahren des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts umfassend und prächtig ausgestattet wurden.22 Im Folgenden werde ich mich notgedrungen auf einen kleinen Ausschnitt aus der epigrafischen Überlieferung des 16. Jahrhunderts beschränken: auf Epitaphien für Geistliche als „Experten“ des Luthertums und auf Kanzeln als Orte der Verkündigung. Beispiele aus Norddeutschland und insbesondere aus Greifswald sollen dabei im Zentrum stehen. Durch die Reformation erfolgte eine Zentrierung des Glaubens, der Theologie und auch der Inschriften auf die Bibel,23 deren Wortlaut als ein absoluter Wert angesehen wurde. Das Verhältnis von Latein als Sprache der spätmittelalterlichen Kirche und Liturgie sowie als lingua franca der Gelehrten auf der einen und der Volkssprache Deutsch auf der anderen Seite, die allen Gläubigen die Frohe Botschaft der Erlösung nahe bringen sollte, ist damit jedoch noch nicht angesprochen. Luther war durchaus kein grundsätzlicher Gegner des Lateinischen, sondern sah auch lateinische Gottesdienste bzw. lateinische Bestandteile vor und betonte den Nutzen dieser Sprache für den Schulunterricht und für die von der jeweiligen Muttersprache unabhängige Kommunikation unter Gebildeten.24
21 Die ausführliche Fallstudie von Ruth Slenczka zur programmatischen Neuausstattung der Braunschweiger Brüdernkirche nach 1528 sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben, weil dort die epigrafischen Quellen konsequent einbezogen werden: Städtische Repräsentation und Bekenntnisinszenierung. Die Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 und die reformatorische Ausstattung der Brüdernkirche, in: Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.): Kommunikation und Transfer im Christentum der frühen Neuzeit, Mainz 2007 (=Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abt. für abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 74), S. 229–273. 22 Zur Kirche in Basedow siehe vorerst Friedrich Schlie: Die Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Grossherzogthums Mecklenburg-Schwerin 5, Schwerin 1902, S.118–130, zu der seit 1597 neu erbauten Kirche von Bristow vgl. ebd., S. 71–79, wo allerdings nicht alle Inschriften wiedergegeben werden. 23 Zu diesem Aspekt vgl. Wulf: Bildbeischriften (wie Anm. 3); speziell zur Gegenüberstellung spätmittelalterlicher und nachreformatorischer Usancen siehe dort S. 42–54. 24 Vgl.WA 19, S. 44–113, Deudsche Messe (1526), hier S. 74; dazu Ausstellungskatalog: Martin Luther (wie Anm.12), Nr. 548 S. 406.
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I. Epitaphien für lutherische Geistliche Ein Epitaph ist ein Totengedächtnismal, das unabhängig vom Ort des Grabes selbst an Kirchenwänden angebracht wurde, oft von beträchtlicher Größe war und somit Raum für ausführliche Inschriften bot.25 Nach lutherischer Auffassung ist die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag allein der Gnade Gottes und der Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den Kreuzestod Christi zu verdanken, nicht mehr den besonderen Verdiensten des Verstorbenen, etwa seinen Stiftungen, auch nicht den Gebeten, Seelmessen und frommen Stiftungen seiner Nachfahren. Die Existenz des Fegefeuers wird negiert und damit auch die Möglichkeit, das Schicksal der Seelen Verstorbener positiv zu beeinflussen. Grabmäler waren und sind daher nicht in die Liturgie eingebunden. Dennoch wurden sie nach wie vor oft mit großem Aufwand hergestellt und genutzt, um inschriftlich Verdienste der Verstorbenen festzuhalten. Standorte repräsentativer Grabmäler26 waren nach der Reformation ebenso wie im Mittelalter die Pfarrkirchen als religiöse, soziale und kommunikative Mittelpunkte der Gemeinden. Epitaphien boten wohlhabenden Individuen und Familien die Möglichkeit, im Kirchenraum und damit in der Gesellschaft zumindest idealiter dauerhaft präsent zu sein, und waren Einkunftsquellen für die Pfarrgemeinden. Jedoch sind Epitaphien nicht nur wichtige Zeugnisse familiärer, standesgebundener Selbstdarstellung,27 sondern thematisieren in verschiedenen Anteilen und Formen auch Glaubensgewissheiten. Das Hauptaugenmerk der evangelischen Grabmäler richtet sich auf die Tröstung der Hinterbliebenen sowie die Erbauung und Belehrung der Gläubigen.28 25 Zur Terminologie der verschiedenen Denkmäler des Totengedächtnisses vgl. DI 36 (Stadt Hannover), S. 23f. Einen Überblick über Formen- und Materialtypen bietet Anne-Dore Ketelsen-Volkhardt: Schleswig-Holsteinische Epitaphien des 16. und 17. Jahrhunderts, Neumünster 1989 (= Studien zur schleswig-holsteinischen Kirchengeschichte 15). Ikonografische Aspekte sind untergeordnet, die Inschriften werden nicht berücksichtigt. 26 Die schlichte, nichtsdestotrotz häufiger vorgebrachte Behauptung, die im Kirchenfußboden über den eigentlichen Grabstellen liegenden Grabplatten seien für den Verfall und das Vergehen hergestellt worden, um so auf die Hinfälligkeit menschlichen Lebens zu verweisen, geht wohl in die Irre, denn nicht selten wurden auch diese Grabplatten aufwändig gestaltet und mit ausführlichen Inschriften versehen. 27 Zum (Hoch-)Adel vgl. Inga Brinkmann: Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels.Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, München 2009; Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009. Zu Gelehrten vgl. Stefanie Knöll: Creating Academic Communities. Funeral monuments to professors at Oxford. Leiden and Tübingen 1580–1700, Oss 2003; Christine Magin: Akademische Epigrafik? Die Universitäten Rostock und Greifswald im Spiegel historischer Inschriften, in: Hans-Uwe Lammel/Gisela Boeck (Hg.): Tochter oder Schwester? Die Universität Greifswald aus Rostocker Sicht, Rostock 2010 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte 8), S. 85–112. 28 Vgl. Christine Steininger: Ich weiß, daß mein Erlöser lebet. Überlegungen zur Verwendung von biblischem Text und biblischem Bild auf Epitaphien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts und ihrer konfessionellen Relevanz, in: Mras/Kohn (Hg.): Epigraphik 2000 (wie Anm.16), S. 242–255, mit dem folgenden bemerkenswerten Fazit: „Eine grundsätzlich voneinander verschiedene lutherische bzw. katholische Grabmalkunst gibt es zumindest in der bearbeiteten Zeit nicht“ (S. 250). Renate Kohn: Zwischen standesgemäßem Repräsentationsbedürfnis und Sorge um das Seelenheil. Die Entwicklung des frühneuzeitlichen Grabmals, in: Mark Hengerer (Hg.): Macht und Memoria. Begräbniskultur
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Pastoren- und Superintendentenbildnisse auf Epitaphien oder als Porträts unabhängig vom Totengedenken sind nur wenig untersucht.29 Sie entstanden wohl aus Reformatorenporträts, die wiederum zurückgeführt werden auf Darstellungen von viri illustri.30 Halb- oder Brustfiguren, auch im Profil gezeigt, werden durch Inschriften ergänzt, die in humanistischer Manier darauf verweisen können, dass die lebensnahe Qualität eines Bildes den überragenden Geist des Porträtierten nicht so gut wiederzugeben vermag wie seine Werke. Nicht selten wurde ein zu Lebzeiten eines Theologen angefertigtes Porträt nach dessen Tod als Bestandteil eines Epitaphs zweitverwendet. Das nicht erhaltene Epitaph für den 1547 verstorbenen Goslarer Superintendenten Dr. Eberhard Wiedensehe31 lässt den Verstorbenen selbst in deutschen Versen und biblischen Anspielungen im ersten Teil mit dem Tod über die Hoffnung auf das ewige Leben, im zweiten Teil mit dem Leser über seine Tätigkeit als Lehrer von ‚Gottes Wort rein und klar‘ sprechen. Epitaphium Eberhardi Wiedensehe Doctoris et Superattendentis defuncti anno ab orbe redempto per Christum 1547 vigilia pasche Hastu mich gebissenn Du leidiger Doth Und also gerissenn Aus all meiner Noth Das soll mir gedeyen Zu der Seligkeit Aus must du mich speien Wer es dir auch leidt Mein Erlöser lebet Daß weiß ich vorwar Wen der Himel bebet Nim du das gewar So werd ich aufsteenn Aus dem rachen dein Und will frölich seenn Christ den Herren mein Bin ich den gestorbenn Ist vorzert mein Haut1) Ist mein Fleisch verdorbenn Werd ich wie ein Braut Mit Schmucke vmbgebenn Aus der massen fein Also ewig lebenn Und ewig bey Christo sein Zum Leser Gottes Wort rein und klar Dadurch Gott geerett Vor der Welt offenbar Habe ich frie gelerett Kerestu dich nicht daran Und wilt das vornichtenn Ich habe mein getan Was gilt es Gott wirds richtenn Was ich habe geleret Las dirs gesagett sein Hatt dich das bekerett Und gespeisett fein Ewig wirstu lebenn Das hastu Gewinn Dort wird uns Gott gebenn Ade ich bin dahin Ego vivo et vos vivetis2) Jo. 14 1) Vgl. Hiob 19,25f. 2) Io. 14,19. europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S.19–46, untersucht vor allem Objekte aus katholischen Gebieten. 29 Hier ist auf das Habilitationsprojekt von Ruth Slenczka (Humboldt-Universität Berlin) zu verweisen: Lutherische Kirchenväter. Bildnisse von Reformatoren und Predigern in protestantischen Stadtkirchen.Vgl. vorerst Reimar Zeller: Prediger des Evangeliums. Erben der Reformation im Spiegel der Kunst, Regensburg 1998 (= Adiaphora 1), besonders die Zusammenfassung zum 16. Jahrhundert, S. 22f. Auch Bernd Moeller: Reformatoren neben Luther, in: Ausstellungskatalog: Martin Luther (wie Anm.12), S. 323–332 mit Nr. 430–441. 30 Vgl. dazu Kaufmann: Bilderfrage (wie Anm. 3), S. 449; Zeller: Prediger (wie Anm. 29), S.14. 31 DI 45 (Stadt Goslar), Nr. 82† (1547); dort auch weitere biografische Angaben.
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Wiedensehe gehörte zu den Lutheranern der ersten Generation. In Halberstadt aufgrund seiner reformatorischen Neigungen abgesetzt, wurde er Prediger in Magdeburg, wo er die Reformation entscheidend vorantrieb. Seit 1533 war er in Goslar zunächst als Pastor, dann als Superintendent tätig. Die deutschen Verse sowie die direkte Anrede des Todes zum einen und des Lesers zum anderen sind Elemente, die sich nur selten finden und auf jüngeren Epitaphien für Geistliche kaum mehr vorzukommen scheinen. Johannes Walhoff, der erste evangelische Prädikant von St. Marien in Lübeck, gestorben 1544, erhielt ein gemaltes Epitaph mit einer prominent platzierten lateinischen Versinschrift in humanistischer Minuskel:32 Epitaphium D(omi)ni Joannis Walhoff / Joannes Walhoff pietatis dogmate clarus / Concedens fatis hac requiescit humo / primus in hoc templo pastor preconia christi / pred[i]cat ingenti pectore uoce fide / Et grauiter damnat Romane sedis abusus / Testificans solam Justificare fidem / Abstulit ante diem lethalis calculus illum / Sed modo cum christo vivit in arce poli / Obyt Anno M D XLIIII decima die Marty pastoratus sui XIIIIo / Aetatis vero suae XLVIII Grabschrift des Herrn Johannes Walhoff. Johannes Walhoff, durch den Ruf der Frömmigkeit berühmt, ruht in dieser Erde, sich dem Schicksal ergebend. Als erster Pastor predigte er in dieser Kirche die Botschaft Christi mit gewaltiger Überzeugungskraft, Stimme und Glauben und verurteilte streng den (Glaubens-)Missbrauch des päpstlichen Stuhls, indem er bezeugte, dass nur der Glaube rechtfertige. Es nahm ihn vor der Zeit die Todesberechnung hinweg, aber jetzt lebt er mit Christus in der Burg des Himmels. Er starb im Jahr 1544 am 10. März im vierzehnten Jahr seines Pfarramtes, seines Alters aber im 48. Jahr.
Die kompositorisch relativ unausgewogene Bildtafel zeigt am oberen Rand und relativ klein Walhoff auf der Kanzel, darunter die Tafel mit der Inschrift, zu beiden Seiten eine Variante des reformatorischen Bildmotivs ‚Gesetz und Gnade‘33 sowie der Walhoff ’schen Predigt lauschende Männer und Frauen. Bemerkenswert scheinen in der relativ kurzen Inschrift die Betonung des sola fide-Prinzips und die dezidierte antipäpstliche Polemik. Das inhaltliche Gewicht der Verse liegt auf der segensreichen Vermittlung evangelischer Inhalte durch den Verstorbenen, weniger auf seiner Person. Den Typus des gemalten Pastorenepitaphs repräsentiert auch dasjenige für den 1595 verstorbenen Generalsuperintendenten Jakob Runge in St. Nikolai (Greifswald), das sich allerdings durch eine besonders ausführliche inschriftliche Vita auszeichnet.34 Ergänzt wird dieses stark auf die Persönlichkeit des Verstorbenen fo32 Wortlaut der Inschrift hier nach Ketelsen-Volkhardt: Epitaphien (wie Anm. 25), S.16 Abb. 5. Die Transkription der Inschrift stammt von Christine Magin. 33 Dazu jetzt Heimo Reinitzer: Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, 2 Bde., Hamburg 2006. 34 DI 77 (Stadt Greifswald), Nr. 266; dort auch weitere biografische Angaben.
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Abb.1: Greifswald, St. Nikolai, Epitaph für den Superintendenten Jakob Runge († 1595)
Abb. 2: Greifswald, St. Nikolai, Epitaph für den Superintendenten Jakob Runge († 1595)
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kussierende Denkmal durch eine überlebensgroße, ganzfigurige Darstellung Runges (Abb.1). Auf der darunter angebrachten querrechteckigen, sorgfältig gestalteten Schrifttafel werden in humanistischer Minuskel und Kapitalis sowie in lateinischer Prosa das Leben und die Verdienste Runges gerühmt (Abb. 2). A IACOBVS RVNGIVS STARGARDIAE POMERANOR(VM) NATVS A(NNO) D(OMINI) MDXXVII. DIVI LVTHERI Sÿncerus Auditor, (et) Discipulus • / Artium Cÿclopaediam primâ aetate in ACADEM(IA) GRYPHISWALDE(N)SI profess(us) • / Inde PASTOR in hac AEde Sacra: / Nec multo post SVPERINTENDENS GENERALIS / Pomeran(iae) Occidentalis designat(us). / S(ACRO)S(ANCTAE) THEOLOGIAE DOCTOR Creat(us), Ecclesiae (et) Academiae / totos XLVII annos Summa Vigila(n)tia deservivit. / ORDINEM Ecclesiasticu(m) cum alijs Harmostis pijs / (et) Doctis condere primum: (et) ILLVST(RISSIMVM) PRINCIPVM / Auspicijs Statuumq(ue) Provincialiu(m) Suffragijs Solenniter / Comprobatu(m), (et) Promulgatu(m), in sua Diaecesi Consta(n)ter tueri Studuit. / PHILIPPI MELANTH(ONIS) et D(omini) BRENTII in Colloquio Wormatiensi / parastates fidelis Anno 1557. / Sÿnodor(um) Prouincialium plus vicies actarum, vel assessor, vel praeses. / ORTHODOXAE DOCTRINAE Assertor Religiosissimus: per varia / Certamina domi forisq(ue) grauiter exercitatus: / Scriptis Didacticis (et) Polemicis PATRIAE apprime utilis (et) not(us): // IVRISDICTIONIS Ecclesiasticae (et) Academicae propugnator acerrim(us) / Caeteroquin Autoritate, Doctrina, Eloquentia, Prudentia, Consilio, (et) / Vsu rerum, pijs bonisq(ue) venerandus / QVI postquam Certamen bonum cum FIDE, (et) BONA Conscientia / ad extremum usq(ue) decertâsset, Cursu(m) suum laboriosissimum bene beateq(ue) / consum(m)avit ANNOS NATVS LXVII MENSES VI. / OBIIT pie, (et) placide: ANNO AERAE Christianae / MDXCV. III IDVS IANVARI[I] / CVM CATHARINA GERSCHIA Coniuge pia (et) H[o] / nesta vixit Annos XLII: Ex qua [filios] / V (et) Filias IV suscepit. / Horum OCTO Superstites; HOC MONVMENTVM / SANCTIS (et) optime de Ecclesia, Schola, (et) Familia / meritis MANIBVS / DICANT, LOCANT, CONSECRANT. / Sÿmbolum D(omini) IACOBI RVNGII. / Si Hominib(us) placerem DEI Minister non essem. Galat. I. B M. Neht(er) Jakob Runge, im pommerschen Stargard im Jahr des Herrn 1527 geboren. Der treue Hörer und Schüler des von Gott begnadeten Luther war in seiner Jugend Professor für den Lehrkurs der Artes an der Universität Greifswald, danach Pfarrer in diesem heiligen Gotteshaus; wenig später wurde er zum Generalsuperintendenten des westlichen Pommern berufen. Zum Doktor der hochheiligen Theologie ernannt, diente er ganze 47 Jahre mit höchster Umsicht der Kirche und der Universität. Die Kirchenordnung bemühte er sich zunächst mit anderen frommen und gelehrten Vorstehern zu begründen und, nachdem sie unter den Auspizien der erlauchten Fürsten und durch Abstimmung der Provinzialstände feierlich gebilligt und bekanntgemacht war, in seiner Diözese stets zu erhalten.Auf dem Wormser Religionsgespräch vom Jahr 1557 war er Philipp Melanchthon und Herrn Brenz ein treuer Helfer. Mehr als zwanzig Mal nahm er an Sitzungen der Provinzialsynoden teil, entweder als Beisitzer oder als Vorsitzender, ein äußerst frommer Beschützer der rechten Lehre. Durch vielerlei Kämpfe zu Hause und außerhalb war er schwer geplagt, durch lehrreiche und kämpferische Schriften dem Vaterland außerordentlich nützlich und bekannt. Er war ein leidenschaftlicher Vorkämpfer der kirchlichen und akademischen Rechtsprechung und im Übrigen wegen seiner Autorität, Gelehrsamkeit, Beredsamkeit, Klugheit, politischen Weitsicht und praktischen Tüchtigkeit den Frommen und Guten verehrungswürdig. Nachdem er einen guten Kampf mit Glauben und gutem Gewissen bis zum Ende gekämpft hatte, vollendete er seinen äußerst mühevollen Lebenslauf gut und selig im Alter von 67 Jahren und sechs Monaten. Er starb fromm und friedlich im Jahr 1595 christlicher Zeitrechnung am dritten Tag vor den Iden des Januar (11. Januar). Mit Katharina Gerschow, seiner frommen und ehrenwerten Ehefrau, lebte er 42 Jahre.Von ihr bekam er fünf Söhne und vier Töchter, von denen acht
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überleben, (die) dieses Denkmal der heiligen und um Kirche, Schule und Familie hochverdienten Seele (des Toten) stiften, aufstellen und weihen. Devise des Herrn Jakob Runge: Wäre ich den Menschen gefällig, wäre ich nicht Gottes Diener.
Die aufgerufenen Tätigkeitsfelder des mit vielen Superlativen bedachten Schülers divi Lutheri sind Universität und Kirche, hier speziell der Aufbau der lutherischen Landeskirche, die Leitung von Landessynoden und die Ausarbeitung der pommerschen Kirchenordnung von 1563. Beim Wormser Religionsgespräch des Jahres 1557, einem kaiserlichen Versuch, trotz der im Augsburger Religionsfrieden festgeschriebenen konfessionellen Spaltung des Reichs einen Konsens zwischen Lutheranern und Katholiken zu erzielen,35 war Runge nach Aussage der Inschrift in zweiter Reihe hinter Philipp Melanchthon und Johannes Brenz tätig. Tatsächlich scheint ihn mit Melanchthon eine regelrechte Freundschaft verbunden zu haben. Kontakte zu oder gar eine Zusammenarbeit mit Johannes Bugenhagen werden hingegen nicht erwähnt. Wegen seiner Autorität, Gelehrsamkeit, Beredsamkeit, Klugheit, politischen Weitsicht und praktischen Tüchtigkeit sei Runge von Frommen und Guten verehrt worden. Im Vordergrund der langen inschriftlichen Vita steht also seine organisatorische, kirchenpolitische und publizistische Schaffenskraft. Die Inschrift zeigt außerdem exemplarisch die für Greifswald typische Verbindung von geistlichem Amt, Lehrtätigkeit an der Universität und Leitung der lutherischen Kirche in Pommern. Im Leichenprogramm36 werden andere Verdienste Runges hervorgehoben, etwa die Reform der Universität Greifswald, die auf dem Epitaph keine Rolle spielt. Es heißt, Runge habe den Namen Christi gegen dessen Feinde, die Papisten, Calvinisten und andere Häretiker verteidigt; auf dem Epitaph ist neutraler nur vom ermüdenden Kampf um die rechte Lehre die Rede. Der Kontrast zwischen dem Lebenskampf und dem „wahren Leben im Himmel“ wird also besonders betont. Es bleibt allerdings unklar, ob diese Eigenheit auf die tatsächliche Befindlichkeit des im Alter von 67 Jahren verstorbenen Runge hinweist oder eher als Verstärkung des topischen Gedankens von der Hinfälligkeit alles Irdischen und der Vollendung des Lebens erst durch das Sterben zu lesen ist.37 Der Künstler Matthias Nether, dem die Meisterinschrift B zuzuordnen sein dürfte, war Hofmaler der Herzöge von Pommern-Stettin. Sein Name könnte darauf hinweisen, dass das Epitaph unter Beteiligung oder sogar im Auftrag des herzoglichen Hofes entstand. Dem Greifswalder Epitaph für Jakob Runge sei ein verlorenes aus Goslar an die Seite gestellt, das für den 1585 jung verstorbenen Stefan Kampferbeck angefertigt wurde:38
35 Dazu Benno von Bundschuh: Das Wormser Religionsgespräch von 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik, Münster 1988 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 124). 36 UB Greifswald, Vitae Pomeranorum, Bd. 32. (Das Trauergedicht, ehemals in Bd.152 der Vitae Pomeranorum, ist verloren). 37 Nach Phil. 1,21: „Mihi enim vivere Christus est et mori lucrum“. 38 DI 45 (Stadt Goslar), Nr.109†.
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D(eo) O(ptimo) M(aximo) S(acrum) Reverendus et Opt(imus) Vir sincera pietate doctrina et Virtute praestantissimus D(omi)n(u)s M(agister) Stephanus Kanferbek Velthusensis qui et Scholasticae disciplinae in hac urbe moderator peritissimus et ecclesiae in hoc templo S(anctorum) Petri et Pauli Ap(ostolorum) Pastor vigilantissimus fuit bonis omnibus carus suis desideratus in ipso aetatis flore annum agens vigesimum nonum Anno Christi Salvatoris MDLXXV mense Junio D(ie) XIV in functione pia pie defunctus ad coelestem Die et beatorum Angelorum consuetudinem migravit Epitaphium Qui teneram culta formavit sedulus arte Aetatem coeli semina fulcra soli Quique sacrum Christi bene rexit Pastor ovile Fecit et oficii munera jussa sui Hic Kanferbecius situs est florentibus annis Quem parcens nulli parca maligna tulit Quantum isto fecit properato funere damni Grex sacer amissum jure flet ille decus Hic etenim norat coelestis dogmata verbi Omnia de veris fontibus hausta Dei Perque artes caput extulerat doctasque camoenas Quis sine tractari res bene sacra nequit Mente gravem promte decorabat gratia linguae Grata gregi fundens fulmina grata Deo Vita erat exemplum sanctum et venerabile morum Sophrosynes jungens cum pietate decus Vitam dignus erat multos producere in annos Sed coelo haud mundo debitus ille fuit Non ergo ereptus nobis sed sede receptus Aetherea fruitur jam propiore Deo Hosque inter mundo qui sunt pia jura professi Splendorem clari sideris instar habet Militia exacta pulcra de fronde coronam Expectat semper cui suus extat honos Multa viri virtus extentos vivet in annos Obruit haud illam quod tegit ossa solum Qui Christo vitam et virtuti accomodat omnem uic famam virtus conferet astra Deus Dem besten höchsten Gott geweiht. Der ehrwürdige und beste Mann von aufrichtiger Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Tugend, der ausgezeichnete Herr Magister Stephan Kampferbeck aus Velthusen, der in dieser Stadt der verständigste Lehrer der Schulerziehung und ein sehr fürsorglicher Pastor der Gemeinde in dieser Kirche der heiligen Apostel Peter und Paul war, von allen Guten geschätzt, von den Seinen vermisst, gerade in der Blüte der Jugend im Alter von 29 Jahren im Jahr Christi des Erlösers 1585 am 14. Juni in frommer Pflichterfüllung fromm gestorben, ist zur himmlischen Gemeinschaft Gottes und der heiligen Engel hinübergegangen. Grabschrift: Der die zarte Jugend eifrig mit studiertem Wissen zu Stützen der Erde und Samen des Himmels geformt hat und der den heiligen Schafstall Christi als Hirte gut gelenkt und die ihm auferlegten Pflichten seines Amtes erfüllt hat, Kampferbeck, er ruht hier, den die missgünstige Parze, die niemanden schont, in blühenden Jahren hinwegraffte. Den so großen Verlust, den sie durch diesen vorschnellen Tod erlitten hat, beweint die heilige Herde zu recht als verlorenen Schmuck. Denn dieser kannte die Lehren des himmlischen Wortes, die ganz geschöpft waren aus den wahrhaftigen Quellen Gottes. Mit Wissenschaften und den gelehrten Musen, ohne die die heilige
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Aufgabe nicht gut versehen werden kann, hatte er sein Haupt erhoben. Den von Charakter Würdevollen zierte die gefällige Anmut seiner behenden Sprache, die der Herde und Gott gefällige Blitze schleuderte. Sein Leben war ein heiliges und moralisch ehrwürdiges Vorbild, das die Zierde der Weisheit mit Frömmigkeit verband.Würdig war er, sein Leben über viele Jahre fortzuführen, aber er war dem Himmel, nicht der Erde bestimmt. Nicht also ist er uns entrissen, sondern aufgenommen im Wohnsitz des Himmels genießt er schon Gottes Nähe. Bei denen, die in der Welt frommes Recht geübt haben, besitzt er Glanz gleich einem leuchtenden Stern. Nachdem er seinen Dienst vollendet hat, erwartet er eine Krone von schönem Laub, er, dessen Ehre immer besteht. Die vielfältige Tugend des Mannes wird über weite Jahre lebendig bleiben, sie begräbt nicht die Erde, die die Gebeine bedeckt. Der sein ganzes Leben Christus und der Tugend weiht, dem wird die Tugend Ruhm, Gott die Gestirne bereiten.
Der Prosateil bietet die nötigen biografischen Informationen, also Lebensdaten und Ämter des Verstorbenen. Die Distichen führen das bereits im Prosateil einsetzende, opulente Totenlob für den im Alter von 29 Jahren verstorbenen Pastor und Lehrer weiter aus.Wie auch dieses Beispiel illustriert, sind die inschriftlich genannten Haupttugenden der Pastoren und Superintendenten Frömmigkeit (pietas) verbunden mit Gelehrsamkeit (doctrina). Diese generell allen Männern zugeschriebenen Tugenden werden im Fall der Geistlichen ergänzt durch den Kampf für die reine (evangelische) Lehre: ‚Gottes Wort rein und klar‘ (Wiedensehe), orthodoxa doctrina (Runge),39 dogmata verbi coelestis (Kampferbeck) und dogmata pietatis (Walhoff ). Inschriften für Pfarrer und Superintendenten sind indes oft auch Inschriften für Gelehrte, weshalb mit antikhumanistischen Bildern, Topoi und Formeln immer zu rechnen ist, etwa mit der Angabe, jemand sei ‚in die himmlische Universität eingegangen‘.40 Die gängige Lobesformel, jemand sei ‚allen Guten‘ oder ‚Redlichen‘ (omnes boni) verehrungswürdig gewesen, geht auf Cicero zurück und hat im 16. und 17. Jahrhundert eine moralische, politische und ständische Aussagequalität: Das Urteil aller Guten ist allgemeiner Maßstab für das zu bewertende einzelne Leben. Dieses wird in den öffentlichen Raum gestellt, „in dem Menschen mit Urteil[skraft] einen Sicherheit gebenden Konsens über moralische Werte und die staatliche Ordnung zu gewährleisten scheinen“.41 Auf der 39 Mit dem Ideal des ebenso gelehrten wie frommen Geistlichen korrespondiert die doppelte Bedeutung des Wortes doctrina, das grundsätzlich sowohl als (weltliche) Gelehrsamkeit, Ausbildung und Belehrung wie auch als (geistlich-religiöse) Lehre, Verkündigung oder Botschaft verstanden werden kann. Im biblischen Kontext, insbesondere in den Paulusbriefen, wird das Wort durch Luther überwiegend als ‚Lehre‘ übersetzt. Gelehrsamkeit wird unter humanistischem Einfluss eher mit eruditio ausgedrückt. Für diese Hinweise danke ich Prof. Dr. Fidel Rädle, Göttingen, vielmals. 40 Zur epigrafischen Rezeption antiker Traditionen vgl. ausführlich DI 33 (Stadt Jena), S. XL–L. Auch DI 61 (Stadt Helmstedt), S. 37–39, hier S. 39. Rhetorischer und literarischer Anspruch werden jedoch nicht nur durch den sozialen Stand und die Vorstellungen der Auftraggeber von Inschriften, sondern auch durch das geistige Profil der Inschriftenautoren bestimmt. Eine sprachlich elaborierte Epitaphinschrift kann auch einem nicht akademisch gebildeten Bürgermeister oder Amtsträger gelten, wenn sie von einem studierten Verfasser mit literarischen Ambitionen stammt.Vgl. etwa DI 46 (Stadt Minden), Nr. 87 (1564), zur Sache Christine Wulf: Spätbürgerlicher Humanismus in Inschriften, in: Astrid Steiner-Weber u.a. (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis. Proceedings of the Fourteenth International Congress of Neo-Latin Studies (Uppsala 2009), Leiden, Boston 2012 (= Acta Conventus Neo-Latini 14), S.1207–1217, bes. S.1207–1213. Helga Giersiepen: Städtisches Bürgertum der frühen Neuzeit im Spiegel der Inschriften, in: Mras/ Kohn (Hg.): Epigraphik 2000 (wie Anm.16), S.173–183. 41 Vgl. DI 61 (Stadt Helmstedt), S. 37f., Zitat S. 38.
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paläografischen und der Formularebene solcher Inschriften ist auch mit Besonderheiten der Datierung oder ausgesuchten Schrift- und Buchstabenformen zu rechnen. Im Fall Jakob Runges verweist die Devise Si hominibus placerem . . . darauf, dass der Geistliche vorrangig Gott verpflichtet ist. Sie bietet sich daher als Motto für evangelische Theologen geradezu an und lässt sich auch in anderen Fällen nachweisen, etwa für den 1560 verstorbenen polnischen Theologen und Reformator Johannes a Lasco, dessen Bildnis wohl nach 1555 entstand.42 Die von dem Mindener Pastor Hermann Huddaeus, gestorben nach 1579, benutzte Devise Pro lege et pro grege (‚Für das Gesetz und das Volk‘) ist hingegen vor allem als Wahlspruch evangelischer Fürsten bekannt. Dass Huddaeus selbst ihn für sich gewählt hatte, zeigt eine gleichlautende Inschrift an seinem Wohnhaus.43 Im Jahr 1564 wurde für Antonius Musa, den zweiten evangelischen Pfarrer und ersten Superintendenten von Jena, ein Epitaph errichtet.44 Das Bildfeld zeigt den auferstandenen Christus, darunter kniend die Familie des Verstorbenen und die in zwei Spalten angeordnete Kapitalisinschrift. PRIMVS IN HAC CHRISTVM MONSTRANS ANTONIVS AEDE / CVI DEDIT AGNOMEN MVSA CELEBRE IACET. / MVSA DEVM REFERENS ARGVTAE INDAGINE MENTIS / ARTIFICI RESONANS CARMINE MVSA DEVM. / PASTORVBI IENAE DVODENOS PRAEFVIT ANNOS / COMMISSVM PATRIO FOVIT AMORE GREGEM / SANAQ(VE) PROPONENS CAELESTIS PABVLA VITAE // SAL[V]IFICA DOCVIT CRESCERE CORDA FIDE. / INTEGER EXEMPLIS VITAE QVAM VOCE SONABAT • / DOCTRINAM ORNABAT MORIBVS IPSE PIIS. / SPIRITVS IN CAELIS HABITAT SED IN ORBE SVPERS⬍T⬎ES / NOMEN APVD GRATOS FAMA PERE⬍NN⬎E TENET. / TALIA STOSSELIVS SOCERO SVCCESSOR IENAE • / CONSTITVIT GRATA SYMBOLA MENTE GENER. Der erste, der in dieser Kirche Christus zeigte, Antonius, dem die Muse den feierlichen Zunamen gab, liegt hier begraben, Musa, der durch die Forschung seines scharfsinnigen Geistes Gott verkündete; eine Muse, die in kunstreichem Lied von Gott sang. Während er zwölf Jahre hindurch als Pfarrer Jena geleitet hat, behütete er die ihm anvertraute Herde mit väterlicher Liebe, und indem er die rechte Speise des himmlischen Lebens in Aussicht stellte, lehrte er die Herzen, in heilbringendem Glauben zu wachsen. Unverdorben in seiner Lebensführung, verlieh er selbst der Lehre, die er mit seiner Stimme verkündete, durch seine frommen Sitten Glanz. Sein Geist wohnt nun im Himmel, aber sein auf Erden zurückgelassener Ruhm lässt bei Dankbaren seinen Namen ewig verbleiben. Mit dankbarem Sinn hat dieses Denkmal dem Schwiegervater sein Jenaer Amtsnachfolger und Schwiegersohn ( Johann) Stössel gesetzt.
42 Vgl. Henning P. Jürgens: Johannes a Lasco. Ein Leben in Büchern und Briefen. Eine Ausstellung der Johannes a Lasco Bibliothek, Wuppertal 1999 (=Veröffentlichungen der Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden 1), Kat.-Nr.1.5.1, S. 44f.; zu den Inschriften S.11. 43 DI 46 (Stadt Minden), Nr. 92 (1568). Vgl. Julius Dielitz: Die Wahl- und Denksprüche, Feldgeschreie, Losungen, Schlacht- und Volksrufe besonders des Mittelalters und der Neuzeit, ND Vaduz (Liechtenstein) 1963, S. 257, dort v.a. für die Kurfürsten von Brandenburg des 17. Jh. nachgewiesen. Das Haus des Hermann Huddaeus: DI 46 (Stadt Minden), Nr.102 (1579). 44 DI 33 (Stadt Jena), Nr. 76 (1564) mit Abb. 41.
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In der Inschrift, die auch mit dem Namen ‚Musa‘ (= Muse) spielt, werden die Verbindung von Wissenschaft mit Seelsorge und Predigttätigkeit sowie das Vorbild der persönlichen Lebensführung des Verstorbenen betont. Diese Aussagen sowie der Gedanke, sein Geist sei zwar im Himmel, sein Ruhm jedoch auf Erden dauerhaft lebendig, erinnern deutlich an das Kampferbeck-Epitaph. In aller Regel bieten die Inschriften in lateinischer Sprache eine spezifische, jeweils auszulotende Mischung aus Literarisch-Topischem und individuell-biografischen Nachrichten.45 Aussagen zu den Lebensläufen von Geistlichen reflektieren auch insofern genuin evangelische Vorstellungen und Normen, als häufig die Verbindung von persönlicher Gelehrsamkeit der Verstorbenen, ihrer schulischen bzw. akademischen Lehrtätigkeit und ihrer vorbildlichen Glaubensvermittlung und Predigttätigkeit gerühmt wird. Eine entsprechende Bildung war nach Luther zunächst Basis für einen angemessenen, glaubensfördernden Zugang jedes Gläubigen zur Botschaft des Evangeliums und für den Erhalt und die Weiterentwicklung des gesamten Gemeinwesens. Daher machten sich die Menschen, die Kindern die notwendige Ausbildung versagten, zum Werkzeug des Satans. In besonderem Maße waren natürlich Geistliche dazu verpflichtet, sich durch das Studium der biblischen Sprachen Voraussetzungen für das rechte Verständnis und die heilsfördernde Verkündigung des wahren Wortlauts der Heiligen Schrift anzueignen, um so die in die Irre führenden, altgläubig-exegetischen Traditionen überwinden zu können.46 Um die Spezifika der Epitaphien für lutherische Geistliche noch deutlicher hervortreten zu lassen, wäre ein Vergleich mit Grabmälern für weltliche Amtsträger und Autoritäten, also beispielsweise Bürgermeister, Syndici und fürstliche Räte sinnvoll, zumal in den Juristen eine weitere Elitegruppe der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu greifen ist.47 Dieser Vergleich kann hier nicht ausgeführt werden. 45 Dazu Fidel Rädle: Literarische Typik und historischer Einzelfall in den lateinischen Grabinschriften, in: Renate Neumüllers-Klauser (Hg.): Vom Quellenwert der Inschriften. Vorträge und Berichte der Fachtagung Esslingen 1990, Heidelberg 1992 (= Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 7/1992), S. 239–251. 46 Dazu Markus Wriedt: Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: Michael Beyer/Günther Wartenberg (Hg.): Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des raeceptor Germaniae, Philipp Melanchthon, am 16. Februar 1997, Leipzig 1996, S.155–184, besonders S.157–169. Das Theologenideal des „gebildeten Frommen“ beschreibt auch Marcel Nieden: Rationes studii theologici – Über den bildungsgeschichtlichen Quellenwert der Anweisungen zum Theologiestudium, in: Herman J. Selderhuis/Markus Wriedt (Hg.): Bildung und Konfession, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 27), S. 211–230, besonders S. 219f. 47 Vgl. Luise Schorn-Schütte: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, Heidelberg 1996 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62), S. 32–34, auch die These S. 36: „Die evangelische Geistlichkeit kann nur insofern als Teil einer bürgerlichen Funktionsträgerschaft bezeichnet werden, als sie durch ähnliche soziale Herkunft und Bildung mit anderen Teilgruppen verbunden war. Hinsichtlich ihrer Selbsteinschätzung und ihrer tatsächlich geübten politisch-sozialen Funktion blieb sie ständischen Ordnungsmustern länger verhaftet als z. B. die gelehrten Juristenbeamten.“
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Anhand des durchgesehenen Materials deutet sich jedoch an, dass beispielsweise Inschriften für Bürgermeister zwar ihren Amtstitel und die damit verbundenen Epitheta wie ‚ehrbar‘ bzw. ‚achtbar‘ und ‚wohlweise‘ nennen, dass die Texte insgesamt aber in aller Regel deutlich knapper sind und keine spezifischen Angaben über spezielle Verdienste und geistige Gaben der Verstorbenen aufweisen,48 die dann im Fall der lutherischen Geistlichen die Grundlage dafür bilden können, dass die Verstorbenen als Vorbilder für ihre Mitmenschen und die Nachwelt präsentiert werden. A HIC SVA BERNHARDVS BROITZEMVS CONSVL IN VRNA / A FRIGIDA POST SVMMVM CONDIDIT OSSA DIEM / A QVI DVM PRAECONIS DEPENDET AB ORE DOCE(N)TIS / A IN TEMPLO HOC SVBITO FVNERE RAPTVS OBIT / A MENS RECTA SVPEROS ADIIT SED TECTA SEPVLCHRO / A IN SPE SANCTORVM MEMBRA SOLVTA CVBANT B Anno 1561 den Sondach na Martini was de 16. / maentes dach November den vormiddach twi/schen Negen vnde teinen so der Erbar Borgeme/ster Berent von Breitzem in dusser kercken in / Got entslapen vnde alhier begraffen des sele / Got wolle gnedich sein Amen Hier in dem Grab hat der Bürgermeister Bernt von Broitzem seine erstarrten Gebeine nach seinem letzten Tag niedergelegt, der, während er an den Lippen des lehrenden Predigers hing, in dieser Kirche durch einen plötzlichen Tod dahingerafft starb. Der Geist hat sich geradewegs den Himmlischen genähert, aber durch dieses Grab bedeckt ruhen die gelösten Gebeine in der Hoffnung auf die (Gemeinschaft mit den) Heiligen (A).49
Explizit wird der Gedanke, dass Leben und Verdienste von Geistlichen Vorbildcharakter für andere Gläubige haben, auf dem Musa-Epitaph in Jena und auf dem Kampferbeck-Epitaph aus Goslar formuliert: vita erat exemplum sanctum et venerabile morum.Vor diesem Hintergrund lassen sich wohl die oft wesentlich ausführlicheren Lobreden für Theologen verstehen, in denen sie unter Verwendung von Superlativen als exzeptionell begabt, unermüdlich tätig und überhaupt unentbehrlich beschrieben werden. Gängige Epitheta sind in Prosa-Grabinschriften auch über das 16. Jahrhundert hinaus reverendus, clarissimus, excellentissimus, vigilantissimus und incomparabilis.50 Dass nicht nur Epitaph-Inschriften die Nachwelt auf 48 Die einschränkenden Adverbien sind durchaus ernst zu nehmen, denn es lassen sich naturgemäß auch Gegenbeispiele zu dem Schema ‚schlichte Inschriften für Bürgermeister als Amtsinhaber – längere Inschriften für Geistliche als Vorbilder individueller Lebensführung‘ anführen. In DI 56 (Stadt Braunschweig 2), Nr. 521† (1569) wird etwa Henning von Damm als „vortreffliche[r] Bürgermeister, . . . Zierde seines Standes, an untadeligem Lebenswandel und Hochherzigkeit niemandem nachstehend“ bezeichnet. Vgl. dazu auch Wulf: Humanismus (wie Anm. 40). Der bedeutende Theologe Martin Chemnitz erhielt demgegenüber eine Epitaphinschrift ohne Epitheta; über ihn heißt es nur, er sei Doktor der Theologie und Superintendent gewesen.Vielleicht geht diese schlichte Inschrift aber auch darauf zurück, dass Chemnitz selbst Verfügungen über die Gestaltung und die Inschriften seines Epitaphs hinterlassen hatte; DI 56 (Stadt Braunschweig 2), Nr. 574 (1580, 1587). 49 DI 56 (Stadt Braunschweig 2), Nr. 493† (1561). 50 Vgl. etwa – über die hier vorgestellten Beispiele hinaus – DI 56 (Stadt Braunschweig 2), Nr. 674† (1599), Nr. 677†? (um 1600, Gedenktafeln für Braunschweiger Geistliche). In anspruchsvolleren Versinschriften wird das Totenlob häufig stilistisch elaborierter ausgedrückt als durch sprachlich schlichte Epitheta, so durch bestimmte Metaphern und Vergleiche; vgl. dazu die oben genannten
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verstorbene Vorbilder aufmerksam machten, sondern auch die lebenden Pfarrer selbst eine beispielhafte Lebensführung anzustreben hatten, wird im folgenden Abschnitt eine Kanzelinschrift aus dem Landkreis Querfurt zeigen.
II. Kanzeln Kanzeln bieten sich als Untersuchungsgegenstände in besonderer Weise an, weil von ihnen herab reformatorische Theologie in den Kirchenraum übertragen wird. Sie sind geradezu Manifestationen der evangelischen Kirche, weil diese sich – neben der Darreichung der Sakramente – durch die Predigt des Evangeliums vor den Gläubigen konstituiert.51 Als Medien im Kirchenraum sind Kanzeln aber auch selbst Zeugnisse der Glaubensmanifestation in Schrift und Bild. Predigten anlässlich der Einweihung neuer Kanzeln aus dem 16. Jahrhundert stellen eine Verbindung beider Funktionen dar.52 Im Folgenden sollen zwei Kanzeln des 16. Jahrhunderts genauer betrachtet werden, von denen ich zwar nicht behaupte, dass sie exemplarisch für bestimmte Kanzeltypen stehen, die aber durchaus bestimmte Entwicklungen erkennen lassen. Die Reliefs einer durch den Bildschnitzer Benedikt Dreyer geschaffenen, zwischen Ende März und Anfang April 1534 in der Lübecker Marienkirche aufgestellten Kanzel werden durch Bibelzitate erläutert, die in niederdeutscher Sprache und gotischer Minuskel eingeschnitzt wurden (Abb. 3–7). Das Stück ist deshalb von besonderem Interesse, weil es sich um die älteste Kanzel mit einem reformatorischen Text-Bild-Programm handelt.53 Als Vorlagen für die bewegten, expresInschriften für Stephan Kampferbeck aus Goslar und Antonius Musa aus Jena. Möglicherweise ist es auch die Nähe zur akademischen Gelehrsamkeit, die dazu führt, dass Inschriften für Geistliche den rhetorischen Gepflogenheiten akademischer Selbstdarstellung folgen; vgl. Magin: Akademische Epigrafik (wie Anm. 27). 51 Vgl. Art. 7 (De Ecclesia) der Confessio Augustana: Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta. – Vgl. dazu nach wie vor Peter Poscharsky: Die Kanzel. Erscheinungsform im Protestantismus bis zum Ende des Barock, Gütersloh 1963. Dieses materialreiche Werk geht jedoch von sachlich falschen, unbrauchbaren Epochenabgrenzungen in Kirchenund Kunstgeschichte aus (vgl. ebd., S.13 Anm.14): Reformation und Orthodoxie bzw. Gegenreformation (1517–1689) = Renaissance; Aufklärung und Pietismus (1689–1814) = Barock. Der bildliche Kanzelschmuck wird getrennt nach den verschiedenen Kanzelbauteilen abgehandelt, die Inschriften jedoch pauschal (ebd., S.141–145). In bestimmten Kontexten werden Inschriften öfters, jedoch nicht systematisch herangezogen oder wiedergegeben. Häufig wird gar nicht deutlich, in welcher Sprache erwähnter epigrafischer Schmuck abgefasst ist, oder der Sinn von Aussagen wie 2% aller Kanzeln seien mit „Sprüchen“ verziert (nur Sprüche?, ohne Bilderschmuck?), bleibt unklar (ebd., S.112). 52 Vgl. Paul Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands 1, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Göttingen 1937, S. 410f. Inwiefern in solchen Predigten neben ausgewählten Bibelstellen auch das Text-Bild-Programm einer neuen Kanzel thematisiert wurde, geht aus den von Graff genannten Beispielen nicht hervor. 53 Dazu schon Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.161f. (noch dem Meister Jakob Reyge zugewiesen). Wolfgang Teuchert: Die Kanzel in Zarrentin – Lübecks erste evangelische Kanzel, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 74 (1994), S. 47–114. Auch Tamara Thiesen: Benedikt Dreyer. Das Werk des spätgotischen Lübecker Bildschnitzers, Kiel 2007 (= Bau + Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte 14), S. 234–274.
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Abb. 3–7: Zarrentin, St. Petrus und Paulus, Reliefs der Kanzel, angefertigt 1533/34 für die Kirche St. Marien, Lübeck
Abb. 3: Inschrift A
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Abb. 4: Inschrift B
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Abb. 5: Inschrift C
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Abb. 6: Inschrift D
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Abb. 7: Inschrift E
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siven und theologisch dichten Bilder54 werden in jüngeren Studien neben Holzschnitten Lucas Cranachs d. Ä. auch solche Erhard Altdorfers in der etwa gleichzeitig in Lübeck erschienenen niederdeutschen Bugenhagen-Bibel genannt.55 Seit 1699 befindet sich der Kanzelkorb in der Dorfkirche von Zarrentin (Landkreis Ludwigslust).56 Auf den fünf Reliefs sind Moses und Adam (Abb. 3), der predigende Johannes der Täufer (Abb. 4), Christus als Guter Hirte (Abb. 5), der Predigtauftrag an die Apostel (Abb. 6) und der predigende Christus zu sehen, dem falsche Propheten gegenübergestellt werden (Abb. 7). Drei Figuren, die Johannes dem Täufer im zweiten Relief zuhören, stellen von oben nach unten Johannes Bugenhagen, Kurfürst Friedrich den Weisen und kniend Martin Luther dar, letzteren hier in weltlicher Kleidung als Junker Jörg, auf den der Täufer zeigt. Die falschen Prediger im fünften Relief erscheinen als Mönch, in dessen Ärmel ein Wolf steckt; seinem Nachbarn mit einer wirren Frisur schaut ein Schaf aus dem Ärmel, der dritte falsche Prophet ist durch einen Turban gekennzeichnet.57 A1 Dorch eine(n) minsken is de / sunde gekame(n) i(n) de werlt vnde / dorch de sunde de doeth A2 Dorch dat gesette kümpt / erkentnisse der sünde • B
Doeth bote wente dat hemmel/rike is na hir bi gekamen
C
Jk bin ein güdt / heirde • ein güdt heirde leth sin leüent vor sine / scape
54 Zu den ikonografischen Vorlagen und Traditionen vgl. Teuchert: Kanzel Zarrentin (wie Anm. 53), S. 85–107. Das Bildprogramm der 1548 geschaffenen Kanzel von Visby auf der Insel Gotland (Schweden) verzichtet demgegenüber ganz auf die Vermittlung theologischer Inhalte und zeigt vielmehr die Köpfe der Reformatoren Luther, Melanchthon und (wohl) Bugenhagens sowie den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen; vgl. Jörn Staecker: Kaiser, König und Reformatoren. Das Bildprogramm einer gotländischen Kanzel, in: Scholkmann u. a. (Hg.): Tradition und Wandel (wie Anm. 7), S.103–112. 55 De Biblie vth der vthlegginge Doctoris Martini Luthers yn dyth due desche vlitich vthgesettet / mit sundergen vnderrichtingen / alse men seen mach, Lübeck: Ludwig Dietz 1533/(1534), VD 16, B 2840. Zu den Bildvorlagen Thiesen: Dreyer (wie Anm. 53), S. 263–272. – Die chronologische Reihenfolge Bugenhagen-Bibel – Kanzel ist jedoch unklar: 1. Beide Werke werden 1533/34 datiert. 2. Der Entwurf der Reliefs und die Auswahl der Inschriften müssen vor der Anfertigung der Kanzel erfolgt sein. 3. 1533 ist als Druckjahr der Bibel im Titel genannt, der Druck ist nach Teuchert: Kanzel Zarrentin (wie Anm. 53), S. 88, jedoch erst am 1. April 1534 erschienen. 4. Bugenhagen selbst, auf den die im Mai 1531 erlassene Lübecker Kirchenordnung zurückgeht, hatte die Stadt „bereits Ostern 1532 verlassen“ (so Teuchert: Kanzel Zarrentin [wie Anm. 53], S.110). Es ist also weder sicher zu erweisen, dass die sog. Bugenhagen-Bibel unmittelbare Vorlage für die Inschriften und die Bildreliefs war noch dass Johannes Bugenhagen selbst an der Gestaltung der Kanzel einen persönlichen Anteil hatte. 56 Der Schalldeckel, auf dem der Englische Gruß dargestellt ist, verblieb in Lübeck und befindet sich heute im St. Annenmuseum. Das Portal stammt aus dem Jahr 1596. Zur Entstehung der Kanzel vgl. Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck 2: Petrikirche, Marienkirche, Heilig-Geist-Hospital, bearbeitet von Fritz Hirsch/Gustav Schaumann/Friedrich Bruns, Lübeck 1906, S. 235f.; zuletzt, die ältere Literatur zusammenfassend, Thiesen: Dreyer (wie Anm. 53), S. 234f.; übereinstimmend Teuchert: Kanzel Zarrentin (wie Anm. 53), S. 51. Zum Anbringungsort der Kanzel in der Lübecker Marienkirche und zur ursprünglichen Anordnung der Bildtafeln vgl. ebd., S. 60. 57 Zum Bild des ‚Türken‘ vor allem aus evangelischer Sicht – das feindliche Andere, der zweite Antichrist neben dem Papst – vgl. Thomas Kaufmann: „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 97), besonders S. 62–65.
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D
Gaeth hen in de gantze / werlth vnde p(re)diket dat / evangelivm allen creatur/e
E
Seeth iw vor vor de falsken propheten de de in / scapesklederen to iw kame(n) inwendich ouerst / sin see ritende wülüe58
Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod (A1). Durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde (A2).Tut Buße, denn das Himmelreich ist nah gekommen (B). Ich bin ein guter Hirte. Ein guter Hirte lässt sein Leben für seine Schafe (C). Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium allen Kreaturen (D). Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, innerlich aber sind sie reißende Wölfe (E).
Die Bildbeischriften der Kanzel kommen der Bugenhagen-Bibel in der Tat sehr nahe. Sie sind syntaktisch jedoch so gestaltet, dass sie für sich stehen können und vollständige Hauptsätze ergeben (A1). In Inschrift C wird die Präsenz suggerierende Selbstaussage Christi in der 1. Person Singular („Ich bin . . .“) abweichend von der Vorlage im zweiten Satz zu einer Aussage über Christus in der 3. Person („Ein guter Hirte lässt . . .“). Vom Sprachgestus her sind die Beischriften sowohl deskriptiv (A1, A2, C) als auch appellativ-mahnend. Die Gemeinde wird direkt angesprochen und aufgefordert, sich zu entscheiden (B: „Tut Buße . . .“, D: „Geht hin . . .“, E: „Seht euch vor . . .“). Dabei ergänzen Texte und Bilder einander in der Aussage. Neben ‚Gesetz und Gnade‘ spielen auch ‚Sünde und Sündenvergebung‘, der Gute Hirte59 sowie die Predigt bzw. ihr Gegenstück, die Irrlehre, eine Rolle. Solchen Text-Bild-Kombinationen, die sich auch auf jüngeren Ausstattungsstücken in evangelischen Kirchen finden, kommt sicher eine didaktische Funktion zu. Insofern setzen sie die Gattungstradition der lehrhaften Bildtafeln des 15. Jahrhunderts fort.60 Welche Elemente begegnen nun auf späteren Kanzeln wieder, welche nicht? Da es einen Gesamtüberblick über die Text-Bild-Programme erst noch zu erarbeiten gilt, folge ich hier vor allem dem nicht unproblematischen Werk von Peter Poscharsky. Bibelzitate zu den speziellen Themen Sündenfall61 bzw. Buße und 58 Die Transkription der Inschriften stammt von Christine Magin.Wortlaut von Röm. 5,12 (Inschrift A1) nach Bugenhagen: Derhaluen gelick alse dorch einen minschen de sue nde gekamen ys in de werlt vnde de dodt dorch de sue nde; Wortlaut von Röm. 3,20 (A2) nach Bugenhagen: Wente dorch das gesette kumpt men erkentenisse der sue nde. – Wortlaut von Mt. 3,2 (B) nach Bugenhagen: Doeth bote dat hemmelryke ys na herby gekamen. – Wortlaut von Joh. 10,11 (C) nach Bugenhagen: Jck bin ein gudt heerde . . .Vnde yck late myn leeuent vor de schape. – Wortlaut von Mk. 16,15 (D) nach Bugenhagen: Ghaet hen jn de gantzen werlt vnde prediget dat Euangelion aller Creatur. – Wortlaut von Mt. 7,15 (E) nach Bugenhagen: Seeth juw voer vor den valschen Propheten de jnn schapes kledern tho juw kamen jnwendigen oeuerst synt se ritende wue lue. 59 Zum Motiv des Guten Hirten, der seine Schafe vor dem Wolf schützt, vgl. den Ausstellungskatalog: Luther und die Folgen für die Kunst, hg. von Werner Hofmann, München 1983, Nr.107f. S. 234f. 60 Dazu Ruth Slenczka: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen, Köln/Weimar/ Wien 1998 (= Pictura et poësis 10), besonders S.13–15, wo sich die Autorin auch mit Fehlurteilen der protestantischen Forschung hinsichtlich der angeblichen Innovationskraft der didaktischen Funktion reformatorischer Bildmedien auseinandersetzt. 61 Als Bildmotiv kommt der Sündenfall an 20% der lutherischen Kanzeln vor; Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.116f. Die folgenden Ausführungen zu Standard-Bildthemen beruhen grundsätzlich auf den Angaben ebd., S.112–145.
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Abb. 8–10: Greifswald, St. Marien, Kanzel (1587)
Abb. 8: Gesamtansicht
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Abb. 9: Rückwand des Kanzelkorbs mit Inschrift H
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Abb. 10: Schalldeckel mit den Inschriften J, N und O
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Predigt werden Standard, dies jedoch beileibe nicht ausschließlich in (nieder-) deutscher, sondern oft auch in lateinischer Sprache. Die Reformatorenbilder sind in Zarrentin noch Bestandteil einer komplexeren Szene, später jedoch häufig eigenständige Elemente. Luther wird an Kanzeln des späteren 16. Jahrhunderts in aller Regel am Portal gezeigt, nicht am Kanzelkorb wie in Zarrentin. Christus als Guter Hirte und der Missionsbefehl sind seltene Motive, die vor allem an frühen Kanzeln vorkommen.62 Das Jüngste Gericht fehlt dort zumeist, ist an späteren Kanzeln aber prominent und wird auch in der Zarrentiner Inschrift B thematisiert. Die Bildszenen jüngerer Kanzeln sind kaum mehr so belebt, dramatisch und inhaltlich vielfältig wie in Zarrentin, sondern relativ statisch und auf die Heilstaten Christi (Verkündigung, Geburt, Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt)63 zentriert. Die hölzerne, üppig mit Intarsien verzierte und mit zahlreichen Inschriften versehene Kanzel in St. Marien (Greifswald) aus dem Jahr 158764 besteht aus Portal, Aufgang, Kanzelkorb, Rückwand und Schalldeckel (Abb. 8–10). Die am Aufgang dargestellten Evangelisten haben eine lange ikonografische Tradition und eine leicht zugängliche Bedeutung: Der Weg zu Christus, dargestellt am Kanzelkorb, oft unter dem Platz des Pfarrers, führt über die Evangelien an der Treppenbrüstung.65 Am Kanzelkorb sind Paulus, Christus als Weltenherrscher, Johannes der Täufer und Petrus dargestellt, auf dem Unterhang die Wappen der drei 1587 amtierenden Gemeindeprovisoren. An der Rückwand sind drei Gemälde mit Halbfiguren der Reformatoren Bugenhagen, Luther und Melanchthon sowie jeweils zwei Distichen angebracht. Die Kapitalis-Inschriften befassen sich vor allem mit den Aufgaben des Predigenden und formulieren eschatologische Erwartungen. Es handelt sich also nicht, wie im Fall der Zarrentiner Kanzel, um Texte, die sich der Aussage der bildlichen Darstellungen inhaltlich zuordnen lassen, sondern die Inschriften konstituieren eher eine eigene Bedeutungsebene, die sich am ehesten noch mit der Darstellung Christi als Weltenherrscher verbinden lässt. Portal: A 1587 Kanzelaufgang und -korb: B LA//BIA SACERDOTIS CVS//TODIENT SCIENTIAM // ET LEGEM REQVIRENT // EX ORE EIVS MALAGH//IE // 2 C REGES • ERVNT // NVTRITII • TVI • // ET • REGINAE • NV//TR//ICES • TVAE ESAIAE 49 Die Lippen des Priesters sollen die Lehre hüten, und aus seinem Munde sollen sie das Gesetz erwarten (B). Könige werden deine Nährer und Königinnen deine Ammen sein (C).
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So Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.118. Jedes dieser Motive kommt an mindestens 30% der Kanzeln (Korpus und Aufgang) vor; Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.117. 64 DI 77 (Stadt Greifswald), Nr. 256. 65 Nach Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.114, werden Evangelisten am Aufgang evangelischer Kanzeln nur selten dargestellt. Zu mittelalterlichen Konventionen vgl. ebd., S. 38–40. 63
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Stifterwappen am Unterhang des Kanzelkorbs: D IC E HOM[O] • EST • SICVT • FLOS [CAM]P[I] Kanzelrückwand mit Reformatorenbildern (Abb. 9): F1 D(OCTOR) • IOHANNES BVGENHAGIVS / POMERANVS F2 ANTE OCVLOS ERRANT EXTREMI / SIGNA DIEI • / MVNDVS SECVRVS NON TAME(N) / ISTA VIDET G1 D(OCTOR) MARTINVS LVTHERVS G2 TEMPVS ADEST, STABIS CVM / IVDICIS ANTE TRIBVNAL / TV MALA FACTA BONIS / CORRIGE, TEMPVS ADEST H1 PHILIPPVS MELANTHON H2 VENTVM AD SVPREMA EST MVN/DVS DAT SIGNA RVINAE • / QVEM NON SIGNA MOVENT HVNC / SVA POENA MANET I Sac[– – –] Vor den Augen irren die Zeichen des Jüngsten Tages, die sorglose Welt sieht diese dennoch nicht (F2). Da ist die Zeit, da du vor dem Richterstuhl stehen wirst. Bessere du die schlechten Taten durch gute, die Zeit ist da (G2). Die Welt ist ans Ende gekommen, sie gibt Zeichen des Verfalls. Wen die Zeichen nicht bewegen, auf den wartet seine Strafe (H2). Schalldeckel (Abb.10): J • VERBVM • // DOMINI // MANET // IN • AETER•//NVM • ESAI XL K GLORIFICANTES ME GLORIFICABO / CONTEMNENTES ME ERVNT IGNOBILES // I SAM 2 Vulgata: quicumque glorificaverit me glorificabo eum; qui autem contemnunt me erunt ignobiles. Luther: Wer mich ehret, den wil ich auch ehren.Wer aber mich veracht, der sol auch wider veracht werden. L ESTO FIDELIS VSQVE AD MORTEM / ET DABO TIBI CORONAMVITAE APO 2 Vulgata: wie Inschrift Luther: Sey getrew bis an den Tod, so wil ich dir die Krone des lebens geben. M VMBRA • MANVS MEAE PROTE/GAM TE VT PLANTES COELOS ESAI / 51 Vulgata: in umbra manus meae protexi te ut plantes caelos. Luther: [Ich] bedecke dich vnter dem schatten meiner Hende, auff das ich den Himel pflantze. N EVGE SERVE BONE QVIA SVPER PAVCA / FVISTI • FIDELIS • SVPER • MVLTA / TE • CONSTITVAM MAT 25 Vulgata: euge bone serve et fidelis quia super . . . Luther: Ey du fromer vnd getrewer Knecht, du bist vber wenigem getrew gewesen, jch wil dich vber viel setzen. O BONVM CERTAMEN CERTAVI • REPOSI/TA EST MIHI CORONA VITAE 2 TIMO 4 Vulgata: Bonum certamen certavi . . . in reliquo reposi/ta est mihi iustitiae corona. Luther: Jch hab einen guten Kampff gekempffet . . . Hinfurt ist mir beygelegt die Kron der gerechtigkeit. Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit ( J). Diejenigen, die mich rühmen, werde ich rühmen; diejenigen, die mich verachten, werden ruhmlos sein (K). Sei treu bis zum Tod, und ich werde dir die Krone des Lebens geben (L). Mit dem Schatten meiner Hand werde ich dich beschützen, damit du die Himmel bepflanzt (M). Recht so, guter Knecht, weil du über Weniges treu gewesen bist, will ich dich über Vieles setzen (N). Ich habe einen guten Kampf gekämpft, die Krone des Lebens ist für mich bereitgelegt (O).
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Der Wortlaut der Inschriften B, C und L entspricht der Vulgata.66 Auch K–O geben Bibelstellen wieder, der Wortlaut der Inschriften K, M und O weicht jedoch signifikant vom Vulgatatext ab. Der unbekannte Urheber des Kanzelprogramms scheint auf Texte der Religionspraxis und -unterweisung zurückgegriffen zu haben, im Fall von Inschrift K wohl auf den philippistisch geprägten Wittenberger Katechismus von 1571, und auf Gesungenes, nämlich Hymnen (N, O, vielleicht auch L), die in der sich formierenden lutherischen Kirche noch in Gebrauch waren. Belege für neue Vertonungen stammen allerdings erst aus dem frühen 17. Jahrhundert (N). Inschrift M ist weder Vulgatawortlaut noch eine Übersetzung der Lutherbibel ins Lateinische; eine genaue Quelle habe ich bisher nicht finden können. Die den Reformatorenbildnissen beigegebenen Distichen F2, G2 und H2 lassen sich in der ‚Orthodoxa enarratio Evangeliorum‘ des Joachim von Beust (1522–1597) nachweisen.67 Da dieses Werk aber erst 1591, also wenige Jahre nach der Entstehung der Kanzel, gedruckt wurde, ist nur eine gemeinsame Textvorlage für die Kanzel und die ‚Enarratio‘ denkbar. Dabei könnte es sich um die Liedsammlung ‚Bicinia sacra‘ des Rostockers Daniel Friderici handeln, die 1582 in Greifswald erschienen war.68 – Besonders betont wird der Predigtauftrag des Geistlichen (B), dem dieser dann gerecht wird, wenn er seine Gemeinde zur Umkehr bewegen (K, L) und dadurch vor dem Untergang im Jüngsten Gericht retten kann (F2, G2, H2, N, O).69 Es handelt sich, wie bereits erwähnt, bei den Inschriften nicht um verbale Entsprechungen der einzelnen bildlichen Darstellungen nach dem Ideal der scriptura sui ipsius interpres,70 sondern um eine zusätzliche Bedeutungsebene ‚Jüngstes Gericht‘, die sich nur im liturgischen und situativen Kontext des Objekts Kanzel insgesamt erschließt, nicht im Zusammenhang mit den Kanzelbildern. Zu der prononcierten Würdigung des Predigtamtes71 passen 66 Zu den wenigen vorreformatorischen Kanzeln mit inschriftlichen Bibelzitaten vgl. Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S. 55. 67 Vgl. Joachim von Beust: Orthodoxa enarratio Evangeliorum quae diebus dominicis et sanctorum festis in ecclesia Dei explicantur, Leipzig 1591 (VD 16, E 4587); benutzte Ausgabe: Leipzig 1592 (VD 16, E 4588), einleitende Verse zum 2. Adventssonntag (Ante oculos . . .) bzw. zum 25. und 26. Sonntag nach Trinitatis (Ventum ad supremum est . . ., Tempus adest . . .). 68 Dieser Hinweis auf Daniel Friderici: Bicinia sacra, Greifswald 1582 sowie Rostock 1623, konnte nicht überprüft werden, da keine Ausgabe erreichbar war. Ein weiteres Beispiel für eine (antipäpstliche) deutsche Kanzelinschrift, die sich auf Gesungenes, hier auf das Protestlied Martin Luthers Erhalt uns her bei deinem wortt zurückführen lässt, bietet DI 66 (Landkreis Göttingen), Nr. 213† (um 1590). 69 Bestimmte Bibelzitate eignen sich aufgrund ihrer Betonung der mahnenden Stimme des Pfarrers besonders als Kanzelinschriften, etwa Jes. 58,1; vgl. dazu DI 45 (Stadt Goslar), Nr.124 (um 1600), Nr.154 (1620). 70 Dies gegen die pauschale Behauptung, „[d]er Schmuck der Kanzel entspricht also der christologischen Ausrichtung der Predigt, die Interpretation dem homiletischen Prinzip scriptura sui ipsius interpres“. Peter Poscharsky: Art. Kanzel, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.17 (1988), S. 599– 604, Zitat S. 600. 71 Einen etwas anderen Fokus haben die deutschen und lateinischen Inschriften der 1574 entstandenen Kanzel von St. Marien (Rostock). Der Kanzeleingang belehrt den Pfarrer in Wort und Bild darüber, was Predigt ist. Die für die Gemeinde sichtbare Brüstung stellt Sinn und Zweck der Predigt dar. Der mahnende Sprachgestus der Greifswalder Kanzel fehlt, als Inschriften finden sich in Rostock
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die hinter dem Prediger angebrachten Reformatorengemälde, deren Autorität ihm den Rücken stärkt, weil sie die Gemeinde gemeinsam mit ihm mahnen. Dass generell auch die Last der Predigt-Verantwortung gesehen wurde, zeigt eine wohl 1612 angebrachte Inschrift an einem mehrfach umgestalteten Kanzelaltar in dem kleinen Dorf Esperstedt in Sachsen-Anhalt.72 Ein lateinisches Bittgebet um die Gabe der rechten Predigt ist in Kapitalisbuchstaben an der Innenseite des Kanzelkorbs aufgemalt und somit nur für den Geistlichen sichtbar (Abb.11): COR MENTEM LINGVA[M] / TV REGE, CHRISTE, MEA[M] / VENI, SPIRITVS SANCTE, / [VE]NI DATOR MVNERVM / DONA MIHI OS ET SAP[I]/ENTIAM AD ANNVNCIAN[DA]M / LAVDEM TVAM; EFFICE [NE] / QVOD VERBVM IMPR[V]/ DENTER MIHI EXCIDAT [QV]O / POSSIT NOMINIS TVI G[LO]RIA, / AVT CONSCIENTIA MEA [LAE]DI, / FAC, VT CV(M) FRVCTV DOC[EA]M; / ACCENDE CORTA[!] AVDI/[T]ORVM VT ATTENTE / MANGNA CVM RE-VE[RE]NTIA / VERBVM TVVM AVDIAN[T] / ATQVE INDE EMEND[ENT]VR Lenke du, Christus, mein Herz, meinen Geist und meine Zunge. Komm, heiliger Geist, komm, Gabenspender, schenke mir die Beredsamkeit und die Weisheit zur Verkündigung deines Lobes. Verhindere, dass mir irgendein Wort unklug entschlüpft, durch das der Ruhm deines Namens oder mein Gewissen verletzt werden könnten. Mach, dass ich mit Erfolg predige, entzünde die Herzen der Zuhörer, damit sie aufmerksam und mit großer Ehrfurcht dein Wort hören und sich daraufhin bessern.
Die Junkturen Cor mentem linguam und Veni, spiritus sancte, veni dator munerum greifen – ich erinnere an die Greifswalder Kanzel – mittelalterliche Hymnen auf.73 Eine weitere, gleich alte Inschrift an der Kirchenwand, in humanistischer Minuskel mit einzelnen Frakturbuchstaben aufgemalt,74 ist dem eben zitierten Gebet gedanklich vorgeschaltet (Abb.12): Scandere qui Cathedram cupis hanc sis rite vocat(us). / Et factis precibus Biblia sacra doce. / Utq(ue) doces. vivas: persuadet vita docentis. / Sit Deus ante oculos: sit populiq(ue) salus. Der du begehrst, diese Kanzel zu besteigen, seist dazu in gebührlicher Weise berufen. Und lehre die Heilige Schrift (erst) nach Verrichtung der Gebete. Wie du aber lehrst, sollst du leben: Es überzeugt die Lebensführung des Predigers.Vor Augen sei dir Gott und das Heil des Volkes.
Das Ende des ersten Verses erinnert an Art.14 (De ordine ecclesiastico) der Confessio Augustana: Niemand darf in der Kirche lehren, predigen oder die Sakramente austeilen, wenn er nicht ordnungsgemäß berufen wurde (nemo debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare, nisi rite vocatus). Dass es sich bei diesen Le-
oft nicht auszitierte Bibelverse, sondern nur Stellenverweise, etwa IEREMIA oder ROM • 8.Vgl. Reinitzer: Gesetz und Evangelium (wie Anm. 33), S. 72–75, der auch betont, dass wie im Fall der Greifswalder Kanzel „Text und Bild unabhängig voneinander bestehen und einander nicht bedürfen, um verstanden zu werden“ (ebd., S. 73). 72 DI 64 (Landkreis Querfurt), Nr.134 (1612). 73 Dazu genauer ebd., Anm. 3, 4. 74 DI 64 (Landkreis Querfurt), Nr.176 (1612).
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Abb.11: Esperstedt, St. Peter, Kanzelalter, Tafel an der Innenseite des Kanzelkorbs (1612)
Abb.12: Esperstedt, St. Peter, Wandmalerei im Kirchenschiff (1612)
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bens- und Predigtanleitungen nicht um Einzelbeispiele handelt, belegen weitere, nahezu textgleiche Inschriften in Alsleben und Eisleben.75 Solche Inschriften verdienen es, als Quellen für das Selbst- und Amtsverständnis lutherischer Geistlicher zur Kenntnis genommen zu werden. Mehrere der hier vorgestellten Texte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts thematisieren so nachdrücklich die Vorbildfunktion der persönlichen Lebensführung von Geistlichen, sei es im Zusammenhang mit ihrer Predigtpflicht, sei es im Kontext von posthumen Gedenkinschriften, dass man geneigt ist, nach einer Art Amtstheologie hinter diesen Formulierungen zu suchen. Für das 16. Jahrhundert wird zum einen auf die im Timotheusbrief genannten und in besonderem Maße für Geistliche geforderten Tugenden und Fähigkeiten verwiesen (1. Tim. 4,12–16: sey ein Furbilde den Gleubigen im wort, im wandel, in der liebe, im geist, im glauben, in der keuscheit. Halt an mit lesen, mit ermanen, mit leren, bis ich kome. . . . Denn wo du solches thust, wirstu dich selbs selig machen, vnd die dich hören).76 Zum anderen wird auf die Kontinuität zur Kirchen- und Seelsorgereform des 15. Jahrhunderts hingewiesen.77 Ferner wäre zu überlegen, ob in den Epitaphinschriften des späten 16. Jahrhunderts bereits Tendenzen eines Amtsverständnisses greifbar werden, das erst später seine volle Ausprägung erfuhr: „Im Zuge eines auf die Theol[ogie] des Amtes applizierten komplexen Individualisierungsprozesses seit dem frühen 17. J[ahr]h[undert] wurde der persönlichen Glaubwürdigkeit des Amtsinhabers eine integrale Bedeutung für die Wirksamkeit des Amts zugeschrieben.“78 Das Andenken an die evangelischen Pfarrer der ersten Stunde, die ihre Karriere oft als altgläubige Kleriker begonnen hatten, wird sicher auch von dem Bewusstsein der Nachwelt bestimmt gewesen sein, dass in ihrem Lebenslauf individuelles Schicksal und historischer Wandel, nämlich der reformatorische Umbruch in einer Stadt, untrennbar verbunden waren. Auch wenn meine Ausführungen nicht das Ergebnis einer systematischen Analyse sind, also nicht zu statistisch belastbaren Aussagen über Standardtypen und Sonderfälle von Grabinschriften für Geistliche und Inschriften auf Kanzeln führen, so hoffe ich doch gezeigt zu haben, dass diese epigrafischen Quellen nicht nur einen Teil der „Kulisse für die Performanz lutherischer Liturgie“79 darstellen, 75 In der Kirche von Alsleben befinden sich sowohl die normativen Distichen Scandere qui cathedram als auch das Gebet Cor mentem linguam, in Eisleben offensichtlich nur die Distichen; vgl. dazu die Kommentare zu Nr.134 und 176 in DI 64 (Landkreis Querfurt). 76 Vgl. Thomas Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675, Heidelberg 1997 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 66), S.166–171. 77 Schorn-Schütte: Geistlichkeit (wie Anm. 47), S. 358f. 78 Thomas Kaufmann: Art. Amt. 2. Mittelalter bis Neuzeit, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd.1 (1998), Sp. 427–429, Zitat Sp. 428. In der Grundaussage ähnlich, wenngleich wesentlich ausführlicher, ders.: Universität (wie Anm. 76), S. 233–250. 79 Als „little more than a backdrop for the performance of the Lutheran liturgy“ wird das Innere, werden speziell Bilder und Altäre der Nürnberger Frauenkirche auf der Grundlage einer Darstellung aus dem Jahr 1696 bezeichnet bei Bridget Heal: Sacred Image and Sacred Space in Lutheran Germany, in: Will Coster/Andrew Spicer (Hg.): Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge/New York 2005, S. 39–59, Zitat S. 59.
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sondern vielschichtige religionskulturelle Zeugnisse sui generis sind. In diesen Zeugnissen zwischen schriftlicher und materieller Kultur geht es nicht nur um das Soli Deo gloria, sondern auch um Weltlich-Konkretes. An die Texte und ihre spezifischen Kontexte lassen sich daher, unabhängig vom jeweils betrachteten geografischen Raum, höchst unterschiedliche Fragenbündel herantragen: Über den philologischen Nachweis der Quellen für die einzelnen Inschriften hinaus: Welche Themen werden angesprochen, wie sind Quellen und Themen theologiegeschichtlich zu kontextualisieren? Ist die Rezeption des Wittenberger Katechismus 1587 in Greifswald ein Einzelbeispiel für didaktisch-exegetische Literatur in Inschriften? Wird für Inschriften jeweils die lateinische, niederdeutsche oder hochdeutsche Sprache gewählt? Was bedeutet es beispielsweise für den zeitgenössischen Zusammenhang von Liturgie, religiöser Unterweisung und Bildung, wenn viele Kanzeln nicht etwa deutsche, sondern lateinische Texte aufweisen? Wer sind die Adressaten von komplexen Kanzelprogrammen in Wort und Bild? Und wer sind ihre Urheber: vor allem die ausführenden Meister oder auch – und wenn ja, in welchem Maße – die Theologen?80 Welche Bedeutung haben Aspekte wie Repräsentation, Selbstdarstellung und Stifterstolz, ehrendes Totengedenken, die Präsenz oder Dominanz bestimmter sozialer Gruppen sowie die Darstellung religiöser, sozialer und politischer Ordnung und Ideale? Sind Aussagen darüber möglich, auf welchem Weg, über welche Schriften und Personen, Elemente der zeitgenössischen theologischen Diskussion in die Inschriften gelangten? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es nicht nur Luthers relativ gelassene, pragmatisch-differenzierte Äußerungen zu Inschriften, Kirchenschmuck und Begräbniskultur sind, die als Hintergrund für die evangelische Inschriftenproduktion des 16. Jahrhunderts gesehen werden müssen, sondern dass andere Determinanten mindestens in vergleichbarem Maße prägend waren, etwa die Auffassung vom Amt des Pfarrers, weltliche Repräsentation und Ordnungsvorstellungen, sich wandelnde liturgische und Frömmigkeitsformen, humanistische Tugend- und Bildungsideale sowie stilistisch-ikonografische Vorlieben der Renaissance. Der Weg zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen führt über möglichst viele interdisziplinäre, quellennahe und mikrohistorische Studien, die diese Fragen „auf den Boden der irritierend vielfältigen historischen Phänomene“81 zurückholen.
80 „Das Problem der Mitarbeit der Theologen“ behandelt Poscharsky: Kanzel (wie Anm. 51), S.182–204, ohne allerdings genau auf die Inschriften einzugehen. 81 Berndt Hamm: Umstrittene Reformation. Rezension zu: Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann: Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002 (= Kontroversen um die Geschichte), in: Archiv für Reformationsgeschichte 25 (2004), S. 301–309, Zitat S. 309.
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Bildnachweise Abb.1–2, 8–10: Greifswald, Arbeitsstelle Inschriften der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ( Jürgen Herold). – Abb. 3–7: Landesamt für Kultur und Denkmalpflege/Bau- und Kunstdenkmalpflege, Schwerin (Achim Bötefür). – Abb.11, 12: Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Arbeitsstelle Inschriften (Ilias Bartusch, Heidelberg).
Sabine Griese
Der ‚Herzmahner‘ – ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein Textüberlieferung des Spätmittelalters erweist sich als variantenreiche Reformulierung bekannter literarischer Formen und Felder: Gerade die geistliche Literatur des christlichen Spätmittelalters artikuliert immer wieder neu das Passionsgeschehen Christi; Gebet und Andacht sind dabei zwei mögliche Weisen der performativen Annäherung an das literarische Feld und den thematischen Bereich des Lebens und Leidens des Erlösers. Passionsgeschichte stellt sich nicht nur als ein Erzählen und ein Erzähltes vom Leiden Christi dar, sondern auch als eine Annäherung an den Erlöser und sein Leben, die in vielfach differenter Weise geschehen kann: in der Versenkung in ein Bild, im geistlichen Lied, im Vollzug und in der Teilnahme an der Liturgie, in meditatio, oratio, compassio. Gebet, Andacht, Betrachtung und Mitleiden sind dominante Vokabeln und Denkfiguren in diesem Bereich der Literatur.1 Eindeutige Formen der Lektüre formulieren sie dabei jedoch nicht aus, die Texte stellen sich oft als Experimente, Übungsformen der Annäherung, als ein Handeln, auch als lebenslange rememoratio dar. Sie wollen letztlich eine Zwiesprache des einzelnen mit Gott formulieren und oft auch anleiten.Textualität unterstützt innere Formen der Andacht und Betrachtung, Formen der Hinwendung zu Christus und der Verinnerlichung, der Erzeugung innerer Bilder. Die Texte nennen sich selbst Zeitglöcklein, horologium devotionis, hortulus animae, Seelengärtlein, Schatzbehalter, Himmlische Fundgrube, Vita Christi, meditatio et oratio. Sie präsentieren sich als Gebet- oder Andachtsbuch und fordern eine intensive Betrachtung des Dargestellten. Sie thematisieren das Passionsgeschehen, tun dies jedoch auf ganz unterschiedliche Weise. Für eine Hinführung des Lesers zu Christus stehen im 15. Jahrhundert findige Formen der Gesprächsführung bereit: Sowohl im Layout des Textes als auch in der Emotionalisierung und Lenkung der verwendeten Sprache werden Modelle erprobt, die Textgliederung wird durch optische Elemente unterstützt (unterschied1 Zum Feld der Passionsliteratur vgl. Tobias A. Kemper: Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 131). – Die Passionsliteratur ist für den „Aspekt literarischer Traditionalität“ ertragreich heranzuziehen, da die Texte weitgehend „literarische Bearbeitungen von Vorgängigem“ sind. Dazu s. die Einleitung in dem Band Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Joachim Bumke/Ursula Peters, als Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005) erschienen, die Zitate auf S.1, die Einleitung auf S.1–5. Meist sind die volkssprachigen Texte Übertragungen lateinischer Passionstraktate, die in der volkssprachigen Form ihre Erzählstrategien gegenüber den Vorlagen intensivieren und Leseanleitungen formulieren. Das ist Thema des vorliegenden Beitrags.
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liche Schrifttypen, Paragraphenzeichen) oder durch Kapiteleinteilung, durch Register sowie durch eine Bildebene vorgenommen, deiktische Elemente und Intensivierung des erzählten Textes sind darüber hinaus Möglichkeiten dieser Versuchsverfahren. Klare Apostrophen an den Leser in Text und Bild, bewusste Stückelung des Geschehens in überschaubare Lektüre-Abschnitte, Orientierung an der Einteilung des Stundengebets, ritualisierte Wiederholungsmomente und refrainartige Repetitionen, sowie konkrete Leseanweisungen zielen auf ein erfolgreiches Verinnerlichen und eine andächtige Lektüre des Erlösungsgeschehens. Gebete stellen dabei immer wieder obligate Elemente dieses umfangreichen und kombinierten Annäherungsverfahrens dar. Der hier vorzustellende ‚Herzmahner‘ ist ein Text, den ich in dieses Feld geistlicher Literatur des Spätmittelalters einordnen möchte. Er stellt seinem Erzählen allerdings keine spektakuläre Bildebene oder auch keine übermäßig emotionalisierte Wortebene an die Seite (wie dies obligat das ‚Zeitglöcklein‘ des Bruders Berthold oder das sogenannte ‚Leben Jesu der Schwester Regula‘ tun2), sondern der ‚Herzmahner‘ nimmt eine Verbindung aus Traktat und Gebet vor, die einerseits durch Portionierung und andererseits durch Orientierung am Leben und Leiden Christi eine eigenartige Narrationsebene formt, die man bisher als „Leben-JesuGebetszyklus“3 oder als „ein vor allem für Laien bestimmtes Andachtsbuch“4 benannt hat. Dies möchte ich hier aufgreifen und präzisieren. Der ‚Herzmahner‘ ist Wiedererzählung und er transformiert dabei, was Thomas von Kempen (1379/80–1471) im ersten Teil seiner ‚Orationes et meditationes de vita Christi‘ lateinisch geprägt hat.Von dem Thomas-Text hat man sechs deutsche und niederländische Übersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts nachgewiesen, wobei die meisten dieser Übertragungen nur den ersten der beiden Traktate umfassen.5 Bemerkenswert erscheint mir, dass aus dem oberdeutschen Raum meh2 Zu den beiden Texten und ihren Textstrategien vgl. Sabine Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form. Bertholds Zeitglöcklein und verwandte Texte als Laien-Gebetbücher, in: Rudolf Suntrup/Jan R. Veenstra/Anne Bollmann (Hg.): The Mediation of Symbol in Late Medieval and Early Modern Times. Medien der Symbolik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2005 (= Medieval to Early Modern Culture/Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 5), S. 3–35; dies.: „Regularien“.Wahrnehmungslenkung im sogenannten Leben Jesu der Schwester Regula, in: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter, Zürich 2009 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 297–315; Dies.: Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 7), S. 347–362 und S. 495–501. 3 Werner J. Hoffmann: Thomas Hemerken von Kempen [Korr./Nachtr.], in: Die deutsche Literatur des Mittelalters.Verfasserlexikon, zweite Aufl., Bd.11 (2004), Sp.1528–1538, hier 1529. 4 Volker Honemann: ‚Der Herzmahner‘, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 3), Bd. 3 (1981), Sp.1167–1170, hier: 1168. 5 Vgl. Hoffmann: Thomas (wie Anm. 3), Sp.1529. Der Text besteht aus zwei Teilen, die oftmals separat überliefert sind (ebd.) Der erste Teil des Textes reicht bis zur Grablegung Christi, der zweite handelt von der Auferstehung Christi und den Erscheinungen des Herrn, von der Himmelfahrt und dem Pfingstgeschehen. Zu dem niederländischen Autor Thomas von Kempen vgl. Paul von Geest/ Erika Bauer/Burkhard Wachinger: Thomas Hemerken von Kempen (Hamerken, Hamerkein, Mal-
Der ‚Herzmahner‘ – ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein
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rere, voneinander abweichende Übersetzungen bekannt sind, die zudem im Druck Verbreitung fanden und damit sofort auf eine größere Zahl von Abnehmern zielten.6 Der ‚Herzmahner‘ stellt eine dieser oberdeutschen Fassungen der Übersetzung dieses Textes dar, die ausschließlich in gedruckter Form vorliegt: in einem kleinen Büchlein im Sedez-Format (es misst 13,5 ҂ 9 cm), das am Ende des 15. Jahrhunderts in Nürnberg bei Kaspar Hochfeder in den Druck ging und heute noch in mehreren Exemplaren erhalten ist.7 Die neuere Forschung hat die vorherrschende Meinung revidiert, dass der ‚Herzmahner‘ eine Übersetzung des ‚Antidotarius animae‘ des Nicolaus Salicetus sei.8 Der ‚Herzmahner‘ ist vielmehr eine deutsche Fassung des Thomas von Kempen-Textes. Er ist Übertragung und darin abhängig von seiner lateinischen Vorlage, er formuliert zudem seine Übertragungsgeschichte in einer kurzen praefatio (darin vergleichbar dem ‚Zeitglöcklein‘), nennt jedoch keinen Adressaten seines Textes, lediglich einen Ziel- oder Wunschzustand des Lesers und Benutzers. Sprache und Übertragung, Einteilung und Ordnung des oberdeutschen Textes möchte ich im folgenden vorstellen, um zu zeigen, welche Möglichkeiten von Gebet und Andacht im volkssprachigen literarischen Feld von oratio und meditatio existieren. Als Zentrum der Textgeschichte des ‚Herzmahners‘ fungieren – wie auch bei anderen geistlichen Texten des späteren 15. Jahrhunderts beobachtet – die Basler Kartause und der Drucker Johann Amerbach.9 Diesen Distributionsgedanken lasse leolus; a Kempis) CanAug, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 3), Bd. 9 (1995), Sp. 862–882 und Hoffmann: ebd. (wie Anm. 3). Der Artikel von Hoffmann aktualisiert den Forschungsstand, der gerade hinsichtlich der volkssprachigen Rezeption der Thomas-Texte Defizite aufwies. Bisher war man davon ausgegangen, dass lediglich der Haupttext des Thomas von Kempen, die ‚Imitatio Christi‘ eine intensive Aufnahme in der Volkssprache erfuhr, doch auch die ‚Orationes et meditationes de vita Christi‘ sind mehrfach übersetzt worden (Hoffmann, Sp.1529). Zu Thomas von Kempen siehe auch Ulrike Bodemann/Nikolaus Staubach (Hg.): Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale, Frankfurt a. M. 2006 (= Tradition – Reform – Innovation 11). 6 Vgl. Hoffmann: Thomas (wie Anm. 3), Sp.1531. 7 Nürnberg: Kaspar Hochfeder [um 1497]. Der Gesamtkatalog der Wiegendrucke (http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de) nennt unter der Nummer M07711 24 erhaltene Exemplare für den ‚Herzmahner‘, der als „Thomas a Kempis: Meditationes de vita Jesu Christi, deutsch“ verzeichnet ist. 8 So noch bei Hoffmann:Thomas (wie Anm. 3), Sp.1169, der den ‚Antidotarius animae‘ als Quelle des ‚Herzmahners‘ und dessen erste Kapitel als wörtliche Übersetzung aus dem Salicetus-Text ansieht. Hoffmann (ebd.) revidiert und korrigiert dies (Sp.1532): „Die in der bisherigen Forschung [. . .] vermutete Abhängigkeit des ‚Herzmahners‘ von dem ‚Antidotarius anime‘ des Nicolaus → Salicetus trifft nicht zu; die Übereinstimmungen zwischen den beiden Texten erklären sich aus der gemeinsamen Quellengrundlage: Der ‚Antidotarius‘ enthält einen umfangreichen Teil, den Pohl [. . .] als kürzende Bearbeitung der ‚Orationes‘ des Th. identifizieren konnte.“ Bereits 1998 hatte Cermann im Rahmen ihrer Analyse des sogenannten Glockendon-Gebetbuchs die Textverhältnisse geklärt und den ‚Herzmahner‘ ins Gespräch gebracht; Regina Cermann: Der Verfasser der Gebete: Thomas von Kempen, in: dies. u. a. (Hg.): Das Glockendon-Gebetbuch Biblioteca Estense Universitaria, α.U.6.7, Luzern 1998, S. 7–30, bes. S.10 u. ö. 9 Ein Druck aus dem Jahre 1489 scheint Ausgangspunkt der Überlieferung des übersetzten Thomas-Textes zu sein; vgl. Hoffmann: Thomas (wie Anm. 3), Sp.1531. Der als Datenbank zur Verfügung gestellte Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek in München (BSB-Ink: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/sucheEin.html) nennt unter der Nummer T-192: Thomas a Kempis: Meditationes de vita et beneficiis salvatoris Jesu Christi (Basel: Johann Amerbach, nicht nach 1489) und nennt dafür die GW-Nummer M46915.
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ich außen vor, Regina Cermann hat dies in ihrem Kommentar zum GlockendonGebetbuch bereits vor Augen geführt.10 Mir geht es in dem vorliegenden Beitrag um Strategien der Annäherung an das Passionsgeschehen, um Erzeugung von Nähe im Gestus des Gebets, um die dadurch erzeugte Gegenwärtigkeit des Erlösers und um die Frage nach der performativen Lektüre des Lebens und Leidens Christi in Form des gedruckten Textes des ‚Herzmahners‘. Das spezifische ‚Erzählen‘ zwischen Gebet- und Andachtsform soll beschrieben werden, um zu zeigen, welche Rolle dem Gebetssprechen zukommt, und zwar als konstituierender und konstitutiver Part des Textes.11
1. Die Übertragungsgeschichte in der praefatio, das Register und die formulierte intentio Auf einer dem Text vorgeschalteten Lage von sechs Blättern (die nur durch Ziffern bezeichnet ist, nicht wie sonst im Büchlein durch einen Lagenbuchstaben) finden sich eine titellose praefatio und ein Register zum Text des ‚Herzmahners‘. Diese Paratexte stellen Findinstrumente dar, die ein Erschließen des Textganzen erleichtern sollen. Sie sind zudem Neuerungen gegenüber dem lateinischen Text. Das Vorwort (Abb.1) formuliert eine Herkunftsgeschichte und nennt den Titel des Werks: „Diß Buechleyn ist zu Erst durch eynen andechtigen hoh gelerten vatter Cartewser ordens jn latein gemacht. Darnach durch eynen andern vertewscht. Und durch Caspar hochfeder zu nur emberg zu drucken verfugt / vnd sagt von dem leyden vnnsers herr en jhesu cristi / allweg bey jedem stuck / mit inniger hertzlicher an= dacht / vnd danncksagung / vol verdiensts / on zweifel gotlicher gnaden. vnd ist genant der Hertz= maner / von jnnprunstiger hertz= licher vermanung wegen / dar= jnn begriffen.“ 12
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Cermann: Der Verfasser (wie Anm. 8), bes. S.13f. Meinen Überlegungen lege ich das ‚Herzmahner‘-Exemplar der Universitätsbibliothek Freiburg zugrunde (Signatur: Ink. K 3391,d; vgl. Die Inkunabeln der Universitätsbibliothek und anderer öffentlicher Sammlungen in Freiburg im Breisgau und Umgebung, beschrieben von Vera Sack, Wiesbaden 1985 [= Kataloge der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau Bd. 2], Nr.1825) und ziehe vergleichend das Digitalisat (des 2. Exemplars) der Bayerischen Staatsbibliothek München heran (Signatur: Inc. s. a. 125a). 12 Ich zitiere den Text nach dem Freiburger Exemplar, indem ich die Abkürzungen auflöse, den Zeilenfall des Drucks jedoch beibehalte. Das Vorwort ist auch zitiert bei Cermann: Der Verfasser (wie Anm. 8), S.10. 11
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Abb.1: Vorwort des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg UB, Ink. K 3391,d, Bl.1r
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Verschiedene Informationen sind in dieser kurzen Passage genannt; die erste lautet, dass ein hochgelehrter Kartäuser diesen Text lateinisch verfasst habe (Z. 2–4). Dann sei der lateinische Text durch einen zweiten (Kartäuser) ins Deutsche übertragen (Z. 4f.) und von Kaspar Hochfeder in Nürnberg zum Druck gebracht worden (Z. 6f.). Die Vorlage des ‚Herzmahners‘ ist in der Tat ein lateinischer Text, jedoch ist deren Autor, Thomas von Kempen, kein Angehöriger des Kartäuserordens.13 Regina Cermann deutet dies als Missverständnis: „Die im ‚Herzmahner‘ aufgestellte Behauptung, daß die ‚Orationes‘ von einem Kartäuser verfaßt und von einem anderen ins Deutsche übertragen worden seien, läßt sich plausibel als ein Mißverständnis erklären: Bei dem Übersetzer wird es sich um einen Nürnberger Kartäuser gehandelt haben, der wohl wußte, daß seine Vorlage ursprünglich aus der Kartause in Basel stammte. Da der Text selbst keinen Verfasser nennt, könnte er leichtfertig angenommen haben, es handle sich um die Arbeit eines Mitbruders.“14
Heute wissen wir, dass der ‚Herzmahner‘ eine oberdeutsche Übertragung des Thomas von Kempen-Textes ist; der volkssprachige Text des 15. Jahrhunderts nennt jedoch nur den Namen des Druckers, nicht den des Übersetzers. Entweder bestand am Ende des 15. Jahrhunderts und im oberdeutschen Raum keine unmittelbare Beziehung zu Thomas von Kempen, dem Autor der Devotio moderna, oder man schreibt die Textgeschichte bewusst um und inkorporiert diesen durchaus prominenten Text dem Kartäuserorden. Als nächstes nennt das Vorwort den Inhalt des Textes: Dieser erzählt (sagt) vom Leiden Christi (Z. 8f.), und zwar stets, bei jedem Kapitel mit einer innigen dem Herzen entstammenden Andacht und Danksagung, ohne Zweifel (desperatio) an der göttlichen Gnade (Z.12f.). Der deutsche Text nennt sich Hertzmaner (Z.13f.) wegen der in ihm enthaltenen innigen Ermahnungen an das Herz des Lesers. vermanunge ist als Erinnerung, Ermahnung und Aufforderung zu fassen,15 dem entspricht adhortatio im Lateinischen. Der Text will also das Herz des Lesers erreichen und ermahnen. Ein Instrumentarium der Buch- und Texterschließung ist das diesen Einleitungsworten folgende Register (Abb. 2), das durch die auch optisch abgesetzten, später nach rechts heraus gerückten Blattangaben ein Auffinden der einzelnen Kapitel ermöglicht und dadurch auch eine gezielte Lektüre von Abschnitten in Aussicht stellt. Die einzelnen Registertitel werden im laufenden Text wörtlich als Kapitel-Überschriften wiederholt, durch Paragraphenzeichen optisch vom Gebetstext abgesetzt. Bezug nehmen die Überschriften auf die Blattzählung in rö13 Allerdings nennen zwei Handschriften mit mittelniederländischer Übersetzung des lateinischen Thomas-Textes einen Kartäuser als Autor: een deuoet monyck geheyten broeder thomas vander kartuser oerden (zitiert bei Hoffmann: Thomas [wie Anm. 3], Sp.1530f.). 14 Cermann: Der Verfasser (wie Anm. 8), S.17. Viele Passionstexte basieren auf der ‚Vita Christi‘ des Kartäusers Ludolf von Sachsen; möglich ist, dass diese Vermutung auch hinter der Aussage im ‚Herzmahner‘ steht. – Die Frage nach dem Übersetzer müsste man jedoch noch einmal genauer prüfen. Regina Cermann bringt den Namen Ludwig Moser aus der Basler Kartause ins Spiel (Cermann: Der Verfasser [wie Anm. 8], S.17 u. ö.). 15 Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3, Bd., Leipzig 1878, Bd. 3, Sp.174.
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Abb. 2: Anfang des Registers des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg UB, Ink. K 3391,d, Bl.1v
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mischen Majuskel-Ziffern in einem Kolumnentitel am oberen Blattrand; die Ziffern laufen von I–CCXI.
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„Das Register oder taffel / der gebett die in dißem buchlein be= griffen sind. Hie fahen an andechtige danck sagung von dem gantzen leben / des mytlers gottes / vnd der mensch en / jhesu Cristi / vnd Erstlich ein vast Raytzendes gepet zu loben got / am andern plat. Gepett von schopfung des er sten menschens vnd von seynem erbermdlichem fal. am.VI plat. Uon der herwiderberuffung des mentschen vnd von seynem erbermlichem fal. am.VIII. plat Uon der erlosung des mensch lichen geschlets durch die haym lichen verborgenhait des vermenschten worts. am. IX. plat. Uon der gepurt vnd armmut des herren jhesu. am. xij. Plat.“
Schon hier im Register nimmt die Vokabel Gebet (gebett, gepet, Gepett) eine prominente Rolle ein, die man durchaus als Selbstbenennung des Textes und seiner Form interpretieren kann: das Register der Gebete (Z. 2.) heißt es einleitend, ein sehr erregendes, intensives Lobgebet Gottes (Z. 8) folgt auf Blatt IIr und jedes Kapitel stellt sich als Gebet vor, es heißt: Gepett von schopfung des ersten menschen . . ., Uon der herwiderberuffung, Uon der erlosung; zu ergänzen ist hier und an der ersten Stelle je: Gebet von der Erlösung des Menschen, Gebet von der Geburt und Armut des Herrn Jesu Christi etc. Der ‚Herzmahner‘ besteht aus Gebeten, so behauptet das Register. Es sind Gebete und andechtige dancksagung von dem gantzen leben des mytlers gottes vnd der menschen (Z. 4–7). Bei Thomas von Kempen in der lateinischen Vorlage heißt es an entsprechender Stelle16: [Incipiunt] deuotae gratiarum actiones de tota vita mediatoris Dei et hominum Iesu Christi. Der mytler, der mediator, Mittelpunkt und Vermittler zwischen Gott und den Menschen, ist Christus, er ist das Ziel der andächtigen Danksagungen und das Zentrum des vorliegenden Textes. Als letzter Paratext des ‚Herzmahners‘ findet sich eine Wenn-Dann-Folge und -Formulierung, in der Form einer Kausalbedingung: wenn du das eine sein möchtest, dann tue das folgende. Diese eröffnet auf Blatt I recto (Lage a2r) den ‚Herzmahner‘:17 16 Thomae Hemerken a Kempis: Opera Omnia, ed. Michael Iosephvs Pohl, Bd. 5, Freiburg i. Br. 1902, S. 4. Bei Thomas fehlt ein Register, demnach ist dies nach einer Vorrede, auf die ich noch eingehe, der Beginn des Textes und zugleich die Überschrift zum ersten Kapitel. 17 Hier folge ich im ersten, aufzählenden Teil nicht dem Zeilenfall des Textes, sondern nummeriere die einzelnen Aufzählungen von 1–15 durch, um die Vergleichbarkeit zum lateinischen Text zu gewährleisten.
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„Wen du begerst ze werden volkomenlich gereyni=get von sunden Adellich gereychet in tugenden. Auf das hohst. Erleuchtet in den schriften. Genugsamlich getrostet in widerwer=tikeyten Uleißigklich berewet in der schlafkamer Emsigklich angezundet in betrachtungen. Ersattigt mit geystlichen freuden. Gezucket in außfuerung des gemuetes. Erlich zesigen vber die veynd. An=dechtigklich zewandern auf er=den. Sueßigklich zewainen im gebett. Zeuerharren in gutten wercken / zegeprauchen vnd zenyeßen mancherley heimlichkeit. Seligklich zesterben / vnnd ewigklich zeherschen in den hymeln. Zur letsten zeyt / Und so vbe dich in dem le (a2v)ben vnd leyden Jhesu cristi des suns gotes / den der vater gesand hat in diße werlt / das er allen mentschen furgebe das exempel vnd eben= pild der volkomenheyt / vnd be= laytet seyn nachuolger yn das e= wig reych. Darumb so hab lieb Cristum / volg nach Jhesum vmb= fahe den gekreutzigten.“
Sieht man in den lateinischen Text des Thomas von Kempen, erkennt man, dass der deutsche Text eine wörtliche Anlehnung daran versucht. Bei Thomas stellt dieser Passus die praefatio dar18: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
„Si desideras perfecte mundari a vitiis, si nobiliter ditari in virtutibus, si altissime illuminari in scripturis, si gloriose triumphare de inimicis, si copiose consolari in adversis, si devote conversari in terris, si frequenter compungi in cubilibus, si dulciter flere in orationibus, si ferventer accendi in meditationibus, si perseverare in bonis actibus, si repleri spiritalibus gaudiis, si rapi in excessum mentis, si divinis frui secretis, si feliciter mori in extremis, si perenniter regnare in caelis:
18 Vgl. Thomas a Kempis: Opera omnia, Bd. 5 (wie Anm.16), S. 3. Ich gliedere den lateinischen Text nach demselben Verfahren wie den deutschen.
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exerce te in vita et in passione Iesu Christi, filii Dei, quem pater misit in mundum, ut omnibus praeberet perfectionis exemplum et sequaces suos ad aeternum perduceret regnum. Ama igitur Christum, sequere Iesum, amplectere crucifixum.“
Wenn man von Sünden gereinigt, an Tugenden reich, mit geistlichen Freuden erfüllt sein und selig werden wolle, dann ist dafür ein Einüben in das Leben und Leiden Christi vorgeschlagen, so der Text; Christus wird als Exempel und als Ebenbild der Vollkommenheit vorgestellt. Die Abschlussformel wird triadisch und in ihren Namensformen variant formuliert. Im Lateinischen lautet dies identisch und bezeichnet Liebe, Nachfolge und Umarmung des Herrn. Hierin liegt die Aufforderung für einen vollkommenen Menschen, Christus zu lieben, Jesus nachzufolgen und den Gekreuzigten zu umarmen. Daran könnte man eine Sprache der Übertragung erarbeiten und Strategien der Übertragung formulieren.19 Das ist aber nicht das Thema des vorliegenden Beitrags.Vielmehr soll geklärt werden, wie der Text dieses Programm des Einübens konkret artikuliert, welche Strategie der Überzeugung er einschlägt. An der praefatio wird jedoch bereits der Adressat des Textes sichtbar: Ein Du wird angesprochen (wen du begerst, so vbe dich). In der Forschung sagt man, Thomas von Kempen schreibe für Novizen.20 Einige Besitzvermerke in den deutschen Ausgaben deuten auf Frauenklöster, so auch das Exemplar der Freiburger Universitätsbibliothek, das ins Klarissenkloster St. Klara in Freiburg gehörte.21 Der ‚Herzmahner‘ ist in 56 Kapitel gegliedert. Er beginnt bei der Schöpfung des Menschen und seinem Fall, führt dann über die Geburt Christi zu einzelnen Stationen seines Lebens und Leidens bis zur Kreuzigung, der Kreuzabnahme und nach einem eingeschalteten Gebetsteil zur Grablegung des Erlösers. Dies entspricht dem ersten Traktat des Thomas von Kempen-Textes.Wer ist nun der Sprecher? Wie lautet der Gestus der vorgeschlagenen Gebetsform?
19 Nur die Reihenfolge einiger Nennungen ist vertauscht, die Anzahl und die einzelnen Bedingungen sind jedoch übereinstimmend. 20 Vgl. Van Geest/Bauer/Wachinger: Thomas Hemerken von Kempen (wie Anm. 5), Sp. 865. Thomas hat darüber hinaus einen ‚Dialogus noviciorum‘ verfasst; vgl. Stefan Sudmann: Der ‚Dialogus Noviciorum‘ des Thomas von Kempen.Textgestalt und Textüberlieferung, in: Bodemann/Staubach: Aus dem Winkel in die Welt (wie Anm. 5), S.188–201. 21 Das Exemplar der Freiburger UB wurde um 1500 handschriftlich ergänzt (fehlender Text des Druckes wurde in Nachahmung des Druckbildes kopiert) und trägt im Vorderdeckel einen heute nur mit Hilfe der UV-Lampe lesbaren Namenseintrag (aus dem 16. Jahrhundert) der Margret von hapschperg, vielleicht die Gräfin Margaretha de Habsperg bezeichnend, die aus dem Klarissenkloster Mühlhausen im Elsaß ins Freiburger Kloster St. Klara kam und dort 1573 starb (vgl. Sack [wie Anm.11], S. 609f.).Vgl. auch Hoffmann: von Kempen (wie Anm. 3), Sp.1530.
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2. Die Erzählform des Textes – eine Gesprächsform? Ein Einleitungsgebet zum Lob Gottes (s. o. ein vast Raytzendes gepet) ist dem Text vorgeschaltet, es ist in der Ich-Ansprache an den Schöpfergott formuliert und beginnt auf Bl. IIr (a3r) folgendermaßen (Abb. 3): „O Herre meyn got / ich begere dich zeloben / dann ich erkenne mich geschaffen sein / dich ze lobenn.Thu auff meynen mundt jn deynem lob / das ich synge / glori / deynem nam= en. weckauf meyn hertz in dir. Treyb auß allen verdriess. Geuß eyn die gnad. Zund an die lieb / das ich dir schuldige danncksag ung mug bezalenn. Nym hin die boßheyt deyns knechts Raynig mich / von aller befleckung des flayschs vnd gaists / das ich wir [. . .].“
Die Gebetstexte sind in der Ich-Form artikuliert (ich begere dich zeloben). Jeder Leser ist damit zugleich der Sprecher dieses Textes, der im Gebetsgestus die Annäherung an Christi Leben beginnt. Mit einem Psalmvers wird dieses Gebet eröffnet, mit der Übersetzung von Ps 50,17 Domine labia mea aperies et os meum adnuntiabit laudem tuam (Thu auff meynen mundt jn deynem lob). Der Ich-Sprecher bietet sich zudem in einer Demutsgeste dar, die drastische Erniedrigungselemente artikuliert: er erkennt sich als unrein und ungenügend, niemand ist so groß, Gott angemessen zu loben, wieuil minder der swach mensch das faul stinckend flaisch vnd wurmleyn (Bl. IIv/a3v). Ich werde schweigen, denn angemessen kann ich dich nicht loben, so heißt es. Dann ich erken mich vnrayn vnd vngenugsam seyn. [. . .] O vater der barmhertzigkeyt vnd got vnentlicher gutigkeit Jch wayß warlich vnd bekenne auß gantzem hertzen / mich eynen zeuilstinckenden sunnder vor dir (Bl. IIv–IIIr/a3v–a4r). Die Ansprache verläuft weiter in diesem Erniedrigungsgestus: Und ich bitt die glyder deyner erbermdnus das du mich vnrayns wurmlein vnd fauls aßs nit vorsmehest (Bl. IIIv/a4v). Die anderen Gebets-Kapitel beginnen annähernd identisch: „Ich wolsprich vnd danck sag dir o heylige Trifaltigkeyt (Bl. VIr), Ich wolsprich vnd dancksage dir o herr. Almechtiger vnd milter got (Bl. VIIIr), Ich wolsprich vnd dancksag dir herr got Schopfer vnd erloser des menschlichen geslechts“ (Bl. IXr), „Ich wolsprich vnd danck sage dir her Jesu Criste auß dem vater. des vaters ayniger Sun“ (Bl. XIIr–v).
Das ist eine Formel, die dem Lateinischen entlehnt ist. Im Thomas-Text lauten diese Passagen analog: „Benedico et gratias ago tibi, sancta Trinitas“ (Thomas von Kempen: Opera Omnia, Bd. 5 [wie Anm.16], S. 7),
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Abb. 3: Einleitungsgebet des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg UB, Ink. K 3391,d, Bl. IIr/a3r
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„Benedico et gratias ago tibi, Domine Deus omnipotens et clemens“ (Thomas: ebd. [wie Anm.16], S. 9), „Benedico et gratias ago tibi, Domine Deus, creator ac redemptor humani generis“ (Thomas: ebd. [wie Anm.16], S.11).
Das Textgeschehen geht also von einer Anrufung und einer Lobpreisung Gottes aus, geht dann über in einen Gegenstand, eine Bezugnahme auf die Christusgeschichte und mündet in einen abschließenden Bitt-Lobpreis. Das ist die klassische Gebetsstruktur von Anrufung, Lobpreis, Anliegen (ich bitte dich . . .) und conclusio.22 „Der Mensch spricht vor seinem Gott zu seinem Gott.“23 Wir haben also im ‚Herzmahner‘ kein Erzählen der Leidensgeschichte vor uns, auch kein Von-außen-Betrachten, sondern ein in einen Gebetstext gefasstes lobpreisendes sich Hinwenden an Gott. Der Ich-Sprecher ist ein bittender, der von der Allmacht und dem Leiden des Herrn weiß, diese aufruft und in der preisenden und stets demütigen Formulierung präsent hält. Der gesamte Text gibt sich damit als Gebet aus: Eine Lobpreisung steht am Beginn, die einzelnen Anliegen sind die Kapitel = das Leben und Leiden Christi, und die conclusio bilden die den gesamten Text abschließenden Gebete. Die Makrostruktur wird in der Mikrostruktur des Textes gespiegelt und umgekehrt. An einem Kapitel soll nun der Text in seiner Machart vor Augen geführt werden, um den Gebetsgestus ‚Herzmahner‘ präziser fassen zu können. Ich greife dafür das vorletzte Kapitel heraus: Uon der abnemung des herren jhesu vom creutz (Bl. CXCIr–CXCIIIIr), vgl. Abb. 4. Die Danksagung des Herrn in diesem Gebetskapitel ist auf die Abnahme vom Kreuz zur Vesperzeit hin orientiert, das lobpreisende Ich ruft den Herrn an24 und dankt für die Abnahme vom Kreuz. Zu danken ist hierbei den Akteuren: Joseph von Arimathia und Nicodemus, die „zum creutz kamen vnd deynen allerheylligsten leichnam mitt aller ersamkeit vnd guetigkeit noch außgezognen nageln auß hennden vnd auß fueßen von dem creutz herab namen“ (Bl. CXCIr–v).
Das sprechende Ich lobt den Herrn und macht im preisenden Aufrufen einzelner Momente des Passionsgeschehens dieses Geschehen präsent, im vorliegenden Abschnitt ist es die Kreuzabnahme Christi. Der nächste Schritt im Text ist die Lobpreisung der beiden Männer Joseph und Nicodemus, die beiden Akteure werden angesprochen: „Gebenedeyt seyt ir ir mann der barmhertzigkeit die ir diese barmhertzigkeyt getan habt mit dem hern ewerm got jne zu gepurlicher begrebbnus zebestatten“ (Bl. CXCIv). 22 Ein Gebet ist ein „Text, der sich an ein höheres Wesen richtet“, der sich in Form des literarischen Textes „als Sonderform der Apostrophe definieren“ lässt, „die sich durch ihre besondere Sprechsituation auszeichnet: Ein Mensch appelliert an ein übermenschliches – oder als übermenschlich vorgestelltes – Wesen.“ Andreas Kraß: Gebet, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin/New York 1997, S. 662–664, hier: 662. Dies wird deutlich ausdifferenziert von Carl Heinz Ratschow u. a. in: Artikel „Gebet“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd.12, Berlin/New York 1984, S. 31–103; vgl. auch Hans-Werner Gensichen u. a.: Artikel „Gebet“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 4, Freiburg i. Br. 1995, Sp. 308–320. 23 Ratschow u. a.: Gebet (wie Anm. 22), S. 32. 24 „Ich wolsprich vnd dancksage dir herr jhesu criste. Du gotliche sterck vmb dein demuetige abnemung von der hohe des creutzs zu vesperzeyt“, Bl. CXCIr.
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Abb. 4: Kapitelbeginn Uon der abnemung des herren ihesu vom creutz, ‚Herzmahner‘, Exemplar: Freiburg UB, Ink. K 3391,d, Bl. CXCIr
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Denn die Treue, die ihr ihm als Freund während seines Lebens erwiesen habt, die habt ihr ihm auch nach seinem Tod erwiesen, und zwar mit großrer andacht, mit einer noch größeren Andacht (Bl. CXCIv). Deswegen werdet ihr dafür auch eine Belohnung von Gott im Himmel erhalten, hier spricht noch immer das Ich: Wissend, erklärend, deutend, im Dialog mit den einzelnen Akteuren des Passionsgeschehens. Denn Gott gegenüber habt ihr Treue erwiesen in der Welt und dem, dem ihr jetzo, jetzt, ein Begräbnis bereitet habt in der Erde, der wird euch zweifellos einen noch glückseligeren Aufenthalt im Himmel bereiten. Ihr habt am Gottessohn Treue bewiesen, dafür wird Gott euch belohnen mit einem Platz im Himmel. So hat er es seinen Jüngern gegenüber behauptet, das weiß der IchSprecher. Nun wechselt die Haltung des Sprechens, das Ich wird ein anderes, ein persönlicheres, es ist nicht mehr das von außen auf das Geschehen sehende und referierende Ich, sondern ein Anteil nehmendes Ich äußert sich im folgenden, und zwar im Modus des Bedauerns und der Demut (Bl. CXCIIr); das Ich bedauert, dass es beim Heilsgeschehen der Kreuzabnahme nicht dabei gewesen ist: „Ach das mir dem mynsten aller gottes diener gezymmt haben soltt zeseyn bey der begrebnus vnd begengknus meins hern“ (Bl. CXCIIr). Hätte ich doch bei dem Begräbnis meines Herrn Jesus Christus dabei sein dürfen! „Das ich jme doch nur ain klaine dienstperkeit bewysen mocht haben“ (ebd.), hätte ich ihm doch nur einen winzigen Dienst erwiesen! „Ach wie gern wolt ich die laytern des creutzs gehalten haben oder zu außziehung der nagel ein zanngen hinauf geraicht oder den tragern hantreichung getan haben“ (ebd.). Wie gern hätte ich die Leiter gehalten oder eine Zange gereicht! „O wie wol wer mir geschehen wenn ich so nahend wer gestanden das ich eynen der nagel des herren herab fallende jn mein schoss gefangen het zu stettiger sueßer angedachtnus seyns pittern leydens vnd vnschuldigen sterbens“ (Bl. CXCIIr–v). Hätte ich doch so nahe gestanden, dass ich einen der Kreuznägel aufgefangen hätte als süße Erinnerung an sein Leiden und Sterben! Dies sind Apostrophen an das Ich im Gestus des Soliloquiums, im Modus des Bedauerns. Die Nicht-Anwesenheit des Ich am Passionsgeschehen wird beklagt und in einzelnen Handlungsmomenten, die möglich gewesen wären, artikuliert und aufgerufen. Passionsgeschichte wird in diesem Text im Modus des Irrealis artikuliert. Ein Ich ruft einzelne Handlungsschritte auf, bedauert die eigene Absenz am konkreten Heilsgeschehen und formuliert den intensiven Wunsch, gerne helfend präsent gewesen zu sein. Diese Emotionsebene der Sprache ist bereits im lateinischen Text vorgeprägt;25 andere Texte wie das ‚Zeitglöcklein‘ intensivieren diese Ebene deutlich gegenüber dem lateinischen Text.26 Im ‚Herzmahner‘ folgt auf das Bedauern der Nicht-Anwesenheit ein Lobpreis Christi durch den Ich-Sprecher; der Grund ist die Umarmung der Mutter: Ihr ist 25 Vgl. die entsprechenden Stellen im lateinischen Text: „Certe libenter scalam crucis tenuissem, vel ad extractionem clavorum tenellam fabrilem sursum porrexissem, aut etiam deferentibus manum adiutorii contulissem. O quam bene mihi contigisset [. . .]“ (Thomas: Opera omnia, Bd. 5 [wie Anm.16], S. 202). 26 Dazu vgl. Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form (wie Anm. 2) und dies.: Text-Bilder (wie Anm. 2), S. 348–354.
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Christus in den Schoß gelegt, sie die zutiefst traurige Mutter hat ihn umarmt.27 Christus wird preisend angerufen, um dann einen Perspektivenwechsel auf die trauernde Gottesmutter vorzunehmen. Die Handlung, die Reaktion der Mutter wird daraufhin in dicht aneinandergereihten O-Apostrophen aufgerufen und dem Leser damit vor Augen geführt (Bl. CXCIIv–CXCIIIr): „O der großen vnd haißen zeher die auß den allerlewtersten awgen vber die allerzuchtigisten wangen der junckfrewlichen muter herab auf deinen todten leichnam irs allerliebsten suns miltigklich flussen. O wie hertzlich hat die muter der raynigkeyt ire gebenedeyte lefftzen in die gestorbne glyder gedruckt. O wie schmertzlich hat sie die narben der wunden angeschawt. O wie so gar mit hertzlicher mytleydender begirde hatt sie die gebenedeyten frucht irs leibs jn ire arm vmbfangen vnd an sich geschmuckt [. . .] welcher mensch mag betrachen die angst sollichs smertzens vnd die menig diser zeher zelen die die gutig muter jhesu des mals vergossen hat.“
Die Trauer der Gottesmutter wird schrittweise benannt und damit präsent gehalten, genannt sind ihre Tränen, ihre Lippen, die den toten Körper küssen, ihre Augen, die die Narben ansehen, ihre Umarmung des Körpers. Welcher Mensch vermag die Angst dieser Schmerzen zu betrachten und die Vielzahl der Tränen zu zählen, die die Gottesmutter vergossen hat, so heißt es im Text. Die Konsequenz ist die folgende: „Darumb o meyn sele hastu zu jhesu dy weil er hienge an dem hohen Creutz vnd vor dem gedrenge des volcks nit mugen komen so kumme jetzo zu jme den du findest verwundt in der schoß seiner betruebten muter.Tritte hinzu wie groß du ein sunder bist den dy forcht ewiger verdamnus erschrecket dann diß lamb ist fur dich getott vnd fur dich geopffert ein hostia die do hinnymbt die verschuldung der gantzen werlt.“ (Bl. CXCIIIr)
Bei der historischen Kreuzabnahme Christi war das Ich nicht anwesend, aber jetzt (im Augenblick der Lektüre) ist es anwesend, jetzt kann es teilhaben. Tritt jetzt hinzu, welch großer Sünder du auch bist, deine Seele ist nicht durch das Gedränge des Volks gelangt, aber jetzt soll sie hinzutreten, denn Gott ist auch für dich gestorben. Das ist wieder ein Perspektivenwechsel, das bedauernde Ich, das nicht anwesend war bei der Kreuzigung, fordert sich selbst auf, jetzt teilzunehmen, jetzt, im Moment des Gedenkens, des Betens, des Erinnerns, denn auch die eigene Seele ist einbezogen in den Erlösungsprozess. Das dieses Kapitel der Kreuzabnahme abschließende Gebet gilt der Gottesmutter; es ist die Bitte, den Gottessohn so lange im Arm, im Schoß zu halten, bis er (der Ich-Sprecher) sein Gebet gesprochen habe (Bl. CXCIIIv–CXCIIIIr): „Darumb o du außerwelte muter jch bitt dich hertzlich hallt deynen lieben fur mich getodten sun hallt jne solanng vor seiner begrebbnus heraußen bis ich jne mit gebognen knyen demuetigklich anpete auff der erden bis ich meyn gepete zu jme thu bis ich seyne germarterte vnd gequelte glider kusse. Erhore mich o mein herrin raiche mir zukussen den do so liebt mein sele.“
Es ist die Bitte um das Anhalten der Zeit für den Augenblick des Gebets, für das nachträgliche Ehren des Christuskörpers im Kuss und in der Andacht eines im Moment der Lektüre anwesenden Ich, eines jeden Lesers des ‚Herzmahners‘. Es 27 Hier heißt es im Text: „Jch lobe vnd ere dich vmb die begirlichen vmbfahung do du in die hend vnd arme deiner allertrawrigsten muter vmbfangen vnd in ir junckfrewliche schosse gelegt wardst“, Bl. CXCIIv.
Der ‚Herzmahner‘ – ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein
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ist die Bitte an Maria, die trauernde Gottesmutter, dem Ich, für das Christus auch gestorben ist, eine Gelegenheit zur Ehrung des Toten zu geben. Die Dauer dieses Anhaltens der Zeit und des Heilsgeschehens wird zudem vergegenwärtigt. Denn im Text folgen nun Gebete zu den Körpergliedern des Herrn. Es sind Gebete zu den Füßen, den Beinen, dem Körper, der Seite, zum Rücken, zu den Händen, zur Brust, zum Hals, zum Mund, zum Gesicht, zu den Ohren, zu den Augen, zum Haupt des Erlösers.28 Dreizehn Gebete halten das Geschehen an, bilden ein retardierendes Moment des Textes und münden ein in ein diesen Abschnitt beschließendes Ave Maria, das nur in diesem Initium zitiert wird. Auch an dieser Passage wird der Stellenwert des Gebets deutlich. Erst danach läuft der Text in seiner gewohnten Erzählhaltung weiter, es folgt in einem letzten Kapitel die Grablegung des Herrn, die den Text des ‚Herzmahners‘ beschließt und auch hier im betenden Andenken der Teilnehmer der Grablegung wird das Geschehen memoriert und vergegenwärtigt.29 Es soll jedoch auch das eigene Sterben, der eigene Tod dabei bedacht werden (Bl. CCIv), das Ich spricht dabei ein Du an: du sollst bedenken dein Sterben, denn du bist Staub und wirst zu Staub werden. Die Konsequenz des Handelns folgt (Bl. CCIIIr–v): „Darumb o cristenlicher mensch thu puss dieweil die zeyt der gnaden ist die weil dy pfort der barmhertzigkeit offen steet dieweil die bußwertigkeyt got dem herren angeneme ist. Bewayne vnd berewe den cleglichen erbermdlichen stand der werlt vnd die großen menig der menschen das so gar wenig warhafftig nachfolger des gekreutzigten vnd souil in der geistlichen hytze verkalter menschen gefunden werden.“
In der abschließenden Anweisung an den Menschen lautet die Vorgabe: Betrachte täglich das Leben Jesu Christi (Bl. CCIIIv), „Darumb nw hinfuro sol dein teglich vbung seyn zebetrachten jhesum cristum vnd setze dir denselben gekreutzigten allweg fur, weych von dem creutz jesu nit, sunnder gee lebend vnd sterbend mit jhesu in das grab, auff das wenn cristus dein leben erscheynt das du mit jme in der glorj ersteest. Amen.“
Betrachten (zebetrachten) meint hier das Verinnerlichen und Vergegenwärtigen, meditari im lateinischen Thomas-Text, es meint eine Nachfolge Christi im Leben und im Tod; so hatte es die Abschlussformel der praefatio formuliert: „Darumb so hab lieb Cristum / volg nach Jhesum vmb=fahe den gekreutzigten.“
Ein Gebetsanhang folgt, er besteht aus einem Gebet zu den fünf Wunden Christi (Bl. CCIIIv–CCIIIv) und „Des widerkerenden sunnders hertzruff zu got“30, der den Text des ‚Herzmahners‘ beschließt; dieser Teil bildet eine Zutat gegenüber dem lateinischen Text, genauso wie die außerhalb der Blattzählung und des Registers stehende Passage (auf einer Lage w), die die Gottesmutter ins Zentrum stellt. Es 28 „Hernach folgen jnnige gepett zu den glydern jhesu vnd erstlich Zu den fueßen: Wolgestalt seyt ir fueß meynes herren jhesu cristi etc.“, Bl. CXCIIIIr–CXCVIIIr. 29 „Uon der erwirdigen begrebnus des herren jhesu“, Bl. CXCVIIIv. 30 Inc.: „O Heylliger herr Allmechtiger vatter ewiger got jch.A. dein ellende creatur vnd armer durfftiger sunder bekenne mich vor deinem gestrengen gerichtzstul [. . .]“, Bl. CCVr–CCXIr.
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ist ein Gespräch zwischen Maria und ihrem Sohn, als Audition des Johannes inszeniert, die fünf Leiden und fünf Herzenleiden Mariens ausformulierend.31
3. Zusammenfassung Gebetssprechen als Andachtsform, so würde ich die Präsentation des ‚Herzmahners‘ beschreiben. Sie ist in Kapitel geordnet und den Prinzipien eines wohl strukturierten Buches folgend in Abschnitte, in Gebetseinheiten gegliedert.Abschnitte, die ein das Leben und Leiden Christi betrachtendes Ich zeigen, das sich in demütiger Unterordnung dem exemplum und Vorbild Christus nähert. Diese Annäherung ist nicht unterstützt durch Bilder (diese treten erst in einer späteren Tradition hinzu32). Das Ich weiß um die Erlösungstat, ruft sie lobend auf und versucht im lesenden Vollzug, in der sprechenden Apostrophe, eine eigene Rolle im Passionsgeschehen zu finden und zu formulieren. Gerne wäre das Ich anwesend und hilfreich gewesen bei der Erlösungstat Christi, es vollzieht eine Anwesenheit jetzt im lesenden und preisenden Gebetssprechen nach. Das literarisch vermittelte Medium des Gebetssprechens stiftet so die unmittelbare Präsenz des Erlösers, so dass das betende Ich ihn geistlich-meditativ „umarmen“ kann.33 Der ‚Herzmahner‘ ist Wiedererzählen eines lateinischen Textes, der aus einer Religionskultur der Devotio moderna stammt; er ist Übertragung eines Textes von Thomas von Kempen. Er präsentiert sich in der Volkssprache, nimmt den Leser an die Hand, will das Herz des Lesers erreichen und ermahnen und ist in seinem Texterzählen konzentriert auf Christus. Die Gottesmutter nimmt vor allem in dem abschließenden Gebetsteil ebenfalls einen hohen Stellenwert ein. Dies sind eindeutige Elemente eines Textes der Frömmigkeitskultur des Spätmittelalters. Der ‚Herzmahner‘ ist damit Teil eines Erzählens vor der Reformation. Im Unterschied zu Heinrichs von St. Gallen ‚Extendit-manum‘-Traktat beispielsweise steht jedoch das betende Ich im Vordergrund; kein auf noch größere Detailgenauigkeit ausgerichtetes Vor-Augen-Führen der einzelnen Leidensstationen Christi ist angezielt, sondern ein demütiges Hoffen auf die Gnadenleistung Gottes. Das ist womöglich der Schritt ins 16. Jahrhundert, den der Text zumindest durch zwei Ingolstädter Ausgaben aus den Jahren 1586 und 1598 auch vollzieht und die Reformation damit überschreitet.34 31 Incipit: „Da vnnser fraw zu hymel was gefaren do hett sant iohannes groß begirde das er sie geren hett gesehen vnd nach irer hymelfart da fugt es sich das Sant Johannes verzuckt ward jn den hymel vnnd hort das vnser herr vnd sein lieb mueter mytainander redten von der angst vnd von der nott die sie auff erdtreich vmb jn erlitten hett.“ Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Maria und ihrem Sohn, als Audition des Johannes inszeniert. 32 Das sog. Glockendon-Gebetbuch bietet Bilder zu dem Text des ‚Herzmahners‘ (siehe Cermann: Der Verfasser [wie Anm. 8]). 33 Vgl. Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich/Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus und Reformation 54), S. 449–473 (Kap.12: „Gott berühren“). 34 Siehe zu den beiden Ausgaben: VD 16 (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts), H 2655 und ZV 25044.
Der ‚Herzmahner‘ – ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein
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Bildnachweise Abb.1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Vorwort des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg UB, Ink. K 3391,d, Bl.1r. Anfang des Registers des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg, UB, Ink. K 3391,d, Bl.1v. Einleitungsgebet des ‚Herzmahners‘, Exemplar: Freiburg, UB, Ink. K 3391,d, Bl. IIr/a3r. Kapitelbeginn Uon der abnemung des herren ihesu vom creutz, ‚Herzmahner‘, Exemplar: Freiburg, UB, Ink. K 3391,d, Bl. CXCIr.
Susanne Wegmann
Die Sichtbarkeit der Gnade – Bildtheorie und Gnadenvermittlung auf den lutherischen Altären 1. Spätmittelalterliche Bildstrategien der Grenzüberschreitung – Gnade oder Ablenkung Die medialen Strategien des vorreformatorischen, spätmittelalterlichen Bildes der Heils- und Gnadenvermittlung stellen sich höchst ausgefeilt und differenziert dar1: Quasi aus dem Rahmen fallend, sich dem Betrachter zuneigend und den Bildraum mit dem Realraum verschmelzend bringt es dem Betrachter die Gnade des Opfers näher. Ein Gläubiger, der auf einem Einblattholzschnitt des 15. Jahrhunderts das blutüberströmte Bildwerk des Gekreuzigten den betenden Bernhard von Clairvaux umarmen sah (Abb.1)2, dürfte sich zweifellos einen ähnlichen Gnadenerweis erhofft haben. Die Rinne (Abb. 2), die auf dem 1402 vollendeten Hochaltarretabel der Göttinger Jakobikirche das Blut des gemalten Gekreuzigten aus dem Bild auf den Altar leitet, ‚vermischt‘ in der Grenzüberschreitung das gemalte mit dem real am Altar gehandelten Blut Christi.3 Auch die scheinbar aus den Retabeln steigenden oder sich neigenden Schmerzensmänner verschiedener Gregorsmessen wecken Erwartungen und erheben Bildwerke zu Trägern und Vermittlern des durch den Opfertod Christi gewährten Heils.4 1 Von der zahlreichen Literatur zu diesem Thema sei hier insbesondere verwiesen auf die Beiträge des Bandes: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im späten Mittelalteralter, Zürich 2009. 2 Karin Tebbe: Vision des heiligen Bernhard, in: Ausstellungskatalog Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter, hg. von Ulrich Großmann, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 31. 5.–8.10. 2000, Nürnberg 2000, S. 207, Kat. Nr. 41. Berndt Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter, in: Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/Christian Kiening (Hg.): Medialität des Heils im Späten Mittelalter, Zürich 2009, S. 21–59, hier: S. 30–34. 3 Vgl. zum Göttinger Retabel, der Wandlung und Abfolge der Ansichten insbesondere: Bruno Reudenbach: Wandlung als symbolische Form. Liturgische Bezüge im Flügelretabel der St. JacobiKirche in Göttingen, in: Bernd Carqué/Hedwig Röckelein (Hg.): Das Hochaltarretabel der St. JacobiKirche in Göttingen, Göttingen 2005, S. 249–272 (zur Kreuzigungsdarstellung und der Überschreitung der ästhetischen Grenze vor allem S. 265f.); Valerie Möhle: Vielfalt – Argumentation – Gleichnis. Das Flügelretabel in St. Jacobi als Bildsystem, in: ebd., S. 273–302. 4 Z. B. das Wandgemälde (um 1510), Kiedrich (Rheingau), Karner-Kapelle St. Michael, dazu: Esther Meier: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtypus, Köln/Weimar/Wien 2006, S.187f., Abb. 79; Meister des Bäckeraltars, Gregorsmesse, 1519, Dippoldwalde, Friedhofskirche dazu siehe: Ingo Sandner: Spätgotische Tafelmalerei in Sachsen, Dresden 1993, Abb. S.164; Gregorsmesse, T-Igitur-Initiale, Lateinisches Missale, um 1490–1500, Aachen, Domschatz, Ms.18 (IV), fol.140r, dazu: Susanne Wegmann: Passionsandacht und Messerklärung. Die Verwendung der „Visio Gregorii“
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Abb.1: Vision des hl. Bernhard, Einblattholzschnitt auf Papier, koloriert, 28,2 ҂ 20,4 cm, Wien, Albertina
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Abb.2: Hochaltar der Jakobikirche in Göttingen, erste Wandlung, Kreuzigung Christi, 1402 vollendet
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Der Betrachter von Hans Holbeins Kaisheimer Retabel (1502)5 wurde vom Auferstandenen selbst angesehen (Abb. 3): Dieser Blick aus dem Bild enthält ein Heilsversprechen, das der Gläubige unmittelbar auf sich bezogen sieht.6 Die Wandlung des spätmittelalterlichen Flügelretabels als eine von außen nach innen gesteigerte Inszenierung vermittelt vielfach – wie etwa am Hochaltar in Göttingen – im Sinne einer Heilsleiter von hagiographischen Bildern über die Menschwerdung und Passion Christi eine Schau auf das versprochene künftige Heil im Innersten des Retabels (Abb. 4). Die Wandlung eröffnet einen Raum, der dem Betrachter das Heil nahebringt und erfahrbar macht. Nicht zufällig verbinden sich die genannten Beispiele mit dem Blut Christi, dem Sakraments- und Abendmahlsverständnis. Der mittelalterliche Bilddiskurs war damit stets engstens verknüpft.7 In überwältigender, aus dem Bildraum drängender und Emotionen weckender Suggestivkraft visualisieren und deuten die virtuos über ihre Grenzen hinaus agierenden Bildwerke, was in der Liturgie am Altar unsichtbar, den Blicken entzogen bleibt.Aus theologischer Sicht erfolgte der eigentliche Gnadenerweis selbstverständlich nicht durch die Bilder. Leib und Blut Christi enthält das Sakrament, nicht das Bild. Dieses tritt im Grunde genommen nur vermittelnd dazwischen. Doch die Kontexte, wie der Kirchenbau, der Altar oder die liturgische Handlung, waren es letztlich selbst, die den Bildern „Autorität“ verliehen und „Geltung“ verschafften, auch im Hinblick auf die Gnadenvermittlung.8 Für die reformatorische Bildkritik ergab sich genau daraus die Gefahr des Mediums ‚Bild‘: dass es mit den Blicken auch die Erwartungshaltung des im Buch, in: Andreas Gormans/Thomas Lentes (Hg.): Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, Berlin 2007, S. 402–446, hier: 419f. Zu bemerken bleibt aber, dass die Verlebendigung des Bildes einen seltenen Bildtypus innerhalb der Gregorsmesse darstellt. Zur Medialität des Bildes in der Gregorsmesse sowie demVerhältnis von Bild undVision: Thomas Lentes: Verum Corpus und Vera Imago. Kalkulierte Bildbeziehungen in der Gregorsmesse, in: ebd., S.12–35. Er beschreibt die Gregorsmesse als „visionäre Aufhebung des Bildes als Bild und seine Überführung in körperliche Präsenz“ (S.15); womit angedeutet sei, dass mit dem Hinweis auf das Motiv der Verlebendigung des innerbildlichen Altarbildes der mit dieser Ikonographie geführte Mediendiskurs nur sehr ausschnitthaft wiedergegeben ist. 5 Hans Reinhardt: Die Malerfamilie Holbein in Basel, in: Ausstellungskatalog Die Malerfamilie Holbein in Basel, Kunstmuseum Basel, 4. 6.–25. 9.1960, Basel 1960, S.17–34, hier: S.17f. Katharina Krause: Hans Holbein d. Ä., München-Berlin 2002, S.151–158. 6 Zum Blickaustausch als Heilsspendung: Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und Heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Klaus Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S.179–220, hier: S. 207–214; Peter Schmidt: Inneres Bild und äußeres Bildnis. Porträt und Devotion im späten Mittelalter, in: Martin Büchsel/Peter Schmidt (Hg.): Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, Mainz 2003, S. 219–239, hier: S. 228f.; Thomas Noll: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), S. 297–328, hier: S. 308–313 und 316f. 7 Vgl. dazu Thomas Lentes: Auf der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses.Thesen zur Umwertung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheorie und Bildandacht des 14.–16. Jahrhunderts, in: Klaus Krüger/Alessandro Nova (Hg.): Imagination und Wirklichkeit: zum Verhältnis von mentalen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit, Mainz 2000, S. 21–46. 8 Vgl. dazu Gabriele Wimböck: Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: Frank Büttner/Gabriele Wimböck (Hg.): Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004, S. 9–41, hier insbesondere S.17.
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Abb.3: Hans Holbein d. Ä., Tafel des Kaisheimer Retabels, Auferstehung Christi, 1502, München, Alte Pinakothek
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Abb.4: Hochaltar der Jakobikirche in Göttingen, zweite Wandlung, 1402 vollendet
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Heilssuchenden auf sich lenke; dass es mit seiner ihm eigenen Unmittelbarkeit fast zwangsläufig zum Adressaten der Kommunikation würde; dass es nicht als diaphane oder sich öffnende Struktur hindurch zu den dahinterstehenden Heiligen oder Christus wahrgenommen würde9, sondern den Blick verstellen und zum Störfaktor der Kommunikation würde.10 Die Frage, wie die Bilder bei der Heils- und Gnadenvermittlung agieren können oder dürfen, ist auch (oder vor allem) ein medieninterner Diskurs, der bereits im späten Mittelalter geführt wird. Ein eindringliches Beispiel dafür ist Joos van Cleves um 1525 datierte New Yorker Verkündigung (Abb. 5).11 Im Hintergrund der Szene schiebt sich hier zwischen den himmlischen Boten, der in diesem Moment die Menschwerdung Christi ankündigt, und Maria als die Empfängerin des Gnadenerweises, ein halbgeöffnetes Altarretabel mit Grisaillefiguren auf den Flügelaußenseiten (Abb. 6). Die Öffnung des linken Flügels vor der erhobenen Hand Gabriels gibt den Blick frei auf die inschriftlich bezeichnete Szene der Begegnung Abrahams mit Melchisedek. Die nun farbige Szenerie erweckt im Bildformular Assoziationen mit dem Epiphaniasbild: Melchisedek (im Zentrum der halb verdeckten Mitteltafel) neigt sich nach links dem vor ihm knieenden Abra9 Zur Theorie des Bildes „als eine Art Membran für einen ‚transitus‘“ in Bezug auf Albrecht Dürers Schmerzensmann (um 1493, Karlsruhe, Kunsthalle) vgl. Beate Fricke: Artifex ingreditur in artificium suum. Dürers Schmerzensmann in Karlsruhe und die Geschichte eines Arguments von Johannes von Damaskus, in: Rebecca Müller/Martin Büchsel (Hg.): Mystifikationen und Intellektualisierungen der mittelalterlichen Kunst. „Kultbild“ – Revision eines Begriffs, Frankfurt/M. 2009, S.183–206, hier: S.194. 10 Grundsätzlich zur Bildfrage des frühneuzeitlichen Luthertums und seiner Auseinandersetzung mit der altgläubigen Definition des Bildgebrauchs des Trienter Konzils vgl. Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, S.157–199. Zur Problematik der Nicht-Disziplinierbarkeit des Blicks und der Erwartungshaltung des Betrachters vor dem Bild siehe auch: Hans Belting: Macht und Ohnmacht der Bilder, in: Peter Blickle u. a. (Hg.): Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München 2002, S.11–32, wobei seine Beobachtungen an den lutherisch-reformatorischen Bildern vielfach kritisch zu sehen sind, so etwa die Bezeichnung des 1537 entstandenen „dreiflügelige[n] Altarretabel[s]“ der Spitalkirche in Dinkelsbühl als „Antibild oder Nichtbild“. Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass das vermeintliche Dinkelsbühler Schriftretabel lediglich die Predella eines größeren Retabels darstellt, das im Mittelbild das letzte Abendmahl Christi zeigte, vgl. Dietrich Diederichs-Gottschalk: Die protestantischen Schriftaltäre des 16. und 17. Jahrhunderts in Nordwestdeutschland. Eine kirchen- und kunstgeschichtliche Untersuchung zu einer Sonderform liturgischer Ausstattung in der Epoche der Konfessionalisierung, Regensburg 2005, S. 21–23.Vgl. für die spätmittelalterliche Tradition dieser Bilderskepsis: Norbert Schnitzler: Illusion, Täuschung und schöner Schein. Probleme der Bilderverehrung im späten Mittelalter, in: Schreiner (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter (wie Anm. 6), S. 231–242, insbesondere: S. 236–239. 11 Anja Sibylle Steinmetz: Das Altarretabel in der Altniederländischen Malerei. Untersuchungen zur Darstellung eines sakralen Requisits vom frühen 15. bis zum späten 16. Jahrhundert, Weimar 1995 (Diss. Köln 1993), S. 44, 157f.; John Oliver Hand: Joos van Cleve. The Complete Paintings, New Haven/London 2004, S. 84, Kat. Nr. 58; Dieter Beaujean: Bilder in Bildern. Studien zur niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Weimar 2001, S. 23f.; Beaujean bezieht die Inschrift auf der Predella „Abraham/Melchisedek“ auf die Grisaillefiguren der Außenseite und glaubt bezeichnender Weise auf der Mitteltafel im Zentrum die Anbetung Christi zu erkennen; Marius Rimmele: Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers, München 2010 (Diss. Konstanz 2006), S. 69–72.
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Abb.5: Joos van Cleve,Verkündigung, um 1525, New York, Metropolitan Museum of Art
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Abb.6: Detail aus Abb. 5: Triptychon im Hintergrund der Verkündigung
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ham zu, hinter dem sich sein Gefolge dem Geschehen nähert. Auch typologisch verweist die Szene auf die Anbetung des Kindes durch die Könige, z. B. auf Nikolaus von Verduns Klosterneuburger Ambo (1181), wo sich das Bildformular ebenfalls der Epiphanias-Darstellung angleicht.12 Häufiger noch wird sie auf die Einsetzung der Eucharistie bezogen.13 So enthüllt das sich öffnende Retabel im Hintergrund von Joos van Cleves Inkarnationsszene ein Bild, das in seiner Erscheinung und seinem Gehalt zugleich auf den inkarnierten Gottessohn und seine sakramentale Erscheinung in Brot und Wein verweist. Doch es zeigt diesen eben gerade nicht als eine dieser Erscheinungen, sondern verbirgt ihn in der alttestamentlichen Darstellung. Die Wandlung des Altarbildes öffnet diese in das doch Verborgenbleiben. Die Enthüllung kann in diesem Medium nur eine Verhüllung bleiben. Damit deutet die Wandlung des Altarbildes die Inkarnation und bezieht sie zugleich auf die sakramentale Wandlung der Substanzen Brot und Wein in Leib und Blut, die real geschieht und doch den Sinnen verborgen bleibt. Das Bild definiert mit dem Motiv des Bildes im Bild, welches das Heilsgeschehen nicht unmittelbar, sondern nur in visuellen und theologischen Verweisen enthüllt, seine Grenzen. Aber es behauptet auch seine Autorität: Denn in seiner Verwandlung von grau-in-grau, von der Betonung einer von Menschenhand geschaffenen Materie, zu einer sich der Wirklichkeit annähernden Farbigkeit erhebt das Bild den Anspruch, sich der Realität und damit dem Heilsgeschehen zumindest annähern zu können. In Analogie mit dem sich öffnenden Fensterladenflügel14, der in den Raum Licht fallen lässt und das Ereignis der Inkarnation dadurch erst sichtbar macht, erhellt auch das sich öffnende Altarbild das Geschehen. Nur die ihm eigenen medialen Möglichkeiten erlauben eine visuelle Erfahrbarkeit der Heilsgeschichte.
2. Das lutherische Altarbild – die Theorie in den Schriften Bezeichnenderweise formuliert Luther für den Altar die ausführlichste, konkreteste Anweisung zur Bildausstattung. In seiner auf das Altarsakrament bezogenen Auslegung des 111. Psalms gibt er im Zusammenhang mit dem Vers „Er hat ein Gedächtnis an seine Wunder gestiftet, der Herr ist gnädig und barmherzig“ folgende Empfehlung:
12 Zur formalen Angleichung von Typus und Antitypus auf dem Klosterneuburger Ambo: Martina Pippal: Inhalt und Form bei Nicolaus von Verdun. Bemerkungen zum Klosterneuburger Ambo, in: Herbert Beck/Kerstin Hengevoss-Dürkop (Hg.): Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, Bd.1, Frankfurt/Main 1994, S. 367–380. Zur typologischen Zuordnung der Abraham-Melchisedek-Szene siehe: Gerhard Seib: Art. Melchisedek, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3 (1994.1971), Sp. 241f. 13 Vgl. etwa Dieric Bouts: Abendmahlsretabel, 1464–67, in Löwen, St. Pieterskerk. 14 Dieser gibt ebenfalls den Blick auf ein farbiges ‚Bild‘ frei, einen Landschaftsausblick mit der Verkündigung an die Hirten.
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„Wer hie lust hette, tafeln auf den altar lassen zu setzen, der sollte lassen das abendmal Christi malen und diese zween vers ‚der Gnedige und Barmhertziger HERR hat ein gedechtnis seiner wunder gestifft‘ mit grossen guelden buchstaben umbher schreiben, das sie fur den augen da stunden, damit das hertz dran gedecht, ja auch die augen mit dem lesen, gott loben und dancken muesten. Denn weil der altar dazu geordent ist, das man das Sacrament drauff handeln solle, So kuendte man kein besser gemelde dran machen, Die andern bilde von Gott oder Christo muegen wol sonst an anderen orten gemalet stehen.“15
Doch so häufig wie die Aussage zitiert wurde,16 so unterschiedlich wurde sie auch beurteilt: Hätte Luther lieber keine Bilder am Altar gesehen, verbannt er die Bilder vom Altar und akzeptierte allenfalls – als Zugeständnis an die Sehgewohnheiten der Gläubigen – noch die Abendmahlsdarstellung? Oder empfiehlt er hier ausdrücklich und besonders die Ausstattung von Altären mit Bildern? Denn eine derart konkrete Äußerung, wie Kirchen und Kirchenausstattung mit Bildern ausgestaltet sein sollten, findet sich nur für den Altar. So muss ihm dieser und das Bild darauf doch besonders wichtig erschienen sein. Oder war für ihn der Ort so prekär, dass er seine besondere Aufmerksamkeit erweckte? Und kann man hier die viel beschworene Dominanz des Wortes über das Bild entdecken? Denn das Bild soll nicht ohne das Wort angebracht werden. Oder zeigt dies gerade, dass das Wort doch nicht ohne das Bild genügt, zumal am Ort der sakramentalen Heilsvermittlung? 15
Martin Luther: Auslegung des 111. Psalms, 1530, WA 31/I, S. 415. Hier können nur ein paar wenige der Autoren genannt werden, die auf das Zitat hinweisen: Oskar Thulin: Der Altar in reformatorischer Sicht, in: Friedrich Haufe u. a. (Hg.): Reich Gottes und Wirklichkeit. Festgabe für Alfred Dedo Müller zum 70. Geburtstag, Berlin 1961, S.193–204, hier: S. 200f.; Thulin sieht die Äußerung Luthers als Grund, dass sich das Thema „auf fast allen Altären, wenn nicht als Hauptbild, dann doch in der Predella“ findet. Hermann Oertel: Das Protestantische Abendmahlsbild im niederdeutschen Raum und seine Vorbilder, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 13 (1974), S. 223–270, hier: S. 224f.; Oertel bewertet Luthers Einstellung zur Ausstattung des Altars als grundsätzlich negativ, mit der zitierten Äußerung mache er lediglich ein Zugeständnis an diejenigen, die auf eine Bildausstattung am Altar nicht verzichten möchten. Margarete Stirm: Die Bilderfrage in der Reformation, Gütersloh 1977, S. 86f.; Stirm interpretiert Luthers Äußerung als Abkehr von der früheren Bevorzugung eines bildlosen Altars. Angelika Marsch: Bilder zur Augsburger Konfession und ihrer Jubiläen, Weißenhorn 1980, S. 36. Nach Barbara Welzel: Abendmahlsaltäre vor der Reformation, Berlin 1991 (Diss. Berlin 1989), S.151, erkläre Luther das Abendmahlsbild zum bevorzugten Bild für das Retabel und werte es damit gegenüber dem Spätmittelalter auf. Jan Harasimowicz: ‚Scriptura sui ipsius interpres‘. Protestantische Bild-Wort-Sprache des 16. und 17. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Kunst als Glaubensbekenntnis. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Reformationszeit, Baden-Baden 1996, S. 41–81, hier: S. 46. Joseph Leo Koerner: The Reformation of the Image, London 2004, S. 321–339; Koerner sieht darin eine Bestätigung des Bildes als Adiaphora und seiner eigentlichen Überflüssigkeit („Luther’s statement repeats, rather than explains, the Reformation image’s own redundancy“, S. 323). Ingrid Schulze: Lucas Cranach d. J. und die protestantische Bildkunst in Sachsen und Thüringen, Bucha 2004, S. 43. Doreen Zerbe: Memorialkunst im Wandel. Die Ausbildung eines lutherischen Typus des Grab- und Gedächtnismals im 16. Jahrhundert, in: Carola Jäggi/Jörn Staecker (Hg.): Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur, Berlin/New York 2007, S.117–163, hier: S.132; Zerbe sieht damit belegt, dass im lutherischen Kirchenraum die Darstellung des Abendmahls die Empfehlung Luthers befolgend den Altären vorbehalten wäre. Bonnie Noble: Lucas Cranach the Elder. Art and devotion of the German Reformation, Lanham u. a. 2009, S. 78; Noble konstatiert, dass die „proclamation“ Luthers von Künstlern und Stiftern nur sehr selten befolgt worden wäre. 16
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Bei aller Problematik, Luthers Empfehlung zur Gestaltung eines Altarbildes einzuordnen, unbestritten bleibt: Er räumt dem Bild Platz an dem Ort ein, der zentral zur Gnadenvermittlung dient, an dem der Mensch dem versprochenen Heil nahe kommt, und in dem Handlungszusammenhang, der mit der Realpräsenz Christi verbunden ist. Der ‚zum Gedächtnis gestifteten Handlung‘ wird nicht nur eine Inschrift beigefügt, die zu diesem Gedächtnis aufruft, sondern ein Bild, das das Gedächtnis trägt, das visualisiert und vor Augen stellt, woran das Herz denken soll. Denn dies kann nicht die Inschrift, sondern nur das Bild leisten. Die unsichtbare Realpräsenz Christi kann auch im reformatorischen Kontext nur durch das Bild in die Sichtbarkeit überbrückt werden. Dass diese Äußerung Luthers so häufig Beachtung in der Literatur fand und findet, obwohl offenbar nie ein Altar in dieser Weise ausgestaltet wurde, liegt schlicht auch daran, dass der gesamte Bilddiskurs des 16. Jahrhunderts grundsätzlich wenig Konkretes zur bildlichen Ausgestaltung von Kirchenräumen und ihrer Ausstattung formuliert. Auch im lutherischen Kontext bleibt die Definition des Mediums dem Bild weitgehend selbst vorbehalten.
3. Retabel-Wandlungen am lutherischen Altar – das Retabel der Wolfgangskirche zu Schneeberg Mit dem Retabel in der Wolfgangskirche zu Schneeberg (Abb. 7–10) ist nicht nur der Beginn einer eigenen visuellen Kultur in den Kirchenräumen der Lutheraner markiert, es nimmt mit dem Altar eben auch den Ort ein, der die Definition dieses lutherischen Bildes besonders herausforderte.17 Das 1539 in der Kirche aufgestellte Flügelretabel kündigt als größtes bekanntes Altarretabel, das je in der Cranach-Werkstatt gefertigt wurde, eindrucksvoll von Bekenntnis und Herrschaft der ernestinischen Landesherren. Diese hatten erst wenige Jahre zuvor (1531) nach langer Auseinandersetzung mit den Mitregenten der albertinischen Linie der Wettiner, die Alleinherrschaft über die Stadt erlangt und damit auch den neuen Glauben eingeführt. Die Forschung beurteilte das Retabel, das den Anfang einer lutherischen Bildkultur in den Kirchen markiert, lange als ein unentschlossenes, noch dem Mittelalter verhaftetes Werk, das den neuen Kontext erst austesten
17 Vgl. dazu: Oskar Thulin: Cranach-Altäre der Reformation, Berlin 1955, S. 33–53; Heinrich Magirius u. a.: Der Cranachaltar in der St. Wolfgangskirche zu Schneeberg, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 6 (1992), S. 298–314; Schulze: Lucas Cranach d. J. (wie Anm.16), S.14–18; Noble: Lucas Cranach the Elder (wie Anm.16), S. 67–96; Michael Böhlitz: Altargemälde von Lucas Cranach dem Älteren, Lucas Cranach dem Jüngeren und ihren Schülern im Chemnitzer Raum, in: Ausstellungskatalog Cranach. Gemälde aus Dresden. Mit einem Bestandskatalog der Gemälde in den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, erarbeitet von Karin Kolb, hg. von Harald Marx/Ingrid Mössinger, Chemnitz, Kunstsammlungen, Köln 2005, S.18–39, hier: S. 31–36; Jenny Lagaude: Der Cranach-Altar zu St. Wolfgang in Schneeberg. Ein Bildprogramm zwischen Spätmittelalter und Reformation, Leipzig-Berlin 2010; Thomas Pöpper/Susanne Wegmann (Hg.): Das Bild des Neuen Glaubens. Das Cranach-Retabel in der Schneeberger St. Wolfgangskirche, Regensburg 2011.
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musste.18 Formal setzt das Altarretabel fraglos die Tradition des nordalpinen spätmittelalterlichen Wandelretabels fort und sieht sich so auch mit den „Semantisierungen des Bildträgers“19 konfrontiert. Das Schneeberger Retabel zeigt sich als bewusste Auseinandersetzung mit dieser Tradition. Das Altarbild, das schon im 1633 aus seinem ursprünglichen Rahmen gerissen wurde, lässt sich (mit großer Wahrscheinlichkeit) als zweifach wandelbares Flügelretabel rekonstruieren, mit einer Abendmahlsszene auf der Predella und einer inzwischen verlorenen Tafel im Auszug, die laut Beschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts die Aussendung des Heiligen Geistes zeigte.20 Das geschlossene Retabel (Abb. 7) konfrontierte den Betrachter mit zwei Katastrophenszenarien: der Verführung Lots durch seine Töchter vor dem brennenden Sodom (auf dem linken Flügel) und der Sintflut mit einer sargartigen Arche und tot im Wasser treibenden Leibern von Menschen und Tieren (auf dem rechten Flügel). Er sah sich in diesen Bildern vor die ausweglose Situation des Menschen nach dem Sündenfall gestellt, von den vier Elementen des irdischen Daseins – Erde, Feuer, Wasser und Luft – bedroht, dass selbst der Gerechte, der vor der Vernichtung gerettet wurde, in Sünde fällt und niemand in der Katastrophe das göttliche Zeichen der Versöhnung, die Taube mit dem Ölzweig, sieht. Mit der ersten Öffnung (Abb. 8) wandelt sich die Ausweglosigkeit der Szenerie in eine Antithese von Gesetz und Gnade. Diese lässt auf der einen Seite den Betrachter in der nackten Figur des Jedermanns, der vor dem Gesetz nicht bestehen kann und von Tod und Teufel unter dem Weltenrichter in die Hölle getrieben wird, seine eigenen Sünden erkennen. Auf der anderen Seite weist das Bild dem Betrachter den Weg zur Gnade. Dort trifft den nackten Jedermann, der betend zum Gekreuzigten blickt, der Gnadenstrahl aus der Seitenwunde Christi, aus der das erlösende Blut und die Taube des Heiligen Geistes ausgehen. Das Blut trifft auf der Brust des Sünders auf. Dort, wo sich – nach Luther – im Herzen Glaube oder Unglaube unsichtbar für den äußerlichen Blick der Menschen manifestiert: „Diesen glawben kann nymet sehen, dan der in hatt, dann er ist inwendig im hertzen“.21 Taube und Blut, Wort und Opfer Christi können nur wirksam werden, wo sie auf Glauben stoßen. Denn wie Luther in seiner Schrift „De Captivitate Babylonica Ecclesiae“ betont: „Die einzige würdige Vorbereitung und der einzige 18
Explizit so formuliert von Böhlitz: Altargemälde (wie Anm.17), S. 33. So der Untertitel von Rimmele: Das Triptychon (wie Anm.11). Christoph Schindler: Redintegratio arae chiornurinae Erneuerung des Schneebergischen Altars am Tage der Siegreichen Himmelfahrt unsers Herrn und Heylandes Jesu Christej, dem 23. Maii 1650, Zwickau 1650, S. 36. Christian Melzer: Bergkläufftige Beschreibung Der Churfürstl. Sächß. freyen und im Meißnischen Ober-Ertz-Geburge löbl. Bergk-Stadt Schneebergk, Schneeberg 1684, S. 81; ders.: Historia Schneebergensis Renovata. Das ist: Erneuerte Stadt-Berg-Chronica. Der im Ober-Ertz-Gebürge des belobten Meißnes gelegenen Wohl-löbl. Freyen Berg-Stadt Schneeberg, Schneeberg 1715, S. 84. Vgl. zur Frage der Rekonstruktion: Magirius u. a. (Hg.): Der Cranachaltar (wie Anm.17); Susanne Wegmann: Die Öffnung zum Glauben. Lucas Cranachs Schneeberger Retabel und das Konzept seiner Wandlung, in: Pöpper/Wegmann (Hg.): Das Bild des neuen Glaubens (wie Anm.17), S. 87–100, hier: S. 87f. und 90–94. 21 Martin Luther: Predigt In Die Purificationis Marie, 2. Febr. 1521, WA 9, S. 567. 19 20
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Abb.7: Lucas Cranach d. Ä., Schneeberger Retabel, Rekonstruktion des geschlossenen Zustands, Lot und seine Töchter, Sintflut, Abendmahl, 1539 aufgestellt, Schneeberg, St. Wolfgang
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Abb.8: Lucas Cranach d. Ä., Schneeberger Retabel, erste Wandlung, Gesetz und Gnade, 1539 aufgestellt, Schneeberg, St. Wolfgang
rechte Gebrauch der Messe ist also der Glaube (fides)“.22 Entsprechend führt die innere Ansicht (Abb. 9) des Retabels den Betrachter an die Stelle des Jedermann vor das Kreuz Christi.Versperrt wird ihm der Weg zu Christus und seiner Gnadenspende, wie sie der nackte Jedermann erfuhr, aber durch die Exempel von Glaube oder Unglaube unter dem Kreuz Christi. Hier blickt der Betrachter mit dem Retabel quasi in sein eigenes Inneres, sieht sich vor Christus stehend selbst nach Glaube oder Unglaube befragt. Eingebunden ist diese Wandlung zwischen die stets sichtbaren Szenen des Letzten Abendmahls Christi auf der Predella und der Ausgießung des Heiligen Geistes. Die Verknüpfung der Szenen des sich wandelnden Zentrums und der dauerhaft 22 Übersetzung nach Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium Martini Lutheri. Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Ein Vorspiel von Martin Luther (1520). Übersetzt von Renate und Reinhard Preul, in: Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3, Die Kirche und ihre Ämter, hg. von Günther Wartenberg/Michael Bayer, Leipzig 2009, S. 173– 376, hier: S. 227. Dazu auch: Dorothea Wendebourg: Taufe und Abendmahl, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther-Handbuch, Tübingen 2005, S. 414–423, hier: S. 415.
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Abb.9: Lucas Cranach d. Ä., Schneeberger Retabel, zweite Wandlung, Gebet am Ölberg, Kreuzigung Christi, Auferstehung, 1539 aufgestellt, Schneeberg, St. Wolfgang
sichtbaren Klammer geschieht vielfach über die Zeichen von Kelch, Wein und Blut sowie der Taube. Der Kelch, der für Lot auf dem geschlossenen Retabel zur Sünde gerät, das von Christus auf der Ansicht der ersten Retabelöffnung gespendete Blut und der Kelch, der bei geöffneter Ansicht Christus von einem Engel als Zeichen seiner bevorstehenden Passion gewiesen wird, wiederholen sich in der Darstellung des Abendmahls. Die Taube, die in der vom Tod beherrschten Sintflutszene von niemandem gesehen wird, die auf der ersten Wandlung dem Sünder aus der Seitenwunde Christi entgegenfliegt, kommt als Wort Gottes über die versammelten Apostel. Die Zeichen finden damit Aufnahme in der apostolischen Urkirche und werden schließlich dem Gläubigen in der Schneeberger Kirche, die sich mit dem Retabel zum ‚wahren Glauben‘ in der Nachfolge der Urkirche bekennt, vermittelt. Die Wandlung des Schneeberger Retabels bezieht sich damit nicht mehr auf die theologisch bestrittene Wandlung der Eucharistie durch den Priester. Der Bildträger und seine spezifischen medialen Möglichkeiten, das wechselnde Bildangebot, das Öffnen und Schließen, Verbergen und Enthüllen, das „Von-Außen-
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nach-Innen“-Hineinschauen, werden aufgegriffen und mit einer neuen Bedeutung belegt. Die Öffnung vom Sichtbaren ins zuvor Unsichtbare bleibt in gewisser Weise erhalten, das Retabel öffnet sich aber nicht in einen Raum des künftig bereiteten Heils, sondern in das Innere des vor ihm Stehenden. Es wandelt ihn, indem es schreckt, tröstet, argumentiert und ihn befragt als Vorbereitung zum Empfang der Gnade im Abendmahl, entsprechend der Praxis, wie sie etwa Johannes Matthesius für das nahe gelegene Joachimsthal beschreibt: Matthesius nennt als Grund für die Gesetzes- und Evangeliumspredigt in der ‚wahren Kirche‘, dass „alle menschenkinder umb Adams schuld vnd vngehorsam / im zorn vnnd vngnade Gottes zum ewigen tod geborn werden“. Die Gesetzespredigt geht der für den Abendmahlsempfang notwendigen Buße und Beichte voran, denn sie lehrt „was rechte Busse vnnd bekerung ist / wenn ein mensch vmb seiner sünden willen für Gottes zorn erschreckt vnd erzittert vor seinem worte / vnd hat hertzlich vnd schmertzlich rew vnd leid“. Das Zittern und Zagen lässt dann den Sünder das „tröstliche Evangelium ergreiffen“ und glauben, „das ihm alle sünde im blut vnnd todt Jesu Christi verschlungen sein“. Schließlich lässt man „niemand zu Gottes Tisch gen / er habe sich denn zuuor in sonderheit für ein sünder bekennet vnd rechenschaft seines glaubens gegeben“ und er muss auch „wissen / was das heilige Sacrament ist (. . .) vnd wie man es wirdig empfahen soll“. „Man vermanet auch fleissig zu christlicher Buß vnd rechtem glauben / vnd das sich ein jedes selber prüfe vnd erforsche / damit es nicht in todsünden / vnd bösern gewissen/jm selbst das gericht vnd verdamnuß esse vnd trincke.“23 Das Retabel leistet über die Wandlung die Erkenntnis des Geborenseins im Zorn und der Ungnade Gottes, das Erschrecken über die Gesetzespredigt, die Bekenntnis zur Sünde und den Trost des Evangeliums sowie die Mahnung zum rechten Glauben und zur Würdigkeit des Abendmahlsempfangs. Es wirkt damit auf eine Wandlung des Kommunikanten zum Glauben ein. Dass zu dieser Wandlung zum Glauben das Bild die sehende Zuwendung und die sehende Annahme der Gnade einfordert, zeigen die Exempel des rechten Glaubens und der wahren Annahme der Gnadenerweise, die dem Betrachter des Retabels mit der ersten Öffnung und dem Blick auf die Gnadenseite vorgeführt werden: Die Israeliten blicken betend auf die eherne Schlange, ebenso wendet sich Maria dem ausgesandten Jesuskind zu und die Hirten dem Engel. Nicht zuletzt richtet der nackte Jedermann in Gebetshaltung seinen Blick auf Christus und empfängt die Gnade des Opfer. Diese Exempel der betenden, niederknieenden und sehenden Hingabe an die göttliche Erscheinung erkennt der Betrachter auch im Inneren des Retabels zur Rechten Christi. Dort wendet neben dem bekehrten Hauptmann eine der Frauen im Gefolge der Maria ihren Blick zum Gekreuzigten, eine andere sieht betend auf die ohnmächtig niedersinkende Gottesmutter. 23 Zit. nach: Georg Loesche: Die evangelischen Kirchenordnungen Oesterreichs. Die Kirchenordnung von Joachimsthal in Böhmen, 1551, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 31 (1894), S.1–14 und 49–57, hier: S. 2–8.
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Abb.10: Lucas Cranach d. Ä., Schneeberger Retabel, Ansicht der Rückseite bei geöffneten Flügeln, Sintflut, Weltgericht, Lot und seine Töchter, 1539 aufgestellt, Schneeberg, St. Wolfgang
In dieser Weise durch das Altarbild unterwiesen erblickt der zum Abendmahlsempfang an das Retabel Herantretende auf der Predella am Tisch des Herrn einen Platz für sich bereitet. Doch findet er sich an diesem Ort nicht nur zur Rechten Christi wieder, wo unter der Kreuzigung die Gläubigen versammelt waren, sondern auch neben Judas, dem der Bissen zum Gericht und zur Verdammnis gereichen muss. Es ist das warnende Bild, das dem, der die Gnade am Altar empfangen will, auch beim Abendmahlsumgang auf der Rückseite des Retabels (Abb.10) vor Augen gestellt bleibt. Hier sieht er mit dem Weltenrichter die Verdammung der Unwürdigen und die Aufnahme der Würdigen in den Himmel. Das Bild ist damit idealiter für den Einzelnen ein beständiger Begleiter während der Vorbereitung und beim Empfang des Abendmahls. Es stellt die Mahnung, das Erschrecken, den Trost und die Erforschung in seinem Wandel dauerhaft in den Raum der Kirche, die sich über diese Lehre und diese Praxis definiert. Das Bild geht dabei nicht auf irgendeine Distanz zum Betrachter, es zieht sich nicht, um seinen Missbrauch zu verhindern, hinter seine Bildgrenzen zurück24, es 24 So die grundlegende Tendenz etwa bei Koerner: The Reformation (wie Anm.16), der das reformatorische Bild sich selbst auslöschen und seine eigene Redundanz zur Schau stellen sieht. Oder
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wirkt stattdessen mit den unterschiedlichsten Mitteln in den Raum, auf den Betrachter ein, spricht seine Ratio wie seine Emotionen an. Es überschreitet auch konkret die Grenzen des Bildraumes. Ein Prophet auf der Gesetzesseite nimmt den Betrachter in den Blick und macht ihn eindringlich auf das Schicksal des Sünders unter dem Gesetz aufmerksam. Im letzten Bild der Wandlung wendet sich Christus zum Betrachter, die Rechte zum Segensgestus erhoben, richtet er seinen Blick aus dem Bild.Wie Holbeins Auferstandener durchbricht er die Bildgrenze in den Realraum und gibt damit dem Gläubigen am Ort der Gnadenspende ein Heilsversprechen, das im Abendmahlsumgang mit dem den Betrachter gewährten Blick in den Himmel konkretisiert wird.Auch hier schauen die Seligen nicht nur Christus, sie sehen auch in den Realraum auf den Betrachter, der so in die künftige Gottesschau und Anbetung einbezogen ist. Der Blick in den Himmel ist nicht nur ein Bild, wie es vielleicht aussehen könnte, sondern es wird über den Blick aus dem Bild als gesehene Realität bezeugt.25
4. Bildtheorie am Altar – Bilder im Bild Dass diese Grenzüberschreitungen am Schneeberger Altar nicht schlicht als noch nicht überwundene spätmittelalterliche Tradition gesehen werden können, zeigen selbstreflexive Bilddiskurse, die das Bild am Altar und im Kirchenraum in seinem Status zum Urbild, zur Realität und Präsenz der Heilsgeschichte und zu der den Augen des Menschen entzogenen Schau Gottes zu definieren suchen. Heinrich Gödings d. Ä. Epitaph (Abb.11) für die 1568 verstorbene Frau des Generalsuperintendenten und Pfarrers der Andreaskirche in Eisleben, Hieronymus Menzel, thematisiert die an diesem Ort vollzogene, letzte Ordination Luthers, drei Tage vor seinem Tod.26 Luther steht vor einem Altar, um den sich die Geistlichen und Räte der Stadt Eisleben versammelt haben. Auf den Altarstufen knien auch Dieter Koepplin: Kommet her zu mir alle. Das tröstliche Bild des Gekreuzigten nach dem Verständnis Luthers, in: Kurt Löcher (Hg.): Martin Luther und die Reformation in Deutschland.Vorträge zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1983, Nürnberg 1988, S. 75–96, hier: S. 76, der dem reformatorischen Bild eine bewusste ‚Kunstlosigkeit‘ unterstellt, das in der Vermeidung von Illusionismus selbst seinen Missbrauch verhindere. Dagegen etwa, insbesondere im Verweis auf die annähernd lebensgroße Darstellung des auf den Betrachter blickenden Gekreuzigten, der diesen zusätzlich in der beigefügten Inschrift unmittelbar anspricht: Gabriele Wimböck: Wort für Wort, Punkt für Punkt. Darstellungen der Kreuzigung im 16. Jahrhundert in Deutschland, in: Johann Anselm Steiger/Ulrich Heinen (Hg.): Golgatha in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit, Berlin u. a. 2010, S.161–185, hier: S.171–178. 25 Zur Thematik von aus dem Bild- in den Betrachterraum gerichteten Blicken nach wie vor lesenswert, wenn auch sicherlich in manchen Punkten zu korrigieren: Alfred Neumeyer: Der Blick aus dem Bilde, Berlin 1964. 26 Koepplin: Kommet her (wie Anm. 24), S. 76; Esther Pia Wipfler: „Wenn man auch sonst die Greber wolt ehren . . .“ Zu den gemalten Epitaphien des Eislebener Kronenfriedhofes, in: Rosemarie Knape (Hg.): Martin Luther und der Bergbau im Mansfelder Land, Eisleben 2000, S. 281–304, hier: S. 291–295. Schulze: Lucas Cranach d. J. (wie Anm.16), S. 256–261; Koerner: The Reformation (wie Anm.16), S. 336f.
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Abb.11: Heinrich Göding d. Ä., Epitaph Menzel, 1569, Eisleben, Luthers Sterbehaus
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seitlich die beiden Priester, die Luther ordiniert. Im Vordergrund auf der untersten Stufe beten links Hieronymus Menzel, rechts seine verstorbene Frau, neben ihr die Tochter oder die zweite Ehefrau Menzels. Das die Ordination hinterfangende Altarretabel zeigt auf der Mitteltafel die Kreuzigung Christi flankiert von den beiden Schächern. Auf den Seitenflügeln sind zwei Apostel zu sehen: links der Kirchenpatron Andreas, rechts Petrus. Die Ädikula nimmt Gottvater als Weltenherrscher und Weltenrichter mit ausgebreiteten Armen und der Weltkugel in der Hand ein. Hinter dem Altarretabel ist durch die Fenster ein Ausblick in eine Landschaft mit dem Abschied der Apostel gegeben. Über dem Retabel und der Ordination erscheinen in einem Wolkenband Gottvater mit dem Richtschwert in der Hand, neben ihm die Weltkugel und die Taube des Heiligen Geistes zu seinen Füssen. Christus mit der Auferstehungsfahne weist ihm seine Wunden. Das Altarbild stößt in die sich im Bild eröffnenden unterschiedlichen Zeit-, Handlungs- und Realitätsebenen vor. Das Triptychon greift formal die Fensteröffnungen im Hintergrund auf, überschneidet sie und überträgt die Ikonographie des Ausblicks auf die Flügelbilder. Mit der Ädikulazone dringt es materiell in die wolkenumsäumte Gerichtsszene vor und bildet Gottvater mit der Weltkugel in leicht abgewandelter Erscheinung ab. Auch die farbige Gestaltung des Landschaftsausblicks und der Himmelsvision findet sich auf dem Retabel im Kirchenraum wieder. Das Bild vermag nur Teile der anderen Realitäts- und Zeitebenen in sein Medium zu übertragen: Die Ikonographie erscheint verkürzt und der Erzählmodus wechselt von der detaillierten Narration zu einer einfigurigen Repräsentation. Datierung und Signatur des Malers rechts unten auf der mittleren Kreuzigungstafel bestätigen den Status des Bildes als von Menschenhand gefertigtes Artefakt des 16. Jahrhunderts. Dabei relativiert es sich weniger, als dass es selbstbewusst den Anspruch erhebt, Vergangenes und Künftiges, die historische Heilsgeschichte und den Gnadenerweis Christi vor dem Richter, im Kirchenraum verorten zu können. Es vermag, die Präsenz des Heilsgeschehens im Handeln der Gemeinde und die aus dem Handeln resultierende Heilsgewissheit sinnlich erfahrbar zu machen. Gleichzeitig reflektiert und markiert es auch seine Grenzen: Es kann die Realität eben nur ausschnitthaft wiedergeben, es stößt nicht wirklich durch den Wolkensaum der Vision hindurch und es wird nicht wirklich zum Fensterausblick in die apostolische Vergangenheit. Auf dem um 1572 für den Oberlausitzer Landjunker Abraham von Nostitz geschaffenen Epitaphbild27 (Abb.12) durchbricht das Altarretabel im Zentrum des Bildes in ähnlicher Weise innerbildliche Raum- und Realitätsgrenzen und damit auch die Grenzen der Sichtbarkeit. Im dargestellten Kirchenraum kniet in vor27 Gestiftet für die Kirche zu Rengersdorf/Stankowice, heute im Kulturhistorischen Museum, Görlitz. Wolfgang Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die illustrierte Confessio Augustana, Regensburg 2007, S. 72f.; Imke Wulf: Der Epitaphaltar des Abraham von Nostitz. Ein lutherisches Bekenntnisgemälde von 1572, in: Görlitzer Magazin. Geschichte und Gegenwart der Stadt Görlitz und ihrer Umgebung 22 (2009), S. 28–36.
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Abb.12: Epitaph des Abraham von Nostitz, um 1572, Görlitz, Kulturhistorisches Museum
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Abb.13: Epitaph für die böhmische Adelsfamilie des Johann Jetrˇich von Žerotin, um 1575, Opocˇno, Schlossmuseum (ehem. Schlosskirche)
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derster Bildebene die Adelsfamillie, dahinter reichen an einem Altar zwei Priester das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Über der Abendmahlsfeier eröffnen sich auf einer Empore drei von Säulen gerahmte Szenen der Heilsgeschichte: das Gebet am Ölberg links, das Letzte Abendmahl in der Mitte, das zusätzlich mit einer Vorhangdraperie überfangen ist, und rechts die Auferstehung Christi. Das Altarbild verbindet in seiner Materialität das gottesdienstliche Handeln im Kirchenraum und die Unsichtbarkeit der durch das Handeln präsenten Heilsgeschichte, auch hier überschneidet der Auszug des Retabels die Darstellung der im Bild enthüllten Heilsgeschichte. Dem Bild im Bild werden hier jedoch engere Grenzen gesetzt als noch auf dem Eislebener Epitaph: Die Ikonographie, die Darstellung des Gnadenstuhls im Altarschrein, und die Betonung der Materialität des Retabels durch seine monochrome Gestaltung heben die Differenz zur Heilsgeschichte dahinter hervor. – Es scheint als würde sich das Retabel in Joos van Cleves Verkündigungsbild wieder schließen und die Offenbarung verhüllt. Dass diese Begrenzung des Bildes noch weiter gehen kann zeigt das Epitaph für die böhmische Adelsfamilie des Johann Jetrˇich von Žerotin in Opocˇno (Abb.13).28 Etwa gleichzeitig, um 1575, mit dem Nostitz-Epitaph entstanden, bildet es einen identifizierbaren Kirchenraum ab, die Schlosskirche von Opocˇno, in der die Adelsfamilie ihre Eheschließung und die Taufe ihrer Kinder vollzieht, sie hört die Predigt, legt die Beichte ab und empfängt schließlich vor dem Altar im Chorraum das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Auch in diesem Kirchenraum ist die Heilsgeschichte, das letzte Abendmahl präsent. Doch die Realpräsenz wird hier ausschließlich als Bild auf die Wand über dem Choreingang gebannt, eine dahinter stehende, visionär erscheinende oder enthüllte, über die Sichtbarkeit hinausreichende Unsichtbarkeit ist in diesem Raum nicht mehr zu erkennen. Stattdessen ist das Epitaphbild in der Darstellung seiner selbst am Eingang zum Chor auf sich selbst zurückgeworfen, das Unsichtbare bleibt unsichtbar, das äußerlich Sichtbare wird sichtbares Bild. So ist das Bild Teil der lutherischen Kirche, es gliedert sich als Bild im Bild selbst in diese ein, macht sich neben dem Handeln der Stifter zum Kennzeichen des wahren christlichen Lebens. Das Bild durchstößt in der sich selbst wiederholenden Darstellung die Grenzen des Raumes und der Zeit, aber auf sich selbst verweisend bleibt es auf sich und die irdische Sichtbarkeit beschränkt. Die hier nur angedeuteten unterschiedlichen, widersprüchlichen Definitionen der Reichweiten des Bildes zeigen dabei keinesfalls eine Entwicklungslinie, die letzten Endes doch mit dem Žerotin-Epitaph einen Rückzug des Bildes in seine Grenzen und Materialität bedeuten würde. Die Bilder spiegeln hier nichts anderes als die „konfessionsinterne Pluralität im lutherischen Protestantismus“29.
28 Jan Harasimowicz: „Das große Sterben in der Kunst“ in den Ländern der siegreichen Reformation (1988), in: ders. (Hg.): Kunst als Glaubensbekenntnis (wie Anm.16), S.1–24, hier: S. 20, 23; Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde (wie Anm. 27), S. 75–78. 29 Thomas Kaufmann: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, S.16.
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Bildnachweise Abb. 1 nach: Ausst. Kat. Spiegel der Seligkeit. – Abb. 2, 4 nach: Carqué/Röckelein: Das Hochaltarretabel der St. Jacobi-Kirche in Göttingen. – Abb. 3 Foto: München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen. – Abb. 5, 6 nach: Hand: Joos van Cleve. – Abb. 7, 8, 9, 10 Foto J. Pietsch, Spröda. – Abb. 11 nach: Schulze: Lucas Cranach d. J. – Abb. 12, 13 nach: Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde.
Gury Schneider-Ludorff
Reformatorische Epitaphkultur Vergegenwärtigung des Heils im Totengedenken und Stiftungswesen Im Jahr 1672 wurde in der St.-Ulrichs-Kirche in Pfuhl das Epitaph für den langjährigen Forstmeister und Amtmann Hans Ulrich Vetter angebracht.1 Prägnant veranschaulicht es zentrale Elemente jener Epitaphkultur, die im Zuge der theologischen Diskurse der Reformationszeit um eine angemessene Memoria der Verstorbenen entstanden ist2: So ist das Epitaph in zwei Bildzonen aufgeteilt, wobei mehr als zwei Drittel die detailreich in die Landschaft eingezeichnete bewegte und ausdrucksstarke biblische Szene der Kreuztragung Christi ausmacht. Das untere Drittel teilt sich die fünfzehnköpfige Stifterfamilie mit drei Spruchtafeln und einem Biogramm. Über den Köpfen der Familienmitglieder ist deren Name vermerkt. Die schon verstorbenen sind mit einem kleinen gelben Kreuz gekennzeichnet. Verbindungsglied zwischen den beiden Bildhälften ist der Spruch der sich genau mittig unter dem Kreuz befindet und die Szene im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungslehre deutet: „Der Sündenlast hie Christus trägt, die ihm sein Vatter auf er legt.“ 1 Abb.1. Das Epitaph befindet sich in der St. Ulrichs-Kirche in Pfuhl/Ulm; Abb. bei Hans Borchardt/Thomas Vogel: Schatzkästlein St. Ulrich in Pfuhl, Lindenberg 2008, S. 83. Ich danke Dr. Gudrun Litz, Ulm, für den wertvollen Hinweis. 2 Zum Thema der Veränderungen der Begräbnis- und Epitaphkultur nach der Reformationszeit sind in der letzten Zeit zahlreiche Untersuchungen entstanden, vgl. dazu: Klaus Raschzok/Dietmar H. Voges: „... dem Gott gnädig sei“.Totenschilde und Epitaphien in der St. Georgskirche Nördlingen, Nördlingen 1998; Christine Steininger: Ich weiß, daß mein Erlöser lebet. Überlegungen zurVerbindung von biblischem Text und biblischen Bild auf Epitaphien des 16. Jahrhunderts und frühen 17. Jahrhunderts und ihrer konfessionellen Relevanz, in: Gertrud Mras/Renate Kohn (Hg.): Epigraphik 2000. Neunte Fachtagung für mittelalterliche Epigraphik, 9.–12. Oktober 2000 (= Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 10) Wien 2006, S. 241–255; Susan C. Karant-Nunn: Tod, wo ist Dein Stachel? – Kontinuität und Neuerung bei Tod und Begräbnis in der jungen evangelischen Kirche, in: Christine Magin/Ulrich Schindel/Christine Wulf (Hg.): Traditionen, Zäsuren, Umbrüche. Inschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit im historischen Kontext. Beiträge zur 11. Internationalen Fachtagung für Epigraphik vom 9.–12. Mai 2007 in Greifswald, Wiesbaden 2008, S.193–204; Dagmar Hüpper: Gedenken und Fürbitte – Inschriften des Totengedächstnisses zwischen Wandel und beharrendem Zeitgeist, in: ebd., S.123–148; Christine Wulf: Bildbeischriften im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext. Funktionswandel von Inschriften auf kirchlichen Ausstattungsstücken vom hohen Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert, in: ebd., S. 37–54; Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherrn im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009; Inga Brinkmann: Grabdenkmäler, Grablegen und Begräbniswesen des lutherischen Adels. Adelige Funeralrepräsentation im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Berlin/München 2010; Berndt Hamm/Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Media salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 58).
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Abb.1: St. Ulrich Pfuhl
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Eingewoben wird die Stifterfamilie links von der Aufforderung unter dem Familienwappen: „Christo wir nachfolgen sollen.Wan wir bi ihm dort leben wollen.“ und rechts von einem „Glaubensbekenntnis“ in Form eines Gebets: „Herr Jesu Christ mein Trost und Freud ich ward auff dich zu ieder Zeit. Kom wan du wilt ich bin bereit.“ Die Angaben im unteren Teil sind nach dem sich in der Reformation durchsetzenden dreigliedrigen Schema von Todesanzeige, Totenlob und Confessio durchkonstruiert3: So erfahren wir zunächst das auf Jahr und Tag genaue Sterbedatum, dann wird mit den sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts durchsetzenden Epitheta vor dem Namen der Verstorbene als ehrhaft charakterisiert. Der Texthandlung Totenlob entspricht weiterhin die Individualisierung durch Angaben des Berufs, der politisch-sozialen Stellung, der Dauer seiner Berufsausübung von 42 Jahren.Wir erfahren weiter, dass Vetter 17 Jahre mit Anna Mastallen „friedlich gehauset“ und 13 Kinder gezeugt hat, und schließlich im Alter von 75 Jahren verstorben ist.4 Am unteren Bildrand befindet sich schließlich die Confessio, die als Fürbitte formuliert, ein Bekenntnis des Glaubens darstellt.Wie Dagmar Hüpper an zahlreichen Inschriften des Totengedenkens mit Fürbittformeln nachgewiesen hat, wird der Wunsch nach einer „fröhlichen Auferstehung“ seit 1571 zur Leitvariante der Inschriften des Totengedächtnisses mit Fürbittformel und löst die bisherigen Inschriften wie „Dem Gott gnad“ auf protestantischen Epitaphien ab.5 Theologisch findet hier die Veränderung der reformatorischen Gottesvorstellung in die Formel Aufnahme, die dem richtenden Gott, den man um Gnade bitten muss, nun den liebenden Gott und in Christus den Menschen bereits gerechtfertigt habenden Gott entgegenstellt. Während im mittelalterlichen Epitaph die Stifterperson zumeist Teil des Bildprogramms ist und in unmittelbarer Nähe und etwa gleicher Größe wie Christus oder die Heiligen dargestellt wird, was eine unmittelbare Christus- und Heilsbezogenheit veranschaulicht,6 ist sie hier in einer unteren Zone von dem Geschehen der Kreuztragung getrennt. Neu sind die Sprüche und Gebete als Dokumente der Frömmigkeit der Stifterperson, dazu auch im Rahmen des eben beschriebenen dreigliedrigen Schemas die biographischen Daten – ausführlicher als auf mittelalterlichen Epitaphien. 3 Vgl. zum Aufbau von Inschriften auf Epitaphien nach der Reformation: Dagmar Hüpper: Gedenken und Fürbitte (wie Anm. 2), S.125–132. 4 „Anno 1669 den ersten Juny ist in gott seelig verschiden der Ernhaffte und Vorgeachte H. Hans Ulrich Vetter gewester Forstmeister und Amptmann alhier zu Pfuhl 42 Jahr welcher mit seiner lieb Hausfraw Anna Mastallen in die 17 Jahr friedlich gehauset und miteinander 13 Kinder erzeugt, seines alters 75 jahr, Der Allmechtige Gott verleihe ihm eine fröhliche Aufferstehung zum Ewigen Leben Amen. 5 Vgl. die Veränderungen der unterschiedlichen Fürbittformeln zwischen 1596–1608 bei Dagmar Hüpper: Gedenken und Fürbitte (wie Anm. 2), S.133–140. 6 Vgl. dazu Berndt Hamm: Typen spätmittelalterlicher Gnadenmentalität, in: Hamm/Leppin/ Schneider-Ludorff (Hg.): Media Salutis (wie Anm. 2), S. 41–82; Berndt Hamm: Gottes gnädiges Gericht. Spätmittelalterliche Bildinschriften als Zeugnisse intensivierter Barmherzigkeitsvorstellungen, in: Magin/Schindel/Wulf (Hg.): Traditionen, Zäsuren, Umbrüche (wie Anm. 2), S.17–35.
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Die Trennung zwischen den Bereichen ist spezifisch für die Epitaphien, die sich nach der Reformation herausbilden. Berndt Hamm hat in seinem grundlegenden Beitrag Normierte Erinnerung. Jenseits und Diesseitsorientierungen der Memoria des 14.–16. Jahrhunderts folgendes zu bedenken gegeben: „Die Neuorientierung des christlichen Gedenkens durch die Reformation schloss ein vor- und fürsorgendes Agieren zugunsten des Seelenheils und in diesem Sinne ein fürbittendes Eintreten der Lebenden für die Verstorbenen aus. Dies erklärt vielleicht auch, warum man auf lutherischen Epitaphien so deutlich die bildliche Darstellung der göttlichen Heilszueignung von der Zone des irdischen Gedenkens an die Verstorbenen trennt – ein Stück Profanisierung der Totenmemoria also: Für das Heil der Verstorbenen kann das Gedenken der Lebenden nichts tun.“7 In der Tat wird für die Reformation allgemein eine radikale Trennung zwischen Toten und Lebenden konstatiert. Die Toten hätten keine Beziehung mehr zu den Lebenden. Es könne ihnen weder geholfen werden, noch könnten sie helfen.Während in der katholischen Tradition das Konzept der wechselseitigen Beziehungen präsent sei.8 Dennoch stellt sich die Frage, ob nicht nach der Reformation die Beziehung zwischen Verstorbenen und Lebenden erhalten bleibt aber eine Transformation vollzieht und weiterhin eine Vergegenwärtigung des Heils im Totengedenken geschieht. Ich werde dem im Folgenden an zwei Aspekten nachgehen. Zum einen werde ich die wesentlichen Veränderungen in der Totenmemoria seit der Reformation kurz skizzieren. Dann werde ich auf die damit unmittelbar zusammenhängenden Veränderungen im Stiftungswesen insgesamt eingehen und in einem dritten Teil dann Transformationen und Neudeutungen in der Vergegenwärtigung des Heils in Totengedenken und Stiftungswesen aufzeigen.
1. Veränderungen im Totengedenken: Memoria und Bekenntnis Martin Luther hatte in der Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542 die folgenden Überlegungen zum Totengedenken dargelegt: „Dem nach haben wir in unsern Kirchen die Bepstlichen Grewel, als Vigilien, Seelmessen, Begengnis, Fegefewr und alles ander Gaukelwerck fur die Todten getrieben, abgetan und rein ausgefegt. Und wollen unser Kirchen nicht mehr lassen Klagheuser oder Leidestete sein, sondern, wie es die alten Veter auch genennet, Koemiteria, das ist, fur Schlaffheuser und Rugestete halten. Singen auch kein Trauwlied noch Leidegesang bey unsern Todten und Grebern, sondern tröstliche Lieder von vergebung der sunden, von Ruge, Schlaff, Leben und Aufferstehung der verstorbenen Christen, Damit unser Glaub gesterckt und die Leute zu rechter Andacht gereitzt werden.“ [. . .] „Dahin auch gehört, was die Christen bisher und noch thun, an den Leichen und Grebern, Das man sie herrlich tregt, schmückt, besinget und mit Grabzeichen zieret. Es ist alles
7 Berndt Hamm: Normierte Erinnerung. Jenseits- und Diesseitsorientierung in der Memoria des 14.–16. Jahrhunderts, in: Die Macht der Erinnerung, Jahrbuch für Biblische Theologie 22 (2007), S.198–251, hier: S. 250. 8 Vgl. Karant-Nunn: Kontinuität und Neuerung (wie Anm. 2), S. 203.
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zuthun umb diesen Artickel von der aufferstehung, das er feste in uns gegründet werde, Denn er ist unser endlicher, seliger, ewiger trost und freude wider den Tod, Helle, Teuffel und alle traurigkeit [. . .] Wenn man auch sonst Greber wolt ehren, were es fein, an die Wende, wo sie da sind, gute Epitaphia oder Sprüche aus der Schrift darüber zu malen oder zu schreiben [. . .]“9
Mit der neuen Lehre sollte auch eine Veränderung im Totengedenken einhergehen. Der Umgang mit den Verstorbenen änderte sich. Die Seele der Verstorbenen wurde Gott anbefohlen, der Tod als Schlaf bis zum Jüngsten Gericht gedeutet. Neue Friedhöfe wurden am Rande der Stadt angelegt, meist als Parkanlagen, Beinhäuser wurden abgeschafft, ebenso die Gedächtnismessen, Klageweiber und Totenwachen. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts setzten sich die Leichenpredigten durch, die die Verstorbenen als Personen und als Vorbilder im Glauben ehrten.10 Mit der Anregung Luthers, „gute Epitaphia oder Sprüche aus der Schrift“ im Rahmen der Memoria des Verstorbenen zu erstellen, war auch die teilweise vehement tobende Kontroverse um die Bilder in den Kirchen in gemäßigte Bahnen gelenkt.11 Denn das Epitaph, das sich im 14. Jahrhundert entwickelt hatte, war ein Ausdruck städtischer und bürgerlicher Memorialkultur und Frömmigkeit. Und damit repräsentierte sich die städtische Gesellschaft geschlossen und prominent im Kirchenraum. Epitaphien kam im Sinne einer „politischen Ikonographie“ eine für das städtische Gemeinwesen zentrale Bedeutung zu und das blieb auch nach der Reformation der Fall.12 Dies zeigt beispielsweise die vehemente Auseinandersetzung um die Epitaphien und Totenschilde in Ulm, bei der es den Theologen nicht gelang, das Entfernen dieser Erinnerungszeichen gegen den Rat der Stadt durchzusetzen.13 Klaus Raschzok hat darauf hingewiesen, dass die Epitaphien der Kirche nur anvertraut waren und im Privatbesitz der Familien blieben. Sie waren nicht in die liturgische Totenmemoria eingebunden und daher unabhängig von der Abschaffung der Seelmessen und Jahrtage. So konnten sie mit der Reformation neue Funktionen im Totengedenken übernehmen.14 Während die Aufforderung zur Fürbitte für die Verstorbenen zurücktrat, übernahmen die Epitaphien nun die Funktion des Trostes und der Stärkung des Glaubens der Lebenden: Zum einen durch die Darstellung bestimmter biblischer Szenen, denen Kommentare aus der Bibel beigegeben wurden, zum andern durch Veranschaulichung der neuen reformatorischen Theologie. So spiegelten die Epitaphien die Glaubensbekenntnisse ihrer Stifter wider, mit denen sie sich einerseits den Lebenden zum Vorbild im Glauben präsentierten und andererseits der Forderung Luthers nachkamen, durch 9
WA 35, S. 478–480. Vgl. zu den Veränderungen im Begräbniswesen: Karant-Nunn: Kontinuität und Neuerung, (wie Anm. 2), S.196–202, Brinkmann: Grabmäler (wie Anm. 2), S. 47–80. 11 Zur Auseinandersetzung um die Bilder in der Reformationszeit vgl. Gudrun Litz: Die Reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter Humanismus Reformation. Neue Reihe 35) 12 Vgl. Raschzok/Voges: „. . . dem Gott gnädig sei“ (wie Anm. 2), S.16–17. 13 Vgl. dazu Litz: Die reformatorische Bilderfrage (wie Anm.11), S.108–132. 14 Vgl. Raschzok/Voges: „. . . dem Gott gnädig sei“ (wie Anm. 2), S.18. 10
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„Gute Epitaphia und Sprüche aus der Schrift“ zur Vergegenwärtigung des Heils und damit zur Stärkung des Glaubens der Lebenden beizutragen15. Allerdings gilt es zu bedenken, dass Epitaphien auf einen kleinen Kreis wohlhabender und herausragender Bürger, Pfarrer, Superintendenten und in der Stadt ansässige Adelige beschränkt waren. Im Zuge der Reformation verschärften sich auch die Bedingungen, wie ein Ratsbeschluss in Nördlingen von 1589 zeigt, der das Aufhängen eines Epitaphs oder Totenschildes in St. Georg nur dann erlaubte, wenn zuvor für das bürgerliche Spital gestiftet worden war.16 Der hohe finanzielle Aufwand, der die Memoria der Stifterperson garantierte, aber zugleich auch die Verantwortlichkeit und das Bekenntnis zur neuen Lehre dokumentierte, lässt danach fragen, welche Möglichkeiten der Partizipation an diesen Formen von Memoria und Bekenntnis andere Mitglieder der städtischen Gesellschaft, wohlhabende Handwerkern z. B. oder bürgerliche Frauen hatten. Dies soll im Folgenden an einem zweiten Beispiel vorgestellt werden, dem Stiftungswesen, das untrennbar mit der Memorialkultur – auch nach der Reformation – verwoben ist.
2. Die Veränderungen im Stiftungswesen seit der Reformation Mit Luthers Abrechung mit dem Ablasswesen und spätestens seit seiner Schrift „Von den Guten Werken“ (1520)17 hatte Luther eine Korrektur an den bisherigen Vorstellungen von Guten Werken vollzogen. Er ließ nur jene als Gute Werke gelten, die von Jesus gestiftet (worden) waren und den Aspekt der Nächstenliebe vorweisen konnten. Auch mit dem Verweis Luthers darauf, dass gute Werke nicht gerecht vor Gott machten, war die bisherige religiöse Legitimation des Stiftungswesens zuerst einmal in die Krise geraten:18 Stiftungen an Klöster und Kirchen, bisher gute Werke vor Gott, die dem Seelenheil dienten, wurden nun als Aberglaube und Götzendienst, als unnütz oder – was noch schlimmer war – als „Eigennutz“ interpretiert.19
15 Vgl. dazu Volker Leppin: Medialität und Totenmemoria im Luthertum, in: Hamm/Leppin/ Schneider-Ludorff: Media Salutis (wie Anm. 2) S. 201–222. Zu den Grabdenkmälern von Protestantischen Landesfürsten vgl. Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis (wie Anm. 2), S. 243; Gury Schneider-Ludorff: Der fromme Fürst. Medialität des Heils und landesherrliche Selbstrepräsentation, in: Hamm/Leppin/dies.: Media Salutis (wie Anm. 2), S.182–200. 16 Vgl. dazu Raschzok/Voges: „. . . dem Gott gnädig sei“ (wie Anm. 2), S.17. 17 WA 6, S. 202–276. 18 Vgl. dazu Berndt Hamm: „Zeitliche Güter gegen himmlische eintauschen“ – Vom Sinn spätmittelalterlicher Stiftungen, in: Udo Hahn/Thomas Kreuzer/Susanne Schenk/Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Geben und Gestalten. Brauchen wir eine neue Kultur der Gabe? Berlin 2008, S. 51–66. 19 Vgl. dazu auch: Gury Schneider-Ludorff: Stiftung und Memoria im theologischen Diskurs der Reformationszeit, in: Die Macht der Erinnerung, Jahrbuch für Biblische Theologie 22 (2007), S. 253–268; Gury Schneider-Ludorff: Protestantisches Stiften nach der Reformation, in: Hahn u. a. (Hg.): Geben und Gestalten (wie Anm.18), S. 79–91.
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Warum sollte man dann eigentlich noch stiften? Die Auswirkungen, die für das Gemeinwesen zu erwarten waren, waren kaum abschätzbar, weil mit den Messstiftungen, mit Altarstiftungen und Bildern auch noch weitere finanzielle Mittel für die Armen- und Krankenversorgung sowie das Bildungswesen verloren zu gehen drohten. Auch die Polemik der Altgläubigen führte dazu, dass die Reformatoren alsbald ausdrücklich erklärten, dass Gute Werke weiterhin wichtig seien und genauer definierten was als Gute Werke zu gelten habe. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Argumentation, die die Verbindung von „Gemeinem Nutzen“ und Guten Werken für das Wohl des Gemeinwesens als wahrer Caritas herstellt und damit eine theologische Deutung vollzieht: Dies findet sich in einer der ersten reformatorischen Maßnahmen des Rates der Stadt Nürnberg 1523: der „Ordnung des großen Allmosens“, die von dem Ratsschreiber Lazarus Spengler entworfen worden war.20 Hier erfolgte unter der sich wandelnden theologischen Deutung eine Definition, was als gute Werke angesehen werden könne. Es sind die „Werk der Lieb“: „Und diese werk der lieb sind die frucht, die aus einem rechten lebendigen glauben erwachsen, und heißen darumb gut, das sie aus einem wahrhaften vertrauen in Got fließen und dem nächsten zu nutz und gut reichen söllen. Es würde auch (nach anzeig des heiligen evangeliums) ein jeder christenmensch am jüngsten Tag solicher werk halben, nemlich: ob er umb Christus willen seine negsten dürftigen armen und notleidenden geliebt, sie gespeist, getrenkt, beklaidt, heimgesucht und in summa inen hilf und handreich erzaigt hab, und nit, ob er vil messen gestift, kirchen gepauet, walfart getan und andere dergleichen von Christo ungepotene werk geübt hab, rechenschaft geben müssen.“21
Gute Werke sind die Früchte des Glaubens, für die man sich vor Gott im Jüngsten Gericht verantworten müsse. Diese bestehen nicht in den bisherigen Seelstiftungen, sondern allein in Stiftungen, die die Fürsorge für den Nächsten im Blick haben, zunächst besonders der Kranken und Armen. Und hier zeigt sich, dass gerade die Bürgerstiftungen in den Reichsstädten wie Nürnberg oder Ulm nach der Reformationszeit zunahmen – und das nicht nur bei den Patriziern sondern gerade in Kreisen der Ehrbarkeit und darüber hinaus.22 Dies lässt vermuten, dass Stiftungen zu gründen auch das zunehmende Selbstbewusstsein bestimmter bürgerlicher Gruppen in den Reichsstädten nach der Reformation widerspiegelt. Während die mittelalterliche Tradition der Seel-, Gerät- und Pfründestiftungen in Nürnberg nicht in der alten Form fortgesetzt werden konnte, nahmen diejenigen Stiftungen zu, die nun als „gute Werke“ bezeichnet wurden. Zu diesen „frommen Stiftungen“ gehörten auch die Stipendienstiftungen. 20 Zu Lazarus Spengler vgl. Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Neue Reihe 25). 21 Emil Sehling (Hg.): Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd.11: Franken, Tübingen 1961, S. 23. 22 Zum Begriff der „Ehrbarkeit“, vgl. Berndt Hamm: Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit, in: Ders.: Lazarus Spengler (wie Anm. 20), S.1–72.
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In seiner Studie zum Stipendienwesen in Nürnberg hat Bernhard Ebneth darauf hingewiesen, dass die Studienförderung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts nahezu vollständig auf den privaten Stiftungen von Bürgern der Reichsstadt basierte.23 Stipendien zu stiften, das konnte sich nur eine sehr vermögende Oberschicht leisten, denn die Gründung eines Stipendiums verlangte einen hohen finanziellen Aufwand. Dieser war wesentlich höher als beispielsweise die Legate an das neue Spital zum Heiligen Geist oder an das Findelhaus oder die Almosen für hausarme Leute, welche allesamt schon für wenig Geld verteilt werden konnten. Denn zusätzlich musste ein potentieller Stifter oder eine Stifterin die Bereitschaft besitzen, nicht nur für Studenten, sondern indirekt auch für die Kirchen, Schulen und Ämter der Reichsstadt zu sorgen. So nimmt es nicht wunder, dass der überwiegende Teil der mittelalterlichen Stipendienstiftungen von Mitgliedern des Patriziats – meist im Rahmen von Familienstiftungen – getätigt wurden, oder von der reichsstädtischen Ehrbarkeit24. Die 23 ratsfähigen Familien, die nach der Reformation Stipendien einrichteten, zeichneten sich dadurch aus, dass sie „fromme Stiftungen“ zu Gunsten von Studenten gründeten, die überwiegend auch anderen Bürgern der Stadt zugänglich waren. Es gab aber auch Stiftungen von Kaufleuten und Handwerkern, wobei gerade bei den Handwerkern auffällt, dass die nach 1543 gegründeten 15 Stiftungen der ratsfähigen Handwerker zu einem Drittel von Frauen ausgerichtet worden sind25. Nach der Reformation nahmen in den Reichsstädten besonders die Stiftungen zu Bildungszwecken zu. Wie das Stiftungsbuch der Stadt Ulm zeigt, rangieren neben den Stiftungen für die Armenversorgung die Stipendienstiftungen auf dem zweiten Platz.26 Auffällig ist, dass von ca. 90 Stipendienstiftungen 77 dem Theologiestudium vorbehalten sind. Wie beispielsweise die Stiftung der Cäcilia Auerin, Witwe von Bronn, eine der größten Stiftungen der Zeit nach der Reformation in Ulm. Die Auerin war ursprünglich eine Protestantin aus Oesterreich, die auf Druck der Gegenreformatorischen Maßnahmen wohl um 1600 aus Oesterreich auswanderte und in Ulm eine neue Heimat fand. Sie vermachte der Reichsstadt ein Kapital von 15000 Gulden und hatte in ihrem Testament 1606 die Verfügung getroffen, einen größeren Betrag dem Almosenkasten und zu frommen, zu sozialen Zwecken einzusetzen. z. B. dem Verschenken von Brennholz an die frommen Armen in der Stifterin Namen.
23 Vgl. dazu und zum Folgenden: Bernhardt Ebneth: Stipendienstiftungen in Nürnberg. Eine historische Studie zum Funktionszusammenhang der Ausbildungsförderung für Studenten am Beispiel einer Großstadt (15.–20. Jahrhundert), Nürnberg 1994, S.144. Vgl. auch ders.: Stipendienstiftungen in Bayern – Zur Geschichte der Studienförderung für Studierende der evangelisch-lutherischen Theologie vom 16. bis 21. Jahrhundert, in: Hahn (Hg.): Geben und Gestalten (wie Anm.18), S. 91–105. 24 Insgesamt gab es 146 Stifter und Stifterinnen in Nürnberg, von denen sich 93 nach ihrer sozialen Situation einordnen lassen; Ebneth: Stipendienstiftungen (wie Anm. 23), S.144. 25 Ebd., S.115; Liste der Stiftungen der ratsfähigen Handwerker auf S.151. 26 Zum Ulmer Stiftungswesen vgl. Gudrun Litz: Beispiele aus dem Ulmer Stiftungswesen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Hahn (Hg.): Geben und Gestalten (wie Anm.18), S. 67–78.
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Neben der Armenfürsorge war der Auerin auch die Unterstützung der Bildung wichtig. Die Auerin richtete auch Stipendien für Theologiestudenten ein: „Etlichen jungen Studiosis, die sich auf die Academias zu begehen vorhaben, oder allbereit daselbsten seyn, und von ihren Professoribus ihres Wohlverhaltens und fleissigen Studierens gut Gezeugnis haben, und kundtlich einer Hülf bedürftig, soll durch die Stifts-Verwalter je Einem 10. 15. 20. fl. und zweyen oder dreyen Baccallaureis oder Magistris, so sie beglaubte gute Testimonia von den Universitäten ihrer Qualitäten halber, und dasß sie der ungeänderten Augsburgischen Confession sincere beigethan, fürbringen, sollen zu 30. 40. oder da sie gut gelernt, bis auf die 50 fl. als eine christliche Handreichung gefolgt werden.“27
Wichtig ist hier der Hinweis auf die Kriterien der Zielgruppe: Ein moralisches und sittliches Wohlverhalten, gute Studienleistungen und vor allem die Zugehörigkeit zur Confessio Augustana von 1530. Auch die Eheleute Ludwig und Barbara Wagner ließen 1608 ein Testament aufsetzen, worin sie ein Stipendium für einen zum Studieren tauglichen Studenten stifteten, „welcher bei einer der ungeänderten Augsburgischen Confession beipflichtigenden evangelischen Universität jährlich zu seiner erheischenden Nothdurft, aber mit nichten zu leichtfertiger Uippigkeit, Pracht, Freiheit und Muthwillen unterhalten werde, und [. . .] Theologiam zu studieren, und der reinen Anno 1530 zu Augsburg übergebenen Confession von Herzen beipflichtig zu verbleiben, [. . .] auch da er seine Studia zu Ende gebracht, und nunmehr einer Kirche nützlich vorstehen könnte, einem Ehrsamen Rat dieser löblichen Stadt Ulm in evangelischer Kirchen mit gesunder heilsamer Lehr und uärgerlichem Leben um gebührige Besoldung zu dienen mit Mund und Hand versprechen soll.“28
Die Zunahme an Stipendienstiftungen im städtischen Bürgertum, das bislang nur einen geringen Beitrag zum Stiftungswesen geleistet hatte, zeigt, dass hier das Moment der Memoria verschränkt wird mit der Verantwortung für die rechte Lehre – die „gesunde, heilsame“ Lehre. Mit dem Errichten eines Stipendiums für das Theologiestudium nach dem Tode der Stifter werden ebenso wie bei den Epitaphien zwei berechtigte Interessen der Stifterpersonen verbunden: zum einen das Bedürfnis, nach dem Tod der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. So ist der Brauch nachgewiesen, dass die Auszahlung der jährlichen Legate aus Stiftungen in Nürnberg wie in Ulm fast durchweg am Namenstag des Stifters bzw. seines Ehegatten stattfand29. Und auch Caecilia Auerin verfügte, dass die Stipendien „einmal in den Pfingstfeiertagen und das andere Mal am Tage Ceciliae (am 22, November) ausgeteilt werden; wobei nach Gelegenheit und Orts durch die, so der Musik kundig, eine schöne geistliche muteta, oder zwo gesungen, und durch den beiwesenden Prediger ein Bericht und Vermahnung gethan, und für den Wohlstand gemeinenVaterlands gebetet werden soll.“30 Zum anderen war es das Interesse und das Selbstbewusstsein eines protestantischen Bürgertums, zur Förderung der rechten, heilsamen Lehre beizutragen. 27 Das Testament der Cäcilia Auerin ist abgedruckt in: Christoph Leonhard v.Wolbach: Urkundliche Nachrichten von den ulmischen Privatstiftungen, Ulm 1847, S. 27–30. 28 Ebd., Nr.19, S. 31. 29 Vgl. Ebneth: Stipendienstiftungen (wie Anm. 23), S.152. 30 v. Wolbach: Urkundliche Nachrichten (wie Anm. 27), S. 28.
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3. Vergegenwärtigung des Heils in Totengedenken und Stiftungswesen. Transformationen Betrachtet man die Entwicklungen, die sich aus den Diskursen der Reformationszeit zu Totengedenken und Stiftungswesen ergeben haben, ist die Sache offensichtlich: „Für das Heil der Verstorbenen kann das Gedenken der Lebenden nichts tun.“31 Im Gegenteil. Wir haben es hier mit einem Perspektivwechsel zu tun: Anders als im Mittelalter geht es nicht um das Seelenheit der Verstorbenen sondern um das Heil der Lebenden. Und für das Heil der Lebenden bleibt das Gedenken an die Verstorbenen unverzichtbar. Denn die verstorbene Stifterperson wird Vorbild und bietet über den eigenen Tod hinaus Anleitung zum rechten Leben aus dem „wahren Glauben“. Auf dem Epitaph des Amtmann Hans Ulrich Vetter in Pfuhl ist es das andächtige Gebet der Stifterfamilie, das an den wahren Glauben gemahnt; es ist das Gebet unter dem Kreuz, das die Vorbildfunktion der Verstorbenen verdeutlicht. In Verbindung mit den sie umgebenden Inschriften, wie auch die biblische Szene kommentierenden Inschriften tritt das Bekenntnis zur Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die protestantische, speziell die lutherische Theologie in den Vordergrund – und wird damit zur Vergegenwärtigung des Heils. Ebenso verhält es sich mit den Stipendienstiftungen für Theologiestudenten. Hier geht es um den Erhalt der „heilsamen Lehre“ für die zukünftigen Generationen und damit auch um die Vergegenwärtigung des Heils in Predigt, Gottesdienst und Seelsorge. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Vorstellung sind die Gebenden nicht die Lebenden, sondern allein die Verstorbenen. Forderte das Epitaph in vorreformatorischer Zeit die Lebenden auf, für das Seelenheil der verstorbenen Stifter zu beten, so waren es nun die Verstorbenen, die sich für das Heil der Lebenden einsetzten: Mit der Neukonzeption der Epitaphien bekannten die Verstorbenen ihren Glauben öffentlich, um dadurch den Glauben der Lebenden zu stärken.32 Luther hatte es als Aufgabe aller Christinnen und Christen angesehen, das Evangelium zu verbreiten.33 Einer solchen Form der Verbreitung des Evangeliums dienten nun die Epitaphien, Altarstiftungen und auch die Stipendienstiftungen. Die Verstorbenen sorgten damit für eine Verstetigung des „wahren, heilsamen“ Bekenntnisses an den sündenvergebenden Kreuzestod Christi und vergegenwärtigten nach ihrem Tode für die Lebenden das Heil. Das Totengedenken hatte also nicht mehr wie im Mittelalter die Funktion der Fürbitte vor Gott für die Seele der Verstorbenen im Fegefeuer. Die Blickrichtung kehrte sich vielmehr um: Es ging um die Lebenden, um die Stärkung ihres Glaubens und damit um deren Heil. 31
Hamm: Normierte Erinnerung (wie Anm. 2), S. 250. Vgl. Meys: Memoria und Bekenntnis (wie Anm. 2) S. 243; Gury Schneider-Ludorff: Der fromme Fürst (wie Anm.15), S.183–200. 33 Durch „Predigen, Singen, Sagen, Schreiben, Lesen, Malen, Zeichnen“ sollten alle Christinnen und Christen ihren Glauben bekennen; vgl.WA 10, S. 458. 32
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Die Beziehung zwischen Toten und Lebenden wird also mit der Reformation nicht gelöst, sondern nur transformiert. Die Verstorbenen weisen den Weg zum Heil durch die Vergegenwärtigung des „wahren Glaubens“. Und die Lebenden erinnern. Die Memorialkultur bleibt erhalten und damit eine Form von gegenseitiger Gabe, Beziehung und Kommunikation. Die Stiftungen heben die Trennung zwischen Verstorbenen und Lebenden auf, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden.
Matthieu Arnold
Gottes Nähe und Gottes Allmacht in den Briefen Martin Luthers und Martin Bucers Berndt Hamm hat sehr wichtige Beiträge zu der Frage beigesteuert, wie die Nähe Gottes am Ende des Mittelalters und bei Luther dargestellt worden ist1. In diesem Vortrag2 möchte ich aber einen anderen Beitrag des Jubilars zur Darstellung der Reformationsgeschichte würdigen: seinen Anteil an der Edition der Briefe Martin Bucers. Diese Ausgabe verbindet seit zwölf Jahren die Evangelisch-Theologischen Fakultäten der Universitäten Erlangen/Nürnberg und Straßburg miteinander.3 In vielen Traktaten und Predigten hat Martin Luther nicht nur die Herrschaft, sondern sogar die Allwirksamkeit Gottes hervorgehoben: der Ausleger des Magnifikats lobt, wie Maria, den Herrn, der die Mächtigen erniedrigt und die Niedrigen erhebt.4 In Luthers Briefwechsel wird aber diese Allwirksamkeit noch deutlicher und konkreter als in seinen übrigen Schriften ausgedrückt: Wenn der Reformator über die Ereignisse seines Lebens sowie der großen Religionspolitik berichtet und sie kommentiert, sieht er die Geschichte als Heilsgeschichte. Diese Heilsgeschichte entfaltet sich bis zu Christi Kommen in Herrlichkeit, an dem 1 Siehe u. a.: Berndt Hamm: Proximité de la grâce et proximité de la colère. les premières années de Luther au couvent, début de sa réorientation réformatrice [aus dem Deutschen übersetzt von Matthieu Arnold], in: Positions Luthériennes 54 (2006), S. 289–328; ders.: Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39), S.111–151; jetzt auch in: ders.: Der frühe Luther, Tübingen 2010, S. 25–64. – Ich bedanke mich ganz herzlich bei meinem Kollegen und Freund Herrn Prof. Dr. Christoph Burger, der diesen Beitrag gelesen und sprachlich verbessert hat. 2 Dieser Beitrag ergänzt wesentlich meine Studie: Göttliche Geschichte und menschliche Geschichte: Bucer und Luthers Schau des Augsburger Reichstags in ihren Briefen, in: Matthieu Arnold/ Berndt Hamm (Hg.): Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli, Tübingen 2003 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 23), S. 9–29, die sich nur der Zeitspanne des Augsburger Reichstages (1530) widmete. – Siehe auch Matthieu Arnold: Die Rolle der Korrespondenz bei Kommunikation und Transfer. Zu einer evangelischen Identität in der Frühen Neuzeit, in: Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.): Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz 2007 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 74), S. 33–47; ders.: Dieu, maître de l’histoire dans la correspondance de Martin Luther, in: Jörg Frey/Stefan Krauter/Hermann Lichtenberger (Hg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009 (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 248), S. 583–596. 3 Martin Bucer: Correspondance/Briefwechsel, Bde 4–7, Leiden, 2000–2011 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 78 und 101; Studies in Medieval and Reformation Traditions 120 und 136). – Ich werde diese Edition mit der Abkürzung BCor zitieren. 4 Christoph Burger: Marias Lied in Luthers Deutung. Das Kommentar zum Magnifikat (Lk 1, 46b– 55) aus den Jahren 1520/21, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 34).
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„schönen Jüngsten Tag“; in der Wartezeit bleibt der Christ nicht ein passiver Zuschauer des Kampfes zwischen Gott und dem Teufel: durch das Gebet wird er zum Mitarbeiter Gottes.5 In den letzten Jahren haben mehrere Arbeiten das bisher Gesagte reichlich dokumentiert.6 Im Großen und Ganzen kann man aber, wie ich darstellen möchte, das gleiche von Bucer sagen, dessen Briefwechsel viel weniger untersucht worden ist.7 Für beide Reformatoren werde ich mich auf diejenigen Briefe, die Informationen vermitteln, und auf die Trostbriefe beschränken.8
I. Die Briefe, die Neuigkeiten mitteilen, bezeugen die Anwesenheit Gottes in der Geschichte Im Zeitalter der Reformation war der Brief zuerst ein sehr wichtiges Medium für die Mitteilung und den Austausch von Nachrichten: Bei den Gelehrten betrafen diese Nachrichten nicht nur den Briefschreiber, seine Gesundheit und seine Familie, sondern auch politische Ereignisse sowie beispielsweise Himmelserscheinungen oder Epidemien. So teilt Martin Bucer beispielsweise am 5. September 1531 Ambrosius Blarer mit, dass die Straßburger den Halleyschen Kometen gesehen haben, und er deutet ihn als ein Zeichen der Macht Gottes: „Cometen vidimus dies non minus 14. Visus est et in Brabantia alijsque Caesaris regionibus et grandior quam apud nos. Quo clarius Dominus noster suam potentiam ostentat, hoc plus est, quod triumphemus.“9 Einen Monat später deutet Luther die Bewegungen des Kometen auch in positivem Sinne: Der gegen Norden weisende Schweif des Kometen sollte Fer5 Vgl. Matthieu Arnold: La correspondance de Luther. Étude historique, littéraire et théologique, Mainz 1996 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 168). 6 Siehe, außer den in Anm. 2 zitierten Studien, Gerhard Ebeling: Luthers Seelsorge.Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, an seinen Briefen dargestellt, Tübingen 1997. 7 Vgl. aber Reinhold Friedrich: Martin Bucer – ‚Fanatiker der Einheit‘? Seine Stellungnahme zu theologischen Fragen seiner Zeit (Abendmahls- und Kirchenverständnis) insbesondere nach seinem Briefwechsel der Jahre 1524–1541, Bonn 2002 (= Biblia et symbiotica 20); Arnold/Hamm: Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli (wie Anm. 2). 8 Die politischen Ratschläge heben aber ebenfalls Gottes Allwirksamkeit und Alleinwirksamkeit hervor. Siehe Hermann Kunst: Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seines Landesherren und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, Stuttgart 1976; Eike Wolgast: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977. Für die Bittbriefe siehe z. B. Luthers Brief an Albrecht von Mainz vom 21. 7.1525: „E. K. F. G. wollte ansehen, daß diese Aufruhr nicht durch menschliche Hand oder Rat, sondern aus Gottes Gnaden gestillet, der sich unser aller, und zuvor der Oberkeit erbarmet hat, und wiederum auch gnadiglich und barmherziglich handeln mit den armen Leuten. [. . .] Denn Gott hat bald ein anders zugericht, daß ohn Barmherzigkeit umbkommen, die nicht Barmherzigkeit erzeigen.“ WA.B 3, S. 547,12–15; S. 548,22–24 (Nr. 905). 9 BCor 6, S.102,11–13 (Nr. 459).Vgl. ebd., S.118,3–13 (Nr. 463, an Zwingli, 13. 9.1531). In demselben Brief hat Bucer kurz davor von den Versuchen der Grafen Wilhelm von Nassau und Wilhelm von Neuenahr berichtet, die Evangelischen bei dem Bundestag zu Schmalkalden zu spalten.
Gottes Nähe und Gottes Allmacht in den Briefen Martin Luthers und Martin Bucers
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dinand bedrohen, der in der nördlichen Hälfte des Reichs die Regierung führte, und der gegen Süden gewandte Schweif den Spanier Karl V.10 Verbunden mit den Nachrichten, die sie weitergeben, teilen also Luther und Bucer ihren Briefpartnern ihre Sicht der Geschichte und der Welt mit: eine Geschichte, in der Gott sich offenbart und wirkt. In diesen Briefen erwarten oder erhoffen die Reformatoren Gottes Wirken; sie betonen seine Herrschaft, auch wenn die Nachrichten, die sie mitteilen, dagegen zu plädieren scheinen. Auch wenn die Reformatoren in diesen informativen Briefen nicht allzu häufig vom „Deus omnipotens“11 reden, ist der Gedanke an seine Allmacht immer da.12 I.1. Gottes Allmacht Dass es Gott ist, der die Geschichte lenkt, zeigt beispielsweise die Art und Weise, wie Luther die Nachrichten mitteilt: „Newe Zeitung wissen wir nichts, on das Gott ein sonderlich werck gethan hat mit Hertzog Georgen tod.“13 Auch der Sieg des Kaisers in Pavia (1525),14 die Flucht der Türken vor Wien (1529)15 oder die Siege der Evangelischen über Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (154216 und 154517) sind für ihn klare Beweise der Allmacht Gottes18. Bei manchen Er10 „Cometa mihi cogitationes facit, tam Caesari, quam Ferdinando impendere mala, eo quod primo caudam torsit ad aquilonem, deinde ad meridiem mutavit, quasi utrinque fratres significans.“ WA.B 6, S. 204,24–27 (Nr.1872, 10.10.1531).Vgl. Julius Rauscher: Der Halleysche Komet im Jahre 1531 und die Reformatoren. Eine historische Studie, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 32 (1911), S. 259–276. 11 Siehe z. B. WA.B 9, S. 358,6–10 (Nr. 3592, an Melanchthon in Regensburg, 4. April 1541): „Video, eos putare, causam hanc esse quandam Comoediam inter homines, cum res declaret, esse Tragoediam inter Deum et Sathanam, ubi res Sathanae florent, Dei autem sordent. Sed Catastrophe erit, ut solet ab initio, et liberabit nos quoque ipse poëta huius Tragoediae omnipotens.“ 12 Vgl. im Gegensatz dazu den Brief an den Grafen Franz Reway, in dem Luther die zwinglianischen Zweifel seines Adressaten gegen die Realpräsenz Christi im Abendmahl bekämpft: „An omnipotenti Deo difficile est, quod nobis incredibile videtur?“ WA.B 8, S. 260,13–14 (Nr. 3246, 4. 8.1538). Auch in seinen religionspolitischen Ratschlägen redet Luther von dem „allmechtigen Gott“: siehe z. B.WA.B 8, S. 35,3 (Nr. 3134, 8. oder 9. 2.1537); WA.B 10, S. 333,31 (Nr. 3733, an Johann Friedrich und Moritz von Sachsen, 7. 4.1542). 13 WA.B 8, S. 465, 11–12 (Nr. 3350, am 23. 6.1539). 14 WA.B 3, S. 453,18–20: „Vnum placet, frustratum esse Antichristi conatum, qui in rege Galliae coeperat niti, vt ostendat Deus, se & huius tyranni animarum omnia consilia velle irrita facere, & ad finem sui perducere.“ (Nr. 840, an Georg Spalatin, 11. 3.1525). 15 Vgl. Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S.154, Anm. 244. 16 WA.B 10, S.124,2–8 (Nr. 3779, an Johann Friedrich von Sachsen, 19. 8.1542): „Wir haben am vergangen Montags alhie E. kf. G. schrifft von frolichen newen zeitungen empfangen, die so gros sind, das yderman, wie E. kf. G. selbs auch zeugen, mus sagen und auch sagt, wie der psalter offt singet: ‚Das hat Gott gethan.‘ Der hat solchen bosen teuffel durch seinen finger (der dem Gottlosen das gewissen ruret) ausgetrieben, doch dazu gebraucht unser fleischlich schwach gezeug und rüstung.“ Ebenso WA.B 10, S.136,22–23 (Nr. 3784): „Summa, Deus est in hac re totus factor, seu (ut dicitur) Fac totum. Non sunt humana, quae geruntur hodie [. . .].“ 17 Vgl.WA.B 11, S. 207,3–5 (Nr. 4164, an Justus Jonas in Halle, 26.10.1545): „Quam laetam et divinam nobis Deus, precum auditor, dedit victoriam! O credamus, et oremus! Verax est, qui promittit.“ Vgl.WA.B 11, S. 261, 22–23 (Nr. 4187, an König Christian III. von Dänemark, 14.1.1546). 18 Über die unzähligen Ereignisse, die Luther dem Wirken Gottes zuschreibt, vgl. Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S.156.
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eignissen betont der Reformator sogar, dass Gott unmittelbar wirke. In solchen Fällen schreibt er über die „miracula Dei“.19 Der allwirksame Gott wird zum alleinwirksamen. Bucer berichtet seinerseits von der Macht Gottes, der in den zwanziger Jahren die Seinen nicht nur gegen die wütenden Papisten, sondern auch gegen den Hass der Lutheraner schütze.20 In manchen Briefen fügt Bucer hinzu, dass Gottes Herrschaft nur den Gläubigen wahrnehmbar sei: „Deus viuus est, in quo ‚viuimus, mouemur et sumus‘ omnes [Apg. 17,28]. Interim autem regnat Satan in ijs, qui non credunt, habetque illos pro sua libidine sibi obnoxios.“21 I.2. Der Kampf durch das Gebet22 I.2.1. „Satan regnat . . .“ Luther und Bucer wollen ihre Adressaten nicht nur von der Allwirksamkeit Gottes überzeugen; sie wollen auch, dass ihre Briefpartner durch das Gebet an dem Kampf gegen Satan teilnehmen. „Verbum et oratio pugnabunt“, schreibt Luther am 18. April 1530.23 „Der Sathan schlefft nicht: Gott helff vns, das wir seynen tücken begegnen kundenn!“ äußert sich Bucer am 5. Februar 1531 am Ende eines Briefes an Philipp von Hessen, in dem er von seinen Bemühungen und von den großen Schwierigkeiten, eine Konkordie in der Abendmahlsfrage zu erlangen, geschrieben hat.24 Selbstverständlich wird Gott – so die Reformatoren – seine Widersacher besiegen; dennoch will er die Mitarbeit der Gläubigen durch das Gebet.25 Deswe19 Vgl.WA.B 10, S.138,15–17.18–19 (Nr. 3786, an Georg Spalatin, 29. 8.1542): „Recte scribis Miracula Dei esse, quae geruntur contra Heintz Mordbrenner. Magna videmus oculis nostris & audimus auribus nostris [. . .]. Deus det, vt humiliter sapiamus, Et Victoriam Deo ipsi (sicuti vere est) asscribamus cum laude & metuamus eius Iuditia.“ Siehe auch Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S.154. 20 Vgl. z. B. BCor 2, S.124,1–3 (Nr.131, an Zwingli, 9. 7.1526, nachdem Bucer von der Vorrede Luthers zur Schwäbischen Syngramma geschrieben hat.): „Non est satis a papistis persecutionis: nostros pares et symmistas simul in nos furere oportet. Gratia Deo, nihil noui accidit. Dominus potens est contra utrosque tueri.“ Vgl. auch Arnold: Göttliche Geschichte und menschliche Geschichte (wie Anm. 2), S.11–12. 21 BCor 4, S. 270,1–3 (Nr. 338, an Zwingli, 9. 9.1530). Vgl. den Brief Luthers vom 19. Juni [?] 1530 an Konrad Cordatus, WA.B 5, S. 381,15–16 (Nr.1596): „Christus vivit et regnat, quantumvis ignotus impiis, nobis tamen notus et certus ‚rex regum et dominus dominantium‘ [Offenbarung 19,16].“ 22 Vgl. Arnold: Göttliche Geschichte und menschliche Geschichte (wie Anm. 2), S.16–22; Ders.: Invitation et initiation à la prière dans les lettres de Luther, in: Revue de l’histoire des religions 217 (2000), S. 345–361. 23 WA.B 5, S. 278,26–27 (Nr.1547, an Nikolaus Hausmann, 18. 4.1530). 24 BCor 5, S. 243,16–17 (Nr. 385). 25 Siehe Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S.183–197. – Beten, d. h. alles Gott überlassen, bedeutet gerade, auch für Martin Bucer, dass die Lösung nur in Gottes Händen steht: „Salua siquidem perstare nequit, nisi ope Dei; hanc ergo debet sedulo inuocare et sola niti.“ BCor 4, S.185,3– 4 (Nr. 322, an die Straßburger Prediger, 8. 8.1530).
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gen ist das Gebet ein fester Bestandteil der Briefe Luthers und Bucers an ihre Verwandten und Freunde.26 Oft wählen Bucer und Luther den indirekten Stil; manchmal aber unterbrechen die Briefschreiber die Nachrichten, die sie weitergeben, um Gott direkt anzusprechen.27 „O dedecus, o scandalum, o perfidiam, o Heluetios! Sed laus et decus tibi, o Christe, qui sic ostendis te esse omnia, te vnum suspiciendum! [. . .] Christus potest omnia“, schreibt Bucer in einem Brief an Ambrosius Blarer, in dem er auf die Nachricht reagiert, dass Zürich das Christliche Burgrecht mit Konstanz aufgekündigt hat.28 In einem eindrucksvollen Brief vom 8. April 1540 an Philipp Melanchthon betont Luther die Macht des Gebets: „Was auch immer geschieht, es wird durch das Gebet geschehen oder offenbar werden, wer der alleinige allmächtige Herrscher in menschlichen Angelegenheiten ist. Alles werden wir durch das Gebet bewirken: Wir lenken unsere Vorsätze, berichtigen Irrtümer, ertragen Dinge, die nicht mehr zurecht gerückt werden können, besiegen alle Übel, bewahren alles Gute, so wie wir es bisher gemacht und wie wir die Kraft des Gebets erfahren haben, von der die Papisten nichts wissen [. . .].“ 29
Fünf Jahre später, am 11. Mai 1545, nachdem Luther dem Kurfürsten Johann Friedrich unerfreuliche Nachrichten aus Berlin (und über Agricola?) mitgeteilt hat, fährt er fort: „[. . .] Gott ist allmechtig, an den wir gleuben vnd Ihn anruffen, on Zweifl auch mechtig vber vnser feinde alle vnd sich bisher veterlich gegen vns beweiset vnd fort an beweisen wir[d], wo wir bleiben ym glauben vnd [gebet].“30 * Die Bitten Luthers und Bucers bleiben aber oft allgemein, weil die Reformatoren Gott nicht vorzuschreiben wagen, wie er sie erhören solle. In jedem Falle 26 In seiner wertvollen Studie ‚Frömmigkeit und Theologie bei Philipp Melanchthon. Das Gebet im Leben und in der Lehre des Reformators‘, Tübingen 1998 (= Beiträge zur historischen Theologie 102), bes. S. 91–207, hat Martin H. Jung dasselbe für Melanchthon festgestellt; er findet „etwa 5500 Gebete“ in den von Melanchthon selbst geschriebenen Briefen („etwa 7000“, S. 95). Da der Autor aber den Briefwechsel Luthers nicht so ausführlich und so gründlich kennt wie denjenigen Melanchthons, gelangt er zu folgendem Ergebnis, das durch die Quellen nicht bestätigt wird: „Eigentliche Gebete sind [bei Luther] jedoch selten [!], meistens kurz und ziemlich formelhaft und haben im Briefganzen keine mit Melanchthons Gebeten vergleichbare Stellung.“ (S.110). S.155f. schreibt Jung aber zu Recht, daß Melanchthons Gebete insgesamt formelhafter sind als Luthers oder Calvins Gebete. – Vgl. auch Martin Greschat: Philipp Melanchthon. Theologe, Pädagoge und Humanist, Gütersloh 2010, S. 91: „Doch sollte man bedenken, dass [. . .] auch bei Melanchthon die Überzeugung stand, dass sich Gottes Wirken ebenso wie in der Geschichte in den Vorgängen des Universums manifestierte.“ 27 Für Melanchthonn vgl. Jung: Frömmigkeit (wie Anm. 26), S.105. 28 BCor 7, S. 73,3–S. 74,1–2.5 (Nr. 515, 29.11.1531). 29 „Quicquid autem fit, fiet aut continget oratione, quae est sola omnipotens imperatrix in rebus humanis; omnia per hanc efficiemus, gubernabimus constituta, corrigemus errata, tolerabimus incorrigibilia, vincemus omnia mala, seruabimus omnia bona, sicut hactenus fecimus et experti sumus vim orationis, de qua nihil sciunt Papistae [. . .].“ WA.B 9, S. 89,12–17 (Nr. 3461, an Melanchthon, 8. 4.1540); deutsche Übersetzung: Jung: Frömmigkeit (wie Anm. 26), S.173. 30 WA.B 11, S. 98, 6–9 (Nr. 4109).
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bleibt Gott der Herr der Geschichte.31 Es ist bemerkenswert, wie oft Bucer in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Gott um seine Hilfe nicht nur gegen die Altgläubigen, sondern auch gegen die Täufer – die sich zahlreich in Straßburg niedergelassen hatten – bittet: „Dominus nos liberet ab absurdis istis hominibus!“32 Für Luther ist der Sieg über Heinrich von Braunschweig-Wolffenbüttel ein klares Zeichen des machtvollen Eingreifens Gottes und zugleich der Erhörung seiner Gebete: „Quam laetam et divinam nobis Deus, precum auditor, dedit victoriam! O credamus, et oremus! Verax est, qui promittit.“33 Ab und zu sind die Reformatoren jedoch der Meinung, dass der zornige Gott die Gebete der Menschen nicht mehr erhören wird, oder, besser gesagt: Gott wird handeln, wie er will, die Zukunft gehört ihm; aber die Seinen wird er nicht fallen lassen.Auch wenn er nur seinen Zorn zeigt, hat er sich von den Seinen nicht entfernt. So schreibt Bucer nach der Niederlage der Evangelischen im Zweiten Kappeler Krieg an Margarete Blarer: „Gott wurdt vnd kann vnß nit lossen, liessen wir yn nit.“34 Zwei Wochen später fordert er seine Adressatin nachdrücklich zum Gebet auf: „Nun ist es bettens zyt [. . .]. Ey, gon hymel, gon hymel gilt es nu sehen. [. . .] Wolan Herr, nit vnß, sonder dynem namen gib die eer [Ps 115, 1]! Loß die heyden nit ymer sagen: ‚Wo ist yr Gott?‘ [ Joel 2,17]“35 Am Ende des Augsburger Reichstages, unter dem Eindruck der Drohungen Karl V., war Bucer sogar der Meinung gewesen, dass die Evangelischen desto näher bei Gott sein würden, je mehr die Welt sie verfolge36. Diese Sicht teilte er seinen Mitbürgern in Straßburg Jakob Sturm und Matthis Pfarrer mit. I.2.2. Der zornige und strafende Gott: Gebet und Buße Die Ermahnung zum Gebet wird oft mit dem Aufruf zur Bekehrung bzw. zur Buße verbunden. Nach Zwinglis Tod, der für Luther sein Urteil bestätigte, Zwingli und seine Anhänger hätten den Geist Müntzers, teilt Bucer seinem Freund Ambrosius Blarer dennoch seine Hoffnung auf den Beistand des Herrn mit: „Consolemur nos in Christo Domino, qui vtique caussam hanc non deseret, etsi voluerit nos nonnihil modestiores reddere.“37 Einen Monat später schreibt er sogar an Anna Zwingli: „Der Herr 31 „Es gerate, wie Gott wil, derselbige ist autor pacis & arbiter belli.“ WA.B 5, S. 634,12 (Nr.1726, an Lazarus Spengler, 28. 9.1530.) Siehe im selben Sinne WA.B 5, S. 629,38–40 (Nr.1722, an Justus Jonas, 20. 9.1530): „[. . .] autor pacis et arbiter bellorum“. 32 BCor 3, S. 84,18–19 (Nr.166; an [Wilhelm Farel], 26. 9. [1527]). Vgl. BCor III, S.107,9–10: „Catabaptistae nostri omnes iusiurandum nunc admittunt, vt haerere possint et plus nocere. Dominus, cum suae gloriae profuerit, compescet illos.“ (Nr.177, an Ambrosius Blarer, 8. Februar [1528]). Siehe auch BCor 3, S. 201,18–19.21–23 (Nr. 205, an Ambrosius Blarer, 13. 9.1528). 33 WA.B 11, S. 207,3–5 (Nr. 4164, 26.10.1545). 34 BCor 7, S. 25,8–9 (Nr. 505, 13.11.1531). 35 BCor 7, S. 55,3.6.9–10 (Nr. 511, zwischen dem 24. und dem 29.11.1531). 36 „Dominus vobis in illa angustia adsit gloriaque sua digne agere omnia donet. Ipse est vita et felicitas, extra eum nihil nisi mors et perditio est. Quo itaque peius nos mundus propter illum accipit, eo ut ipsi erimus conjunctiores, ita euademus quoque feliciores.“ BCor 5, S.10, 1–5 (Nr. 342, am 30. 9.1530). 37 BCor 6, S. 234,5–7 (Nr. 493, 23.10.1531).Vgl. auch den Anfang des Briefes, ebd., S. 230,1–3: „Agamus igitur modestius et cautius. Nouerunt mei, quam mihi semper timui ab istis callidis consilijs; sed quia succedebant, cogitabam: variae sunt viae Domini [Jes. 55, 8f.].“
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hatt vnß gestraffet, vnd wyr habens fil zu wol verdienet; vnseren allerliebsten herren vnd bruder hat er ruw [= ruhe], vnß zur besserung vrsach geben wöllen.“38 Die Ermahnung zu ernster Buße wird sehr dringend auch im Kontext der Türkengefahr ausgedrückt: Luther: „Tu fac, vt Tui duri, increduli & pertinaces Cygnei serio credant, metuant, trepident a facie istius virgae & irae Dei. Non erit iocus, Sed finalis furor Dei, in quo simul mundus finietur, & Christus veniet hunc Gog & Magog destructurus suosque liberaturus.“39 Bucer: „Orationibus impetranda miranda sunt, si salva Germania consistere debeat. Budam obsideri dicunt; regem ‚rerum suarum‘ efflictim ‚satagere‘ [Terenz, Heautontimoroumenos 225]. Dominus respiciat nos [. . .].“40
Auch durch die „monstra“ und die „portenta“ redet Gott zu den Menschen. Dass Bucer und Luther die Zeichen am Himmel und andere „Wunder“ als Warnungen Gottes deuten, ist nicht ganz außergewöhnlich;41 auch dem Zusammenhang der „monstra“ mit dem Jüngsten Tag begegnet man oft.42 Dass diese Warnungen – und die Nähe der Strafe (die Rute Gottes) – etwas mit der Verachtung des Evangeliums (Luther43) oder mit der Uneinigkeit der Evangelischen (Bucer44) zu tun haben, charakterisiert jedoch die Deutung beider Reformatoren. I.2.3. Der Gott, der sich nähert und dessen Ankunft erwünscht wird: Gebet und Eschatologie Die Ereignisse, die Bucer und Luther erleben oder von denen sie Nachrichten bekommen und weitergeben, bezeugen, dass Gott in der Geschichte wirkt, sei es auch sub contrario: Oft ist seine Herrschaft nur im Glauben wahrnehmbar, wie wir es gesehen haben. Deshalb bitten beide Reformatoren Gott um sein Kommen in Herrlichkeit: sie hoffen bzw. beten, dass der Jüngste Tag komme, damit alle sehen, dass Gott der Herr ist. Schon zu Beginn des Jahres 1523, zur Zeit seiner Tätigkeit in Weißenburg, schreibt Bucer, nachdem er sich über die schwierige Lage der Evangelischen beklagt hat, die man wegen der zahlreichen Radikalen, die sich als Anhänger der Reformation verstehen, für Aufrührer hält: „Utinam me eripiat [Dominus] ex hoc mundo nequam: neque enim spero meliora tempora, nisi dies Domini antevenerit.“45 Einige Monate später interpretiert Bucer in einem Brief an Zwingli den Widerstand, den man in Straßburg seiner Predigt entgegensetzt, erneut in escha38
BCor 7, S. 69,7–9 (Nr. 514, 28.11.1531). WA.B 5, S.166,11–14 (Nr.1484, an Nikolaus Hausmann, 26.10.1529). 40 Philipp Melanchthon: Briefwechsel [= MBW] T10, S. 88,53–56 (Nr. 2643a, Bucer an Melanchthon, 16. 3.1541). 41 Vgl. Jean Céard: La Nature et les Prodiges. L’insolite au XVIe siècle en France, Genf 1977. 42 WA.B 5, S. 692,7–9 (Nr.1757, Brief an Wenzeslaus Link, 1.12.1530). 43 WA.B 8, S. 567,34–35 (Nr. 3393, Brief an Herzog Albrecht von Preußen, 13.10.1539). 44 Vgl. Arnold: Göttliche Geschichte (wie Anm. 2), S. 20–21 und 28–29. 45 BCor 1, S.189,26–S.190,27 (Nr. 43, 19.1.1523). Vgl. schon BCor 1, S.170,17–18: [über die Fortschritte des „Evangeliums“ in der Oberpfalz] „[. . .] ut spes sit fore propediem, ut spiritu oris sui Christus interficiat Antichristum“ (Nr. 37, 27. 8.1521). 39
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tologischen Kategorien: die Machenschaften des Antichrists seien ein Zeichen, dass der Herr bald kommen werde.46 Später klingen erneut solche Töne an.47 Bei Luther haben solche eschatologischen Gebete oft etwas mit der Bedrohung Deutschlands durch die Türken48 oder mit den Bündnissen zwischen den Osmanen und christlichen Fürsten zu tun: „Veni, Domine Ihesu, Veni, Audi gemitus Ecclesiae tuae! Accelera aduentum tuum, Venerunt Mala ad summum.“49 „Was der Turck macht, wissen wir nicht. Gott der allmechtig helffe, das es gut werde.Welchs nicht wol geschehen kan, der jungste tag kome denn balde, Amen.“50
Die Briefe des „alten Bucer“ sind uns noch nicht zugänglich. Es wäre interessant zu wissen, ob auch bei ihm die Eschatologie in den späten Briefen zunimmt – wie es beispielsweise in seinen Schriften zur Zeit der Niederlage der Evangelischen 1547 und des Interims 1548 der Fall ist – und ob er auch dort von einem Gott schreibt, der die Evangelischen „für deren Undank angesichts der geoffenbarten Wahrheit, für den mangelnden Glauben und insbesondere die fehlenden Früchte eines neuen, besseren Lebens“51 straft. Schon 1531, nach der zweiten Niederlage der Evangelischen am Berg Gubel, die nach seiner Überzeugung durch ihre Sünden verschuldet ist, ermahnt er Ambrosius Blaurer: „Committamus nos omnia Domino et dum multi adeo frigent, nos cum ijs, quos accendere licet, hoc ardentius Deum veniam oremus.“52
II. Der ‚nahe Gott‘ der Trostbriefe53 In seinen Trostbriefen unterscheidet sich Luther von dem „mittelalterlich-humanistischen Verständnis der Consolatio als eines Appells an die ratio“, wie es Ute Mennecke-Haustein treffend ausgedrückt hat, indem er die tröstende Erfahrung 46 „Quod cum passim nunc admodum strenue praedicetur, nihil non, sed frustra omnia Antichristo contra moliente, tum reliqua signa adventus Domini quoque crebriora quam unquam videamus, indubia spes est, paulo post spiritu oris sui Christum adversarium confecturum, mox illustratione aduentus sui penitus quoque aboliturum [2 Thes. 2, 8]. Amen. Hac spe solabimur nos, quibusvis nos modis volet Dominus exercere [. . .].“ BCor 1, S.197, 88–95 (Nr. 45, 9. 6.1523). 47 Vgl. z. B. BCor 3, S. 202,44–47 (Nr. 205, an Ambrosius Blarer, 13. 9.1528): „En quam laeta tibi scribam! Sed scis ita solere Dominum nos iactare sursum ac deorsum, cumque te maioribus malis obfirmaueris, nihil ista te mouebunt, quam vt Dominus tanto ardentius pro regni sui illustratione ores.“ 48 „Oremus Christum, ut finem faciat istis monstris et veniat cum gloria et maiestate nos erupturus ex his motibus.“ WA.B 5, S. 696,25–27 (Nr.1760, an Johannes Heß, 5.12.1530). 49 WA.B 10, S. 467,47–49 (Nr. 3947, an Justus Jonas, 16.12.1543). 50 WA.B 11, 70,8–10 (Nr. 4090, an König Christian III. von Dänemark, 14. 4.1545).Vgl. Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S.111–112. 51 Martin Greschat: Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491–1551), 2. Aufl., Münster 2009 (1. Aufl., München 1990), S. 238. 52 BCor 8, S. 35,7–9 (Nr. 506, 14.11.1531). 53 Vgl. Ute Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1989 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 56); Arnold: La correspondance de Luther (wie Anm. 5), S. 515–590; Ebeling: Luthers Seelsorge (wie Anm. 6), Tübingen 1997.
Gottes Nähe und Gottes Allmacht in den Briefen Martin Luthers und Martin Bucers
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hauptsächlich als „Erfahrung [. . .] der Nähe Gottes in Christus, die den Menschen fröhlich macht und ihn deshalb zu trösten vermag“,54 versteht. Durch verschiedene rhetorische Mittel bezeugt Luther diese Nähe Gottes. In seinem Brief an seine Mutter Margarete lässt er Jesus Christus zu Wort kommen, indem er die rhetorische Figur der „prosopopée“ verwendet: Er gebraucht den Vers Joh. 16,33: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden . . .“ wie eine ermutigende Melodie, um die Stimme der Furcht zu vertreiben.55 Achtmal zitiert er diesen Vers, den er bereits in seinem ‚Sermon von der Bereitung zum Sterben‘ zitiert hatte, auf verschiedene Weise in seinem Brief.56 Den Angefochtenen, die sich mit dem Gedanken der Prädestination quälen, schreibt er, dass Gott sub contrario am Werk ist: die Anfechtung bedeutet nicht, dass er ihnen fern und zornig gesinnt wäre. Ganz im Gegenteil: die Anfechtung ist ein gutes, sicheres Zeichen dafür, dass Gott ihnen gnädig gesinnt ist. Die Verzweifelten sollen sich dessen gewiß sein, dass sie nur von der gnädigen Erlösungstat Christi abhängig sind.57 „Er ist allmächtig, an den wir glauben“, schließt Luther seinen Trostbrief an die kranke Margarete von Anhalt, nachdem er die Botschaft des Apostels Paulus: „Ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn, niemand lebt für sich selbst, niemand stirbt für sich selbst, sondern allein fúr den, der für uns alle gestorben ist [Röm. 14,7f.]“ entfaltet hat: „Also sollen sich E[uer] f[ürstliche] G[naden] auch getrost ergeben, es sei zum Leben, Kränken oder Sterben, und nicht zweifeln, dass E.f. G. nicht ihr selbs solches widerfährt, sondern dem, der E.f. G. sampt uns durch sein Blut und Tod erworben hat, an den wir auch gläuben, und in solchem Glauben nicht sterben, ob wir gleich sterben, sondern leben, auch nicht kränken, ob wir gleich kränken, sondern gesund sind in Christo, in welchem es alles gesund, frisch, lebendig und selig ist, das uns dunkt nach dem Fleisch krank, siech, tot und verloren sein.“58 Seinen langen Brief an Barbara Lißkirchen, die unter der Prädestinationsanfechtung leidet, schließt Luther mit einem Gebet, das zugleich eine Anspielung auf die Geschichte vom ungläubigen Thomas ( Joh. 20,27) ist: „Vnser lieber Jhesus Christus zeige euch seine fusse vnd hende vnd grusse euch freundlich ym hertzen, auff das yhr allein ansehet vnd horet, bis yhr frolich ynn yhm werdet.“59 Luther ist sich dessen gewiss, dass die brieflichen Trostgründe, die er seiner Adressatin mitgeteilt hat, nicht genügen, auch wenn er von der Nähe und der Liebe 54
Mennecke-Haustein: ebd., S. 271. Vgl. Mennecke-Haustein: ebd., S. 51; Matthieu Arnold: ‚Prenez courage, j’ai vaincu le monde.‘ l’emploi de Jn 16,33 dans les lettres de Luther, in: Positions luthériennes 40 (1992), S.121– 147, hier 130–132. 56 Vgl.WA 2, S. 689,22–23. 57 Vgl. Matthieu Arnold: ‚Moi, ton Dieu, j’ai souci de toi.‘ Deux lettres de Martin Luther (1531 et 1546), in: Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses 90 (2010), S. 5–17. „Ziel des Trosts kann es [. . .] in einem solchen Fall nur sein, dem Angefochtenen Wege zu einer möglichst großen Heilsgewißheit zu weisen.“ Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe (wie Anm. 53), S.196. 58 WA.B 8, S.190,34.16–18.27–33 (Nr. 3211, 9.1.1538). 59 WA.B 12, S.136,72–75 (Nr. 4244a, 30. 4.1531). 55
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Matthieu Arnold
Gottes geschrieben hat: erst der Auferstandene wird „durch seine anfaßbare Nähe und Realität alle Zweifel [Barbaras] beseitigen“60 können. Bucers Trostbriefe sind leider nicht so zahlreich. Im fünften Band seines Briefwechsels findet sich jedoch ein langer, undatierter Brief an einen „confessor Christi“.61 Die Herausgeber identifizieren ihn mit Antoine Saunier: 1528 wurde er in Paris verhaftet, weil er Briefe besaß, die an Guillaume Farel gerichtet waren.62 Bucer versucht, Saunier mit folgendem Gedanken zu trösten: Auch wenn er Gottes Anwesenheit nicht mit seinen Sinnen spüren kann, heißt das nicht, dass Gott sich von ihm entfernt hat, ganz im Gegenteil.63 Bucer gebraucht hier ein typisch lutherisches Motiv: Gottes Wirken sub contrario. Gegen Ende seines Briefes versichert Bucer, dass Gott mächtiger (potentior) ist als die Mächtigen, die sich gegen ihn verschworen haben.64
Schluss In zahlreichen Veröffentlichungen hat Berndt Hamm darauf hingewiesen, dass man sich sowohl in der Frömmigkeit als auch in der Theologie des Späten Mittelalters Gott einerseits als allmächtig, als fern und bedrohend vorstellte, andererseits als den nahen Gott, der sich in Christus offenbart und für die Menschheit gelitten hat.65 Die Briefe der Reformatoren teilen uns das Bild eines Gottes mit, der zugleich Herr der Geschichte und des Lebens jedes einzelnen Gläubigen ist. Diesem Gott begegnet man nicht nur im Gottesdienst oder in den üblichen Übungen und Zeremonien der Frömmigkeit: zu jeder Stunde des alltäglichen Lebens ist er da. Mei60
Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe (wie Anm. 52), S. 205. Konrad Hubert, Bucers Sekretär, hat darauf geschrieben: „a[li]quendam N. incarceratum propter Euangelij confessionem lectu dignissima“. Der Brief trägt keine Anschrift. – Vgl. Matthieu Arnold: Ein Trostbrief Martin Bucers an einen Gefangenen. Beobachtungen anhand eines Vergleichs mit den Trostbriefen Luthers und Calvins, in: Gudrun Litz/Heidrun Munzert/Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, Leiden/Boston 2005 (= Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 373–384. 62 Vgl. Aimé-Louis Herminjard (Hg.): Correspondance des Réformateurs dans les pays de langue française, Bd. 2: 1527–1532, Genf/Paris 1868, S. 329–330 (Nr. 336). 63 „Neque enim vel abest vel non fouet nos, vbi nonnunquam sensum sui subducit, vt nimirum videamus, quantus ille quamque nobis omnia sit, sine quo adeo nihil nos vel esse vel posse tecum experimur. Certe non potest prodere hosti, quos ipse in aciem producit; quo igitur plus adire facit periculi, hoc etiam plus Spiritus sui virtutisque supremae largitur, quam tum sentire nos facit, cum id fuerit e re nostra.“ BCor 5, S.107, 21–26 (Nr. 362, Mitte/Ende Dezember 1530). 64 „Conspirant cum illo [Carolus] plerique Germaniae proceres, potissimum episcopi. Dominus tamen his omnibus potentior faciet, quod non illi, sed ipse statuit.“ Ebd., S.108, 27–S.109,1. 65 Vgl. zuletzt Berndt Hamm: Der Weg zum Himmel und die nahe Gnade. Neue Formen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit am Beispiel Ulms und des Mediums Einblattdruck, in: Ulrike Hascher-Burger/August den Hollander/Wim Janse (Hg.): Between Lay Piety and Academic Theology. Studies Presented to Christoph Burger on the Occasion of his 65th Birthday, Leiden – Boston 2010 (= Brill’s Series in Church History 46), S. 453–496. 61
Gottes Nähe und Gottes Allmacht in den Briefen Martin Luthers und Martin Bucers
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nes Erachtens liegt darin ein innovativer Zug der reformatorischen Theologie und Weltanschauung. Der barmherzige und nahe Gott, der sich in Christus offenbart, ist zugleich der Gott, der auf Satans Wüten reagieren muss, weil die Botschaft des Evangeliums den Widerstand des Antichrist erweckt hat. Durch ihre Briefe haben die Reformatoren zur Verbreitung einer Gewissheit beigetragen, die folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Im Kampf zwischen Gott und Satan stehen die Glaubenden auf Gottes Seite; für ihr Heil brauchen sie nichts zu tun (sie sind aus reiner Gnade erlöst worden), aber durch das Gebet können sie zu Mitarbeitern Gottes werden in seinem Kampf gegen die „Welt“ und den Teufel. Den Gebeten und den Hinweisen auf Gott, die wir bei Bucer und Luther finden, begegnet man heutzutage in Briefwechseln von Gelehrten kaum noch. Theologen sind da keine Ausnahme. Nur in Briefen von Evangelikalen klingen solche Töne an. Diskret erwähnen Theologen natürlich die Anwesenheit Gottes sub contrario in Trostbriefen, aber die Geschichte betrachten sie nicht so eindeutig, wie es die Reformatoren getan haben. Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Geschichte nicht eindeutig ist. Die jüngste Geschichte hat gelehrt, wie gefährlich es ist, Gegner mit den Werkzeugen des Satans oder mit Vertretern des Bösen zu identifizieren.66 Man sieht nicht mehr Gottes Hand hinter jedem Ereignis und deutet nicht mehr jede Naturkatastrophe als eine Strafe Gottes, die zur Buße ruft – wohl aber weiß man auch heute noch, dass wir Menschen an manchen Unglücksfällen nicht unschuldig sind. Für die Reformatoren war es klar: Der Herr siegt, und nicht nur in der intimen, privaten Sphäre der Gläubigen; inmitten einer bedrohten Welt siegt er; er hat das letzte Wort in der Geschichte. Gehört diese Botschaft völlig der Vergangenheit an, oder – wenn das nicht der Fall ist – können wir nicht noch heutzutage Worte finden, um unseren Mitmenschen diese frohe und tröstliche Nachricht zu verkündigen?
66 Ich denke nicht nur an die Interpretationen, die nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 entstanden sind und die von einem Kampf des „Guten“ bzw. des „Lichts“ gegen den „Bösen“ bzw. „die Finsternis“ sprachen, sondern auch an die theologischen Deutungen der Geschichte zur Zeit des „Dritten Reiches“: vgl. Matthieu Arnold: La réception du mouvement völkisch chez les protestants ‚intacts‘, in: Revue d’Allemagne 32 (2000), S. 329–346; Berndt Hamm: Hanns Rückert als Schüler Karl Holls. Das Paradigma einer theologischen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann und Harry Oelke (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘, Gütersloh 2002 (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21), S. 273–309; Irene Dingel: Instrumentalisierung von Geschichte. Nationalsozialismus und Lutherinterpretation am Beispiel des Erlanger Kirchenhistorikers Hans Preuß, in: Stefan Ehrenpreis u. a. (Hg.): Wege der Neuzeit. Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag, Berlin 2007 (= Historische Forschungen 85), S. 269–284.
Wolfgang Simon
Reformatorische Modi des Amtes Die Themenstellung birgt einige Untiefen. Einmal ist ja keineswegs ausgemacht, was denn unter „reformatorisch“ zu verstehen sei.1 Dazu kommt, dass der Schlüsselbegriff „Amt“ im Frühneuhochdeutschen keineswegs die heutige Konnotation einer Institution tragen muss, sondern schlicht eine Aufgabe oder Tätigkeit bezeichnen kann.2 Dieser an sich schlichte Umstand zieht aber nun eine Leitunterscheidung ein, welche die Forschungsgeschichte zur reformatorischen Amtstheologie dominierte, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Institution und Individuum.3 Zu dieser Uneindeutigkeit der beiden Zentralbegriffe kommt drittens dann noch die Problematik der Sprachebenen. Wenn Harald Goertz Recht hat, dann ist Luthers berühmte Rede vom „allgemeinen Priestertum“ nämlich durchgängig metaphorisch gemeint.4 Eine Erhellung von Luthers Amtstheologie muss damit breit konnotierte, mehrdeutige Zentralbegriffe nicht nur zueinander, son1 Schon die Fragestellung trägt unweigerlich normative Konnotationen und droht das komplexe Phänomen Reformation auf einen Bruch zu reduzieren, womöglich noch mithilfe einer formelhaften Wesensbestimmung, die nicht selten das Zentrum der eigenen Theologie im 16. Jahrhundert zu finden hofft.Vgl. etwa den ironisch formulierten Titel des Aufsatzes von Volker Leppin: Wie reformatorisch war die Reformation?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S.162–176. 2 Als Äquivalente kommen je nach Kontext in Frage: Aufgabe, Funktion, Tätigkeit, Gottesdienst, Stelle, Position, institutionelle Einrichtung, Institution, Behörde, Herrschafts- und Amtsbereich, Hoheitsrecht, gerichtliche Entscheidung, Kunst und Fähigkeit. Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hg. v. Robert R. Anderson/Ulrich Goebel/Oskar Reichmann, Bd.1 (1989), Sp. 943. Es ist also streng genommen nicht sinnvoll, von „dem“ Amt zu sprechen, so als handle es sich um eine eindeutig bestimmte Größe. 3 Die vor allem seit dem 19. Jahrhundert virulente Fragestellung verengt meines Erachtens die Möglichkeiten der Rede Luthers von „Amt“ in anachronistischer Weise und baut Alternativen auf, die an Luthers Texte erst herangetragen werden. Im Hintergrund steht dann nicht selten das Interesse, Luther als Gewährsmann der eigenen Position im innerkirchlichen Machtdiskurs in Anspruch nehmen zu können. Dabei produziert der Begriff Institution schon aufgrund seiner zentralen Stellung in der nachreformatorischen soziologischen Theoriebildung fast notwendig Anachronismen. Freilich: Wenn der Begriff „Institution“ in der Diskussion um Luthers Amtsverständnis deshalb nicht zur Formulierung einer Leitunterscheidung taugt, so lässt er sich doch auch kaum ersetzen. Ich verwende ihn deshalb nicht theoriespezifisch, sondern in einem sehr weiten, heuristischen Sinne, indem ich mit „Institution“ eine überpersönliche, äußere Struktur kennzeichne, die durch die gelungene Kommunikation von Erwartungen Stabilität gewonnen hat. Weiter scheint mir hier Luthers Rede vom „Geistlichen Stand“ zu führen, vgl. dazu unten S. 245f. 4 Vgl. Harald Goertz: Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997 (= Marburger Theologische Studien 46), insbesondere S. 33–79 und S. 93–178.Vgl. allerdings die Kritik bei Timothy J. Wengert: Priesthood, Pastors, Bishops. Public Ministry for the Reformation and Today, Minneapolis 2008, S.113f. und S.116, sowie bei Walter Sparn: Rezension zu Harald Goertz. Allgemeines Priesertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997, in: Marburger Jahrbuch für Theologie, hg. von Wilfried Härle und Reiner Preul, Bd.17: Menschenwürde, Marburg 2005 (= Marburger theologische Studien 89), S. 211–226.
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dern noch einmal zur Sprachwirklichkeit einer Metapher in Beziehung setzen, woraus schon logisch eine Vielzahl von Möglichkeiten resultiert, die reformatorischen Amtstheologien zu rekonstruieren. Demgegenüber setze ich bescheidener an und spanne ausgehend vom späten Mittelalter einen Bogen vom Ursprungsort reformatorischer Theologie, der Buße, hin zu einigen hoffentlich charakteristischen Äußerungen Luthers, Zwinglis und Calvins zum Amt.
1. Die Spannung zwischen spätmittelalterlichen Amtsvorstellungen Im Mittelalter zählt die Buße zu den Lebensorten, an welchen der Amtsträger den Menschen vornehmlich begegnet: den Sakramenten. Sie gliedert sich für jedermann und -frau erkennbar in die drei Schritte Reue – Beichte und Absolution – Genugtuung. So klar der Weg dieser Stationen war, so umstritten gestaltete sich die Zuordnung der Aktivitäten von Priester und Laie5 auf ihm: Waren Reue und Beichte des Laien nur dieVorbedingung seiner Sündenvergebung, die erst durch den Priester im Absolutionswort gewirkt wurde? Oder bewirkten gerade Reue und Beichte des Laien die Vergebung, und das Absolutionswort des Priesters zeigte diese nur an? Unbeschadet dieser Differenzen waren die Amtsträger durch ihre Weihe von den Nichtgeweihten nicht nur nach außen, sondern auch nach innen unterschieden,6 gab diese Weihe doch in einer Weise an Christi Priestertum Anteil, welche ihre Empfänger bleibend von den Nichtgeweihten abhob. Das Amt ist damit eine äußere Institution, die bis in die innere Gottesbeziehung des Menschen reicht. Im späten Mittelalter polarisierte sich dieses Gegenüber von Amtsträger und Laien:7 Nach der einen Seite lässt sich eine Konzentration auf das persönliche 5 Das Mittelalter kennt durchaus auch die Beichte vor einem Laien; vgl. etwa die wirkmächtigen Ausführungen in den Sentenzen des Petrus Lombardus (lib. IV, dist. 17, cap. 4). Für ihn setzt die Laienbeichte allerdings voraus, dass ein Priester nicht erreichbar war. Auch Thomas von Aquin rät beim Fehlen eines Priesters zur Laienbeichte, qualifiziert diese zugleich aber als defizitär, da Absolution und Auferlegung der Genugtuung unvollkommen seien bzw. fehlten.Vgl. ders.: Summa Theologiae III, Suppl., qu. 9, art. 3, ad 3. 6 Vgl. etwa die Ausführungen Gratians: „Duo sunt genera Christianorum. Est autem genus unum, quod mancipatum diuino offitio, et deditum contemplationi et orationi, ab omni strepitu temporalium cessare conuenit, ut sunt clerici, et Deo deuoti, uidelicet conuersi. Kleros enim grece latine sors. Inde huiusmodi homines uocantur clerici, id est sorte electi. Omnes enim Deus in suos elegit. Hi namque sunt reges, id est se et alios regentes in uirtutibus, et ita in Deo regnum habent. Et hoc designat corona in capite. Hanc coronam habent ab institutione Romanae ecclesiae in signo regni, quod in Christo expectatur. Rasio uero capitis est temporalium omnium depositio. Illi enim uictu et uestitu contenti nullam inter se proprietatem habentes, debent habere omnia communia. [...] Aliud uero est genus Christianorum, ut sunt laici. Laos enim est populus. His licet temporalia possidere, sed non nisi ad usum. Nichil enim miserius est quam propter nummum Deum contempnere. His concessum est uxorem ducere, terram colere, inter uirum et uirum iudicare, causas agere, oblationes super altaria ponere, decimas reddere, et ita saluari poterunt, si uicia tamen benefaciendo euitauerint.“ Decretum Magistri Gratiani II, C.12, qu. 1, c. 7 (= Corpus iuris canonici 1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879 [Nachdruck Graz 1955], S. 678). 7 Diese amts- und bußtheologische Entwicklung hat damit Anteil an einem Trend der Zeit. Zum Bild des späten Mittelalters als Kraftfeld polarer Wechselbeziehungen vgl. jetzt Berndt Hamm: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich/Wolfgang Simon, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54).
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Gottesverhältnis des Gläubigen beobachten, die das äußere Amt abblendet; nach der anderen Seite zeigt sich ein gesteigertes Vertrauen auf die soteriologische Leistungsfähigkeit der äußeren Heilsinstitution Kirche, welche eine Minimalisierung des eigenen Beitrags zum Heil verspricht. Für die erste Entwicklung steht der Priester und Mystiker Johannes Tauler, der das Gewicht ganz auf den inneren Gottesbezug legt. Das äußere Sakrament gilt ihm zwar als Hilfe und Trost Gottes, aber eben nicht um einer ihm eigenen Wirkung willen; das Sakrament steht bei Tauler vielmehr im Dienst der inneren mystischen Erfahrung, die es nur unterstützen soll.8 Deshalb kann ein Christ dann, wenn er die höchste mystische Stufe erreicht hat, auch getrost auf die äußeren Sakramente verzichten, ja er sollte es nach Tauler sogar tun.9 Mit dieser Degradierung des äußeren Sakraments geht dann eine Verinnerlichung des Amtes einher. So predigt Tauler, dass jeder innerlich gute Mensch bei der Einkehr in sein Innerstes nicht weniger als das priesterliche Amt ausführe.10 Auf der anderen Seite des Spektrums steht dann Johannes von Paltz.11 Er hebt die Sündhaftigkeit des Menschen stark hervor und behauptet: Bis auf verschwindend wenige Ausnahmen können die Sünder weder durch eigene Reue den Influx der rechtfertigenden Gnade provozieren noch durch Bußwerke ihre zeitlichen Sündenstrafen jemals abtragen.12 Deshalb richtet Paltz sein Augenmerk auf 8 „Wider die mannigvaltige hindernisse so hert uns der minnecliche Gott gegeben grosse helffe und trost [. . .] und er het uns die heiligen sacramente gegeben, von erst den heiligen tof und den heiligen crisemen, darnoch also wir usvallent, die heilige bihte und die penitencien, darzuo sinen heiligen lichamen und an dem lesten daz heilige oley. Dis sint iemer starcke und grosse sture [= Unterstützungen] und helffe wider in zuo gon in den ursprung und in unsern begin.“ Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschrift, hg. von Ferdinand Vetter, Dublin/Zürich 1968 (= Deutsche Texte des Mittelalters 11), S. 49,29–50,2. 9 „In den zwein ersten greten so wart nie kein ding nutzer zu(o) eime woren lebenden fúrgange wan daz heilige sacrament und daz Gottes wort. Sunder in diseme so hindert alles daz behelffen mag [. . .].“ Tauler: Predigten (wie Anm. 8), S. 315,35–316,3. 10 „So kam denne Got und sprach zu(o) in [Bischof Albrecht]. Kinder, diser oberster priester das ist ein ieklich gu(o)t inwendig mensche der alsus gat in sin inwendikeit und treit mit im das hoch clarificierte blu(o)t unsers herren Jhesu Christi und fúre der andacht und der minne, und werdent alle die gúldine vas mit dsem blu(o)te bestrichen.“ Tauler: Predigten (wie Anm. 8), S.165,31–166,1.Vgl. dazu Thomas Gandlau: Trinität und Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg u. a. 1993 (= Freiburger theologische Studien 155), S.146f.; Volker Leppin: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S.189–204. 11 Zu ihm vgl. Berndt Hamm: Art. Johannes von Paltz, in: Theologische Realenzyklopädie 25 (1995), S. 606–611. Zu Paltz’ Ablasstheologie vgl. ders.: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, Tübingen 1982 (= Beiträge zur historischen Theologie 65), insbesondere S. 84–91 und S. 284–291. 12 „Sunt igitur duplices homines in nova lege salvandi: Quidam sunt vere contriti, et sunt paucissimi. Et nemo scit, an umquam veram habuerit contritionem, quia nemo scit, an odio vel amore sit dignus, Ecclesiastis 9[, 1]. Si iam illi soli essent salvandi in nova lege, qui veram haberent contritionem, cum illa sit paucorum, paucissimi salvarentur, et per consequens ‚evacuaretur crux Christi‘, hoc est nihil iuvaret vel adderet in sacramentis novae legis, in quibus virtus eius operatur, quod est contra doctores.“ Johannes von Paltz: Coelifodina = Johannes von Paltz: Werke 1, hg. von Christoph Burger/Venicio Marcolino, Berlin/NewYork 1983 (= Spätmittelalter und Reformation.Texte und Untersuchungen 2),
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die Garantieleistungen des kirchlichen Heilsangebotes, konkret auf die Sakramente und den Ablass. Dadurch rücken die priesterlichen Amtsträger in eine kaum zu überbietende Vermittlerposition. Paltz preist sie als Schlüsselträger des Himmelreiches, Mittler zwischen Gott und Mensch, ja Götter und Christusse.13 Die Betonung der Sündhaftigkeit des einzelnen führt hier also zu einer Konzentration auf Priesteramt und Kirche als äußere, die Schwäche des Individuums kompensierende Heilsinstitutionen. Aufs Ganze gesehen bewegen sich die spätmittelalterlichen Amtstheologien also in einem weiten Spektrum von Positionen, das von der Entbehrlichkeit priesterlicher Vermittlung auf einer höheren mystischer Stufe des einzelnen Gläubigen bis hin zu einer Apotheose des Amtsträgers reicht. Deutlich wird dabei der Zusammenhang zwischen Buß- und Amtsverständnis. Damit ist auch für die reformatorische Rede vom Amt eine gewisse Varianz zu erwarten, vertraten Luther, Zwingli und Calvin doch ebenfalls recht unterschiedliche Auffassungen von der Buße.
2. Amt und Buße bei Luther, Zwingli und Calvin Für Luther beziehe ich mich auf die Thesenreihe Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones aus dem Jahr 1518.14 Er formuliert dort als 8. und 9. These: „8 Remissio culpe non innititur contritioni peccatoris, nec officio aut potestati sacerdotis, 9 Innititur potius fidei, que est in verbum Christi dicentis: Quodcunque solveris &c.“15 Die Vergebung der Sünden beruht also weder auf der inneren Reue des Sünders noch auf dem äußeren Amt oder der Amtsgewalt des S. 258,4–11. Aufgrund eben dieser Sündenverfallenheit häuft der Mensch fast unumgänglich Fegefeuerstrafen an: „Quamvis enim nullus peccatum habere debeat in intentione, quilibet tamen timere debet ex infirmitate. Et quamvis per gratiam dei quis vivere possit absque mortali peccato, nullus tamen omnino vivere valet sine omni veniali peccato et per consequens nullus est, quin poenam purgatoriam incurrere habeat aut hic aut alibi persolvendam.“ Johannes von Paltz: Supplementum Coelifodina = Johannes von Paltz: Werke 2, hg. von Berndt Hamm, Berlin/New York 1983 (= Spätmittelalter und Reformation.Texte und Untersuchungen 3), S. 38,5–10.Vgl. dazu auch Hamm: Frömmigkeitstheologie (wie Anm.11), S.153f. und S. 284f. 13 „O quid honorificentius hac potestate, quid mirabilius hac dignitate! O ‚genus electorum, regale sacerdotium, gens sancta, populus acquisitionis, ut annuntietis virtutes eius, qui de tenebris vocavit vos in admirabile lumen suum‘. ‚Vos estis‘ scilicet ‚lux mundi‘, ‚vos estis sal terrae‘.Vos estis thesauri gratiarum, vos estis clavigeri regni coelorum, vos estis mediatores inter deum et homines [. . .] Et quid plura addam? Vos ‚estis dii‘ et estis Christi.“ Johannes Paltz: Collatio in synodo 1489, Augsburg Stadtbibliothek Cod. Oct. 106 fol. 87v–95r, Zitat fol. 68v, zitiert nach Hamm: Frömmigkeitstheologie (wie Anm.11), S. 270, Anm. 323. 14 WA 1, S. 629–633. 15 Ebd., S. 631,3–6. Zur Interpretation dieser Thesen vgl. Oswald Bayer: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, 2. Aufl., Darmstadt 1989, S.182–202; Berndt Hamm: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, in: Lutherjahrbuch 65 (1998), S. 39, Anm. 62; ders.: How innovative was the Reformation?, in: Carola Jäggi/Jörn Staecker (Hg.): Archäologie der Reformation. Studien zu den Auswirkungen des Konfessionswechsels auf die materielle Kultur, Berlin/New York 2007 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 104), S. 33, Anm. 25.
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Priesters, sie stützt sich auf den Glauben und das Wort Christi. Damit steht Luther erstens in der Linie einer mystischen Tradition, welche das äußere Amt einem inneren Priestertum unterordnete; Luther geht zweitens aber auch den Weg weiter, den Johannes Paltz beschritt, als dieser angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen die Möglichkeiten einer ekklesiologisch unabhängigen Eigenleistung im Rechtfertigungsgeschehen minimierte; und Luther vollzieht drittens einen Bruch mit beiden Vorstellungen, indem er sowohl dem inneren Gottesverhältnis als auch der äußeren Institution das Externum des glaubenschaffenden Wortes, die Promissio, gegenüberstellt.Wenn sich die Gotteskommunikation aber in dieser promissio – fides – Relation beschreiben lässt, dann muss der Aufgabe, diese Verheißung zuzusprechen, höchste Dignität eignen, ist sie doch mit der Verheißung mitgesetzt.16 Luther kann daher das Handeln Gottes und die Aktivitäten des Amtsträgers im Blick auf ihre Wirkung sogar identifizieren.17 Weil es ihm aber auf das Sprechen selbst und nicht auf eine dem Sprecher eigene Vollmacht ankommt, muss die Institution Amt von vornherein sekundären Charakter haben, muss das Amt dem Wort stets nachgeordnet sein.18 Deshalb kann auch jeder Christ die Absolution erteilen – ob geweiht oder nicht.19 16 Das gilt bereits für die Zeit der Psalmenvorlesung; vgl. etwa Luthers Ausführungen im Scholion zu Ps. 55,9 aus dem Jahr 1513: „Et hoc est Euangelium dei, quod promiserat ante per prophetas: quorum hic unus est dicens: ‚Audiam quid loquatur‘. Et hoc loqui, hanc verbi ostensionem, hanc euangelii editionem egit ministerio Apostolorum et eorum successorum. Quia in illis loquutus est toti mundo.“ WA 4, S. 9,18–27. 17 Damit übergreift Luther auch die Unterscheidung zwischen menschlicher Predigt und Gottes Wirken im Geist.Vgl. dazu ein Zitat aus den Tischreden: „Wir wollen ihnen [sc. den ‚Schwärmern‘] nicht einräumen noch nachgeben diese metaphysische und philosophische Distinction und Unterscheid, so aus der Vernunft gesponnen ist: der Mensch prediget, dräuet, strafet, schrecket und tröstet, der heilige Geist aber wirket; item, der Diener täufet, absolviret und reichet das Abendmahl des Herr Christi, Gott aber reiniget das Herz und vergibet die Sünde. O nein, mit nichten nicht; sondern wir schliessen also: Gott prediget, dräuet, straft, schrecket [. . .] und absolviert selber.“ WA.TR 3, Nr. 3868 vom 10. Mai 1538, S. 669–674, Zitat S. 673,31–36. 18 Daher ist auch für den späten Luther die apostolische Kirche bereits präsent noch bevor von einem institutionalisierten Amt die Rede ist. So behauptet er am 24. Mai 1539 in seiner Predigt über Joh. 14, 23–31 auf der Leipziger Pleißenburg: „Wo zwey oder drey versamlet seyn, es sey gleich auff dem Meere oder in der Tieffe der Erden, wenn sie nur Gottes Wort fuer sich haben, demselben gleuben und trawen, da ist gewißlich die rechte, uhralte und warhafftige Apostolische Kirche.“ WA 47, S. 778,6–12. 19 Luther legt Wert darauf, dass die Binde- und Lösegewalt nicht nur Petrus, sondern „der ganzen Christenheit und einem yglichen yn Sonderheit“ (Ein Sermon von dem Sakrament der Buße [1519], WA 2, S. 723,2) gegeben sei. Da, wo der Gläubige einem Priester beichtet, soll er in ihm gerade nicht den Amtsträger, sondern den Bruder sehen: „Christus ist da, der vatter erhoret, ßo nur tzween alleyn bitten ynn Christus namen vorsamlet, was sie wollen odder durffen. Drumb last unß nur frisch und frolich erwegen auff seyne klare wort, und eyner dem ander beychten, radten, helffen und bitten, was unß ymer an ligt heymlich, es sey sund odder peyn, und yhe nit tzweyffelln an solcher liechter, heller tzusagung gottis, frey und frolich drauff tzum sacrament gehen und sterben, viel sicherer unnd gewisser, denn auffs Bapsts heymlich beycht, die weyll die selbe keynen grund hat, hie ist aber eyn starcker grund. Ja ich sag weytter und warne, das yhe niemand eynem priester alß eynem priester heymlich beycht, ßondernn alß eynem gemeynen bruder unnd Christen. Und das darumb, die weyll die Bepstische beycht keyn grund hatt, das wyr nit auff den sand bawen, ßondern das wyr ynn krafft dißer wortt Christi beychten, wem wir beychten, eß sey ley odder pfaff, und darauff unß kecklich lehnen und trosten, das wenn tzween mitteynander sich ynn seynem namen vorsamlen, das da Christus sey [. . .].“ ders.: Von der Beicht, ob die der Bapst macht habe zu gepieten (1521), WA 8, S.184,19–33.
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Zwinglis Auffassung von der Buße unterscheidet sich von der Luthers. In einer gewissen Kontinuität zu Johannes Tauler reserviert der Zürcher die äußere Beichte für die Glaubensschwachen und verweist die Starken auf ihr inneres Gottesverhältnis: „Hat aber der Christenmensch [. . .] einen sölichen Glouben [. . .], so darff er nit für dich [sc. den Beichtvater] kummen, sunder er gadt täglih in sin Kämerlin [vgl. Mt 6, 6] und redt darin mit Got und klagt im sine Prästen [= Gebrechen, Fehler] und weyßt sicherlich in dem Glouben, daß ein iettlicher, der den Namen Gottes anru(e)fft, daß derselb heil wirt in Christo Jesu, unserem Herren Ro. 10[, 13]. Darumb solt die Bycht fry sin.Welicher blöd [= schwach] im Glouben wär, der solt vom Priester gelert werden; welcher vest ist, der bedarff sin nüt.“20 Der Gottesbezug ist hier innerlich-individuell verfasst und nicht als fides-promissio-Geschehen. Folglich erscheint der Amtsträger in Zwinglis Buße auch nicht als Sprecher der heilswirksamen Promissio, sondern als seelsorgerlicher Ratgeber. Nach Calvin soll der Beichtende sich nicht auf die eigene Reue fixieren, sondern den Blick auf Gottes Barmherzigkeit richten. Weil Gott die Sünden vergibt, ist er auch der erste Adressat der Beichte.21 Im Anschluss unterscheidet Calvin zwischen der inneren, verborgenen Beichte vor Gott und dem darauf erst folgenden äußeren Bekenntnis vor den Menschen.22 Die Gottesunmittelbarkeit ist also die Grundkonstellation der Beichte, erst danach soll der Christ vor Menschen seine Sünden bekennen.23 Innen und Außen sind einander nicht kopräsent im Sinne eines simul zugeordnet, sondern in eine Abfolge gebracht. Anders als Zwingli betrachtet Calvin die äußere Beichte aber nicht nur als eine Möglichkeit für Schwache, auf die der glaubensstarke Christ getrost verzichten kann. Die Beichte ist für ihn zwar frei, kein Christ ist zu ihr zu zwingen, aber es soll auch niemand das vom Herrn gebotene Heilmittel verachten,24 werden hier doch die Sünden vergeben und die Seelen gelöst.25 20 Huldrych Zwingli: Auslegen und Begründen der Schlussreden = Zwingli-Hauptschriften 4: Zwingli, der Verteidiger des Glaubens, Teil 2, hg. von Oskar Fei, Zürich 1952, Art. 52, S.198. 21 „Illic enim una praescribitur confitendi ratio, nempe, quando Dominus est, qui peccata remittit, obliviscitur, delet: huic peccata nostra ut confiteamur, veniae obtinendae causa.“ Johannes Calvin: Institutio christianae religionis (1559) = Joannis Calvini opera selecta, hg. von Peter Barth/Wilhelm Niesel, Bd. 4, München 1931, lib. III, cap. 4, 9 (S. 96,12–14).Vgl. die deutsche Übersetzung Otto Webers ( Johannes Calvin. Unterricht in der christlichen Religion. Institutio christianae religionis, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1963, S. 406) und deren leicht korrigierte Neuausgabe von Matthias Freudenberg ( Johannes Calvin. Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 344). 22 „Arcanam ergo illam confessionem, quae Deo fit, sequitur voluntaria apud homines confessio [. . .].“ Ebd., lib. III, cap. 4, 10 (S. 97,14f.). Hervorhebung W. S. 23 „Qui animo et coram Deo hanc confessionem amplexus fuerit, habebit haud dubie et linguam et confessionem paratam, quoties opus fuerit apud homines Dei misericordiam praedicare.“ Ebd., lib. III, cap. 4, 10 (S. 97,3–6). 24 „Si ita privatim angitur et afflictatur peccatorum sensu, ut se explicare nisi alieno adiutorio nequeat, non negligere quod illi a Domino offertur remedium [. . .].“ Ebd., lib. III, cap. 4, 12 (S. 99,16–18). 25 „Sic quum omnes mutuo nos debeamus consolari, et in fiducia divinae misericordiae confirmare, videmus tamen ministros ipsos, ut de remissione peccatorum certiores reddant conscientias, testes eius ac sponsores constitui, adeo ut ipsi dicantur remittere peccata, et animas solvere.“ Ebd., lib. III, cap. 4, 12 (S. 99,9–14).
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Gerade im Blick auf das Amt zeigt sich nun eine Differenz zu Luther. Dieser hatte betont, dass jeder getaufte Christ das lösende Absolutionswort zusprechen dürfe und eingeschärft, dass ein Amtsträger in der Beichte in der Rolle des Bruders und nicht des Priesters begegne.26 Damit stellte Luther das Moment der äußeren Institution im Wortgeschehen ausdrücklich zurück. Calvin hingegen spricht den Pastoren eine besondere Befähigung zur Beichte zu, die er nicht in ihrer Weihe, wohl aber in ihrer Berufung begründet.27 Die bei Luther noch zweitrangige Institutionalität des Amtes gewichtet Calvin also weitaus stärker, auch wenn er vor der Behauptung einer der Institution eigenen potestas zurückscheut.
3. Grundkonturen eines reformatorischen Amtsverständnisses bei Luther 3.1 Inneres Priestertum und Amt Gehen wir nun zunächst auf dem von Luther eingeschlagenen Weg weiter. Was ergibt sich aus dem in seiner Bußtheologie identifizierten Beziehungsdreieck von innerem Gottesverhältnis, Außen und externem Wortgeschehen für das Amt? Luther formuliert zunächst eine Leitunterscheidung: „Eyn priester seyn, gehoert nicht ynn eyn ampt, das eusserlich sey, es ist alleyn eyn solch ampt, das fur Gott handlet.“28 Damit schließt Luther als eine erste Fehlbestimmung von „Amt“ die Vorstellung eines äußeren Priesteramtes aus. Folglich kann ein Amtsträger seine äußere Autorität auch nicht auf sein Gottesverhältnis gründen. Diese Egalität vor Gott sieht Luther in der Wahl des Amtsträgers durch die Gemeinde zum Ausdruck gebracht: Das Amt ist kein Monopol einer Herrschaftsgewalt (potestas),29 sondern ein Dienst an allen.30 Programmatisch formuliert er dies in den berühmten Sätzen der Adelsschrift: 26
Vgl. oben Anm.19. „Pastores prae aliis ut plurimum iudicandi sunt idonei, potissimum etiam nobis eligendi erunt. Dico autem ideo prae aliis appositos, quod ipsa ministerii vocatione nobis a Domino designantur, quorum ex ore erudiamur ad subigenda et corrigenda peccata, tum consolationem ex veniae fiducia percipiamus.“ Calvin: Institutio (wie Anm. 21), lib. III, cap. 4, 12 (S. 99,1–6). 28 Martin Luther: Epistel S. Petri gepredigt und außgelegt (1523), WA 12, S. 317,19f. 29 Zum Potestas-Begriff in diesem Zusammenhang vgl. Wolfgang Stein: Das kirchliche Amt bei Luther, Wiesbaden 1974 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte 73), S. 87 und im Anschluss an ihn Augustinus Sander: Ordinatio Apostolica. Studien zur Ordinationstheologie im Luthertum des 16. Jahrhunderts, Bd.1: Georg III. von Anhalt (1507–1553) (= Innsbrucker theologische Studien 65), S. 66, Anm.170. Zur Kritik an Stein vgl. Goertz: Allgemeines Priestertum (wie Anm. 4), S. 21f. 30 Vgl. Martin Luther: Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bocks Emsers zu Leipzig Antwort (1521): „Die schrifft macht uns alle gleych priester, wie gesagt ist, aber die kirchische priesterschafft, die wyr itzt ynn aller welt sondernn von den leyen und heyssen sie alleyn priesterschafft, wirtt ynn der schrifft genennet ministerium, servitus, dispensatio, episcopatus, preysbyterium, unnd an keynem ortt sacerdocium noch spiritualis. Das muß ich auff deutsch sagenn: die schrifft, sag ich, heyssett den geystlichen und priester stand eynn dienst, eynn pflege, eynn ampt, ein alder, ein wartte, eynn hutt, eyn prediger ampt, hyrtten.“ WA 7, S. 630,10–16. 27
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„was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon [zum] priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben. Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleychen gewalt haben. Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen.“31
Diese Sätze sind nicht so zu verstehen, als ob das äußere Amt direkt aus dem inneren Priestertum abgeleitet oder logisch von ihm abhängig wäre.32 Denn als ein bloßes Delegat des Innen würde ja sowohl dessen Bestimmtheit aus dem Externum als auch der Ursprung des Amtes im Externum und nicht im inneren Gottesverhältnis des einzelnen verkannt und Luthers Unterscheidung zwischen Innen und Außen ebenfalls unterlaufen. Luther schließt also nicht nur ein im Außen konstituiertes Priesteramt aus, sondern auch die Vorstellung, das Amt sei eine Delegation aus dem inneren Gottesverhältnis. Das wird deutlich an der Frage, wie ein Amtsträger zu berufen sei: Luther hält eine Wahl durch die Gemeinde zwar für wünschenswert,33 31 Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, S. 408,11–17.Vgl. auch seine Ausführungen in De instituendis ministris ecclesiae (1523): „Verum haec communio iuris cogit, ut unus, ut quotquot placuerint communitati, eligantur vel acceptentur, qui vice et nomine omnium, qui idem iuris habent, exequantur officia ista publice, ne turpis sit confusio in populo dei, et Babylon quaedam fiat in Ecclesia, sed omnia secundum ordinem fiant, ut Apostolus docuit.“ WA 12, S.189,21–25. Vgl. als späteren Text: ders.: Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533): „Da her auch der Heilige Geist im newen Testament mit vleis verhu(e)tet hat, das der name Sacerdos, Priester oder pfaffe auch keinen Apostel noch einigen andern ampten ist gegeben, Sondern ist allein der getaufften oder Christen namen, als ein angeborner erblicher name aus der Tauffe. Denn unser keiner wird ynn der Tauffe ein Apostel, Prediger, Lerer, Pfarher geborn, Sondern eitel Priester und Pfaffen werden wir alle geborn, dar nach nimpt man aus solchen gebornen Pfaffen und beru(e)fft odder erwelet sie zu solchen emptern, die von unser aller wegen solch ampt aus richten sollen.“ WA 38, S. 230,13–20. 32 Dort, wo Luthers Formulierungen dies scheinbar nahelegen, etwa in De instituendis ministris ecclesiae von 1523 (WA 12, S.180–184), spricht Luther zwar davon, dass alle Christen Priester seien und benennt als priesterliche Aufgabe die Lehre des Wortes Gottes. Die Stoßrichtung Luthers scheint mir hier aber nicht die Begründung des Amtes aus dem inneren Priestertum zu sein, sondern die Kritik an einem äußeren, dem inneren Priestertum gegenüberstehenden Priestertum: „Dicant igitur illi, qui duplex fingunt sacerdocium, unum spirituale et commune, aliud speciale et externum, et Petrum hic de spirituali faciunt loquentem, quod sit officium sui specialis et externi sacerdocii? An non est virtutes dei annunciare? At hoc Petrus hic mandat spirituali et communi illi sacerdocio. Sed revera habent sacrilegi illi aliud sacerdotium externum, quo annunciant non dei virtutes, sed papae et suas impietates.“ Ebd., S.180,24–29. 33 Vgl. etwa Luther in seiner Antwort an Hieronymus Emser (wie Anm. 30): „Denn also ists zugangen vortzeytten und solt noch also gahn, das ynn eyner iglichen Christen stat, da sie alle gleych geystlich pfaffen seyn, eyner auß yhnen, der eldist oder yhe der gelertist und fruemist, wurdt erwelet, der yhr diener, amptman, pfleger, huetter were yn dem Euangelio und Sacramentten, gleych wie eyn Burgermeyster yn eyner statt auß dem gemeynen hauffen aller burger erwelet wirt.Wenn platten, weyhen, salben, kleyder pfaffen und bischoff mecht, ßo were Christus und die Apostolln nie pfaffen noch bischoff geweßenn.“ WA 7, S. 631,26–33.Vgl. auch ders.: Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und ab zu setzen, Grund und Ursach aus der Schrift (1523): „Sonst wo nicht solch nott da ist und fur handen sind, die recht und macht und gnad haben zu leren, soll keyn Bischoff yemand eynsetzen on der gemeyn wal, will und beruffen, sondern soll den erweleten und beruffen von der gemeyne bestettigen, thut ers nicht, das der selb dennoch bestettiget sey durch den gemeyne beruffen. Denn es hat widder Titus noch Timotheus noch Paulus yhe eynen priester eyngesetzt on der gemeyne erwelen und beruffen. [Tit. 1, 7; 1. Tim. 3, 2].“ WA 11, S. 414,11–16.
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aber nicht für notwendig. So spricht er gleichberechtigt auch von einer Berufung des Amtsträgers durch höhere Stellen,34 d. h. im Normalfall durch den Bischof.35 Entscheidend ist für Luther nicht das Subjekt der Berufung, sondern das Faktum. 3.2 Das Amt als äußerer Stand Das Amt lässt sich demnach weder als äußeres Priestertum beschreiben noch aus dem inneren Priestertum herleiten, es ist bereits notwendiges Implikat der promissio-fides-Relation.Wie füllt Luther aber nun den durch seine Verabschiedung eines äußeren Priestertums verwaisten Raum des Außen? Hierhin gehört seine Rede vom Amt als einem von Gott gestifteten Stand. Auch der Begriff „Stand“ ist wie schon das „Amt“ nicht auf seine statisch-institutionelle Bedeutung zu verengen; Luther meint keinen von Gott angewiesenen Platz in der Gesellschaft.36 Vielmehr versteht Luther die Stände als ein Gegenmodell zu einem weltabgewandten und werkgerechten Mönchsstand.37 Nicht sich selbst im Kloster, sondern seinen Mitmenschen in der Welt soll das Geschöpf dienen und zwar in der Kirche (ecclesia), im Gemeinwesen (politia) und beim Haushalten (oeconomia).38 Hier lebt der gerechtfertigte Mensch seinen Glauben unter der Maxime der Liebe39 und der Kreuzesnachfolge, als Herr und als Knecht. Unter diesen Ständen kommt dem geistlichen Amt nun eine Sonderstellung zu, denn als ein äußerer Stand soll das Amt im Unterschied zu anderen Ständen ja dem inneren Gottesverhältnis selbst dienen und nicht nur die für dieses nötigen äußeren Bedingungen schaffen und erhalten. So formuliert Luther: „Ich hoffe ja, das die gleubigen und was Christen heißen wil, fast [= sehr] wol wissen, das der geistliche Stand sey von Gott ein gesetzt und gestiftet, nicht mit gold, noch silber, sondern mit dem theuren blut und bittern tode seines einigen sons, unsers Herrn Jhesu Christi [. . .]. Denn auch solch ampt, nicht allein hie das zeitlich leben und alle weltliche stende fordert und halten
34 Vgl. etwa ders. in De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520): „Omnes nos aequaliter esse sacerdotes, hoc est, eandem in uerbo et sacramento quocunque habere potestatem. Uerum non licere quendam hac ipsa uti, nisi consensu communitatis, aut vocatione mairoris. Quod enim omnium est communiter, nullus singulariter potest sibi arrogare, donec vocetur.“ WA 6, S. 566,27–567,5 (Hervorhebung W. S.). 35 Vgl. dazu Luther: An den christlichen Adel (wie Anm. 31), WA 6, S. 407,20–408,2. 36 Auf der Basis eines solchen statischen Verständnisses kritisiert Martin Krarup die Verbindung von Stiftungsgedanken und Amt. Vgl. sein Buch: Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation, Tübingen 2007 (= Beiträge zur historischen Theologie 141), S. 27f. 37 Vgl. dazu Luthers Ausführungen in seiner Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528), WA 26, S. 504f. 38 Allesamt Lebensvorgänge, in denen „der von Gott vorgegebene Anfang und das von Gott vorgegebene Ende menschlichen Lebens präsent sind“.Vgl. dazu Hans Günter Ulrich: Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2005 (= Ethik im theologischen Diskurs 2), S.100–102, Zitat S.101. 39 „Uber diese drey stifft und orden ist nu der gemeine orden der Christlichen liebe, darynn man nicht allein den dreyen orden, sondern auch ynn gemein einem iglichen duerfftigen mit allerley wolthat dienet [. . .].“ Luther: Vom Abendmahl Christi (wie Anm. 37), WA 26, S. 505,11–13.
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hilfft, sondern das ewige leben gibt [. . .], welches denn sein eigentlich furnemlich werck ist, Und zwar die welt allzumal stehet und bleibt, allein umb dieses stands willen [. . .].“40
Damit steht das Amt zwischen dem egalitär verfassten geistlichen Priestertum und den von Luther durchaus bejahten Unterschieden zwischen den Gaben41 und Aufgaben der Menschen.42 Luther geht zwar vom Ortspfarramt als Normalfall aus,43 er kennt aber durchaus verschiedene institutionelle Realisationen des Amtes und bestimmt keineswegs nur den Pfarrer als Vertreter dieses geistlichen Standes: „Alle die, so ym pfarampt odder dienst des worts funden werden, sind ynn einem heiligen, rechten, guten, Gott angenemen orden und stand, als die da predigen, sacrament reichen, dem gemeinen kasten furstehen, kuester und boten odder knechte, so solchen personen dienen &c.. Solchs sind eitel heilige werck fur Gott [. . .].“44
Diesen Dienst am Wort für den Nächsten konturiert Luther nun als einen Stand, „in wilchen man sich uben unnd leyden leren soll, ettlichen den eelichen, den andern den geystlichen, den andern den regirenden stand, und allen befolen, mu(e)he und arbeyt zu haben, das man das fleysch to(e)dte und gewene zum todte [. . .].“45 Mit dieser kreuzestheologischen Bestimmung des Amtes unterläuft Luther eine Reduzierung der Amtsdiskussion auf soziale Verhältnisse und Machtansprüche, welche eine statische Ständelehre üblicherweise normativ abbildet oder projektiert,46 und enthierarchisiert das Verhältnis von Amtsträger und Gemeindegliedern. Sieht man näher zu, dann treten gerade hier Differenzen zwischen den Reformatoren zutage. Das illustriert ihre unterschiedliche Auslegung von 1. Kor. 14. 40 Ders.: Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (1530), WA 30/II, S. 526,17– 527,12; S. 526,34–527,25. Vgl. auch ebd., S. 527,14–21; S. 528,18f.25–27. Als einen früheren Beleg vgl. die Adelsschrift (wie Anm. 31), WA 6, S. 441,24f.: „Ich will reden von dem Pfarrstand, den Gott eingesetzt hat, der eine Gemeinde mit Predigen und Sakramenten regieren muss.“ 41 Vgl. etwa ders.: De instituendis ministris Ecclesiae (1523), WA 12, S.196,20–23; Dass eine christliche Versammlung (wie Anm. 33), in: WA 11, S. 411,28–30. 42 „Dan alle Christen sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein unterscheyd, denn des ampts [1. Cor. 12, 12ff.] halben allein, wie Paulus i. Corint. xij. sagt, das wir alle sampt eyn Corper seinn; doch ein yglich glid sein eygen werck hat, damit es den andern dienet, das macht allis, das wir eine tauff, ein Evangelium, eynen glauben haben, unnd sein gleyche Christen, den die tauff, Evangelium und glauben, die machen allein geistlich und Christen volck.“ ders.: An den christlichen Adel (wie Anm. 31), S. 407,14–19. 43 „Das noch Christus und der Apostel einsetzenn ein ygliche stadt einen [Tit. 1, 5.] pfarrer odder Bischoff sol haben, wie klerlich Paulus schreybt Tit. i. unnd der selb pfarrer nit gedrungen, on ein ehlich weyb zuleben, szonder muge [1. Tim. 3, 2., Tit. 1, 6f.] eynis habenn, wie sanct Paul schreybt i.Timot. iij. unnd Tit. i. unnd spricht: Es sol ein Bischoff sein ein man der unstrefflich sey, unnd nur eynis ehlichen weybs gemalh, wilchs kindere gehorsam unnd zuchtig sein &c.. Den ein Bischoff und pfar ist ein ding bey sanct Paul, wie das auch sanct Hieronymus beweret.Aber die Bischoff die itzt sein, weysz die schrifft nichts vonn, szondern sein vonn Christlicher gemeyn ordnung gesetzt, das einer ubir viel pfarr regiere.“ ders.: An den christlichen Adel (wie Anm. 31), S. 440,21f. 44 Luther: Vom Abendmahl Christi (wie Anm. 37), WA 26, S. 504,31–35. 45 ders.: Ein Sermon von dem Sakrament der Taufe (1519), WA 2, S. 734,25–28. Zum Amt als Dienst vgl. auch Luthers Ausführungen in seiner Antwort an Hieronymus Emser (wie Anm. 30), WA 7, S. 630,10–16. 46 Vgl. dazu Georges Duby: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, Frankfurt a. M. 1981, S.139f.; Ulrich: Wie Geschöpfe leben (wie Anm. 38), S.108f. Aus meiner Sicht missverständlich formuliert deshalb etwa Regin Prenter: „Das Amt wird [. . .] nie aus dem allgemeinen Pries-
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4. Amt und Gemeinde in den Auslegungen von 1. Kor. 14 4.1 Zwinglis Auslegungen Paulus schreibt in 1. Kor. 14: „Ihr könnt alle prophetisch reden, doch einer nach dem andern, damit alle lernen und alle ermahnt werden. [. . .] Darum, liebe Brüder, bemüht euch um die prophetische Rede und wehrt nicht der Zungenrede. Lasst aber alles ehrbar und ordentlich zugehen.“ Aus diesen Sätzen gewinnt Zwingli in seiner Schrift Adversus Emserum antibolon vom 20. August 152447 die folgende Erkenntnis: „Wir sehen hier deutlich, dass das Wort Gottes ursprünglich ganz anders als heutzutage gehandhabt wurde; denn nicht nur die Propheten der Reihe nach, sondern auch die einfachen Leute auf ihrer Bank durften in der Kirche über das Wort sprechen, das ihnen der Geist eingegeben hatte. [. . .] Denn es gibt stets Menschen, die mit Hilfe des himmlischen Geistes täuschende Leidenschaft beim Lehrer durchschauen.“48
Das pneumatisch bestimmte Innen eines jeden Christen bildet hier also ein Korrektiv zu dem institutionalisierten Außen des Prophetenamts. Das entspricht der bereits beobachteten Unterscheidung Zwinglis zwischen innerem Geist und äußerem Wort in der Buße.49
tertum hergeleitet. Das kann man vor allem daraus ersehen, dass die beiden Fälle, in denen Luther allen Christen das Recht und die Pflicht, die Funktionen des Amtes auszuüben, zuerkennt, der Notfall und das Privatleben der Einzelnen und der Familien [. . .] sind. Daraus erhellt, dass das Recht des Amtes die Grenzen für die Ausübung der priesterlichen Funktionen durch das allgemeine Priestertum zieht, nicht umgekehrt.“ Die göttliche Einsetzung des Predigtamtes und das allgemeine Priestertum bei Luther, in: Theologische Literaturzeitung 86 (1961), Sp. 321–332, jetzt in: ders.: Theologie und Gottesdienst. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 207–221, Zitat S. 214. Hier wird das innere Priestertum in einer Weise domestiziert, welche die Verschränkung von Gottes- und Weltbezug des Christen aufzulösen droht. Dass die Weltverhältnisse von Amtsträger und Mitchristen sich aneinander als Freiheit und Knechtschaft bestimmen, kommt bei Prenter kaum mehr zum Ausdruck, weil inneres Priestertum und äußeres Amt nur unter der Perspektive konkurrierender Rechtsansprüche betrachtet werden. So wird die Egalität vor Gott zu einer für die Welt leeren, prinzipiellen Wahrheit degradiert, die der Amtsträger in praxi stets kassieren kann. Luther schafft mit seiner Unterscheidung aber einen Bezug von innerem Priestertum und äußerem Amtsstand, dessen Pointe gerade darin liegt, dass er verschiedene institutionelle Formen ermöglicht. Insofern ist auch die Rede von einem „funktionalisierten Amtsbegriff“ bei Luther problematisch, denn sie idealisiert seine Rede von den Ständen und löst sie so ab von der konkreten Lebenswirklichkeit.Vgl. dazu Ulrich: Wie Geschöpfe leben (wie Anm. 38), S.109. 47 In: Huldrych Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 3, hg. von Emil Egli, Georg Finsler und Walther Köhler, Leipzig 1914 (= Corpus Reformatorum 90), Nr. 38, S. 230–287, Zitat S. 262,16. 48 Ich folge hier der Übersetzung aus: Martin Hauser: Prophet und Bischof. Huldrych Zwinglis Amtsverständnis im Rahmen der Zürcher Reformation, Freiburg i. Ue. 1994 (= Ökumenische Beihefte zur Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 21), S.119. 49 Als eine Konsequenz stellt Zwingli das Gemeindeprinzip exklusiv gegen eine Berufung des Amtsträgers durch den in seinen Augen tyrannischen Bischof: „So das urteyl des bannes, ouch der leer überal der gemeynd ist, vil me das erkiesen umb einen lerer nit eins frömbden bochbischoffs oder abts sin sol, sunder der kilchenn, die radts wyser christenlicher propheten und euangelisten pfligt [. . .].“ Huldrych Zwingli: Von dem Predigtamt (30. Juni 1525), in: Huldrych Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 4, hg. von Emil Egli, Georg Finsler, Walther Köhler und Oskar Farner, Leipzig 1927 (= Corpus Reformatorum 91), Nr. 61, S. 369–433, Zitat S. 427,8–11.
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Interessanterweise nimmt Zwingli im Folgejahr in seiner amtstheologisch ausführlichsten Schrift Von dem Predigtamt50 noch einmal auf 1. Kor. 14 Bezug. Jetzt legt er das Gewicht aber nicht mehr auf die pneumatische Egalität, denn „hier [sc. in 1 Kor 14] wünscht Paulus, das die Christen alle der zungen bericht sygind [. . .], wie ein nutzlich ding es den Christen sye, die spraachen, darinn das gotzwort geschriben stadt können [. . .] zu(o) dem end, das man’s zu(o) nutzbargheyt des prophetens richte, das ist: des gschrifftußlegens oder predgens.“51 Zwingli identifiziert also die biblische Zungenrede mit humanistischer Sprachkompetenz52 und überführt damit eine innere pneumatische Qualifikation in eine äußere Kompetenz, ja einen Habitus,53 dessen geistliche Leistungskraft er sehr optimistisch einschätzt: „Wenn wir so wol hebraisch könnend als tütsch, so mögend wir ouch das alt testament durchdringen. Derglychen, wenn wir so wol griechist könnend als tütsch, so mag sich im nüwen testament ouch nüts vor uns verbergen.“54 Dies hat nun Folgen für das Verhältnis von Amt und Gemeinde: „dann es schlechtlich ouch der lutren, einvaltigen gmeynd allein nitt zu(o)ston wil, als klarlich an der leer Pauli von bruch des worts 1. Cor 14 ermessen wirdt [. . .]; dann die leer der gschrift daselbst nit der einfalten gemeynd empfolhen wirt, sunder den propheten, dolmetschen und zungengelerten [. . .].“55 Für Zwingli enden zumindest hier die äußeren Konsequenzen des inneren Priestertums an der Sprachkompetenz des Amtsträgers. Apodiktisch bestimmt er: „by den einvaltigen hat man bald dem wort gottes großen gwalt gethon; sy verstond sich nit daruf.“56 50
Vgl. Anm. 49. Zwingli: ebd., S. 417,16–23. 52 Zum humanistischen Hintergrund vgl. Desiderius Erasmus: In Epistolam ad Corinthos, in: ders.: Opera Omnia emendatiora et auctiora, hg. von Johannes Clericus, Bd. 6, Leiden 1705, ND Hildesheim 1962, Sp. 732C. 53 Luther hingegen gewichtet die philologische Kompetenz ungleich geringer. So könnten prinzipiell auch die Winkelprediger predigen, wenn sie „zu aller erst sich zum Pfarrer finden und mit dem selbigen handeln jren beruff anzeigen und erzelen, was sie gleubeten und ob sie der selbige wolle zu lassen offentlich zu predigen.“ Ein Brieff D. Martin Luthers Von den Schleichern und Winkelpredigern (1532), WA 30/3, S. 518,32–S. 519,1. Die Zungenrede in 1. Kor. 14 versteht Luther dann als „den text lesen odder singen“ (ebd., S. 525, 16f.), verengt sie also nicht auf eine philologische Kompetenz. 54 Zwingli: Von dem Predigtamt (wie Anm. 49), S. 418,11–15. 55 Ebd., S. 427,12–16. 56 Ebd., S. 418,4f. Diese Botschaft vom kompetenten Amtsträger und den unwissenden Laien vermittelt auch eine Beispielgeschichte, mit deren Hilfe Zwingli seine Auffassung vom Amt illustriert: „Es hat ein wäber an eim ort [. . .], da ein frommer, weydlicher euangelist oder bischoff ist, an eim suntag die cantzel uß eygnem frävel yngenommen, unnd do der pfarrer kam, sprach der wäber: ‚Ich will predigen.‘ Ließ der pfarrer nach, damit gheyn zerrüttung wurd. Also hu(o)b der wäber an zeläsen in 1. Tim. 4. capitel, das di biderben lüt vormal von irem elichenn hirten offt klarlich gehört hattend, unnd hu(o)bend an ze murren ab dem frävel des wäbers. Bald kam er an das ort ‚Sy habend eyn malgebrennte conscientz‘ [Brandmal in ihrem Gewissen]. Do sprach er: ‚Das kann ich nit verston.‘ Do redt der Pfarrer: ‚So halt still, ich will dir das ußlegen.‘ Do das beschah, schruwend die biderben lüt: ‚Heyssend in abhar gon.‘ Antwurt der pfarrer: ‚Sölt ich in von mir selbs gheissen han harab gon, wer mir verdachtlich gewäsen, darumb heyssend ir in herabgon.‘ Also ist er herabkommen nach langem.“ Zwingli: Von dem Predigtamt (wie Anm. 49), S. 420,3–21. – Die Geschichte signalisiert nur auf den ersten Blick eine freiwillige Selbstzurücknahme des Geistlichen zugunsten der aktiv urteilenden Gemeinde. Denn einmal urteilt die Gemeinde hier nicht aufgrund eigener Kompetenz, sondern weil und 51
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4.2 Die Auslegungen Luthers und Calvins Vergleicht man diese Position mit Luthers Auslegung von 1. Kor. 14, dann ergibt sich neben der ersten Differenz in der Bußtheologie nun eine zweite Differenz in der Bestimmung des Verhältnisses von Amtsträger und Gemeinde. Luther nämlich formuliert: „Sant Paul sagt ‚alle ding thut nach ordenunge‘. [. . .] So yderman wolt predigenn, wer wolt doch zuhören, wenn sie zugleich predigen, so würd es ein geplerre, wy itzt die Frösche tun: Kar ker ker. [. . .] Wir haben alle die gewalt, aber nymandt sol sich der vermessenn öffentlich zu ubenn denn der dartzu durch die gemeine erwelt ist [. . .].“57
Ähnlich argumentiert Calvin, wenn er in der letzten Auflage seiner Institutio schreibt: „Da nun aber in der heiligen Versammlung alles ‚ehrbar und ordentlich‘ zugehen soll, muss dies bei nichts sorgsamer festgehalten werden als bei der Einsetzung der Kirchenleitung; denn nirgends besteht größere Gefahr, wenn etwas unordentlich zustande kommt. Damit sich nun also unruhige und aufrührerische Menschen nicht ohne Grund eindrängen, um zu lehren oder zu regieren [. . .], so ist ausdrücklich verboten, dass sich jemand ohne Berufung ein öffentliches Amt der Kirche aneignet.“58
Nicht auf die Sprachkompetenz, sondern auf die Ordnung heben Luther und Calvin hier also ab.59 Entsprechend kann Luther sich prinzipiell auch die Predigt einzelner Gemeindeglieder vorstellen, wenn sie die Ordnung wahren und ihre Tätigkeit mit dem zuständigen berufenen Amtsträger absprechen.60
nachdem der Amtsträger sie belehrt hat. Zum andern setzt ihre Kritik am Täufer interessanterweise nicht erst dann ein, als dessen Inkompetenz zutage tritt. Die Gemeinde opponiert bereits, als sie davon erfährt, dass ein anderer als der Amtsträger predigen wird – was nach Zwinglis Aussage von 1524 doch durch 1. Kor. 14 legitimiert wäre. Und schließlich richtet die Gemeinde ihre Aufforderung zum Kanzelabstieg bezeichnenderweise nicht selbst an den Usurpator, sondern sie wendet sich an ihren Pfarrer. Ihn und nicht sich selbst hält sie also offensichtlich für die befugte Urteilsinstanz. 57 Martin Luther: Predigt vom 27. April 1522, WA 10/3, Nr.16, S. 97,2–10. 58 „Iam vero quum ordine omnia et decenter in sacro coeto gerenda sint [1. Cor. 14], nihil est in quo id servari diligentius oporteat, quam in constituenda gubernatione: quia nusquam maius periculum est si quid inordinate geritur. Itaque, ne homines inquieti ac turbulenti (quod alias futurum erat), temere se ad docendum vel regendum ingererent, nominatim cautum est nequis sine vocatione publicum in ecclesia munus sibi sumat.“ Calvin: Institutio (wie Anm. 21), lib. 4, cap. 3, 10 (S. 51,21–S. 52,6). Die Übersetzung folgt der Otto Webers (Calvin: Institutio [wie Anm. 21], S. 720), die auch Matthias Freudenberg in seiner Neuausgabe (Calvin: Institutio [wie Anm. 21], S. 594) übernimmt. Das quum im Einleitungssatz scheint mir allerdings keine konzessive Sinnrichtung zu tragen (Weber und Freudenberg übersetzen mit „obwohl“), sondern eine kausale. 59 Vgl. auch die Predigt Luthers vom 19. Sonntag nach Trinitatis (26. Oktober) 1522 in der Pfarrkirche zu Weimar: „Wir haben alle gewaltt zu predigen, aber wir so(e)llen den nit alle gebrauchen.Wen wir alle wu(e)rden predigen, su wu(e)rdt es gleich werden, Als wen die weyber zum marckt gehen, so wil keine der andern zu ho(e)ren, wo(e)llen alle reden.“ WA 10/3, Nr. 57, S. 397,16–19. Zu Luthers Frauenbild vgl. Christine Globig: Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1994 (= Kirche und Konfession 36), S. 23–48. 60 Das zeigt die oben Anm. 53 zitierte Äußerung Luthers aus Von den Schleichern und Winkelpredigern.
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5. Amt und Ämter in den Auslegungen zu Eph. 4,11 Eine dritte Differenz zeigt sich nun im Blick auf das Leitbild des Amtsträgers, greifbar in der jeweiligen Exegese von Eph. 4,11. Dort heißt es: „Christus hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer.“ Luther richtet das Amt ganz an Wort und Sakrament aus und übergeht die neutestamentliche Differenzierung der Ämter. So behauptet er in seiner Schrift Von den Konziliis und Kirchen: „Zum fuenfften kennet man die Kirche eusserlich da bey, das sie Kirchen diener weihet oder berufft oder empter hat, die sie bestellen sol, Denn man mus Bisschove, Pfarrher oder Prediger haben, die oeffentlich und sonderlich die obgenanten vier stueck [sc. das heiligende Gotteswort, Taufe, Abendmahl und Buße] odder heilthum geben, reichen und uben, von wegen und im namen der Kirchen, viel mehr aber aus einsetzung Christi, wie S. Paulus [Eph. 4,11] Ephe. 4. sagt: ‚Dedit dona hominibus.‘ Er hat gegeben etlich zu Aposteln, Propheten, Evangelisten, Lerer, Regirer &c.“61 Zwingli nimmt die Differenzierungen von Eph. 4,11 zwar auf, ordnet sie aber ebenfalls einem Leitbild unter. Als frühestes Amt gelten ihm die Wanderapostel, deren Aufgabe es war, „die welt leeren gott und sich selbs erkennen“62. Das zweite Amt ist das der Propheten,63 die in Zungen reden, was Zwingli erneut als Kenntnis der alten Sprachen interpretiert.64 Die Propheten legen der Gemeinde die Schrift aus. Das tun auch die Amtsträger des dritten Typs, die Evangelisten, die sich durch ihre Sesshaftigkeit und ihren materiellen Besitz von den Aposteln unterscheiden und damit Besoldung und Pfründenbesitz der gegenwärtigen Pfarrer rechtfertigen. Insofern ist dieses Amt das der Bischöfe und Pfarrer,65 die in ihre Tätigkeit freilich auch das vierte Amt des wachenden Hirten66 integrieren. Zusammengefasst aber sind all diese Formen im fünften Amt, das Zwingli damit zu seinem Leitbild macht, dem Amt des Lehrers.67 Unter ‚Doctores‘ soll man demnach die verstehen, die „leerend, die ouch in der anderen namm propheten sind [. . .] oder aber für alle leerenden, apostel und euangelisten.“68 Der Amtsträger steht der Gemeinde damit als rechtmäßiger, kompetenter Interpret der Schrift gegenüber. Er kann lehren, das Wort verstehen und recht erklären.69
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Martin Luther: Von den Konziliis und Kirchen (1539), WA 50, S. 632,35–633,5. Zwingli: Von dem Predigtamt (wie Anm. 49), S. 391,10f. Diese Tätigkeit unterscheidet sie von den altgläubigen Amtsträgern; vgl. ebd, S. 391,1–393,25. 63 Ebd., S. 393,26–398,10. 64 Ebd., S. 394,8–11. 65 Ebd., S. 399,2–7. 66 Ebd., S. 416,5–25. 67 Ebd., S. 416,26–419,6. 68 Ebd., S. 416,28–31. 69 Das entspricht exakt dem durch Zwinglis Beispielgeschichte (oben Anm. 56) nahe gelegten Amtsverständnis. 62
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Welche Position nimmt nun Calvin ein? Er interpretiert70 Eph. 4,11 als eine göttliche Einsetzung von fünf Ämtern.71 Konkret gelten ihm die Ämter des Hirten und des Lehrers als regelmäßige, die des Apostels, des Propheten und des Evangelisten aber als anfängliche und kontingent erweckte Dienste. Wie Luther und Zwingli fasst auch Calvin diese Ämter unter ihrer Aufgabe, dem Wort zu dienen, zusammen. Als Leitbild firmiert hier allerdings nicht wie bei Zwingli der sprachkundige Lehrer, sondern der Hirte, der in der Tradition der Apostel als berufener Diener des Wortes in einer bestimmten Gemeinde wirkt, wo er im Unterschied zum Lehrer nicht nur die Schrift auslegt, sondern auch das Evangelium verkündigt, Taufe und Abendmahl reicht und Kirchenzucht übt: „Der Unterschied zwischen ihnen [sc. Hirten und Lehrer] besteht meines Erachtens darin, dass die ‚Lehrer‘ weder bei der Übung der Zucht noch bei den Vermahnungen und Ermunterungen die Leitung haben, sondern allein bei der Auslegung der Schrift, damit die lautere und gesunde Lehre unter den Gläubigen erhalten bleibt. Das Amt der ‚Hirten‘ dagegen begreift dies alles in sich.“72
Anders als Luther überführt Calvin in seiner Auslegung von Eph. 4,11 das äußere Amt nun in institutionalisierte Formen, deren Anzahl freilich differieren kann. Neben seiner bekannten und wirkmächtigen Viergliederung in Hirten, Lehrer, Älteste und Diakone73 ordnet Calvin ausgerechnet das zwinglische Integral aller Ämter, den Lehrer, dem Hirtenamt unter. Das entspricht Calvins Wortverständnis und nimmt der kognitiv-informationellen Fokussierung Zwinglis ihre Spitze. So kommt Calvin in der Confession de foy (1559)74 und auch in der letzten Ausgabe seiner Institutio (1559)75 zu drei Grundämtern: Als übergeordnetes Leitbild des Amtes firmiert der Hirte oder Bischof, der das Amt des Wortes versieht, dann die 70 Vgl. zum Folgenden Calvin: Institutio (wie Anm. 21), IV, 3, 4f. (lateinische Ausgabe S. 45–47; deutsche Übersetzung Webers S. 716–718). 71 „Quia autem ruditas nostra et segnities (addo etiam ingenii vanitatem) externis subsidiis indigent, quibus fides in nobis et gignatur et augescat, et suos faciat progressus usque ad metam: ea quoque Deus addit, quo infirmitati nostrae consuleret; atque ut vigeret Evangelii praedicatio, thesaurum hunc apud Ecclesiam deposuit. Pastores instituit ac doctores [Eph. 4, 11], quorum ore suos doceret [. . .].“ Johannes Calvin: Institutio christianae religionis (1559) = Joannis Calvini opera selecta, hg. von Peter Barth/Wilhelm Niesel, Bd. 5, München 1936, lib. IV, cap.1, 1 (S.1). 72 „Sequuntur pastores ac doctores, quibus carere nunquam potest ecclesia; inter quos hoc discriminis esse puto, quod doctores nec disciplinae, nec sacramentorum administrationi, nec monitionibus aut exhortationibus praesunt, sed scripturae tantum interpretationi, ut sincera sanaque doctrina inter fideles retineatur. Pastorale autem munus haec omnia in se continet.“ Calvin: Institutio (wie Anm. 21) IV, 3, 4 (S. 46,31–37). 73 So in den Ordonnances Ecclésiastiques (1541): „Premierement il y a quatre ordres ou especes d’offices, que nostre Seigneur a institué pour le gouvernement de son Eglise: assavoir les Pasteurs, puis les Docteurs, apres les Anciens, quartement les Diacres.“ Zitiert nach den Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, hg. von Wilhelm Niesel, Zürich 1938, S. 43. 74 „Quant est de la vraye Eglise, nous croyons qu’elle doit estre gouvernée selon la police que nostre Seigneur Jesus Christ a establie: c’est qu’il y ait des Pasteurs, des Surveillans et Diacres [. . .].“ Zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, hg. von Ernst Friedrich Karl Müller, Leipzig 1903, S. 229. 75 Vgl. dazu Calvin: Institutio (wie Anm. 21), lib. 4, cap. 3, 8 (S. 50,3–30).
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Presbyter, gewählt aus „frommen, ernsten und heiligen Männern“76, also Laien, die zusammen mit dem Hirten die Aufsicht über Lebenswandel und Zucht in der Gemeinde führen, und schließlich der Diakon, der die Almosen verwaltet und Arme sowie Kranke umsorgt.77 Damit geht Calvin auf dem Weg der Institutionalisierung des Amtes einen Schritt weiter. Luther hatte Presbyter und Bischof noch identifiziert und das Presybterium als ein Kollegium der Amtsträger im Gegenüber zur Gemeinde verstanden,78 Calvin aber verschafft der Gemeinde nun auch institutionelles Gewicht, ohne das innere Priestertum zu veräußerlichen. Dass er stärker als Luther die Autorität des Amtsträgers im Gegenüber zur Gemeinde vertreten hätte,79 lässt sich daher nicht ohne weiteres behaupten. Auch der Vorwurf, Calvin habe die Gnadenmittel im Interesse eines Gemeindeaufbauprogramms instrumentalisiert,80 trifft hier nicht, wenn auch einzuräumen ist, dass in Praxis und Rezeption nicht selten der städtische Rat das Presbyterium besetzte und die äußere Gestalt der Kirchengemeinde weltliche Machtstrukturen dann schlicht verdoppelte.
6. Modi reformatorischer Amtskonzepte Versuchen wir am Ende nun den Bogen zwischen Buße, Wort und Amt zu spannen: In der Buße liegen Geist und Wort für Luther im Externum ineinander, Zwingli ordnete sie sukzessiv nacheinander und Calvin verband sie untrennbar parallel.Als eine Folge ist der Innen – Außen – Bezug bei Luther nicht dual antagonistisch, sondern stets triadisch vermittelt und damit interdependent konzipiert, während in Zwinglis dualer Zuordnung das Wort dem Außen zugewiesen wird und erst durch seine Vergeistigung verinnerlicht werden kann.81 Gründet das äußere Amt bei Luther also im Externum, so bei Zwingli im empirischen Außen: Das Amt soll es geben, weil sich bei allen Völkern beobachten lässt, dass dem Glauben stets eine äußere Predigt vorausging,82 wenn auch allein der Geist und nicht 76 „Habuit igitur ab initio unaquaeque Ecclesia suum Senatum, conscriptum ex viris piis, gravibus et sanctis [. . .].“ Ebd., lib. 4, cap. 3, 8 (S. 50,25f.). 77 Vgl. dazu ebd., lib. 4, cap. 3, 9. 78 „Die schrifft macht uns alle gleych priester, wie gesagt ist, aber die kirchische priesterschafft, die wyr itzt ynn aller welt sondernn von den leyen und heyssen sie alleyn priesterschafft, wirtt ynn der schrifft genennet ministerium, servitus, dispensatio, episcopatus, preysbyterium, unnd an keynem ortt sacerdocium noch spiritualis.“ Luther: Antwort an Hieronymus Emser (wie Anm. 30), WA 7, S. 630,10–14. 79 So Holsten Fagerberg: Artikel Amt/Ämter/Amtsverständnis VI. Reformationszeit, in: Theologische Realenzyklopädie 2 (1978), S. 552–574, hier: S. 569. 80 So Werner Führer: Das Amt der Kirche. Das reformatorische Verständnis des geistlichen Amtes im ökumenischen Kontext, Neuendettelsau 2001, S. 308. 81 Zwingli kann zwar zwischen innerem und äußerem Wort unterscheiden, dabei ist es aber der innere Geist, der aus dem äußeren Wort ein inneres macht.Vgl. Christof Gestrich: Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim Zürcher Reformator, Zürich/Stuttgart 1967 (= Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie 20), S.133. 82 Huldrych Zwingli: Fidei ratio (am 3. Juli 1530): „Videmus apud omnes populos externam praedicationem apostolorum et euangelistarum sive episcoporum praecessisse fidem, quam tamen soli spiritui ferimus acceptam.“ Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, hg. von Emil Egli u. a., Bd. 6/2, Zürich 1968, Nr.163, S. 813,9–11.
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das Wort den Glauben wirkt. Dazu kommt bei Zwingli eine ethische Überlegung: Zwar kann die Predigt allein keine Liebe zur Gerechtigkeit wecken, dies muss der Geist tun. Doch eine weltliche Obrigkeit wird daran interessiert sein, dass die Menschen für diese Liebe zugerüstet werden, und eben dies leistet das Amt.83 Das unmittelbare Gegenüber von innerem Geist und äußerem Amt führt dann zunächst zu einer Übertragung der inneren Egalität ins Außen: Auch die einfachen Christen, sagt Zwingli, sollen vom Geist Eingegebenes verkündigen. Bei Zwinglis näherer Bestimmung dieses Geistes, die er im Konflikt mit der gleichfalls pneumatisch fokussierten Theologie der Täufer formuliert, tritt dann der duale Grundzug seiner Theologie imVerbund mit ihrem ererbten Geist-Materie-Antagonismus zutage. Weil das Wort als bloß äußerlicher Signifikant des Heils firmiert, kann sich eine objektivierende Perspektive des Geistes auf das Wort etablieren, das nun nicht mehr Geschehen, sondern zu allererst Untersuchungsgegenstand, Objekt des Geistes und damit Lehre ist. Diese Differenzierung bedeutet für die Außen – Externum – Relation nun, dass das Wort als ein dem philolologischen Intellekt erschließbares Außen begegnet und damit auch äußerer menschlicher Kompetenz unterworfen wird, wodurch sich amtstheologisch eine neue Unterscheidung zwischen Fachmann und Laie etabliert und Luthers kreuzestheologische Brechung von Herrschaftswissen unterlaufen wird. Die Amtstheologien Luthers und Zwinglis grenzen sich also gemeinsam von einem äußeren Priestertum ab und richten das Amt auf die Predigt aus. Diese gemeinsame Mitte wird angesichts unterschiedlicher Verständnisse von Wort und Geist dann allerdings unterschiedlich gestaltet. Calvin schließlich unterscheidet Wort und Geist deutlicher als Luther, hält beide aber so zusammen, dass er das Amt aus dem Wort begründen kann. Dem Wort eignet aber kein Geschehenscharakter, wie er aus Luthers Simultaneität von Geist und Wort resultierte. Deshalb bezieht Calvin das Externum so auf das Außen, dass konkrete Institutionen aus dem Wort abgeleitet werden können. Fragt man nun nach Einheit und Differenzen dieser Amtskonzeptionen, so liegt die Einheit in der gemeinsamen Behauptung einer Egalität im Gottesverhältnis, während die Differenzen sich in der jeweiligen Zuordnung von Innen und Außen konkretisieren.
83 „Frustra enim praecipitur, quod iustum est, nisi quibus mandatur iusti rationem habeant et aequitatem ament. Ad hoc autem parant animos prophetae tanquam ministri, spiritus tanquam autor tum doctoris tum auditoris. [. . .]. Hoc genus ministrorum, qui scilicet docent, solantur, terrent, curant, prospiciunt ex fide, in populo Christi agnoscimus. Illud quoque, quod baptizat, in coena domini corpus et sanguinem [. . .] circumfert; quod aegrotos visitat, quod mendicos cibat ecclesiae opibus ac nomine. Istud, postremo, quod legit, interpretatur, profitetur, quo vel ipsi vel alii formentur, ut aliquando ecclesiis praesint.“ Zwingli: Fidei ratio (wie Anm. 82), S. 813,20–814,4.
Ronald K. Rittgers
„Got neher machen.“ Das Gnadenmedium des Leidens am Beispiel der Flugschrift Lazarus Spenglers Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten (1521).1 Der Versuch, die menschliche Einstellung gegenüber dem Leiden zu ändern, war ein zentrales Anliegen der Reformatoren. Die evangelischen Theologen haben gemeint, dass das konventionelle Verständnis von Leiden und seiner Bewältigung in vieler Hinsicht nicht authentisch christlich war, das Verständnis sei eher heidnisch. Laut den Reformatoren hatte die neue Rechtfertigungslehre wichtige Folgen für die christliche Leidenstheologie; diese Lehre wollte die traditionelle Theologie durchgehend reformieren.Wir wissen viel über Luthers Versuch, diese „Reformation des Leidens“ durchzusetzen,2 aber nur wenig über die Leidenstheologie anderer Reformatoren, und fast gar nichts über das Leidensverständnis der gemeinen Geistlichkeit und der Laien. Im Folgenden geht es um eine Quelle, die diese Forschungslücke teilweise füllt, weil sie die Perspektive eines evangelischen Laien jener Zeit zum Thema Leid repräsentiert. Lazarus Spengler war einer der wichtigsten Laientheologen der frühen Reformationszeit, und seine Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten (1521) ist eine der frühesten Trostschriften der evangelischen Bewegung in Deutschland.3 Wie wir sehen werden, spricht die Flugschrift des berühmten Nürnberger Ratsschreibers ganz deutlich das Hauptthema dieses Bandes an, nämlich die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation. Spengler prä1 Dieser Aufsatz nimmt Bezug auf das sechste Kapitel meines jüngsten Buchprojekts: Ronald K. Rittgers: The Reformation of Suffering.A Study of Pastoral Theology and Lay Piety in Late Medieval and Early Modern Germany, das von der Oxford University Press in der Reihe Oxford Studies in Historical Theology 2012 veröffentlicht werden wird. 2 Siehe Ute Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe, Gütersloh 1989 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 56), und Ronald K. Rittgers: Embracing the „True Relic“ of Christ. Suffering, Penance, and Private Confession in the Thought of Martin Luther, in: Abigail Firey (Hg.): The New History of Penance, Leiden 2008, S. 377–393. 3 Siehe Lazarus Spengler: Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten, in: Lazarus Spengler Schriften, Bd.1. Schriften der Jahre 1509–1525, hg. von Berndt Hamm/ Wolfgang Huber, Gütersloh 1995 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 61), S. 224–243. Spenglers Trostschrift ist im Jahre 1521 zweimal gedruckt worden, einmal in Nürnberg und einmal in Augsburg. Siehe ebd. S. 225. Über Spengler siehe Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 25); ders.: Art. Spengler, Lazarus (1479–1534), in: TRE, Bd. 31 (2000), S. 666–670; Hans von Schubert: Lazarus Spengler und die Reformation in Nürnberg, hg. von Hajo Holborn, Leipzig 1934 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 17; Neudruck New Haven – London 1971); Harold J. Grimm: Lazarus Spengler. A Lay Leader of the Reformation, Columbus 1978.
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Ronald K. Rittgers
sentiert Leiden als ein Medium der Gnade, d. h. als Gelegenheit, das Heil und Gott dem Menschen näher zu bringen oder, wie er auch sagen kann, das Selbst näher zu Gott zu bringen.4 Der Ratsschreiber war ein starker Befürworter von Luthers Lehre und hat sein Amt, seinen Ruf, und sogar seinen Leib und seine Seele für diese Theologie riskiert. Aber trotz seiner engen Identifizierung mit Luther und seiner Lehre gab es einen wichtigen Unterschied in der Leidenstheologie Spenglers und Luthers: Spengler wollte das Heil durch Leiden in einer Art und Weise nahe bringen, die Luther völlig ablehnte. Dieser Unterschied wiederum ist ein weiterer Beleg für Berndt Hamms Behauptung, dass Lazarus Spengler vor 1522 zwischen einer spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie und Luthers Theologie schwankte.5 Im Folgenden möchte ich einige Gründe für dieses Schwanken andeuten, die die Wichtigkeit des Leidens als eine bestimmte Art des Gnadenmediums in der bürgerlichen Religion des Spätmittelalters und der frühen Reformationszeit thematisieren. Ziel dieses Beitrags ist nicht Spenglers Theologie mit einem „Luther-Maßstab“ zu messen, um zu sehen ob er „evangelisch rein“ war; sondern das Ziel ist es, die Leidenstheologie – oder die Leidenstheologien – der frühen Reformationszeit in ihrer Vielfältigkeit zu untersuchen und sie besser zu verstehen.
I. Spenglers Biographie und seine Förderung der Reformation in Nürnberg Lazarus Spengler ist 1479 in Nürnberg geboren und gehörte zu einer ehrbaren Familie. Sein Vater, Georg Spengler, war Ratsschreiber, und nachdem Lazarus die Lateinschule besucht und drei Semester in der Artes-Fakultät der Universität Leipzig verbracht hatte, trat er 1496 in die Fußstapfen seines jüngst verstorbenen Vaters, zunächst als Schreiber für das Stadtgericht, dann als Unterschreiber in der Regierungskanzlei und schließlich, von 1507 bis zu seinem Tod 1534, als einer von den beiden Ratsschreiber der Stadt selbst. Als ein eifriger Leser theologischer Schriften schloss er sich zunächst vor allem der Theologie des Hieronymus an, aber nach seiner Begegnung mit den Schriften von augustinisch gesinnten Theologen vollzog er eine Umorientierung seiner Theologie.Tief berührt von Luthers Lehre schloss er sich Luthers Theologie an – oder zumindest seiner eigenen Interpretation dieser Theologie.6 Spengler lernte Luthers Theologie in einem Kreis
4 Spengler: Christliche Anweisung (wie Anm. 3), S. 227,6–10: „Es mag sein, mir hat Got als ein gue tiger vatter byßhere allerlay beschwerden und widerwertikayten zugesant. Dhweyl ich aber unwydersprechlich befinde, das mir dieselben zu nutzberkait dienen und mich, als ich hoff, Got neher machen (wie David sagt: ‚Got ist nahend allen denen, die eins bekue merten, geengstigen hertzens sein‘ [Ps. 34 (33), 19 (Vulgata)]), warumb wolt ich dann die nit billich mit hoe chster danckbarkeit annemen?“ Ebd., S. 239,12: „Welcher wolt doch anfechtung und widerwertikait fliehen, so uns die zu Got fue ren, Got nahet machen und zu ewiger belongung fue rdern?“ 5 Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.178–79. 6 Zu Spenglers „Hieronymus-Begeisterung“ siehe Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.102– 106. Zu Spenglers Beziehung zu Luther siehe ebd., S.171–182.
‚Got neher machen.‘ Das Gnadenmedium des Leidens
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von Humanisten in Nürnberg kennen, in dem Luthers Schriften zirkulierten. Mitglieder dieses Kreises waren, unter anderen, Albrecht Dürer, Willibald Pirckheimer und Christoph Scheurl.7 Den Wittenberger Reformator hat Spengler 1518 selbst kennengelernt, als Luther auf dem Weg zum Augsburger Reichstag durch Nürnberg kam und dort Station machte; und danach noch einmal auf dessen Rückweg nach Wittenberg. Im Herbst 1519 schrieb Spengler die erste evangelische Laienflugschrift, seine sehr populäre Schutzrede für Luthers Lehre.8 Spengler argumentierte in dieser Apologie, dass der evangelische Glaube schriftgemäß sei, dass er Gnade betone und dass er Nächstenliebe sowie echte innerliche Frömmigkeit fördere, während die Religion der Gegner auf Menschenlehre basiere, die Rechtfertigung durch menschliche Werke betone und äußerliche Pietas und Selbstsucht fördere. Luthers Lehre machte Spengler Sinn. Er schrieb: „Das waiß ich aber onzweyfenlich, das mir, der sich für kainen hochvernünftigen, gelerten oder geschickten helt, mein leben lang ainich leer oder predig so starck in mein vernunft nie gegangen ist, hab auch von kainem meer begreiffen mügen, das sich meins verstands christenlicher ordnung also vergleicht als Luthers und seiner nachvolgler leer und underweisung.“9
Spengler behauptete, dass „Got der almechtig [. . .] durch doctor Luthern ainen Daniel im volck erweckt hab, uns die augen unser blinthait, darinnen wir fürwar auß verfu[e]rung unser theologi nun ewtan vil zeit gelegen seind, zuo eroe ffnen und den nebel und fünsternus solcher unschicklikait von uns zuo nemen [. . .].“10
Solche Behauptungen haben dazu beigetragen, dass Spenglers Name auf die Bulle Exsurge Domine gesetzt wurde. Ein Exemplar der Schutzrede für Luthers Lehre landete auch auf dem Tisch von Johannes Eck und entsetzte den katholischen Theologe so sehr, dass er Spenglers Namen der Bulle hinzufügte.Aber nachdem Spengler zwei Scheinbeichten abgelegt hatte, wurde er absolviert und sein Name von der Bulle gestrichen.Trotz dieser Erfahrung schrieb Spengler weitere Flugschriften im Sinne der evangelischen Lehre, sogar eine gegen Exsurge Domine.11
7 Siehe Grimm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S. 25 und 33, und Gerald Strauss: Nuremberg in the Sixteenth Century, New York 1966, S.160. 8 Lazarus Spengler: Schutzrede und christliche Antwort eines ehrbaren Liebhabers der göttlichen Wahrheit der heiligen Schrift auf etlicher Widersprechen, mit Anzeigung, warum Dr. Martin Luthers Lehre nicht als unchristlich verworfen, sondern vielmehr als christlich gehalten werden soll, in: Lazarus Spengler Schriften, Bd.1 (wie Anm. 3), S. 75–102. Diese Flugschrift erlebte sieben Auflagen innerhalb von zwei Jahren (ebd., S. 79–81). Laut Spengler hat er seine Schutzrede nur für den Kreis der Humanisten in Nürnberg geschrieben. Der Augsburger Drucker Silvan Otmar bekam ein Exemplar der Flugschrift in die Hand und hat es ohne Spenglers Erlaubnis gedruckt (ebd., S. 75). 9 Ebd., S. 89,5–11. 10 Ebd., S.100,2–6. 11 Lazarus Spengler: In bullam pontificis Romani (Herbst 1520), in: Lazarus Spengler Schriften, Bd.1 (wie Anm. 3), S.134–45. Siehe Ronald K. Rittgers: The Reformation of the Keys: Confession, Conscience, and Authority in Sixteenth-Century Germany, Cambridge/Mass. 2004, S. 60–62.
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Im Laufe der Zeit wurde Spengler eine der führenden Stimmen der Reformation in Nürnberg und ganz Süddeutschland.12 Da er nicht nur Ratsschreiber, sondern auch Nürnberger Botschafter und Diplomat war, der auf verschiedenen Reichs- und Regionaltagen anwesend war, hatte Spengler Gelegenheit, die evangelische Lehre sowohl innerhalb als auch ausserhalb Nürnbergs zu verbreiten. Obwohl er keine formelle theologische Ausbildung besaß und kein geistliches Amt innehatte, gab ihm Luther die Ehre, dass er ihn als denjenigen anerkannte, der die Reformation in Nürnberg pflanzte. In einer Tischrede von 1531 äußerte sich Luther dergestalt über Spengler: „Doctor Lazarus Spengler Norinbergensis unus est, qui euangelium invexit in Norinbergam, et hactenus, ut in ea maneret, unus effecit.“13
II. Spenglers Trostschrift Eine tröstliche christliche Anweisung und Arznei in allen Widerwärtigkeiten erschien im Sommer 1521, fast zwei Jahre nach Spenglers Schutzrede für Luthers Lehre. Der Ratsschreiber war gerade vom Wormser Reichstag ( Januar–Mai 1521) wieder nach Nürnberg zurückgekehrt und machte sich große Sorgen wegen des Wormser Edikts. Besorgt war er auch um die vom Kaiser angeordnete Sitzung des Reichsregiments Anfang Herbst in Nürnberg. Diese Bedrohungen der evangelischen Bewegung in Nürnberg haben Spengler motiviert, seine erste Trostschrift zu schreiben. Die Adressatin seiner Christliche Anweisung und Arznei war seine Schwester Margaretha, die versucht hatte, ihrem Bruder in diesen Sorgen mit einem Brief zu trösten. In seiner Trostschrift bedankt sich Spengler bei Margaretha, sagt aber, dass er sich nicht auf solchen menschlichen Trost, sondern nur auf göttlichen Trost verlassen wolle. Dieser letztere Trost ist das, von dem er dem Leser in seiner Flugschrift Mitteilung macht. Kern göttlichen Trosts ist die Überzeugung, dass Leiden den Christenmenschen „Got neher machen“.14 Der Ratsschreiber nimmt kaum Bezug auf die aktuelle Situation in Nürnberg, sondern er schreibt generell über die Rolle des Leidens im christlichen Leben. Spenglers Verständnis vom göttlichem Trost ist in mancher Hinsicht durchaus traditionell. Er wiederholt Themen und Meinungen, die sehr häufig in der Trostliteratur des Mittelalters auftauchen:15 das Leben sei ein „tal der zeher“ und deswegen sollte der Mensch eine Anfechtung nach der anderen erwarten;16 das Leid komme entweder mittelbar oder unmittelbar von Gott, der es schicke, um seine guten Absichten zu erreichen, 12
Siehe Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.171. WA.TR 2, S. 296,28–S. 297,2. Siehe auch Hinweis in Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S. 204. 14 Siehe Anm. 4. 15 Siehe Günter Stemberger/Eike Kohler: Art.Trost in: TRE, Bd. 34 (2002), S.143–153, und Günter Bernt u. a.: Art.Trostbücher, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8 (1997), S.1048–1051. Dazu wird auch in Rittgers: Reformation of Suffering (wie Anm.1), Kap. 2, Wichtiges zu finden sein. 16 Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 229,22–25 und S. 230,9–19. 13
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vor allem solle der Mensch Geduld und Ehrfurcht vor Gott lernen;17 der Christ müsse in die Fußstapfen Christi treten (1. Petr. 2, 21),18 da dies der einzige Weg sei, Gott zu finden;19 der Christ müsse das Leid mit Dankbarkeit annehmen20 und wahrnehmen, dass er viel weniger leidet als er zu leiden verdiente;21 das Leid bringe mit sich viele Vorzüge, zum Beispiel die Verhinderung zukünftiger Sünden,22 das Vernichten des sündhaftigen Wesens,23 es macht Gottes Macht sichtbar ( Joh. 9, 3),24 und der Glaube des Christens werde darin geprüft.25 Spengler schreibt auch, dass das Leid dem Christen eine weitere Gelegenheit biete, Gott näher zu kommen, nämlich durch das Erlangen der Vergebung der Sünden. Diese Behauptung bedarf unserer Aufmerksamkeit. Spengler schreibt: „Ich waiß wol, das anfechtung und true bsal von Got zu unserm nutz, fue rderung und hail gesendet werden und das ein ygkliche betrue bnus, so der schmertzen derselben in einem rechten glauben und vertrauen zu Gott angenomen und geduldet wirdet, die sue nd reynigt und abwescht.“26
Ein paar Zeilen weiter erklärt er: „Ettliche menschen werden darumb von Got durch kranckhait, true bsall, widerwertikayt und leyden gegayselt, damit dieselben beschwerden, als ein puß von Gott verordent, die mackel yres sue ndigen, strafflichen begangen lebens abwasch und außtilg.“27
Spengler kann auch sagen, dass Gott das Verschulden der Sünde durch das Leiden vernichtet. Er schreibt: „Wiewol wir nun auß goe tlicher gerechtikayt ewiger straff und peen wirdig wern, geduldet uns doch der gue tig hymelisch Vatter als arme, doe rftige personen, uberschattet uns auch mit dem taw seiner gruntlosen parmhertzikayt und schickt uns dann dises, dann jhenes leyden, schmertzen und widerwertikayten zu, das er unser sue ndtlich verschulden damit abtilge.“28
Wie tilgt das Leid die Sünde aus? Spengler gibt keine klare Antwort. Er beschreibt nicht, wie diese Reinigung von Sünden oder diese Abtilgung des sündlichen Verschuldens durch Leiden vor sich geht. Es könnte sein, dass das Leid zur Vergebung der Sünden führt, indem es den Hochmut dämpft und die Demut fördert. Sehr früh in seiner Trostschrift, unmittelbar nachdem er behauptet hatte, dass das Leid den Menschen Gott näher bringe, betont Spengler, dass der Christ Leiden mit Dankbarkeit annehmen sollte, und dann schreibt er:
17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 231,4–10. Ebd., S. 227,25–S. 228,28. Ebd., S. 229,2–5. Ebd., S. 231,13–16. Ebd., S. 232,1–6. Ebd., S. 233,7–8. Ebd., S. 227,11–15. Ebd., S. 235,15–S. 236,2. Ebd., S. 236,13–18. Ebd., S. 231,4–10. Ebd., S. 231,20–23. Ebd., S. 232,1–6.
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„Dann anfechtung, bekummernus, true bsal, leiden, vervolgung und was dem menschen widerwertigs begegent, wo die in Got, von dem uns dieselben geschickt werden, geordent, sind anders nit dann ein haylsame tyriack und ertzney fue r alle beschwerden der sunden, und zuvor den auffgeplasen gifftigen seuchen der hochfart, der alle andere laster mit ime zeucht.“29
Spengler meint, dass Leid und Anfechtung dem Christen seine Hoffart und auch seine Gebrechlichkeit und Gnadenbedürftigkeit bewusst machen sollten; insofern der Christ diese Realitäten erkennt, d. h. insofern der Christ dem Urteil Gottes über ihn als Sünder zustimmt, widerfährt ihm Gnade. Der Ratsschreiber erklärt: „Dann das sehen und empfinden wir alle tag unwidersprechlich: So wir mit true bsal und leyden umbgeben werden, so schlagen wir in uns selbs, erkennen uns arm, geprechlich und gnadenbedoe rftig menschen; und so wir dann durch solch erkandtnus unser selbs nichtzit in uns finden, dadurch wir moe chten zu hochfart geursacht werden, werden wir gediemue tigt, flihen zu Got, ruo ffen und schreien zu yme umb hilf, do wirdet unser vertrau gegen yme gescherpft.“30
In diesem Zitat führt Leiden zur Demut und die Demut zum Anrufen Gottes um Hilfe, mit dem Ergebnis, dass der Glaube verstärkt wird und der Mensch göttliche Hilfe erfährt. In dieser Weise bringt das Leid das Heil näher. Später in seiner Trostschrift hebt Spengler den bußfertigen Schächer am Kreuz als ein Beispiel von Demut hervor: Dieser habe seine Schuld anerkannt, seine verdiente Strafe angenommen, seinen Glauben an Jesus geäußert, und daraufhin habe Christus ihm das Paradies versprochen (Lk. 23, 39–43).31 Der leidende Christ sollte sich ähnlich verhalten. Aber mit dieser Demutstheologie Spenglers als Antwort auf die oben gestellte Frage bin ich nicht völlig zufrieden. In den oben erwähnten Zitaten über das geduldige Tragen des Leidens und die Vergebung der Sünden bewirkt das Leiden mehr als Demut; es wäscht die Makel des sündigen Lebens ab und tilgt das Verschulden der Sünde.32 Die Worte, die Spengler verwendet – puß and abtilgen –, stammen aus der spätmittelalterlichen Bußtheologie, die eine ganz enge Beziehung zwischen Leiden und Vergebung der Sünden lehrte.33 Hier muss man betonen, dass Spenglers Verständnis von Leiden und Vergebung der Sünden sicherlich nicht als rein spätmittelalterliches zu bezeichnen ist. Das Fegefeuer kommt nie zur Sprache – nirgendwo sagt der Ratsschreiber, dass das geduldige Tragen des Leidens die Sündenstrafe (poena), die man sonst im Fegefeuer erleiden muss, ermäßigt.34 In seinen frühen Flugschriften erwähnt Spengler das 29
Ebd., S. 227,11–17. Ebd., S. 237,14–19. Ebd., S. 232,14–20: „Dann verhoffen wir aber seins göttlichen liechts [Mi. 7,9], so wir durch die zugeschickten puß unser sünden ine alls ainen erzürnten richter erwaichen. Der schacher am creutz hat von dem Herrn durch kain ander mittel parmhertzikait und das hymelisch paradis erlangt dann durch sein bekennen, das er auß billichayt die straff des creutz empfienge und gemeß seinem verdienen belonung einneme. Darumb wollen wir auch mit dem propheten zu Gott ruo ffen: ‚Herr, du bist gerecht und gerecht ist dein gericht‘ [Ps. 119,137].“ 32 Ebd., S. 241,3 und S. 237,3. 33 Zu diesem Punkt siehe die Studie von Thomas N. Tentler: Sin and Confession on the Eve of the Reformation, Princeton/New Jersey, 1977. 34 Es ist nicht klar, ob Spengler den Unterschied zwischen culpa (Schuld) und poena (Strafe) in der traditionellen Bußtheologie verstanden hat. Siehe Anm. 54 unten. 30 31
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Fegefeuer auffallend wenig. In seiner Ermahnung und Unterweisung zu einem tugendhaften Wandel, ein humanistischer Tugendspiegel, den er wahrscheinlich 1509 entworfen hat, aber erst 1520 im Druck erscheinen ließ,35 sagt Spengler, dass das geduldige Tragen des Leidens „verdienlich“ sei, auch dass es das jenseitige Leiden abnehme, aber er erwähnt das Purgatorium nicht.36 Spengler erwähnt das Fegefeuer in seiner Schutzrede für Luthers Lehre und auch in seiner Schrift In bullam pontificis Romani ab und zu, aber nur im Zusammenhang mit seiner Ablasskritik.37 Es ist möglich und vielleicht auch wahrscheinlich, dass Spengler, wie Luther, der diese traditionelle Lehre erst 1530 deutlich erkennbar ablehnte,38 an einer Vorstellung vom Fegefeuer festhielt.Aber es ist klar, dass das Fegefeuer als ein jenseitiger Ort, an dem man die nicht vergebene Strafe der Sünde erleiden müsse, keine bedeutende Rolle in seiner Theologie spielte. Seine Aussagen über Leiden und dieVergebung der Sünden beziehen sich nicht in erster Linie – wenn überhaupt – auf das Fegefeuer. In seiner Trostschrift ist es auch klar, dass er keinen menschlichen Beitrag zur Rechtfertigung erlaubt. Er schreibt dem Menschen keine Einwirkung auf die Rechtfertigung zu, sondern hält ganz deutlich und gut lutherisch daran fest, dass allein der Glaube dem Menschen Gott gefällig macht und ihn mit Gott einigt. Er sagt auch, dass nur der Glaube das echte christliche Ertragen des Kreuzes ermöglicht.39 Aber, 35 Siehe Lazarus Spengler: Ermahnung und Unterweisung zu einem tugendhaften Wandel, in: Lazarus Spengler Schriften, Bd.1 (wie Anm. 3), S. 6–7. 36 Ebd., S. 21,10, S. 22,13–15 und S. 23,11–12. Verdienst spielte eine größere Rolle in Spenglers „Ermahnung und Unterweisung“ als in der „Schutzrede“ und der „Christliche Anweisung und Arznei“, aber Verdienst ist auch noch ein Thema in den zwei späteren Flugschriften, vor allem in Spenglers Leidenstheologie. 37 Ebd., S. 92,1–13 und S.141,17.Vgl. ders.: Warum Luthers Lehre Not und Nutz sei (August/ September 1522), in ebd., S. 267,26. In seinen späteren Schriften äußerte sich Spengler viel kritischer über das Fegefeuer selbst.Vgl. ders.: an Peter Butz (1526, 10. Juni) und Glaubenbekenntnis (1533), in Lazarus Spengler Schriften, Bd. 2. Schriften der Jahre 1525–1529, hg. von Berndt Hamm/Wolfgang Huber/Gudrun Litz, Gütersloh 1999 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 70), S. 54,1–2, und S.139,1–4. 38 Martin Luther: Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518), in: WA 1, S. 555,36: „Mihi certissimum est, purgatorium esse . . .“ ders.: Grund und Ursach aller Artikel D. Martin Luthers, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), in: WA 7, S. 450,11–18: „Ich hab das fegfewr noch nie geleücknett. hallt es auch noch. wie ich viel mal geschrieben vnnd bekantt wie wol ichs ynn keynen weg. widder aüß der schrifft noch vornüfft vnwiddersprechlich beweyßen kan Ich find wol ynn der schrifft. das Christus. Abraham. Jacob. Moses. Job Dauid. Ezechias vnnd ettlich mehr. ym leben. die helle vorsucht habenn. wilchs ich acht sey das fegfewr. vnnd ist nit vnglewblich. das ettliche todten des gleychen leyden Taulerus sagt auch viel daüon vnnd kurtzlich mich hab ich beschlossen es sey eyn fegfewr. kan aber keynen andernn alßo beschließen.“ Erst 1530, in seinem Widerruf vom Fegefeuer (WA 30/2, S. 360–90), lehnte Luther das Purgatorium deutlich ab. Siehe Craig Koslofsky: The Reformation of the Dead. Death and Ritual in Early Modern Germany. 1450– 1700, London/New York 2000, S. 21ff. 39 Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 236,19–26: „Der glaub allein macht uns Got gefellig und angeneme, der ist die ainig sewl und grundtfesst, die uns in allem unserm leben erhelt, durch den wir Got verainigt und nahend werden und erlangen, was wir pitten. Der allein macht uns alle widerwertikait freudenreich, alle pürden leicht und alle pitterkait süß. Dann wer Got glaubt, in ine auch künlich vertraut und an seiner verhaisung nit zweifelt, dem ist freud und traurn, klagen und frolocken, kranckhait und gesundthait, sterben und leben gleich, der tregt alles das, so yme begegnen mag, on alle beschwerde in Christo.“
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wie wir sahen, Spengler kann noch daneben auch daran festhalten, dass der Christ das Leid geduldig ertragen muss, um seine Sünde und Sündenschuld auszutilgen. Das konventionelle Bußvokabular hat mindestens einen Teil seiner traditionellen Bedeutung in Spenglers Trostschrift beibehalten. Luther hat ganz anders über das Leiden gelehrt. In seiner sehr populären Flugschrift Ein Sermon von Ablass und Gnade (1517), die zweimal in Nürnberg gedruckt wurde,40 hat der Reformator die Meinung vertreten, dass der Christ seine Anfechtungen geduldig ertragen sollte, nicht weil er damit Genugtuung für seine Sünde leiste, sondern weil die von Gott geschickten Anfechtungen zu seiner geistlichen Besserung beitrügen. Luther hielt dafür, dass solche Anfechtungen nur medicativae nicht satisfactoriae seien.41 Er wollte damit die konventionelle Beziehung zwischen Leiden und der Vergebung der Sünden aufheben und durchbrechen.42 Nirgendwo hat Luther gelehrt, dass das geduldige Tragen des Kreuzes Gnade oder Vergebung der Sünden erwirbt. Das Leid prüft den Glauben, es formt den Christen nach dem Vorbild des gekreuzigten Heilands, es zeigt dem Christen seine Nichtigkeit, aber es büßt nicht die Sünde. In seinen Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518) äußerte Luther seinen Glauben an das Fegefeuer, aber betonte, dass es nicht ein punitorium sondern ein purgatorium sei: Eigenliebe werde beseitigt und die Liebe zum Willen Gottes gefördert – man leide, um rein zu werden, nicht, um die übrige Strafe der Sünde abzuarbeiten.43 (Spengler wollte, dass das geduldige Ertragen des Leidens als ein punitorium und ein purgatorium funktionieren könne, aber anscheinend ohne an das traditionelle Fegefeuer glauben zu müssen.) Es ist wohl möglich, dass Spengler Ein Sermon von Ablass und Gnade und die Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute gelesen hatte. 1521 teilt er mit, dass er alle gedruckten deutschen und lateinischen Werke Luthers sorgfältig studiert habe.44 Aber es scheint, als ob er Luthers Argument von der unverdienstlichen Natur des Leidens entweder nicht ganz verstanden hat oder (noch) nicht akzeptieren konnte. Es ist sicherlich der Fall, dass diese Besonderheit seiner frühen Luther-Rezeption seine Theologie nicht nur in der Christenlichen Anweisung und Arznei, sondern auch in der früheren Schutzrede für Luthers Lehre beeinflusst hat. Berndt Hamm hat nachgewiesen, dass in der letzteren Flugschrift Spenglers Luthers Rechtfertigungslehre in aller ihrer Radikalität nicht wirklich präsent ist.45 Hier erbringe ich einen weiteren Nach40 WA 1, S. 239. Beide Nürnberger Auflagen (G und H) wurden von Jobst Gutknecht 1518 gedruckt. 41 WA 1, S. 244,40–S. 245,4. 42 Siehe Rittgers: Embracing the „True Relic“ of Christ (wie Anm. 2). 43 WA 1, S. 560,26–30, S. 561,28–29 und S. 562,22. Der spätmittelalterliche Theologe Wessel Gansfort hatte eine ähnliche Theologie des Fegefeuers. Siehe Koslofsky: Reformation of the Dead (wie Anm. 38), S. 29. 44 Siehe Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.178. In seinen Flugschriften zwischen 1509 und 1529 gibt es keinen Hinweis auf Luthers „Ein Sermon von Ablass und Gnade.“ Siehe die „Außerbiblische Zitate“ Indices in Lazarus Spengler Schriften, Bd.1 (wie Anm. 3), S. 492, und ebd., Bd. 2 (wie Anm. 37), S. 488. 45 Zu Spenglers Missverständnis von Luthers Theologie in der „Schutzrede für Luthers Lehre“ siehe Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.178f. Hamm stellt fest, dass Spenglers Rechtferti-
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weis zur Stützung dieser Behauptung. Da Luthers Leidensverständnis unlöslich mit seiner Rechtfertigungslehre zusammenhängt, stimme ich Hamm völlig zu, dass Spengler, der sich so stark für dieVerbreitung von Luthers Lehre einsetzte, diese Lehre missverstanden hat, da der Ratsschreiber einen, wenn auch minimalen, menschlichen Beitrag zur Austilgung der Sünden und Sündenschulden durch das geduldige Tragen des Leidens anzuerkennen bereit war. Luther dachte hier radikaler.
III. Erklärung des Unterschiedes zwischen der Leidenstheologie Spenglers und Luthers Um Spenglers Verständnis der Beziehung zwischen Leiden und Vergebung zu erklären, weisen Hamm und Wolfgang Huber, die Herausgeber der kritischen Ausgabe der Christlichen Anweisung und Arznei, auf eine Predigt von Johannes von Staupitz hin.46 Staupitz war von 1503 bis 1520 Generalvikar des observanten Augustiner-Eremiten-Ordens in Deutschland und der Niederlanden und war in Nürnberg sehr bekannt und beliebt, vor allem in dem Kreis der Humanisten, zu dem auch Spengler gehörte.47 Nachdem Staupitz Nürnberg im Advent 1516 und in der Fastenzeit 1517 besucht hatte, hat dieser Kreis den Name Sodalitas Staupitziana angenommen, um damit den Generalvikar und seine Gelehrsamkeit und Frömmigkeit zu ehren.48 Während der Fastenzeit 1517 hielt Staupitz eine Reihe von Predigten, die Spengler sehr hoch schätzte – der Ratsschreiber zeichnete die ihm wichtigen Gedanken und Themen dieser Predigten in einem Heft auf.49 gungslehre von Staupitz stark beeinflusst war. Obwohl Staupitz die Gnade stark betonte, hatte er Platz in seiner Theologie für einen, wenn auch minimalen, menschlichen Beitrag zu der Rechtfertigung. Vgl.The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety. Essays by Berndt Hamm, hg. von Robert J. Bast, Leiden 2004, S.124.Vgl. auch David Curtis Steinmetz: Misericordia Dei. The Theology of Johannes von Staupitz in its Late Medieval Setting, Leiden 1968, S. 96. Steinmetz erklärte: „The viator may – and, indeed, must – merit the increase of grace, and can even earn eternal life (i. e., beatitudo), but he cannot merit justifying grace. Justifying grace is a gratuitous gift of God which antedates all merit and makes it possible.“ In seiner Trostschrift behandelte Spengler das Leiden als eine Gelegenheit, die Mehrung der Gnaden zu verdienen, nicht aber als den Anfang (initium) der Gnaden zu verdienen. 46 Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 231, Anmerkungen 80 und 89, und S. 232, Anm. 96.Auch bespricht Franz Posset den Einfluss von Staupitz auf Spenglers Trostschrift. Siehe: The Front-Runner of the Catholic Reformation.The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot, England 2003, S.189. 47 Zu Spenglers Bewunderung für Staupitz und den Einfluss des Letzteren auf Spenglers frühe Theologie siehe Anm. 45 oben und Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S. 60–68 und S.106–108. 48 Posset: The Front-Runner (wie Anm. 46), S.162–190. 49 Johannes von Staupitzens Sämmtliche Werke, 1. Band. Deutsche Schriften, hg. von Joachim Karl Friedrich Knaake, Potsdam 1867, S.15–42. Siehe Posset: The Front-Runner (wie Anm. 46), S.186 und 189, und Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.172–173. Hamm erklärt: „Diese Aufzeichnungen des Ratsschreibers sind keinesfalls mit den üblichen Predigtnachschriften des Spätmittelalters zu vergleichen: Sie sind nicht Nachschriften, sondern eine stark auswählende und komprimierende schriftliche Fixierung von Lieblingsgedanken und -themen, die Spengler bei Staupitz ausgesprochen fand und dann in seine eigene Sprache umsetzte.“
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Laut Spenglers Aufzeichnungen hat Staupitz eine Predigt über die drei Grade von Leiden gehalten.Wie Hamm und Huber angedeutet haben, scheint diese Predigt, vor allem die Beschreibung des ersten Grades des Leidens, Spenglers frühe Leidenstheologie beinflusst zu haben. Laut Spengler beschrieb Staupitz den ersten Grad des Leidens folgendermassen: „Der erst grad das der mensch solch vnschuldig leyden annimpt Vnd gedultiglich tregt fur ain puß vnd ablegung seiner sunden. Dieses leiden also anzunemen Ist wol nit Vnschicklich oder unchristenlich, dem menschen aber gegen den nachfolgenden zwayen graden nit gleich verdinlich. Dann so der sunder dieses leiden der gestalt annimpt Vnd got pit das er Ime das setz fur ein puß vnd genungthuhung [sic] seiner sunden, das ist allein ain bezalung der schulden Vnd sonden [sic] die der mensch vff sich hat, dann also nimpt er das leyden dorumb an das er In erstatung der bezalung gemachter sundtlicher schulden dester eher Vnd on lange pein des fegfewrs zu got komen mag.“50
(Der zweite und höhere Grad des Leidens bestehe darin, Leiden geduldig anzunehmen, um Verdienst und himmlische Belonung zu vermehren;51 der dritte und höchste Grad sei, Leiden geduldig anzunehmen aus reiner Liebe zu Gott und um Christus in seiner Passion nachzuahmen.)52 Ich bin überzeugt, dass dieses Zitat eine wichtige Quelle für Spenglers Verständnis der Beziehung zwischen Leiden und Vergebung der Sünden war. Aber ich frage mich, ob Spengler diesem Zitat mit seinem klaren Hinweis auf das Fegefeuer völlig hätte zustimmen können.Wir wissen, dass Spengler in seiner Apologie für Luthers Lehre und in seiner Trostschrift für eine evangelische Frömmigkeitstheologie eintrat, die Strömungen von Luther, Staupitz und auch Theologen wie Bernhard von Clairvaux aufnahm, die aber nicht mit einem einzigen dieser Anreger vollständig zu identifizieren ist.53 Ich möchte betonen, dass Spenglers 50 Johannes von Staupitz: Von den Graden des leydens Vnuerdinter Widerwertigkait.Wie die ordenlich Vnd Volkommenlich mogen gesetzt werden, in: Johannes von Staupitzens Sämmtliche Werke (wie Anm. 49), S. 21. Siehe auch Staupitz: Das alles vnnser leyden vnd widerwertigkait allein aus dem leyden christi suß vnd fruchtbar wirdet etlich Christenlich leren vnd beschluss reden, in: ebd., S. 31f. 51 Staupitz: Von den Graden des leydens (wie Anm. 49), S. 22: „Der ander grad ist das der mensch das Vnschuldig leyden gedultiglich zutragen annimpt, nit dorumb das es Ime ein ablegung der pein des fegfewrs vnd seiner sunden sein sol Sonder von wegen ainer merung sein Verdinens vnd belonens In den himeln, achtet auch derselben peen des fegfewrs gantz nit Sonder vil mer merung ewiger belonung, stellet auch sein gemute zu diesem ende das er zu got nit palt oder furderlich Sonder mit hoherm vnd mererm verdeinen Vnd also mit gehaufften eern zu Ime komen Wel.Vnd dis ist kain bezalung der schulden sonder dem gleich der sein gelt In ainen handel legt, domit es Ime dester statlicher gewinnung mit pring. Dann domit achtet der ewiger belonung mer dann zeitlicher peinigung, Stelt auch sein hoffen allein dohin das das Verdienen des leidens christi Ime die verdienten peen der sunden ablegen werd, vnd dieser grad des leidens ist hoher vnd verdinlicher dann der erst.“ 52 Staupitz: Von den Graden des leydens (wie Anm. 49), S. 22: „Der drit Grad vnd der Volkomenste ist der Wann der mensch solch leiden In gedult tregt, nit dorumb das er got bit, Ime das fur ein erstatung Verdeinter puss vnd pein seiner sonden zusetzen, oder Ime deshalben das verdinen seiner belonung zu manigfalten, Sonder allein aus lieb gotes vnd der Vrsach des vnschuldigen leidens christi, also wie got on alles verdinen vnschuldiglich gelitten hab das er solch vnschuldig leiden In gedechtnus desselben seins Vnuerdinten leidens tragen Wol. Das gefelt got zum hochsten [. . .].“ 53 Siehe Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S 225, und Posset: The FrontRunner (wie Anm. 46), S.180–81 und 256. Es gibt mehrere Hinweise auf Bernhard von Clairvaux in Spenglers Trostschrift, vor allem auf dessen Auslegung des 91. Psalms.
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Verständnis der Beziehung zwischen Leiden und Vergebung auch nicht mit einem von diesen vollständig zu identifizieren ist. Seine Leidenstheologie liegt zwischen der Theologie Staupitzens und Luthers; seine Theologie ist weder rein staupitzisch noch rein lutherisch. Wahrscheinlich hat Spengler geglaubt, dass seine Leidenstheologie mit Luthers identisch war, aber das war nicht der Fall; der Ratsschreiber hat wichtige Unterschiede zwischen Staupitz und Luther zum Thema Leid übersehen. Warum dieses Missverständnis? Warum hat er diesen Teil von Luthers Rechtfertigungslehre missverstanden? Warum hat er den traditionellen Konnex zwischen Leiden und der Vergebung der Sünden teilweise beibehalten? Man könnte antworten: deswegen, weil Spengler theologisch nicht gebildet war.54 Das ist sicherlich richtig, aber wir sollten die theologische Kenntnis des Ratsschreibers nicht unterschätzen. Es war ihm möglich, als Laientheologe sehr sorgfältig und differenzierend zu arbeiten. Zum Beispiel wissen wir, dass Spengler Luthers Von den guten werckenn (1520) gelesen hatte, denn er zitierte diese Schrift oft in seiner Christliche Anweisung und Arznei. An einer Stelle mahnte Luther seine Leser, dass sie ihre Leiden als einen „eyttel kostlich vordinst und die edlisten gutter, die niemant schetzen mag“ ansehen sollten. Das scheint zu meinen, dass der Christ zu seinem Heil durch die geduldige Ertragung des Leidens beitragen könne.55 Dies war sicherlich nicht Luthers Meinung, denn das Abwaschen der Sünde durch Leiden kommt nie zur Sprache. Der Reformator betont vielmehr, dass die Anfechtungen den Glauben prüfen und deswegen kostbar sind. Es scheint, als ob Spengler diesen Unterschied verstanden hätte; denn es gibt eine Textstelle in seiner Trostschrift, die sicherlich auf dem oben erwähnten Lutherzitat basiert, die aber nicht den konventionellen Zusammenhang zwischen Leiden und Vergebung, sondern die Prüfung des Glaubens durch Leiden betont.56 Aber in anderen Textzusammenhängen kann der Laientheologe immer noch daran festhalten, dass der Christ durch das geduldige Ertragen des Leidens Gnade verdienen kann. Später in seiner Trostschrift schreibt Spengler: 54 Es gibt andere Beispiele von Missverständnissen zwischen evangelisch gesinnten Laien und traditionellen Theologen in Nürnberg während der frühen Reformationszeit. 1524 haben einige Handwerker auf eine Bußpredigt eines Franziskaners stark reagiert, zum Teil weil sie den Unterschied zwischen Schuld (culpa) und Strafe (poena) in der konventionellen Bußtheologie nicht verstanden hatten. Sie hatten verstanden, dass sie ihre Sünde durch gute Werken büßen müssten, während der Prediger sagte, dass sie nur die Strafe der Sünden büßen müssten – die Schuld der Sünden vergebe Gott durch die priesterliche Absolution. In der katholischen Bußtheologie des Spätmittelalters kann das Leid nur die Strafe (poena) der Sünden büßen, nicht die Schuld (culpa). Siehe Rittgers: Reformation of the Keys (wie Anm.11), S. 73–79.Wie oben erwähnt (Anm. 34), ist nicht klar, ob Spengler diesen Unterschied zwischen culpa und poena verstanden hat. 55 WA 6, S. 208,24–28. 56 Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 237, 1–7: „Welche nun Got in yren true bsalen und widerwertikaiten vertrauen und ein veste zuversicht gegen ym behalten, das er ein wolgefallen uber sie und in yrem leyden hab, denen ist ir anfechtung gantz koe stparlich, verdienlich und etel nutz; dann der glaub und die zuversicht macht es alles gut und angeneme vor Got. Deßhalb, wie gehoe rt, so probirt Got unsern glauben durch anfechtung, ob wir uns auff yne vestigklich verlassen, auch bey yme, der uns allein hilf erzeygen mag, und nit den menschen dieselben hilf suchen woe llen.“ Vgl. ebd., S. 237, Anm.156.
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„Ist es nun nit ein hoher trost, das unser traw und glaub, so wir den in Gott stellen, ain unzweyfenliche hoffnung gepirt, und ein solch hoffnung, das ich gewislich wais, das mir umb mein mue he und arbait, wann ich die umb Christus willen in gedult trag und leyde, ewige, untoe dtliche belonung zu gewarten vorsteet?“57
Um Spenglers eklektische evangelische Leidenstheologie zu verstehen, vor allem seine Beibehaltung des traditionellen Konnexes zwischen Leiden und Vergebung der Sünden (aber ohne klaren Hinweise auf das Fegefeuer), müssen wir uns der Welt der spätmittelalterlichen Bußtheologie zuwenden.Wie wir schon gesehen haben, wollte Spengler das Heil näher bringen, er wollte „mich [. . .] Got neher machen“58, und er glaubte, dass Leiden dazu beitragen würde. Leiden diene nicht nur der Prüfung des Charakters und Glaubens, sondern auch der Reinigung von Sünden. Die traditionelle Bußtheologie hat gelehrt, dass das geduldige Ertragen des Leidens die Strafe der Sünden büßen würde. Berühmte Theologen wie Johannes von Freiburg (ca. 1250–1314) haben das Leid geduldig zu ertragen als eine Art von Fasten angesehen, weil es gegen die Fleischeslust kämpft und dadurch Ordnung in des Menschen Selbstbeziehung bringt.59 In seiner weitverbreiteten Summa confessorum unterrichtete Johannes von Freiburg die Beichtväter,60 dass sie Leiden, das ein Beichtkind geduldig erträgt, diesem als ein Bußwerk zurechnen sollten.61 Diese Summa ist in Nürnberg 1498 von Anton Koberger gedruckt worden.62 Auch wissen wir aus der Autobiographie des Kirchenmeisters der Sebalduskirche Sebald Schreyer, dass die Bibliothek dieser Kirche die „Excerpta de summa confessorum“ während Spenglers Lebenszeit besaß,63 vermutlich ein Auszug aus der Schrift des Johannes von Freiburgs.64 Da Spengler die St. Sebaldus Kirche besuchte, ist es deswegen durchaus möglich, dass er dort Kenntnis von dieser Schrift 57 Ebd., S. 238,8–11. Es gibt andere Textstellen in Spenglers Trostschrift, an denen er das geduldige Tragen des Leidens als eine Gelegenheit, Gnade zu verdienen, präsentiert. Siehe Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 241,3 und S. 242,8–9. 58 Ebd., S. 227,8. 59 Johannes de Friburgo: Summa confessorum, Augsburg, 1476, lib. III, tit. XXXIIII, quaestio cv. „Sicut vigilie peregrinationes discipline et omnia opera carnem affligentia reducuntur ad ieiunium.“ Siehe auch Questiones cix, cviii und cix. Dazu wird auch in Rittgers: Reformation of Suffering (wie Anm.1), Kap.1, Wichtiges zu finden sein. 60 Vgl. Georg Steer u. a.: Die „Rechtssumme“ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der „Summa Confessorum“ des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen B, A und C, Tübingen 1987, Bd.1, S. 7: „Die ‚Summa Confessorum‘ des Johannes von Freiburg [. . .] ist das Hauptwerk der mittelalterlichen ‚Summae de poenitentia‘, zumindest in der Germania [. . .].“ 61 Johannes de Friburgo: Summa confessorum (wie Anm. 59), lib. III, tit. 24, quaestio cviii: „cautus et discretus sacerdos post iniunctam penitentiam dicat penitenti quia omnia bona quae fecerit et omnia male que sustinuerit et proficiant ad salutem et ei penitentia hec omnia iniungat. Tunc enim valebunt ei omnia si a presbitero iniungantur et penitentia fit deuota [. . .].“ 62 Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Bd.13, GW Nummer M13590, nur zugänglich über URL: http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/. 63 Siehe Elisabeth Ceasar: Sebald Schreyer. Ein Lebensbild aus dem vorreformatorischen Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 56 (1969), S.101. 64 Johannes von Erfurt und Thomas de Chobham haben auch eine „Summa confessorum“ geschrieben. Es ist möglich, dass die Sebaldusbibliothek Excerpta dieser Beichtbücher enthielt, obwohl die Summa confessorum des Johannes von Freiburg in Deutschland viel bekannter war; siehe Anm. 60 oben.
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und der in ihr vertretenen Leidenstheologie durch Predigten, Katechismusunterricht, oder sogar während der Beichte bekam. Die Summa confessorum war nicht das einzige Beichtbuch, das den Konnex zwischen Leiden und Vergebung der Sünden in Nürnberg während Spenglers Lebenszeit betont hatte. Man braucht nur an den bekannten Peycht Spigel der Sünder zu denken, der 1510 in der Reichsstadt von Johann Stuchs gedruckt wurde. Ähnlich wie Johannes von Freiburg empfiehlt der anonyme Autor dem Beichtkind, seinen Beichtvater zu bitten, sein unverdientes Leiden ihm als eine Buße anzurechnen: „Pitt auch zu dem letzten ewr wirdikeit / wöllet mir itzunt ein kleine kürtze sacramentalichen puß auff setzten, die ich pald in diser stund / oder in disem tag müg außrichten / auch wöllet mich tailhafftig machen und zu puß auff setzten / das verdien des leides ihu xpi [griechisch] unsers herren / auch in ainer gemain zu puß geben fur mein sundt / alle meine gütte werck die ich than / oder die andere person fur mich thun / es sey peten / fasten / almüsen geben / wallen / auch allen gnad und applas den ich löß / auch mer alle mein kranckheit und widerwertikeit die ich leid / auch zu dem letzten alle mein sorg und arbait / die ich in meinem standt oder ampt / und domit ich mein zeitliche narung gewynn / die ding alle setzt mir auff zu einem genüg than uber mein sundt [. . .].“65
Die Verbindung zwischen Leiden und Vergebung sieht man überall in der Pastoral- und Frömmigkeitsliteratur des Spätmittelalters. Dieser Konnex ist in der populären Mentalität des Volkes – vor allem des Bürgers – am Vorabend der Reformation weit verbreitet. Unter anderen bietet diese Verbindung den Bürgern die Möglichkeit, ihr Leiden plausibel zu machen; Leiden ist eine vom Himmel geschickte Gelegenheit, die Strafe der Sünden zu büßen und dem Heil näher zu kommen. Insofern machte Leiden Sinn. Spengler lebte zwar nicht mehr in der spätmittelalterlichen Gedankenwelt, aber auch noch nicht völlig in der neuen evangelischen Welt, zumindest nicht der evangelischen Welt Luthers. Er lebte zwischen diesen Welten. Er war offen für Luthers reformatorische Botschaft, aber es fiel ihm schwer, die traditionelle Lehre von Leiden und Vergebung völlig abzulegen, weil ihm diese Lehre etwas sehr Wichtiges anbot, nämlich die Gelegenheit, das Heil und Gott ihm näher zu bringen, nicht im Sinne der unio mystica, sondern in dem Sinne, dass das Hindernis der Sünde zwischen Gott und dem Menschen wenigstens teilweise hinweg genommen und so sein ängstliches Gewissen beruhigt wird.66 Spengler war damals noch nicht ganz bereit, Luthers radikale Trennung von menschlichem Leiden und Vergebung der Sünden zu akzeptieren. Wir wissen nicht, ob Luther Spenglers Trostschrift je gelesen hat.67 Aber sicherlich hätte der Reformator Spenglers Schwierigkeiten verstehen können. In seiner 65
Peycht Spigel der Sünder, Nürnberg 1510, fol. L2r–L2v. Zum Thema des Beharrens von Verdienstdenken in der evangelischen bürgerlichen Frömmigkeit der frühen Neuzeit siehe Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 219. Zum Thema „ängstliches Gewissen“ bei Spengler siehe Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.175. 67 In Luthers Schriften findet sich gemäß der WA keinerlei Hinweis auf Spenglers „Christliche Anweisung und Arznei“. 66
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Schrift Von den guten werckenn (1520), bemerkt Luther, dass um sein – Luthers – Leidensverständnis begreifen zu können, der Mensch eine sehr schwierige „kunst“ meistern müsse.68 Um den im Leiden verborgenen Gott erkennen zu können, d. h. um ihn und seine Liebe zu erfahren, müsse der Mensch die Kunst des Glaubens meistern, ansonsten würde man das Leiden nur als ein Zeichen von Gottes Zorn deuten und dazu verleitet werden, diesen strafenden Gott durch eigene gute Werke versöhnen zu müssen.Wie wir schon gesehen haben, hat Spengler diese Lutherschrift gelesen und in seiner Trostschrift zitiert. Aber trotz seines starken Eintretens für Luthers Lehre und trotz seiner Betonung der Wichtigkeit des Glaubens und der Prüfung durch das Leiden, hat er diese lutherische Erkenntnis, dass allein der Glaube Gott näher bringt, (noch) nicht völlig gemeistert. Ich vermute, dass Spengler nicht der einzige evangelische Bürger war, der Schwierigkeiten hatte, die Glaubenskunst zu meistern.Wenn jemand wie Lazarus Spengler, der über Luthers Lehre relativ gut informiert war und sich für diese Lehre eingesetzt hat, und diese Lehre teilweise missverstanden hat, dann ist es höchst wahrscheinlich, dass andere Bürger, die nicht so begabt wie Spengler waren, diese Lehre auch missverstanden haben, vor allem in Bezug auf die Konsequenzen dieser Lehre hinsichtlich des Leidens und dessen Bewältigung im evangelischen Sinne. Ich bin überzeugt, dass der traditionelle Konnex zwischen Leiden und Vergebung der Sünden in der Gedankenwelt der evangelischen Bürger für längere Zeit präsent war; sonst hätten die evangelischen Theologen sich nicht so stark darum bemühen müssen, diese unevangelische Verbindung immer wieder in ihren Trostschriften, Predigten, Katechismen und Kirchenordnungen anzusprechen; der Versuch, diesen Konnex aufzulösen, ist ein definierendes Merkmal der evangelischen Leidenstheologie der frühen Neuzeit geworden.69 Spengler selbst hat den rechfertigenden Aspekt des Leidens nach 1522 abgelehnt. In seinen späteren Flugschriften ist die Verbindung zwischen Leiden und Vergebung nicht mehr zu finden.70 Stattdessen findet man die theologia crucis – Leiden sei ein „frembder werck“ des verborgenen Gottes, um das Heil des Menschen durch Gnade und Glauben ohne jedes menschliche Verdienst zu erreichen.71 Spenglers Leidenstheologie ist „lutherischer“ geworden; im Laufe der Zeit hat er wohl die Kunst des Glaubens zu meistern gelernt. In 1529 schrieb Spengler eine zweite Trostschrift: Wie sich eyn christenmensch in true bsal und widerwertigkayt troesten und wo er die rechten hilf und ertzney derhalben suchen soll.72 Interessanterweise weist der Ratsschreiber darin auf seine frühere Trostschrift hin, gibt aber keinen Hinweis darauf, dass er mit dem Inhalt der Christli68
Luther: Von den guten werckenn, WA 6, S. 208,10–18. Dazu wird auch in Rittgers: Reformation of Suffering (wie Anm.1), Kap.6–8, Wichtiges zu finden sein. 70 Siehe ebd., Kapitel 6. 71 Spengler: Wie sich eyn christenmensch in true bsal und widerwertigkayt troe sten und wo er die rechten hilf und ertzney derhalben suchen soll, in: Lazarus Spengler Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 37), S. 378,18–19. 72 Beide Auflagen wurden 1529 in Nürnberg gedruckt, ebd., S. 367. 69
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chen Anweisung und Arznei jetzt in jeder Hinsicht unzufrieden geworden war.73 In gewissem Sinne kann man diese Voraussetzung der Kontinuität seiner Leidenstheologie nachvollziehen: Seit ca. 1509 hat Spengler betont, dass der Christ in seinem Leben Kreuze ertragen müsse, um das Heil zu erreichen.74 Aber ab 1522 ist doch eine wichtige Änderung in seiner Leidenstheologie feststellbar: Leiden bietet nun nicht mehr eine Gelegenheit, für Sünden zu büßen; Leiden ist vor allem eine Gelegenheit, den Glauben zu bewähren, damit der Christ den allmächtigen Gott, der sich unter dem Leiden verbirgt, als „ein[en] sue ssen, gue ttigen vater“ erleben könne.75 Leiden bietet dem Christen die Gelegenheit, dass er Gott durch den Glauben näher kommt.
73
Ebd., S. 368, 15–20. Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 3), S.175: „Und bereits in Spenglers humanistischer Erstlingsschrift zeigt sich eine tiefe Überzeugung von der moralischen Schwäche, Labilität und Korruptheit des Menschen [. . .]. In die gleiche Richtung weist ein Lebensgefühl und eine Weltsicht Spenglers, die uns ebenfalls von seinen ersten Schriften an entgegentritt: die Totalität des Lebens als Leiden, die Welt als Summe von ‚Widerwärtigkeit‘ und ‚Anfechtung‘.“ 75 Spengler: Christliche Anweisung und Arznei (wie Anm. 3), S. 388,18. 74
Reinhold Friedrich
Heilsvergegenwärtigung durch Bildung Schule, Unterricht und Katechismus
Die Erkenntnisse der Kirchenvisitationen, die Luther und Melanchthon 1527 und 1528 durchführten, waren niederschmetternd: Vor allem auf dem Land überwogen Bildungsarmut und krasse Unwissenheit, verbunden mit Not und Elend. Nur wenige Pfarrer besaßen die Voraussetzungen, um zu predigen und somit das Evangelium den Menschen nahe zu bringen. Ein Kleriker antwortete auf die Frage Melanchthons, ob er die zehn Gebote kenne, er habe noch keine Zeit gehabt, sich dieses Buch zu beschaffen. Er meinte, es handele sich um eine neue Veröffentlichung Luthers1. Wie sollte das Evangelium die Menschen erreichen, wenn sogar die Prediger äußerst bescheidene Möglichkeiten und Mittel besaßen, sprich kaum gebildet waren. So waren die Anfänge der Reformation überschattet von einer großen Bildungskrise. Die grundsätzlichen Fragestellungen lauteten: Ist es möglich, dass Bildung zum Evangelium führt, d. h. kann Bildung das Wort Gottes, durch das der Mensch Gottes Gnade, sein Heil erfahren soll, fördern? Wie wichtig ist es, dass Glaube selbst auf Bildung aus ist, sich mit Bildung verbunden weiß? Darüber gab es unterschiedliche Ansätze. Auf die verschiedenen Gruppierungen und ihre Anschauungen wollen wir zunächst kurz unseren Blick werfen, um uns dann Luther und in seinem Jubiläumsjahr dem „Praeceptor Germaniae“ Philipp Melanchthon zuzuwenden und ihren Reaktionen und Lösungsmöglichkeiten nachzugehen. Die Kürze der Zeit macht es erforderlich, sich auf die beiden Protagonisten der reformatorischen Bewegung zu beschränken.
I. Bildungstendenzen Tatsächlich verbanden sich die Anfänge der reformatorischen Bewegung mit einem Niedergang der Qualität schulischer und universitärer Bildung und Ausbildung. Nach dem reformatorisch-humanistischen Aufbruch in Wittenberg, setzten sich mit dem Auftreten radikalreformerischer und spiritualistischer Gruppen 1 Vgl. Martin Greschat: Philipp Melanchthon – ein Intellektueller, Pädagoge und Christ, in: Reinhold Friedrich/Klaus A. Vogel (Hg.): 500 Jahre Philipp Melanchthon (1497–1560). Akten des interdisziplinären Symposions vom 25.–27. April 1997 im Nürnberger Melanchthon-Gymnasium, Wiesbaden 1998 (= Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 13), S.11–25, hier S. 20.
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stärker bildungskritische Tendenzen durch.Wurden zunächst die Lerninhalte des spätmittelalterlichen Universitätsbetriebes kritisiert, so lehnten die radikalreformerischen Kräfte das Bildungswesen insgesamt ab2.Während sich Luther auf der Wartburg aufhielt, geriet das Schulwesen in Wittenberg außer Kontrolle. So wurde die Knabenschule geschlossen und der Schulmeister Georg Mohr animierte die Eltern dazu, die Kinder aus der Schule zu nehmen, um sie ein Handwerk erlernen zu lassen. Das Schulgebäude wurde zweckentfremdet und zeitweilig zu einer Bäckerei umfunktioniert3. Gleichzeitig gingen an der Universität in Wittenberg die Studentenzahlen zurück. Aber auch andernorts wurde von Unruhen mit bildungskritischem Hintergrund berichtet. Radikale evangelische Prediger wandten sich unter Berufung auf Luther, vor allem auf Karlstadt und Müntzer, gegen den toten Buchstaben zugunsten der lebendigen Botschaft des Heiligen Geistes. Sie vertraten die Ansicht, dass zum Verständnis der Heiligen Schrift die deutsche Sprache und das Wirken des Heiligen Geistes vollkommen genüge. Das durch den Humanismus neu belebte Sprachenstudium lehnten sie ab und griffen Professoren, die sich der Reformation angeschlossen hatten, aber im Sinne der Bildung arbeiteten, aufgrund ihrer angeblichen Unentschiedenheit an. Ihre Kritik verband sich mit der seit längerem von unterschiedlichen Richtungen herkommenden Auffassung eines starren und an den Bedürfnissen der Zeit vorbeigehenden Bildungswesens. So sah die städtische Bevölkerung die Notwendigkeit der schulischen Erziehung der Jugend lediglich im Blick auf den wirtschaftlichen Nutzen und befürwortete ausschließlich eine allgemeine Bildung und die Einrichtung von städtischen Schreib- und Rechenschulen4.
II. Luther Auch Luther vollzog zunächst eine Abgrenzung gegen die Klosterschulen und die Schulen scholastischer Prägung, vor allem wegen der Verkehrung des Evangeliums, falscher Exegese, mangelnder Sachkenntnis und eines ineffektiven und unsinnigen Unterrichtswesens. Aber bereits in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“5 (1520) hob Luther die besondere Bedeutung der Schulen mit Blickrichtung auf die Heilige Schrift hervor: Er tritt dafür ein, auch in den „niederen Schulen“ als erstes die Heilige Schrift zu lehren, neben Knabenschulen auch
2 Vgl. z. B. Ernst Kähler: Karlstadts Protest gegen die Theologische Wissenschaft, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd.1.Wittenberg 1502–1817, Halle 1952, S. 299–312; Markus Wriedt: Die theologische Begründung der Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: Michael Beyer/Günther Wartenberg (Hg.) unter Mitwirkung von Hans-Peter Hasse: Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, Helmar Junghans gewidmet, Leipzig 1996, S.155–183, hier S.157. 3 Vgl. Wriedt: Bildungsreform (wie Anm. 2), S.157f. 4 Vgl. ebd., S.158. 5 WA 6, S. (381) 404–469.
Heilsvergegenwärtigung durch Bildung
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eine Mädchenschule in jeder Stadt einzurichten und meint grundsätzlich, dass ein Christ im Alter von neun oder zehn Jahren wissen sollte über das Evangelium, „da sein namen vnd leben ynnenn stet“.6 Die starke Konzentration auf die Schrift dient nicht nur der Belehrung, sondern auch der persönlichen Hilfe, weil, wie Luther betont, das junge Volk mitten in der Christenheit verschmachtet und erbärmlich verdirbt, da ihnen das Evangelium und damit das von Gott zugedachte Heil fehlt7. Am wichtigsten bleibt für Luther, dass im Unterricht auch die Heilige Schrift gelehrt wird.Wo das nicht der Fall ist, „rad ich furwar niemand / das er sein Kind hyn thue. Es musz vorterbenn / alles was nit gottis wort on vnterlasz treybt [. . .]“.8 Das zeigt, welch hohen Stellenwert Luther zunächst dem Studium der Bibel im schulischen Unterricht einräumt. Unter dem Eindruck des gerade geschilderten verfallenden Schulwesens in Wittenberg Anfang der 20er Jahre und der genannten bildungskritischen, bzw. bildungsfeindlichen Tendenzen hat sich Luther dann 1524 in Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, das sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“9 ausführlich geäußert. Der Adressatenkreis war gezielt gewählt, sah Luther doch in den Städten die besten Chancen für die Durchsetzung seiner Reformpläne, da die reformatorische Bewegung hier größte Akzeptanz erfahren hatte. In den Städten war der Aufbau eines evangelischen Schulwesens am ehesten möglich10. Im Licht des Wortes Gottes deutet Luther den Streit um die Notwendigkeit der Schulausbildung als Folge des tiefen Gegensatzes von Fleisch und Geist.Während der „fleyschliche haufe“ lediglich für die Sicherung des Lebensunterhaltes Sorge trägt, legen fromme und Gott gehorsame Eltern insbesondere auf das Seelenheil ihrer Kinder wert11. Die paulinische Terminologie von Fleisch und Geist, die Luther hier anwendet, soll die Dimension der Auseinandersetzung deutlich machen: Eltern, die ihren Kindern die notwendige Ausbildung nicht ermöglichen, werden zum Werkzeug des Satans. Hatte dieser zunächst die Wahrheit des Wortes Gottes durch Klöster, Schulen und scholastische Bildung verdunkelt und dafür Sorge getragen, dass ihm kein Kind entkäme, sieht er sich nun gezwungen, andere Wege zu suchen, um die Menschen zu verführen, da durch das Licht des Evangeliums sein Spiel – die falsche, irrende kirchliche Bildung – aufgedeckt wurde. Er muss Bildung um jeden Preis verhindern, damit das Verständnis der Schrift weiterhin 6 Ebd., S. 461, 11–13. 19–21; vgl. Yoshikuzu Tokuzen: Pädagogik bei Luther, in: Helmar Junghans (Hg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1525 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, Bd.1, 2. Aufl., Berlin 1985, S. 323–330, hier S. 323. 7 Vgl.WA 6, S. 461,33–35. 8 Ebd., S. 462,2–4. 9 WA 15, S. 27–53. 10 Vgl. Markus Wriedt: Erneuerung der Frömmigkeit durch Ausbildung: zur theologischen Begründung der evangelischen Bildungsreform bei Luther und Melanchthon, in: Frömmigkeit und Spiritualität. Auswirkungen der Reformation im 16. Jahrhundert, Mainz 2002 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 54), S. 59–71, hier S. 60f. 11 Vgl.WA 15, S. 29,5–7.
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dunkel, die Menschen verführbar, der Weg zu Gott und die Gewissheit ihres Heils verschlossen bleiben12. Nach Ansicht Luthers muss die Gefährdung durch den Satan stets von neuem angeprangert werden, damit er sein zerstörerisches Werk nicht vollenden kann. Früher gaben die Menschen aufgrund der Tücken des Teufels unnötig viel Geld für Ablass, Messen, Wallfahrten und anderes aus, jetzt ist es deshalb nur recht und billig, Gott seinen Gehorsam dadurch erkennen zu geben, indem man einen Teil seines Einkommens zur Erziehung der Jugend zur Verfügung stellt und somit der Bildung Ehre erweist13. Außerdem betont Luther in der „Ratsherrenschrift“, dass für Deutschland ein „güldenes Jahr“ angebrochen sei durch die verbesserte Bildung und Ausbildung an Schulen und Universitäten und durch eine „reformatio“ der Verkündigung des Evangeliums14. Die Nachlässigkeit in Bildungsfragen ist freilich ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung, sie ist darum als Sünde so gefährlich, weil sie als solche nicht erkannt und geahndet wird15. Luther spricht im Zusammenhang von Gottes Wort und dem den Menschen zugedachten Heil wie von einem fahrenden Platzregen, der nicht wieder kommt. Wer ein „güldenes Jahr“, ein „Jahr des Heils“ erleben will, darf nicht untätig sein, es müssen die von Gott gegebenen Bildungschancen genutzt werden. Gottes Wort, das Heil und Segen für den Menschen bringt, muss verstanden werden, dazu muss es gelesen und gedeutet werden. Dazu helfen die Sprachkenntnisse und die „artes liberales“.Wer sich ihrer nicht bedient, wird vom weiter ziehenden Platzregen des göttlichen Wortes nichts haben16. Das Heil des Menschen, das von Gottes Gnade abhängig ist, bedarf zugleich des menschlichen Fleißes, nämlich der Bildung und der Erziehung der Jugend. Lesen, Schreiben und Rechnen allein genügt nicht. Es muss auch Menschen geben, die Latein, Griechisch, Hebräisch und die „artes“ lernen, denn diese helfen nicht nur, die Heilige Schrift zu verstehen, sondern auch das weltliche Regiment zu führen17. Gelehrte Räte, gebildete Personen bedarf jeder Staat und jede Stadt18. Es besteht – so Luther – die höchste Gefahr darin, zu meinen, für das Verstehen der Heiligen Schrift wäre ausschließlich der Heilige Geist erforderlich. Grundsätzlich geht Luther davon aus, dass das Evangelium allein durch das Wirken Gottes zu uns kommt. Aber er bedient sich der Sprachen19. Deswegen wird gefolgert: Das Hebräische und das Griechische sind heilige, nämlich von Gott bevorzugte Sprachen20. Ohne die Sprachen wird das Evangelium wieder verloren
12
Vgl. Wriedt: Bildungsreform (wie Anm. 2), S.159. WA 15, S. 30,22–31,4; vgl. Wriedt: Bildungsreform (wie Anm. 2), S.159f. 14 WA 15, S. 32,1f. 15 Vgl. Markus Wriedt: Art. Bildung, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 231–236, hier S. 233. 16 Vgl. Gerhard Müller: Glaube und Bildung, in: Lutherjahrbuch 66 (1999), S. 9–29, hier S.18f. 17 WA 15, S. 34,32–36,20, besonders S. 36,17f. 18 Vgl. Müller: Glaube und Bildung (wie Anm.16), S.19. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl.WA 15, S. 37,4–38,5, besonders S. 37,17–22. 13
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gehen: „Die sprachen sind die scheyden / darynn dis messer des geysts stickt.“21 Die Bedeutung der biblischen Sprachen ist wichtig, sonst kommt es zu Fehldeutungen biblischer Texte.Werden sie wie jetzt studiert, dann kommt das Evangelium, das Heil für den Menschen bringt, fast so schnell ans Licht wie zur Zeit der Apostel22. Es muss auch nicht jeder alles beherrschen. Es gibt schlichte, ungebildete Prediger, die sich an den eindeutigen Bibelstellen orientieren sollen, um die Botschaft Gottes nicht zu verfehlen. Daneben gibt es die gebildeten Exegeten. Sie müssen die biblischen Sprachen erlernt haben, wenn sie Irrlehren entlarven wollen23. Schlichte Predigt ist also weiterhin möglich, wenn sie sich an den klaren Aussagen der Heiligen Schrift orientiert; exegetische, wissenschaftliche Arbeit dient dazu, um Häresien zu bekämpfen. Luther geht von der Klarheit der Bibel aus.Wo diese bestritten wird, da ist nicht erkannt worden, dass der Mangel lediglich an den Sprachen liegt. Es gibt nicht Lichteres, Helleres als Gottes Wort, wenn wir die Sprachen verstünden24. Das ist seine eigene Erfahrung: Ich hätte das Ziel einer rechten Exegese nicht erreicht, „wo mir nicht die sprachen geholffen vnd mich der schrifft sicher und gewiss gemacht hetten“.25 Doch die Sprachen sollen sich insbesondere auf einen Bildungsinhalt fokussieren: „Fur allen dingen solt in den hohen und vndern schulen die furnehmst und gemeynist lection sein die heylig schrifft.“26 „Sich in das evangelium einzubilden“27 ist letztlich der Grund für Luther, sich mit dem Thema Bildung auseinanderzusetzen. Die schulische Unterweisung im Evangelium ist bei Luther eng gekoppelt mit dem für seinen Glauben charakteristischen Erleben der Nähe Gottes und der damit verbundenen Heilsgewissheit des Menschen28. Luther geht eindeutig davon aus, das es allein Gottes Werk ist, den Glauben im Menschen zu bewirken, aber alle Bildung dient letztlich dem Verstehen und der Interpretation der Heiligen Schrift. Im Übrigen sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Begriff „Bildung“ bei Luther nicht vorkommt – jedenfalls nicht als pädagogischer Begriff. Der ist bekanntlich neueren Datums, auch wenn er seinen Ursprung und seine Wurzeln in der mittelalterlichen Mystik hat29. 21
Ebd., S. 38, 8f. Vgl. Müller: Glaube und Bildung (wie Anm.16), S. 20. 23 Vgl.WA 15, S. 40,14–20. 24 Vgl. ebd., S. 41,2–5. 25 Ebd., S. 42,22–43,1. 26 WA 6, S. 461,11f. 27 Zum religiösen Gebrauch des Wortes ‚bilden‘ bei Luther vgl. Günther Dohmen: Bildung und Schule. Die Entstehung des deutschen Bildungsbegriffs und die Entwicklung seines Verhältnisses zur Schule, Bd.1. Der religiöse und der organologische Bildungsbegriff, Weinheim 1964, S. 59f.; HansJürgen Fraas: Bildung und Menschenbild in theologischer Perspektive, Göttingen 2000, S. 53. 28 Vgl. Ivar Asheim: Glaube und Erziehung bei Luther. Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik, Heidelberg 1961 (= Pädagogische Forschungen 17), S. 253. 29 Vgl. Reiner Preul: Bildung und Erziehung nach Gesichtspunkten Luthers, in: Lutherjahrbuch 70 (2003), S.11–32, hier S.14; Ernst Lichtenstein: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel, Heidelberg 1966; ders.: Bildung. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, Darmstadt 1971, S. 921–937. 22
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Ausgehend von der durch den Sündenfall hervorgerufenen Trennung des Menschen von Gott, spiegelt sich Luthers reformatorische Botschaft und sein Verständnis von „Bildung“: In der gläubigen Annahme der biblischen Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus eröffnet sich dem Menschen die Hoffnung und Zuversicht, die Kluft zwischen Gott und sich zu überwinden. Der Mensch muss sich das Evangelium „für“ bzw. „einbilden“, um die Erfahrung des simul iustus et peccator machen zu können30. Im Wort der biblischen Botschaft und in den Sakramenten Taufe und Abendmahl erhält Gottes Heilszusage an den Menschen geradezu greifbare und „einbildbare“ Qualität31. Der Mensch kann sich Gottes Wort in sein Herz „einbilden“. Bildung beschreibt bei Luther „den Prozeß des gnadenhaften Einbildens Gottes in die gläubige, geöffnete, aber durch und durch kreatürliche Seele des Menschen“32. Dabei wird die Menschwerdung Christi zur Bildungsgrundlage für den Menschen, da sie ihm durch das Herablassen Gottes in dessen kreatürliche Lebenswelt ein solches Einbilden ermöglicht. Greifbarer Bildungsgegenstand ist die „Abbildung“ Gottes in den dem menschlichen Fassungsvermögen entsprechenden Worten und Bildern der biblischen Überlieferung33. So bringt Luther in einer Predigt das „Bilden“ folgendermaßen zum Ausdruck: „Dicemus, was fur große gnad uns Gott erzeigt hat, quod factus est homo [. . .]. Die jungen Leute sollen am ersten mercken die geschicht und ins Hertz bilden, das sie irer nicht vergessen, auff das sie unserm herr Gott dancken und loben pro hoc beneficio.“34
Und an anderer Stelle: „So wolt unser herr Gott auch gern, das wir sein wort vleissig jnn unserm hertzen bewiegeten und so einbildeten, das schier natur draus wu(e)rde.“35
Luther hat seine Forderung nach einer breit angelegten, religiös motivierten Schulbildung in der Folgezeit nach 1524 in einigen Schriften wiederholt, insbesondere 1530 im „Sermon, wie man Kinder zur Schule halten soll“36, in dem er betont, dass ein jeder Christenmensch das vom christlichen Glauben wissen und sich einbilden sollte, was er zu seinem Heil nötig hat, d. h. also einen Minimalkatalog evangelischer Lehre zu beherrschen, da die Teilnahme an Ritus und Kultus nicht genügt37. Die Aufgabe der Vermittlung der Lehre oblag in erster Linie den Pfarrherren, aber auch schon sehr früh wurde jeder Hausvater in die Pflicht der geistlichen Fürsorge für die ihm Anvertrauten genommen: Er muss Kenntnis der Bibel besitzen, Liturgie, Gebete und Lieder beherrschen und sich vor allem 30
Vgl. Dohmen: Bildung und Schule (wie Anm. 27), S. 65. Vgl. Horst F. Rupp: Religion – Bildung – Schule. Studien zur Geschichte und Theorie einer komplexen Beziehung, 2. Aufl., Weinheim 1996 (= Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion 7), S. 33. 32 Dohmen: Bildung und Schule (wie Anm. 27), S. 59. 33 Vgl. ebd., S. 59f. 34 WA 37, S. 230,33–231,1. 35 Ebd., S. 246,1f. 36 WA 30/2, S. 517–588. 37 Vgl. Rupp: Religion (wie Anm. 31), S. 35. 31
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die Lehre in allen Hauptstücken vergegenwärtigen können. Dazu ist vor allem der Katechismusunterricht notwendig. Kleiner wie Großer Katechismus Luthers wurden nicht für den Schulunterricht abgefasst, sondern waren für die vom Hausvater durchzuführende Glaubensunterweisung bestimmt, zum andern sollte er den Pfarrern und Lehrern helfen, die christliche Lehre auf einfachste Weise darzulegen38. Der Katechismusunterricht gehörte in der Folge zu den notae ecclesiae. Der Katechismus wird für Luther zur „leien biblia, darin der gantze inhalt christlicher lehre, so einem iden christen tzur seligkeit tzu wissen notig, begrieffen“39. In der Vorrede zum Kleinen Katechismus heißt es: Pfarrer und Prediger sollen die Hauptstücke des christlichen Glaubens unter die Leute bringen, insbesondere unter die jungen und ihnen den Katechismustext wörtlich und täglich einprägen, damit sie ihn auswendig können und danach durch die Auslegungen verstehen, was sie gelernt haben40. Den Großen Katechismus bezeichnet Luther als Predigt und damit zu allererst als Verkündigung zum Unterricht, als Kinderlehre, die ein jeder Christ zur Not wissen soll. Notwendig für sein Heil ist für jeden Christen der Glaube an das Evangelium von Christus und unserer Erlösung: „Auch stehet das gantze Evangelion, das wir predigen darauff, dass man diesen artikel wol fasse, als an dem alle unser heil und selickeit ligt und so reich und weit ist, das wir ymer gnug daran zulernen haben“.41 Das gilt natürlich unter der Einschränkung, dass die Wirksamkeit des gehörten Wortes letztendlich nicht von dem erworbenen Katechismuswissen abhängig, sondern wiederum ein Gnadengeschenk Gottes ist42. Wenn das Wort aber wirksam wird und das Kind „ynn Gottis erkenntnis auff wechst“43, ist damit nicht ihm allein geholfen, sondern dem gesamten christlichen Gemeinwesen. Dies wird besonders in Luthers Ausführungen zum Gehorsam deutlich. So muss z. B. das vierte Gebot vom Evangelium her als ein Werk verstanden werden, das der Christ aus Dankbarkeit für die in Christus geschenkte Gabe des Heils freudig erfüllt44. Im Licht des Wortes Gottes kann vom Gläubigen erkannt werden, dass Gehorsam und Pflichterfüllung gegenüber Eltern, Staat, Stand und Kirche „Gottesdienst“ ist45, und als „Zusammenarbeit mit dem jetzt und hier wirkenden Gott“46 verstanden werden. Der Mensch in all seiner Unzulänglichkeit wird hinein genommen „in den Vollendungswillen des dreieinigen 38
Vgl. ebd., S. 35f. WATR 5, S. 581,30–32. Vgl. Johannes Schilling: Art. Katechismen, in: Beutel (Hg.): Luther Handbuch (wie Anm.15), S. 305–312, hier S. 308f. 41 WA 30/1, S.187,14–16. 42 Vgl. Hein Retter: Glaube und Anfechtung in ihrer Bedeutung für Luthers Erziehungsverständnis, in: Reinhard Golz/Wolfgang Mayrhofer (Hg.): Luther und Melanchthon im Bildungsdenken Mittel- und Osteuropas, Münster 1996 (= Texte zu Theorie und Geschichte der Bildung 8), S. 34– 57, hier S. 49. 43 WA 15, S. 29,32f. 44 Vgl. Asheim: Glaube und Erziehung (wie Anm. 28), S. 260. 45 Vgl. ebd., S. 259. 46 Ebd., S. 254. 39 40
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Gottes an und mit seiner Schöpfung“47. Das Vermitteln dieser Erkenntnis um die göttliche Berufung zur Mitarbeit erhebt die Unterweisung im Evangelium zur höchsten Pflicht eines christlichen Erziehers. Auch wenn das wirkliche „Bilden“ Gott vorbehalten ist, geschieht die Verkündigung durch das äußerliche Wort als sichtbares Instrument Gottes48. Deshalb muss das Evangelium, damit es wirklich jedes Kind erreicht, auch in der Schule in Form des Katechismusunterrichts unterstützend zur kirchlichen Predigt gelehrt werden. Von daher resultiert natürlich auch der in der religiösen Unterweisung der reformatorischen Kirchen der nachfolgenden Zeit immer wieder feststellbare Glaube, dass dem wörtlich zu verstehenden Lernen des biblischen Wortes gleichsam eine heilsame Bedeutung zukomme.
III. Melanchthon Bilden und Bildung war auch für Melanchthon sein ganzes Leben lang ein zentrales Anliegen. Aufgrund des anfangs skizzierten Bildungsnotstandes arbeitete Melanchthon Zeit seines Lebens mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln an einer Verbesserung der Bildung: So berichtet er nach den durchgeführten Kirchenvisitationen im Jahr 1528: „Wie kann man es verantworten, dass man die Leute bisher in so großer Unwissenheit und Dummheit gelassen hat! Mein Herz blutet, wenn ich diesen Jammer erblicke. Ich gehe oft beiseite und weine meinen Schmerz aus, wenn wir mit der Untersuchung eines Ortes fertig sind. Und wer wollte nicht jammern, der da sieht, wie die Anlagen des Menschen so ganz vernachlässigt werden und der Geist, der so viel lernen und fassen kann, nicht einmal von seinem Herrn und Schöpfer etwas weiß.“49
Diese offenkundige Misere führte dazu, dass Melanchthon die Bildung zu einem Schwerpunktthema seines Wirkens in Wittenberg machte. Er errang hohe Bedeutung aufgrund seines organisatorischen Wirkens für den Aufbau eines effektiven Schul- und Bildungswesens. In rastlos-reger Tätigkeit – mit persönlichen Beziehungen, seiner ausgedehnten Korrespondenz und seiner intensiven Reise- und Visitationstätigkeit – schuf er die äußeren strukturell organisatorischen Vorraussetzungen für den Aufbau von Schulen und Universitäten. Melanchthon hat an den Lehrplänen mitgearbeitet und für deren praktische Umsetzung Sorge getragen, d. h. Pädagogik in „Bestform“ im wahrsten Sinne des Wortes betrieben. Als er 1524 zum Rektor der Universität Wittenberg gewählt wurde, verankerte er bereits zwei Hauptanliegen seiner Pädagogik in die neue Studienordnung: 1. die Bildung der sprachlichen Fähigkeiten durch Deklamationen und 2. die Durchführung eines geordneten Studiengangs, der auf die individuellen Bedürfnisse der 47
Preul: Bildung und Erziehung (wie Anm. 29), S.17. Vgl. Fraas: Bildung und Menschenbild (wie Anm. 27), S. 53. 49 Georg Merz: Das Schulwesen der deutschen Reformation, Heidelberg 1902, S. 3; vgl. Wriedt: Erneuerung der Frömmigkeit (wie Anm.10), S. 59. 48
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Studenten abgestimmt war (davon können heutige Studenten nur träumen)50. Er hatte dabei stets den Blick für die Realität, im Blick auf Lehrer und Schüler, wenn es um Bildung ging, sei es im weltlichen oder im geistlichen Sinn. Aufgrund der Bildungsmisere wusste er um Wohl und Wehe von Lehrern und Schülern: Die Schulen müssen Lehrer bekommen – so Melanchthon – die sich durch Talent, Gelehrsamkeit, Tugend und Weisheit auszeichnen und nicht nur über gewöhnliche Methoden des Lehrens und Lernens verfügen51. Gerade Lehrer müssen auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten gut bezahlt werden, weil Schulen zur „Fortpflanzung und Pflege der Wissenschaften“ nötig seien und ohne Schulen komme man schnell zu einem grob viehischen Leben in Kirche und Staat52. Der Lehrerberuf wird von Melanchthon gegen den Zeitgeist gestärkt: „Kein Mülleresel hat jemals soviel Leid erlebt, als wer Knaben zu lehren hat. Wird ein Knabe einem Lehrer zu unterrichten übergeben, so ist es meistens schon durch das eigene Haus verdorben.Weil es die Schlechtigkeiten kennt und sogar schon gekostet hat, so mangelt es ihm an Liebe und Bewunderung für die Wissenschaft [. . .] Es ist eine kleinere Mühe, ein Kamel tanzen oder einen Haufen Esel spielen zu lehren.“53
Wenn der Geist des Kindes nicht bei der Sache, „sondern in der Kneipe oder beim Würfelspielen ist, das ist eine solche Not und Mühe, dass man lieber in einer Mühle arbeiten möchte.“54 Melanchthon betrieb die Ausgestaltung des Lehrens und Lernens an sämtlich vorhandenen Bildungsinstitutionen. Er ließ zum Er- und Begreifen des enzyklopädischen Wissens seiner Zeit nahezu kein bekanntes Wissens- und Wissenschaftsgebiet aus. Im Unterschied zu Luther kann Melanchthon aber differenziert Übereinstimmungen mit dem spätmittelalterlichen Schul- und Bildungswesen feststellen. Er verdammt die alten Schulformen nicht insgesamt, sondern kann bewusst ältere Reformansätze für gut heißen und greift auch auf Motive und Elemente der humanistischen Bildungsentwürfe zurück. Er kritisiert zwar auch das spätmittelalterliche Schulsystem, unterscheidet aber, indem er das Gute der Tradition bewahrt und seine Reformvorschläge auf dem Hintergrund der Tradition und ihrer Überlieferung sorgfältig abwägt55. Auch Melanchthon geht davon aus, dass Schulen durch Gottes Gebot eingerichtet sind, insofern von Gott beschützt werden. Aufgrund des Gehorsams gegenüber Gottes Gebot soll Bildung zu seinem Dienst geschehen56. 50 Vgl. Markus Wriedt: Pietas und Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsreformerischen Ansätze bei Philipp Melanchthon unter besonderer Berücksichtigung seiner Ekklesiologie, in: Johanna Loehr (Hg.): Dona Melanchthoniana, Festgabe für Heinz Scheible zum 70. Geburtstag, Stuttgart-Bad Canstatt 2005, S. 501–520, hier S. 508. 51 Vgl. Corpus Reformatorum 11, S.107. 52 Vgl. ebd. 53 Ebd., S.121f. 54 Ebd., S.124. 55 Vgl. Wriedt: Erneuerung der Frömmigkeit (wie Anm.10), S. 66f. 56 Vgl. ebd., S. 66.
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Die Erziehung und Bildung setzt nach Melanchthon – im humanistischen Kontext – an der Erziehung zur Sittlichkeit an, d. h. an der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen gut und böse. Bildung ist bei Melanchthon zuerst einmal Bewirken einer ethischen Grundhaltung, einer ethisch qualifizierten Humanität. Diese Grundhaltung lässt sich mittels der Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Philosophie erreichen. Ziel des Lernens und Lehrens ist – ganz in humanistischer Tradition – die eloquentia als Bildungsziel. Die stilistisch kunstvolle Rede ist Ansporn für philologische und grammatische Studien57. Die eloquentia ist dann das pädagogische Ideal, wenn sich in ihr das Gute verwirklicht. Schule ist nach Melanchthons Vorstellung so etwas wie ein Ort der Selbsterziehung zum Guten hin, die sich an der „paedagogia in Christum“ orientiert: „So sollte euch auch billig dieses anreizen, daß die Versammlung der Kinder in einer christlichen Schule ein sehr schöner Teil der wahren Kirche Gottes ist. Da ist der Haufe, davon Christus sagt: Lasset die Kinder zu mir kommen, solcher ist das Reich der Himmel. Es sollen Schulmeister und Jungen, wenn sie in der Schule zusammenkommen, nichts anderes bedenken, als wenn sie in einer Kirche vor Gott und den Engeln, die auch allda bei dem jungen Volk in der Schule sitzen und sie bewahren“58,
die Schule also wie ein großer Himmelssaal, ein Ort des Lehrens und Lernens im Angesicht Gottes. Sprachbildung und Spracherwerb sind für Melanchthon nicht nur Bildungsziele, sondern sind ein Ausdruck seines gesamten Menschenverständnisses: Sprache ist für Melanchthon nicht nur etwas Äußerliches, sondern reicht in die Wurzeln des Menschseins hinein. Die Pflege der Sprache soll zur Formgebung und Kultivierung des ganzen Menschen führen, die bonae litterae, d. h. die ästhetisch und inhaltlich edlen Schriften der Antike sollen zum guten Leben anleiten. Die griechischen und lateinischen Klassiker erlangen eine eigene Vormachtstellung: sie werden selber zur obersten Norm, zu einer Bildungsnorm, die sich in sämtliche Bereichen des Menschen einbilden und einprägen soll, um den Menschen zu seiner wahren Verwirklichung zu führen59. Der ganze Schatz der Religion, wovon unser ewiges Heil abhängt, kann nur durch die Werkzeuge der Sprachen gehoben und erworben werden. Den Menschen sieht Melanchthon als Geschöpf und Sünder zugleich: Dem Menschen ist die imago Dei aufgepresst, damit Gott in ihm 57 Vgl. Wilhelm Schwendemann: Melanchthon und Calvin: Glaube und Bildung, in: Reinhard Wunderlich/Bernd Feininger (Hg.): Zugänge zu Martin Luther. Ringvorlesung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg zum Lutherjahr 1996, gesammelt als Festschrift für Dietrich von Hexmann, Frankfurt a. M. u. a. 1997 (= Übergänge. Studien zur evangelischen und katholischen Theologie/Religionspädagogik 1), S. 307–332, hier S. 317f. 58 Wilhelm Schwendemann: Melanchthons reformatorische Pädagogik. Programm und Wirklichkeit, in: ders.: Philipp Melanchthon 1497–1560. Die bunte Seite der Reformation. Das Freiburger Melanchthon-Projekt (= Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Freiburg 1), S. 70–94, hier S. 89. 59 Vgl. Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube, mit einer Edition von Gudrun Litz, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 25), S. 45f.
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leuchte und erkannt werde. Ein Abbild soll nämlich das Urbild darstellen60. Für Christen ist es deshalb notwendig, Geschichtsbücher zu lesen, um die Hl. Schrift besser zu verstehen: Im Gang der Geschichte sieht Melanchthon eine von Gott gewollte Bestimmung der Ereignisse mit dem Ziel, seinen Heilsplan in der Geschichte zu verwirklichen. Er sieht Geschichte stets theologisch als Heilsgeschichte, was exemplarisch wird an seiner historischen Begründung der Schulbildung: Melanchthon führt den Nachweis, das es keine Zeit gab, in der die Kirche auf schulische Bildung verzichten konnte, ansonsten wurde es eine Verfallsgeschichte. Das Licht des Evangeliums, das Heil wird verlöschen, wenn die Schulen und die Bildung verfallen. Bei der Kirche sind von Anfang an Schulen und Studia, d. h. Bildung gewesen, die den edlen Schatz, Gottes Verheißung und Zeugnis erhalten sollen. In der reformatorischen Bewegung erkennt er die richtigen Ansätze, dem Heilsplan Gottes zur Durchsetzung zu verhelfen und dem Verfall von Bildung Einhalt zu gebieten61. So wird letztlich auch die eloquentia für die Verkündigung des Evangeliums fruchtbar gemacht. Die Pflege der Sprachen, der einzige Weg zur eloquentia, ist für Melanchthon die unentbehrliche Grundlage für die reine Lehre des Evangeliums. So wie das Licht der Sprachen aufleuchtet, so erstrahlt auch das Licht des Evangeliums. Erlischt das erstere droht auch dem zweiten das gleiche Schicksal62. Insgesamt dient die Bildung einem dreifachen Ziel: Sie fördert erstens die Erkenntnis der Hl. Schrift als Gottes Offenbarung, die Kundgabe seines Willens und die lebenspraktische Umsetzung seiner Gebote. Das führt zu einer Lebensgestaltung nach dem Willen Gottes sowie zur grundlegenden Orientierung des Gläubigen an der Heil bringenden Offenbarung Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Die Kenntnis der Schrift und der sie auslegenden kirchlichen Lehre dient dem Erhalt des Glaubens, der Abwehr irreführender Lehren und der Kontinuität der wahren Kirche Jesu Christi. Zweitens wird durch Bildung und theologische Ausbildung geeigneter kirchlicher Nachwuchs geformt, die für dieVerbreitung des Evangeliums, des Heilswillens Gottes dient und damit der Durchsetzung der wahren christlichen Lehre und des Reiches Gottes. Zum dritten werden durch obrigkeitlich geförderte Ausbildung christliche Untertanen sowohl für die Kirche als auch für das politische Gemeinwesen gewonnen63. Ausdrücklich spielt die theologische Begründung der evangelischen Bildung bei Melanchthon zunächst eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht sein humanistisches Bemühen und eine intensive Pflege der philologischen Studien. Diese ist aber eng mit dem theologischen Reformansatz gekoppelt. Das Sprachenstudium dient letztlich einem umfassenderen und tieferen Verständnis der Heiligen Schrift64. Diese Ausrichtung Melanchthons berechtigt zur Interpretation 60 Vgl. Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. 3: Humanistische Schriften, hg. von Robert Stupperich, Gütersloh 1961, S.164. 61 Vgl. Wriedt: Bildungsreform (wie Anm. 2), S.176. 62 Vgl. ebd., S.182. 63 Vgl. Wriedt: Erneuerung der Frömmigkeit (wie Anm.10), S. 68. 64 Vgl. ebd., S. 65f.
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seiner Bildungsansätze als ein theologisch intendiertes Reformanliegen: „Viele unvernünftige Leute denken“, schreibt Melanchthon 1543 an den Rat der Stadt Soest, „ob gleich Religion vonnöten sei, so bedürfe man doch keiner Kunst und Studien dazu; es wisse ein jeder aus seinem natürlichen Verstand, was er tun solle. Diese ist eine ganz törichte, ja gotteslästerliche Rede. Denn zur ewigen Seligkeit, zum Heil des Menschen gehört Erkenntnis des Evangeliums, davon menschliche Vernunft von ihr selbst nichts weiß.“ Weil das Christentum in der Bibel wurzelt, kann man es als Religion nur dann richtig annehmen, wenn man es aus ihr kennen lernt. Die Bibel kennen lernen aber heißt, sie in den Zusammenhang der Bücher überhaupt stellen, also kundig und gebildet sein in den Dingen, die dem Leben Sinn vermitteln. So geht das Christentum aus der Bildung hervor und bezieht sich selbst auf die Bildung zurück65. Melanchthons Hauptleistung war es, die neuen theologischen Erkenntnisse der Reformation mit dem humanistischen Bildungsansatz zu versöhnen. Mit Melanchthons Wirken ist der Protestantismus eine Bildungsmacht in Deutschland geworden. Christliche Religion protestantischer Spielart war ohne Bildung nicht zu haben, gemäß dem theologischen Grundsatz, dass jeder sein eigener Priester ist und eigenständig die biblischen Schriften lesen können muss. Der Protestantismus ist durch die Synthese von christlicher Religion und Bildung zu einem Motor der Herausbildung und Entstehung der neuzeitlichen Moderne geworden66.
IV. Zusammenfassung Im Unterschied zu Melanchthon akzentuiert Luther den theologischen Nutzen stärker als die ethische Funktion der Bildung. Das mag in der theologischen Denkstruktur Luthers verankert sein im Unterschied zu der sich stärker propädeutischphilosophisch verstehenden Denkweise Melanchthons67. Ebenso ist für Luther die Sprachbildung zunächst etwas Äußerliches, Sprache dient elementar dazu die Hl. Schrift, besser verstehen und begreifbar zu machen, sie interpretieren zu können. Bei Melanchthon ist Sprachbildung mehr: sie ist Medium und Instrument und hat unmittelbare Wirkung auf den inneren Menschen, auf seine sittliche Vervollkommnung, beides wächst gemeinsam und parallel. Das christlich Wahre und Gute findet einen angemessenen Ausdruck nur in der Schönheit der Sprache und umgekehrt wird diese Schönheit ganz und gar in den Dienst genommen, Menschlichkeit im Streben nach Erkenntnis, Vernünftigkeit und vollkommener Tugend zu verwirklichen. Der Sprachstil ist somit transparent für den gesamten Lebensstil. 65 Vgl. Dietrich Korsch: Gebildeter Glaube. Philipp Melanchthon als Pädagoge, in: „Man weiß so wenig über ihn“. Philipp Melanchthon. Ein Mensch zwischen Angst und Zuversicht, hg. von dem ev. Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg, Wittenberg 1997, S. 33–52, hier S. 34. 66 Vgl. Horst F. Rupp: Melanchthon und die Frage der Bildung. Die Wurzeln des protestantischen Bildungsdenkens, in: Wilhelm Schwendemann: Philipp Melanchthon (wie Anm. 58), S. 95–114, hier S.113. 67 Vgl. Wriedt: Bildungsreform (wie Anm. 2), S.169.
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Trotz dieser unterschiedlichen Ansätze werden bei Luther wie Melanchthon die Bildungsinhalte theologisch begründet, die traditionelle Zielsetzung biblischkirchlicher Bildung wird verändert: Weder zielen Luther und Melanchthon auf weltabgewandte Versenkung in die göttliche Wahrheit, noch übernehmen sie die Vorstellung einer pädagogischen Ausbildung der guten Ansätze menschlicher Natur und Erkenntniskraft. Vor dem Hintergrund der paulinisch-augustinischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre soll klar werden, das Gott es ist, der allein den Glauben und damit Heilsgewissheit schenkt, das wird durch Bildung und den kirchlichen Unterricht nur begleitet und reflektiert, nicht aber gewirkt und herbeigeführt. Alle Bildung dient propädeutisch der Lektüre und Interpretation der Schrift, in der die notwendigen Aussagen zur Erklärung der Wirklichkeit wie der Orientierung des menschlichen Lebens im Licht der Offenbarung Gottes umfassend und letztgültig enthalten sind. Mit dieser Einschränkung dient Bildung der Erkenntnis Gottes und der Selbsterkenntnis des Menschen68. Zum Schluss sei bemerkt, dass die theologische Begründung der Bildung bei Luther und Melanchthon getragen wird von zahlreichen Umbrüchen und historischen Voraussetzungen des 16. Jahrhunderts und daher in keiner Weise auf die Bildungsreform späterer Jahrhunderte oder gar auf die moderne Bildungsdebatte „Europa soll wachsen durch Bildung“ übertragen werden kann.
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Vgl. Wriedt: Erneuerung der Frömmigkeit (wie Anm.10), S. 68.
Susanne Köbele
Metaphysik und Metapher Spielräume der Argumentation bei Meister Eckhart und Sebastian Franck
I. Als ob? Heilsgeschichte im Zwielicht Wenn Medialität, wie Berndt Hamm in seiner Einführung formuliert,1 die zeichengestützte Mitteilungs- und Vermittlungsweise in einem Kommunikationsgeschehen ist, dann markieren Meister Eckhart und Sebastian Franck ohne Frage Extrempositionen. Beide sind auf je eigene Weise zeichenskeptisch, beide experimentieren eine paradoxe, so vielschichtige wie konfliktbesetzte „Immediatisierung“2 der Gottesbeziehung, indem sie die Zeit- und Zeichenbedingungen der Sprache zu transzendieren suchen. Gerade weil die Deutungsfunktion und Vermittlungsleistung der Zeichen selbst mit auf dem Spiel steht, ist der Status solcher Unmittelbarkeitsaussagen nicht einfach zu bestimmen. Um gleich mit einem schwierigen Beispiel zu beginnen: Ist die Vorstellung der „Gottesgeburt im Seelengrund“, mit der Eckharts spezifischer Entwurf von Gotteskindschaft alle Vermittlungsinstanzen und Ähnlichkeitsmodelle hinter sich lassen will, eine substanzontologische Aussage, also Einheits-Metaphysik, oder Einheits-Metapher? Wenn wir Gottes Söhne nicht nur heißen, sondern auch sind, sind wir dann Söhne mit allen Privilegien des Gottessohns oder sind wir – analog dem innertrinitarischen Modell der Gottessohnschaft – wie Söhne Gottes? Oder sind wir, als Gottessöhne, Gottes einziger, eingeborener Sohn selbst und als solcher wie Gott – oder: Gott?3 Kein Wunder, dass die Ankläger in Eckharts Prozess mit eben diesen Thesen die Liste ihrer articuli errorum eröffnen zu müssen glaubten.4 1
Vgl. S.VII in diesem Band. Zum Stellenwert spätmittelalterlicher Immediatisierungstendenzen der Mystik für die reformatorische Entwicklung Luthers vgl. in diesem Band den Beitrag von Volker Leppin: Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung und ihre Bedeutung für die reformatorische Entwicklung Martin Luthers; außerdem ders.: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: Berndt Hamm/ Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), S.165–187. Zur heterogenen Situation der spätmittelalterlichen Frömmigkeit Berndt Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd.1: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, S.159–211; ders.: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, hg. von Reinhold Friedrich/Wolfgang Simon, Tübingen 2011. 3 Eckharts Gottessohnschaftslehre diskutiert als „Immanentismus“ („in Gott Gott werden“) Kurt Flasch: Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, München 1010, S. 272 und S. 287. 4 Dazu Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 283–296. 2
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Stellen wir Eckharts (metaphysischen? metaphorischen?) Immediatismus noch für einen Moment zurück. Auch für die durch die spätmittelalterliche Mystik inspirierte reformatorische Grundvorstellung eines allgemeinen, gottunmittelbaren Priestertums ist keineswegs unumstritten, ob und in welchem Kontext Priesterschaft metaphorisch oder buchstäblich gelten soll, und das heißt, mit welchem Anspruch ontologischer, dogmatischer, institutioneller (kirchenorganisatorischer) Fundierung. Wenn, um ein konkretes Formulierungsbeispiel zu geben, Johannes Tauler fast zwei Jahrhunderte vor Luther über die mystische Disposition gottzugewandter Innerlichkeit predigt: Dieser gotdehtige mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin,5 gilt ‚Priesterschaft‘ mit dieser Voraussetzung der Spiritualisierung und Interiorisierung dann buchstäblich oder im übertragenen Sinn? Greift sein anspruchsvolles Konzept von Priesterschaft, statt sich gegen die Institution zu wenden, über sie hinaus? Anders gefragt: Formuliert Taulers der sol ein priester sinAppell eine Relativierung sakramentalen Priestertums oder im Gegenteil dessen universalisierende Verabsolutierung, oder geht es, drittens, um eine Position ganz außerhalb dieser Opposition? Zu schweigen davon, wie schwierig es ist zu beurteilen, über welche Verschiebungen der metaphorischen und metaphysischen Hintergrundhypothesen Tauler Eckharts „Gottesgeburt im Seelengrund“ umakzentuiert. Pauschalthesen führen hier offensichtlich nicht weiter.Vielmehr muss jeder Einzelfall differenziert beurteilt werden, damit vor dem Hintergrund des historischen Gesamtprozesses beobachtbar werden kann, wie und wo aus der emphatischen,6 überwiegend implikativen Unmittelbarkeitsrhetorik der spätmittelalterlichen Mystik eine „Sozialmetapher“ wird, die immer ausdrücklicher sakramentale und rituelle Formen der Heilsvermittlung zu überspringen bereit ist, bis sie im 16. Jahrhundert überraschend kirchenpolitische Realität wird, auf der Basis zunehmend immediatisierter Herrschafts- und Frömmigkeitsstrukturen und veränderter Heils-Semantiken – im Ganzen in der Tat „ein sozialer Appell mit großer Veränderungsdynamik“7. Im Folgenden gehe ich für die skizzierten Fragen nicht auf die vieldiskutierte Konstellation Tauler und Luther ein;8 auch nicht auf das konkrete Problem der Immediatisierung sakramentaler Vermittlungsformen (des Sakraments der Priesterweihe oder auch der Eucharistie). Stattdessen greife ich hinter Tauler und Seuse auf Meister Eckhart zurück, auf Eckharts Entwurf einer synchronen (präsentischen) Eschatologie und dessen Transformation bei Sebastian Franck, weil das systematische Problem, das mich interessiert – die umstrittene Frage nach dem spezifischen Aussagestatus von Heils-Vergegenwärtigung zwischen Metaphysik 5 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, 2. Aufl., Berlin 1968 (= Deutsche Texte des Mittelalters 11), S.164,34–165,1. 6 Vgl. Susanne Köbele: Emphasis, überswanc, underscheit. Zur literarischen Produktivität spätmittelalterlicher Irrtumslisten (Eckhart und Seuse), in: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York 2009, S. 969–1002. 7 Leppin: Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung (wie Anm. 2), S.1. 8 Grundlegend dazu Berndt Hamm: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, hier besonders der Beitrag „Wie mystisch war der Glaube Luthers?“, S. 200–249.
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und Metaphorik – gerade in dieser Konstellation und für dieses Thema eine unvergleichliche Prägnanz gewinnt.9 Zum Spezifikum der christlichen Heilsgeschichte gehört, dass Zeit nicht einfach verstreicht. Sie wird reicher und erfüllt sich, bis zum Schluss, am Ende der Zeit, eine paradoxe „Fülle der Zeit“ da ist, in der Ende und Vollendung ineinsfallen. Innerhalb dieser strikten Teleologie gibt es eine Zäsur, eine absolute Schwelle, die die Heilsgeschichte in zwei Zeiten teilt, in ein Vorher und Nachher, deren Verhältnis nicht als gleichwertiges Nebeneinander verstanden wird, sondern als kategoriale Überbietung. Im christlichen Äon herrscht in diesem Sinn die Steigerungsfigur von Verheißung und Erfüllung. Achsenereignis dieser absoluten christlichen Zeitenwende ist die Geburt des Gottessohns. Das ist, aufs Ganze gesehen, ein sehr luzides Konzept von Heilsgeschichte. Und doch gerät Erlösung rascher ins Zwielicht, als uns lieb sein kann. Cristus wart geborn, Cristus wart verlorn, Cristus wart wider funden: der gesegen dise wunden.10
Was so unwiderstehlich schlicht vor sich hinreimt, ist ein spätmittelalterlicher Segenspruch, der die christliche Heilsgeschichte auf den lapidaren Dreischritt von Christi Geburt, Tod und Auferstehung verkürzt und mit seinem universalen Erlösungsoptimismus das unaufgehobene individuelle Heils-Risiko gerade zudeckt. Dieses Risiko ist nicht gering. Denn nur der zuversichtliche Glaube (mein Glaube) macht das christliche Heilsversprechen zu ‚meinem‘ Heil.Wer zweifelt, hat Heil – mit eben diesem Mangel an Zuversicht – schon verloren, und zwar auf ewig. Kurz, das Risiko der christlichen Heilsgeschichte heißt ewige Hölle. Ihr verfällt, wer am Heil zweifelt und an der eigenen Fehlbarkeit verzweifelt, was als „Sünde wider den heiligen Geist“ gilt (desperatio). Doch der Hölle verfällt in den Augen der mittelalterlichen Amtskirche nicht nur derjenige, der Heil bezweifelt, sondern auch und gerade der, der davon ausgeht, es sei jetzt und hier – „unmittelbar“ – schon da. Unter eben diesen Häresie-Verdacht und permanenten Zensurdruck geriet um 1300 der Dominikaner Eckhart, einer der berühmtesten Theologen, Prediger und Kirchenpolitiker seiner Zeit, dessen gesamte Denkanstrengung und rhetorische Energie einer paradoxen Entzeitlichung von Heilsgeschichte gilt. Eckhart geht hinter den Anfang der Welt, hinter die Schöpfung und den Sündenfall zurück, zugleich greift er der Endzeit vor, und es ist ausgerechnet jenes Achsenereignis der christlichen Heilsgeschichte, die Inkarnation, das er zur Schlüsselkategorie seiner spektakulären Eschatologie macht: Jetzt, sagt er, nicht künftig, ist Fülle der Zeit, 9 Nicht zufällig hat die Forschung beide Positionen eng zusammengerückt. Vgl. Otto Langer: „Inneres Wort und inwohnender Christus. Zum mystischen Spiritualismus Sebastian Francks und seinen Implikationen“, in: Jan-Dirk Müller (Hg.): Sebastian Franck (1499–1542), Wiesbaden 1993 (= Wolfenbütteler Forschungen 56), S. 55–69, besonders S. 62ff. 10 Gerhard Eis (Hg.): Mittelhochdeutsche Lieder und Sprüche, München 1949 (2. Aufl. 1967), S.133, II (Wundsegen, um 1405).
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und zwar als Gottes „Geburt“, die sich nicht vor der Zeit (als innertrinitarischer Vorgang), nicht auf der Schwelle zur Zeit (als Schöpfung), nicht in der Zeit (in Maria, in Bethlehem), sondern ‚jetzt‘, jenseits von Zeit, je neu im „Grund“ der Seele ereigne: [. . .] wan got ist hie als wol mensche worden als dort, und dar umbe ist er mensche worden, daz er dich geber sînen eingebornen sun [„als seinen eingeborenen Sohn“] und niht minner.11 Den universalen Anspruch dieser Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele macht nicht nur Eckharts „Geburt-Predigtzyklus“12 deutlich, sondern, quer durch seine Texte, eine ganze Reihe von Einzelstellen, aus denen ich die folgende herausgreife, weil die Gottesgeburt in der Seele hier zugleich reziprok als Geburt der Seele in Gott beschrieben ist: Dar umbe ist alliu schrift geschriben, dar umbe hât got die werlt geschaffen und alle engelische natûre, daz got geborn werde in der sêle und diu sêle in gote geborn werde.13 Eckharts Predigten entwerfen über das Paradigma der Gottesgeburt ein singuläres Konzept von Heilsunmittelbarkeit, das die Stationen Schöpfung, Schuld, Erlösung nicht als Verlaufsmodell auffasst, sondern Heilsgeschichte unter Bedingungen einer kategorialen Aufhebung von Zeit präsentisch umformuliert, in je neuen paradigmatischenVariationen die Perspektive auf ein Heilsziel eröffnend, das immer schon da ist. Daraus resultiert nicht, wie man meinen könnte, eine Selbstaufhebung der Institution Predigt; vielmehr überdehnt Eckhart die kommunikative Praxis der Predigt zwischen den Polen Heilserwartung und Heilspräsenz so weit, dass er ihre Repräsentations- und Instruktionsfunktion an eine äußerste Grenze führt. Was wird aus Heilsverheißung, wenn Heil sich nicht durch sukzessive Aneignung erschließt, sondern als „Gottesgeburt in der Seele“ immer schon da ist?14 Falsum et absurdum, kommentieren die Zensoren und füllen Anfang des 14. Jahrhunderts mit Eckhart ihre Irrtumslisten.15 Heilsgeschichte wird „Metapher“ sagt – 11 Pr. Q 30, in: Meister Eckhart: Die Deutschen und lateinischen Werke, Stuttgart 1936ff. Die deutschen Werke (DW). Meister Eckharts Predigten, Bd. II, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1988 (1. Aufl. 1971), S. 90–109, hier 98,6ff. Eckhart predigt hier über die Geburt des göttlichen Wortes, das ausfließe und doch bei sich bleibe: In dem éinen spruche sprichet er sînen sun und den heiligen geist mite und alle crêatûren und enist niht dan éin spruch in gote (98,2f.). Die paradoxe Dynamik einer fortwährenden Geburt in Pr. 101, in: Meister Eckhart: DW IV.1, hg. und übers. von Georg Steer, hier S. 335.Vgl. Niklaus Largier: Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit – ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, Bern 1989. 12 Die Predigten Q 101–104, in: Meister Eckhart: DW IV.1 (wie Anm.11), S. 279–610; dazu zuletzt Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 79–97, hier Pr. 101, 4f., S. 336 erklärt Eckhart, die immerwährende Geburt des Sohnes in der Gottheit interessiere ihn nur, sofern sie „in mir“ geschieht: Dâ liget alles ane. Daran liege alles. 13 Pr. Q 38 DW II (wie Anm.11), S. 228,1–3. 14 Zur Umformulierung von „instruktiv-appellativer“ Rede in Einheit verheißende, „inzitative“ Rede vgl. Burkhard Hasebrink: Formen inzitativer Rede bei Meister Eckhart. Untersuchungen zur literarischen Konzeption der deutschen Predigt, Tübingen 1992 (= Texte und Textgeschichte 32). 15 Dazu Köbele: Emphasis, überswanc, underscheit (wie Anm. 6); Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 283–288 (hier zu Eckharts „Metaphysik der Sohnschaft“ unter Häresieverdacht). Ausgabe der Prozessakten: Meister Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 5, hg. von Loris Sturlese, 3.–4. Lieferung, Stuttgart 1988: Acta Echardiana. ‚Rechtfertigungsschrift‘; 5.–8. Lieferung, Stuttgart 2000: Processus contra magistrum Echardum n. 48 (Magistri Echardi responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis).
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sehr viel wohlwollender – einer der besten Kenner Eckharts, Kurt Flasch.16 Seine Einschätzung hat mich elektrisiert. Ich habe mich gefragt: Wie viel Gewicht – wie viel historische und figurale Substanz – bliebe der christlichen Heilsgeschichte, wenn sie zur „Metapher“ würde? Zwei zusätzliche Beobachtung gaben mir zu denken. Das eine: Flasch, der Eckhart philosophisch fulminant interpretiert, löst nicht selten in seiner Übersetzung des mittelhochdeutschen Textes das metaphorische Potential von Eckharts Ausdrücken („Geburt“) in einen latein-nahen Terminus auf („Produkt“)17. Umgekehrt deutet er, wie oben angesprochen, Eckharts Heilsgeschichte als „Metapher“.Wofür könnte diese Verschiebung ein Symptom sein? Die zweite Beobachtung: Flasch, in seiner subtilen Analyse von Eckharts Konzept der Sohnschaft als Gottesgeburt in der Seele, spaltet konsequent die Kategorien, mit denen er auf dieses Konzept zugreift: Sohnschaft sei „Metaphysik“ („nicht nur ein Bild und eine Metapher“),18 hingegen Gottesgeburt nennt Flasch durchgängig „Metapher“ (biologische, organische Metapher für denVorgang einer unmittelbaren Selbstausbreitung des Einen).19 Also noch einmal: Ist Eckharts inkriminierte Lehre der Gottessohnschaft als Gottesgeburt in der Seele Metaphysik oder „bloß“ Metapher? Und wenn Metapher, verdiente sie dann als Metapher die Herabstufung als „bloß metaphorische“ Metapher? Im Folgenden werde ich den Versuch machen, Schritt für Schritt Metaphysik und Metaphorik bei Eckhart in eine Beziehung zu setzen, denn darum muss es offenbar gehen, wenn wir klären wollen, wie Erlösung hier ins Licht (oder Zwielicht?) der Metapher rückt. Dabei geht es mir um die Rekonstruktion des Eckhartschen Argumentationsspielraums, der sich – so meine These – daraus ergibt, dass der Sonderfall von Metaphysik und der Sonderfall von Metaphorik hier auf unverwechselbare Weise zusammenwirken. Diese Argumentationsspielräume nicht zuletzt im Vergleich mit Sebastian Franck plausibel zu machen, ist das Anliegen meines Beitrags. Zum Schluss frage ich mich, ob und inwieweit die Ergebnisse verallgemeinerbar sind für das eingangs skizzierte, historisch umfassendere Problem der Einschätzung des Geltungsbereichs heilsunmittelbarer Aussagen zwischen Metapher, Metaphysik und kirchlich-institutioneller Realität.
16 Nachwort, In: Meister Eckhart: Das Buch der göttlichen Tröstung.Vom edlen Menschen. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, übersetzt und mit einem Nachwort von Kurt Flasch, München 2007, hier S.123.Wieder in: Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 272. 17 So im Trostbuch (wie Anm.16), S. 41, Z.11: Gleichheit, sagt Eckhart hier, sei in allen Dingen die „Geburt“ – Flasch: das „Produkt“ – des Einen. (Zu lat. productio vgl. Eckharts Johanneskommentar, LW III, n.164, S.135,11–15 u. ö. 18 Flasch: ebd., S. 266–270: „Metaphysik der Sohnschaft“. Gottessohnschaft sei „nicht nur ein Bild und eine Metapher. Sie mußte mehr sein als bloße Ähnlichkeit, sondern reale, substanziale, ontologisch formulierbare Herkunft und Wirklichkeit“ (S. 284). 19 Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 268 und 274 u. ö. In seiner Zitatparaphrase S. 269 sind daher nur beim Prädikat „geboren“ Anführungszeichen gesetzt: „Der gerechte Mensch, sofern er gerecht ist, ist nicht gemacht und nicht erschaffen, sondern ist ‚geboren‘ aus der Gerechtigkeit.“
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II. Gottesgeburt im Seelengrund. Eckharts Heilsgeschichte zwischen Metaphysik und Metapher Wie kompliziert das Thema ist, sieht man schon daran, dass das unscheinbare Wörtchen ‚und‘, das die beiden zentnerschweren Begriffe in meinem Obertitel zusammenhalten muss, kein harmloses, kein unentschlossenes ‚und‘ ist, sondern entschieden eine These abwehrt: die These nämlich, Metaphysik und Metapher seien einander ausschließende Alternativen. Längst liegt auf der Hand, dass – um ein prominentes Beispiel zu nennen – die Aussage ‚Gott ist Licht‘ als ontologische Substanzaussage (als Lichtmetaphysik) nicht strikt gegen ihr metaphorisches Potential (Licht als Metapher der Wahrheit) ausgespielt werden darf.20 Doch bleibt mit dieser Einsicht, dass Metaphysik und Metapher kein symmetrischer Gegensatz, keine strikte Alternative sind, immer noch und erst recht klärungsbedürftig, wie genau beides sich zueinander verhält.21 Entscheidend für unsere Frage ist die Einschätzung der Metapher. Ist Eckharts Lieblingsvorstellung der Gottesgeburt im Seelen-Grund eine Metapher im Sinn ähnlichkeitsbasierter übertragener Rede, nach dem rhetorischen Erklärungsmuster eines ‚verkürzten Vergleichs‘? Oder verdient sie, jenseits ihrer Substitutions- und Vergleichsfunktion, eine ganz andere Aufmerksamkeit für ihr kreatives kognitives Potential? Oder aber ist die Rede von der Gottesgeburt überhaupt keine Metapher, sondern, wie man auch lesen kann, ein „Begriff“22, „Theorem“, „Philosophem“, oder noch etwas voluminöser, „Theologumenon“? Sprechen wir besser, weil standortneutraler, von einem Schlüssel-„Motiv“ oder „urchristlichen Thema“23, von einem „thematischen Zielpunkt“ und „Paradigma“, dessen „einzelbegriffliche Be20 Vgl. Klaus Hedwig: Sphaera Lucis. Studien zur Intelligibilität des Seienden im Kontext der mittelalterlichen Lichtspekulation, Münster 1980 (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge 18). Zum Problem übergreifend: Alois Maria Haas: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1979 (= dokimion 4); Walter Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. von Kurt Ruh, Stuttgart 1986, S. 494–508; Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen/Basel 1993 (= Bibliotheca Germanica 30); Jörg Seelhorst: Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Tübingen/Basel 2003 (= Bibliotheca Germanica 46). 21 Werner Beierwaltes hat die Forschungsdebatte bündig dargestelllt und nicht zufällig Hans Blumenbergs Überlegungen zur ‚absoluten Metapher‘ mit einbezogen: „Der Aussage der Lichtmetaphysik am nächsten kommt der Sinn von Licht als einer ‚absoluten Metapher‘.“ Artikel ‚Licht‘ und ‚Lichtmetaphysik‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5 (1980), Sp. 282–289, hier Sp. 289. 22 Einen „intellekttheoretisch“ gefassten „Begriff“ der Gottesgeburt in der Seele akzentuiert Niklaus Largier: Kontextualisierung als Interpretation. Gottesgeburt und speculatio im ‚Paradisus anime intelligentis‘, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer/Lydia Wegener, Berlin/New York 2005 (= Miscellanea Mediaevalia 32), S. 298–313; Largier weist nach, wie die Gottesgeburt (auch als „Kernmotiv“, S. 300, oder „Figur der Unmittelbarkeit“, S. 313) im Kontext der ‚Paradisus‘-Sammlung entschärft werde durch Engführung mit der „Denkfigur“ und „Metapher“ des ‚reinen Spiegels‘. 23 So etwa Klaus Reinhardt: Gottes Geburt in der menschlichen Seele nach den Predigten des Nikolaus von Kues zum Fest Mariä Verkündigung, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 4 (2010), S. 35–48.
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deutung“ über Substitutionsketten variiert werde24? Auf all diese Klassifikationen stoßen wir in der Eckhart-Literatur, eine etwas verwirrende Lage. Hintergrund dieser terminologischen Unentschiedenheit ist, wie ich meine, die Unentschiedenheit in der Sache, über die ich nachdenke: Ist Eckharts „Gottesgeburt im Seelengrund“ metaphorisch gestützte Einheitsmetaphysik oder metaphysisch durchlässige Einheitsmetaphorik oder gibt es ein Drittes, das sich auf beiden Seiten der Alternative metaphysischer oder metaphorischer Spekulation findet? Die Sache verkompliziert sich, wenn wir Eckharts weitergehende Schlussfolgerung dazunehmen, dass aus dem Sachverhalt der „Gottesgeburt in der Seele“ der umgekehrte Vorgang folge: Wir gebären zugleich den Sohn (zurück) in Gott, und zwar ohne Unterlass.25 Versuchen wir uns das vorzustellen, und wir kommen in Anschauungsschwierigkeiten. Festhalten lässt sich vorerst: Das Hin und Her von Gebären, Geborenwerden und Zurückgebären entfaltet Eckhart offenbar als paradoxe (weil zeitlos gedachte: alzemâle) Dynamik zwischen Gott und der Seele, die den Adressaten („uns“) inklusiv in diesen Vollzug der Selbstmitteilung der Einheit hineinnimmt und im Ganzen dann kaum noch absehbar macht, was – vordergründig? hintergründig? – eine Metaphorisierung von Metaphysik ist und was ein metaphysischer Horizont von Metaphorik. Schwierig einzuschätzen ist diese Frage vor allem deswegen, weil die Gottesgeburt von Eckhart, wie angedeutet, als kontinuierlicher, unabschließbarer Vorgang konzipiert ist, die sich je neu, dauernd vollziehe und, wie er sogar sagt, „anders nie vollzogen hätte“, ebenso wie die Schöpfung sich immer noch je neu vollziehe. Ich zitiere aus Eckharts Buch der göttlichen Tröstung, das im Folgenden noch eine große Rolle spielen wird: [. . .] âne zwîvel: got enhaete sînen eingebornen sun in der êwicheit nie geborn, enwaere geborn niht gebern. Dar umbe sprechent die heiligen, daz der sun alsô êwiclîche geborn ist, daz er doch âne underlâz noch wirt geborn. Ouch enhaete got die werlt nie geschaffen, ob geschaffen-wesen niht enwaere geschaffen. Dar umbe: got hât alsô geschaffen die werlt, daz er sie noch âne underlâz schepfet. Allez, daz vergangen ist und waz zuokünftic ist, daz ist gote vremde und verre. „[. . .] ohne Zweifel: Gott hätte seinen eingeborenen Sohn in der Ewigkeit nie geboren, wäre Geborenhaben nicht dasselbe wie Gebären. Darum lehren die Heiligen, dass die ewige Geburt des Sohnes bedeutet, dass er jetzt noch ohne Unterbrechung geboren wird. Gott hätte die Welt auch nie erschaffen, wäre Erschaffenhaben nicht dasselbe wie Erschaffen. Daher hat Gott die Welt in der Weise erschaffen, dass er sie ohne Unterbrechung immer erschafft. Alles, was vergangen und was zukünftig ist, das ist Gott fern und fremd.“26
Die zeitenthobene Dynamik des Vorgangs (êwiclîche geborn, âne underlâz geborn), die im letzten Satz des Zitats ausdrücklich hervorgehoben ist, führt der Text selber vor: kein eschatologisches Futur, kein heilsgeschichtliches Präteritum, stattdessen 24 So Hasebrink: Formen inzitativer Rede (wie Anm.14), S. 261f. u. ö., der weit damit gekommen ist, Eckharts Techniken der Variation im „System paradigmatischer Substitution“ zu beobachten, allerdings, interessiert an der thematischen Progression und Kohärenz der Texte, den Status „metaphorischer Paradigmata“ (S. 261) nur am Rand bespricht. 25 Vgl. oben die Zitat-Nachweise in den Anm.11–13. 26 Das Buch der göttlichen Tröstung (wie Anm.16), S. 60ff.
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ein Irrealis der Vergangenheit, parallel sowohl für die Vorstellung einer Creatio continua wie für die einer Incarnatio continua. Erneut wird die Frage unabweisbar: Welches Gewicht haben die von Eckhart generell eng korrelierten27 Stationen der christlichen Heils-Geschichte Schöpfung und Geburt, wenn Bedingungen gelten sollen (analoge? irreale?), die Eckhart in anderen Fällen auch gern mit Als-ob-Konjunktionen einleitet: als wäre keine Sünde, als wäre keine Zeit.28 Gelten diese Bedingungen nun oder gelten sie nicht? Formuliert das Konditional29 im Irrealis ein Denkexperiment, eine Hypothese oder bloße Fiktion oder, wieder anders, eine kühne (ontologische?) Setzung? Man erkennt an den vielen Fragezeichen, wie differenzierungsbedürftig der Aussagestatus solcher Sätze ist; nicht zufällig gehören sie zu den inkriminierten. Der jüngste Klärungsvoschlag stammt, wie angedeutet, von Kurt Flasch. Er geht aus von einer Metaphorisierung der Heilsgeschichte: „Eckhart insistiert: Alles, was er vorbringt, geschieht in der Gegenwart. Bei allem, was Gott und den Intellekt angeht, sind Zeitbestimmungen fernzuhalten; hier gilt nur die Gegenwartsperspektive.Was gewesen ist und was sein wird, das interessiert nicht. Heilsgeschichte, Wundertaten und Eschatologie werden zu Metaphern.“30
Flasch versteht Heilsgeschichte bei Eckhart als Metapher, insofern die Verlaufsdimension von Zeit herausgekürzt sei. Man fragt sich, was das genau heißen kann und was daraus folgt. Schließt „Metaphorisierung“ von Heilsgeschichte deren Enthistorisierung ein? Gewissermaßen als ontologische Schwächung, vergleichbar der Allegorisierung des Descensus Christi in der zeitgenössisch parallelen Debatte über den ‚Wirklichkeitsgrad‘ der Hölle?31 Das wäre die eine denkbare Im27 Vgl. noch einmal Pr. Q 30 (wie Anm.11), die von der Geburt des Wortes handelt, und zwar als Schöpfung, die noch andauere: [. . .] daz got alle dise werlt schepfet nû alzemâle. Allez, daz got ie geschuof vor sehs tûsent jâren und mê, dô got die werlt machete, die schepfet got nû alzemâle. (DW II, 94,7ff.) [. . .] Allez, daz got geschuof vor sehs tûsent jâren, dô er die werlt machete, und allez, daz got noch geschaffen sol über tûsent jâr, ob diu werlt sô lange bestât, daz schepfet got in dem innigesten und in dem hœhsten der sêle. [. . .] Der vater gebirt sînen sun in dem innigesten der sêle und gebirt dich mit sînem eingebornen sune, niht minner. Sol ich sun sîn, sô muoz ich in dem selben wesene sun sîn, dâ er sun inne ist, und in keinem andern (96,2–9). 28 Vgl. Pr. Q 12 (DW I, S.190–203), die ihr Leitthema Gelassenheit als Sohnschaft variiert. Unter der Voraussetzung der Gelassenheit offenbare uns Gott auf einmal (alzemâle) alles in seinem eingeborenen Sohn und lehre uns, daz wir der selbe sun sîn (193,10f.). Der Mensch, der der eingeborene Sohn „wäre“ – so fährt Eckhart im Irrealis fort –, dem „wäre“ alles eigen wie ihm. Diese Identität von Sohn und Seele sei Ziel allen göttlichen Wirkens: Got würket alliu sîniu werk dar umbe, daz wir der eingeborne sun sîn, und wenn Gott sieht, dass wir Sohn sind, dann sei ihm so eilig nach uns, als ob im sîn götlich wesen welle zerbrechen und ze nihte werden an im selben, daz er uns offenbâre allen den abgrunt sîner gotheit und die vüllede sînes wesens und sîner natûre. (194,1–5). 29 Zu konditionalen Relationen und paradigmatischen Substitutionen als dominanten Strukturmustern in Eckharts Predigten grundlegend Hasebrink: Formen inzitativer Rede (wie Anm.14), besonders S. 260ff. 30 Flasch, Nachwort, in: Meister Eckhart: Das Buch der göttlichen Tröstung (wie Anm.16), hier S.123; wieder in Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 272. 31 Der Höllenabstieg Christi wurde zeitweise dogmatisch bezweifelt, entwirklicht, marginalisiert als allegorischer Effekt des heilsgeschichtlichen Zentralereignisses der Passion; im geistlichen Spiel kehrte er freilich zurück auf die Bühne. Dazu zuletzt Christoph Petersen: Mythische Variante. Narrative Soteriologie des Descensus Christi, in: Udo Friedrich/Bruno Quast (Hg.): Präsenz des Mythos.
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plikation einer „Metaphorisierung“ von Heilsgeschichte: die getilgte (besser: übersprungene) Historizität des einmaligen Heilsereignisses der Gottesgeburt. Herausgekürzt sei aber, so Flasch völlig einleuchtend, nicht nur die Inkarnation, sondern auch die Dimension der Verheißung, also die Vorstellung von endgültiger Erlösung am Ende der Zeit: Wenn die Seelengeburt sich dauernd, je neu vollzieht, ist Erlösung nicht heilsgeschichtlich aufgeschoben, sondern immer schon da. Eckharts Metaphorisierung von Heilsgeschichte bewirkte in diesem Sinn dann aber nicht nur eine Enthistorisierung, sondern auch eine Art Ent-Eschatologisierung (oder weniger missverständlich: Heilsvergegenwärtigung).Wie auch immer das im Einzelnen zu denken ist, auf der Hand liegt, dass die These einer Metaphorisierung von Heilsgeschichte gravierende Implikationen hat, retrospektiv wie prospektiv. Flasch hat seine Beobachtungen an einem Text Eckharts gemacht, den er erst vor kurzem ediert, neu übersetzt und mit einem anregenden Nachwort erläutert hat, dem Buch der göttlichen Tröstung. Entstanden wohl zwischen 1313 und 1326, mitten im Reizklima der Inquisition, ist Eckharts Trostbuch der spektakuläre Versuch, Erlösungszuversicht (mhd. trôst) so konsequent gegenwartsbezogen zu konzipieren, dass die zentralen Stationen der christlichen Heilsgeschichte (Passion, Auferstehung und Erlösung) in ihrer einmaligen historischen Faktizität nicht vorkommen. Dieses Kunststück gelingt Eckhart mit Verabsolutierungen, die hinter die Differenz von Heilszeit und Weltzeit zurückgehen. Konsequent eingestellt auf einen Gott der Gegenwart, formuliert Eckhart „Trost“ nicht mehr als Kategorie der Verheißung, sondern als Gegenwart. Eckhart kündigt zu Beginn an, der erste Teil des Trostbuchs enthalte so viel Wahrheit, dass sich daraus ein Trost gewinnen lasse, der in Leid genzlîche getroesten mac.32 Das ist ein maximaler Anspruch. Gehen wir den argumentationsdichten Anfang dieses ersten Teils durch. Bereits der Beginn der Argumentation ist wie ein Paukenschlag. Er findet sich später prompt auf den Irrtumslisten wieder: Eckhart beginnt sein Trostbuch überraschend mit einer metaphysischen Prinzipienlehre, mit dem Verhältnis von Allgemeinem und Konkretem. Aus den austauschbaren Erstbestimmungen Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Gutsein greift er das Verhältnis des Guten zum Gutsein heraus und differenziert wie folgt, in enger Anlehnung an seinen JohannesKommentar: Das Gutsein (diu güete) sei ungeschaffen, ungemacht, ungeboren, gebäre jedoch – die Aktion ist zusätzlich durativ, in der Verlaufsform, formuliert: ist
Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin/New York 2004 (=Trends in Medieval Philology 2), S. 59–82. Grundlegend außerdem Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels, München 1974 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35). 32 In der Edition des Trostbüchleins Eckharts von Flasch (wie Anm.16), S. 8, Z.16. Trotz der Absolutheit des wahren Trosts folgen im zweiten Teil dann eine Reihe von konkreten Trostgründen (drîzic sachen und lêren), die auf verschiedene Fälle von Krankheit, Schmerz, Unglück und Leid reagieren, auf die ich hier nicht weiter eingehe. Ein kurzer dritter Teil resümiert Exempel von „Taten und Reden weiser Menschen“. Zur Gliederung und historischen Einordnung des Trostbuchs ders.: Meister Eckhart (wie Anm. 3), S. 265–275 und sein Nachwort in der Ausgabe (wie Anm.16).
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gebernde und gebirt –, und zwar den Guten. Im nächsten Satz folgt ein Perspektivenwechsel hin zum Guten, der, insofern er gut sei, gleichfalls nicht gemacht, nicht geschaffen, sondern geboren, also Kind und Sohn sei, geboren aus dem ungeborenen Gutsein: diu güete enist noch geschaffen noch gemachet noch geborn; mêr si ist gebernde und gebirt den guoten, und der guote, als verre sô er guot ist, ist ungemachet und ungeschaffen und doch geborn kint und sun der güete. [. . .] „Das Gutsein selbst ist weder erschaffen noch gemacht noch geboren. Aber es ist gebärend und gebiert den Guten. Und der Gute, sofern er gut ist, ist nicht gemacht und nicht erschaffen, sondern er ist Kind und Sohn, geboren aus dem Gutsein.“ (BdgT, S.10,1–4)
Die ontologische Differenz zwischen creator und creatura scheint damit immer weiter unterlaufen: Diu güete gebirt sich und allez, daz si ist, in dem guoten (S.10,4f.) beide seien al ein in allem sunder gebern und geborn-werden (S.10,9f.: „völlig eins in allem, außer im Gebären und Geborenwerden“), und selbst diese einzige Einschränkung des Einsseins, die Differenz von Aktiv und Passiv, Ursprung und Abgeleitetem, wird im nächsten Satz erneut minimiert mit dem Argument: Gebären und das Geborenwerden seien ein einziger Vorgang, ein einziges Wirken (al ein wesen, ein leben). Im Fortgang zitiert Eckhart aus dem Johannes-Evangelium Passagen über Gottessohnschaft, die er variiert als in got und ûz got-Geborenwerden, bis diese Relations-Aussagen fast unmerklich in eine Identifizierung des Menschen mit Gottes Sohn übergehen; unmerklich deswegen, weil die Einheitssage (die Ich-Aussage des Typs ich bin sun) die Relations-Aussage (in got, ûz got sein) begründen will: wan alsô sint sie ouch gotes süne und gotes eingeborn sun.Wan [!] alles des bin ich sun, daz mich nâch im und in sich glîche bildet und gebirt. „Und so sind auch sie Gottes Söhne, und zwar Gottes eingeborener Sohn. Denn [!] von all dem, was mich nach seinem Muster und ihm gleich formt und gebiert, dessen Sohn bin ich.“ (S.12,25–27)
Diese konsequente Engführung auf den Einheitsgedanken hin mündet in das Fazit: Als Sohn, sofern er Sohn ist (alsô verre als er aleine ir sun ist), habe er „dasselbe eine Sein“ (daz selbe eine wesen, S.12, Z. 29–31). Diese These gehört erneut zu den inkriminierten Sätzen, Eckhart freilich lässt es sich nicht nehmen, mit dem Hinweis fortzufahren: Diese ganze Lehre stehe in dem heiligen êwangeliô und werde „im natürlichen Licht der vernunftbegabten Seele“ erkannt; in ihr finde der Mensch wahren Trost in allem Leid. Hinter dem zunächst verblüffenden Doppelanspruch steht einerseits Eckharts Integrationsmodell von Metaphysik, das die Übereinstimmung von Offenbarung und natürlicher Vernunft sucht, die Kongruenz von Bibelauslegung, spiritueller Anthropologie und Theologie.33 Anderseits und zugleich zeigt sich in dem zitierten Einleitungspassus Eckharts insistierendes Verfahren, alle verfügbaren Verhältnisbestimmungen (bibelhermeneutisch-exegetische, ontologische, schöpfungtheologische, moralische) in maximaler Synchronisierung auf den Punkt der Einheit von Gott und Mensch zu fixieren, mit dem 33
Flasch: Meister Eckhart (wie Anm. 3) spricht von Eckharts „Philosophie des Christentums“.
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Ziel, „der Heilserwartung des Rezipienten ein Orientierungs- und Deutungsangebot zur Verfügung zu stellen, das ihn selbst in seinem Innersten als Sohn Gottes identifiziert“.34 Die inkriminierte Passage bezieht ihre Brisanz aus dem gleitenden Wechsel vom ‚Schöpfungs‘-Paradigma (geschaffen) hin zur ‚Geburt‘ (geborn), ein, wie mir scheint, zentraler Paradigmenwechsel. An die Stelle der Schöpfungstheologie tritt über die ausdrückliche Zurückweisung handwerklicher Herstellung („nicht gemacht“, „nicht geschaffen“) eine biologische bzw. organische Metapher („geboren“), die wiederum an ihre Grenze geführt wird, erstens durch eine Entzeitlichung (fortwährende Geburt âne underlâz), zweitens durch die Umwandlung der Ähnlichkeitsrelation in eine Einheitsrelation. Vergleichbar geht es in diesem ersten der insgesamt drei Trostbuch-Teile weiter: Eckhart zitiert auctoritates (Augustinus, Seneca, die Propheten), und mitten im Gestus der Auslegung, auch der Überbietung des Zitats provoziert er einen Perspektivenwechsel, einen Ebenensprung von der biblischen Schöpfungstheologie, die die Differenz zwischen creator und creatura festhält, hin zur bild-offeneren, endzeitlichten Vorstellung von Sohnschaft als „Gottesgeburt“, die eben diese Differenz gerade abbaut. Eckhart nennt diesen Abbau der eigenen Geschöpflichkeit sich entbilden. Seine Begründung ist die folgende: Als Gott-geborener Sohn haben wir „dasselbe eine Sein“, wohingegen Geschaffenes keinen Einfluss auf den Sohn habe; nichts davon „gebiere“ sich in ihn, weswegen eben alles darauf ankomme, sich der Geschöpflichkeit zu „entbilden“, dann gelte: allez wesen, leben, bekennen, wizzen und minnen ist ûz gote und in gote und got („Sein ganzes Sein, Leben, Erkennen, Wissen und Lieben ist aus Gott und in Gott, es ist Gott selbst“, S.14, 29– 16,2). An dieser Stelle nun sind alle emanativen (ûz gote) und immanentistischen (in gote) Implikationen zugunsten des Einsseins (ist got) zurückgelassen.35 Eckhart zitiert im Trostbuch auffällig viele Propheten-Worte ( Jeremias, Ezechiel, Salomon, David), wobei er die Prophetenrolle jeweils zu überbieten sucht („David sagt . . ., ich aber sage“; oder: die meister lêren . . ., nû spriche ich). Signifikantes Beispiel ist eine Passage etwa aus der Mitte des Trostbuchs. Eckhart zitiert den Propheten Jesaia: „Keine noch so große Gleichheit (glîchnisse) [. . .] genügt mir, bis ich selbst in meinem Sohn offenbar [. . .] werde (erschîne)“, schließt dann aber nahtlos an diese innertrinitarische Einheits-Aussage an: „Und unser Herr bat seinen Vater, dass wir [das inklusive ‚Wir‘ ist der erste Ebenensprung] mit ihm nicht nur vereint, sondern in ihm eins würden [‚Offenbarwerden‘ als ‚Einswerden‘ ist der zweite Ebenensprung]“: daz wir mit im und in im ein würden, nicht aleine vereinet (S. 44,1–6) Genau dieser Satz, den Eckhart fugenlos an das Prophetenzitat anschließt (er steht, wen wundert’s?, auf der Liste der errores) formuliert eine HeilsVergegenwärtigung, die die institutionellen Bedingungen der Gattung Trostlitera34
Hasebrink: Formen inzitativer Rede (wie Anm.14), S. 265. Wenn Kurt Flasch in seiner ungemein präzisen Übersetzung des Trostbuchs Eckharts „Geburt“ mit dem neuhochdeutschen Äquivalent „Produkt“ wiedergibt (vgl. oben S. 289), ist das eine gezielte Entmetaphorisierung oder auch Reterminologisierung des vieldeutig-undeutlichen Ausdrucks, die etwas gewinnt und verliert zugleich. 35
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tur als Medium der Heils-Verheißung an eine Grenze führt.Trost und Trostbedarf? „In Gott gibt es keine Trauer, kein Leid, kein Unglück“ (S.14,6: in gote enist niht trûricheit noch leit noch ungemach), erinnert Eckhart am Ende des ersten Teils.Wer sich überhaupt trösten lassen muß, liebe nicht Gott, sondern das von ihm Geschaffene (die crêatûre), suche also trôst im untrôst (S.18,4). Metaphorische und metaphysische Transgressionen greifen bei Eckhart ineinander. Deswegen wird sein Seelengrund zum Abgrund, in den Gott sich gebärt, zum ewigen Abgrund, in dem, so Eckhart, meine Sünden – und hätte ich alle Sünden seit Adam und alle künftigen Sünden auf mich geladen – so völlig zunichte werden, „als wären sie nie geschehen“.36 Wieder ein Als ob, das die Formulierung in die Schwebe bringt und sie unterscheidet von der gewissermaßen reinen Negation der menschlichen Fehlbarkeit (non peccabilis) durch die Freigeister. Künftige Erlösung oder auch grundsätzliche Fehlbarkeit des Menschen werden nicht verabschiedet, aber – metaphorisch – übersprungen, in konsequenter Gegenwartsperspektive, und nicht selten im skizzierten Modus der Überbietung biblischer Rede. Noch einmal: Eckharts ‚Als ob‘ zielt nicht auf eine ontologische Schwächung von Heilsgeschichte (das war – systemnotwendig – das Missverständnis der Zensoren), aber auf ein Zurückstellen der Verlaufsdimension der Zeit, das zugleich die Dignität der Zeit als „reine Gegenwart“ festhalten will. Das ist kompliziert, und das weiß Eckhart, weswegen er immer wieder sagt: es ist ganz einfach.Vergleichbar heißt es am Schluss des Trostbuchs (ich paraphrasiere): ‚Manch grober Mensch wird behaupten, das sei alles nicht wahr. Dem antworte ich mit Augustinus: Alles, was künftig ist und alles was Gott je gemacht hat, das wird er noch heute machen.Was kann ich dafür, wenn Ihr das nicht versteht! Mir genügt, dass es in mir und in Gott wahr ist‘ (vgl. S. 88,19ff.). Die Passage ist berühmt, der hier formulierte Anspruch auf Unabhängigkeit vom Verstandenwerden wirkt freilich institutionenkritischer, als er sein will. Eckharts Zurückstellen des kirchlichen Anspruchs auf Heilsvermittlung hat keine anti-institutionelle Stoßrichtung, wendet sich nicht gegen die Institution, sondern zielt über sie hinaus. Und es ist gerade Eckharts begrifflich nicht restlos auflösbare, kühne, ‚absolute‘ Metapher der „Geburt“, in der die heilsgeschichtliche res und die heilsgeschichtliche figura mit dem Heil der Gegenwart zusammenfallen, so dass mit ihr genau diese paradoxe Dynamik markiert ist: der notwendig institutionstranszendente Kern von Institution. Ganz zum Schluss des Trostbuchs erlaubt Eckhart sich dann doch noch einen kleinen Hieb gegen die, die ihn „grob“ verstehen: „Sie wollen im Licht der Ewigkeit stehen, und dabei flattert ihr Herz noch im Gestern und Morgen!“ (S. 90, 7ff.) Man erkennt, wie Eckharts singuläres Konzept von Heilsvergegenwärtigung funktioniert: im Zwischenraum zwischen Verheißung und Erfüllung, zwischen Metaphysik und Metapher, zusätzlich auch im Spannungsfeld von ‚Ich aber sage Euch‘-Charisma und ‚Was geschrieben steht‘-Tradition. Die Ebene der vergange36 Die rede der underscheidunge, c.13 (DWV, 238,4–6: [. . .] sô sint alle sünde belder verswunden in dem abgründe gotes, dan ich mîn ouge zuo möhte getuon, und werdent sô alzemâle ze nihte, als sie nie geschehen enwæren).
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nen heilsgeschichtlichen Fakten (das, was zwischen Sündenfall und Erlösung einmalig war) und die Ebene heilsgeschichtlicher Bedeutung (das, was Heilsgeschichte sein wird und sein könnte: der Irrealis) fallen zusammen im Trost, der immer schon da ist. Diese Entzeitlichung von Heilsgeschichte nennt Eckhart „Gottesgeburt im Seelengrund“, und während Eckhart alles dafür tut, dass die die Ebenen heilsgeschichtlicher res und heilsgeschichtlicher figura gerade nicht strikt zu scheiden sind, sondern je neu ineinander umschlagen, ziehen die Späteren, von ihm Faszinierten die Differenzierung wieder ein. Die Predigten Taulers, aber auch die Weihnachtspredigten des Cusanus über Gottesgeburt sind hier nur ein Beispiel von vielen, die zeigen, wie über die Unterscheidung von „aus Natur“/„aus Gnade“ und über die mariologisch-christologische Akzentuierung der „Gottesgeburt“ ausdrücklich die ontologische Differenz zwischen creator und creatura zurückgeholt wird.37 Auch kehren sie, je faszinierter, um so ausdrücklicher wieder zur prophetisch-visionär oder allegorisch legitimierten Autorrolle zurück, die Eckhart von seiner maximalen Abstraktionsebene aus hinter sich gelassen hat; Heinrich Seuse wäre hier der prominenteste Fall. Im folgenden möchte ich noch einen Schritt weiter bis ins 16. Jahrhundert gehen, zu dem über Seuse und Tauler von Eckhart affizierten Sebastian Franck, der zwei Jahrhunderte nach Tauler in seinem theologisch-philosophischen Hauptwerk, den Paradoxa, Bibelexegese dadurch verweigert, dass er einander widersprechende Bibelzitate – die „gespaltene Klaue“ der Schrift – aneinanderreiht und auf diese Weise als Autor, wie Jan-Dirk Müller gesagt hat, auf sein eigenes Verschwinden hinschreibt.38 Und doch war auch er der Zensur ausgesetzt, nicht nur wegen seiner radikalen Schriftkritik, sondern auch aufgrund seiner mystisch inspirierten Ewigkeitsspekulation, die freilich ganz anders akzentuiert ist als die Eckharts, mit anderen Spielräumen der Argumentation.
37 Zu Tauler vgl. Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 333f. (Maria als „Wiedergebärerin“, die dem Menschen durch Gottes „grundlose“ Barmherzigkeit aus dem „Abgrund“ der Sünde half ) und S. 368–370 (zur Gottesgeburt „durch meinen Sohn und in meinem Sohn“, mit Bezug auf den gros edel meister Eckhart); zu Taulers Abgrund-Spekulation S.181ff, auch 241ff. Zu Cusanus vgl. Reinhardt: Gottes Geburt (wie Anm. 23). Dieser Beitrag demonstriert, wie sehr dem Cusaner bei aller Eckhart-Faszination an einer Korrektur von dessen heilsgeschichtlicher Entdifferenzierung der Gottesgeburt lag, indem er verschiedene Zeitstufen und Grade von Abbildlichkeit des Menschen unterscheidet (S. 44f.) und den Vorgang außerdem (vgl. S. 46–48) nah an die Idee einer christiformitas heranrückt, sehr viel ausdrücklicher als Eckhart differenzierend „zwischen der ewigen Zeugung des Sohnes und der gnadenhaften Zeugung und Geburt der Menschen zu Söhnen Gottes aufgrund der Menschwerdung des Sohnes“ (S. 48). 38 Jan-Dirk Müller: Zur Einführung. Sebastian Franck: der Schreiber als Kompilator, in: ders. (Hg.): Sebastian Franck (1499–1542), Wiesbaden 1993 (= Wolfenbütteler Forschungen 56), S.13–38, hier S. 38; vgl. ders.: Buchstabe, Geist, Subjekt. Zu einer frühneuzeitlichen Problemfigur bei Sebastian Franck, in: Modern Language Notes, Bd.106 (1991), S. 648–674.
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III. Die „gespaltene Klaue“ der Schrift. Sebastian Franck Sebastian Francks zweihundertachtzig Paradoxa (1534 zum ersten Mal gedruckt) lassen sich verstehen als dialektisches Wahrheitsermittlungsverfahren, das den „reinen und unendlichen“ Widerspruchscharakter der Heiligen Schrift offen legen will. Die universale Reichweite der Einzelwidersprüche rührt aus einem fundamentalen Grundwiderspruch zwischen Gott und der Welt her. Programmatisch setzt Franck eine kategoriale Widersprüchlichkeit an, die, als solche unheilbar, nicht nur das Evangelium als „eyn ewig lautter Wunderred“ im gespaltenen Buchstaben steckenbleiben lasse, sondern die ganze Welt: [. . .] das alle ding gespaltenn sind / vnd zwey ansehen haben / Eins nach den menschen / das ander nach Got. [. . .] Was da Ja ist / ist dort Neyn vnd widerumb. Es gehœrt eyn indruck vnd gespalten klawe zuo allen dingen [. . .].39
Wenn demnach alles in der Welt, wie Franck es ausdrückt, eine „gespaltene Klaue“ hat und perspektivisch widersprüchlich ist (ad deum, ad hominem), dann liegt seinem Entwurf von Welt und Gott eine, wie ich sagen würde, fundamentale ‚metaphorische Metaphysik des Widersprüchlichen‘ zugrunde.Angetrieben sowohl von humanistischer Skepsis wie von Reform-Euphorie, zugleich tief getroffen von der mystischen Einheitsspekulation des Spätmittelalters, stellt Franck die Bibel gegen sich selbst, statt sie auszulegen. Sein hermeneutisches Misstrauen richtet sich dabei gegen Verabsolutierungstendenzen des lutherischen Schriftprinzips, gegen bloß äußerliche Sinnunterstellung, die die Bibel als Orakel missbraucht. Franck setzt Widerspruch an Widerspruch, überlässt diese dem Leser weitgehend kommentarlos und zieht sich als Autor – als „meyster in einem fremden buoch“40 – so gut wie vollständig hinter den zwiespältigen, den „gespaltenen“ Wortlaut der Bibel zurück (eine andere Pointe dessen, was Sven Grosse in seinem Beitrag Francks „medienlose Kommunikation“ nennt).41 Francks Umdeutung der Ewigkeitsspekulation der Mystik, wie sie in den Paradoxa greifbar wird, interessiert mich deswegen, weil sie, durchaus nah an Eckharts paradoxer Konzeption bis hin zum Anschein der Abwertung des historischen Christus, Heilsvergegenwärtigung doch in einem entscheidenden Punkt anders akzentuiert, und dass es hier auch um das Verhältnis von Metaphorik und Metaphysik geht, muss uns nicht wundern, angesichts der oben bereits skizzierten Franckschen metaphorischen Metaphysik des Widersprüchlichen. Beleg für Francks Transformation der Eckhartschen präsentischen Eschatologie sei das folgende Zitat, Paradoxon 79, das den Kontrast der zwei „widerwertigen 39 Sebastian Franck: Paradoxa ducenta octoginta, zit. nach dem Druck von 1542 [o. O.], hier Paradoxon 57, Bl. XXXIr/v. Vgl. die Ausgabe von Siegfried Wollgast: Paradoxa, hg. und eingeleitet von dems., 2. Aufl., Berlin 1995. 40 Diallage, in: Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd.1: Frühe Schriften, Text-Redaktion Peter Klaus Knauer, Bern 1993 (= Berliner Ausgaben. Sektion Philologische Wissenschaften, hg. von Hans-Gert Roloff ), S. 2–214, hier S. 6,18. 41 Vgl. Sven Grosses Beitrag in diesem Band: Fundamentalkommunikation – Luther, Karlstadt und Sebastian Franck im Disput über die Medialität der Bibel.
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naturen“ vom alten und neuen Menschen als perspektivische Spaltung in deo/ad nos bespricht, unter dem Aspekt verschiedener ‚Mixturen‘ von Zeit und Ewigkeit: Wir seindt vom fleisch vnnd geist zuo sammenn gesetzt ein wunderbarlich mixtur von todt vnd leben / toedlich vnnd untoedtlich / von zweien gar widerwertigen naturen zur ewigen ritterschafft. [. . .] Merck der zeitloß Got macht nichts inn der zeit / er hat vns alle von ewigkeit erschaffen / von innen vnd aussen / Bey vns zeitlichen aber fahet es denn an wenn wir diß werden. Der new mensch ist vonn ewigkeit auß Got geboren ehe der welt grundt ward gelegt / Desgleichen auch der alt irdisch mensch vor Got. [. . .] Vor Got aber ist es alles von ewigkeit / vnd bestehet immerzuo . Er schafft nichts in der zeit / das er heut den / morgen jenen bekere / widergeborn / oder zum Christen / vnnd newen menschen mach. / Sein wort bleibt ewig / was er ein mal hat gesprochen in ewigkeit / das gehet fur vnd fur im wesen vnd schwanck. Das wort fiat ist nit vergangen / sonder schaft noch fur vnd fur / Vnd wenn es in die zeit felt / denn sprechenn wirs zeitlich. [. . .] Summa der alt mensch ist der von Got erschaffen der new aber der auß Got geboren ist / ein geist auß geist / vnnd ein Got / auß Got wie Christus.42
Unübersehbar ist, dass Franck Zeit spaltet in den Gegensatz von Zeit und Ewigkeit. Den Grundkontrast der christlichen Anthropologie von „Fleisch“ und „Geist“ bindet er als wunderbarlich mixtur an andere Gegensatzpaare (Tod und Leben, Sterblichkeit und Unsterblichkeit, Zeit und Ewigkeit, innen und außen, alt, neu). Franck setzt dann, anders als Eckharts konsequente Ewigkeits-Perspektive, zwei Gegenwärtigkeiten an: eine Gegenwart in Gott und eine Gegenwart in der Zeit.43 Wo Eckhart – gerade über das „Geburts“-Paradigma – jenseits der Schöpfungstheologie heilsgeschichtliche bzw. ontologische Differenzierung (Ähnlichkeit) in sich zusammenfallen hat lassen, da zieht Franck sie Satz für Satz geradezu gegensatztrunken wieder ein.Wenn er sagt, dass der neue, geistige Mensch vor der Zeit ewig aus Gott geboren sei, dann fügt er, noch bevor er vom Gegensatz des alten, irdischen Menschen redet, zwar ein, dass in Gott alles ewig sei, sein Wort also ewig wirksam sei. Doch schon im nächsten Atemzug wird die Ewigkeitsperspektive Gottes wieder gespalten, wird auch sie Teil jener von Franck angesetzen kategorialen Widersprüchlichkeit: Wenn das ewige Wort „in die Zeit fällt“, dann, so Franck, „sprechen wir es zeitlich“. Und auch in Summa bleibt zum Schluss nichts als ein Widerspruch stehen, der Widerspruch von dem alten, von Gott „erschaffenen“ Menschen einerseits, dem neuen, aus Gott „geborenen“ Menschen anderseits, und nur der sei Geist aus Geist, Gott aus Gott, „wie“ Christus. Durchweg – das Zitat steht exemplarisch für diesen Befund – spaltet Franck ausdrücklich die Perspektive in eine relative und absolute (in deo, ad nos) und hält bis zum Schluss die Christus-Analogie fest, wohingegen Eckhart, der vordergründig mit demselben Kontrast von „Schöpfung“ und „Geburt“ argumentiert, explizite Hinsichtenunterscheidung und eine similitudo-Perspektive gezielt ausspart, außerdem, wie wir sahen, Christusförmigkeit als „Sohnsein, mit dem gleichen Sein“ einheitsmetaphysisch steigert und mittels implikativer, metaphorischer, paradigmatisch variierter Rede (eben mit jener Metapher der „Gottesgeburt in der Seele“) gezielt eine relative und absolute Sicht immer wieder zusamParadoxon 79, Bl. XXXVIIIr: Duo homines in unoquoque homine. Vgl. auch Paradoxon 100, Bl. LVIIIr: Christus hodie, heri, et in perpetuum. Christus ist gestern / heut / vnd in ewigkeit (Hebr. 13,8); auch Paradoxon 43/44, Bl. XXVIIv, mit ausdrücklichem Bezug auf Tauler. 42 43
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menfallen lässt. Ganz anders Franck. Sein radikalreformatorischer ‚mystischer Spiritualismus‘44 überlässt eine paradoxe Dynamik, die über die von ihm zusammengestellten Widersprüche (die „gespaltene Klaue“) hinausführen würde, dem Leser. Deswegen möchte ich, bei aller unübersehbar Mystik-nahen Ewigkeitsspekulation Francks, dessen metaphorische Metaphysik des Widersprüchlichen von Eckharts einheitsmetaphysischer (absoluter) Metaphorik doch weit getrennt halten. Francks strikte Gegenüberstellung (seine „ewigen Paradoxa“) von Zeit und Ewigkeit, Gottgeschaffenem und aus Gott geborenem Menschen, sind weit entfernt von Eckharts ewigem Gott, der sich je neu in den ewigen Grund der Seele gebiert. Franck, der sich als Autor ausdrücklich zurückzieht, traut der Schrift (dem ‚Medium‘) nichts zu, dafür alles dem „reinen Geist“, dem „Geist aus Geist“. Seine in der Tat ‚radikal‘reformatorische Theologie mit dem Anspruch (mit der Illusion?) reiner, ewiger Geistunmittelbarkeit und sprachunabhängiger Innerlichkeit appelliert nur an eine unmittelbare Gottnähe; bei Eckhart hingegen ist die von ihm selbst erzeugte, ja, forcierte paradoxe Dynamik von Vermittlung und Unmittelbarkeit das zentrale Strukturmerkmal seines Sprechens. Nicht nur Franck, auch Luther war bekanntlich von der Unmittelbarkeitsspekulation der christozentrischen Liebes- und Leidensmystik Taulers elektrisiert. Doch die Mystik-Rezeption Francks, der auf eine Geist-Unmittelbarkeit vertraut, verläuft grundlegend anders als die Luthers, dessen ekstatische Glaubensmystik, wie Berndt Hamm gezeigt hat,45 auf eine Wort-Unmittelbarkeit setzt, die gerade nicht die Trennung (die „gespaltene Klaue“), sondern die Einheit von littera und spiritus voraussetzt. Luthers reformatorische Glaubensmystik differenziert die mystische Vorstellung der Einheit der Seele mit Gott neu als Einheit der glaubenden Seele mit Gottes Wort. Das ist eine doppelte Vereindeutigung, die im Übrigen das Paradigma von der ‚Gottesgeburt im Seelengrund‘ auffällig zurückstellt.46 Im Gegensatz zu Francks radikaler Schrift-Skepsis versteht Luther das biblische Verkündigungswort als Unmittelbarkeit-Medium. Luthers Vorstellung von der Heilsunmittelbarkeit durch das Wort kann denn auch, um noch einmal auf unser Eingangsbeispiel ‚allgemeiner Priesterschaft aller Getauften und Glaubenden‘ zurückzukommen, auf jede Art priesterlicher Heilsvermittlung verzichten.47 Freilich gilt auch und gerade für beide in sich gegenläufige Mystikrezeptionen, die so glühend einerseits Wort-Unmittelbarkeit (Luther), anderseits Geist-Unmittelbarkeit (Franck) verabsolutieren, dass die Kernparadoxie der christlichen Idee einer
44 Vgl. Bruno Quast: Sebastian Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘. Studien zum radikalreformatorischen Spiritualismus, Tübingen/Basel 1993 (= Bibliotheca Germanica 31). 45 Zuletzt Hamm: Der frühe Luther (wie Anm. 8); zur „Unmittelbarkeit der glaubenden Seele zum Evangelium“, zur Voraussetzung der Einheit („unio“) von Wort und Glaube bei Luther S. 225–229. 46 Dazu Hamm: ebd., S. 246 (mit Bezug auf Bernd Moeller). Zum Seelengrund bei Tauler vgl. zusammenfassend Otto Langer: Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004, S. 390–392. 47 „Mit Volker Leppin sehe ich in Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften und Glaubenden eine Art von vereindeutigender Transformation mystischer Vorstellungen von Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch.“ Hamm: ebd., S. 228.
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Medialität des Heils gleichwohl unbewältigt bleibt: die Paradoxie aufgrund der „Anwesenheit von Unbedingtem inmitten lauter Bedingtheiten“.48 Zu diskursiven Paradoxien dieser Art, in die die Vorstellung einer Vermittlung der Unmittelbarkeit notwendig führen, gehört auch das Problem, dass (und wie) „Transzendentes im Modus der Vermittlung und zugleich als dessen Grenze erscheint“.49 Um so mehr muß es für eine analytischen Rekonstruktion der strukturhomologen Positionen darauf ankommen, zu beschreiben, mit welcher (buchstäblichen, metaphorischen, ontologischen, institutionellen) Reichweite die Aussagen jeweils gelten, um entscheiden zu können, wie Francks „politisch-institutioneller Nihilismus“ sich zu seinem (skeptischen? mystisch-zeitlosen?) „eschatologischen Bewusstsein“ verhält.50 Auch die reformatorische Verabsolutierung von Unmittelbarkeit des Wort- bzw. Geistprinzips bleibt im Kern widersprüchlich und gewinnt nicht zuletzt dadurch ihrerseits einen eigenen Argumentationsspielraum, auf der Basis eines bei Franck und bei Luther je verschiedenen Anti-Institutionalismus.
IV. Metaphysik der Metapher? Referenzparadoxien als methodisches Problem Was ist zu halten von der Vorstellung, der „demütige Mensch, insofern er demütig ist“ und eins mit Gott, könne Gott zu sich „zwingen“, ihn zwingen, ihm sogar bis in die Hölle zu folgen? Ich zitiere aus einer Eckhartschen Predigt: Er [Gott] muoss dis von not tuon, er wurdi bezwungen dar zuo, das er es tuon muesti,51 nämlich zum demütigen Menschen in die Hölle hinabzusteigen? Ja bi got: wae r dirre mentsch in der hell, got mue st zuo im in die hell, vnd die hell mue st im ain himelrich sin. er muoss dis von not tuon, er wurdi bezwungen dar zuo, das er es tuon mue sti; wan da ist dirre mentsch goetlich wesen, vnd goetlich wesen ist dirre mentsch. „Ja, bei Gott! wäre dieser Mensch in der Hölle, Gott müßte zu ihm in die Hölle, und die Hölle müßte für ihn ein Himmelreich sein. Er [= Gott] muß dies notwendig tun, er würde gezwungen dazu, es tun zu müssen; denn da ist dieser Mensch das göttliche Sein, und das göttliche Sein ist dieser Mensch.“52
Vermutlich wird man sich über diesen nachdrücklich ‚bezwungenen‘ Gott zunächst wundern, wundern wie die Zensoren, die sich provoziert sahen und die Stelle prompt inkriminiert haben: ‚Gott muss es tun, notwendig (de necessitate), gezwungenermaßen‘? Ist das im übertragenen Sinn gemeint? Wie sollte im eigent48
Flasch: Meister Eckhardt (wie Anm. 3), S. 274. Christian Kiening: Einleitung, in: Medialität des Heils im späten Mittelalter, hg. von Carla Dauven-van Knippenberg/Cornelia Herberichs/ders., Zürich 2009 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 7–20, hier S. 9. 50 Dazu erhellend Quast: Francks ‚Kriegbüchlin des Frides‘ (wie Anm. 44), S.138–141. 51 Vgl. DW I, S. 246,18–247,1: Ja bi got: waer dirre mentsch in der hell, got mue st zuo im in die hell, vnd die e hell must im ain himelrich sin. er muoss dis von not tuon, er wurdi bezwungen dar zuo, das er es tuon mue sti; wan da ist dirre mentsch goetlich wesen, vnd goetlich wesen ist dirre mentsch., Zensoren: LW V, S. 324,25f. 52 Pr. Q 15, in: DW I, S. 246,18–247,1 (nhd. Übers. Josef Quint, S. 489). 49
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lichen Sinn der souveräne Gott sich von uns ‚zwingen‘ lassen? Oder steht dahinter keine metaphorische, sondern eine sogenannte ‚metaphysische‘ Notwendigkeit, „ein Müssen der göttlichen Natur selbst, kein ihr auferlegtes Müssen“,53 also eine Art freie Selbstbindung Gottes? Das sind theologische Behelfsbegriffe bereits einer mittelalterlichen Erlösungstheologie, über deren Erklärungspotential man verschiedener Meinung sein kann.54 Jene anima infelix, die in der ewigen Hölle brennt, dürfte es jedenfalls kaum kümmern, wenn die andern, sozusagen von außerhalb, eine wie auch immer metaphorische oder metaphysisch notwendige felix culpa ansetzen. Müsste für sie nicht einfach nur das göttliche Erbarmen zu schwach sein? Ein Symptom dieser, wie ich finde, theologischen Systemlücke innerhalb des etablierten felix culpa-Modells könnte der unsichere Referenzstatus der Aussage sein: Wie „glücklich“ ist für die unglückliche Einzelseele die Schuld des gefallenen Menschen wirklich, nicht nur in toto und ex post, nicht nur aus dem Auge Gottes, sondern in der Hölle, jetzt? Kehren wir zurück zu Eckhart, dem sehr wohl bewusst ist, dass seine Texte auf Schritt und Tritt einen theoretischen Ausnahmezustand herstellen. Eckharts emphatischer Satz ‚Gott muss es tun‘ heißt offensichtlich nicht: ‚gezwungen‘ nach menschlichem Maß.Auch diese Formulierung sucht einen Ebenensprung, der auf eine sich jenseits von Zwang vollziehende notwendige Selbstmitteilung Gottes zielt, doch das ‚sagt‘ sie nicht, weswegen der Satz klingt, als wäre Gott einer Zwangsläufigkeit unterworfen. Schon wieder ein oszillierendes Als ob. Hellhörig macht – und deswegen habe ich diese Stelle noch ins Spiel gebracht –, dass Eckhart zur Erläuterung der in Rede stehenden ‚Einheit des Demütigen mit Gott‘ eine Wiederholungsfigur benutzt, eine reduplikative Wendung, wie sie für ihn charakteristisch ist. Er sagt: Homo enim humilis in quantum humilis non est duo cum humilitate (325,4: ‚Der Demütige, insofern er demütig ist, ist nicht unterschieden von der Demut‘/‚zwingt‘ Gott zu sich). Eckharts Reduplikationen unterscheiden etwas (nämlich eine Hinsicht: ‚insofern‘), aber behaupten zugleich die Selbigkeit des Unterschiedenen (ähnlich oben: „der Sohn als Sohn“). Grundmuster von Eckharts Reduplikation „Sohn, insofern er Sohn ist“ ist die traditionelle Definition von Metaphysik, die mit der Formel ens inquantum ens seit der klassischen Antike ihren Gegenstand, ‚das Seiende als Seiendes‘, abhebt vom kategorial Seienden. Eckharts selbstbezügliche reduplikative Wendungen spielen auf diesen Typus an, treffen jedoch keine Gottesaussage, sondern beziehen sich auf das Einheitsverhältnis des Menschen mit Gott. Das ist der entscheidende Perspektivenwechsel, der Kern seiner „metaphysischen Sonderlehre“, der, und das war mein Thema, immer auch Eckharts metaphorische Grenzüberschreitungen im Kern betrifft. 53
Flasch: Meister Eckhardt (wie Anm. 3), S. 75. Vgl. zur spätmittelalterlichen Auseinandersetzung mit dem Nezessitarismus der konsequenten Aristoteliker zusammenfassend Leppin (Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung und ihre Bedeutung für die reformatorische Entwicklung Martin Luthers, Beitrag in diesem Band). Zur Felix culpa-Vorstellung als einer problematischen Figur der Positivierung von Negativität vgl. zuletzt die Walter Haug gewidmeten einschlägigen Beiträge in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008), S.158–236. 54
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Eckharts Redeweise setzt auf paradoxe (emphatische) Weise das Uneigentliche eigentlich (Sohn sein). Heraus kommt ein unsicherer Schwebezustand zwischen proprie und improprie – auf ihn antwortet, so scheint mir, auch Flaschs kategoriale Spaltung in eine „Metaphysik der Sohnschaft“, aber „Metapher der Gottesgeburt“ –, ein Schwebezustand, für den Eckhart selber einen Begriff hat: allereigenlîchest.55 Eckharts „Gottesgeburt in der Seele“ ist der Versuch, Gott außerhalb der Kategorien Immanenz und Transzendenz allereigenlîchest zu denken, was in grundlegende Paradoxien führt. Bei anderen Mystikern öffnen sich andere Spielräume, bei Mechthild von Magdeburg u. a. ein narrativer, bei Marguerite Porete ein überwiegend dialogisch-diskursiver, bei Seuse und Tauler ein unterscheidungsobsessiver; Sebastian Franck schließlich treibt aus den Unterscheidungen schärfste Widersprüche und Gegensätze hervor, die er einfach nebeneinander stellt. Was bleibt übrig von Heilsgeschichte, wenn sie ohne Ausdehnung in der Zeit verläuft und die problemtragende Kategorie der Zeit grundsätzlich überspringen will – abgesehen davon, dass Eckhart sich damit um Kopf und Kragen redet? Die Frage, die ich mir, angeregt durch Flasch, gestellt habe, lautete: Wie wirkt sich das spezifische Verhältnis von Metaphorik und Metaphysik auf die Spielräume seiner Argumentation aus? Meine These war, dass „Gottesgeburt“ von Eckhart gezielt als eine auf ihre unendliche Überschreitbarkeit hin angelegte Referenzparadoxie eingesetzt ist, als Metapher, die keine ist, weil sie einen Standort außerhalb der Zeichen-Funktion der Sprache beansprucht, und doch eine Metapher ist, weil sie diese Funktion nicht restlos hinter sich lassen kann. Es gibt bei Eckhart eine unverwechselbare Tendenz zur Aufhebung von Zeit- und Verweisstrukturen. Grenzfälle von Metaphern und Sonderfälle von Metaphysik wirken ineinander und bewirken Aussagen wie „als wäre keine Zeit“, „als wäre keine Sünde“, „als wäre Gott gezwungen“. Metaphysik und Metapher sind daher keine Alternativen, aber auch nicht unabhängig voneinander („bloß metaphorisch“). Mir lag daran zu beobachten, wie dieser Zusammenhang von Metaphysik und Metapher bei Eckhart spezifisch wird, so spezifisch, dass er seiner Argumentation einen unverwechselbaren intellektuellen Spielraum verschafft. Zentrum des Ganzen scheint mir ein Modell von Gottessohnschaft, das das heilsgeschichtliche Achsenereignis der Inkarnation heilsvergegenwärtigend auf das Verhältnis von Gott und Mensch überträgt, und zwar außerhalb des Ähnlichkeitsmodells. Einerseits wird eine zeitliche Abfolge (von Zeugen, Gebären, Zurückgebären) gesetzt, anderseits zugleich aufgehoben, weil die Bewegung, die nach außen geht, auch selbstbezüglich zu sich zurückkehrt: Gott gebärt mich als sich, Sohnsein als Sohnwerden, Gebären als Geborenwerden und als Zurückgebären, der Seelengrund als göttlicher Abgrund. Eckhart formuliert lauter Äquivalenzketten, die die unendliche, zeitenthobene 55 Er gehört eng zur Kategorie der locutio emphatica, die in Eckharts Selbstverteidigung vor den Kölner Zensoren eine prominente Rolle spielt; das habe ich an anderer Stelle beschrieben (wie Anm. 6), ohne mir damals klar zu werden, welche Rolle die in der Eckhart-Forschung umstrittene Relation Metapher-Metaphysik für diese Selbstbeschreibung spielt.
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Wirksamkeit desselben Vorgangs variieren und mit minimalen Verschiebungen die Differenz zwischen den Termen schwächen, aber erhalten. Zwar gilt in der christlichen Schöpfungsmetaphysik der Basissatz: Das Schaffen geht dem Geschaffenen voraus. Aber unter der Bedingung zeitloser Zeit muss die Kategorie zeitlicher Priorität entfallen, und so kann, nur konsequent in Eckharts Argumentation, gebären (zurückgebären) „dasselbe sein“ wie geborenwerden, in unendlicher Progression, Geborenhaben „dasselbe“ wie Gebärenwerden. In diesem Sinn sprengen Eckharts Metaphern ihre eigene Anschaulichkeit, treiben sie die Argumentation voran und sind daher keinesfalls illustrativ, sondern projektiv.Was für den dunklen Stil der enigmatischen Thesen des Liber viginti quattuor philosophorum gesagt wurde,56 dessen Wirkung auf Eckhart immens war, könnte meines Erachtens auch für Eckharts eigene Metaphorik gelten: sie „nährt das Denken und beflügelt die Phantasie“.57 Zentrale Spielräume der Argumentation Eckharts sind solche der Metapher. Eckhart bleibt für mich ein Sonderfall, ein Ausnahmeautor, was sich um so deutlicher zeigt, je mehr man ihn im Kontext versteht. In der Binnenperspekive der christlichen Erlösungstheologie musste seine präsentische Eschatologie – der Versuch, in der Zeit aus der Zeit herauszutreten – notwendig anstößig wirken. Eckharts außerordentliche („integrative“) Metaphysik, wie sie die philosophiehistorische Forschung eindrucksvoll herausgearbeitet hat, ist zugleich eine transgressive Metaphysik, die menschliches und göttliches Sein eng (enger als alle Tradition vorher) aufeinander bezieht, wodurch sich die Aussageebenen und Referenzmöglichkeiten vervielfältigen. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Eckharts Grenzüberschreitungen nicht nur, aber auch von Metaphern getragen sind (lat. transgressio, auch translatio, transsumptio), Metaphern, die eben jene paradoxe HeilsGegenwart herstellen, die sich zugleich entzieht. Nicht nur Eckharts prominente Abstraktbildungen wie ‚Abgeschiedenheit‘ oder ‚Gelassenheit‘ sind als Prozesskategorien aufzufassen, auch seine Metaphern sind dynamische Modelle, die wechselseitig ineinander umschlagen („Gebären“ als „Geborenwerden“) und die Grenze zur strikten Terminologie eindeutiger Diskurse (z. B. „Geburt“ als processio verbi in der Trinitätstheologie) gezielt verwischen.Vorgreiflich wertende, dualistische Modelle wie ‚distinkter Begriff‘ gegen ‚bloße Metapher‘ verstellen darauf notwendig den Blick. Hinzukommt: Metaphern transportieren unthematisch metaphysische Grundannahmen. So tragen die Metaphern ‚Quelle‘ oder ‚Wurzel‘
56 Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, Lateinisch-Deutsch, erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch, München 2011. 57 Ebd., Vorwort, S. 7. Nicht zufällig ergibt sich hier ein ähnlich unsicherer Status der Aussage. So bleibt offen, inwieweit die zweite der 24 Definitionen, das berühmte Bild von Gott als unendlicher Kugel, deren Mittelpunkt überall ist (S. 29), ihre Reichweite gewinnt als kosmologische oder als metaphysische These, als philosophische Gottes-Metapher. „Theosophie“, schlägt Flasch vor (S. 77). Zu schweigen von dem „im Zentrum der Kugel eingekerkerten Nichts“ (sphaeram in cuius centro nihil incarceratur, S. 56), eine Aussage, die abstrakte Metaphysik (das „Nichts“), konkrete Vorstellung („Kugel“) und metaphorische Diktion („eingekerkert“) mehr als uneindeutig („poetisch“?, Flasch, S. 57) ineinander schiebt für eine Aussage über etwas von aller Diskursivierbarkeit Abgelöstes.
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mit der Konnotation nichtherstellbarer, unabgeleiteter Substanz eine Emanationsmetaphysik; damit implizieren sie anderes als die Metapher der ‚Geburt‘ im ‚Seelengrund‘, der ein ‚Abgrund‘ ist. Mit Metaphern kann etwas zugleich behauptet – eben: die Geburt Gottes – und der Diskussion entzogen werden: wir sollen als Sohn den Sohn zurückgebären, und zwar dauernd, im Seelengrund, der mit dem göttlichen Abgrund zusammenfällt – wie soll das gehen? Wir geraten in einen Strudel der Bildlogik, und noch ehe wir die Imagination der Metapher entfalten können, kommt die nächste „kühne“ Metapher, die ihrerseits im Stande ist, ein ganzes metaphorisches Feld zu revolutionieren.58 Sowohl Francks metaphorische Metaphysik der Widersprüche („gespaltene Klaue“) wie Eckharts spezifische Metaphorisierung von Metaphysik sollten nicht verwechselt werden mit einer metaphysischen Aufwertung der Metapher auf der Metaebene. Metaphorisch evozierte Metaphysik und eine Metaphysik der Metapher sind zwei verschiedene Beobachtungsebenen, so wie auch die ‚absolute Metapher‘ mit einer Metaphysik des Absoluten nicht ineinsfällt. Doch unter der Voraussetzung, dass diese Ebenendifferenz kritisch mitreflektiert wird (andernfalls produziert man selber dunkle Rede) und das Risiko von Anachronismen kontrollierbar bleibt,59 können und sollten beide Ebenen zusammendiskutiert werden, zumal gerade Eckhart genau das über seine Bild-Spekulation (entbilden) auf Schritt und Tritt tut. Erst dadurch werden die Metaphern als eine Art „katalysatorische Sphäre“ beschreibbar, an der sich die Nachbarbegriffe ständig bereichern, nicht gegen Begrifflichkeit, sondern im Horizont einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“.60 Mit einer solchen, das Erkenntnispotential der Bildrede aufwertenden Metatheorien der Metapher im oben skizzierten Sinn ihrer Unhintergehbarkeit und fundierenden Absolutheit könnte Eckharts Synchronisierung von Heilsgeschichte – seine ‚absolute‘ Metaphysik der Sohnschaft, die Franck unter dem Einfluss von Tauler wieder relationiert – durchaus metaphorisch genannt werden. Nicht jedoch in einem das Phänomen unterbietenden Sinn ‚bloß‘ metaphorischer Rede. Wer die Metapher ‚bloß metaphorisch‘ nennt, hat ihr gegenüber immer schon verloren.
58 Vgl. Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1963, 316–339. 59 Elizabeth Neswald: Und noch mehr über Metaphern? Zur Metaphernforschung der 90er Jahre, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23 (1998), S. 259–277 (hier eine souveräne Überschau über die Versuche der jüngeren Metaphernforschung, die Lücke zwischen historischen und sprachanalytischen Thesen metatheoretisch oder synthetisierend zu überbrücken). 60 Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1979), in: Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher (wie Anm. 58), S. 438–454.
Volker Leppin
Spätmittelalterliche Wege der Immediatisierung und ihre Bedeutung für die reformatorische Entwicklung Martin Luthers Dass alles, was aus der Taufe gekrochen ist, Priester, Bischof oder Papst sei1: Diese plastische Aussage aus Luthers Adelsschrift ermöglichte, dass aus einer theologischen Botschaft politische Umgestaltung wurde2. Wo Gott jedem Christen und jeder Christin unmittelbar nahe war, konnte, so der gedankliche Zusammenhang, die Aufgabe der Reform auch den weltlichen Würdenträgern zukommen und musste dem Klerus nicht überlassen werden, ja, als Stand hatte der Klerus seine Zeit gehabt – es galt nun kein Unterschied mehr als „des ampts halben“3. Metaphorisch war der Gedanke, dass es ein Priestertum gebe, das nicht durch sakramentale Weihe gestiftet wird, sondern auch die erfasst, die kirchenrechtlich als Laien einzuordnen sind, schon im späten Mittelalter präsent. In der Adelsschrift wurde aus der Sozialmetaphorik ein sozialer Appell mit großer Veränderungsdynamik – aufgegriffen von städtischen Räten4 und regierenden Fürsten5, legiti1
WA 6, S. 408,11f. Vgl. Volker Leppin: Wie reformatorisch war die Reformation?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S.162–176, hier S.175f.; ders.: Evangelium der Freiheit und allgemeines Priestertum. Überlegungen zum Zusammenhang von Theologie und Geschichte in der Reformation, in: Mitteilungen des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim 58 (2007), S.103–107; ders.: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Darmstadt 2009, S. 67f. Diesen Gedanken hat jetzt auch Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, 2.Aufl., Frankfurt/M. 2010, S. 300f., aufgegriffen. 3 WA 6, S. 407,14f. 4 Vgl. zur städtischen Reformation: Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation, 3.Aufl., Tübingen 2011; Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996. 5 Zur fürstlichen Reformation: Enno Bünz/Stefan Rhein/Günther Wartenberg (Hg.): Glaube und Macht.Theologie, Politik und Kunst im Jahrhundert der Reformation, Leipzig 2005; Volker Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (Hg.): Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, Gütersloh 2006 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204); Manfred Rudersdorf: Die Generation der lutherischen Landesväter im Reich. Bausteine zu einer Typologie der deutschen Reformationsfürsten, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 7. Bilanz – Forschungsperspektiven – Register, Münster 1997 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 57), S.137–170; Gury Schneider-Ludorff: Der fürstliche Reformator.Theologische Aspekte im Wirken Philipps von Hessen von der Homberger Synode bis zum Interim, Leipzig 2006 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 20); Manfred Schulze: Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991 (= Spätmittelalter und Reformation 2); Gottfried Seebaß: Die deutschen Fürsten und die Reformation. Kontext und Hintergrund des kirchlichen Wirkens Johann Friedrichs von Sachsen, in: Leppin u. a. (Hg.): Johann Friedrich I., Gütersloh 2006, S. 9–2; Christoph Volkmar: Reform statt Reformation. Die Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen 1488–1525, Tübingen 2008 (= Spätmittelalter, Hu2
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mierte er die Transformation der spätmittelalterlich erstarkten Beteiligung von Laien an kirchenleitenden Funktionen zu reformatorischem Neuaufbau. In diesem Vorgang verdichtet sich die Vielschichtigkeit des Vorgangs der „Immediatisierung“, deren Spuren bereits im hohen Mittelalter zu beobachten sind, deren Dynamik sich aber im späten Mittelalter erheblich erhöhte und schließlich mit der Reformation in die Neuformierung der kirchlichen Landschaft mündete. Hintergrund dieses Prozesses ist die im frühen Mittelalter vollzogene Konstitution einer klaren Ständegesellschaft, der eine kirchenpolitische Hierarchisierung und ein durch Stellvertretungsmodelle – man könnte entsprechend von einem Vikariatsprinzip sprechen –, zunehmend aber auch durch Abstufung religiöser Partizipation subjektiv ausgeformter Gradualismus6 entsprachen.
1. Voraussetzungen der Immediatisierung im Mittelalter In sozialhistorischer Hinsicht konstituierte sich im Zuge von Völkerwanderung und Ethnogenese7 im frühen Mittelalter eine Gesellschaft, in der Macht und Machtpartizipation jeweils nur vermittelt vorkamen: Die einseitigen und interdependenten Abhängigkeitsverhältnisse, die durch das Koordinatennetz von Freiheit bzw. Unfreiheit einerseits, Landbesitz und Landlosigkeit andererseits bestimmt waren, konstituierten eine Gesellschaft, in der die zentrale Königsmacht bei den Untertanen in der Regel nicht spürbar präsent, sondern nur durch mediate Instanzen gegenwärtig war. Wie wichtig dabei nicht zuletzt die äußere, räumliche Nähe für die Verwirklichung von Herrschaft war, zeigt das System der Pfalzen, die es ermöglichten, dass königliche Macht vor Ort sichtbar wurde. Wie dies genutzt werden konnte, zeigen die Königsumritte, durch die insbesondere die salischen Herrscher ihren Machtantritt begingen und den Untertanen merklich machen wollten8. Gegenentwicklungen hierzu finden sich zunächst in den Städten, die im frühen Mittelalter jedenfalls im nordalpinen Bereich keine nennenswerte Bedeutung hatten, aber mit der vermehrten Stadtentwicklung im 10. und 11. Jahrhundert eine solche gewannen. Hier entwickelten sich Politikformen von unmittelbarer Partizipation, in denen das Grundmodell der Interaktion nicht das hierarchische der Herrmanismus, Reformation 41); Günther Wartenberg: Landesherrschaft und Reformation. Moritz von Sachsen und die albertinische Kirchenpolitik bis 1546, Gütersloh 1988 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 55); Eike Wolgast: Formen landesfürstlicher Reformation in Deutschland, in: Leif Grane/Kai Horby (Hg.): Die dänische Reformation vor ihrem internationalen Hintergrund, Göttingen 1990 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte), S. 57–90. 6 Berndt Hamm: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: Was die Reformation zur Reformation machte, in: ders./Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 57–127, hier besonders S. 69–71. 7 Zu diesem Konzept vgl. Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln u. a. 1961. 8 Vgl. hierzu Stefan Weinfurter: Herrschaft und Reich der Salier. Grundlinien einer Umbruchzeit, 3. Aufl., Sigmaringen 1992, S. 30f.
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schaft war, sondern die Ausrichtung auf prinzipielle Gleichrangigkeit unter Freien. Wichtiger für eine Immediatisierung der Herrschaftsstrukturen wurde aber die Entstehung des Beamtentums. Erste Ansätze zur Konstitution von Trägern der Königsmacht auf unterer Ebene im Grafenamt waren letztlich gescheitert, insofern das Grafenamt zu einer herrschaftlichen Verselbständigung tendiert hatte, die im Zuge gewohnheitsrechtlicher Entwicklungen auch die Grafen zu eigenständigen Trägern der Macht auf der unteren Stufe des hierarchisiert-vermittelnden Systems machten und ihre zunächst intendierte volle Abhängigkeit vom König relativierten.Als vorbildlich für die Entwicklung eines Beamtenstaats gilt hingegen das Sizilien Friedrichs II. Hier entwickelte sich eine relativ straff geleitete Organisationsform, in der Träger der Macht diese ausschließlich der Einsetzung durch den König verdankten. Sie waren als Amtsträger nicht mehr als die Repräsentanten dieser königlichen Macht vor Ort. Im Zuge des späten Mittelalters wurden entsprechende Amtsstrukturen zunehmend in den Territorien Europas eingeführt und können als geradezu klassischer Ausdruck dessen gesehen werden, was Peter Moraw als spätmittelalterlichen Prozess der Verdichtung von Herrschaft beschrieben hat9. Dies benennt treffend den herrschaftspolitischen Vorgang. Blickt man in semiotischer Perspektive stärker auf die Veränderungen des mentalen Zeichengefüges, die sich hiermit verband, ist von einem fundamentalen Vorgang der Immediatisierung zu sprechen, der dafür sorgte, dass der jeweilige Territorialherrscher mit höherer Unmittelbarkeit auf seine Untertanen einwirken konnte und diese umgekehrt seine Präsenz in höherem Maße erfuhren. Dass dies auch eine Einschränkung zahlreicher tradierter Rechte mit sich brachte, ist etwa in der Bauernkriegsforschung umfassend diskutiert worden10.Tatsächlich lässt sich nicht nur diese Auseinandersetzung im Sinne eines Protests gegen die Folgen einer Immediatisierung und damit verbundenen Intensivierung von Machtausübung lesen, sondern auch andere reformatorische Entwicklungen werden in ein neues Licht gesetzt, wenn man sie unter der Perspektive der Immediatisierung von Macht beziehungsweise des noch mangelnden Ausbaus solcher Immediatisierung betrachtet. Besonders signifikant ist hierfür wohl der Fall Thomas Müntzer, der sich auch deswegen in der bekannten Weise entfalten konnte, weil sein Wirkungsort Allstedt von den Prozessen der Verdichtung noch unzureichend erfasst war und insofern auch jene Immediatisierung fehlte, die unmittelbar vor Ort die Präsenz weltlicher Macht hätte spüren lassen – obwohl das Schloss durchaus symbolischer Ausdruck einer solchen Präsenz vor Ort war. Auch administrativ war für eine Immediatisierung gesorgt, insofern die Administration und Durchsetzung territorialer Macht in den Händen eines lokalen Funktionsträgers, des Schössers Hans Zeyß, lag, der aufgrund der isolierten Lage der Enklave vielfach eigenständig agierte. Daher wird in der Forschung gelegentlich sogar von Allstedt als einem „eigenstaatlichen Gebilde“ gesprochen11. 9 Peter Moraw: Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Frankfurt am Main/Berlin 1989. 10 Vgl. grundlegend Peter Blickle: Die Revolution von 1525, München 1993. 11 Erich Hartung: Die äußere Geschichte des Amtes Allstedt 1496–1575, Jena 1931, S. 24.
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Diese Quasi-Eigenstaatlichkeit liegt freilich weniger an der Begründung eigener Macht als an einem Kompetenzwirrwarr, der sich gerade aus dem spätmittelalterlichen Bemühen um Immediatisierung der Machtausübung ergeben hatte. Dieses Bemühen hatte im Kurfürstentum Sachsen zu der verfassungsrechtlichen Konstruktion der Mutschierung von 1513 geführt12. In ihr hatte Kurfürst Friedrich der Weise aufgrund seiner Überlastung und zunehmend angegriffenen Gesundheit eine Vereinbarung mit seinem Bruder Johann über eine konditionierte Herrschaftsteilung getroffen. Sie sah, grob gesprochen vor, dass die Oberhoheit des Landes, insbesondere seine Vertretung nach außen und die Kurwürde, in den Händen Friedrichs bleiben sollten, intern aber eine ganze Anzahl von Ämtern unter einer sehr eigenständigen Verwaltung Johanns stehen sollten. Diese Mutschierung war, wie Ernst Müller festgestellt hat, „dazu angetan [. . .] Regierungstätigkeit schwerfällig zu gestalten, wenn nicht sogar zu schwächen“13. Diese Folge war sicher nicht intendiert, im Gegenteil erhoffte man sich von der Mutschierung wohl sogar eine größere Verwaltungsnähe der einzelnen Herrscher. Doch gerade Allstedt zeigt, welche Unklarheiten hieraus entstanden waren: Nach den Vereinbarungen der Jahre 1513/4 gehörte es eigentlich zu dem Friedrich dem Weisen unterstehenden Landesteil14, faktisch aber hat der Kurfürst viele Verwaltungsvollzüge, unter anderem die Müntzersache zu großen Teilen an den Weimarischen Hof abgegeben. Wenn irgendwo der Mangel an Herrschaftsverdichtung spürbar war, dann in diesem eigentümlichen Mischgebilde Allstedt – und so versagte gerade hierdurch auch die intendierte Immediatisierung der Herrschaft. Dies zeigt sich auf geradezu kuriose Weise daran, dass Friedrich der Weise, dem das Präsentationsrecht für St. Johannis in Allstedt zustand, im September 1523, ein halbes Jahr nach Müntzers Anstellung, erstaunt beim Schösser nachfragte, wer diese Einweisung ins Amt eigentlich vollzogen habe15: Er war schlicht nicht gefragt worden, die unmittelbare Lenkung der Geschicke durch den Landesherren war gerade nicht erfolgt. Auch sonst zeigen die weiteren Entwicklungen in Allstedt, dass die Repräsentanz des Herrschers durch seinen Schösser nur begrenzt gegeben war, die Verunmittelbarung der Machtausübung durch einen Amtsträger also gleichwohl noch erkennbar unter der Vermittlung durch eben diesen und seine Interessen litt. So reagierte der Schösser in dem Moment, in dem die begeisterte Aufnahme von Müntzers endzeitlicher Predigt in Gewalt umschlug, gewiss nicht im Sinne des Kurfürsten.Am 24. März 1524 ging in Mallerbach die Marienkapelle des Klosters Neuendorf in Flammen auf, das schon lange ein Gegenstand der Kritik Müntzers 12 Zu diesem Vorgang vgl. grundlegend Ernst Müller: Die Mutschierung von 1513 im ernestinischen Sachsen, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 14 (1987), S.173–183. 13 Müller: Mutschierung (wie Anm.12), S.174. 14 Zur Zugehörigkeit Allstedts zum Territorium Friedrichs vgl. Müller: Mutschierung (wie Anm.12), S.179. Grundlage für diese Zuweisung sind die Abrechnungen der Ämter, die Friedrich unterstanden, aus den Jahren 1513/4 im Haupt- und Staatsarchiv Weimar Ernestinisches Gesamtarchiv Reg. Bb 138, wo auch Allstedt verzeichnet ist (f. 236–241). 15 Quellen zu Thomas Müntzer, bearb. von Wieland Held/Siegfried Hoyer, Leipzig 2004 (= Thomas-Müntzer-Ausgabe 3), S.128 (Nr. 80).
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gewesen war16 – und es entstand bald der Eindruck, dass der Schösser zum Aufgreifen der Täter nicht den Ehrgeiz entwickelt hat, den man sich gewünscht hätte17. Anders ausgedrückt: Die sich im Zuge der Verdichtung steigernde Stärkung unmittelbarer territorialer Machtdurchsetzung hat an dieser Stelle noch nicht zureichend gegriffen. Es muss aber bei diesem einen Beispiel für die machtpolitischen Aspekte der Frage der Immediatisierung bleiben – die folgenden Ausführungen konzentrieren sich stärker auf die religiöse Immediatisierung im Zusammenhang von Theologie und Frömmigkeit. Freilich zeigt sich an dem politischen Aspekt der hohe Grad an Verflechtung zwischen der religiösen Immediatisierung im engeren Sinne und sozialen und politischen Faktoren. Hierzu gehört nicht zuletzt auch die zunehmende Immediatisierung im Bereich der Kirchenstruktur. Was sich in der evangelischen Perspektive sehr leicht als ein problematischer Zug papaler Machtansprüche und -steigerung ausmacht, ist durchaus auch Ausdruck einer zunehmenden Modernisierung papaler Führungsstrukturen im Interesse der überregionalen Bedeutung des Bischofsamtes von Rom. Hochproblematische Texte wie der „Dictatus papae“ Gregors VII. oder Unam Sanctam von Bonifaz VIII. erscheinen in diesem Lichte als Entfaltungen eines theoretischen Konzeptes universeller allgemeiner Leitung der Kirche.Wenn Gregor VII. etwa darüber reflektiert – um mehr als eine letztlich nicht verwirklichte Notizensammlung handelt es sich beim Dictatus papae ja nicht18 –, dass seine Legaten in jeder Synode den Vorsitz auch gegenüber solchen Kirchenprälaten hätten, die als Bischöfe unter Umständen über einen höheren Weihegrad verfügten19, so setzt dies genau das Prinzip verbeamteter Machtausübung um, in dem sich Leitungsfunktionen nicht aus einer bestimmten Ebene innerhalb einer in sich gestuften Hierarchie begründen, sondern unmittelbar aus der obersten Leitungsfunktion, in diesem Falle der des Papstes. Kaum anders ist es zu verstehen, wenn bereits bei Aegidius Romanus der Gedanke der potestas bzw. iurisdictio directa des Papstes erscheint20 – in diesem Zusammenhang spricht Aegidius auch, passend zum Thema der vorliegenden Darlegungen von einer iurisdictio immediata21! Diese Begriffe sind zwar nicht explizit in Unam Sanctam aufgegriffen worden, aber der gedankliche Zusammenhang zwischen den Theorien des Aegi16 Eike Wolgast: Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, Berlin 1988, S. 31f.; HansJürgen Goertz: Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär, München 1989, S.101. 17 Quellen zu Müntzer (wie Anm.15), S.161–164 (Nr.104f.). 18 Vgl. hierzu Uta-Renate Blumenthal: Gregor VII. Papst zwischen Canossa und Kirchenreform, Darmstadt 2001, S. 9–11, einschließlich der in den Fußnoten angesprochenen Diskussion. 19 Monumenta Germaniae Historica. Epistolae selectae 2,1: Das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar, Buch I–IV, Berlin 1920, S. 203,1–2: „Quod legatus eius omnibus episcopis praesit in concilio etiam inferioris gradus.“ 20 Aegidius Romanus: De ecclesiastica potestate III,7 (Ausgabe von Richard Scholz, Weimar 1929 [Aalen 1961], S.181); vgl. Michael J. Wilks: Sovereignty in the Later Middle Ages.The papal monarchy with Augustinus Triumphus and the publicits, Cambridge 1963 [Cambridge 2008] (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. New Series 9), S. 313; Wilhelm Kölmel: Regimen Christianum.Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8.–14. Jahrhundert), Berlin 1970, S. 336–340. 21 Aegidius Romanus: De ecclesiastica potestate III,7 (Scholz [wie Anm. 20], S.180).
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dius Romanus und Unam Sanctam ist doch so eng, dass man ihn in den weiteren Horizont der Bulle einbeziehen muss22. Vor allem aber ist dann der folgende Ausbau des avignonesischen Fiskalsystems, dessen historische Wahrnehmung in moralisierenden Betrachtungen verkürzt zu werden droht, auch Ausdruck eben dieser gestiegenen Unmittelbarkeit. Dass Johannes XXII. vor Beginn seines Pontifikates bzw. seiner Tätigkeit als Bischof von Avignon als Kanzler Karls II. in Neapel tätig war, zeigt die enge Verzahnung zwischen der politischen Verbeamtungstendenz und diesen neuen Lenkungsformen, in denen neben dem schlichten Interesse an Finanzierung auch die Tendenz dazu, diverse Stellenbesetzungsverfahren direkt an den päpstlichen Stuhl zu binden, leitend war.Vor diesem Hintergrund erscheinen die Gravamina nationis Germanicae des späten Mittelalters23 auch als Kampf gegen die Zentralisierungstendenzen auf Seiten des Papstes, die in ihrer Umsetzung eine Immediatisierung der Macht, d. h. eine Überbrückung der Mittelinstanzen der Bischöfe, mit sich brachte. So erklärt, muss es nicht verwundern, dass die Beschwerden der deutschen Nation vor allem von den geistlichen Ständen vorgebracht wurden24: Sie waren es ja, deren Funktion am stärksten durch diese Immediatisierung tangiert und in Frage gestellt war. Blickt man auf diese Traditionslinie, so erscheinen auch die bekannten Zusammenhänge zwischen Luthers eingangs zitierter Adelsschrift und den Gravamina25 in einem neuen Licht. In ihnen spiegelt sich dann wider, dass Luther hier auch das Erbe einer gegen die kirchenpoltische Immediatisierung gerichteten Traditionslinie transformiert. Freilich ist dies nicht, wie bei den geistlichen Ständen auf dem Reichstag als Ausdruck eines Bemühens um Stärkung der organisatorischen Mittelinstanzen zu verstehen. Diese greift er zwar in ihrer kritischen Wendung gegen den Papst und die römische Zentrale auf. Aber der Protest ist bei ihm von einer ganz anderen Linie bestimmt, die ihrerseits Unmittelbarkeit beansprucht, ja, für eine höhere Unmittelbarkeit votiert. Schon innermittelalterlich war es zur frappanten Konfrontation zwischen der papstorientierten Immediatisierungstendenz und einer sich unmittelbar auf Gott berufenden Linie gekommen, die gerade deswegen in Konflikt mit dem Papst geriet. Gerade zu Beginn des avignonesischen Exils lässt sich dies signifikant an einer Konstellation am Papsthof beobachten26: Johannes XXII., eben der Papst, dessen Name sich eng mit der Immediatisierung und Fiskalisierung der Herrschaft ver22 Zur Debatte im Kontext von „Unam Sanctam“ insgesamt vgl. Jürgen Miethke: De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 16). 23 Vgl. hierzu Eike Wolgast: Art. Gravamina nationis germanicae, in: Theologische Realenzyklopädie 14, Berlin/New York 1985, S.131–134; Bernd Christian Schneider: Art. Gravamina nationis Germanicae, in: Religion in für Geschichte und Gegenwart 3, 4. Aufl., Tübingen 2000, Sp.1253. 24 Wolgast: Gravamina (wie Anm. 23), S.131. 25 Heinz Scheible: Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521, in: ders.: Melanchthon und die Reformation, hg. von Rudolf May/Rolf Decot, Mainz 1996 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 41), S. 393–409. 26 Vgl. hierzu Volker Leppin: Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch, Darmstadt 2003, S.156–172.
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bindet, hatte es hier parallel mit zwei Gelehrtenprozessen zu tun, deren Protagonisten man auf den ersten Blick nicht unmittelbar einanderzuordnen würde: Meister Eckhart und Wilhelm von Ockham. Beide waren aus unterschiedlichen Gründen angeklagt worden, und ebenso war es aus unterschiedlichen Gründen dazu gekommen, dass ihr Prozess den lokalen Instanzen entzogen und nach Avignon verlagert wurde. Gleichwohl ist allein schon die Tatsache dieser Zentralisierung von Häresieverfahren, wie sie für das beginnende 14. Jahrhundert durchaus typisch ist27, Ausdruck des zunehmenden Bemühens der Päpste um unmittelbare Lenkung der Kirche in Fragen der rechten Lehre. Vor allem aber zeigt sich in einer genaueren Betrachtung der Prozesslage, dass für Johannes XXII. Eckhart und Ockham durchaus an einem Punkt nahe verwandt schienen: In einem groben Missverständnis der Ockhamschen potentia-Lehre ordnete er diese jenen Auffassungen von einer unmittelbaren Berührung durch Gott zu, wie er sie zeitgleich auch bei südfranzösischen Beginen verfolgte und verurteilte28. Dies legt die sehr offenkundige Spur zur Verbindung mit Meister Eckhart. Tatsächlich konnte Johannes XXII. in all diesen Positionen solche religiösen Haltungen erkennen, die auf die eine oder andere Weise die Vermittlungsfunktion sakramentaler Art in der spätmittelalterlichen Kirche übersprangen – und hatte darin, bei aller theologischen Verkürzung, die sich im einzelnen monieren lässt, durchaus recht. Dies wird gleich noch im Einzelnen zu zeigen sein. In jedem Falle ist damit angesprochen, dass es neben der politischen und der kirchenorganisatorischen Immediatisierungstendenz auch und gerade eine religiöse gab, die sich als Protest gegen die sakramentale Heilsvermittlung oder doch wenigstens als ihre Überbrückung durch andere Formen von Religiosität beschreiben lässt29. Die sakramentale Heilsvermittlung hatte sich in dem angesprochenen Vikariatsprinzip des frühen Mittellalters etabliert. Dieses drückte sich zum einen in der Stellvertretung des Priesters für die Glaubenden beim Handeln am Altar aus30, zum anderen aber auch in jenen Formen frühmittelalterlicher Transformation der Buße, die aufgrund des Einflusses der iroschottischen Mission aus einem einmaligen, auf die Reintegration des ausgeschlossenen Mitglieds in die Gemeinde ausgerichteten Akt ein vielfach wiederholbares Geschehen machten31. Die hiermit verbundene Objektivierung und Quantifizierung der Bußleistung 27 Vgl. William J. Courtenay: Inquiry and Inquisition. Academic Freedom in Medieval Universities, in: Church History 58 (1989), S.168–181 28 Vgl. hierzu Volker Leppin: Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 63), S.127–135. 29 Vgl. einen ersten Versuch hierzu in: Volker Leppin: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsvermittlung im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S.189–204. 30 Josef Andreas Jungmann: Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Bd. 2. Opfermesse, Freiburg 1962 (= Bonn 2003), S.103f. 31 Arnold Angenendt: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1995, S. 210–212; ders.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 4. Aufl., Darmstadt 2009, S. 630–632; Hubertus Lutterbach: Die Bußordines in den iro-fränkischen Paenitentialien. Schlüssel zur Theologie und Verwendung der mittelalterlichen Bußbücher, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S.150–172.
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brachte auch ein neues System der Stellvertretung mit sich: Kommutation und Redemption ermöglichten es, dass ein Gläubiger, dem Bußleistungen auferlegt waren, diese durch einen anderen, bevorzugt einen Mönch, ableisten lassen konnte32. Das Verhältnis zu Gott war damit dreifach gebrochen: Nicht nur, wie schon in der alten Kirche, war der bischöfliche bzw. priesterliche Amtsinhaber eine Instanz, die im Auftrag Gottes Strafe aufzuerlegen hatte, sondern diese wurde auch versachlicht, zu einem Schuldbetrag, dessen Einlösung allein an dem objektiven Vorgang nicht aber an der subjektiven Leistung durch den Büßenden hing – und dies hatte drittens zur Folge, dass die Ableistung dann in der Tat durch einen anderen erfolgte als den, der Schuld und Strafe auf sich geladen hatte. Der schroffste und bekannteste Ausdruck dieser Vikarisierung des Gottesverhältnisses ist das Ablasssystem, in dem die Vermittlung der Strafableistung gar über den Schatz der Kirche erfolgen sollte33 und nach der Bulle Salvator noster vom 3. August 1476 per modum suffragii gar den Toten zukommen sollte34. Die Beispiele zeigen, dass das Vikariatsprinzip in erheblichem Maße auch die spätmittelalterliche Frömmigkeit prägte, ja, es erlebte im 14. und 15. Jahrhundert eine besondere Blüte, nicht nur im Bereich der Buße, sondern auch in dem der Eucharistie: Die vielfach gegründeten Bruderschaften und andere Messtiftungen vervielfältigten das System der Stellvertretung an den Altären vor allem der Stadtkirchen und sorgten so für seine enorme Verbreitung. Freilich wird man diese Erscheinungen nicht zum alleinigen Ausdruck spätmittelalterlicher Frömmigkeit stilisieren dürfen, so wie insgesamt einlinige Erklärung der spätmittelalterlichen Frömmigkeit sei es im Sinne einer zunehmenden Missbräuchlichkeit und damit Entfernung vom wahrhaft katholischen Verständnis35, sei es im Sinne einer Intensivierung einer nicht weiter qualifizierten Frömmigkeit36 zu kurz greifen.Tatsächlich hat man es im späten Mittelalter mit einer Fülle von Polaritäten zu tun, die ein weites Feld divergierender Möglichkeiten der Frömmigkeit aufspannten37. So ist neben der starken Veräußerlichung auch eine 32
Angenendt: Frühmittelalter (wie Anm. 31), S. 211. Vgl. hierzu Nikolaus Paulus: Geschichte des Ablasses am Ausgang des Mittelalters, 2. Aufl., Darmstadt 2000, Register s.v. 34 Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, begr. von Heinrich Denzinger, hg. von Peter Hünermann, 38. Aufl., Freiburg u. a. 1999, Nr.1398; vgl. Paulus: Geschichte des Ablasses (wie Anm. 33), S. 323f. 35 Vgl. Joseph Lortz: Die Reformation in Deutschland, Freiburg 1939/40; Erwin Iserloh: Martin Luther und der Aufbruch der Reformation (1517–1525), in: Hubert Jedin (Hg.): Handbuch für Kirchengeschichte, Bd. 4, Freiburg u. a. 1967, S. 3–114, hier besonders S. 3–10. 36 Bernd Moeller: Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: ders.: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, S. 73–85, hier: S. 74; ders.: Spätmittelalter, Göttingen 1966 (= Die Kirche in ihrer Geschichte 2H), S. 40. 37 Berndt Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd.1: Von den Anfängen des Christentums bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, St. Ottilien 2002, S.159–211, hier besonders S.188–190; jetzt auch in: ders.: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 54), S. 244–300, hier S. 273–275; Volker Leppin: Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und 33
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Tendenz zur Verinnerlichung und Subjektivierung zu beobachten – und eben dies ist der Ansatzpunkt zur religiösen Immediatisierung im späten Mittelalter, der im folgenden nachzugehen sein wird.
2. Die Unmittelbarkeit Gottes zum Heil Die religiöse Immediatisierung findet sich in der akademischen Theologie wie auch in der Frömmigkeit des späten Mittelalters. Dies festzustellen, heißt, sich von Klischees über eine abstrakt gewordene scholastische Theologie zu entfernen und dem Rechnung zu tragen, dass die spätscholastische Theologie über weite Strecken eine Transformation des Gottesbildes mit sich gebracht hat, die man unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann: In der Reflexion des späten 13. und des 14. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Dynamisierung und mit ihr verbunden, eben eine Immediatisierung des Gottesbildes beobachten38. Den Hintergrund hierfür bildete die in der Forschung zunehmend mit Aufmerksamkeit bedachte Lehrverurteilung von 1277. Sie reagierte auf den konsequenten Aristotelismus39 an der Pariser Artistenfakultät, der sich mit Namen wie Boetius von Dacien und Siger von Brabant verbindet. In diesen Kreisen wurde mit besonderer Nachhaltigkeit die Entdeckung gemacht, dass aus Aristoteles als wahr ableitbare Aussagen nicht mit der biblischen Wahrheit übereinstimmten. Auch wenn sich die konsequenten Aristoteliker im Ergebnis dafür entschieden, dass allein die biblische Wahrheit im Recht sein könne, führte die Weise der Präsentation dieser Befunde zu dem Eindruck, als wollten sie zwei unterschiedliche Wahrheiten lehren, und eben dieser Eindruck wurde tragend für die Verurteilung ihrer Thesen, die der Pariser Bischof Etienne Tempier, seinerzeit noch ganz auf der Ebene der Diözese, veranlasste. Im Vorwort hieß es: „Dicunt enim ea esse vera secundum philosophiam, sed non secundum fidem catholicam, quasi sint due contrariae veritates.“40
So sehr sich diese Auffassung heute als Fehldeutung der Anliegen der konsequenten Aristoteliker aufweisen lässt41, so wirkungsvoll war sie doch, wie andere EtiFrömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz/Heidrun Munzert/Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit – Theologie – Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm, Leiden/Boston 2005 (= Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 299–315; ders.: Die Wittenberger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Polaritäten, Stuttgart/Leipzig 2008 (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 140/4). 38 Vgl. zum Folgenden Volker Leppin: Theologie im Mittelalter, Leipzig 2007, S.128–147. 39 Zum Begriff vgl. Leppin: ebd., S.118–120. 40 Aufklärung im Mittelalter? DieVerurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übersetzt und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 1989, S. 89: „Sie sagen nämlich, sie seien der Philosophie gemäß wahr, nicht aber gemäß dem katholischen Glauben, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.“ 41 Vgl. Fernand van Steenberghen: Die Philosophie im 13. Jahrhundert, München u. a. 1977, S. 364–366; Ludwig Hödl: „... sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.“, in: Jan P. Beckmann u. a. (Hg.): Philosophie im Mittelalter. Festschrift für Kurt Kluxen, Hamburg 1987, S. 225–243.
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ketten auch, die den Auseinandersetzungen des 13. Jahrhunderts entstammen und den konsequenten Aristotelikern bis in die moderne Forschung hinein den Ruf eintrugen, „lateinische Averroisten“ zu sein42. Wirkungsvoll war aber nicht nur diese häresiologische Chiffre, sondern auch, was im Einzelnen verboten wurde: Neben der Lehre vom Monopsychismus und der Ewigkeit der Welt wurden ihnen auch Auffassungen unterstellt, die die Wissenschaftlichkeit der Theologie gänzlich in Frage stellten43. Für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist aber die Lehre von einer durchgängigen Kausalität der Welt, die im Ergebnis einen unausweichlichen Nezessitarismus mit sich brachte, in dessen Rahmen die Freiheit Gottes so wenig Platz hatte wie die des Menschen44 – und es ist tatsächlich hier der Ort, an dem ausdrücklich die Unmittelbarkeit des göttlichen Wirkens an den Geschöpfen bestritten wird. Die den konsequenten Aristotelikern zugeschriebene 54. These lautete „Quod primum principium non potest immediate producere generabilia, quia sunt effectus novi. Effectus autem novus exigit causam immediatam, quae potest aliter se habere.“45
All dies war eine schlagende Anwendung der mit Aristoteles entdeckten Denkgesetze – bot theologisch aber eine schwer akzeptable Problemlösung. Entsprechend lässt sich ein Großteil der traditionell mit der Vorstellung eines Übergangs von der Hoch- zur Spätscholastik verbundenen Denkbewegungen der Zeit um 1300 auch als Reaktion auf die durch die Verurteilung festgehaltene – und zu guten Teilen durchaus fiktive46 – konsequent aristotelische Position verstehen. Das gilt selbstverständlich schon für Heinrich von Gent, der selbst an der Lehrverurteilung beteiligt war und insbesondere durch seinen starken Rückgriff auf Augustin zu neuen Modellen der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie kam47. Aber es gilt auch für die folgende Generation und darin so unterschiedliche Namen wie Meister Eckhart, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Charakteristisch für das Bemühen Meister Eckharts, zugleich das Gottesbild zu dynamisieren und das Gottesverhältnis zu immediatisieren, sind die Quaestiones Parisienses aus seinem ersten Pariser Lehraufenthalt 1311–1313. Die erste hier 42 Maßgeblich hierfür: Pierre Mandonnet: Siger de Brabant et l’averroisme latin au XIIIe siècle, 2 Bde., 2. Aufl., Löwen 1908/1911 (= Les Philosophes Belges 6f.). 43 Hierzu und zur Wirkungsgeschichte vgl. Volker Leppin: Die Folgen der Pariser Lehrverurteilung von 1277 für das Selbstverständnis der Theologie, in: Jan A. Aertsen/Andreas Speer (Hg.): Geistesleben im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 2000 (= Miscellanea Mediaevalia 27), S. 283–294. 44 Vgl. z. B.These 53: „Quod Deum necesse facere, quicquid immediate fit ab ipso“ (Flasch: Aufklärung [wie Anm. 40], S.152). 45 Flasch: Aufklärung (wie Anm. 40), S.153: „Das erste Prinzip kann Dinge, die erzeugt werden, nicht unmittelbar hervorbringen, weil es sich hierbei um neue Wirkungen handelt. Eine neue Wirkung aber erfordert eine unmittelbare Ursache, die sich auch anders verhalten kann.“ 46 Vgl. Roland Hissette: Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Löwen 1977 (= Philosophes Medieveaux 22), der in seiner sehr gründlichen Untersuchung nur einen Teil der verurteilten Thesen tatsächlich auf Aussagen der konsequenten Aristoteliker zurückführen konnte. 47 Volker Leppin: Augustinus im Spätmittelalter. Heinrich von Gent, Duns Scotus, Willhelm von Ockham, in: Volker Henning Drecoll (Hg.): Augustinus Handbuch, Tübingen 2007, S. 600–608, hier besonders S. 603f.
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verhandelte Frage lautete: Utrum in Deo sit idem esse et intelligere. Aber ein Großteil der Diskussion dieser quaestio ging nicht auf diese Fragestellung selbst ein, sondern war der Frage der Ursprungsrelation der beiden Begriffe esse und intelligere in Gott gewidmet, also der Frage, ob Gott ist, weil er erkennt oder umgekehrt. Die Antwort lautete für Eckhart sehr klar: Gott ist, weil er erkennt. Eckhart ordnete also den Handlung und Objektbezug implizierenden Aspekt des Verstehens dem ganz selbstbezüglichen, von jeder Aktivität freien Begriff des Seins vor. Der exakte geistesgeschichtliche Ort dieser Verhältnisbestimmung war nicht allein die Rezeption der Intellekttheorie Dietrichs von Freiberg48, sondern der sehr konkrete Debattenhorizont an der Pariser Universität49, insbesondere mit dem Franziskaner Gonsalvus50, bei dem sich die später auch bei Duns Scotus wahrnehmbare Orientierung der Freiheit Gottes am Willensbegriff niederschlug, während Eckhart auf der Verbindung von Freiheit und Vernunft beharrte. Dem Konflikt lag aber eben das gemeinsame Bemühen zugrunde, Gott von Zwängen freizustellen, denen er in einem zu eng aristotelisch gedachten System zu unterliegen schien. Akzentuiert Eckhart in dieser Antwort auf den verurteilten konsequenten Aristotelismus besonders den Aspekt der Freiheit und Dynamik Gottes, so brachte die Weiterentwicklung seiner Überlegungen im Opus tripartitum, das er bereits kurz nach seiner Rückkehr aus Paris in Erfurt begonnen hat51, eine besondere Betonung der Immediatisierung. Insbesondere im Prolog zum Opus Tripartitum kam er hier auf schöpfungstheologische Reflexionen des Seinsbegriffs: Der zentrale Ge-
48 Vgl. zu diesem wichtigen Deutungsansatz Burkhard Mojsisch: Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, S.138f.; Jens Halfwassen: Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg, in: Theologie und Philosophie 72 (1997), S. 337–359; Andrés Quero-Sanchez: Sein als Freiheit. Die idealistische Metaphysik Meister Eckhart und Johann Gottlieb Fichtes, Freiburg/München 2004, S. 38–52, sowie jüngst umfassend Kurt Flasch: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006. 49 Vgl. zum theologischen Kontext Emilie Zum Brunn: Les premières „Questions Parisiennes“ de Maître Eckhart, in: Kurt Flasch (Hg.): Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, Hamburg 1984 (= Corpus philosophorum Teutonicorum Medii Aevi. Beihefte 2), S.128–137; Edouard-Henri Wéber: L’argumentation philosophique personelle du théologien Eckhart à Paris en 1302/1303, in: Klaus Jacobi (Hg.): Meister Eckhart: Lebensstationen – Redestationen, Berlin 1997 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. Neue Folge 7), S. 95–114, hier besonders S. 97– 100; Volker Leppin: Dynamisierung des Gottesbildes im lateinischen Werk Meister Eckharts, in: ders./ Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Meister Eckhart aus theologischer Sicht, Stuttgart 2007 (= Meister-Eckhart-Jahrbuch 1), S. 97–110. 50 Edouard Wéber: Eckhart et l’ontothéologisme. Histoire et conditions d’une rupture, in: Maître Eckhart á Paris. Une critique médiévale de l’ontothéologie. Les Questions parisiennes no 1 et no 2 d’Eckhart. Études, textes et traductions, Paris 1984 (= Bibliothèque de l’école des hautes études. Section des sciences religieuses 86), S.13–83, hier besonders S. 69f.; Alain de Libera: Les „raisons d’Eckhart“, in: ebd. S.109–140, hier besonders S.109 mit Anm.1. 51 Loris Sturlese: Meister Eckhart in der Bibliotheca Amploniana. Neues zur Datierung des „Opus Tripartitum“, in: Andreas Speer (Hg.): Die Bibliotheca Amploniana. Ihre Bedeutung im Spannungsfeld von Aristotelismus, Nominalismus und Humanismus, Berlin/New York 1995 (= Miscellanea Mediaevalia 23), S. 434–446.
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danke, den Eckhart hier vertritt, ist, dass allein Gott im wirklichen Sinne Sein hat und Sein ist, ja, dass man diesen Satz sogar so umkehren kann, dass gilt: „Esse est deus.“52 Alles andere, das heißt: die gesamte Schöpfung, hat kein eigenes Sein aus sich heraus, sondern hat sein Sein in Gott: „Creavit ergo deus omnia non ut starent extra se aut iuxta se et praeter se ad modum aliorum artificum, sed vocavit ex nihilo, ex non esse scilicet, ad esse, quod invenirent et acciperent et haberent in se. Ipse enim est esse.“53
Damit war ein Modell des Verhältnisses von Gott und Schöpfung und damit letztlich auch von Gott und Mensch entworfen, das auf unmittelbar erhellende Weise die Probleme löste, die sich durch das aristotelische Denken gestellt hatten: Hatte dieses Gott nur mittelbar, durch eine Reihe von sekundären Ursachen, mit den einzelnen Geschöpfen verbunden sehen können, so war nun eine unmittelbare Beziehung Gottes zu den Geschöpfen ontologische Voraussetzung aller Reflexion, das Verhältnis hatte eine Immediatisierung erfahren. Insofern die Schöpfung ontologisch kein wirkliches Gegenüber zu Gott mehr darstellte, war ein frei in ihr wirkender Gott unmittelbar denkbar. Auf den Zusammenhang mit seinen weiter unten zu reflektierenden mystischen Konzeptionen braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden; wichtiger ist, dass Eckhart wie mit der Freiheit, so auch mit der Immediatisierung eine Denkbewegung entfaltete, die Parallelen bei ganz anderen Denkern hatte – insbesondere bei solchen, die die weitgehend an Ordenstraditionen orientierte traditionelle Beschreibung der Geistesgeschichte des Mittelalters nicht in großer Nähe zu ihm suchen würde: bei den Franziskanern Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Wo Eckhart, jedenfalls in seiner frühen Phase, die Freiheit Gottes gegenüber dem Nezessitarismus der konsequenten Aristoteliker zu gewinnen suchte, war der Leitbegriff, der sich vor allem bei Johannes Duns Scotus findet, der des Willens – hierfür hat sich geradezu die Rede von einem „Voluntarismus“ des Duns Scotus eingebürgert54. Seiner Intention kommt man freilich näher, wenn man sich deutlich macht, was den Gewinn der Vorrangstellung der voluntas im Gottesverständnis ausmacht: Der Intellekt folgt grundsätzlich bestimmten Regeln und ermöglicht von sich aus kein Abweichen hiervon. Der Wille ist demgegenüber nicht an Regeln gebunden und insofern frei.Anselm von Canterbury hat diese Zuordnung schlagend ausgedrückt, als er erklärte: „Gratias tibi, bone domine, gratias tibi, quia quod prius credidi te donante, iam sic intelligo te illuminante, ut si te esse nolim credere, non 52 In: Prologus Generalis in opus tripartitum; Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke: Lateinische Werke, Bd. I,2: Prologi in opus tripartitum et expositio libri Genesis (Recensio L). Lieferung 1–2, Stuttgart 1987, S. 29,16 (Nr.12); vgl. hierzu Reiner Manstetten: Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg 1993. 53 Eckhart: Lateinische Werke 1/2 (wie Anm. 52), S. 35,5–8 (Nr.17): „Gott hat nämlich alles geschaffen, nicht dass es nach Art anderer, die etwas herstellen, außerhalb, neben oder anderwärts von ihm Bestand hätte, sondern er hat es aus dem Nichts, nämlich aus dem Nichtsein zum Sein gerufen, damit es hineinkomme, es annehme und in ihm habe.“ 54 Vgl. etwa zusammenfassend Mary B. Ingham: Johannes Duns Scotus, Münster 2006, S. 40f.
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possim non intelligere.“55 In einer solchen Bestimmung wird der zwingende und damit Freiheit unterbindende Charakter des Intellekts deutlich.Während also bei Eckhart der Intellekt in Unterscheidung vom esse die Dynamik Gottes ermöglicht, weil er eine Beziehung auf ein anderes mit sich bringt, differenziert Duns Scotus den Willen ungeachtet solcher externer Bezüge als spontanes Vermögen vom Intellekt und bestimmt durch seine Betonung Gott – und auch den Menschen – als im Grundsatz freies Wesen. Hierin folgt ihm der Sache nach Wilhelm von Ockham, der die Vorordnung des Willens vor den Intellekt vor allem im Bereich der Ethik zu nachgerade anstößigen Beispielen von der Möglichkeit kontraintutiver Beschlüsse Gottes weiterentwickelt hat – wie dem, dass unter Umständen Gotteshass oder Ehebruch, wenn Gott sie geböte, verdienstliche Handlungen sein könnten56. Beiden Denkern reicht aber die Zuordnung von Intellekt und Willen nicht, um die Freiheit Gottes zu begründen, sondern sie benutzen hierzu eine weitere Begriffsunterscheidung, die erst jene Dimension der Immediatisierung begründet, um die es im vorliegenden Zusammenhang geht: die Unterscheidung von potentia ordinata und potentia absoluta. Sie war um 1300 keineswegs neu, wurde nun aber immer intensiver und extensiver gebraucht, wobei Duns und Ockham sich in Nuancen der Bestimmung unterscheiden: Duns charakterisierte die Unterscheidung in seinem Sentenzenkommentar anhand einer Gegebenheit, die grundsätzlich für jedes Wesen, das mit Vernunft und Willen handelt, gilt: „[agens per intellectum et voluntatem] potest agere conformiter illi legi rectae, et tunc secundum potentiam ordinatam (ordinata enim est in quantum est principium exsequendi aliqua conformiter legi rectae), et potest agere praeter illam legem vel contra eam, et in hoc est potentia absoluta, excedens potentiam ordinatam. Et ideo non tantum in Deo, sed in omni agente libere – qui potest agere secundum dictamen legis rectae et praeter talem vel contra eam – est distinguere inter potentiam ordinatam et absolutam; ideo dicunt iuristae quod aliquis hoc potest facere de facto, hoc est de potentia sua absoluta, – vel de iure, hoc est de potentia ordinata secundum iura.“57
Duns Scotus unterscheidet also im Handeln Gottes – wie jeden handelnden Wesens – zwei Stränge: einen gesetzmäßigen und einen absoluten, darüber hinausgehenden. 55 Anselm von Canterbury: Opera Omnia, hg. von Franz S. Schmitt, Bd.1, Seckau 1938 (Neudruck Stuttgart Bad Canstatt 1968), S.104,5–7: „Dank dir, guter Herr, Dank dir, dass ich das, was ich früher durch dein Geschenk glaubte, nun durch deine Erleuchtung so verstehe, dass ich, selbst wenn ich nicht glauben wollte, dass du existierst, nicht anders könnte als es zu verstehen.“ 56 Vgl. hierzu Sigrid Müller: Handeln in einer kontingenten Welt. Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham, Tübingen/Basel 2000 (= Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 18), S. 77–82. 57 Ordinatio 1 d. 44 q. un. Nr. 3 ([. . .] Ioannis Duns Scoti [. . .] Opera omnia, hg. von Karl Balic´, Bd. 6, Vatikan 1963, S. 363,20–364,10): „Einerseits kann es in Übereinstimmung mit dem rechten Gesetz handeln, und das tut man dann aufgrund seiner geordneten Macht (geordnet ist sie nämlich, insofern sie das Prinzip ist, etwas gemäß dem rechten Gesetz auszuführen). Auf der anderen Seite kann man aber auch ohne oder sogar gegen das Gesetz handeln. Das ist dann die absolute Macht, die über die geordnete hinausgeht. Deshalb muss man nicht nur bei Gott, sondern bei jedem freien Wesen, das auf Geheiß der rechten Vernunft oder des rechten Gesetzes, aber auch ohne oder sogar gegen ein solches Gesetz handeln kann, zwischen der geordneten und der absoluten Macht unterscheiden. Deshalb sagen die Juristen, dass man etwas de facto tun kann, d. h. aufgrund der absoluten Macht, und de iure, d. h. aufgrund der geordneten Macht gemäß den Gesetzen.“
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So kann er einerseits die philosophisch feststellbare Normalordnung in sein System integrieren und auch die damit verbundene naturwissenschaftliche Welterklärung in ihrer grundsätzlichen Gültigkeit bejahen. Zugleich bindet er Gott nicht an diese Ordnung, sondern ermöglicht ihm eine Durchbrechung, etwa in Gestalt eines Wunders. Ausdrücklich betont er an anderer Stelle auch, dass damit nicht etwa der Gedanke verbunden ist, dass Gott irgendwann inordinate, ungeordnet, handeln könne58. Dies greift auch Ockham auf 59, führt es aber zu einer anderen Lösung des Gesamtproblems: Während der Doctor subtilis von zwei unterschiedlichen Handlungsreihen ausgegangen war, präzisierte Ockham dessen Aussage, dass Gottes Handeln niemals inordinate erfolge, dadurch, dass er ein ordinate erfolgendes Handeln mit einem de potentia ordinata Handelnden gleichsetzte. Das bedeutete aber im Umkehrschluss, dass es kein aktuelles Handeln de potentia absoluta gab: Alle Aussagen zur potentia absoluta dienten ausschließlich dazu, den Möglichtkeitsraum Gottes auszuloten, nicht aber dazu, sein tatsächliches Handeln zu erklären. In der Konsequenz waren damit auch Wunder streng genommen Ereignisse de potentia ordinata, die freilich zugleich ihre Bedeutung darin besaßen, dass an ihnen aufschien, was bei Gott de potentia absoluta noch alles möglich sein könnte, auch wenn er es nicht in Handlungen umsetzte. Im Unterschied zu Duns verfügte Ockham damit über kein Modell, durch das Normalität, etwa das Wirken der Naturgesetze, eigens erklärbar war. Es gab keine unterschiedlichen Handlungsreihen innerhalb und außerhalb der Normalität, sondern lediglich die eine Handlungsform Gottes, die sich jeder Berechenbarkeit zu entziehen schien. In welcher Variante auch immer sie ausformuliert wird: Die Unterscheidung von potentia absoluta und potentia ordinata hat Folgen auch für die Beschreibung des Gottesverhältnisses, und dies bei beiden Theologen in einem Sinne, der die sakramentale Heilsvermittlung zugunsten einer unmittelbaren Gnadenbegabung durch Gott wenigstens in den Hintergrund treten lässt. So galt nach Duns Scotus der den Menschen durch Jesus Christus eröffnete ordentliche Heilsweg nur de potentia ordinata. Blickte man hingegen auf den Vorgang der Heilszueignung unter dem Gesichtspunkt der potentia absoluta, so war Gott prinzipiell frei, den Menschen so anzunehmen, wie er ihm auch vor und jenseits dieser normalen Heilsordnung gegenüber trat: „Deus de potentia absoluta bene potuisset acceptare naturam beatificabilem – acceptatione speciali [. . .] – exsistentem in puris naturalibus; et similiter, actum eius ad quem esset inclinatio mere naturalis, potuisset acceptare ut meritorium.“60 58
Ordinatio 1 d. 44 q. un. Nr. 3 (Scotus: Opera 6 [wie Anm. 57], S. 364,11–19; 366,8–19). Quodlibet 6 q. 1 (Guillelmi de Ockham: Opera Theologica, Bd. 9, hg. von Joseph C. Wey, St. Bonaventure, N.Y. 1980, S. 586,20f.); vgl. hierzu Klaus Bannach: Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham, Wiesbaden 1975(= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 75), S.19. 60 Ordinatio 1 d. 17 q. 2 Nr.160 ([. . .] Ioannis Duns Scoti [. . .] Opera omnia, hg. von Karl Balic´, Bd. 5, Vatikan 1959, S. 215,10–14): „Gott möchte durchaus aufgrund seiner absoluten Macht eine zum Empfang der Seligkeit grundsätzlich befähigte Natur – durch eine [. . .] spezielle Annahme – annehmen können, auch wenn sie nur in rein natürlichem Zustand existiert; und ähnlich möchte er einen Akt von ihr, zu dem sie allein aufgrund natürlicher Bedingungen gelangt, als verdienstlich anerkennen können.“ 59
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Diese Erklärung steht im Kontext von Ordinatio I d. 17, wo nach der Notwendigkeit des eingegossenen Liebeshabitus als Voraussetzung der Annahme durch Gott gefragt wird. Da dessen Eingießung in der Taufe erfolgt, bedeutet die Verneinung dieser Frage, dass Gott grundsätzlich, de potentia absoluta, die Möglichkeit besitzt, einen Menschen auch dann zu erlösen, wenn er nicht am normalen Sakramentenvollzug partizipiert. Im Rahmen eines Denkens, das die Freiheit Gottes betonen wollte, war dieser Gedanke auch ganz konsequent, denn jede Bindung Gottes an die Vorgabe sakramentaler Vollzüge bedeutete ja auch, Gott in gewisser Weise von Bedingungen auf menschlicher Seite abhängig zu machen – wenn diese Bedingung nicht, wie es Duns sah, ganz daran geknüpft war, dass Gott sich selbst in seiner potentia ordinata an sie gebunden hatte und damit als Gesetzgeber frei war, sich wieder von ihr zu lösen. Damit trat aber ein Gedanke in die Theologie, der den von Berndt Hamm in vielen Zusammenhängen beobachteten und beschriebenen Gradualismus61 deutlich überschritt und ein unmittelbares Gott-Mensch-Verhältnis und eine Annahme des Menschen im sündigen Zustand wenigstens als Möglichkeit in den Horizont theologischen Denkens hineinnahm. Das bedeutete in der von Duns so nicht ausgesprochenen – und wohl auch nicht gewollten – Konsequenz auch eine Relativierung der kirchlichen Heilsvermittlungsgewalt überhaupt, insofern diese zwar als Normalfall anerkannt wurde, aber nicht als einzige Möglichkeit des Handelns Gottes an den Menschen. In dieser Tendenz, Gottes Wirken von der sakramentalen Heilsvermittlung freizusetzen, folgte im Grundsatz auch Wilhelm von Ockham, dessen komplexes Verhältnis zu Duns Scotus allein schon mangels persönlicher Begegnung62 mit dem früher üblichen Begriff der Schülerschaft kaum zureichend zu fassen ist. Dabei hatte die sakramentale Heilsordnung zunächst durchaus eine deutliche Gewissheit auf ihrer Seite, denn Ockham plädierte keineswegs für eine schrankenlose „Willkürfreiheit“ Gottes63. Zwar war es nicht ausgeschlossen, dass es auch in der Heilsgeschichte zu fundamentalen Änderungen kommen konnte, wie etwa der Wechsel vom alten zum neuen Bund belegen sollte, aber die gegenwärtige Heilsordnung war ihm Rahmen des potentia-Denkens doch durch eines ganz verlässlich, dass nämlich Gott sie als eine ewige verheißen hat64: Nicht weil Gott die Heilsordnung von Ewigkeit her erlassen hat, ist auf sie Verlass, denn selbstverständlich erlässt Gott alles, was er anordnet, von Ewigkeit her – und er könnte auch wie ein König handeln, der anordnet, dass eine bestimmte Handlung am Montag verboten ist und am Dienstag erlaubt65. Andernfalls hätte man es ja angesichts des mit Jesus Christus offenkundig verbundenen Wechsels der Heilsbedingungen mit einem verän61
Siehe oben Anm. 6. Leppin: Wilhelm von Ockham (wie Anm. 26), S. 31–33. 63 Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, erster und zweiter Teil, 2. Aufl., Frankfurt 1983, S.171. 64 Vgl. hierzu Leppin: Geglaubte Wahrheit (wie Anm. 28), S. 50 Anm.197. 65 Sentenzenkommentar 1 d. 17 q. 1 (Guillelmi de Ockham: Opera Theologica, Bd. 3, hg. von Girard I. Etzkorn, St. Bonaventure/New York 1977, S. 459,23–460,23). 62
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derlichen Gott zu tun.Aber dass er bestimmte Verheißungen ihrem Inhalt nach als ewige erlassen hat, gibt den Menschen die Möglichkeit, sich auf diese Verheißungen und damit auf Gott selbst zu verlassen. Doch diese Sicherung des Heils durch Gottes Verheißung auf Ewigkeit hin, war nur die eine Seite von Ockhams soteriologischen Reflexionen – eine solche freilich, die von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung war, insofern sie die Grundlage für die pactum-Vorstellungen in der Via moderna der Spätscholastik darstellte66. Im Horizont der Frage nach der potentia absoluta aber führte Ockham die Dunssche Akzeptationslehre ungebrochen fort: Wenn der Mensch tatsächlich die Gnade allein durch die freie Akzeptation Gottes erfuhr, so bedeutete dies auch, dass er in einem Stand seiner reinen Naturausstattung der Gnade teilhaftig werden konnte. Mit anderen Worten: Die dem Menschen als Habitus zugeeignete Taufgnade war keine notwendige Voraussetzung, um das Heil zu erlangen, sondern Gott konnte auch unmittelbar wirken und dem Menschen das Heil gewähren, ohne dass die üblicherweise erforderlichen Voraussetzungen auf seiner Seite vorlagen. Dieses im Kern scotische Modell war grundlegend missverstanden, wenn man es vor dem Horizont pelagianischer Theologie als ein solches verstand, das die natürlichen Kräfte des Menschen zur Heilserlangung hervorheben sollte, sollte es doch im Gegenteil gerade alles Handeln zum Heil bei Gott belassen und jede Bedingung auf Seiten des Menschen verneinen. So hat Ockham selbst sich in seinen vermutlich während der Gefangenschaft in Avignon entstandenen Quodlibeta ausdrücklich von Pelagius distanziert. Für den vorliegenden Denkzusammenhang entscheidend ist aber, dass Ockham damit jenes Modell der unmittelbaren Akzeptation von Duns Scotus an die nachfolgenden Theologengenerationen weitergab, das die Möglichkeit eröffnete, sich Gott so vorzustellen, dass er dem Menschen unmittelbar Heil zukommen ließ und dabei sämtliche Vermittlungsinstanzen übersprang. Der kulturelle Horizont, der es ermöglichte, dass solche Gedanken im frühen 14. Jahrhundert besonderes Gewicht erlangten und einen stark innovativen Zug in die Theologiegeschichte hineinbrachten67, war dabei durch ein doppeltes bestimmt: In Auseinandersetzung mit den konsequenten Aristotelikern wurde das komplexe System einer abgestuften Kausalität, das für Thomas tragend gewesen war und in dem Gott als Primärvon den Sekundärursachen unterschieden wurde68, neu akzentuiert: Die Vorstellung, dass die Erstursache jederzeit auch die Zweitursachen überspringen könne,
66 Vgl. Berndt Hamm: Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen 1977 (= Beiträge zur historischen Theologie 54), S. 340–390; Heiko Augustinus Oberman: wir sein pettler. Hoc est verum. Bund und Gnade in der Theologie des Mittelalters und der Reformation, in: ders. (Hg.): Die Reformation.Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S. 90–112, hier besonders S.101–112. 67 Zur Vorstellung von der Innovation vgl. Berndt Hamm: Wie innovativ war die Reformation?, in: Zeitschrift für historische Forschung 27 (2000), S. 481–497. 68 Vgl. die Belege bei Ludwig Schütz: Thomas-Lexikon. Sammmlung. Übersetzung und Erklärung der in sämtlichen Werken des h.Thomas von Aquin vorkommenden Kunstausdrücke und wissenschaftlichen Aussprüche, 2. Aufl., Paderborn 1895, S.107, s. v. causa prima und causa secunda.
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eröffnete die Möglichkeit, dass Gott in unmittelbaren Kontakt mit dem Gläubigen treten konnte. Anders und mit aller radikalen Zuspitzung gesagt: Wenn Gott alle Zweitursachen überspringen konnte, so war er de potentia absoluta auch an die sakramentale Heilsvermittlung nicht gebunden, sondern konnte den Sünder in seinem natürlich-sündlichen Zustand unmittelbar zu sich selbst erheben, wie es das Paradebeispiel des Paulus zeigte, der in seinem raptus nach 2 Kor. 12,1–4 der direkten Schau Gottes gewürdigt wurde69. Ein Gott, der so handelte, konnte jederzeit bei den Gläubigen sein – auch wenn diese unmittelbare Nähe nicht zu einer berechenbaren Größe wurde und so die Gewissheit der Gläubigen weiter durch den von Gott gewollten und bestätigten Sakraments-ordo aufrechterhalten wurde. Die neue Unmittelbarkeit trat also nicht im Grundsatz in Konkurrenz zur sakramentalen Ordnung, sondern stellte einen exorbitanten Sonderfall dar. Dass er allerdings für die normale Ordnung zur Gefahr werden konnte, hat Johannes XXII., wie oben geschildert, deutlich wahrgenommen. Diese Gefährdung kann man sogar noch im Blick auf das Papstamt wieder zuspitzen. Denn hier ergab sich ein eigenartiges Verhältnis von Nähe und Distanz: Einerseits konnte Ockham durchaus zu Recht das papale Herrschaftssystem als Analogie zum göttlichen Handeln de potentia absoluta anführen70 und damit dem Ausdruck gaben, dass schon die Zeitgenossen einen Bezug zwischen der sozialen Immediatisierung vor allem der päpstlichen Herrschaft und den neuen Gotteskonzepten sahen, andererseits aber lag die papstkritische Pointe ja gerade darin, dass nun in der Vorstellung von einer Immedialität Gottes auch noch der Papst selbst übersprungen und damit bis zu einem gewissen Grade depotenziert wurde – eine Depotenzierung freilich, die nicht prinzipiell galt, sondern nur soweit und insofern außerhalb des üblichen de potentia ordinata gesicherten ordo gedacht wurde. Allein schon die Möglichkeit einer solchen Immediatisierung aber reichte für Johannes XXII. aus, diese Konzepte abzuwehren. Denkerisch waren sie freilich auch durch die Verurteilung nicht vollends zu beseitigen – und in der Folgezeit wurden sie noch weiter entwickelt, vor allem auch durch die explizitere Verbindung mit augustinischem Denken. Hatte Ockham noch eher defensiv auf seine Ablehnung des Pelagius verweisen müssen, so gab es gerade in Auseinandersetzung mit der Möglichkeit pelagianisierender Anwendung seines Denkens in der Folgezeit eine verstärkte explizite Aufnahme Augustins und mit ihr auch eine gedankliche Zuspitzung der Vorstellung von einer Immedialität Gottes. Dies zeigt sich in dem kritischen Umgang Thomas Bradwardines mit den möglichen pelagianischen Folgen der potentia-Lehre. sowie der neuen Prädestinationslehre Aureolis71. Bradwardine sah den Pelagianismus geradezu als überall verbreitet an und zog nun gegen ihn zu Felde mit einer großen Schrift De causa Dei contra Pelagium: der Rechtsstreit Gottes gegen Pelagius. Er argumentierte dabei 69
QuodlibetVI q. 1 (Ockham: Opera Theologica 9 [wie Anm. 59], S 587,53–58). Ebd. S. 586,29f. 71 Vgl. James L. Halverson: Peter Aureol on Predestination. A challenge to late medieval thought, Leiden u. a. 1998 (= Studies in th History of Christian Thought 83). 70
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durchaus auf der Basis, die Duns und Ockham teilten und die auch bei Eckhart zu erkennen ist, wenn er Gottes herausragende Stellung vor allem anderen betonte: „Philosophi et theologi non ignorant, quod quaelibet creatura facta a Deo, semper essendo dependet ab eo, tamquam a suo necessario conservante; quae et similiter faciendo, nec per se sufficit aliquid agere sine Deo, idem specialiter coagente, immo et principaliter praeagente.“72
Bradwardine klärt in diesen Sätzen das Verhältnis von causa prima und causa secunda eindeutig zugunsten der ersten: Diese ist nicht mehr, wie im aristotelischen Schema der Zweitursachen nur mittelbar auf die innerweltlichen Wirkungen bezogen, sondern unmittelbar. Bradwardine spricht selbst die damit ausgedrückte Immediatisierung explizit an: „Dass keine Entität irgend etwas machen kann, wenn nicht Gott selbst und unmittelbar (immediate) dasselbe macht“73. Das bedeutete, dass grundsätzlich jeder Vorgang innerhalb der Schöpfung durch Gott, und zwar, wie Bradwardine offenbar in Anknüpfung an Duns betont, durch Gottes Willen selbst gelenkt wurde. Dies ist zwar kein klassischer Determinismus, aber es ist die konsequente Negierung der Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit alles innerweltlich Seienden und damit auch des Menschen: Wenn Gott letztlich alles in allem wirkt, ja sogar vorauswirkt, bleibt kein eigener Wirkungsraum für den Menschen als eben der der Mitwirkung an dem von Gott selbst bewirkten Geschehen. Hierzu muss Bradwardine die Existenz eines arbitrium liberum, eines freien Willens nicht bestreiten, aber er definiert dies so, dass es nicht eine Wahlfreiheit zwischen zwei entgegengesetzten Alternativen bedeutet, sondern die Freiheit, das vernünftig zu Wollende tatsächlich zu wollen74 – und hierzu wird der menschliche Wille von Gott veranlasst75. Auf diese Weise hat Bradwardine in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie, zumal in dem Gewand, in dem sie 1277 verurteilt worden war, ein Denkmodell entwickelt, das es ermöglicht, eine starke Prädestinationslehre zu formulieren: Prädestination ist eine ewige Bereitung (aeterna praeparatio) des Menschen für die ewige Seligkeit (beatitudo sempiterna)76. Sie bewirkt Rechtfertigung und gute Werke, die allein auf den Heilsratschluss Gottes zurückgehen77: „Keiner wird prädestiniert oder verworfen wegen der Werke, die er tut“78. Diese starke 72 Thomas Bradwardine: De causa Dei 1.1 c. 1 Corollarium p. h40 (Thomae/Bradwardini/Archiepiscopi olim/cantuariensis/de causa dei;/contra Pelagium,/et de virtute causarum,/[. . .] libri tres, London: Johannes Billius 1618 [= Neudruck Frankfurt am Main 1964], S.131C–D): „Die Philosophen und Theologen wissen, dass jedes Geschöpf, das von Gott gemacht wurde, immer in seinem Sein von ihm abhängt als von dem, der es notwendigerweise erhält, und daher und ähnlicherweise auch in seinem Tun. Und es reicht aus sich nicht aus, irgend etwas ohne Gott zu tun, der auf besondere Weise mitwirkt, ja, der grundlegend vorauswirkt.“ 73 De causa Dei l.1 c. 3 Corollarium p. 2 (Bradwardine: De causa Dei [wie Anm. 72], S.171D): „quod nulla res potest aliquid facere, nisi Deus per se et immediate faciat illud idem“. 74 Ebd. S. 448E. 75 Ebd. S. 370C. 76 Ebd. S. 421E. 77 Ebd. S. 422A. 78 Ebd. S. 427A: „Nullus praedestinatur aut reprobatur propter opera quae faceret“.
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Prädestinationslehre gewinnt ihre Pointe, wie sich schon in dieser Formulierung andeutet, aus der gnadentheologischen Zuspitzung, die Bradwardine aus einer intensiven Lektüre der paulinischen und augustinischen Schriften gewinnt: Wenn Gott alles in allem wirkt, dann kann von Seiten des Menschen kein Werk eingebracht werden, das als Verdienst angerechnet würde. Und so heißt es in aller Schärfe: „Bene igitur apostolus fidem praedicans gentibus, ut ostenderet non merito bonorum operum perveniri ad fidem, sed fidem sequi bona opera, dicit, hominem iustificari per fidem sine operibus legis; [. . .] sola fide sine operibus praecedentibus sit homo iustus.“79
Diese Gegenüberstellung von Glauben einerseits, Verdienst und Werken andererseits, ging deutlich über das hinaus, was bislang in der mittelalterlichen Theologie gelehrt worden war, wobei der Gegensatz sich ausschließlich auf Werke in heilskonstitutivem Sinne richtete. Begründet wurde das Heil allein durch die Gnade Gottes und den Glauben, durch den der Mensch diese Gnade ergreift, bis hin zu der wörtlichen Formulierung „sola fide“. Der so allein durch den Glauben Gerechtfertigte aber erfährt eine tatsächliche Wandlung: Die Liebe Gottes ändert sein Verhalten fundamental, und er tut nun antwortend die guten Werke, die zum Heilsgewinn gar nichts auszurichten vermöchten. Damit war ein bemerkenswerter Bezug der gewonnenen Immediatisierungslehre auf eine glaubensorientierte Rechtfertigungslehre hergestellt. Die Rechtfertigung durch den Glauben als Folge des unmittelbaren Handelns Gottes am Menschen erscheint hier in der Schrift eines Gelehrten und späteren Erzbischofs. Dies ist nur ein Strang innerhalb der spätmittelalterlichen Theologie, in der wie auch in der Frömmigkeit von durchaus unterschiedlichen, gelegentlich einander polar entgegenstehenden Entwicklungen auszugehen ist – aber er zeigt Denkmöglichkeiten an, deren theologischer und gesellschaftlicher Plausibilitätshorizont in Immediatisierungvorstellungen schon auf eine längere Entwicklung zurückgreifen konnte. Wie deutlich anders, hiermit auch umgegangen werden konnte, zeigt freilich gerade auch der andere große Gegner des „neuen Pelagianismus“, Gregor von Rimini, der seinerseits viel stärker an Denkvoraussetzungen seiner Gegner in der Unterscheidung der potentia anknüpft als Bradwardine, aber im Ergebnis zu einer Gnadenkonzeption kommt, in der das Vertraute, gewiss Machende des gültigen ordo in einer Weise im Vordergrund steht, die gerade nicht an Unmittelbarkeit göttlichen Wirkens denken lässt, sondern an eine vielfache Vermittlung.
79 Ebd. S. 394A–B: „Zu Recht also sagt der Apostel, indem er den Heiden den Glauben predigt, um zu zeigen, dass man nicht durch das Verdienst guter Werke zum Glauben gelange, sondern die guten Werke dem Glauben folgen: Der Mensch wird durch den Glauben ohne Werke des Gesetzes gerecht, [. . .] allein durch den Glauben ohne vorangehende Werke sei der Mensch gerecht.“
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3. Der Mensch in Gottes Heilsgeschichte – und Gott in mir Schon die Erwähnung Meister Eckharts im Kontext der Entwicklungen scholastischer Theologie ließ anklingen, dass die Immediatisierungstendenzen sich nicht allein in der akademischen Theologie finden, sondern auch in mystischen Traktaten und Predigten. Dabei waren aufgrund der Verurteilung in der Bulle In agro dominico vom 27. März 1329 Meister Eckharts eigene Schriften weniger wirkungsvoll als die der nachfolgenden, wiederum schwer als „Schüler“ identifizierbaren Generation, d. h. vor allem Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Die Dreiergruppe aus ihnen und Meister Eckhart wurde traditionell als „Deutsche Mystik“ zusammengefasst – ein Begriff, der nicht nur wegen seiner Missbräuchlichkeit in nationalideologischen Zusammenhängen, sondern schlicht aus der Einsicht in die weitreichende Vernetzung der spätmittelalerlichen Mystik heute in der internationalen Forschung zugunsten einer neutraleren Beschreibung wie etwa „rheinische Mystik“ in den Hintergrund getreten ist. Wie hier Immediatisierung weniger konzeptuell als narrativ-metaphorisch evoziert wird, zeigt möglicherweise am deutlichsten die erste Predigt aus der Sammlung von Predigten Johannes Taulers. Diese Sammlung, die möglicherweise noch zu Lebzeiten Taulers selbst entstand80 und um 1500 in mehreren Drucken verbreitet wurde, von denen einer auch zu Martin Luther kam, ist nach dem Kirchenjahr geordnet und beginnt entsprechend mit der Thematik von Advent beziehungsweise Weihnachten. Diese Predigt ist freilich nicht nur aufgrund der liturgischen Ordnung ein außerordentlich passender Einstieg für die Sammlung, gibt sie doch Tauler die Gelegenheit, ein Grundthema der rheinischen Mystik: die Gottesgeburt in der Seele des Glaubenden zu entfalten. Doch Tauler bettet diese Vorstellung in einer Weise in seine Predigt ein, die charakteristisch für die Möglichkeiten einer mit mehreren Schriftsinnen rechnenden Hermeneutik ist. Sinn des Predigttextes ist nämlich nach ihm, dass es eine dreifache Geburt des Sohnes aus dem Vater gibt: eine vor aller Zeit und innertrinitarisch, eine in der Zeit im Stall von Bethlehem und schließlich jene in der Seele des einzelnen Glaubenden. In der einen Metapher von der Gottesgeburt werden damit Gotteslehre, Heilsgeschichte und individuelle Erlösung zusammengefasst, denn die drei Ebenen stehen nicht nebeneinander, sondern liegen ineinander81. Unabweisbar ist dies trinitätstheologisch beim Zusammenhang der innertrinitarischen Geburt des Sohnes mit der Jesu von Nazareth in Zeit und Raum. So wie, mit der modernen Diskussion gesprochen, ökonomische und immanente Trinität einander bedingen, sind jene immanente Geburt und die in die Heilsgeschichte hinein nicht voneinander zu lösen, sondern als ein die Zeitgrenzen sprengender Vorgang zu verstehen, in dem eben jener Sohn, 80
Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S.112f. Vor diesem Hintergrund ist die Mahnung, den Gedanken der Heilsgeschichte in mystischen Predigten nicht als „bloß metaphorisch“ in ihrem Sachgehalt zu reduzieren (vgl. Susanne Köbele in diesem Band S. 285–305), gerade auch aus Sicht einer theologiehistorisch orientierten Forschung nachdrücklich zu unterstreichen! 81
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der in Gott geboren wurde, in die Welt eingeht.Wenn aber schon die ersten beiden Geburten in dieser Weise nicht nur gedanklich, sondern auch dem Sein der göttlichen Natur Christi nach, ineinander verschlungen sind, wäre es innerhalb von Gedanken und Metaphorik Tauler schwer nachvollziehbar, die dritte Geburt, in der Seele des Glaubenden, schroff hiervon zu unterscheiden.Tatsächlich macht Tauler den Bezug deutlich, indem er die Glaubenden in die Hoffnung hinein nimmt, wie die Jungfrau Maria zu werden82, eine Metapher, die doppelt bemerkenswert ist: Die Identifikation mit einer Frauengestalt, Maria, gilt für die Hörer unabhängig vom Geschlecht, wobei die Predigt vermutlich aus dem Kontext der cura monialium stammt, mithin sich an eine weibliche Adressatenschaft richtet. Durch die schriftliche Verbreitung aber schuf sie für die männlichen Leser eine metaphorische Zumutung, die unter umgekehrter Perspektive sehr viel stärker verbreitet ist: die eigene religiöse Existenz mit einer Gestalt des anderen Geschlechts zu identifizieren. Diese markante gender-Offenheit von Taulers Metaphorik dürfte auch mit dem anderen Aspekt des Ausdrucks zu tun haben: Die Rede von der Jungfrau Maria ist im mystischen Kontext mehr als nur ein Zugeständnis an den Glaubensbestand, der sich zur Jungfräulichkeit der Gottesmutter bekennt. Die Jungfräulichkeit drückt auch eine Unberührtheit aus, die Voraussetzung für die Empfängnis Gottes ist: Dass der Glaubende leer von allem werden müsse, gehört zu den Grundüberzeugungen der rheinischen Mystik und drückt sich in eben diesem Bild aus. Damit ist freilich auch eine Doppelaspektivität angesprochen, denn eine streng ausgelegte Jungfräulichkeitsmetapher müsste auch in Rechnung stellen, dass Jungfräulichkeit nicht herstellbar beziehungsweise eine einmal verlorene Jungfräulichkeit nicht wieder herstellbar ist. Wenn also Tauler den Gedanken formuliert, Jungfrau Maria zu werden, nimmt er eine Entwicklung in den Blick, die so auf der metapherngebenden Realitätsebene nicht denkbar ist. Hierin äußert sich, dass in der Tat die rheinische Mystik den Zentralvorgang der Mystik, die unio, sowohl in statischer als auch in dynamischer Weise schildern kann. Die Geburtsmetapher drückt eben diese Dynamik aus, ein Werden der Gottesnähe – daneben aber steht die bei Eckhart wie bei Tauler immer wiederkehrende Vorstellung von einem im Grund – oder Wipfel – der Seele ruhenden Fünklein, das immer schon gegeben und nun also nicht herzustellen, sondern freizulegen ist. Möglicherweise ist gerade auch diese in den unterschiedlichen Metaphern liegende Spannung ein Ausdruck dessen, dass beide letztlich nur Brücken sind, um zu der eigentlichen Botschaft zu kommen, nämlich der, dass jeweils momenthaft im Leben des Glaubenden eine Einung mit Gott möglich ist, deren ontologische Grundlage, durchaus kongruent mit den Ausführungen Eckharts im Opus tripartum, die Rede vom Seelenfünklein ausdrückt, deren ereignishaften Charakter aber die Gottesgeburt in der Seele ins Bild rückt. In ihr ist die höchste Form von Nähe Gottes erreicht, in der die Schranken zwischen Mensch und Gott übersprungen 82 Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, 2. Aufl., Berlin 1968 (Hildesheim 2000), S.11,6–13.
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werden. Gerade weil sie um diese Distanz wissen, betonen die rheinischen Prediger deren Überwindung und reden von der so erreichten Nähe Gottes, von einer Unmittelbarkeit, die dann in ähnlicher Weise wie bei den beschriebenen scholastischen Gedankengängen zur Gefahr für die sakramentale Heilsvermittlung werden kann. Diese Gefahr betraf grundsätzlich alle Sakramente. So war in der Verurteilung mystisch orientierter Beginen durch das Konzil von Vienne 1312 unter anderem die Rede davon, dass diese der Elevation der Hostie nicht die schuldige Ehrfurcht erwiesen83, also ihr mystisches Bewusstsein sie in Konflikt mit dem priesterlich verwalteten eucharistischen Sakrament brachte. Gerade wegen der auch sozialhistorisch großen Bedeutung wurde aber ein zentrales Feld, an dem die Spannung zwischen mystischem Bewusstsein und sakramentaler Heilsvermittlung wahrnehmbar wurde, die Buße. Ihre Etablierung als seelsorgliche Begegnungsmöglichkeit wie als auf Internalisierung christlicher Normen ausgerichtetes Kontroll- und Disziplinierungsinstrument hatte durch die Einführung der einmal jährlichen Beichtpflicht auf dem Vierten Lateranum einen kräftigen Schub erfahren. Gerade im Zuge eines Bemühens um die Reduktion von Devianz, sei es durch das Verbot neuer Ordensgründungen, sei es durch das massive Vorgehen gegen die Katharer, war damit eine sakramentale Basis geschaffen, um die Gemeindeglieder an ihren Pfarrer zu binden, wobei die einseitige Betonung des Pflichtchaakters nicht den Blick dafür verstellen sollte, dass die gleichzeitige deutliche Einschärfung des Beichtgeheimnisses auch der Schaffung einer seelsorglich orientierten Vertrauensbasis diente. Damit war in jedem Fall der Hintergrund dafür geschaffen, dass das Bußsakrament seine hohe Wirkung in der Alltagswelt der spätmittelalterlichen Gläubigen entfalten konnte – um so bemerkenswerter ist es, wenn sich bei mystischen Predigern Aussagen finden, die eine Entkoppelung zwischen dem Vorgang der Buße und der sakramentalen Heilsvermittlung in den Blick nahmen. Eben dies war aber bei Tauler der Fall. Im Blick auf Sündenerkenntnis und -bekenntnis riet er seinen Hörerinnen: „[. . .] so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit.“84
Die Beichte als ein Ort, an dem unter Umständen die Sünden schon in Vergessenheit geraten sind: Dies bedeutet, sakramententheologisch gesprochen, ein Verschlingen der auf den Priester angewiesenen Elemente der Buße – confessio oris und, ihr folgend satisfactio operis – durch den Elementarvorgang der contritio als einem innerlichen Geschehen, das gerade indem es innerlich ist, vor Gott geschieht. Diese Verbindung ist ja keineswegs ohne weiteres plausibel oder zwingend: dass dort, wo ich im Innersten bin, mir Gott begegnet. Im mystischen Den83 84
Enchiridion symbolorum (wie Anm. 34), Nr. 898. Tauler: Predigten (wie Anm. 82), S. 355,36–356,2.
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ken gewinnt es höchste Plausibilität und zugleich höchste Brisanz: Es entstand so ein Konzept der Gottesbegegnung, das auf den Priester und überhaupt jede Vermittlung im Gottesverhältnis verzichten konnte. Tauler bewegte sich dabei in einer eigenartigen Spannung: Einerseits war er ganz offenkundig bemüht, diejenigen Spitzen zu vermeiden, die dazu geführt hatten, dass Meister Eckharts Theologie in der spätmittelalterlichen Kirche keine Anerkennung gefunden hatte und Sätze aus ihr verurteilt worden waren, andererseits benannte er durchaus auch die kritischen Folgen, die sich aus der mystischen Theologie für die Kirche seiner Zeit ergeben mussten. So erklärte er über den mystisch andächtigen Menschen, ausdrücklich mit Bezug auf Frauen wie auf Männer85: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“86. Das war zwar noch nicht jene radikale Forderung nach einem in der Taufe begründeten allgemeinen Priestertum, wie es fast zwei Jahrhunderte später bei Luther begegnet, aber wenigstens metaphorisch87 erschien hier der Gedanke, dass das Priestertum nicht an eine bestimmte Weihe und einen durch diese konstituierten rechtlichen und sozialen Stand gebunden war, sondern grundsätzlich für jeden Christen und jede Christin durch entsprechende Frömmigkeit erlangbar war. Damit aber wurde aus einem das Heil vermittelnden Stand eine unmittelbar durch das Gottesverhältnis konstituierte Stellung vor Gott – Immediatisierung im charakteristischsten Sinne. Ebenso charakteristisch ist auch die noch aufrecht erhaltene Bindung an Voraussetzungen im Verhalten der Menschen, die auf ihre Weise einer anderen Weise der Verunmittelbarung des Christusverhältnisses entsprach: jener Ausgestaltung der mittelalterlichen Repräsentationsfrömmigkeit88, die den einzelnen Glaubenden zu einer Repräsentationsfigur Christi macht. Was zunächst dem sakramentalen Geschehen und damit dem priesterlichen Handeln vorbehalten ist: Christus zu repräsentieren89, kann auch zu einer jenseits der Amtstheologie unmittelbar begründeten Frömmigkeitsgestalt werden, am markantesten in dem Geschehen in den Alvernerbergen, das man von Franz von Assisi erzählte und in dem dieser selbst die Stigmata Christi an seinem Leib erhalten und erfahren haben sollte90. Die Formen einer solchen Vergegenwärtigung Christi im frommen Leben 85 Ebd., S.165,15–17; vgl. Thomas Gandlau: Trinität und Kreuz. Die Nachfolge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg im Breisgau 1993 (= Freiburger theologische Studien 155), S.146f., mit der Unterscheidung von sakramentalem und geistlichem Priestertum. 86 Tauler: Predigten (wie Anm. 82), S.164,34–165,1. 87 Aufgrund der eindringlichen Hinweise von Susanne Köbele auf die erschließende Wirkung der Metapher in ihrem Beitrag in diesem Band (vgl. S. 285–305) sei ausdrücklich betont, dass der metaphorische Charakter einer solchen Aussage diese dem Sachgehalt nach keineswegs entschärft. 88 Vgl. zu diesem Terminus Volker Leppin: Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: Mario Fischer/Margarethe Drewsen (Hg.): Die Gegenwart des Gegenwärtigen. Festschrift für Gerd Haeffner, Freiburg/München 2006, S. 376–391. 89 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae III q. 73 a. 5 responsio (Sancti Thomae Aquinatis [. . .] Opera omnia [Editio Leonina], Bd.12, Rom 1906, S.143a). 90 Gründlich hierzu: Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 256–277.
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waren aber vielfältiger, und wenn man im Bereich der rheinischen Mystik bleibt, so ist gewiss Heinrich Seuse mit seiner Passionsmystik ein Vertreter einer Frömmigkeitspraxis, die das eigene Leben zum Nachvollzug des Lebens Christi werden ließ. Für das Frömmigkeitsleben des ausgehenden Mittelalters ist es dabei durchaus typisch, dass Seuse seine frommen Erfahrungen gelegentlich anhand eines Bildnisses des Gekreuzigten machen konnte: Die rheinische Mystik gilt als ein Resonanzraum, der die Entstehung von Andachtsbildern wie dem Vesperbild begünstigte, wenn nicht ermöglichte91. Diese Bilder ihrerseits aber hatten einen ästhetischen Appell, der Jesus Christus selbst in das Leben der Menschen hineinzog, und es erscheint vor diesem Hintergrund durchaus plausibel, mit Henry Thode wenigstens einen Strang der Entstehung der Renaissance auch mit der mendikantisch inspirierten Demutsfrömmigkeit zu verbinden92, denn zu den großen Leistungen der Renaissancekunst gehört es ja auch, die Heilsgeschichte in ein natürliches Szenario zu setzen, das der Alltagsumwelt der Rezipienten dieser Kunst entsprach.
4. Die Transformation der spätmittelalterlichern Immediatisierungstendenzen in der Theologie des jungen Luther Für das Verständnis der Wirkung dieser Immediatisierungstendenzen auf den jungen Luther ist entscheidend die Beobachtung, dass zu den frühen wegweisenden spirituellen Erfahrungen, die Martin Luther machte, ein Neuverständnis der Buße gehört. Martin Luther berichtet hierüber ausführlich und anschaulich in seinem an Staupitz gerichteten Begleitschreiben zu den Resolutiones, mit denen er die Ablassthesen erklärte: „Memini, Reverende pater, inter iucundissimas et salutares fabulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari, incidisse aliquando mentionem huius nominis ‚poenitentia‘, ubi miserti conscientiarum multarum carnificumque illorum, qui praeceptis infinitis eisdemque importabilibus modum docent (ut vocant) confitendi, te velut e caelo sonantem excepimus, quod poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iusticiae et dei incipit, et hoc esse potius principium poenitentiae, quod illis finis et consummatio censetur. Haesit hoc verbum tuum in me sicut sagitta potentis acuta, coepique deinceps cum scripturis poenitentiam docentibus conferre. Et ecce iucundissimum ludum, verba undique mihi colludebant planeque huic sententiae arridebant et assultabant, ita, ut, cum prius non fuerit ferme in scriptura tota amarius mihi verbum quam ‚poenitentia‘ [. . .], nunc nihil dulcius aut gratius mihi sonet quam ‚poenitentia‘. Ita enim dulcescunt praecepta dei, quando non in libris tantum, sed in vulneribus dulcissimi Salvatoris legenda intelligimus.“93 91 Vgl. Heinrich und Margarethe Schmidt: Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 2007, S. 214–216. 92 Henry Thode: Giotto, 3. Aufl., Bielefeld 1926. 93 WA 1, S. 525,4–23: „Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei Deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trösten pflegt, zuweilen das Wort ‚Buße‘ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gewissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob du vom Himmel herab redetest: dass wahre Buße allein mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott
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An anderer Stelle habe ich ausführlicher dargelegt, dass es sich bei diesem Erinnerungsstück um die wohl wichtigste und bedeutend frühere Parallele zu Luthers Rückblick auf seine reformatorische Entdeckung in der Vorrede zu den lateinischen Werken von 1545 handelt94. Ohne die Argumentation im einzelnen zu wiederholen, sei darauf verwiesen, dass die strukturelle Ähnlichkeit so hoch ist, dass man schwerlich beiden Berichten im selben Maße Glauben schenken kann – zumal die von Oswald Bayer und anderen Gelehrten vertretene Datierung der „reformatorischen Entdeckung“ zeitlich in die unmittelbare Nähe jenes Begleitschreibens an Staupitz fällt95. Der Versuch, beide Erinnerungen als letztlich identisch zu erweisen96, müsste also jedenfalls auf diesen Termin verzichten, denn alles in der poenitentia-Erinnerung von 1518 weist auf ein Datum, das weiter zurückliegt97. Ohnehin gibt es gute Gründe, auf ein solches „Wende-Konstrukt“ zu verzichten, wie es Berndt Hamm identifiziert hat98: Die Entwicklung Luthers ist leichter vorstellbar, wenn man die von niemandem bestrittene Allmählichkeit nicht nur zu einem Aspekt neben einem psychologischen Durchbruch macht99, sondern geradezu zum Schlüssel des Verständnisses. Dann verweist die Erinnerung im Schreiben an Staupitz ihrerseits auch nicht auf einen bestimmten Moment, sondern verdichtet eine allmähliche Entwicklung anekdotisch. In dieser Verdichtung aber fließen Stränge zusammen, die aus unterschiedlichen spätmittelalterlichen Wurzeln gespeist werden: Der im Schreiben an Staupitz formulierte Gedanke der Buße ist ja in sich noch nicht ein Ausdruck von Immediabeginne.Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr nur deren Anfang. Dieses dein Wort haftete in mir ‚wie der scharfe Pfeil eines Starken‘ (Psalm 120,4 Vulgata), und ich fing an, es der Reihe nach mit Schriftstellen zu vergleichen, welche von der Buße lehren. Und das war eine überaus angenehme Beschäftigung. Denn von allen Seiten kamen Worte auf mich zu, fügten sich ganz dieser Auffassung ein und schlossen sich ihr an. Das Resultat war: wie es früher in der ganzen Schrift nichts Bittereres für mich gab als das Wort ‚Buße‘ [. . .] kann mir jetzt nichts süßer und angenehmer in den Ohren klingen als das Wort ‚Buße‘. Denn dann werden die Gebote Gottes süß, wenn wir erkennen, dass sie nicht bloß in den Büchern, sondern in den Wunden des geliebten Heilands gelesen werden müssen.“ 94 Volker Leppin: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablassthese, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 7–25. 95 Oswald Bayer: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, 2. Aufl., Darmstadt 1989, S.182–202; zur Debatte vgl. Bernhard Lohse (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (= Wege der Forschung 123); ders. (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart/ Wiesbaden 1988 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 25). 96 Martin Brecht: Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S. 281–291. 97 Vgl. die Nachweise in Leppin: omnem vitam (wie Anm. 94). 98 Berndt Hamm: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: ders./Volker Leppin (Hg.): Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 36), S.111–151, hier besonders S.112–117, jetzt auch in: ders.: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, S. 25–64, hier S. 26–31. 99 Vgl. Otto Hermann Pesch: Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Lohse (Hg.): Durchbruch 1968 (wie Anm. 95), S. 445–505, hier besonders S. 498.
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lität, sondern wird zu einem solchen erst, wenn man beobachtet, dass Luther in den Jahren seiner frühen Entwicklung zusehends einen asakramentalen, auf das innere Geschehen im Angesicht Gottes fokussierten Bußbegriff entwickelt hat, dessen negative anthropologische Folie wiederum sein radikalisiertes Sündenverständnis ist, das sich spätestens in der Römer-Vorlesung fassen lässt100 – und damit in eben jener Zeit, auf die auch die Staupitz-Erinnerung verweist101. Allerdings hatte sich das radikalisierte Sündenverständnis schon lange vorbereitet. So griff Luther schon in seiner Kommentierung zu den Sentenzen des Lombarden Aspekte einer Intensivierung des Sündenverständnisses auf, wie man sie bei Gabriel Biel finden konnte, wenn er von einer virium rebellio102 sprach, wendete sie allerdings schon sehr früh auffällig kritisch. Er folgte der von Gregor und Biel bestimmten Linie, nach der die Sünde vor allem eine Befreiung vom reatus darstellt103. Aber vor allem betonte er, dass die von der Ursünde unterschiedene concupiscentia der Ungehorsam des Fleisches gegenüber dem Geist ist104.Wie bei Biel dominierte schon hier gegenüber einer privativen Deutung der Ursünde die paulinische Rede von der Auseinandersetzung zwischen Fleisch und Geist, und Luther erklärte, dass diese Begrifflichkeit besser sei als die des Lombarden105. Diese biblisch fundierte Ausgestaltung der Anthropologie arbeitete Luther in den folgenden Jahren, vor allem auch in seinen exegetischen Werken, weiter aus. So hat Luther, als er 1513106 mit den Dictata super Psalterium begann, immer wieder die sündliche Verfasstheit des Menschen reflektiert. In Auslegung von Ps. 51 (50),6 („tibi soli peccavi et malum coram te feci ut iustificeris in sermonibus tuis et vincas cum iudicaris“) betonte Luther den relationalen Aspekt und entwickelte damit schon im Sündenverständnis eine zugespitzte Unmittelbarkeit: Es gehe hier um Sünden an Gott, im Unterschied zum Vergehen gegen das Gesetz, wobei freilich die Beispiele, die Luther aus dem Gesetz nahm – Totenberührungen und andere Formen der Befleckung – lediglich das Zeremonialgesetz betreffen, so dass der von ihm angedeutete Gegensatz nicht etwa die moralischen und erst nicht die eigentlich auf Gott bezogenen Gebote des Alten Testamentes betreffen muss. Eben mit dieser mittelalterlich bekannten Unterscheidung argumentiert Luther aber nicht, sondern mit der grundlegenden Beziehung auf Gott, an dem allein der Sünder sich nach seinem Bekenntnis versündigt hat107. Der Alleinigkeit des Vergehens an Gott entspricht auf Seiten des Menschen der Vorgang der Selbstanklage: „Tunc 100 Vgl. zum Folgenden Volker Leppin: Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformationen der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther, in: Wilfried Härle/Reiner Preul (Hg.): Sünde, Leipzig 2008 (= Marburger Jahrbuch Theologie 20), S. 45–73. 101 Zur Datierung des erinnerten Geschehens (als erinnertes, nicht unbedingt reales Datum der beschriebenen Entwicklung) vgl. Leppin: omnem vitam (wie Anm. 94). 102 Gabrielis Biel: Collectorium circa quattuor libros Sententiarum. Liber secundus, hg. von Wilfrid Werbeck/Udo Hofmann, Tübingen 1984, S. 581,11. 103 AWA 9, S. 481,30f. 104 AWA 9, S. 480,25f. 105 AWA 9, S. 480,34f. 106 WA.TR 4, S. 223,32 (Nr. 4323). 107 WA 55/2, S. 269,30.
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fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus, quia tales coram deo sumus.“108 Die Reflexionen auf Sünde gewinnen also, ganz entsprechend dem literarischen Genus des Psalms ihre Spitze durch die Selbstanklage, mit der allein Gott Recht gegeben wird: Sich nicht als Sünder zu erkennen und anzuerkennen, hieße zu leugnen, dass Christus für unsere Sünden gestorben ist109, bedeutet als Christusleugnung letztlich Gottesleugnung: Selbstbekenntnis als Sünder wird so zur indirekten Anerkennung Gottes und zum eigentlichen Ausdruck der rechten Haltung gegenüber Gott, so dass Luther sogar zugespitzt sagen kann: „Deus in seipso non Iustificatur, sed in suis sermonibus et in nobis.“110 Sünde ist damit Ausdruck der Relation zwischen Mensch und Gott – und betrifft diese eben direkt und unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit geht so weit, dass Luther erklären kann, das Gericht, das der Sünder in der Selbstanklage an sich vollziehe, sei so gestaltet, dass Gott dieses im Menschen erfolgende Gericht aufgrund der vollzogenen Selbstbindung111 notwendigerweise („necesse est“; WA 55/2, S. 271,98) anerkennen müsse: Das externe, auf Ewigkeit gültige Gericht Gottes wird so proleptisch internalisiert, der Glaubende in aller Unmittelbarkeit auf den richtenden Gott bezogen. In der Römerbrief-Vorlesung allerdings formt Luther den Gedanken der Externalität weiter aus, indem er gerade auch die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Geschehen im Sünder und dem noch zu vollziehenden Gericht Gottes hervorhebt und so nun die ersten Ansätze zu einer Formulierung des simul entwickelt, und zwar im Anschluss an die eben anhand der Psalmenvorlesung ausgeführten Überlegungen: Im Scholion zu Röm 4,7 greift Luther auf Ps 50/1 zurück, differenziert aber nun das dort beschriebene paradoxale Geschehen. Hatte die Psalmenvorlesung gerade den Sünder, weil er seine Sünde bekennt, zu dem gemacht, der Gott die Ehre gibt, so heißt es nun: „Ergo sibiipsis et in veritate Iniusti sunt, Deo autem propter hanc confessionem peccati eos reputanti Iusti; Re vera peccatores, Sed reputatione miserentis Dei Iusti; Ignoranter Iusti et scienter inIusti; peccatores in re, Iusti autem in spe.“112
Die Paradoxie wird also, durchaus konsequent aufgrund der relationalen Ausrichtung von Luthers Denken, aspektiv aufgelöst. Während die das Gerechtsein begründende Relation in Gott fundiert ist, hat die das Sündersein begründende Relation ihren Grund im Menschen, und zwar gerade in dessen radikaler Verweigerung der Relation zu Gott: Die Natur des Menschen ist so in seipsam incurva, dass die ihr eigentlich zuträgliche Relation der fruitio zu Gott unmöglich ist und der Mensch eine Relation des uti zu Gott errichtet, die letztlich als Ziel aller Bewegungen nicht Gott selbst setzt, sondern sich selbst113. Sünde ist also ihrem Wesen 108
WA 55/2, S. 269,21f. WA 55/2, S. 269,23–26. 110 WA 55/2, S. 269,19f. 111 Vgl. zur Wirkung der pactum-Vorstellungen auf Luther bei Hamm: Promissio (wie Anm. 66), S. 377–390. 112 WA 56, S. 269,27–30. 113 WA 56, S. 304,25–29. 109
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nach Gottabkehr, Relationsverweigerung zu Gott und damit als Gebrauch Missbrauch Gottes. Und sie ist in dieser Gestalt peccatum radicale114, also eine Wurzelsünde115, von der sich alle anderen Einzelsünden ableiten: Schon begrifflich zeigt sich hier die „Radikalisierung“, von der Gerhard Ebeling116 und Karl-Heinz zur Mühlen117, aber auch Otto Hermann Pesch118 sprechen. Diese Radikalität aber ist Ausdruck jener unmittelbaren Stellung des Menschen vor Gott, die ihn im Angesicht seines Schöpfers und Erlösers auf seine Nichtigkeit verweist. Was bleibt, ist die innere Anerkenntnis der eigenen Sündigkeit, also letztlich das Geschehen, das mit Buße beschrieben wird. So ist es kein Zufall, dass Luther schon in der ersten Psalmenvorlesung intensiv über das Bußverständnis reflektiert hat – und diesem Interesse auch dadurch Ausdruck gegeben hat, dass er 1517 seine Auslegung der Sieben Bußpsalmen in den Druck gab. In den parallel zu den Vorlesungen laufenden Sermonen lässt sich nun nachzeichnen, wie Luther immer intensiver seine Bußtheologie entfaltet und so zugespitzt hat, dass deutlich wurde, dass sein Bußverständnis in Gegensatz zu einer im Sakrament der Buße fokussierten sakramentalen Heilsvermittlung stand. Das neue Bußverständnis, zu dem Luther nach dem oben zitierten Schreiben den Anstoß von Staupitz erfahren hatte, drang ebenfalls auf eine neue Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses hin und transformierte dabei die hierauf zulaufenden Entwicklungen der mystischen Theologie des späten Mittelalters.Wie eng Luther mit dieser verbunden war, lässt sich an seinen Randbemerkungen zu den Predigten Johannes Taulers nachvollziehen. Mit der Marginalnotiz: „Hoc nota tibi“ hob Luther eben jene oben zitierte Aufforderung Taulers hervor, nach der der in Reue zerknirschte Mensch in Gott eilen und dringen solle und dabei nicht fürchten solle, bei der Beichte die eigenen Sünden vergessen zu haben119 – und die folgende Aufforderung Taulers, mit solcher inneren Zerknirschung nicht sofort zum Beichtvater zu laufen, versah Luther mit der Bemerkung: „utilissimum consilium“.120 114 WA 56, S. 277,12; zu traditionsgeschichtlichen Hintergründen dieses Begriffs vgl. Gerhard Ebeling: Der Mensch als Sünder. Die Erbsünde in Luthers Menschenbild, in: ders., Lutherstudien, Bd. 3: Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, S. 74–107, hier besonders S. 78. 115 Diesen besonderen Charakter des peccatum originale kann man auch als „Personalsünde“ fassen; vgl. Tom Kleffmann: Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994 (= Beiträge zur historischen Theologie 86), S.109. 116 Gerhard Ebeling: Disputatio de homine. Dritter Teil: Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40, Tübingen 1989 (= ders.: Lutherstudien. Bd. 2), S.114. 117 Karl-Heinz zur Mühlen: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (= Beiträge zur historischen Theologie 46), S.117. 118 Otto Hermann Pesch in seiner Kommentierung von: Thomas von Aquin, Die Sünde. Kommentiert von Otto Hermann Pesch. I–II 71–89, Wien 2004 (Die deutsche Thomas-Ausgabe 12), S. 962–987. Pesch verweist zugleich mit Recht darauf, dass diese Rede von „Radikalisierung“ in eine Schieflage gerät, wenn man die mittelalterlichen Denker – er blickt hier, im Kontext eines ThomasKommentars, nur auf die Scholastiker – einfach an den Fragestellungen Luthers misst (ebd. S. 963). Recht verstanden, enthält der Begriff der Radikalisierung ja nicht nur das Moment der Abgrenzung, sondern auch das der Kontinuität und ist insofern ein Sonderfall des Vorgangs der Transformation. 119 Vgl. oben S. 328. 120 WA 9, S.104,12.
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Hier ist mit Händen zu greifen, wie der junge Luther an die bußtheologische Relativierung der priesterlichen sakramentalen Heilsvermittlung durch die Mystik anknüpfte, und er verband das auch mit der Vorstellung eines unmittelbaren Einwirkens Gottes auf das Innere des Menschen: „Et si sciamus, quod deus non agat in nobis, nisi prius nos et nostra destruat (i. e. per crucem et passiones), tamen adeo stulti sumus, ut eas velimus tantum suscipere passiones quas nos elegimus vel quas in aliis factas vidimus vel legimus.“121
Wie stark sich hier schon das formiert, was später Luthers Rechtfertigungstheologie ausmachen sollte, lässt die prononcierte Einführung des Glaubensbegriffs im selben Zusammenhang erahnen: „Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum.“122
Der von Tauler beschriebene Vorgang innerer Buße wird für Luther also, ineins mit dem Glauben an Gott, zum Zentrum des Heils: „tota salus.“ Damit wird deutlich, dass es bei der unmittelbaren Wirkung Gottes in der Zerknirschung des Menschen nicht um einen rein destruktiven Vorgang geht – vielmehr steht das Heil im Mittelpunkt, das Jesus Christus eröffnet hat123. Diese Verbindung von Buße und Heil passt zu jener Verbindung von Liebe und Buße, die Luther in seinem Widmungsschreiben an Staupitz mit dessen Anregung verbunden hat. Das Bewusstsein eines Umschlagens von Destruktion zu heilvoller Auferbauung, wie es durch die mystische Bußtheologie vorgeprägt war, zeigt sich auch in der Auslegung der sieben Bußpsalmen: „als Ro. 1 Paulus sagt, das im evangelio gottis gnaden und tzorn offenbart wird.Wer das heret recht, der wirt demutig und erschrecket [. . .] Wann das gescheen ist, ßo ists tzeit und eben, das got kome.“124
Wie zentral dieser Zusammenhang mit Luthers Mystiklektüre verbunden war, zeigt auch seine Edition der „Theologia Deutsch“. Kennzeichnend ist die Konzentration auf den Tod Adams in dem Text, den Luther 1516 auf das Titelblatt setzen ließ:
121 WA 9, S.102,10–13: „Und wiewohl wir wissen, dass Gott nur dann an uns handelt, wenn er zuvor uns und das Unsere zerstört hat (nämlich durch Kreuz und Leid), sind wir doch noch so töricht, dass wir nur solche Leiden auf uns nehmen wollen, die wir ausgewählt haben und von denen wir lesen oder sehen, dass sie anderen geschehen sind.“ 122 WA 9, S.102,34–36: „Also besteht das ganze Heil in der Aufgabe des Willens, und zwar, wie er hier lehrt, bei allen Dingen, geistlichen wie weltlichen. Und im bloßen Glauben an Gott.“ Schon Ende des Jahres formulierte Luther etwas vorsichtiger in einer Predigt am 21.12.: „initium salutis est nosse morbum et principium sapientiae timor Dei.“ WA 1, S.114,40f. 123 Dieser positive Zusammenhang wird schon allein daraus deutlich, dass Luther ja die TaulerPredigten ausdrücklich als Darreichung der Süße Christi verstanden wissen wollte. 124 WA 1, S. 201,14–18 (Die sieben Bußpsalmen); vgl. auch WA 1, S. 85,20f. (Predigt vom 21. 9.1516): „Igitur veritas et iustitia, i. e. Christus, non venit, nisi ubi non est“, oder ebd. S.115,2f., nach Ausführungen zur Erkenntnis der eigenen Sündigkeit, der die Gnade folgt: „Gratia autem infundit amorem“ (Predigt am 21.12.1517).
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„Ein geistlich, edles Buchlein von rechter underscheid und vorstand, was der alt und neu mensche sei. Was Adams und was Gottes kind sei. Und wie Adam inn uns sterben unnd Christus ersteen soll.“125
Den Tod des alten Adam und die Auferstehung Christi in uns beschreibt der anonyme Autor vor allem – nach heutiger Zählung – im 15. und 16. Kapitel.126 Gemeint ist bei ihm die Abkehr von der Selbstbezüglichkeit; die nämlich ist nach der „Theologia Deutsch“ die Zentralsünde, weil sie die Abkehr vom Schöpfer bedeutet.127 Und die Abkehr von diesem selbstbezüglichen Ungehorsam bedeutet, so sagt der Autor wörtlich im 16. Kapitel, dass sie „gebusset“ werde128: Das Titelblatt des Erstdrucks, das wohl auf Luther selbst zurückgehen dürfte129, zeigt an, dass in der Tat im Zentrum dieses Buches ein Vorgang stand, den der Autor selbst als Buße bezeichnet hatte – und den Luther nun ganz für seine Theologie aufnehmen konnte. Damit war ein gedanklicher Zusammenhang von mystischer Unmittelbarkeit und Heilsgewinn geschaffen, den Luther in den folgenden Jahren immer wieder bedachte. Eine erste deutliche Außenwirkung entfaltete er in den Ablassthesen, die eben auf der neu entwickelten Bußtheologie aufbauten. Die folgenden Debatten aber brachten eine immer weitere theologische Klärung mit sich. Dabei hat sich zwar die Reflexion Luthers aufgrund des Prozesses und der darin an ihn herangetragenen Fragen immer stärker auf die Frage nach der Kirchenautorität ausrichten müssen – aber auch dies war letztlich nur eine Debatte über die kritischnegative Perspektive der neuen Unmittelbarkeit. Dass Johannes Eck in Leipzig Luther vorhielt, letztlich auf jede kirchliche Vermittlungsinstanz zur Bestimmung der wahren christlichen Lehre zu verzichten, bedeutete eine Anerkenntnis der Unmittelbarkeit Gottes in der Autoritätenfrage. Auch die damit angeschlagene Perspektive war nicht grundsätzlich neu: Schon das Restkirchenmodell der spätmittelalterlichen Kanonistik kannte die Vorstellung, dass die wahre Kirche nur in einzelnen, gar nur in einem einzigen Menschen erhalten bleibe – und damit keine kirchliche Autoritätsinstanz mehr in der Lage sei, über wahr oder falsch zu entscheiden, weil die in ihr handelnden Menschen eben nicht mehr Gott folgten. Luther griff dieses Modell wohl nicht bewusst auf. Aber indem er, von Eck getrieben, erklärte, dass auch ein Konzil irren könne, war der einzelne Gläubige in einen unmittelbaren Verantwortungsbezug zur Wahrheit gestellt. Dieser Hinterfragung autoritativer Bindungen aber entsprach eine, durchaus nach wie vor als mystisch erkennbare Entfaltung der Unmittelbarkeit Gottes in
125 WA 1, S.153. Vgl. zum Tod des inneren Adam als durch das opus alienum herbeigeführte Verzweiflung in WA 1, S.112,33–35 (Predigt vom 21.12.1516). Im folgenden führt Luther aus, dass das opus alienum des „Poenitentiam agite“ unmittelbar mit der Ankündigung des Gottesreiches als opus proprium verbunden ist, WA 1, S.113,28ff.; Predigt vom 21.12.1517. Dieses ist das Vokabular, mit dem er sich Staupitz’ bußtheologischen Hinweis erhellen konnte. 126 Beide Kapitel waren in Luthers Erstdruck enthalten, der Kapitel 7–28 umfasste. 127 ‚Der Franckforter‘ (‚Theologia Deutsch‘), hg. von Wolfgang v. Hinten, München 1982, S. 91,26. 128 Ebd. S. 91,28. 32 und S. 92,35. 129 Luther vermerkt in der Vorrede ausdrücklich, das Buch sei „an titell unnd namen“ (WA 1, S.153).
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der Heilszueignung. Charakteristisch hierfür sind die Schriften des Jahres 1520. Es gibt kaum ein Bild von größerer Unmittelbarkeit als jenes berühmte Brautbild in der Freiheitsschrift, dessen Vorbilder bei Bernhard von Clairvaux und Staupitz sich unmittelbar nahelegen: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam.“130
Wie eng soteriologische Unmittelbarkeit, wie sie in der unio-Metapher überdeutlich ausgedrückt wird, und Hinterfragung der kirchlichen Gegebenheiten ineinander liegen, zeigt die Tatsache, dass die Rede vom allgemeinen Priestertum sich im Jahr 1520 nicht allein in jener oben zitierten Stelle aus der Adelsschrift findet, sondern auch in der Freiheitsschrift: „Ubir das seyn wir priester, das ist noch vil mehr, denn künig sein, darumb, das das priesterthum uns wirdig macht fur gott zu tretten und fur andere zu bitten, Denn fur gottis augen zu stehen und bitten, gepürt niemant denn den priestern.“131
Vor Gott zu treten: Man könnte im vorliegenden Kontext hinzufügen: unmittelbar vor Gott zu treten, das ist das Privileg, das den Christinnen und Christen durch Taufe und Glaube gegeben ist – sie haben eben jene Unmittelbarkeit erlangt, die im Mittelalter einem Stand vorbehalten war. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum war der zentrale Gedanke, der überhaupt erst Reformation ermöglichte. Er motivierte die Träger bürgerlicher und herrschaftlicher Macht, eine reformatorische Umgestaltung auch ohne kirchliche Autorität anzugehen – genau hierzu hatte Luther ihn in der Adelsschrift verwendet. Insofern man hier von „Umsturz“ reden kann132, zeigt sich, wie verschlungen die Stränge reformatorischer Entwicklung waren: der Gedanke der Unmittelbarkeit, bis hin zum Aufgreifen des Priesterbegriffs für Glaubende jenseits des geweihten Klerus, entstammt einer mittelalterlichen Traditionslinie der Immediatisierung. Im 14. und 15. Jahrhundert aber war diese, wenn auch, wie das Schicksal Meister Eckharts oder vieler Beginen zeigt, gefährdet, doch im Großen und Ganzen Teil einer kirchlichen und gesellschaftlichen Welt geblieben, die gelernt hatte, mit weitreichenden Polaritäten zu leben. In der sich steigernden Dynamik von Luthers theologischer Entwicklung und der kirchenamtlichen Bewältigung der „Causa Lutheri“ Anfang des 16. Jahrhunderts aber gewann sie eine Kraft, die letztlich zu einer Absage an die bisherige Kirche und dem Aufbau neuer, reformatorischer Kirchen führte.
130 131 132
WA 7, S. 25,26–28. WA 7, S. 28,6–9. Volker Leppin: Martin Luther, 2. Aufl., Darmstadt 2010, S.156.
Andreas Zecherle
Die Verantwortung der Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums aus der Sicht Luthers und seiner Anhänger Aspekte der frühen Diskussion im Spannungsfeld von Immediatisierung und Remediatisierung
1. Einleitung Die forcierte Immediatisierung des Gottesverhältnisses aller Gläubigen durch die reformatorische Lehre vom allgemeinen Priestertum1 hatte zur Konsequenz, dass die Frage, inwieweit die weltliche Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums verantwortlich ist, auf neuer Grundlage zu beantworten war. Im Folgenden soll anhand von ausgewählten Positionen aus den Jahren 1520 bis 1530 dargestellt werden, welche Maßnahmen die Obrigkeit nach der Ansicht verschiedener Vertreter der lutherischen Reformation zur Förderung oder Reglementierung der Verkündigung des Evangeliums ergreifen darf, kann und muss. Besondere Beachtung soll dabei ein spezieller Aspekt des Spannungsverhältnisses von göttlicher Unmittelbarkeit und menschlicher Vermittlung finden: Wie bestimmen die verschiedenen Autoren das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren Handeln Gottes in den einzelnen Personen und menschlicher Mithilfe seitens der Obrigkeit? Welche Bereiche sind ihrer Meinung nach der Obrigkeit entzogen, weil sie dem unmittelbaren Wirken Gottes vorbehalten sind?
2. Die spätmittelalterliche Ausgangslage Zunächst soll kurz auf die spätmittelalterliche Ausgangslage eingegangen werden, die hier nur in ihren Grundzügen skizziert werden kann. Die seit karolingischer Zeit bestehende Vorstellung, dass die weltliche Gewalt über die römische Kirche eine Schirmvogtei ausübe, zu der auch das Vorgehen gegen Ketzer gehört,2 war
1
Vgl. den Beitrag von Volker Leppin in diesem Band. Vgl. Arno Borst: Der mittelalterliche Streit um das weltliche und das geistliche Schwert, in: Walther Peter Fuchs (Hg.): Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart u. a. 1966 (= Geschichte und Gegenwart), S. 34–52, hier: S. 35; Bernd Christian Schneider: Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Tübingen 2001 (= Jus ecclesiasticum 68), S. 23. Die Ausführungen Schneiders über Alkuin sind allerdings missverständlich. 2
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im Spätmittelalter allgemein anerkannt. Umstritten war allerdings, welche Rechte und Pflichten die weltliche Gewalt aufgrund dieser Schirmvogtei hat.3 Nach der kurialistischen Position, wie sie sich in der Bulle „Unam Sanctam“ von 1302 findet, hatte Christus dem Papst nach Lk. 22,38 das geistliche und das weltliche Schwert anvertraut. Dieser gab letzteres an die ihm untergeordnete weltliche Obrigkeit weiter, die es in seinem Auftrag zu führen hat.4 Die Obrigkeit muss demnach für die Exekution der päpstlichen Urteile sorgen und trägt dadurch Verantwortung für die Verkündigung des rechten Glaubens. Demgegenüber betonten Vertreter einer antikurialistischen Auffassung, dass die weltliche Gewalt unmittelbar von Gott eingesetzt wurde und dass sie im Notfall, das heißt bei einem offenkundigen Versagen des Papstes, zu Eingriffen in die Kirche berechtigt sei, wobei dieses Recht teils explizit mit der kaiserlichen Kirchenvogtei begründet wird.5 Diese wird dabei nicht als päpstliche Inpflichtnahme der weltlichen Gewalt, sondern im Sinne einer Verantwortung für die Reform der Kirche verstanden.6 Im Zuge der Territorialisierung beanspruchten im späteren 15. Jahrhundert auch die Fürsten eine solche allgemeine Schirmvogtei über die Kirche in ihrem Herrschaftsgebiet. Die allgemeine Schirmvogtei überlagerte dann auch zunehmend die von den Fürsten angehäuften speziellen und damit eigentlich eng umgrenzten Vogtei- und Patronatsrechte.7 Um tiefgreifendere Reformen im Bereich der kirchlichen Disziplin mit kirchenrechtlicher Legitimation durchführen zu können, bemühten sich viele Fürsten in ihrer Funktion als Schirmvögte um umfassende Reformprivilegien. Diese wurden ihnen im 15. Jahrhundert vom päpstlichen Stuhl in großer Zahl gewährt, weil die Päpste bedeutendere Fürsten aus politischen Gründen nicht verstimmen wollten.8 Auch die Reichsstädte strebten danach, ein obrigkeitliches Kirchenregiment zu errichten, obwohl sie formaljuristisch zumeist über weit weniger Eingriffsrechte als die größeren Landesherren verfügten.9 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich im 15. Jahrhundert die Obrigkeiten zunehmend auch für kirchliche Belange verantwortlich fühlten und die Tendenz zur Ausbildung eines obrigkeitlichen Kirchenregiments zu beobachten ist. 3
Vgl. zusammenfassend Schneider: ebd., S. 28. Vgl. Volker Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 26), S. 54–67. Zur Bestätigung der Bulle auf dem Fünften Laterankonzil vgl. ebd., S.140–142. 5 Vgl. ebd., S. 40–54; 76–80; 84–106; 120f.; 134–136; 139; 142; 153f.; Schneider: Ius Reformandi (wie Anm. 2), S. 24–28. 6 Vgl. ebd., S. 26–28. 7 Vgl. ebd., S.16–22; 28f.; 33–41. Zu einzelnen fürstlichen Reformmaßnahmen im kirchlichen Bereich vgl. auch Manfred Schulze: Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 2). 8 Vgl. Schneider: Ius Reformandi (wie Anm. 2), S. 30–40 und 47. 9 Vgl. Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation, bearbeitete Neuausgabe, Berlin 1987, S.12– 15 und 74f.; Berndt Hamm: Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, S. 68f.; Schneider: Ius Reformandi (wie Anm. 2), S. 41–44. 4
Die Verantwortung der Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums
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3. Luthers Adelsschrift An diese Entwicklung knüpft Luther in seiner Adelsschrift aus dem Jahr 152010 an, indem er sich angesichts der kirchlichen Missstände mit der Bitte um Hilfe an den Adel wendet.11 Luther gesteht zwar zu, dass es dem geistlichen Stand „billicher geburt“12, die notwendigen kirchlichen Reformen durchzuführen, die Geistlichen haben aber versagt und kommen dieser Aufgabe nicht nach.13 Gegen die kurialistische Überordnung der geistlichen Gewalt über die weltliche14 betont Luther das Priestertum aller Gläubigen. Die Aufgabe der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung wird zwar von der Gemeinde15 einzelnen Personen übertragen,16 alle Christen sind aber durch die Taufe wahrhaftig geistlichen Stands.17 Alle Gläubigen sind daher auch zur Auslegung der Heiligen Schrift18 und zur Einberufung eines Konzils19 befugt. Durch den Gedanken eines allgemeinen Priestertums, der sich in der spätmittelalterlichen Gravamina-Tradition noch nicht findet,20 postuliert Luther somit eine grundlegende Immediatisierung des Gottesverhältnisses aller Christen. Die Obrigkeit hat wie alle Gläubigen am allgemeinen Priestertum Anteil. Angesichts der Notlage, in der sich die Kirche wegen des Versagens der Geistlichen befindet, ist sie aufgrund der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in besonderer Weise dazu geeignet, für die Einberufung eines Konzils zu sorgen: „Darumb, wa es die not foddert und der bapst ergerlich der Christenheit ist, sol dartzu thun wer am ersten kan, als ein trew glid des gantzen corpers, das ein recht frey Concilium werde, wilch niemandt so wol vormag als das weltlich schwert, sonderlich die weyl sie nu auch mitchristen sein, mitpriester, mitgeystlich, mitmechtig in allen dingen, und sol yhre ampt und werck, das sie von got haben ubir yderman, lassen frey gehen, wo es not und nutz ist zugehen.“21
Es handelt sich also um eine durch das allgemeine Priestertum begründete Nothilfe der weltlichen Obrigkeit.22 Diese soll über Fragen, die unmittelbar den geistlichen Bereich betreffen, wie zum Beispiel die Reform des Papsttums,23 nicht
10 Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung – Editionen: WA 6, S. 404–469 (Nr. 381); StA 2, S. 96–167 (Nr. 87). 11 Vgl.WA 6, S. 404,12–16; 405,12–20. 12 Ebd., S. 404,16. 13 Vgl. ebd., S. 404,12–16. 14 Vgl. ebd., S. 406,23–26. 15 Vgl. ebd., S. 408,13–17. 16 Vgl. ebd., S. 407,14f.; 408,26–28; 409,1–4. 17 Vgl. ebd., S. 407,13–408,7. 18 Vgl. ebd., S. 412,20–38. 19 Vgl. ebd., S. 413,27–414,3. 20 Vgl. Mantey: Zwei Schwerter (wie Anm. 4), S. 203. 21 WA 6, S. 413,27–33. 22 Vgl. auch ebd., S. 408,8–11. 23 Vgl. ebd., S. 436,37f.
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etwa selbst befinden, sondern sich um die Einberufung eines Konzils kümmern, auf dem diese Fragen dann entschieden werden sollen.24 Darüber hinaus betont Luther, dass die Geistlichen in weltlichen Dingen ebenso wie alle anderen Personen der Strafgewalt der weltlichen Obrigkeit unterstehen.25 Den Adel hält er daher auch für befugt, gegen die finanzielle Ausbeutung durch Rom vorzugehen, indem er beispielsweise die Zahlung der Annaten gesetzlich verbietet und die sogenannten päpstlichen Monate abschafft, da es sich hier nach Luthers Meinung um Fälle von Raub und Diebstahl handelt.26 Die Aufgaben der Geistlichen und der weltlichen Obrigkeit werden somit in der Adelsschrift der Sache nach bereits deutlich unterschieden.27 Falls die Geistlichen ihren Aufgaben nicht nachkommen, hat die Obrigkeit in geistlichen Fragen eine Verpflichtung zur Nothilfe, die in der Einberufung eines Konzils besteht. Diese Verpflichtung gründet im allgemeinen Priestertum und gilt daher grundsätzlich für alle Christen. Die Verantwortung der Obrigkeit für die Verkündigung des Evangeliums unterscheidet sich also nicht kategorial von der der übrigen Gläubigen. Da Luther mit der Adelsschrift die Obrigkeiten zum Eingreifen ermuntern möchte, betont er in ihr allerdings noch nicht so nachdrücklich die Grenzen der weltlichen Gewalt.
4. Luthers Obrigkeitsschrift Im Vorfeld von Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“28 aus dem Jahr 1523 hatten mehrere altgläubige Fürsten von ihren Untertanen unter Strafandrohung die Ablieferung von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments verlangt.29 Luther reagiert darauf, indem er nun, seine Aussagen in der Adelsschrift ergänzend, klarstellen will, welche Grenzen der obrigkeitlichen Gewalt gesetzt sind.30 In seiner Obrigkeitsschrift unterscheidet Luther zwei Reiche, das Reich Gottes und das Reich der Welt.31 Den beiden Reichen ordnet er zwei Regimente 24 Vgl. auch Karl Holl: Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, Tübingen 1911 (= Erstes Ergänzungsheft zur Zeitschrift für Theologie und Kirche 1911), S. 2–4; Christopher Spehr: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010 (= Beiträge zur historischen Theologie 153), S. 208–210. 25 Vgl.WA 6, S. 409,11–410,19; 434,6–9. 26 Vgl. ebd., S. 419,9–420,11; vgl. auch Holl: Luther (wie Anm. 24), S. 2–5. 27 Vgl. z. B.WA 6, S. 409,1–5; vgl. auch Holl: Luther (wie Anm. 24), S. 2–12. 28 Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei – Editionen: WA 11, S. 245–281 (Nr. 229); StA 3, S. 31–71 (Nr. 27). 29 Vgl. WA 11, S. 246,23–28; 267,14–16 mit Anm.1; vgl. auch Mantey: Zwei Schwerter (wie Anm. 4), S. 233f. 30 Vgl.WA 11, S. 246,17–23. 31 Vgl. ebd., S. 249,24–35; 251,1–11. Zur umfangreichen und kontroversen Forschungsdiskussion über die Zwei-Reiche-Lehre vgl. zusammenfassend Reiner Anselm: Art. Zweireichelehre. I. Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 36 (2004), S. 776–784 (mit Literatur). Aus der Forschung seit 2004 vgl. Mantey: Zwei Schwerter (wie Anm. 4); Volker Leppin: Das Gewaltmono-
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zu,32 die beide von Gott eingesetzt sind,33 aber jeweils unterschiedliche Aufgaben haben, nämlich „das geystliche, wilchs Christen unnd frum leutt macht durch den heyligen geyst unter Christo, unnd das welltliche, wilchs den unchristen und bo(e)ßen weret, daß sie eußerlich mu(e)ssen frid hallten und still seyn on yhren danck“34. Das weltliche Regiment erstreckt sich nur über Äußerliches, also über Leib und Gut,35 und wird von der weltlichen Obrigkeit im Auftrag Gottes mit der Zwangsgewalt des Schwertes ausgeübt.36 Die Seele untersteht ausschließlich dem geistlichen Regiment, das Gott selbst durch den Geist und das Wort37 ausübt: „Denn uber die seele kan und will Gott niemant lassen regirn denn sich selbs alleyne.“38 Die Obrigkeit darf sich daher in diesem Bereich keine Kompetenzen anmaßen: „Darumb wo welltlich gewallt sich vermisset, der seelen gesetz zu(o) geben, do greyfft sie Gott ynn seyn regiment und verfuret und verderbet nur die seelen.“39 Luther betont somit, dass Gott das geistliche Regiment selbst ausübt, während das weltliche durch Menschen in seinem Auftrag ausgeübt wird.40 Die beiden Regimente unterscheiden sich also durch den Grad der Vermittlung des göttlichen Handelns. Zwar wirkt Gott im geistlichen Regiment durch das Medium des Wortes, das der Verkündigung durch Menschen bedarf, sodass Luther auch davon sprechen kann, dass die Geistlichen die Seelen durch das Wort regieren sollen.41 Das Ziel des geistlichen Regiments, die Stiftung und Bewahrung des Glaubens im einzelnen Menschen, kann aber durch kein menschliches Tun, sondern nur durch das unmittelbare Wirken Gottes im Geist erreicht werden. Bei der Verhinderung und Bestrafung böser Taten durch äußeren Zwang handeln hingegen Menschen als „Gottis diener und handwercks leutt“42. Sie sorgen durch ihr Tun, bei dem sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen sollen,43 für die Erfüllung ihrer Aufgabe, bleiben dabei aber an Gottes Wort gebunden, das ihren Auftrag definiert.44 pol der Obrigkeit. Luthers sogenannte Zwei-Reiche-Lehre und der Kampf zwischen Gott und Teufel, in: Andreas Holzem (Hg.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens, Paderborn u. a. 2009 (= Krieg in der Geschichte 50), S. 403–414. 32 Zur von Luther nicht völlig klar durchgeführten Unterscheidung von „Reich“ und „Regiment“ vgl. ebd., S. 403–409. 33 Vgl.WA 11, S. 251,15. 34 Ebd., S. 251,15–18. 35 Vgl. ebd., S. 262,7–9; 265,12f.; 265,28–266,32. 36 Vgl. ebd., S. 251,2–11; 262,3–5. 37 Vgl. ebd., S. 251,15f.; 258,20–25; 263,3–6. 38 Ebd., S. 262,9f.; vgl. auch ebd., S. 263,3–25. 39 Ebd., S. 262,10–12. 40 Vgl. auch Eike Wolgast: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 47), S. 41 und 46. 41 Vgl.WA 11, S. 265,10f. 42 Ebd., S. 258,8f. 43 Vgl. ebd., S. 272,6–24; 278,21–23; vgl. auch Wolgast: Die Wittenberger Theologie (wie Anm. 40), S. 62–64; Mantey: Zwei Schwerter (wie Anm. 4), S. 255. 44 Vgl.WA 11, S. 247,21–248,31; 273,34–36; vgl. auch Wolgast: Die Wittenberger Theologie (wie Anm. 40), S. 46f.; Berndt Hamm: Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschreiber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube. Mit einer Edition von Gudrun Litz, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 25), S. 210.
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Im Zuge der Unterscheidung von weltlichem und geistlichem Regiment entlastet Luther die Obrigkeiten von der Verantwortung für den Glauben ihrer Untertanen, indem er diese dem Einzelnen zuweist: „Auch ßo ligt eym iglichen seyne eygen fahr dran, wie er glewbt, und muß fur sich selb sehen, das er recht glewbe. Denn so wenig als eyn ander fur mich ynn die helle odder hymel faren kan, so wenig kan er auch fur mich glewben oder nicht glewben, und so wenig er myr kan hymel oder hell auff odder zu(o) schliessen, ßo wenig kan er mich zum glawben oder unglawben treyben.Weyl es denn eym iglichen auff seym gewissen ligt, wie er glewbt odder nicht glewbt, und damit der welltlichen gewallt keyn abbruch geschicht, sol sie auch zu(o) friden seyn und yhrs dings wartten und lassen glewben sonst oder so, wie man kan unnd will, und niemant mit gewallt dringen. Denn es ist eyn frey werck umb den glawben, datzu man niemandt kan zwingen. Ya es ist eyn gottlich werck ym geyst, schweyg denn das es eußerliche gewallt sollt erzwingen und schaffen.“45
Gott wirkt den Glauben also unmittelbar selbst durch den Geist; ein anderer Mensch und damit auch die Obrigkeit kann und darf sich dabei nicht als vermeintlicher Vermittler durch die Ausübung von Zwang in die Beziehung zwischen Gott und dem Einzelnen hineindrängen. Gerade im Hinblick auf anders lautende spätere Äußerungen Luthers ist es von großer Bedeutung, dass er in der Obrigkeitsschrift auch den öffentlichen Diskurs über religiöse Fragen zum geistlichen Regiment Gottes rechnet, in das die Obrigkeit nicht eingreifen darf. Dies zeigen die folgenden zwei Argumentationslinien: Erstens betont Luther, dass die Obrigkeit nicht Anlass zur Heuchelei geben darf. Durch Gebote, die sich auf den Bereich des Glaubens erstrecken, können die Obrigkeiten, wie er hervorhebt, allenfalls äußerlichen Gehorsam erzwingen, den Glauben im Herzen aber nicht. Selbst wenn die Untertanen irren, verschlimmern solche obrigkeitlichen Zwangsmaßnahmen die Situation, da sie die Schwachen zur Heuchelei treiben, sodass sie anderes sagen, als sie eigentlich glauben. Dies ist eine schwere Sünde, die auf den zurückfällt, der Druck ausübt.46 Zweitens wendet sich Luther explizit gegen die folgende Auffassung: Eine Obrigkeit dürfe durch äußerliche Maßnahmen verhindern, dass ihre Untertanen von Irrlehrern verführt werden, zumal dadurch niemand zum Glauben gezwungen werde. Luther entgegnet, dass die Bekämpfung der Ketzerei nicht Aufgabe der Fürsten, sondern der Geistlichen ist,47 die mit dem Wort streiten sollen: „Gottis wort soll hie streytten, wenns das nicht auß richt, ßo wirtts wol unaußgericht bleyben von welltlicher gewallt, ob sie gleych die wellt mit blu(o)tt fu(e)llet. Ketzerey ist eyn geystlich ding, das kan man mitt keynem eyßen hawen, mitt keynem fewr verbrennen, mitt keynem wasser ertrencken. Es ist aber alleyn das Gottis wortt da, das thutts, wie Paulus sagt 2. Cor: .10[,4f.]. ‚Unser waffen sind nicht fleyschlich, ßondern mechtig ynn Gott, zu(o) versto(e)ren allen radt unnd ho(e)he, so sich widder Gottis erkentnis auff lehenet, und nemen gefangen allen synn unter den dienst Christi‘.“48 45 46 47 48
WA 11, S. 264,11–22. Vgl. ebd., S. 264,24–265,3. Vgl. ebd., S. 268,19–24. Ebd., S. 268,24–32.
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Luther fordert also dazu auf, in der Auseinandersetzung mit Irrlehrern auf sowieso nutzlose obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen zu verzichten und darauf zu vertrauen, dass Gott durch sein Wort wirkt und in den einzelnen Menschen den rechten Glauben schafft.49 Zudem weist er darauf hin, dass die Anwendung von Gewalt die Ketzer bestärkt und die eigene Position diskreditiert.50 Luther betont zwar, dass man beide Regimente deutlich voneinander unterscheiden muss,51 er hebt aber auch hervor, dass sie beide aufeinander angewiesen sind: Das weltliche Regiment kann den Glauben nicht vermitteln; dies vermag nur Christus selbst durch den Heiligen Geist.52 Aufgrund der Bosheit der meisten Menschen ist auch die obrigkeitliche Schwertgewalt unabdingbar notwendig, da sonst niemand in Frieden leben und Gott dienen könnte.53 Indem die Obrigkeit die Bösen durch Zwang im Zaum hält, schafft sie also die Voraussetzungen dafür, dass ein Überleben der Christen möglich ist und das Wort Gottes verkündigt werden kann.54 Von einer weiter gehenden Verantwortung der Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums ist in der Obrigkeitsschrift nicht die Rede. Hier wird die Situationsgebundenheit dieses Textes deutlich: Luther wird kaum die Absicht gehabt haben, eine Nothilfefunktion der Obrigkeit in Fragen der Kirchenreform nunmehr kategorisch abzulehnen, zumal er sein Werk als Ergänzung zur Adelsschrift versteht.55 Konfrontiert mit den fürstlichen Mandaten, die seine Bibelübersetzung verboten, wollte Luther aber in „Von weltlicher Obrigkeit“ die Grenzen betonen, die der Obrigkeit in Glaubensangelegenheiten gesetzt sind. Im Folgenden soll nun am Beispiel einer Debatte, die im Frühjahr 1530 in Nürnberg begann, dargestellt werden, wie die Aussagen Luthers über die Unterscheidung der beiden Regimente in der Folgezeit rezipiert und auch von ihm selbst modifiziert wurden.
5. Georg Frölich Angesichts des obrigkeitlichen Vorgehens gegen die Täufer56 verfasste ein in den Quellen namentlich nicht genannter Autor, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den Nürnberger Kanzleischreiber Georg Frölich handelt, im Frühjahr 1530 ein Gutachten mit dem folgenden Titel: „Ob ein weltliche ober49
Vgl. auch ebd., S. 269,14f. Vgl. ebd., S. 268,33–269,14. 51 Vgl. auch ebd., S. 252,12–14. 52 Vgl. ebd., S. 252,14–21. 53 Vgl. ebd., S. 251,1–252,11; 252,21–23. 54 Vgl. auch Peter Manns: Luthers Zwei-Reiche- und Drei-Stände-Lehre, in: Erwin Iserloh/Gerhard Müller (Hg.): Luther und die politische Welt.Wissenschaftliches Symposion in Worms vom 27. bis 29. Oktober 1983, Stuttgart 1984 (= Historische Forschungen 9), S. 3–26, hier: S.10. 55 Vgl.WA 11, S. 246,17–23. 56 Im Frühjahr 1530 war in Nürnberg insbesondere der Fall des Täuferpredigers Bartholomäus Friedrich aktuell, der seit August 1528 eingekerkert war, den geforderten Widerruf verweigerte und sich Anfang März 1530 in einem Hungerstreik befand; vgl. Gottfried Seebaß: An sint persequendi 50
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keit recht habe, in des glaubens sachen mit dem schwerdt zu handeln“.57 Frölich übergab seinen Text vertraulich dem Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler,58 seinem unmittelbaren Vorgesetzten.An diesen schrieb er dann im Verlauf der anschließenden Diskussion noch einen kurzen Brief 59, in dem er seine Position weiter präzisierte. In seinem Gutachten und in dem Brief an Spengler tritt Frölich dafür ein, dass eine Obrigkeit in ihrem Territorium Anhänger verschiedener Glaubensrichtungen dulden und ihnen umfassende Kultfreiheit gewähren sollte. Er wendet sich gegen die verbreitete, mit alttestamentlichen Schriftstellen begründete Auffassung, dass eine Obrigkeit ihre Untertanen nicht nur vor Schäden an Leib und Gut, sondern insbesondere auch vor der Verführung durch Irrlehrer schützen müsse, und beruft sich dabei auf die Zwei-Reiche-Lehre Luthers, die er mit dem seiner Ansicht nach allein maßgeblichen Neuen Testament belegt.60 Wie Luther in der Obrigkeitsschrift betont Frölich nachdrücklich, dass die beiden Reiche und somit auch die ihnen zugeordneten Regimente zu unterscheiden sind.61 Im geistlichen Reich streitet Christus selbst, „nit die weltlich oberkeit fur ine“62, und zwar allein mit dem Wort.63 Wenn eine Obrigkeit in Glaubensfragen Gewalt anwendet, so greift sie unrechtmäßig in das Reich Christi ein.64 Zudem ist ein solches Vorgehen nicht nur unrechtmäßig, sondern auch nutzlos: „Aber zu zwingen, diesem oder jhenem glauben anzuhangen, da ist doch das schwerdt ja kein nütz zw, und muß zuletzt, man hencke oder trencke, yederman die wale gelassen werden, welcher gein hymel nit will, das er in die helle zum teuffel oder seiner mutter fare.“65 Durch Gewalt erreicht eine Obrigkeit vielmehr das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hat, da Martyrien die Anziehungskraft der verfolgten Gruppierungen haeretici? Die Stellung des Johannes Brenz zur Verfolgung und Bestrafung der Täufer, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 70 (1970), S. 40–99, hier: S. 58f.; Hans-Dieter Schmid: Täufertum und Obrigkeit in Nürnberg, Nürnberg 1972 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 10), S. 47–49; Ingeborg Hoffmann: Einleitung, in: Andreas Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe, Band 3: Schriften und Briefe 1528 bis April 1530, hg. von Gerhard Müller/Gottfried Seebaß, Gütersloh 1979, S. 617–619. 57 Edition: Lazarus Spengler: Schriften, Band 3: Schriften der Jahre Mai 1529 bis März 1530, hg. und bearbeitet von Berndt Hamm/Felix Breitling/Gudrun Litz/Andreas Zecherle, Gütersloh 2010 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 84), S. (365)377–390, Nr.143. Zur Begründung der These, dass Frölich der Verfasser des Gutachtens ist, und zur Biographie Frölichs vgl. ebd., S. 367–371. 58 Vgl. Schmid: Täufertum (wie Anm. 56), S. 286f. 59 Edition: Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. (401)402–403, Nr.148. Der Brief ist ebenso wie das Gutachten anonym überliefert, er stammt aber höchstwahrscheinlich von demselben Verfasser; vgl. ebd., S. 372f., Anm. 66. 60 Vgl. ebd., S. 377,3–382,22. Zur Bezugnahme auf Luther vgl. auch ebd., S. 366, Anm.13. 61 Vgl. ebd., S. 379,12–380,11. 62 Ebd., S. 381,1. Die zitierte Aussage macht Frölich im Rahmen einer Exegese von Jes. 11,4.Wie dieses und das folgende Zitat aus dem Danielbuch zeigen, sind die Propheten, deren Aussagen als Ankündigung Christi verstanden werden, offenbar von Frölichs pauschal formulierter Ablehnung des Alten Testaments als Argumentationsgrundlage ausgenommen; vgl. ebd., S. 380,24–381,10. 63 Vgl. ebd., S. 379,16f.; 380,3–11; 380,22–381,10. 64 Vgl. ebd., S. 382,20–22; 388,13–15. 65 Ebd., S. 382,5–9; vgl. auch ebd., S. 382,15–20; 386,20–23.
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erhöhen.66 Wie Luther in der Obrigkeitsschrift betont auch Frölich, dass Christus selbst durch das Wort den rechten Glauben verleiht und die Ketzerei überwindet.67 Über Luthers Obrigkeitsschrift hinausgehend entwirft Frölich in seinem Brief an Spengler recht detailliert die Vorstellung von einem Territorium, in dem mehrere religiöse Gruppierungen in friedlicher Koexistenz ihren Glauben öffentlich ausüben. Er plädiert dafür, dass „cristen, Juden, widertauffer etc., ein ider teil frey stee, sein lere und ceremonien, die er fur recht helt und dadurch er zu Got zu komen verhoft, unverhindert zu treyben, doch an underschidlichen orten, nemlich die cristen in irn kirchen und die widertauffer und Juden ider in seinen dartzu verordneten hewsern oder sinagogen“68. Die Obrigkeit soll mit dem Schwert die allgemeine Geltung der Kultfreiheit sicherstellen, indem sie beispielsweise dann eingreift, wenn eine Religionsgemeinschaft eine andere mit Gewalt an der Ausübung ihres Gottesdienstes hindern will.69 Konversionen sind zu gestatten.70 Derartige Ausführungen finden sich bei Luther nicht. Vermutlich hatte er bei der Abfassung der Obrigkeitsschrift noch die Hoffnung, dass sich Irrlehren durch eine rechte Verkündigung des Gotteswortes weitgehend eindämmen lassen.71 Eine solche Zuversicht ist jedenfalls in seinem „Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist“ aus dem Jahr 1524 deutlich spürbar.72 Hierin ebenfalls Luthers Obrigkeitsschrift ergänzend versucht Frölich in seinem Gutachten nachzuweisen, dass die Gewährung religiöser Toleranz nicht nur theologisch geboten, sondern auch politisch vorteilhaft ist. Die Verfolgung religiöser Dissidenten veranlasst diese, so argumentiert Frölich, zur Konspiration gegen die Obrigkeit,73 während die Duldung verschiedener Glaubensrichtungen Aufruhr verhindert und für inneren Frieden sorgt.74 Zudem darf eine Obrigkeit, die Gottes Reich unangetastet lässt, darauf vertrauen, dass Gott sie erhält.75 Schließlich warnt Frölich nachdrücklich vor den längerfristigen Folgen der Bestrafung der jeweils Andersgläubigen.Wird nämlich Gewalt als legitimes Mittel zur Ausrottung des falschen Glaubens anerkannt, so ist zu befürchten, dass es eines Tages zu äußerst blutigen Religionskriegen zwischen verschiedenen Obrigkeiten kommen wird.76 66
Vgl. ebd., S. 387,21–388,17. Vgl. ebd., S. 381,25–382,2; 382,13–15. 68 Ebd., S. 402,9–13. 69 Vgl. ebd., S. 403,3–15. 70 Vgl. ebd., S. 403,16–21. 71 Vgl. WA 11, S. 268,19–32; 269,14–19; vgl. auch Rochus Leonhardt: Glaubensgewissheit und Religionsfreiheit. Zur religionspolitischen Ambivalenz des reformatorischen Erbes, in: Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, hg. von Antonius Liedhegener/Ines-Jacqueline Werkner, Wiesbaden 2010 (= Politik und Religion), S. 98–125, hier: S.106. 72 Vgl. WA 15, S. 218,17–219,4; vgl. auch Joseph Lecler: Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, Band 1, Stuttgart 1965, S. 239. 73 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 385,3–8. 74 Vgl. ebd., S. 389,7–15; vgl. auch Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 275 und 277. 75 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 385,18–386,7; 389,16–390,7. 76 Vgl. ebd., S. 390,8–13. 67
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Frölich gesteht einer christlichen Obrigkeit durchaus zu, dass sie sich für die Ausbreitung ihres Glaubens einsetzt. Sie darf dies seiner Ansicht nach jedoch nicht in ihrer Funktion als Obrigkeit tun: „Will aber ein oberkeit ye christ sein und Christo sein reich fürdern, das mag sie thun fur ir person, aber ir ampt bleibt gleichwol einen weg als den andern.“77 Dies bedeutet für Frölich vor allem, dass eine Obrigkeit zur Bekehrung Andersgläubiger keine Gewalt einsetzen, sondern ausschließlich mit dem Wort streiten darf.78 Innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft räumt er der Obrigkeit allerdings weit reichende kirchenordnende Kompetenzen ein. Sie dürfe dort Visitationen durchführen, die Gestaltung der Zeremonien vorschreiben sowie die Prediger ein- und absetzen.79 Weshalb der Obrigkeit dies zusteht, begründet Frölich nicht, was Spengler gegenüber auch nicht erforderlich war. Nachdrücklich hebt er aber hervor, dass die Obrigkeit in Lehre und Gottesdienst der anderen Religionsgemeinschaften nicht eingreifen darf.80 Anders als in Luthers Obrigkeitsschrift vorgesehen, kann also die Obrigkeit in Frölichs Konzeption neben ihrem eigentlichen Amt auch eine kirchenleitende Funktion übernehmen, sie muss jedoch zwischen ihren beiden Rollen klar unterscheiden. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass Frölich, ausgehend von der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, ein theologisch und politisch begründetes Gesellschaftsmodell entwarf, das umfassende Kultfreiheit vorsah, zugleich aber der Obrigkeit weit reichende Möglichkeiten einräumte, gewaltlos für die Verbreitung des Evangeliums zu sorgen.
6. Lazarus Spengler Mit seinem Plädoyer für religiöse Toleranz forderte Frölich seinen Vorgesetzten, den Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler, heraus, indem er behauptete, dass die von Spengler mitgetragene Kirchenordnungspolitik des Nürnberger Rates nicht legitim sei. Spengler hatte durchaus Luthers Unterscheidung zweier Reiche und der ihnen zugeordneten Regimente übernommen und in seinen Texten längere Passagen aus dessen Obrigkeitsschrift zitiert,81 darunter auch solche, die betonen, dass nur
77
Ebd., S. 382,22–24. Vgl. ebd., S. 382,24–383,4. 79 Vgl. ebd., S. 382,26–383,1; 402,5–7. 80 Vgl. ebd., S. 402,7–403,2. 81 Vgl. Lazarus Spengler: Schriften, Band 1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525, hg. und bearbeitet von Berndt Hamm/Wolfgang Huber, Gütersloh 1995 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 61), S. 380,5–21; 387,21–388,20 (Verantwortung und Auflösung 1523); Lazarus Spengler: Schriften, Band 2: Schriften der Jahre September 1525 bis April 1529, hg. und bearbeitet von Berndt Hamm/Wolfgang Huber/Gudrun Litz, Gütersloh 1999 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 70), S. 81,3–84,11; 86,14–88,24; 95,22–96,13 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526); vgl. auch Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 209f. 78
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Gott selbst über die Seele regieren darf.82 Der differenzierende Aspekt der ZweiReiche-Lehre ist für den Ratsschreiber in dreierlei Hinsicht bedeutsam: Erstens darf eine Obrigkeit nicht in das Reich Christi eingreifen, indem sie die Verbreitung von Gottes Wort verbietet oder es durch menschliche Vorschriften verändern will.Wenn sie dies tut, gebührt ihr insofern kein Gehorsam. Diesen Aspekt betont Spengler angesichts von antireformatorischen Maßnahmen altgläubiger Obrigkeiten.83 Zweitens ist nach seiner Überzeugung der innere Bereich des Gewissens dem Einfluss der Obrigkeit entzogen, weil der Glaube nicht durch Zwang, sondern nur von Gott selbst geschaffen werden kann.84 Gott hat sich, so Spengler, die Herrschaft über die Gewissen „alls das furnemst stück seines reichs allain vorbehallten“85. Drittens dürfen Irrlehrer nicht mit dem Tod bestraft werden, da der Obrigkeit in Glaubensangelegenheiten der Gebrauch des Schwertes verboten ist.86 Der Begriff „Schwert“ bedeutet dabei Spenglers Interpretation zufolge nur die Todesstrafe, nicht aber andere Zwangsmaßnahmen wie Verbote und Landesverweisungen.87 Mit solchen Methoden darf und muss eine evangelische Obrigkeit einschreiten, sobald eine abweichende Glaubensüberzeugung kommuniziert wird, da der Schutz der Untertanen vor Verführung eine obrigkeitliche Aufgabe ist.88 Zeremonien und Kult gehören nach Spenglers Ansicht nicht zum geistlichen Reich.89 Letztlich bleibt einer evangelischen Obrigkeit somit lediglich der ihr ohnehin nicht zugängliche innere Bereich des Gewissens, der edelste Teil des Reiches Gottes, entzogen. Die Mitteilung der eigenen Glaubensüberzeugung rechnet Spengler zwar offenbar noch zum geistlichen Reich, durch seine Umdeutung des Begriffes „Schwert“ hat dies aber nur zur Folge, dass Irrlehrer nicht mit dem Tod bestraft werden dürfen. Generell plädiert Spengler für ein intensives Zusammenwirken der beiden Regimente. So betont er in einem Brief an Johannes Brenz: „Es ist ye das gaistlich 82 Vgl. Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 81), S. 380,11–17 (Verantwortung und Auflösung 1523); Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 81,17f. (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 83 Vgl. Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 81), S. 377,11–380,21 (Verantwortung und Auflösung 1523); Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 90,25–91,24; 95,22–96,13 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526); Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 290,25–291,10 (Trostschrift für Markgraf Georg 1529); vgl. auch Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 210f. 84 Vgl. z. B. Spengler: Schriften 1 (wie Anm. 81), S. 380,9–17; 388,2–7 (Verantwortung und Auflösung 1523); Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 280,11–14 (Gutachten zur Verteidigung der Visitation 1528); Spenglers Ausschreiben in Religionssachen (1528), ediert in: Gottfried Seebaß: Apologia Reformationis. Eine bisher unbekannte Verteidigungsschrift Nürnbergs aus dem Jahre 1528, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 39 (1970), S. 50–71, hier: S. 56 und 69; Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 407,9f. (Spengler an Brenz, 26. März 1530); vgl. auch Schmid: Täufertum (wie Anm. 56), S. 259f.; Berndt Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 212f. 85 Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 280,13f. (Gutachten zur Verteidigung der Visitation 1528); vgl. auch ebd., S. 81,15–21 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 86 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 393,9–13 (Stellungnahme zum Gutachten Frölichs 1530); S. 407,1–5.9–11 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 87 Vgl. ebd., S. 393,9–11 (Stellungnahme zum Gutachten Frölichs 1530). 88 Vgl. Spenglers Ausschreiben in Religionssachen (1528) (wie Anm. 84), S. 56f. und 68f.; Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 407,9–408,8 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 89 Vgl. ebd., S. 396,2–4 (Spengler an Dietrich, 17. März 1530).
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regiment dem weltlichen und das weltlich reich dem gaistlichen und also eins dem andern zu dienen schuldig.“90 Eine personell-organisatorische Trennung von weltlicher Obrigkeit und Kirchenleitung, wie sie Luther in der Obrigkeitsschrift gefordert hatte, ist in Spenglers Denken überhaupt nicht vorgesehen. Er geht vielmehr, dabei an spätmittelalterliche Vorstellungen anknüpfend,91 von einer allumfassenden Zuständigkeit der Obrigkeit aus: „[. . .] ein yede christenliche oberkait, die Gott fu(e)r iren herrn und obern erkennt, hab sich gar leichtlich zu erinnern, warumb sie von Gott andere zu regirn verordent sey, und nemlich nit darumb allein, das sie uber irer bevolhen underthanen leyb, hab und gu(e)ttere herrschen solle, sunder vilmer und zum fu(e)rnemlichsten, sie in dem, das das heyl der seelen belangt, christenlich und nach dem bevelh des go(e)tlichen worts zu fu(e)rsehen.“92
Die Obrigkeit ist also vor allem auch für die zur Erlangung des Seelenheils notwendige kirchliche Versorgung ihrer Untertanen verantwortlich. Dies bedeutet für Spengler, dass die Obrigkeit alle Bereiche des kirchlichen Lebens nach der Maßgabe des Gotteswortes ordnen soll, indem sie beispielsweise für schriftgemäße Predigt sorgt und Missbräuche im Gottesdienst unterbindet.93 Sie soll darüber hinaus sogar darauf achten, dass ihre Untertanen gemäß dem Wort Gottes leben.94 Die Pflicht zur cura religionis begründet Spengler mit dem Verweis auf das Verhalten frommer alttestamentlicher Könige.95 Der Nürnberger Ratsschreiber spricht der Obrigkeit große Verantwortung für das Seelenheil ihrer Untertanen zu. Dieses hänge „nit wenig“96 von der rechten Amtsausübung der Obrigkeit ab.97 Spengler vergleicht einen Fürsten mit einem Brunnen, aus dem viele Leute trinken müssen,98 und betont nachdrücklich, dass eine Obrigkeit von Gott zur Rechenschaft gezogen werden wird, wenn durch ihr Vorbild ihre Untertanen von Gottes Wort abfallen.99 Die weltliche Obrigkeit ist also für Spengler eine sehr bedeutsame heilsvermittelnde Instanz, die zwischen Gott und dem Einzelnen steht:100 Sie soll dafür Sorge 90
Ebd., S. 408,20f. (Spengler an Brenz, 26. März 1530). Vgl. Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 211f. 92 Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 92,9–15 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 93 Vgl. ebd., S. 94,6–11 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526); S. 280,14–17 (Gutachten zur Verteidigung der Visitation 1528); vgl. auch Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 212f. 94 Vgl. Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 92,16–93,2; 94,6–8 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 95 Vgl. Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. 245,24–246,14 (Spenglers Vorrede zum geplanten Druck der Visitationsordnung 1528). Spengler übernahm hier die Argumentation der Ansbacher Visitationsvorlage, ebd., S.174,33–175,22; vgl. Gottfried Seebaß: Einleitung, in: ebd., S.197 mit Anm. 58. 96 Spengler: Schriften 2 (wie Anm. 81), S. 93,12 (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 97 Vgl. ebd., S. 93,11–13; 104,19f. (Christlicher Ratschlag zum Reichstagsabschied 1526). 98 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 283,6–8 mit Anm. 29 (Trostschrift für Markgraf Georg 1529). 99 Vgl. ebd., S. 282,18–27 (Trostschrift für Markgraf Georg 1529); vgl. auch ebd., S. 35,18–36,2 (Verteidigung Markgraf Georgs gegen die Bischöfe 1529). 100 Vgl. auch Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 215. 91
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tragen, dass in ihrem Territorium das Wort Gottes nur in der rechten Weise verkündet wird und dass ihre Untertanen zumindest äußerlich dem Wort Gottes gemäß leben. Der gesamte äußerlich wahrnehmbare Prozess der Kommunikation des Gotteswortes unterliegt somit ihrer Kontrolle. Die Obrigkeit bleibt dabei aber an das ihr übergeordnete Wort Gottes gebunden, an dem sie sich messen lassen muss. Eine umfassende cura religionis ist nach Spenglers Überzeugung nicht nur aus theologischen, sondern auch aus politischen Gründen geboten. Die Glaubenseinheit stellt nämlich seiner Meinung nach eine unabdingbare Voraussetzung für ein funktionierendes Gemeinwesen dar, weil sie die normative Basis für ein wohlgeordnetes Zusammenleben bildet.101 Wird gegen religiöse Abweichler nicht unverzüglich vorgegangen, so komme es zum Aufruhr, wie das Beispiel Thomas Müntzers gezeigt habe.102 Spengler ist daher davon überzeugt, dass die Forderungen Frölichs den öffentlichen Frieden und den Bestand des weltlichen Regiments gefährden.103 Insgesamt sieht Spengler in den Thesen Frölichs einen Versuch des Teufels, die rechte, einheitliche Religion und die Gewalt der Obrigkeit zu zerstören.104 Mit einer Religionspolitik, wie sie Frölich vertritt, bringt man nach Spenglers Meinung nicht sein Vertrauen auf Gott zum Ausdruck, sondern versucht ihn.105 Die Obrigkeit muss also im Auftrag Gottes mit Zwangsmaßnahmen gegen religiöse Abweichler vorgehen und darf hier nicht nur auf Gottes unmittelbares, lediglich durch sein Wort vorbereitetes Wirken vertrauen. Bei Spengler lässt sich somit im Vergleich zu Frölich eine partielle Mediatisierung des göttlichen Handelns beobachten. Da Spengler von der Gefährlichkeit der Ansichten Frölichs überzeugt war, sich selbst aber offenbar nicht zu einer Widerlegung anhand der Heiligen Schrift in der Lage sah,106 wandte er sich mit der Bitte um Gegengutachten an Nürnberger und auswärtige Theologen.107 Der Ratsschreiber erhielt zwei Gutachten aus Nürnberg, die anonym überliefert sind,108 sowie ein weiteres von dem Schwäbisch Haller Theologen Johannes Brenz.109 Auf eine briefliche Anregung Spenglers hin110 äußerte sich Luther in seiner Auslegung des 82. Psalms grundsätzlich zu der Frage, ob eine Obrigkeit Häresie unter Strafe stellen solle.111 Alle konsul101
Vgl. ebd., S. 213–216. Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 408,2–6 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 103 Vgl. ebd., S. 393,5–8 (Stellungnahme zum Gutachten Frölichs 1530); S. 396,12f. (Spengler an Dietrich, 17. März 1530); S. 406,6–9; 407,11–408,8 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 104 Vgl. ebd., S. 406,6–9 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 105 Vgl. ebd., S. 393,5–8 (Stellungnahme zum Gutachten Frölichs 1530); S. 408,6–8 (Spengler an Brenz, 26. März 1530). 106 Vgl. ebd., S. 393,5–13 (Stellungnahme zum Gutachten Frölichs 1530). 107 Vgl. zusammenfassend ebd., S. 371–374. 108 Edition: Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. (631)642–673, Nr.132. 109 Edition: Johannes Brenz: Frühschriften, Teil 2, hg. von Martin Brecht, Gerhard Schäfer und Frieda Wolf, Tübingen 1974 (= Johannes Brenz Werke), S. (509–511)528–541. 110 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 395,3–396,17 (Spengler an Dietrich, 17. März 1530). 111 Vgl.WA 31/I, S. 207,33–213,22. 102
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tierten Theologen lehnten in ihren Stellungnahmen Frölichs Forderung nach Kultfreiheit ab. Da ich hier nicht auf jeden der genannten Texte näher eingehen kann, greife ich im Folgenden einige Argumente aus einem der Nürnberger Gutachten sowie aus dem Gutachten von Brenz auf, die im Hinblick auf die Frage nach der Vermittlung des göttlichen Handelns von besonderem Interesse sind.Anschließend wende ich mich Luthers Auslegung des 82. Psalms zu.
7. Ein anonym überliefertes Nürnberger Gutachten Eines der beiden Nürnberger Gutachten geht der Reihe nach auf die Argumente Frölichs ein und versucht sie zu widerlegen.112 Sein Verfasser – möglicherweise Wenzeslaus Linck oder Andreas Osiander113 – behauptet, dass die beiden Regimente sich nicht im Gegenstand der Herrschaft, sondern nur in der Art und Weise der Herrschaft unterscheiden würden.114 „Alles nun, was zum reich oder eren Gottes gehort, das die aposteln, bischoff, selsorger etc. mit dem wort treyben, welchs inen furnemlich bevolhen ist, das sollen auch die weltlichen regenten mit dem schwert oder gewalt, sovil inen muglich, treyben, dieweyl sie baiderseytz zum dinst Gottes verordnet und beruffen sein.“115
Sowohl die Geistlichen als auch die weltlichen Herrscher sollen sich also mit Methoden, die ihrem jeweiligen Amt entsprechen, für den wahren Glauben einsetzen, weil sie beide die Aufgabe haben, Gott zu dienen. Die Obrigkeit soll daher mit ihrer Gewalt den rechten Glauben schützen und gegen das vorgehen, was ihm im Wege steht.116 Das Wort Gottes und das Predigtamt wirken zwar nach der Ansicht des Nürnberger Theologen am effektivsten gegen falsche Lehren, er meint aber, dass daneben „vil ander mittel auch gut“117 seien.118 Er fährt fort: „Er [Gott] gibt allein das deyen und frucht seines worts, aber nitdestminder wil er, das die menschen seine gehilfen und mitwircker sollen sein etc. [1. Kor. 3,9] Ob auch wol der antecrist on handt allein durch Gottes gaist zerstort wurt,119 so kan und sol [man] doch nichtdestminder mit der handt und allem vermogen seiner boßhait in allweg widersten.“120
112 Edition: Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. (634–639. 641)642–655, [Nr. 6 zu] Nr.132. Zum Inhalt und zur Interpretation des Gutachtens vgl. Hans-Dieter Schmid: Täufertum (wie Anm. 56), S. 294–297. 113 Zur ungeklärten Verfasserfrage vgl. Hans-Ulrich Hofmann: Einleitung, in: Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. 635–638; James M. Estes: Whether Secular Government Has the Right to Wield the Sword in Matters of Faith. A Controversy in Nürnberg in 1530 over Freedom of Worship and the Authority of Secular Government in Spiritual Matters, Toronto 1994 (= Renaissance and Reformation Texts in Translation 6), S.16–18. 114 Vgl. Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. 648,18–31. 115 Ebd., S. 645,19–23. 116 Vgl. ebd., S. 648,24–31. 117 Ebd., S. 647,18f. 118 Vgl. ebd., S. 647,16–19. 119 Vgl. Dan. 8,25. 120 Osiander d. Ä.: Gesamtausgabe 3 (wie Anm. 56), S. 647,19–22.
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Der Nürnberger Theologe hält also daran fest, dass nur Gott selbst den Glauben als Frucht des Wortes wirken kann, er meint aber, dies schließe nicht aus, dass Menschen im Auftrag Gottes mit Gewalt gegen Irrlehren vorgehen, weil Gott nach 1. Kor. 3,9 eine Mitarbeit der Menschen fordere.121 Nur Gott selbst kann demnach im Inneren des Einzelnen den Glauben schaffen, den diesem Geschehen vorausgehenden äußeren Kommunikationsprozess soll jedoch die Obrigkeit im Dienst Gottes mit Zwang reglementieren.
8. Das Gutachten von Johannes Brenz Johannes Brenz kritisiert in seinem Gutachten vom 8. Mai 1530,122 dass Frölich nicht zwischen dem rechten oder falschen Glauben und den äußeren Werken dieses Glaubens unterscheide.123 Der Glaube im Herzen ist, so Brenz, der Strafgewalt der Obrigkeit entzogen.124 Dies gilt seiner Ansicht nach auch noch für das persönliche mündliche Bekenntnis des Glaubens, soweit dadurch nicht die Absicht verfolgt wird, jemanden zu belehren.125 Es gehört nämlich, wie Brenz hervorhebt, unmittelbar zum Glauben selbst: „Dan obwol die bekantnus des munds ein eusserlich offenlich that ist, idoch ist sie mit dem glauben des hertzens also eingeleipt, das sie baid fur eins gezelt werden, und wan man sagt, der glaub so[l] frey sein, verstet menigklich darunder auch die bekantnus desselben glaubens.“126 Der Schwäbisch Haller Theologe vertritt hier eine etwas weniger restriktive Auffassung als Spengler und der Verfasser des zuletzt erwähnten Nürnberger Gutachtens.127 Auch Brenz meint allerdings, dass eine Obrigkeit gegen alle sonstigen wahrnehmbaren Manifestationen einer abweichenden Glaubensüberzeugung, also gegen Lehre und gottesdienstliche Versammlungen, einschreiten darf und soll.128 Gegen das Argument Frölichs, dass Christus gemäß Jes. 11,4 selbst in seinem Reich streiten wolle und deshalb die Obrigkeit nicht für ihn tätig werden dürfe,129 wendet Brenz ein, dass man, wenn man aus dieser Bibelstelle das Verbot jeglichen menschlichen Handelns ableiten wolle, auch die Predigt gegen Irrlehren unterlassen müsste.130 Gott handelt, wie Brenz betont, in seinem Reich durch Menschen, nämlich durch die Prediger. Ebenso regiert er aber auch auf Erden durch die Ob121
Vgl. auch ebd., S. 647,23–26; 648,32–649,4. Edition: Brenz: Frühschriften 2 (wie Anm.109), S. (509–511)528–541. Zum Inhalt und zur Interpretation des Gutachtens vgl. Gottfried Seebaß: An sint persequendi (wie Anm. 56), S. 61–68; Schmid: Täufertum (wie Anm. 56), S. 301–304. 123 Vgl. Brenz: Frühschriften 2 (wie Anm.109), S. 528,24–529,3. 124 Vgl. ebd., S. 529,4–9. 125 Vgl. ebd., S. 529,10–18. 126 Ebd., S. 529,18–22. 127 Vgl. auch Seebaß: An sint persequendi (wie Anm. 56), S. 62. 128 Vgl. Brenz: Frühschriften 2 (wie Anm.109), S. 529,23–29; 530,36–531,11; 532,7–26; vgl. auch Seebaß: An sint persequendi (wie Anm. 56), S. 62–64. 129 Vgl. Spengler: Schriften 3 (wie Anm. 57), S. 380,24–381,2 (Frölichs Gutachten für die Kultfreiheit 1530). 130 Vgl. Brenz: Frühschriften 2 (wie Anm.109), S. 537,19–22. 122
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rigkeit.Wenn also die Prediger mit Gottes Wort gegen Glaubensirrtümer streiten und die Obrigkeit gegen deren äußere Folgen mit Verboten vorgeht, so könne man wahrhaft sagen,131 „das datzumal Cristus streit und der almechtig Got regire durch die prediger und oberkait als seine verordnete werckzeug“132. Brenz unterstreicht somit die Mittelbarkeit des göttlichen Handelns im geistlichen Reich und sieht, anders als Frölich, zwischen weltlichem und geistlichem Regiment keinen gravierenden Unterschied im Grad der Vermittlung des göttlichen Wirkens. Eine obrigkeitliche cura religionis kann demnach, solange sie nicht den Glauben selbst oder dessen Bekenntnis unter Strafe stellt, nicht als Eingriff in einen Bereich verstanden werden, den Gott sich allein vorbehalten hat.
9. Luthers Auslegung des 82. Psalms In seiner Auslegung des 82. Psalms133, die wohl im April 1530 im Druck erschien,134 unterscheidet Luther anders als Spengler deutlich zwischen den Aufgaben der Geistlichen und der Obrigkeit. Das Predigtamt sei die höchste Form des Dienstes an Gott und das nützlichste Amt auf Erden, an zweiter Stelle folge das Amt der weltlichen Obrigkeit.135 Zu den Aufgaben der Prediger gehöre es, die Obrigkeit öffentlich zurechtzuweisen, wenn sie gegen die Norm des Wortes Gottes verstößt.136 Die Obrigkeit solle die Prediger unterhalten und schützen.137 Die Aufgabenbereiche von weltlichem und geistlichem Regiment sind also verschieden, aber aufeinander bezogen. In einem Exkurs, der wohl auf die Anregung Spenglers zurückgeht, beschäftigt sich Luther mit der Frage, ob die Obrigkeit, die Gottes Wort und die Prediger zu fördern hat, auch mit ihrer Strafgewalt gegen Irrlehren vorgehen soll, zumal sie niemand zum Glauben zwingen soll oder kann.138 Luther unterscheidet dabei mehrere Fälle: 131
Vgl. ebd., S. 537,22–30. Ebd., S. 537,31f. 133 Edition: WA 31/I, S. (183)189–218. 134 Vgl. ebd., S.184. 135 Vgl. ebd., S.198,24f.; 201,16–18. 136 Vgl. ebd., S.195,25–198,18. 137 Vgl. ebd., S.199,7–200,4. 138 Vgl. ebd., S. 207,33–213,22. Zum Inhalt und zur Interpretation dieses Exkurses vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Luthers Tauflehre und seine Stellung zu den Täufern, in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag, hg. von Helmar Junghans, Band 1, Göttingen 1983, S.119–138 (Anmerkungen in Bd. 2, Göttingen 1983, S. 765–770), hier: S.134f.; Marc Lienhard: Die Grenzen der Toleranz. Martin Luther und die Dissidenten seiner Zeit, in: Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, hg. von Norbert Fischer/Marion Kobelt-Groch, Leiden – New York – Köln 1997 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 61), S.127–134, hier: S.132; Harm Klueting: „Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte“: Toleranz im Horizont des Unkrautgleichnisses (Mt 13, 24–30). Martin Luther und Erasmus von Rotterdam als Beispiel, in: Ablehnung – Duldung – Anerkennung.Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, hg. von Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenveld, Münster u. a. 2004 (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 9), S. 56–67, hier: S. 62f. 132
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Ketzer, die aufrührerische Lehren vertreten, etwa jene täuferische Ansicht, dass ein Christ kein obrigkeitliches Amt bekleiden dürfe, sind nach der Meinung Luthers zweifellos zu bestrafen, weil sie gegen die weltliche Ordnung verstoßen.139 Die Obrigkeit soll aber Luther zufolge auch gegen jene vorgehen, die öffentlich einen schriftgemäßen und allgemein anerkannten Glaubensartikel ablehnen.140 Er begründet dies mit dem Gedanken der Gotteslästerung: „Denn sie sind auch nicht schlecht allein ketzer, sondern offentliche lesterer.“141 Daher seien sie wie alle anderen Lästerer zu bestrafen. Als Beleg für seine Auffassung führt Luther unter anderem das alttestamentliche Gebot an, Gotteslästerer zu steinigen (Lev. 24,16).142 Er vertritt nun also eine andere Position als in der Obrigkeitsschrift. Bereits im Jahr 1525 hatte er das obrigkeitliche Verbot der altgläubigen Messe als Einschreiten gegen Gotteslästerung gerechtfertigt.143 Durch das gedankliche Konstrukt der Gotteslästerung wird die öffentliche Bestreitung von Glaubenslehren zu einem Vergehen, das in den Zuständigkeitsbereich des weltlichen Regiments fällt. Luther betont, dass dadurch niemand zum Glauben gezwungen werde, „denn er kan dennoch wol gleuben, was er wil, allein das leren und lestern wird yhm verboten“144. Nach seiner Ansicht soll allerdings nicht nur die öffentliche Predigt von Irrlehren, sondern insbesondere auch die heimliche bestraft werden. Es dürfe nämlich trotz des allgemeinen Priestertums niemand unberufen predigen.145 Letztlich bleibt somit bei Luther nun ebenso wie bei Spengler nur der innere Bereich des Gewissens der obrigkeitlichen Strafgewalt entzogen. Schließlich spricht Luther der Obrigkeit eine Entscheidungskompetenz in Glaubensfragen zu.Wenn ein Streit entsteht, bei dem sich beide Parteien auf die Schrift berufen, soll die Obrigkeit seiner Meinung nach die Sache untersuchen, anhand der Schrift entscheiden und der unterlegenen Partei zu schweigen gebieten.Werde nämlich in einem Gebiet nicht einheitlich gepredigt, so komme es zu Streit auch in weltlichen Dingen.146 Wie Spengler ist Luther somit der Ansicht, dass Differenzen in Glaubensfragen den öffentlichen Frieden gefährden.147 Er ver139
Vgl.WA 31/I, S. 208,1–10. Vgl. ebd., S. 208,11–29. Ebd., S. 208,17f. 142 Vgl. ebd., S. 209,4f. 143 Vgl.WA 18, S. 36,9–32 (Vom Greuel der Stillmesse 1525); WA.B 3, S. 616,28–38 (Luther an Spalatin, 11. Nov. 1525). Luther beginnt seine in der Obrigkeitsschrift vertretene Auffassung im Jahr 1525 zu revidieren; vgl. die Belege bei Lecler: Geschichte (wie Anm. 72), S. 237–244. 144 WA 31/I, S. 208,30f. 145 Vgl. ebd., S. 210,9–212,5. Dass Luther dafür eintritt, auch die heimliche Verbreitung von Irrlehren zu bestrafen, wird bei zur Mühlen, Lienhard und Klueting nicht hinreichend berücksichtigt; vgl. zur Mühlen: Luthers Tauflehre (wie Anm.138), S.135; Lienhard: Die Grenzen (wie Anm.138), S.132; Klueting: Toleranz (wie Anm.138), S. 63. 146 Vgl.WA 31/I, S. 209,15–31. 147 Das Argument, dass uneinheitliche Predigt zu Aufruhr führe, hatte Luther bereits 1526 gebraucht; vgl.WA.B 4, S. 28,23–27 (Luther an Kurfürst Johann, 9. Feb. 1526). Dabei hatte er darauf verwiesen, dass Nürnberg, dessen restriktive Religionspolitik er als Vorbild empfahl, mit diesem Argument das Vorgehen gegen die Altgläubigen gerechtfertigt hatte; vgl. ebd., S. 28,27f.; 29,45–47. 140 141
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traut nun nicht mehr wie in der Obrigkeitsschrift allein darauf, dass Gott seinem Wort zur Durchsetzung verhelfen wird, sondern fordert ein reglementierendes Einschreiten der Obrigkeit.148 Insgesamt hält Luther somit zwar an einer deutlichen Unterscheidung der beiden Regimente fest, er weitet aber die Verantwortung, die die Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums trägt, im Vergleich zu seiner früheren Position stark aus.
10. Zusammenfassung Überblickt man die am Beispiel ausgewählter Stellungnahmen dargestellte Entwicklung, so lässt sich Folgendes feststellen: Auf eine forcierte Immediatisierung des Gottesverhältnisses folgt eine Tendenz zur partiellen Remediatisierung zugunsten der Obrigkeit. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Verantwortung für die Verkündigung des Wortes Gottes als auch im Hinblick auf die Bekämpfung von Irrlehren. In der Adelsschrift betont Luther das Priestertum aller Gläubigen, aufgrund dessen es allen Christen zustehe, die Schrift auszulegen und ein Konzil einzuberufen. Nach der Obrigkeitsschrift besteht die genuine Verantwortung der weltlichen Gewalt für die Kommunikation des Evangeliums lediglich darin, die äußeren Voraussetzungen für die Verkündigung des Wortes Gottes zu gewährleisten, indem sie im Auftrag Gottes die Bösen mit Gewalt im Zaum hält. Bereits in der Adelsschrift finden sich aber auch schon Ansätze einer Remediatisierungstendenz. Luther betont zwar das allgemeine Priestertum, hält aber die Obrigkeit aufgrund ihres Amtes in besonderer Weise dafür geeignet, sich für eine Kirchenreform einzusetzen. Luthers Aufruf blieb bei den evangelischen Obrigkeiten, die schon im Spätmittelalter im Zuge der „Zentrierung und Intensivierung obrigkeitlicher Macht“149 nach dem Kirchenregiment gestrebt hatten, nicht unerhört. Nachdem die bisherige hierarchische Struktur der römischen Kirche durch den Gedanken des allgemeinen Priestertums in Frage gestellt war, weiteten sie allerdings ihre Kompetenzen im Vergleich zu Luthers Adelsschrift stark aus und kümmerten sich nicht nur in Notfällen um kirchliche Belange.150 Exemplarisch zeigt dies Spenglers Konzeption, der zufolge die Obrigkeit vor allem auch dafür zuständig ist, dass ihre Untertanen die zur Erlangung des Seelenheils notwendige kirchliche Ver148 Klueting behauptet, Luther habe seine Auffassung lediglich präzisiert; vgl. Klueting: Toleranz (wie Anm.138), S. 58–64. Diese These ist problematisch. Wie dargestellt, hält Luther zwar an den Grundaussagen seiner Obrigkeitsschrift fest, interpretiert sie aber so um, dass er bei der Beantwortung der Frage, ob die Obrigkeit die Verbreitung von Irrlehren verbieten solle, zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. Zur Veränderung von Luthers Position in dieser Frage vgl. auch Lecler: Geschichte (wie Anm. 72), S. 231–252; zur Mühlen: Luthers Tauflehre (wie Anm.138), S.130 und 134–138; Lienhard: Die Grenzen (wie Anm.138). 149 Hamm: Lazarus Spengler (wie Anm. 44), S. 344; vgl. auch ebd., S. 317. 150 Vgl. auch ebd., S. 344f.
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sorgung erhalten. Selbst Frölich räumt der Obrigkeit in ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft weit reichende kirchenordnende Kompetenzen ein. Luther unterscheidet auch noch 1530 deutlich zwischen den Aufgaben der Geistlichen und der Obrigkeit, kann sich damit aber letztlich nicht durchsetzen. Im Hinblick auf das Vorgehen gegen Irrlehren wird in der Obrigkeitsschrift ein immediatisiertes Gottesverhältnis zur Geltung gebracht. Luther unterscheidet zwei Regimente und hebt hervor, dass Gott das geistliche Regiment selbst ausübt, indem er im Einzelnen den Glauben wirkt. Da das Gewissen dem menschlichen Zugriff entzogen sei, dürfe die Obrigkeit in den Diskurs über Glaubensfragen nicht mit Zwang eingreifen. Hintergrund für das relativ große Vertrauen Luthers auf das unmittelbare Wirken Gottes im Bereich des Glaubens war wohl die Hoffnung, dass sich Irrlehren durch die Verbreitung des Gotteswortes zumindest weitgehend eindämmen lassen. Eine solche Hoffnung hatte sich angesichts der innerreformatorischen Vielstimmigkeit und dem Weiterbestehen einer altgläubigen Partei zunehmend als unrealistisch erwiesen. Frölich trug der gewandelten Situation im Jahr 1530 Rechnung, indem er, ausgehend von Luthers ZweiReiche-Lehre, ein theologisch und politisch begründetes Gesellschaftsmodell entwarf, das vorsah, dass in einem Territorium mehrere religiöse Gruppierungen ihren Glauben öffentlich ausüben. Die geschichtliche Entwicklung bestimmte allerdings eine andere Reaktion auf den Zerfall der Glaubenseinheit, nämlich die Tendenz zur partiellen Remediatisierung zugunsten der Obrigkeit. Nach einer gängigen und auch von Luther selbst vertretenen Auffassung muss die Obrigkeit als Werkzeug Gottes mit Zwangsmaßnahmen gegen die Verbreitung von Irrlehren vorgehen und darf hier nicht nur auf das unmittelbare, lediglich durch das Wort vorbereitete Handeln Gottes vertrauen. Um eine solche Kompetenzausweitung der Obrigkeit zu legitimieren, musste Luthers Zwei-Regimenten-Lehre uminterpretiert werden. Man hielt zwar daran fest, dass der innere Bereich des Gewissens menschlichem Zugriff entzogen ist, da nur Gott selbst durch das Wort und den Geist den Glauben schaffen kann. Alle oder, im Falle von Brenz, fast alle äußeren Manifestationen einer abweichenden Glaubensauffassung wurden aber nun nicht mehr als Handlungen angesehen, die notwendig mit der Unverfügbarkeit des Glaubens verknüpft sind, sondern zum Zuständigkeitsbereich des weltlichen Regiments gerechnet. Um diese Zuordnung zu begründen, betonte man die Kooperation beider Regimente, wobei deren Zielsetzungen teils völlig identifiziert wurden, sowie die politische Dimension von abweichender Glaubenslehre, die als Gefahr für den öffentlichen Frieden, als Verführung und Gotteslästerung beurteilt wurde. Insgesamt blieb die Remediatisierung des Gottesverhältnisses zugunsten der Obrigkeit somit partiell, weil die für die Immediatisierung grundlegenden Lehren, die Lehre vom allgemeinen Priestertum sowie die Zwei-Reiche-Lehre, nicht prinzipiell in Frage gestellt, sondern durch Uminterpretation in ihrer faktischen Relevanz stark eingeschränkt wurden. Die Entwicklung hin zu einem restriktiven obrigkeitlichen Kirchenregiment entsprach der Tendenz zur „Zentrierung und Intensivierung obrigkeitlicher
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Macht“151 im Zuge der Territorialisierung. Insofern kann man in dieser Entwicklung eine geschichtliche Logik erkennen.152 Wie die Position Frölichs zeigt, waren aber bereits damals durchaus Alternativen denkbar.
151 152
Ebd., S. 344. Vgl. ebd., S. 344f.
Martin Ohst
Gottes Nähe und Gottes Ferne in der Theologie Martin Luthers1
Für Martin Schloemann zum 80. Geburtstag
Der Begriff der Nähe Gottes, wie ihn Berndt Hamm seit einigen Jahren in seinen Arbeiten zur Frömmigkeit und Theologie des späten Mittelalters erprobt und etabliert hat, ist nicht direkt aus den Quellen übernommen.Vielmehr handelt es sich bei ihm um einen historiographischen Deutebegriff. In ihm waltet die Absicht, in und an unterschiedlichen Phänomenbeständen gemeinsame Tendenzen nachzuweisen: Im späten Mittelalter wurde intensiver als zu anderen Zeiten ein wie auch immer vermitteltes Hineinwirken Gottes in menschliche Lebenswelten erwartet bzw. erfahren – richtend, strafend und vernichtend, aber vor allem doch helfend, begnadigend und heilend. Seine Tauglichkeit zu diesem Zweck hat der metaphorische Begriff der Nähe Gottes, der ja immer auch die Notwendigkeit in sich trägt, sein Gegenteil, die Ferne Gottes, mitzudenken, eindrucksvoll erwiesen. 1 Der folgende Beitrag ist nicht eigentlich gelehrt, sondern eher essayistisch. Dieser Charakter würde verwischt, wenn ich ihn mit einem voll ausgebildeten Fußnotenapparat versehen wollte. – Meine folgenden Ausführungen beruhen zur Hauptsache auf einer intensiven Lektüre von Luthers Niederschriften zu seiner Römerbrief-Vorlesung (1515/16; hg. von Johannes Ficker: WA 56); ich weise nur knapp auf die wichtigsten Belegstellen hin. Aus zwei Gründen habe ich diesem Textkomplex den Vorzug gegeben: Einmal ist er noch frei von all den spezifischen Nötigungen der Kampfsituationen, in denen sich Luther vom Ablassstreit an lebenslang befunden hat. Sodann ist hier manches begrifflich noch im lebendigen Fluss, was später zu behältlichen Formeln erstarrt, und dadurch ist das Bild von Luthers Denken hier besonders differenziert und beziehungsreich. Dass und warum ich diese Texte allenfalls in dem Sinne für vorreformatorisch zu halten vermag, in dem man eine Dynamitladung ohne brennende Lunte als harmlos bezeichnet, wird im Folgenden immer wieder implizit deutlich werden. – Einen anderen möglichen Zugriff auf das Thema hätte auch die Abendmahlslehre geboten; vgl. nur Luthers Ausführungen zur dialektischen Spannung von Gottes Nähe und Ferne im großen Bekenntnis vom Abendmahl (WA 26, S. 336–347). – So wäre es sicher ertragreich, entlang der Metapher der „Nähe“ und „Ferne“ Gottes als heuristischem Leitfaden dem folgenden Hinweis nachzugehen: „Es ist ein Mißverständnis, das auch Kierkegaard nicht überall vermieden hat, als ob wir mit Jesus gleichzeitig werden müßten. Nein, er will es mit uns werden.Wir bleiben an Ort und Stunde gebunden, und er kommt mit seinem Worte und seinem Leben zu uns. [. . .] Nur dann kommt ihm der Herrenname mit Recht zu, wenn er die Macht hat, als ein gegenwärtiger an unserm Gewissen zu handeln.Wo ein lebendiges Herz ist, siehe, da will er auch sein. Ich bin mir bewußt, damit einen Gedanken Luthers aufgenommen zu haben, den man meist als Schrulle behandelt, seine Lehre von der Allgegenwärtigkeit Jesu Christi nach seiner Menschheit. Es ist noch kaum beobachtet und doch wahr: wollte Luther Jesus Christus in seiner Menschheit ernstlich als uns zu Gottes Wort geworden verstehen, dann war er auf diese Lehre hingedrängt. Sie hat also in den Tiefen seines Evangeliums ihre Wurzel.“ (Emanuel Hirsch: Jesus Christus der Herr, Göttingen 1926, S. 60).
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Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen dazu anstellen, wie sich am Leitfaden des Begriffspaars der „Nähe“ und der „Ferne“ Gottes der reformatorische Umbruch in der Frömmigkeit und Theologie des Spätmittelalters fassen lässt. Zunächst werde ich eine kleine Freihandskizze der „Nähe“ Gottes im Spätmittelalter zeichnen; für deren Konturen und Farben verdanke ich den Arbeiten Berndt Hamms mehr, als sich durch Einzelbelege angemessen nachweisen ließe. Vor diesem Hintergrund werde ich dann zeigen, wie dieses Bewusstsein der „Nähe“ Gottes in der Theologie Martin Luthers eine ganz neuartige Struktur und Gestalt gewinnt. Die These, die ich dabei entwickeln und begründen werde, sei gleich an dieser Stelle auf einer relativ hohen Stufe der Abstraktion vorgestellt: Die kirchliche Frömmigkeit und Theologie des Spätmittelalters weiß um unübersehbar viele Weisen der Annäherung Gottes an den Sündermenschen, die allesamt in der Menschwerdung Gottes in Christus ihren Ursprung haben. Diese Annäherungen Gottes appellieren an den vorausgesetzten und bejahten Willen des Menschen, selig zu werden,2 und sie sprechen ihn auf seine Fähigkeit an, um seiner Seligkeit willen positiv-kooperierend die ihm durch die Kirche vermittelten göttlichen Gnadenimpulse an- und aufzunehmen – in welchem individuell zu bemessenden Grad der Anstrengung bzw. des Verzichts auch immer.3 Wenn der Mensch das tut, dann wird er mit weiteren gnädigen Annäherungen Gottes beschenkt – und so fort, bis das Heilsziel, die Ewige Seligkeit, erreicht ist. Luther wuchs in einer Welt auf, in welcher diese Annäherungen Gottes allgegenwärtig und unendlich vielgestaltig waren: Geheimnisvoll und pompös, verheißungsvoll und bedrohlich, tröstlich und aufrüttelnd. Als er in das Erfurter Augustiner-Eremitenkloster eintrat, realisierte Luther damit die ihm allgemein-sozial und individuell-persönlich vorgegebene Möglichkeit, seinerseits in ganz besonders intensiver Weise auf Gottes Annäherung einzugehen, sich also Gott anzunähern. In seinen Bußkämpfen machte er die Erfahrung, dass diese Annäherungsbemühungen ihr Ziel nicht nur nicht erreichten, sondern das Gegenteil ihrer Absicht bewirkten: Das Empfinden seiner Gottesferne verstärkte sich zur nackten Angst. 2 In Augustins Ausführungen zum allgemeinmenschlichen Verlangen nach beatitudo (Confessiones X,20,29–23,33) vereinigen sich gedankliche Klarheit und vollendete künstlerische Gestaltung. 3 Durchgängig beherrscht diese Gedankenfigur das, was wir von der spätmittelalterlichen Volkspredigt kennen; ein Beispiel: Die Minderwertigkeit der Häretiker und die Trüglichkeit ihrer Botschaft erweisen sich daran, dass sie, anders als die Catholica, die Ewige Seligkeit nicht gewährleisten können, und darum diktiert es das wohlverstandene Eigeninteresse einem jeden Christenmenschen, sich von ihnen fernzuhalten bzw. sich an ihrer Ausrottung zu beteiligen. Das zeigt jetzt mit dankenswerter Deutlichkeit Ariane Czerwon: Predigt gegen Ketzer. Studien zu den lateinischen Sermones Bertholds von Regensburg, Tübingen 2011 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 57). – Karl Holls Charakterisierung dieser Haltung in allen ihren sublimen und groben Varianten als „eudämonistisch“ (vgl. z. B. ders.: Der Neubau der Sittlichkeit, in: Gesammelte Aufsätze Bd.1: Luther, 6. Aufl., Tübingen 1932, S.155–287, hier S.167–175) ist sachlich ebenso zwingend wie erhellend. Ob und in welchem Maße der aus Luther und vor allem aus Kant gewonnene, negativ konnotierte Begriff sich als Deutungskategorie für antike und mittelalterliche Phänomenbestände eignet, ist dann allerdings noch einmal eine schwierige Frage der historischen Hermeneutik und Begriffsbildung.
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In einem religiös-intellektuellen Umschichtungs- und Umwertungsprozess, der biographisch nur wie durch dichte Nebel hindurch zu erahnen ist, erkannte Luther zweierlei. Einmal wurde ihm klar, dass das von ihm mitgebrachte und vorausgesetzte Bewusstsein der Nähe Gottes illusionär war. Sodann wurde er dessen inne, dass das leidvolle Zerbrechen dieser Illusion nicht bloß individuell-zufällig war, sondern konstitutiv hineingehörte in die heilsame, wahre Nähe erst gewährende Annäherung Gottes.4 Diesen durchlittenen, erlebten und kategorial reflektierten Umschwung von einer Gestalt der Erwartung bzw. Erfahrung der Nähe Gottes zu einer ganz anderen sah er in zwei normativen Vorgaben des schulmäßigen theologischen Denkens präformiert: In Paulus und in Augustin, die er beide wiederum mit einem hohen Grad an Ausschließlichkeit aus der Perspektive seiner eigenen Fragen und Einsichten heraus wahrnahm.5 So formte sich ihm im ununterscheidbaren Ineinander von Verstehensarbeit an vorgegebenen Autoritäten und Deutungsarbeit an eigener existentieller Erfahrung eine sachlich neuartige Weise theologischer Reflexion, in der er ein neuartiges Konzept der „Nähe“ Gottes sowie ihres Real- und Erkenntnisgrundes ausarbeitete. Individuelle Erfahrungen klärten sich auf diese Weise zu normativ ausformulierbaren intellektuellen Einsichten, die wiederum außerhalb des akademischen Arcanum wirksam zu werden vermochten, weil sie die eigenen Erfahrungen vieler Zeitgenossen einleuchtend deuten und klären konnten. In der Theologie Luthers wird also die überkommene Grundannahme der „Nähe“ Gottes durch tiefgreifende Reorganisationen der theologischen Begriffe von Gott und Mensch radikal umgestaltet. Gottes Annäherung knüpft an die durchaus vorhandene subjektive Bedürftigkeit des Sündermenschen mitnichten einfach an, denn diese Bedürftigkeit wird dem fordernden Willen Gottes nicht bloß quantitativ nicht gerecht, sondern ist ihm qualitativ entgegengesetzt: Der Mensch will sich selbst und seine Durchsetzung in Zeit und Ewigkeit, und er will Gottes Hilfe zur Verwirklichung seines Willens. Gott hingegen will die ganze, nicht durch Zweck-Mittel-Kalkulationen regulierte Willensgemeinschaft des Menschen mit sich selbst.6 Die im natürlichen Bewusstsein des Menschen immer schon wirksame, am menschlichen Bedürfnis orientierte Vorstellung der „Nähe“ Gottes bedarf deshalb ihrerseits einer bis in die letzten Tiefen gehenden Infragestellung und Erschütterung, in welcher dem Menschen deutlich wird, dass seine naiv vorausgesetzte Nähe zu Gott in Wahrheit Ferne von Gott ist. Diesen Umschwung im Gottesund Selbstbewusstsein vermag nur Gott selbst zu bewirken – im und am wachen, 4 Das wichtigste Zeugnis ist eine Passage aus der Resolutio zur 15. Ablass-These (WA 1, S. 557f.). Bei der Interpretation ist zu beachten, dass das gemeinte Erlebnis rückblickend mittels neu gewonnener Kategorien gedeutet wird. Zentral hierbei ist der christologische Deutungshorizont der Anfechtung: „Hic est anima suspensa cum Christo, ut dinumerentur omnia ossa eius ‚Ps 22, 18‘.“ 5 Vgl. die als summarische Inhaltsangaben sich ausgebenden hermeneutischen Grundsatzproklamationen WA 56, S. 3 und 157. 6 Vgl.WA 56, S. 501f.
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sprachlich verfassten und rechenschaftsfähigen sittlich-religiösen Bewusstsein selbst. Denn darum allein geht es: Heil, Erlösung, wahre Nähe Gottes bestehen darin, dass der Mensch zur vollen Klarheit über sich selbst und sein Verhältnis zu Gott und zu dessen Willen gelangt.7 All das fließt ein in die Neubestimmung des hergebrachten Terminus „Glaube“: Er ist nicht mehr der um des Heilszwecks willen geleistete und darum strukturell auf objektive (Sakramente) oder subjektive (Liebe) Ergänzungen hin angelegte Akt des kognitiven Kadavergehorsams8, sondern Chiffre für diejenige lebendige und aktive Formation des Bewusstseins, in welcher der Einzelne Gottes Willen erkennt und anerkennt und die von ihm aus sich ergebende Deutung seiner selbst sich zueignen lässt.9 In diesem dialektisch gespannten Prozess von Verneinung und Bejahung wird dem Menschen von Gott ein neues Bewusstsein seiner Nähe zugesprochen. Die Entstehung dieses Bewusstseins der Nähe verläuft durch die Erfahrung der Gottesferne hindurch. Das neuartige Bewusstsein der Nähe löscht nun jenes Bewusstsein der Ferne Gottes nicht aus, sondern trägt es als widerständiges Kontinuum fortdauernd in sich, und das heißt: Gottes Nähe kann immer nur in dialektischer Spannung zu seiner Ferne und Distanz erfahren und ausgesagt werden. Nur als von Gott bis in die letzten Wurzeln seines Wesens Verneinter und zur Aneignung dieser Verneinung Befähigter kann der Mensch den Glauben an seine Bejahung durch Gott fassen. Der so verstandene Glaube, der Gottes Nähe allein durch den andauernd erlebten Widerspruch der eigenen Gottesferne hindurch erfährt, weiß sich ermöglicht und getragen durch Jesus Christus. Er hat Gottes Ferne als Gottes Zorn ertragen und so für den Glauben, der die Ferne und den Zorn10 Gottes erfährt, die 7 Es geht um den „sensus“, das wache, reflexions- und rechenschaftsfähige Selbstbewusstsein: „Sed tota vis huius mutationis latet in sensu seu estimatione seu reputatione nostra. Hunc enim mutare intendit omnis sermo Sripturae et omnis operatio Dei.“ WA 56, S. 233. „Deus est mutabilis quam maxime. [. . .] Qualis enim est unusquisque in se ipso, talis est ei Deus in obiecto“ WA 56, S. 234. 8 Vgl. zum Terminus Thomas von Celano: Vita Secunda Sancti Francisci, cap. CXII/152 (Fontes Franciscani, hg. von Enrico Menestò, Stefano Brufani u. a., Assisi 1995, S. 578f.). Satzungen der Gesellschaft Jesu (Text B), Sechster Hauptteil, erstes Kapitel (Ignatius von Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu, übersetzt von Peter Knauer [= Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, Bd. 2], Würzburg 1998, S. 739–741). Zur Deutung bleiben maßgeblich die klugen, umsichtigen Bemerkungen von Heinrich Boehmer: Die Jesuiten, 4. Aufl., Leipzig/Berlin 1921 (= Aus Natur und Geisteswelt 49), S. 51f. 9 Vgl. Reinhard Schwarz: Die Umformung des religiösen Prinzips der Gottesliebe in der frühen Reformation. Ein Beitrag zum Verständnis von Martin Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in: Bernd Moeller/Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S.128–149; aufgenommen und weitergeführt in ders.: Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Spiegel der ersten Kritiken, in: Lutherjahrbuch 68 (2001), S. 47–76; Berndt Hamm: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, in: Lutherjahrbuch 65 (1998), S.19–44; auch ders.: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens, in: Moeller/Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation (wie oben), S.103–127; beide Aufsätze jetzt auch in: ders.: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, S.1–24 und 65–89. 10 Vgl. Emanuel Hirsch: Luthers Gottesanschauung, Göttingen 1918, S.13f., Anm.15; jetzt auch in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3 (= Lutherstudien 3), Waltrop 1999, S. 24–50, hier: S. 35: „Es ist eine Schranke der von A. Ritschl begründeten Lutherauffassung, die noch bei R. Seeberg [Hirsch ver-
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Liebe als deren eigentlichen Grund enthüllt.11 Er hat also auf seinem Erdenweg auf einmalig intensive Weise das In- und Widereinander von Gottes Nähe und Ferne, von Gottvertrauen und Anfechtung durchlitten. Als Angefochtener und Leidender vergegenwärtigt er sich und schafft in Wort und Geist den Glauben. Darum ist er dem Glauben das schöpferische Urbild, gemäß welchem Gott alle diejenigen, die er im souveränen, schöpferischen Ratschluss zum Heil erwählt hat,12 zu sich zieht und in die Willensgemeinschaft mit sich, die Seligkeit, also die vollendete Nähe13 hineinbildet. Wenn man das Metaphernpaar der Nähe und Ferne Gottes als heuristisches Instrument verwendet, entsteht also ein scharf konturiertes Bild von zwei gegensätzlichen Formationen menschlichen Selbstverständnisses und Gottesverhältnisses. Die zwischen ihnen obwaltende Differenz ist qualitativ, nicht quantitativ: Sie stehen einander als „wahr“ und „falsch“ gegenüber. Das „falsche“ Selbstverständnis und Gottesbewusstsein thematisiert Luther in zwei nicht immer leicht auseinander zu haltenden, aber doch in der Sache deutlich zu unterscheidenden gedanklichen Zusammenhängen. Einmal ist es die Grundausstattung, die jeder wirkliche Mensch ins Leben mitbringt und die er bis zum Tode nie los wird – es ist die Erbsünde. – Zum andern waltet es in solchen Formationen von Frömmigkeit, Kirchlichkeit und Theologie, welche ein Bild christlichen Leben voraussetzen oder entwerfen, das bei aller quantitativen Asymmetrie doch letztlich ein partnerschaftliches Zusammenwirken von göttlicher Gnadeninitiative und menschlicher Antwort voraussetzt. Luther hat das alles nicht von ferne geahnt – aber in seinem berühmten Zornesausbruch gegen die Dummköpfe und Sautheologen14 sind die treibenden Sachanliegen seiner Polemik gegen die Papstkirche seit dem Ablassstreit schon deutlich präformiert. Luthers steiles Wahrheits- und Überlegenheitsbewusstsein ruht auf zwei Säulen: Einmal auf dem Anspruch, allgemein anerkannte Autoritäten mit einem höheren Maß an Treffsicherheit auszulegen, zum andern auf dem höheren Grad an Wahrhaftigkeit, an Plausibilität in der Auslegung und Deutung menschlicher Gottes- und Selbsterfahrung. – Dass zumindest insgeheim die zweite Säule die eigentlich tragende und entscheidende ist, behaupte ich zuversichtlich. – Damit genug des Vorspanns. Ich komme zu Einzelheiten und beginne mit der angekündigten Freihandskizze zur „Nähe“ Gottes in der spätmittelalterlichen Kirche, Frömmigkeit und Theologie.
weist auf dessen Lehrbuch der Dogmengeschichte 4/1, 2. und 3. Aufl., Leipzig 1917, S.175] deutlich hervortritt, dass sie kein Verständnis hat für Luthers Aussagen von Gottes Zorn. Gottes Zorn ist auch für den Christen mehr als eine ‚Fiktion‘, und eine Darstellung von Luthers Gottesbegriff, die über den Zorn nichts zu sagen hat, bleibt ein Torso.“ 11 WA 56, S. 375f. 12 Der radikale religiöse Determinismus der Schrift gegen Erasmus ist in den Römerbrief-Studien voll ausgebildet; vgl.WA 56, S. 375f. 381–383. 13 Vgl.WA 56, S. 364f. 14 WA 56, S. 274.
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I. Dass Gott sich im Weg, Wort und Werk Jesu Christi der sündigen Menschheit auf heilsame Weise angenähert hat – dies ist die innerste Triebkraft in all den unübersehbar reichen und vielfältigen Strukturen und Aktivitäten der im Papst gipfelnden verfassten Kirche des Spätmittelalters. Weil und sofern sie diese einmalige Annäherung an jedem Ort und zu aller Zeit zur gegenwärtig wirksamen Realität macht, ist die Kirche erstens heilsnotwendige, von Gott gesetzte Anstalt – Heilsanstalt. Sie muß den Menschen, um derentwillen sie da ist, ihr Wesen und ihr Tun erläutern und ihnen erklären, warum sie ihrer bedürfen und wie sie leben müssen, um mit ihrer Hilfe ans Heilsziel zu kommen: Darum ist die Kirche als Heilsanstalt zweitens auch Lehranstalt. Die Kirche muss die Maßgaben ihres heilsnotwendigen Lehrens bei den ihr Anvertrauten zu deren eigenen Gunsten auch disziplinarisch durchsetzen. Und sie muss sich um ihrer Heilswirksamkeit willen gegen die überall lauernden Möglichkeiten des Missbrauchs und des böswilligen Missverstandes wirksam schützen: Darum ist sie als Heils- und Lehranstalt drittens auch Rechtsanstalt – mit der ihr wesentlich inhärenten Möglichkeit, ihren Satzungen bei den ihr Anvertrauten nötigenfalls mit den Mitteln des Zwanges Geltung zu verschaffen. In und an der Bibel hat die Kirche als Heils-, Lehr- und Rechtsanstalt ihre letztverbindliche Legitimationsurkunde: Sie dokumentiert die Heilige Geschichte und deren Einmünden in die sie kontinuierende sowie deren Ertrag repräsentierende und zueignende Kirche. Gottes Annäherung geschieht also immer in der Kirche und durch die Kirche. Zentral ist das Altarsakrament: Hier vergegenwärtigt sich durch die Wandlungsvollmacht des rechtmäßigen Priesters allenthalben zu jeder Stunde das Heilswerk Christi. In den verwandelten Elementen ist in der Kirche und durch die Kirche Christus, Gott selbst manifest gegenwärtig.15 Diese Annäherung Gottes ermöglicht und fordert ihrerseits die Annäherung des Menschen. Nun ist aber der Mensch seit Adams Fall vom Moment seiner Zeugung/Empfängnis an Sünder; darum müsste er, sich selbst überlassen, in der Annäherung Gottes vergehen. Auch hier ist also die Kirche gefragt. Sie führt, leitet und qualifiziert den Menschen derart, dass er sich der Annäherung Gottes so zu stellen vermag, dass sie ihm zum Heil ausschlägt. Die Kirche tut das in erster Linie, indem sie die Sakramente der Taufe und der Buße samt ihren unterschiedlichen sakramentalen und nichtsakramentalen Seitenbildungen verwaltet und sodann die ihr durch die Taufe anvertrauten Menschen durch Lehre, Erziehung und rechtsförmigen Zwang dazu bringt, sich ihrer zu ihrem Heil zu bedienen. So strahlt und strömt durch die Kirche, die Gottes Nähe in der Menschenwelt zur allgegenwärtigen Realität erhebt und die Menschen in Gottes Nähe führt, die 15 Die Transsubstantiationslehre, das einzige neue Dogma des Mittelalters, ist in ihrer ursprünglichen Formulierung durch Papst Innozenz III. auf dem IV. Laterankonzil bekanntlich primär ein Satz über die Heilsnotwendigkeit und Heilsvollmacht der Papstkirche (Denzinger/Schönmetzer Nr. 802).
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eine heilsame Annäherung Gottes in Jesus Christus in die Vielfalt der Geschichtsund Kulturräume hinein. Sie wird zwar in kaum noch überschaubarer Weise vielgestaltig, bleibt aber doch letztlich mit sich selbst identisch: Durch die geschichtliche Einheit der biblisch bezeugten Grundtatsachen und Grundnormen sowie durch die wesentliche Einheit und Unfehlbarkeit der diese repräsentierenden, auslegenden und anwendenden, von Christus selbst als Organ seines Wirkens gestifteten und sichtbar verfassten Kirche. Die in der und durch die Kirche vermittelte Annäherung Gottes an die Menschen entfaltet und diversifiziert sich gemäß den Lebensformen und Wertorientierungen einer gerade im Späten Mittelalter immer weiter sich differenzierenden Gesellschaft. Sie verkörpert in der Vielfalt ihrer sakramentalen und seelsorgerlichen Zuwendungsweisen Gottes Annäherung, die so vielgestaltig ist wie die gesellschaftlich und persönlich geformten Dispositionen und Möglichkeiten der einzelnen Menschen selbst. Die kirchlich vermittelte Annäherung Gottes an den Menschen spricht diesen daraufhin an, dass er selig werden will, dass er aber Sünder ist: Er muß sich also um seines Heilsziels willen auf die Annäherung Gottes in den Sakramenten einlassen. Sie versichert ihm, dass er das, unbeschadet seines Sünderseins, auch kann. Sein eigenes Bestreben, zur Seligkeit zu gelangen, verbürgt ihm, dass er Gott und Gott ihm immer schon nahe ist. Diese Nähe ist zwar durch die Sünde gestört und beeinträchtigt, aber mit Gottes Gnadenhilfe sind diese Störung und ihre Folgeschäden überwindbar, denn Gott kommt ja in der Kirche und durch die Kirche dem Sündermenschen entgegen: Er macht ihm so seinen Heilshunger bewusst und gibt ihm Möglichkeiten, ihn zu stillen. So weckt und schärft die Kirche in den Menschen das Heilsverlangen und klärt sie darüber auf, was sie tun müssen, um Gottes Angebote für sich wirksam zu machen. Sie konfrontiert die Menschen um ihres eigenen Heils willen mit einer Skala von Anforderungen, die in feinen und feinsten Abstufungen allen Spielarten der empirischen Gestaltung des religiösen und sittlichen Bewusstseins entsprechen: Es gibt ja Menschen, die so organisiert sind, dass sie sich Gott, getrieben von Furcht und Hoffnung, aus eigener Kraft weit entgegenbewegen können. Andere gibt es, die das nicht können, aber sie vermögen doch gleichsam der Annäherung Gottes die Tür zu öffnen, wenn er anklopft.Wieder andere sind selbst hierfür zu schwach, und für sie gilt: Wenn sie die Tür schon nicht öffnen können, dann sollen sie doch zumindest nicht auch noch einen Riegel vorschieben! Diese menschlichen Mitwirkungen reichen natürlich für sich gesehen nie aus, und seien sie noch so groß: Sie können nur wirksam werden, weil Gott seine Gnade gibt und denen, welche ihr Wirksamkeit verstatten, weitere Gnadengaben gewährt. Die vielgestaltige Gnade, die dem Menschen auf allen Etappen seines Heilswegs entgegenkommt, tut dann ihr Werk gleichsam unterhalb des wachen sittlich-religiösen Bewusstseins: Sie macht den Menschen vor Gott angenehm, akzeptabel, so dass seine Werke „gut“ im Sinne von verdienstlich werden, und auf geheimnisvolle Weise, die sich der reflexionsfähigen Erfahrung ebenso entzieht wie der vernünftigen Rechenschaft, steigert sie seine sittlichen und religiösen Energien.
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Die theologischen Motive, die hier wirksam sind, seien kurz angedeutet: Der Mensch kann sich von seiner Sünde von Geburt an aus eigenen Kräften schlechterdings nicht befreien. Er kann jedoch, durch die zuvorkommende Gnade motiviert und angeleitet, diesen Zustand durchschauen und sich von seinem Sündersein so weit distanzieren, dass er zu einem Handeln gelangt, welches ihn auf den Empfang der heilsamen Gnade vorbereitet. Durch die Gnade wird dann sein schon aktiv gewordenes besseres Selbst von der Sünde befreit und mit neuen Kräften beschenkt. Der Mensch bleibt bei alledem als Person mit sich identisch, und das bedeutet: Die psychische Prädisposition zum Sündigen bleibt erhalten, der fomes peccati (Sündenzunder).Verstand und Wille verhindern, dass die Sinnlichkeit ihn entzündet, indem sie die lockende kurzfristige Lust an der drohenden Strafe bzw. am Lohn der Standhaftigkeit messen. Solange dieses Gleichgewicht erhalten bleibt, ist der fomes peccati religiös-ethisch wertneutral. Sünde liegt erst dann vor, wenn er in Brand gerät. Im Lichte der zuvorkommenden Gnade sieht die Vernunft das ein, und sie zieht daraus den Schluss, dass die heiligmachende Gnade zum Heil notwendig ist. So kann sie den Willen dahingehend beeinflussen, dass dieser Akte vollbringt, welche den Gnadenempfang ermöglichen. Der Erwerb dieser gedanklichen Konstruktion liegt auf mehreren Ebenen. Einmal: Es ist deutlich, dass der Mensch in gewisser Weise ein anderer wird, wenn er der gnädigen Annäherung Gottes durch seine eigene Annäherung an Gott entspricht. Genauso deutlich ist: Die Kontinuität des individuellen Subjektseins bleibt erhalten. Vernunft und Wille des Menschen orientieren sich neu, aber ihre wesentliche Identität hält sich durch. Sie empfangen eine Stärkung, welche es ihnen ermöglicht, das, was sie eigentlich ja schon immer angestrebt haben, nun effektiver zu verfolgen: „Erlösung“ ist unter den Bedingungen einer bestimmten Gestalt rationaler Psychologie/Anthropologie begrifflich fassbar und verstehbar. Strukturell problematisch bleibt die Verifikation am Maßstab des Erfahrungsurteils. Sodann: Zweifelsohne ist der Mensch lückenlos auf die göttliche Gnade in ihren kirchlichen Vermittlungsgestalten angewiesen. Aber er bleibt zugleich auch das verantwortliche, d. h. schuld- und verdienstfähige Subjekt seines Tuns und Ergehens. Drittens: In Gott selbst ist die Widerspannung von strafender Gerechtigkeit und schenkender Gnade produktiv zum Austrag gebracht: Gott erhält das von ihm gesetzte Bedingungsgefüge aufrecht, welches festlegt, was geschehen muß, damit seine Annäherung dem Menschen zum Heil ausschlägt.Aber er verlangt auch vom Menschen nichts, was diesem nicht möglich wäre, und so trägt der Mensch, der zugrunde geht, letztlich selbst die Schuld an seinem Verhängnis. Ich fasse zusammen: Gewahrt bleibt einerseits das souveräne Herrenrecht Gottes, anderseits religiös-moralische Subjekthaftigkeit des Menschen. Ob jemand die Nähe Gottes heilsam erfährt, hängt also letztlich daran, ob er der heilsamen Annäherung Gottes durch die geforderte Annäherung an Gott entspricht. Der Mensch, der so in Gottes Nähe gelangt, vermag mit guten Gründen zu hoffen, dass Gottes Heilswille an ihm zum Ziel gelangt, weil und sofern er sich ihm nicht
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in den Weg stellt oder ihn gar befördert. Die Annäherung Gottes appelliert im Menschen an sein besseres Selbst, welches das Ewige Heil erwerben will, und stärkt dieses gegen die niederen Seelenkräfte, welche Befriedigung und Erfüllung im irdischen Hier und Jetzt suchen. Die Annäherung Gottes ist so ein Ineinander von Affirmation und Negation, denen der Mensch zu entsprechen hat, indem er sich, durch Gott in seinem guten Kern affirmiert, dessen Negation der Sünde in und an ihm anschließt. Und Gottes Heilswille verspricht ihm unter erfüllbaren Bedingungen das, was er immer schon erstrebt: Die Ewige Seligkeit.
II. Die Allgegenwart und Nähe Gottes war für Luther als metaphysische Einsicht eine selbstverständliche Vorgabe seines Weltbildes: „Gott, der Allgegenwärtige ist niemandem fern“ – so formuliert er, Ps 22,2 auslegend.16 Gottesferne ist dennoch eine Realität – im Bewusstsein des Menschen, eine Realität jedoch, die sich dem Zugriff der Metaphysik ebenso entzieht wie dem Urteil einer immanenten Moral.17 Gottesferne ist nur aussagbar im Rückgriff auf lebendige Erfahrung, und die vernommene Rede von der Gottesferne kann nur als Deutung eigener Erfahrung angeeignet werden: „Von Gott verlassen werden, das heißt ja, weg vom Leben und vom Heil in die Ferne des Todes und der Hölle gehen, und das versteht niemand, der es nicht selbst gefühlt hat.“18 Von der Nähe und Ferne Gottes reden, das heißt also von der Realität des lebendig bewegten, konflikthaltigen menschlichen Gottesbewusstseins reden.19 Über Gottes Nähe und Ferne Gottes ist nicht zu handeln in der dogmatischen Lehre von den Sakramenten oder in sakralrechtlichen Überlegungen zur Kirche und ihrer Hierarchie. Der Nähe und der Ferne Gottes nachzudenken, das heißt von Sünde und Gnade zu reden, wobei auch diese beiden Begriffe entgegen dem herrschenden Brauch nicht als metaphysische oder moralische Kategorien zu verstehen sind, sondern als Chiffren für zwei antagonistische Gestaltungen des menschlichen Gottesbewusstseins, und die stehen wiederum im Verhältnis der wechselseitigen Interdependenz zu ihnen entsprechenden Gestaltungen des menschlichen Selbstverständnisses.
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Operationes in Psalmos 22; WA 5, S. 606, 36: „Deus autem a nemine fit longe.“ Diese auf Schleiermachers „Reden“ voraus verweisende Begriffskombination benutzt Luther, vgl.WA 56, S. 334. 341. 351. 18 „Derelinqui enim a deo, hoc est a vita et salute ire in regionem longinquam mortis et inferni, quod nemo nisi similiter affectus capit.“ WA 5, S. 606,39–607,2 (Operationes in Psalmos, zu Ps. 22,2). – Offenkundig nimmt Luther hier Gedanken Augustins auf, der z. B. betend bezeugt: „Mecum eras, et tecum non eram“ (Conf. X,27,38). Das Verhältnis Luther-Augustin ist auch in dieser Einzelfrage zu komplex, als dass es nebenher mitbehandelt werden könnte. – Sehr erhellend ist Joachim Ringleben: Interior intimo meo. Die Nähe Gottes nach den Konfessionen Augustins, Zürich 1988 (= Theologische Studien 135). 19 Vgl.WA 56, S. 234. 17
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Im falschen Gottesbewusstsein finden sich alle Menschen immer schon vor. Es ist für den Menschen, der in die Sünde Adams und ihre Folgen hineingezeugt und -geboren wird, das natürliche: In ihm figuriert Gott als derjenige, der an den Menschen bestimmte Forderungen stellt, die dieser zu erfüllen hat, damit er bei Gott Vorteile erlangen und Nachteile abwenden kann. In diesem Selbst- und Gottesbild ist des Menschen Wille zum Selbstsein und zur Selbstdurchsetzung die grob oder subtil alle Einzelheiten bestimmende Leitperspektive. Dieses Gottesund Selbstbild wird keinen Menschen je freigeben, solange er empirisch er selbst ist, d. h. solange er lebt. Das falsche Gottesbewusstsein ist das jedem menschlichen Subjekt unmittelbar plausible, selbstverständliche, natürliche. Das wahre kommt immer erst als ein zeitliches wie sachliches posterius hinzu, als Unterbrechung, als Einspruch, als Widerspruch.Wo immer das wahre Gottesbewusstsein sich geltend macht, da liegt es sofort im Kampf mit dem falschen;20 unter den Bedingungen irdisch-geschichtlichen Lebens existiert es überhaupt nur in diesem Kampf. Dieser Kampf ist letztgültig: Es gibt in ihm keine Neutralität, und es ist kein dritter Ort oberhalb oder unterhalb des Kampfgeschehens denkbar, an dem oder von welchem aus Vermittlungen stattfinden könnten.21 In diesem Kampf wirkt Gottes Gnade,22 verstanden als sein schöpferisches Wohlwollen, seine sich im Schenken durchsetzende Gerechtigkeit. Ihre authentische Verkörperung ist Jesus Christus; er wirkt in Wort, Geist und Glaube. Mit diesen drei Begriffen bezeichnet Luther jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln denselben komplexen Vorgang des grundstürzenden und grundlegenden Umschwungs im menschlichen Selbst- und Gottesbewusstsein. Was heißt das für die metaphorische Rede von der „Nähe“ und „Ferne“ Gottes? Nun, es ist nicht so, dass Luther einfach die „Nähe“ Gottes gegen seine „Ferne“ hervorhebt oder umgekehrt. Die Dinge liegen komplizierter. Es handelt sich bei dem, was Luther unter „Gottes Nähe und Ferne“ versteht, im Vergleich zur herrschenden spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie, wie er sie versteht, nicht um eine Differenz der gleitenden, quantitativen Übergänge.Vielmehr vollzieht Luther einen Sprung aus einem Bezugssystem heraus und in ein neues hinein, und das heißt: Was im Bezugssystem des falschen Gottes- und Selbstbewusstseins als „Nähe“ Gottes erscheint, das enthüllt sich im Lichte des wahren als Symptom der Ferne. Und der Mensch, der vom falschen Gottes- und Selbstbewusstsein geleitet ist, erlebt die das wahre Gottesbewusstsein anbahnende Annäherung Gottes als radikale Verneinung der zuvor angenommenen Nähe, also gleichsam als ein Sichentziehen, als ein Fernerrücken Gottes, als Gottes Zorn.
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Vgl.WA 56, S. 379. Vgl.WA 56, S. 354. 364. Vgl.WA 56, S. 379.
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III. An dieser Stelle gilt es, sich eine perspektivische Differenzierung zu verdeutlichen. Das falsche Gottesbewusstsein als das dem Sünder natürliche ist allgegenwärtig und unübersehbar variantenreich. Paulus sah sich mit ihm konfrontiert in seinen jüdischen Volksgenossen, die sich dem Glauben an Jesus als den Christus verschlossen, und in den „Heiden“ der hellenistischen Welt. Luther selbst sieht es wirksam in den „groben Sündern“ seiner Zeit, aber auch in den Hochleistungsasketen, die sich mit Demütigung und Verzicht den Himmel erwerben wollen23. Hierzu kommt noch ein weiterer Aspekt. Luther diagnostiziert die Wirksamkeit des falschen Gottesbewusstseins nicht nur in der Sphäre gelebter Religion, sondern auch in der Sphäre der Theologie. Der herrschenden Schultheologie seiner Zeit24 wirft er vor, die gängigen Vorstellungs-, Sprach- und Denkmuster christlicher Lehre für Systementwürfe zu missbrauchen, die letztlich das falsche Gottesbewusstsein nicht kritisieren und seine Überwindung proklamieren, sondern es in seiner sündhaften Borniertheit bestätigen und bestärken. Die vorherrschenden Gestalten christlicher Lehre behaupten, in welcher genauen Variante auch immer, Erlösung geschehe in einem Prozess der wechselseitigen, schrittweisen Annäherung von Gott und Mensch, in der eine immer schon vorhandene Nähe quantitativ intensiviert und gestärkt werde: Im unzerstörbar guten Kern der Persönlichkeit sei die wechselseitige Nähe Gottes und des Menschen immer schon gegeben. In einem wohlabgewogenen System der erfüllbaren Forderungen und der überschwenglichen Belohnungen geschehe ein Prozess der wechselseitigen Intensivierung dieser Nähe von Gott und Mensch, der als Bildungsvorgang zu begreifen sei: Mit göttlicher Gnadenhilfe bilde der Mensch sich selbst aus der Sündenmisere empor und komme Gott immer näher, weil und sofern sich ihm Gott helfend, unterstützend, motivierend und belohnend nähere.
IV. Dass es hier um einen Bildungsprozess geht, bejaht Luther durchaus. Allerdings bestimmt er diesen Bildungsprozess von Grund auf anders; er ist nämlich gänzlich einseitig: Gott bildet den Menschen, und das urbildliche Muster seines Bildens ist Jesus Christus. Gott ist dabei allein aktiv, während der Mensch passiv ist bzw. widerstrebt.25 23 Vgl.WA 56, S.179. 186f. 192f. 199f. 212f. Zentral ist die Polemik gegen die Heilsrelevanz der vermeintlichen bona intentio, vgl.WA 56, S. 501. 24 Mit vollem Recht betont Leif Grane (Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517 [= Acta theologica Danica 4], Kopenhagen 1962, S. 317), dass Luther sich zwar primär mit der ihm in der Gestalt der Werke Biels vorliegenden spätfranziskanischen Sünden- und Gnadenlehre auseinandersetzt, dass seine kritischen Einwände jedoch die hochscholastischen Lehrformen ganz genau so treffen. 25 Vgl.WA 56, S. 376f. 475.
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Er ist allerdings kein leb- und fühlloses Objekt des göttlichen Formens und Bildens, sondern das göttliche Bilden vollzieht sich in und an seinem wachen, lebendigen Bewusstsein, im und am Zentrum seiner lebendig-wollenden Persönlichkeit. Es geht nicht um die Ausstattung des Menschen mit zusätzlichen Kräften, sondern es geht um die Transformation des Gottes- und Selbstbewusstseins, m. a. W.: Die unaustilgliche Disposition zum Sündigen, die als Faktum des empirischen menschlichen Bewusstseins im Denken des kirchlich-theologischen mainstream zwar durchaus Würdigung fand, aber doch von eher nachrangiger Bedeutung war, rückt, neu verstanden, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier führt die Zuspitzung der theologischen Reflexion auf den sensus, das wache, sprachlich verfasste und rechenschaftsfähige Bewusstsein zu massiven tektonischen Verschiebungen! Luther versteht den fomes peccati nicht als eine Gegebenheit in der menschlichen Psyche, die dem Willen oder dem Intellekt äußerlich ist, sondern der fomes peccati liegt und wirkt im Willen wie im Intellekt selbst, ja, er treibt und steuert beide: Er wird als faktische Bestimmtheit und Bestimmung lebendigen menschlichen Selbstund Gottesbewusstseins wahrgenommen und gewertet!26 Luther bestreitet also keineswegs, dass der Mensch ein unaustilgliches Gottesbewusstsein in sich trägt: Auch der Sünder weiß um Gott, und in graduell unendlich differenzierter Weise formt er Bilder von dessen Wesen und Wirken, die, verstanden als metaphysische Theorien, gar nicht mal falsch sein müssen. In der Sünde verfangen und deshalb falsch ist und bleibt jedoch die Willenstriebkraft hinter diesen Bildern, und zwar auch dann, wenn diese objektiv keinen Millimeter weit von den Vorgaben der Rechtgläubigkeit abrücken: Sie stellen den Menschen und seine eigene Selbstdurchsetzung in Zeit und Ewigkeit ins Zentrum. Sie sind daher unbeschadet ihrer theoretischen und moralisch-praktischen Höhenlage Indikatoren der lückenlosen Selbstbezogenheit des Menschen, in der ihm alles, was ihm begegnet, zum Mittel zum Zweck der Selbstdurchsetzung wird,27 auch die sorgfältig emporgebildete Tugend und die sublim reflektierte und praktizierte Frömmigkeit. Das Postulat, die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe seien für den Menschen in irgendeiner Weise erfüllbar, steht auf subtile Weise im Dienst genau dieser Ichzentrierung des Willens, denn es will sicherstellen, dass der Mensch sich durch die Erfüllung dieser Gebote bei Gott ein Verdienst erwerben kann, und sei es auch ein bloßes Billigkeitsverdienst. Diese ichhafte Zentrierung des Willens ist allumfassend und lückenlos. Zirkulär führt sie alle Bezüge, in denen der Mensch steht, auf dessen selbstische Ichorientierung zurück – das meint Luther mit curvitas, einem Begriff, für den er (irrtümlich) biblischen Rang reklamiert.28 Das sündige Verderben betrifft also nicht irgendetwas am Menschen, sondern den lebendigen Kern seiner Existenz selbst. Darum kann seine lückenlose Verhaftung an sich nur von außen her aufgebrochen werden – durch Gott selbst, und 26 27 28
Vgl.WA 56, S. 274–276. Vgl.WA 56, S. 355–357. Vgl.WA 56, S. 352, 9 mit Fickers Sachanmerkung z. St.
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der kann dabei nicht an so etwas wie einen intakten Willenskern anknüpfen oder appellieren. Gottes Annäherung vollzieht sich also, indem das immer schon vorhandene Bewusstsein der Nähe Gottes radikal dementiert wird, und zwar durch eine Annäherung Gottes, die notwendigerweise seitens dessen, den sie trifft, als bis ins letzte gehende Verneinung erfahren wird: Luthers Rede davon, dass Gott hier töte,29 ist weder eine pathetische Redefigur noch auch bloße Reproduktion der von Paulus verwendeten Begrifflichkeit des Kultmysteriums (Röm 6,3ff.).30 Gemeint ist vielmehr ganz buchstäblich und an die lebendige Erfahrung appellierend der Untergang einer Gestalt menschlichen Gottes- und Selbstbewusstseins und das Werden einer neuen – durch das Wort: Der Mensch wird mit einer Deutung seiner selbst konfrontiert, die seinem bisherigen Selbstverständnis bis in den Grund widerspricht. Dennoch sieht er sich unausweichlich genötigt, sie anzunehmen, zu bejahen, weil sie sein bisheriges Selbstverständnis an Plausibilität und Erschließungskraft übertrifft. So formt und bildet Gottes Wort31 den Menschen, indem es ihm ein neues Bild Gottes und seiner selbst zueignet. Das naiv-sündhafte Bewusstsein der immer schon potentiell oder aktuell gegebenen Nähe zu Gott wird zerstört, und es entstehen in engstmöglicher Bezogenheit aufeinander ein neues Bild Gottes und des Menschen: Der Mensch, der sich selbst in seiner Gottesferne durchschaut, erkennt Gott als den allein Gerechten an, auf dessen Erbarmen er in reiner Unumkehrbarkeit angewiesen ist, ohne jemals ihm gegenüber einen Anspruch erheben zu können. Dieses durch das göttliche Wort dem Menschen zugeeignete Selbst- und Gottesbild ist in sich dialektisch verfasst. Es ist gerade die ihm sich aufdrängende Anerkennung der eigenen Verkrümmtheit, der Gottesferne, welche allein ein zutreffendes Bild Gottes, seines Willens und seiner Nähe aus sich heraussetzt, und umgekehrt: Erst die Selbstentzweiung durch Gottes Einspruch macht den Menschen wahrhaftig und wahrheitsfähig. Erst die Anerkennung seiner eigenen bleibenden Gottesferne lässt ihn der wahren Willenspräsenz Gottes innewerden und standhalten: In ihr liegen Gottes Nähe gewährendes Ja und sein in die Ferne weisendes Nein unscheidbar ineinander.32
V. Wie gesagt: Luther versteht das als einen durchaus teleologisch gerichteten Bildungsprozess weg von der selbstischen Entzweiung des Menschenwillens von Gott hin zur Willenseinheit mit ihm, als einen Bildungsprozess in Richtung auf
29
Vgl.WA 56, S.193. 224–336. Hans Lietzmann: An die Römer, 3. Aufl., Tübingen 1928 (= Handbuch zum Neuen Testament 8), S. 67f. 31 Vgl.WA 56, S. 210–213. 224–227. 329f. 32 Vgl. hierzu Luthers anerkennungslogische Überlegungen zu Röm 3,4, besonders WA 56, S. 216–219. 30
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die vollendete Gottes- und Nächstenliebe, d. h. zur Seligkeit. Dieser Prozess ist zwar im Erdenleben unabschließbar. Aber der Glaube ist eben auch hoffender Ewigkeitsglaube, dem die Antizipation seiner Vollendung innewohnt.33 Sie ruht darauf, dass es ja Gott selbst ist, der seinen Willen in dieser Weise durchsetzt und endgültig durchsetzen wird.34 Für das religiöse Bewusstsein, welches das Wort stiftet, ist jedoch charakteristisch, dass die Wahrheit sich immer nur im Kampf gegen die sündhafte Unwahrheit durchsetzt. Der Gerechtfertigte ist Sünder und Gerechter zugleich: Die Kontinuität der Persönlichkeit bleibt gewahrt. Die Selbstexplikation des christlichen Bewusstseins, die Paulus nach Luthers Exegese in Röm 7,7ff. niedergelegt hat,35 bleibt lebenslang gültig. Gerechtfertigtsein heißt Gerechtfertigtwerden. Die Gnadeneingießung,36 in der er in seinem Wort die sündhaften Illusionen zerstört und die Anerkennung seiner selbst begründet, ist Gottes negotium perpetuum am Menschen, und das negotium perpetuum des Menschen ist das Aushalten dieses ihn niederwerfenden und neu aufbauenden Einspruchs.37 Das heißt also: Nach Luthers Verständnis gründet die wahre Gottesnähe des Menschen in der durch Gottes Annäherung immer neu begründeten Anerkennung der eigenen wesentlichen Gottesferne, in der dem Menschen die Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und seinem Urteil zuteil wird.
VI. Diese Überwindung der falschen Gottesnähe in die wahre, die Ferne Gottes in sich tragende Nähe Gottes bzw. zu Gott ist Gottes Werk in Jesus Christus. Basis von Luthers Ausführungen ist die Lehre von der satisfactio vicaria.38 Neu gestellt und beantwortet wird jedoch die Frage nach der Aneignung des Heilsertrags, den Jesus Christus in seinem stellvertretenden Leiden erworben hat. Herkömmlicherweise ist ja hier der Ort, von den Sakramenten und den objektiven wie den subjektiven Bedingungen ihrer Heilswirksamkeit zu handeln, also von Gottes Annäherung an den Menschen und der ihr korrespondierenden Annäherung des Menschen an Gott nach herkömmlicher Lesart. Diesen gesamten Gedankengang gestaltet Luther gänzlich neu, wobei, wie am Rande bemerkt sei, natürlich auch der Bedeutungsgehalt der überkommenen Satisfaktionsvorstellung von Grund auf umgewertet wird: Die Genugtuung Christi gilt nicht mehr als Ermöglichungsgrund für weitere gnadenhaft-sakramental fun-
33
Vgl.WA 56, S. 321. Vgl.WA 56, S. 272f. 35 WA 56, S. 329f. mit höchst aufschlussreichen Rückbezügen auf Hieronymus und Augustin; s. auch WA 7, S.106–110 (Assertio). 36 Vgl.WA 56, S. 379. 37 Vgl. 1. Ablassthese, WA 1, S. 233. 38 Vgl.WA 56, S. 37. 34
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dierte (nachgeordnete) menschliche Genugtuungswerke, sondern schließt diese radikal aus!39 Zurück zum Gedankengang: In Luthers Aufnahme wird die Lehre von der satisfactio vicaria durch die Anschauung erweitert bzw. überlagert, dass Jesus Christus, verstanden in der Ganzheit seines Wortes und Weges, das schlechthin authentische, urbildliche „Werk“ Gottes ist, d. h.: In und an Jesus Christus gibt sich der all- und alleinwirksame Gott in seinem innersten Willen zu erkennen. In ihm imponiert sich dem Menschen einmal Gottes Wille als absolute, kompromisslose Forderung der Willensübereinstimmung. Darüberhinaus verkörpert er Gottes Willen, demjenigen, der so von jeglicher Illusion der immer schon vorhandenen Nähe zu Gott gelöst ist, auf neue Weise seine Nähe zu gewähren. Das führt zu einer völligen Neufassung und -füllung des Glaubensbegriffs jenseits seines hergebrachten vulgärkatholischen Verständnisses als eingegossener oder erworbener kognitiver Kadavergehorsam. Die besondere systematische Faszinationskraft der Röm-Auslegung besteht darin, dass der Glaubensbegriff noch nicht zur dogmatischen Formel geronnen ist, sondern dass seine ja durchaus unterschiedlichen Gehalte und Konnotationen in unterschiedlichen Nomenklaturen und Gedankengängen mit-, an- und ineinander entfaltet werden: Glaube ist ein Akt der Anerkennung, der die eigene Sünde ebenso betrifft wie die Gerechtigkeit Gottes. Er trägt den Aspekt des (kontrafaktischen) Vertrauens in sich, und er ist die radikale Lösung vom sündhaften Eigenwillen zugunsten der freien, rückhaltlosen Übereinstimmung mit dem Willen Gottes. Er ist Geist und Gnade, weil und sofern er sich dem Handeln Gottes in und an Akten des lebendigen Bewusstseins verdankt. Wer glaubt, der lässt sich von Jesus Christus eben gesagt sein, dass er Sünder ist und zu seiner Erlösung schlechterdings selbst nichts beizutragen vermag, er lässt sich also gerade von Jesus Christus seiner sündhaften Gottesferne überführen. Im Handeln Gottes an Jesus Christus, in dessen abgründigem Kreuzesleiden, erkennt er den Weg, auf dem Gott in souveräner Alleinwirksamkeit einen jeden seiner Erwählten zu sich führt: In neuartiger Weise rückt der nicht allein physisch leidende, sondern zuinnerst vom Gotteszorn und der Gottverlassenheit, der Gottesferne angefochtene Christus ins Zentrum der religiösen Besinnung und der theologischen Reflexion. Er ist genau die Gestalt des Gotteswillens, die den Menschen zur Identifikation des Glaubens einlädt und befähigt: Das Leiden Jesu Christi ist die schlechterdings maßgebliche Erscheinungs- und Wirkungsweise der gnädigen Zuwendung Gottes und nicht deren Voraussetzung! Es ist gerade die vom sündlosen Christus erduldete authentische existentielle Gottesferne,40 in der und durch
39 Vgl.WA 56, S. 261f. – Klar und bis ins Letzte durchreflektiert ist dieser Gedanke dann z. B. in De votis monasticis (WA 8, S. 599). Dort wird sehr schön deutlich, dass diese Fassung der Lehre vom Satisfaktionswerk Christi engstens mit der Sündenlehre verbunden ist: Der im Glauben Gerechtfertigte bleibt in der Faktizität seiner Existenz Sünder, und darum können seine Werke niemals satisfaktorischen oder meritorischen Wert haben, was Luther dann besonders ausführlich in seiner Auseinandersetzung mit Jacobus Latomus dargelegt hat. 40 Vgl.WA 56, S. 392.
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die der sündlose Gottessohn dem seiner Gottesferne bewussten Sündermenschen zuverlässiger Bürge der ihm trotzdem gewährten Nähe Gottes ist.41
VII. In Jesus Christus erkennt der Mensch sich als Sünder, sieht sich gleichsam mit Gottes Augen in seiner Gottesferne und erkennt auch, wie Gott ihn in seine Nähe zieht, indem er ihn nämlich in einem lebenslänglichen, unabschließbaren Prozess aus seiner Sünde herauslöst. Der Mensch nimmt sich dabei selbst immerdar als Sünder wahr.Was über diesen Zustand hinausweist, ist nichts in oder an ihm selbst, sondern allein die Zusage Gottes in seinem Handeln an Christus. Der Mensch bleibt also kontinuierlich als Person mit sich identisch, und zwar gerade in seiner kontinuierlichen Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung als Sünder. Diese Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung, so zutreffend und realistisch sie lebenslang ist, wird allerdings durch das externe Urteil modifiziert, in welchem Gott ihm seine Ungerechtigkeit nicht anrechnet bzw. ihm die Gerechtigkeit zurechnet: als einem, der in der mit der Anerkennung seines Sünderseins vollzogenen wahrhaften Anerkennung Gottes mit diesem schon in einer wie auch immer unvollkommenen Willensgemeinschaft sich befindet. So ergibt sich im Glauben und durch den Glauben der wechselseitige Austausch mit Christus, der dann einige Jahre später im Freiheitstraktat als „fröhlicher Wechsel und Streit“ bezeichnet wird: Im Glauben nimmt Christus die Sünde des Sünders auf sich und eignet dem Sünder seine eigene Gerechtigkeit zu, so jedoch, dass diese nicht zu einer dem Sünder inhärierenden Qualität wird: Es bleibt immer beim Glauben.42 Und dieser Glaube hat seine Lebensform in der von Gott bewirkten immer neuen Abkehr des Menschen von seiner Sünde und Hinkehr zu Gott.43 Nur deswegen kann im Glauben immer neu die Nähe Gottes aufscheinen, weil die Gottesferne immer wieder ins Bewusstsein rückt: Die Buße ist die Lebensgestalt des Glaubens schlechthin,44 und darum liebt und sucht der Glaube die göttlichen Strafen, statt vor ihnen zu fliehen!45 All das ist das Werk Gottes, der den Menschen formt, indem er ihn davon abbringt, sich selbst nach seinen eigenen Vorgaben zu formen, der den Menschen in die Willensgemeinschaft mit seinem, dem göttlichen Willen hineinführt, der, so 41 In unübertrefflicher sachlicher und sprachlicher Prägnanz führt das auf engstem Raum aus der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2, S.136–142). S. auch Erich Vogelsang: Der angefochtene Christus bei Luther, Berlin/Leipzig 1932 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 21). 42 Vgl.WA 56, S. 204. 476; vgl. auch WA 1, S. 593,14–18 (Resolution zur 37. Ablassthese) mit dem wichtigen pneumatologischen Gedankenschritt: „Quia per fidem Christi efficitur Christianus unus spiritus et unum cum Christo. Erunt enim duo in carne una, Quod sacramentum magnum est in Christo et ecclesia [Eph 5,32; M. O.]. Cum ergo spiritus Christi sit in Christianis, per quem fratres, cohaeredes, concorporales et ciues fiunt Christi, quomodo ibi possit non esse participatio omnium bonorum Christi?“ 43 Vgl. 1. Ablassthese, WA 1, S. 233. 44 Vgl.WA 56, S. 441f. 45 Vgl. 40. Ablassthese, WA 1, S. 5; s. auch die Resolutio WA 1, S. 597.
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gesehen, die menschliche Noluntas zur Voluntas macht,46 den Nichtwillen des Menschen in den Willen umwandelt, der dem Willen Gottes konform ist. Wie, durch welche Mittel bzw. Medien geschieht das?
VIII. Nun, Luther kann, gänzlich unmystisch, formelhaft sagen, dass all das ein Werk Gottes durch Menschen ist.47 Deutlich ist dabei, dass spezifisch sakramentale, priesterliche Vermittlungen unnötig sind: Es geht ja nicht um die Eingießung/ Mitteilung irgendwie materiell verstandener Gnade, sondern um Vorgänge im und am wachen, lebendigen Bewusstsein, um das Entstehen und Vergehen von rational explizierbaren und kommunizierbaren Deutungen menschlicher Existenz. So können die sakral-hierarchischen Strukturen der spätmittelalterlichen Kirche als Gegebenheiten von diesem neuartigen Gedankengefüge aus auf neue Weise gedeutet und verstanden werden, was Luther auch tut.48 In wenigen, nicht sonderlich betonten Andeutungen, die alle im Kontext der Polemik gegen Häretiker und fromme Sonderlinge stehen, merkt er an, dass all das durch die Worte „guter Menschen“ geschieht, die er auch mit den praelati etc. identifizieren kann.49 Es gehört kein sonderlich hohes Maß an historischer Phantasie dazu, sich vorzustellen, was Luther meint. Ihm, der als Bettelmönch lebt, ist es selbstverständlich, dass er allenthalben religiöser Anrede ausgesetzt ist, die sein Selbstbewusstsein und sein Bild von Gottes Willen in lebendiger Bewegung hält: In der Liturgie der Stundengebete ebenso wie in den mehr oder minder formalen seelsorgerlichen Gesprächssituationen – „wir können nicht wissen, wann, wo, wie und durch wen Christus zu uns spricht“.50 Die zugleich existentiell meditierte und wissenschaftlich ausgelegte Bibel hat ihren Sonderrang darin, dass sie, richtig verstanden, die Flut der vielfältigen Eindrücke ordnet und strukturiert: Sie verhilft demjenigen, der sie im rechten Verstande liest, zu einem klaren Bild davon, was Gott mit seinem Walten am Herzen und Gewissen des Lesers wirkt und will. Nur selten blitzt ein anderes Verständnis der Bibel durch. Das biblische Wort selbst, das Evangelium wird als Medium der Selbstvergegenwärtigung Gottes im Herzen und Gewissen des Menschen verstanden.51 46
Vgl.WA 56, S. 446–448. Vgl.WA 56, S.163f. 48 Sie können natürlich auch mit radikalen Forderungen hinsichtlich einer umfassenden Erneuerung ihres Selbstverständnisses und Daseinszwecks konfrontiert werden; exemplarisch hierfür sind Luthers Appelle an das Papsttum zur radikalen Selbsttransformation in De captivitate (WA 6, S. 536f.). 49 Vgl.WA 56, S. 251. 255f. 258. 50 Vgl.WA 56, S. 256. 51 Vgl.WA 56, S. 338 – das sind wesentliche Grundgedanken von „Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und gewarten soll“ (WA 10 I,1, S. 8–18). Eine zugleich gedanklich höchst anspruchsvolle und überaus sorgfältig die Texte erschließende Darstellung der Theologie Luthers aus dieser Perspektive ist jüngst erschienen: Joachim Ringleben, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010 (= Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 57). 47
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Dieses Verständnis des Schriftzeugnisses als direkte Anrede, welche den nachgeborenen Hörer in die Gleichzeitigkeit mit den ersten Jüngern versetzt52 und gerade so die wahre Nähe Gottes an die Stelle ihrer illusionären Chimäre setzt, gewinnt dann im Ablassstreit Gestalt: Das in der Spannung der Realdialektik von Gesetz und Evangelium verstandene Schriftzeugnis ist das Medium schlechthin, das dem Menschen seine Gottesferne aufzeigt und ihm in der Gottesferne die Nähe Gottes zuspricht – genauso wie einst den ersten Jüngern.53
52 Vgl. die kühne Neudeutung der Primatsperikope Mt 16 in der Resolutio zur 13. These zur Leipziger Disputation, WA 2, S.189–194. 53 WA 1, S. 540f. (Resolutio zur 7. Ablass-These). Der Umschlag der Gerichts- und Todeserfahrung in den das Leben schenkenden Vergebungsglauben, m. a. W. das neuartige, aus der Erfahrung der Gottesferne sich erhebende und dieses doch weiterhin in sich tragende Bewusstsein der Nähe Gottes, entsteht aus dem Absolutionswort, das der Beichtvater ausrichtet (s. oben Anm. 52). Die entscheidende Wendung an dieser Stelle liegt darin, dass Luther das biblisch bezeugte Wort Christi hier als den eigentlichen Grund des Vergebungsglaubens namhaft macht: „tamen stare tenetur [absolvendus; M. O.] alterius iudicio, non propter ipsum praelatum aut potestatem eius ullo modo, sed propter verbum Christi, qui mentiri non potest, dicendo: ‚Quodcumque solveris super terram . . .‘ [Mt 16,19b; M. O.]. fides enim huius verbi faciet pacem conscientiae, dum iuxta illud sacerdos soluerit. [. . .] Tantum enim habebis pacis, quantum credideris uerbo promittentis: Quodcumque solueris etc. Pax enim nostra Christus est, sed in fide.“ WA 1, S. 540f. (Zitat. S. 541,2–9), s. auch S. 596. Luther kann jedoch im selben Zusammenhang auch auf das verbum praelati verweisen; vgl.WA 1, S. 595f. Das ist jedoch weder ein Rückfall noch ein Relikt, sondern weist – gegen jeden magischen Biblizismus – darauf hin, dass das geschriebene biblische Wort seine eigene lebendige Wirksamkeit in aktualem Sprachgeschehen hervorruft; s. oben Anm. 51.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Matthieu Arnold Dr. theol., Professor für moderne Geschichte des Christentums an der Université Marc Bloch Strasbourg Christoph Burger Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte i. R. an der Vrije Universiteit Amsterdam Reinhold Friedrich Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Sabine Griese Dr. phil., Professorin für Germanistische Mediävistik / Ältere deutsche Literatur an der Universität Leipzig Sven Grosse Dr. theol., Professor für Historische und Systematische Theologie an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel Johanna Haberer Professorin für Christliche Publizistik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Berndt Hamm Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte i. R. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Thomas Kaufmann Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen Susanne Köbele Dr. phil., Professorin für Ältere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich Volker Leppin Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen Gudrun Litz Dr. phil., Leiterin der Abteilung Mittelalter und Frühe Neuzeit am Haus der Stadtgeschichte – Stadtarchiv Ulm Christine Magin Dr. phil., Leiterin der Arbeitsstelle Inschriften (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Martin Ohst Dr. theol., Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal Ronald K. Rittgers Ph.D., Professor of History and Theology an der Valparaiso University / Indiana Marcus Sandl Dr. phil., Assistenzprofessor für Medialität der Vormoderne an der Universität Zürich Gury Schneider-Ludorff Dr. theol., Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau Wolfgang Simon Dr. theol., Privatdozent für Kirchengeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Susanne Wegmann Dr. phil., Wissenschaftl. Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte und Europäische Archäologien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Andreas Zecherle Wissenschaftl. Mitarbeiter an der Forschungsstelle Edition der Werke Lazarus Spenglers der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Personenregister Abraham von Nostitz → Nostitz, Abraham von Albertus Magnus 53 Albrecht, Herzog von Preußen 231, 331 Alexander von Hales 52f. Altdorfer, Erhardt 153 Amalrich von Bene 52 Amerbach, Johann 169 Anselm von Canterbury 318f. Aristoteles 315f. Auerin, Cäcilia 220f. Augustinus 9, 17, 45–63, 97, 105f., 117, 119, 243, 256, 263, 293, 295f., 311, 316, 323, 325, 334, 360f., 367, 372 Bader, Augustin 36 Bernhard von Clairvaux 31, 89, 104, 119f., 187, 264, 337 Beust, Joachim von 160 Biel, Gabriel 16, 50, 56, 59, 332, 369 Billius, Johannes 324 Blarer, Ambrosius 22, 226, 229f., 232 Blarer, Margarete 230 Bodenstein, Andreas von Karlstadt → Karlstadt, Andreas Bodenstein von Boetius von Dacien 315 Böhm, Hans, „Pfeifer von Niklashausen“ 55 Bonaventura, Johannes 52–56, 59f. Bonifatius VIII., Papst 311 Borrhaus-Cellarius, Martin 41 Bradwardine, Thomas 52, 323–325 Brenz, Johannes 14f., 346, 349–353, 357 Broitzem, Bernt von 146 Bucer, Martin 55, 60f., 63, 64, 96f., 225–232, 234f. Bugenhagen, Johannes 70, 141, 153f. Bullinger, Heinrich 41, 125f. Büring, Anna 133 Butz, Peter 261 Calvin, Johannes 43, 61f., 64, 96, 126–128, 141, 229, 234, 238, 240, 242f., 249 Campanus, Johannes 100, 108, 110f. Chemnitz, Martin 146
Chobham, Thomas de 266 Christian III. von Dänemark 227, 232 Cranach, Lucas, d. Ä. 4, 200–202, 204 Cranach, Lucas, d. J. 197f., 205, 211 Cusanus, Nicolaus 297 Cyprian 47 Damm, Henning von 146 Denck, Hans 35, 41, 62 Dietrich von Freiberg 298, 317 Dietrich,Veit 18 Dreyer, Benedikt 147, 153 Duns Scotus, Johannes 50–52, 54, 60, 316–322 Dürer, Albrecht 193, 257 Eberlin, Johann, von Günzburg 87, 91–94, 97 Eck, Johannes 257, 336 Eckhart, Meister 17, 23, 30, 92, 109, 275, 285–305, 313, 316–319, 324, 326f., 329, 337 Emser, Hieronymus 244, 246, 252 Erasmus von Rotterdam 17, 249, 254, 363 Farel, Wilhelm 230, 234 Fichte, Johann Gottlieb 317 Fickler, Johann Baptist 144 Fisher, John 55 Franck, Sebastian 62, 99–101, 103, 105–116, 285–287, 289, 297–301, 305 Franziskus von Assisi 17, 329, 362 Friderici, Daniel 160 Friedrich II., Kaiser 309 Friedrich III. (der Weise), Kurfürst von Sachsen 153, 310 Frölich, Georg 345–349, 352–354, 357, 359 Froschauer, Christoph, d. Ä. 126 Füllmaurer, Heinrich 96 Gansfort, Wessel 262 Gengenbach, Pamphilius 91 Georg (der Fromme), Markgraf von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach 349f.
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Personenregister
Georg III. von Anhalt 243 Georg, Herzog von Sachsen 307 Gerschow, Katharina 140 Gerson, Johannes 56, 119f. Göding, Heinrich, d. Ä. 205f. Gonsalvus Hispanus 317 Gratian II., Papst 238 Grebel, Konrad 39 Gregor I. (der Große), Papst 26 Gregor VII., Papst 311 Gregor von Rimini 52, 325 Gutknecht, Jobst 262 Hätzer, Ludwig 30, 33, 36f., 39–42, 62 Hausmann, Nikolaus 228, 231 Heinrich II., Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 145, 227 Heinrich von Gent 52, 316 Hieronymus 17, 246, 256, 372 Hirzel, Martin 123f. Hochfeder, Kaspar 169f., 172 Holbein, Hans, d. Ä. 190f., 205 Hubmaier, Balthasar 41 Huddaeus, Hermann 144 Hugo von St. Cher 53 Hugo von St. Viktor 55, 119f. Hugwald, Ulrich 41 Hut, Hans 30, 34–36, 62 Ignatius von Loyola 362 Innozenz III., Papst 364 Jesus Christus → siehe Sachregister: Christus Johann (der Beständige), Herzog, später Kurfürst von Sachsen 310 Johann Friedrich I. (der Großmütige), Kurfürst von Sachsen 153, 227, 229, 307 Johannes de Bassolis 55 Johannes von Damaskus 193 Johannes von Erfurt 266 Johannes von Freiburg 266f. Johannes von Paltz → Paltz, Johannes von Johannes XXII., Papst 312f., 323 Jonas, Justus 227, 230, 232 Joos van Cleves 193, 196, 210 Joseph von Arimathia 179 Justin 49 Kampferbeck, Stefan 141–143, 145–147 Kant, Immanuel 360 Karl V., Kaiser 227, 230
Karlstadt, Andreas Bodenstein von 26, 29, 62, 98, 101, 103–106, 109, 111, 113, 115, 272, 298 Kempen, Thomas von → Thomas von Kempen Klemens von Alexandrien 49 Koberger, Anton 266 Langton, Stephan 53 Lasco, Johannes a 144 Latomus, Jacobus 373 Linck, Wenzeslaus 69, 352 Loyola, Ignatius von → Ignatius von Loyola Ludolf von Sachsen (Kartäuser) 172 Luther, Martin 2–7, 15, 20f., 23, 25–32, 41, 45, 50, 54, 56–63, 67–70, 75–85, 92, 94–97, 99–107, 109–116, 118f., 121–123, 130, 132–134, 136, 140, 143, 145, 153f., 158–160, 165, 196–199, 201, 205–207, 216–218, 222, 225–229, 231–235, 237f., 240–253, 255–258, 261–265, 267f., 271–277, 279f., 282f., 285f., 298, 300–302, 307, 312, 314, 326, 329–337, 339–348, 350–352, 354–357, 359–363, 367–376 Margaretha de Habsperg 176 Maria → siehe Sachregister: Maria, Mutter Jesu Mastallen, Anna 215 Mathesius, Johannes 85, 203 Mechthild von Magdeburg 290, 302 Meinhard, Christoph 33 Meister Eckhart → Eckhart, Meister Melanchthon, Philipp 70, 84, 140f., 145, 153, 158, 227, 229, 231, 271–273, 277–283 Menzel, Hieronymus 205–207 Mohr, Georg 272 Mordbrenner, Heintz 228 Moritz, Kurfürst von Sachsen 227, 308 Moser, Ludwig 172 Müntzer, Thomas 29f., 32–36, 39, 41, 55, 59, 62f., 110, 115, 230, 272, 309–311, 351 Musa, Antonius 144–147 Nether, Matthias 141 Nicolaus Salicetus → Salicetus, Nicolaus Nikodemus 179 Nikolaus von Kues → Cusanus, Nicolaus Nikolaus von Verdun 196 Nostitz, Abraham von 207f. Nützel, Kaspar 2
Personenregister
381
Ockham, Willhelm von 52, 54, 312f., 316, 318–324 Odo Rigaldi 52 Oekolampad, Johannes 30, 41, 61 Osiander, Andreas, d. Ä. 346, 350–352 Otmar, Silvan 42, 257
Storch, Nikolaus 41, 63 Strauß, Jakob 41f. Stübner → Thomae, Markus Stuchs, Johannes 267 Sturm, Jakob 230 Surgant, Johann Ulrich 22
Paltz, Johannes von 14, 54, 117f., 239–241 Pelagius 322f. Peraudi, Raimund 21, 39 Peringer, Diepold 92 Petrus Aureoli 323 Petrus Lombardus 238, 332 Pfarrer, Matthis 230 Pfeiffer, Heinrich 41f. Philipp, Landgraf von Hessen 228, 307 Pirckheimer, Willibald 41, 257 Porete, Marguerite 303 Prüss, Johann, d. J. 40
Tauler, Johannes 26, 30, 56, 92f., 111, 239, 242, 261, 286, 297, 299f., 303, 305, 326–329, 334f. Tempier, Etienne 315 Thanner, Jakob 58, 79 Thomae, Markus, gen. Stübner 41 Thomas de Chobham 266 Thomas von Aquin 23, 51, 53, 55, 239, 312, 322, 329, 332, 334 Thomas von Celano 362 Thomas von Kempen 168f., 172, 174–177, 184
Rab, Hermann 22 Reuchlin, Johannes 22 Reway, Franz von (Graf) 227 Reyge, Jakob 147 Rhegius, Urbanus 70 Rosenplüt, Hans 93 Runge, Jakob 137–141, 144
Vetter, Hans Ulrich 213, 215, 222
Salicetus, Nicolaus 169 Scheurl, Christoph, d. J. 257 Schleiermacher, Friedrich 114, 367 Schöffer, Peter 39 Schreyer, Sebald 266 Schwenckfeld, Kaspar von 62 Seneca 295 Seuse, Heinrich 30, 286, 290, 297, 303, 326, 330 Siger von Brabant 315f. Spalatin, Georg 4, 227f.,355 Spengler, Lazarus 31, 87, 92, 94, 104, 219f., 255–280, 343, 346–351, 353–356 Spengler, Margaretha 258 Staupitz, Johannes von 31, 56, 263–265, 330–332, 334–337
Wagner, Barbara 221 Wagner, Ludwig 221 Wagner, Marcus 41 Walhoff, Johannes 137, 143 Weiditz, Hans 40 Wiedensehe, Eberhard 136 Wilhelm von der Linden (Gulielmus Lindanus), Bischof von Roermond 114 Wilhelm, Graf von Nassau 226 Wilhelm, Graf von Neuenahr 226 Wilhelm von Auvergne, Bischof von Paris 52 Wilhelm von Auxerre 53 Wyttenbach, Thomas 22 Zabarella, Franceso 21 Žerotin, Johann Jetrˇich von 209f. Zeyß, Hans 309 Zwingli, Anna 230 Zwingli, Huldrych 22, 41, 45, 60–64, 93, 95–97, 113, 123–125, 128, 225f., 228, 230f., 238, 240, 242, 247–253
Sachregister A Abendmahl, Eucharistie 24, 28f., 34, 39, 47f., 57f., 90, 359 – Abendmahlsempfang 187–210 – Realpräsenz 58, 95, 187–210 – symbolisches Verständnis (Erinnerungszeichen) 95 → Kelch, Kommunion Ablass/Ablassstreit 6, 14, 21f., 89f., 336, 363, 357 – 95 Thesen Luthers 2, 75–79 Absolution 54, 241 Affekte 112 Ähnlichkeitsmodell 303 Akkommodation Gottes 111 Akzeptation Gottes, Akzeptationslehre 322 Allmacht Gottes 54, 225, 234 Allwirksamkeit Gottes 228 Alphabetisierung 4 Almosenordnung 219 Amalrikaner 52 Amt 237–253 – Amtskirche 46f. – Amtstheologie 143, 164 – Konnotationen des Begriffs 237 – Schlüsselamt 115 Andacht 167, 181f. – Andachtsbüchlein 167–185 Anerkennung 373 Anfechtung 32, 260, 262, 265, 363 Anthropologie, christliche 299 Antichrist 106f., 109f., 113f. Antidotarius animae (von Nicolaus Salicetus) 169 Anti-Institutionalismus 301 Antiklerikalismus 93f. Antipelagianismus 47 Antitrinitarier 37 Anwesenheit – Anwesenheitskommunikation 69, 74, 80 – Gottes 234 Apostel 250f. Aristoteliker, konsequenter 315–318, 322
Aristotelismus 52 Arnoldisten 52 Ars moriendi 89 Aufmerksamkeit 2, 7–9 – Aufmerksamkeitswandel 8–10 Aufruhr 347, 351 Augustinismus 52 – Augustinrezeption 51–64 Außen-Innen 47, 50f., 62 Autor 82 – Autorschaft 81 Autorität 5 Ave Maria 183 – Ein Gruß, aber kein Gebet (Zwingli) 124 Avignonesisches Exil 312 B Bannandrohungsbulle gegen Luther, Verbrennung 5 Barmherzigkeit Gottes 54 Bauernkrieg 309 Bedrohlichkeit Gottes 234 Beichte 54, 241f. – Pflichtbeichte 18 Bekehrung 47 Bekenntnis 82, 84 → Confessio, Glaubensbekenntnis Berufung 248 Betrachtung 167 Bewusstsein 362, 367–374 Bibel 62, 97, 99–116, 364, 375 – als Norm 63 – Bibelübersetzung 61 – Bibelwort 63 Bild 95–97, 187–210 – als Partizipationsmedium 96 – Bilderfrage 25, 96f., 129f., reformatorische 96f. – Bildmedien 8 – Bildraum 187–210 – Bild-Spekulation 305 – Bildtheorie 187–210
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Sachregister
– Blick aus dem Bild 187–210 – Gnaden- und Kultbilder 90 – Gnadenbild der Madonna in St. Maria del Popolo 96 – Handelnde Bilder 90 – Porträts von Reformatoren/Geistlichen 136, 153, 158 Bildung/Erziehung 271f., 369, 371 – Bildungsschub 4 – Schule 271 – Student 220 – Unterricht 271 Bischof 247, 251, 312 – bischöfliche Sukzession 48 Blick aus dem Bild → Bild Blut Christi → Christus Böhmische Brüder 55 bonae litterae 280 Bräuche, religiöse 94 Braut Christi (Seele) 337 Buch, Buchstabe 99–116 Buchdruck → Druck Bund Gottes 53, 59 Buße 24, 90, 230f., 240–243, 252, 314, 328, 330–332, 334–336, 360, 365, 373 – Bußsakrament 54 – Bußtheologie (spätmittelalterliche) 260, 265f. – Bußwesen 19f. → Ablass, Absolution, Reue C causa – efficiens instrumentalis 51 – sine qua non 51 – occasionalis 51 Christologie → Christus Christus 360, 362, 364f., 371–373 – als Basismedialität 89, 92, 94, 97 – Blut Christi 187–210 – Christologie 24, 29, 31, 39 – Descensus Christi 292 – Kreuzabnahme 197, 181f. – Leib Christi 47, 49 – Orationes et meditationes de vita Christi (des Thomas v. Kempen) 168 – Passion Christi 167–185 – solus Christus 94 – Zwei-Naturen-Lehre 97 Confessio 215 – Confessio Augustana 221 Consolatio → Trostliteratur
D Demut 259f. – als Bedingung der Seligkeit (Bernhard v. Clairvaux) 120 – Demutstheologie 260 – des Menschen 111, 113, 116 – Gottes 111, 116 – heilt die Folgen des Sündenfalls (Gerson) 120 Depotenzierung von Gnaden- und Heilsmedien 87–97 Desakralisierung 91–97 Descensus Christi → Christus Determinismus 324 Devotio moderna 16, 184 Diakon 251 Dinge, äußerliche 115f. Disputation 5 Disverifizierung 7, 10 Donatisten 46 Druck – Buchdruck 3f., 169 – Einblattdruck (illustriert) 89f. – Reformation als typographische Revolution 66 → Buch, Buchstabe E Eigennutz 218 Eindeutigkeit als Erfolgsfaktor 7 Eintracht (concordia) 114 Ekklesiologie 48 – ecclesia catholica 48, 50 – ecclesia visibilis 51 Elitenation 7 eloquentia 280f. Emanationsmetaphysik 305 Emanzipation 4f. Emergenz 87 Entzeitlichung der Heilsgeschichte 287 Epitaph 213, 217, 221 – Epitaphien für Geistliche 135–147 – Epitaphkultur 213 Erbauungsschriften, spätmittelalterl. 89 Erfahrung 27, 361, 367 Erkenntnis/Erleuchtung 50 – Gottes 283 – Selbsterkenntnis 283 Erleichterungs- oder Hilfsmedialität → Medialität
Sachregister
Erlösung 362, 372 – Erlösungstheologie 302 Erwählte 50 Erwerbsarbeit 93 – als Gnadenmedium → Medialität Eschatologie 231 – präsentische 286 Eucharistie → Abendmahl Eudämonismus 360, 365 Evangelist → Evangelium Evangelium 35, 57, 59, 61, 99, 107, 112, 114, 274f., 277, 281f., 375 – Evangelist 250f. – Evangelium aller Kreatur 36 – Evangeliums-Promissio 60 ex opere operato 54, 57 Expertenwesen, Abschied vom 4 Extendit-manum-Traktrat (des Heinrich v. St. Gallen) 184 Externität 47 F Fasten 19 – Fastengebot 93 Fegefeuer 16, 20, 260–262, 264, 266 Ferne Gottes 234, 359–376 figura 297 Fleisch 273 Flugschrift, Flugblatt 1f., 4 Frauenkloster 176 – Klarissenkloster in Mühlhausen i. Elsass 176 – Klarissenkloster St. Klara in Freiburg i. Br. 176 Geist-Häresie 55 Freiheit 62, 317, 321 – Gottes 52, 54f., 60f. Frieden 345, 347, 351, 355, 357 Frömmigkeit 370 – Frömmigkeitstheologie 14, 256, 264 – Repräsentationsfrömmigkeit 329 – spätmittelalterliche 184 Fronleichnam 19 Fürbittformel 215 G Gabe 223 Gebet 17, 89f., 92, 167–185, 226, 228, 230f., 235 – eschatologisches 232
385
– Gebetbuch 167–185 – Gebete zu den Körpergliedern des Herrn 183 – Gebetsstruktur 179 – Glockendon-Gebetbuch 169f., 184 – Macht des Gebets 229 – Stundengebet 89, 92 – Tagzeitgebet 92 Gegenöffentlichkeit 4 Geist, Hl. 3, 45–47, 49–51, 57–61, 63f., 94f., 99–116, 363, 368, 372 – Geist-Unmittelbarkeit 300 – solus spiritus sanctus 62 – Wirken 95f. Geistliche 135–147, 342–344, 348, 352–354, 357 Gemeinde 247–249 – Gemeindelied → Lied Gemeiner Nutzen 219 Genugtuung (satisfactio) 371 – satisfactio vicaria 371f. Geschichte 113–115, 225, 227, 230f., 234f., 281 Geschöpf-Sein 112f. Gesetz 96, 107, 137, 154 Gewinnsucht 4 Gewissen 110, 114, 267, 349, 355, 357 Glaube 9, 24, 28, 58, 63, 114, 343–348, 352–355, 362f., 368, 371–373 – als Geschenk Gottes 119 – sola fide 91, 93, 325 – vermittelt durch die Predigt 118, 128 Glaubensbekenntnis 90, 217, 353f. Glockendon-Gebetbuch → Gebet Gnade 45–64, 88, 96, 137, 154, 274, 365–369, 372 – Gnadenbild der Madonna in St. Maria del Popolo → Bild – Gnadenmedien → Medialität – Gnadenvermittlung 88, 187–210 – gratia infusa 95 – nahe Gnade 88, 115 – Sichtbarkeit 187–210 Gott 359–361, 366, 371 – achtet auf die Niedrigen (Luther) 122 – Gottesdefinition 304 – Gottesdienst 347–350, 353 – Gottesgeburt 285 – Gotteslästerung 353, 357 – Gottesmetapher 301 – Gottessohnschaft 285 – Gottesverhältnis,Vikarisierung 314 – Kampf zwischen Gott und Teufel 226, 235
386
Sachregister
→ Akkomodation, Allmacht, Allwirksamkeit,
Anwesenheit, Barmherzigkeit, Bedrohlichkeit, Bund, Demut, Erkenntnis, Ferne, Freiheit, Glaube, Heiligkeit, Liebe, Macht, Nähe, Prädestination, Präsenz, Selbstbindung, Souveränität, Strafe, Unbeweglichkeit, Ungebundenheit,Vertrag, Wille, Wirken, Zorn Götzendienst 97 Grablegung Christi als handelndes Bild 90 Gradualismus 18, 308, 321 Grammatik 63 Gravamina 312 Gregorsmesse 20 Guter Hirte 154, 158 H Habitus 321 Häresie 339, 344–348, 351, 353–357 – Frei-Geist-Häresie 55 Heil 9, 88, 274, 362, 367 – auch außerhalb der Kirche 61 – Heilsaneignung 3 – Heilsmedium → Medialität – Heilsmittel 56 – Heilspräsenz 288 – Heilsunmittelbarkeit 288 – Heilsverheißung 288 Heiliger Geist → Geist, Hl. Heiligkeit 11, 87–97 – neues reformatorisches Verständnis 95 – Heilig/e 17f., 57, 94 – Heiligenlegende 90 – Heiligkeit Gottes 57, 110, 116 – Heiligkeitsqualität 57, 95 – Raumheiligkeit 92 → Sakralität, Sakrament, Sakramentalien Heilsgeschichte 225, 285 – Metaphorisierung 292 – Synchronisierung 305 Heilsgewissheit 283 Heiltumsweisung 90 Hermeneutik – Signifikationshermeneutik 60 Herz 110, 112 ‚Herzmahner‘, Andachts- und Gebetbuch 167–185 Himmel 344, 346 Himmelfahrtstaube als handelndes Bild 90 ‚Himmlische Fundgrube‘ (des Johannes von Paltz) 167 Hirte, kirchl. Amt 250f.
Hölle 344, 346 Hören 4, 104 Humanismus 248, 272, 280–282 I Imago Dei 280 Immediatisierung 52, 56f., 64, 284, 308 Individualisierung 3f., 7, 13–15 Information, Aktualität und Relevanz 2 Inhärenztheorie 55, 58f., 95 Innerlichkeit 114, 116 innovatio (im Unterschied zu renovatio) 87 Inquisition 19, 293 Inschriften auf Bildern 90 Intellekt 318f., 370 J Juden 347 Jüngstes Gericht/Jüngster Tag 28, 158, 160, 231 K Kaiser 340 Kampf zwischen Gott und Teufel → Gott Kanzel 147–161 Karikatur 5 – Mohammedkarikatur 5 Kartäuser 172 – Kartause Basel 169 Katechismus 91, 271, 277 Kausalität 52f., 56, 322, 324 – dispositive 53 – ex-pacto 52–54, 56, 58 – instrumentale 53, 57–59 Kelch 187–210 – Laienkelch 23 Kerzen als Frömmigkeitsbrauch 94 Kindertaufe → Taufe Kirche 360, 364f., 367, 374 – äußere 51 – apostolische 241 – katholische 49 – Kirchenausstattung 130–133, 147–164 – Kirchenbräuche 94 – Kirchenreform 340f., 345, 356 – Kirchenlied/Hymnus → Lied – kirchliche Hierarchie 48, 88 – kirchliche Gnadenvermittlung 51 Kirchenordnung, Pommersche 140f. Kirchenregiment, obrigkeitliches 340, 356f. Kirchenzucht 49, 61f.
Sachregister
Klarissen → Frauenkloster Kollektivierung (der spätmittelalterl. Frömmigkeit) 13 Kommunikation 99–116 Kommunion 18f. Konfessionalisierung 12 Konsonanz als Nachrichtenfaktor 6 Kontinuität 6, 87 Konversion 347 Konzil 341f., 356 – 4. Laterankonzil 18 Krankensalbung 90 Kräuter 90 – geweihte Kräuter 94 Kreatur 115f. – Kreaturvergötterung 56 – Kreaturvergötzung 62 Kreuz 112, 372 – Kreuzabnahme Christi 179, 181f. – Kreuzestheologie (theologia crucis) 246, 268 Kultfreiheit 346–348, 352 L Laie 4, 19, 22, 307f. – Laienkelch 23 – Laientheologie 225 ‚Leben Jesu der Schwester Regula‘ 168 Lehre 250f. – Lehrer 276 – Lehrverurteilung (von 1277) 315f., 323f. Leib Christi → Christus Leid 255f., 258–269 – Leidensmystik 300 – Leidenstheologie 255f., 264–269 Lichtmetaphysik 300 Liebe 50, 58, 104, 112, 362, 379 – Gottes 104, 110, 116 – Liebesmystik 300 Lied 97 – geistliches Lied 90 – Gemeindelied 97 – Kirchenlied/Hymnus 160f. – Schmählied 5 Liturgie 72 Luthertum 11, 43, 187–210 – Lutheraner 94, 135–147 M Macht (potentia, posse) 313, 320f. – Gottes 49f., 54
387
– potentia (dei) absoluta 319–323 – potentia (dei) ordinata 319–323 Maria 182 – als Fürbitterin (Luther) 121 – beispielhaft für Gottes Barmherzigkeit (Luther) 123, (Calvin) 126 – die neue Eva 117 – eine Begnadete (Bullinger) 126, (Zwingli) 124 – eine Hochgelobte (Zwingli) 125 – frei von Erbsünde (Zwingli) 125 – mediatrix ad mediatorem 117 – recht ehren (Calvin) 127 Martyrium 34, 41, 346 Medialität 45–64, 99f., 116 – Christus als Basismedialität → Christus – Erleichterungs- oder Hilfsmedialität 90 – Erwerbsarbeit als Gnadenmedium 93 – Gnadenmedium 87–97, 256 – Heilsmedium 87–97, äußeres 58 – Hl. Schrift als Partizipationsmedium 94–96 – media salutis 58, 61f. – medialer Quantensprung 3 – Medienereignis 1, 45, 65, 67, 75 – Medienkompetenz 7 – Medienmarkt 6 – Medienpräsenz 45 – Medienrevolution 1 – Medienstar 7 – Multimedialität 65 – Partizipationsmedialität 89, 94 – solus Christus als Basismedialität 94 – Typologie der Gnadenmedien 89 → Immediatisierung Meditation 89f. Meinungsbildung 3 Memoria 213, 221 Menschenwerk 91, 93 Messe 17–21, 23, 30, 69, 71f., 74f., 89f., 364 – Gregorsmesse 20 – Messfeier 90 – Messelesen 93 Metapher 285 – Metapherntheorie 304 – Metaphorisierung der Heilsgeschichte 292 – Metaphorisierung von Metaphysik 305 Metaphysik 285, 305, 367 Missverständnis Luthers 262, 265 Moral 367 Mutschierung 310
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Sachregister
Mystik 13, 16f., 25f., 55, 92, 103–106, 111, 285, 326–330, 335, 337 – Liebes- und Leidensmystik 300 – mystischer Spiritualismus 300 – Rezeption 300 Mythenbildung der Gestalt Luthers 3 N Nachrichtenwert 6 Nähe 99, 115 – Gottes 225, 232, 359–376 – nahe Gnade 88, 115 – Nahwallfahrten 90 Neuplatonismus 46f. Nezessitarismus 302 Nikolaiten 55 Normative Zentrierung 7–10 Novize 176 Nürnberg 2, 219, 221, 345–353 O Offenbarung 62 – Offenbarungszeugnis 61 Öffentlichkeit 1f., 4 – öffentlicher Diskurs 4 Ordnung 249 → Almosenordnung, Kirchenordnung Orte, hl. 92 P Pädagogik 278 Palmesel 90 Papst 5, 109, 113, 311–313, 340–342 – papierner 62, 109 – Papstamt 323 – Papstkirche 363f. – Papsttum 113 Paradoxie – Referenzparadoxie 303 Partizipation 4f. – Partizipationsmedialität → Medialität Patronatsrecht 340 Pelagianismus 322f., 325 Personalisierung als Nachrichtenfaktor 5f. Pfarrer – als Exeget und Prediger 118 Platonismus 97 Polarität 314 Porträts von Reformatoren/Geistlichen → Bild
Prädestination 54, 233 – Erwählte 50 – Gottes 56 – Prädestinationslehre 325 Prädikatur 22 Präsenz 99, 103, 115f. – Gottes 89, 103 – Präsenzkultur 67f. Predigt 9, 21–24, 30 49, 58, 61, 90, 97, 102, 137, 147–154, 160–164, 241, 277, 350, 353, 355 – Luthers Einschätzung ihrer Bedeutung 121 – Prädikatur 22 – Predigtwort 50 – Volkspredigt 360 Presbyter 252 Priester 52–55, 57, 241 – allgemeines Priestertum 300, 307, 329, 335–337, 339, 341f., 357 – als Heilsmittler 118 – Priestertum 243–245 Prominenz als Nachrichtenfaktor 6 promissio 60, 240f. Prophet 250f. – falscher 153 Prophezei, Züricher 61 Prozession 89 Psalter 92 – 50. Psalm 177 Q Qualität, geistliche 53 R Rationalisierung 11f. Realpräsenz des Leibes Christi → Abendmahl Rechtfertigung 324f., 335, 367f., 371–373 – Rechtfertigungslehre 31f., 91, 255, 262f., 265 – sola fide → Glaube Reformation – als Medienereignis → Medialität – als typographische Revolution 66 – radikale 30 – vorreformatorisch 359 Reformierte 94 – Reformiertentum 11, 43 Religion 3f., 282
Sachregister
Religionsgespräch, Wormser (1557) 140f. Religionskrieg 347 Reliquie 13, 17, 90, 94 → Heiltumsweisung Renaissance-Humanismus 49 renovatio 87 Reue 54f. Ritual 57 Rosenkranz 89, 92 S Sakralität 55, 58 → Heiligkeit Sakrament 24f., 29f., 45, 47, 49–55, 57–63, 90, 95, 102, 115f., 313, 321, 335, 365, 367, 374 → Sakralität Sakramentalien 58, 90 Satan/Teufel 114–116, 274, 346, 351 – Kampf zwischen Gott und Teufel 226, 235 Satire 3 Schatz – Schatzbehalter 167 Schirmvogtei 339f. Schöpfung 304 – Schöpfungstheologie 295 Schrift, Hl. 9, 48, 61, 63f, 90, 94f., 97, 99–116, 281 – als papierner Papst 62, 109 – als Partizipationsmedium → Medialität – Exklusivität 96 – Schriftgelehrte 62 – Schriftprinzip 67, 79, 298 – Schrift-Skepsis 300 – sola scriptura 62 Schriftlichkeit, Epoche 4 Schuld – felix culpa 302 Schule → Bildung Schwärmer 30, 58, 63, 101, 103, 241 Seele 58, 96 – Seelengärtlein 167 Sehen 104 Selbstbindung – Gottes 50, 52, 54, 58, 60 Selbstverantwortlichkeit, Selbstermächtigung 4 Seligkeit 360 – von Heiden 48f. ‚Sentenzen‘ (des Petrus Lombardus) 332 Sichtbarkeit der Gnade 187–210
389
Sinn – Sinnformation 87 – Sinnkultur 67f. Sittlichkeit 280, 282 Skepsis, humanistische 298 sola fide → Glaube soteriologisch 322, 337 Souveränität 46, 48 – Gottes 46, 48, 60 Spiel, geistliches 90 Spiritualismus 52, 55, 58, 62–64 – mystischer 300 – Spiritualist 59, 94, 61 Sprache 112, 116 – Schönheit der Sprache 282 – Sprachbildung 280, 282 Stand 237, 245f. Stiftung 218f., 223 – Bürgerstiftung 219 – „fromme Stiftung“ 220 – Stifterfamilie 215 – Stifterperson 215, 220, 221 – Stiftungswesen 216 – Stipendienstiftung 219–221 Stipendium 220f. – für das Theologiestudium 221f. – Stipendienstiftung → Stiftung Strafe Gottes 230 Streitkultur 5 Student → Bildung Sünde 232, 274, 334, 361, 363–366, 369–373 – Sündenfall 50 – Sündenvergebung → Vergebung – Sündenzunder (fomes peccati) 366, 370 – Sünder 333 – Sünder-Sein 112 Synästhetik 70, 73 T Taufe 24, 28, 34, 39, 47f., 50f., 57f., 60, 94f., 97, 115, 276, 341, 365 – Kindertaufe 61 – Täufer 345, 347, 355 Territorialisierung 340, 358 Teufel → Satan Theologie – Kreuzestheologie (theologia crucis) 246, 268 → Amt, Buße, Demut, Erlösung, Frömmigkeit, Kreuz, Laie, Leid, Schöpfung, Trinität
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Sachregister
Thesen, 95 (von Martin Luther) 2, 75–79 Tod – Todesanzeige 215 – Totenlob 215 Toleranz 247f. Transformation 87, 308, 330 Traum 63 – Uttenreuther Träumer 63 Trinitätstheologie 304 Trost 258 – Trostbrief 232, 234 – Trostliteratur (consolatio) 293, 295 – Trostschrift 255, 258–261, 264f., 267 Tugend (virtus) 50, 53, 57, 282, 370 U Überraschung als Nachrichtenfaktor 6 Ubiquität 359 Ulm 219–221 Umbruch 87 Unbeweglichkeit Gottes 112 Ungebundenheit Gottes 60 Unmittelbarkeit 9, 45–64, 88, 99, 335–337 Unterricht → Schule Uttenreuther Träumer → Traum V vasa gratiae 55 Vera icon 90 Verantwortlichkeit – Selbstverantwortlichkeit 4 Verdammnis – der ungetauften Kinder 49 Verdichtung 309 Verdienst 325, 370 Vergebung der Sünden 47, 260, 262–268 Verinnerlichung 178 Verkündigung des Gotteswortes 45, 47f., 51, 62 → Wort Vernunft 26f., 241, 282, 317, 343, 366 Vertrag (pactum) Gottes 53, 322 Vigil 92
Vikarisierung des Gottesverhältnisses → Gott Visitation 348 W Wahrheit 7, 100, 112, 114, 371 Waldenser 52, 55 Wallfahrt 13, 23, 89f., 94, 96 – Nahwallfahrt 90 Weihe 241 Weihwasser 90, 93f. Werk, gutes 218, 324f. Wille 318f., 360–363, 366f., 370–374 – Gottes 49f., 52, 54, 252f., 347, 362 – Willensbegriff 317 Wirken Gottes 227, 234 Wormser Reichstag (1521) 4f. – Luthers Bekenntnis 79–85 – Wormser Edikt 5 Wort 25, 28, 30, 57–59, 363, 368, 371, 375 – äußeres 58f., 63, 102, 278 – Gottes 33, 99–116, 273–275, 343–346, 348–357 – leibliches 104f. – mündliches 106 – Wiedererzählen 168f., 184 – Wortunmittelbarkeit 300 – Zungenredner 247 → Verkündigung des Gotteswortes Z Zeichen (signum) 46–55, 59–61, 64 ‚Zeitglöcklein‘ (des Bruders Berthold) 167f. Zeitung/Zeitschrift – Spiegel (Zeitschrift) 4 – Stern (Zeitschrift) 4 – Zeit (Zeitung) 4 – Zeitungsdruck 3 Zensur 2, 5f., 287 Zentrierung, normative 7–10 Zorn Gottes 230, 362f., 368, 372 Zungenredner → Wort Zwang 343–346, 349, 351–356 Zwei-Reiche-Lehre 342f., 346, 348f., 357