Mauerschau - Die DDR als Film: Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates 9783110629408, 9783110627244

Future generations might remember the GDR, that vanished state, primarily through film. Be it love and everyday life, th

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German Pages 318 [312] Year 2020

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Mauerschau - Die DDR als Film: Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates
 9783110629408, 9783110627244

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Mauerschau – Die DDR als Film

Mauerschau – Die DDR als Film Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates Herausgegeben von Dominik Orth und Heinz-Peter Preußer

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal, des UniService Transfer der Bergischen Universität Wuppertal sowie des Prorektorates für Forschung, Drittmittel und Graduiertenförderung der Bergischen Universität Wuppertal.

ISBN 978-3-11-062724-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062940-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062756-5 Library of Congress Control Number: 2020932201 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Berlin Wall in the evening/Pixelklex/Dreamstime.com Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Dominik Orth und Heinz-Peter Preußer Mauerschau – Die DDR als Film: Eine Einleitung

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1 Frühgeschichte – Genese des ‚antifaschistischen Schutzwalls‘ Martin Nies Wie anfangen? ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und ‚Neubeginn‘ nach 1945 11 in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) Matteo Galli Berlin, offene Stadt: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (1957)

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Ingo Irsigler . . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962): Liebesdramen im Nachmauerfilm der 1960er Jahre 48 Heinz-Peter Preußer Heldische Antihelden: Drei Komödien, drei Länder – ONE, TWO, THREE (1961), SPUR DER STEINE (1966) und WIR KÖNNEN AUCH ANDERS ... (1993)

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Anne Barnert Seitenblicke auf die Weltgeschichte: Jürgen Böttchers Filme JAHRGANG 45 92 (1965) und DIE MAUER (1990)

2 Leben in der ‚entwickelten sozialistischen Gesellschaft‘ Stephan Brössel „Alles oder nichts“: ‚Romantische‘ Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1973) 109 Henning Wrage Neue Männer braucht das Land: SOLO SUNNY (1980) und die Frauenfilme der DEFA 133

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Inhaltsverzeichnis

Walter Erhart „Freiheitsversuch im Niemandsland“: Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN (1981) und die ästhetischen Gesellschaftsexperimente der späten DDR 148 Sven Pötting Ostwärts – Westwärts: Wege zur Wende im Kurzfilm

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3 Nach der ‚Mauer‘, nach der ‚Wende‘ Stephen Brockmann SONNENALLEE (1999) und die Geburt der filmischen Ostalgie

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Alexandra Tacke Mauer/Schau-Halten in Cynthia Beatts CYCLING THE FRAME (1988), CYCLING THE INVISIBLE FRAME (2009) sowie Bartek Konopkas 212 MAUERHASE (2009) Sabine Moller Geschichtsunterricht im Fake-News-Format: GOOD BYE, LENIN! (2003) und sein internationales Publikum 233 Uwe Koreik Eine durch Spielfilme rekonstruierte DDR – und junge Lerner des Deutschen als Fremdsprache: Über DAS LEBEN DER ANDEREN (2006)

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Britta Hartmann und Marian Petraitis „. . . sich später mal als DDR-Bürger wiedersehen zu können“: Vom ethnografischen zum historiografischen Modus in der dokumentarischen Langzeitstudie DIE KINDER VON GOLZOW (1961–2007) 273 Dominik Orth Kulisse DDR: Spitzel, Spione und andere Stereotype in der Serie 297 DEUTSCHLAND 83 (2015) Die Autorinnen und Autoren Abbildungsnachweise

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Mauerschau – Die DDR als Film: Eine Einleitung An die DDR, diesen verschwundenen Staat, der in der größeren BRD aufgegangen ist, werden sich künftige Generationen möglicherweise primär über Spielfilme erinnern, selbst wenn manche ihn noch als Teil ihrer Biografie erlebt haben. Die nach 1990 Geborenen verfügen über keinerlei eigene Erfahrungen – oder mediale in Echtzeit – mit dem System oder der Lebenswirklichkeit des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Die DDR ist entsunken in die Historiografie: oder in die filmische Rekonstruktion. Fiktionale Bildmedien bieten eine spezifische Form der Aufarbeitung, wobei die Prägekraft von (Spiel-)Filmhandlungen den Gehalt der Nachrichten, die mit dem Tagesgeschäft verschwinden, um ein Vielfaches übersteigt, ja sie verdrängt sogar das eigene Erleben. Im Kontext kollektiver Erinnerungsprozesse übernehmen Fiktionen, die Zeitgeschichte narrativ aufgreifen, wichtige kulturelle Funktionen (vgl. Lüdeker 2012, Preußer 2016, S. 147), auch und sogar dann, wenn realweltliches Geschehen im Zuge einer Aufbereitung für breite Zuschauerinnenund Zuschauerkreise verdichtet und zugespitzt wird. Die von entsprechenden Erzählungen tradierten Motive und Themen sind oftmals diskursbestimmend, wenn über die ehemalige Deutsche Demokratische Republik gesprochen und geschrieben wird – unabhängig davon, ob sie sich tatsächlich an der Historie messen lassen können. Das Bild der dramaturgisch erdachten Geschichte entwickelt sich mehr und mehr zu dem, was die nachrückenden Jahrgänge mit der Existenz einer ‚DDR‘ verbinden wird. Es gerät zum Substitut des Realen. Zu differenzieren von derartigen „Geschichtsfilmen“ (Moller 2018, S. 33 f.), also Filmen, die nachträglich zurückliegende reale Ereignisse explizit thematisieren und somit als Erinnerungsfilme gelten können, sind „historische Filme“ (ebd.), die als ehemalige „Gegenwartsfilme“ (ebd.) im Zuge einer späteren Betrachtung historisch aufzufassen sind und somit als (wenn auch fiktionales) Dokument einer nun vergangenen Gegenwart fungieren (vgl. ebd.). Derartige historische Spielfilme als Artefakte markieren, im Gegensatz zu Geschichtsfilmen, eine Differenz, „durch die Vergangenes erst als vergangen wahrzunehmen ist und durch die sich modernes historisches Bewußtsein als Differenzbewußtsein konstituiert“ (Rother 1989, S. 386). Der Film als Medium tritt zudem, wie der Bote in der Teichoskopie, als Vermittler zum unmittelbar Erlebten auf. Er deutet uns die Geschehnisse, die immer mehr entrücken, und gibt, durch die Mauerschau, ein zugleich plastisches Bild,

https://doi.org/10.1515/9783110629408-001

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welches das Angelesene und Gehörte – sowie das peripher Gesehene – für die Vorstellungskraft ergänzt oder gar ersetzt. Das Audiovisuelle substituiert die Anschaulichkeit, die nach dreißig Jahren Einheit auch nicht mehr auf dem ehemaligen Staatsgebiet zu finden ist – jenseits der Grenzmuseen. Deshalb wird es zum primären Instrument der Wirklichkeitsrekonstruktion. Die Chancen, die sich hier bieten, sind groß, die Möglichkeit zu scheitern allerdings auch. Wenn die Vergangenheit nicht mehr als radikal vergangen erlebt wird, gerät die Spezifik des Historischen aus dem Blick. Geschichte erscheint dann wie die Verlängerung des Gegenwärtigen in die Settings früherer Jahrzehnte. Wir sehen, statt des Fremden, das Heutige und Präsente in anderem Gewand, nur ein wenig pittoresk verkleidet. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gilt es, die Selbstzuschreibung dieser ‚Erinnerungsfilme‘ zu kritisieren (vgl. Lüdeker 2012, S. 82–84), ihren Anspruch auf Authentizität zurückzuweisen. Die Geschichte könnte stattdessen von außen gezeigt werden und doch den Kern treffen. Sie würde von den Rändern erzählt sein und damit die Physiognomie des Vergangenen entwerfen. Dokumentation und Fiktion ineinander zu verschachteln, wäre eine Option, um beide wechselseitig zu erhellen. Doch das hier analysierte Material wählt in der Regel einen anderen Zugriff. Als fiktionale Geschichten können filmische Erzählungen mit explizitem Bezug auf geschichtliche Ereignisse nicht als genuin dokumentarische Quellen für diese Ereignisse missverstanden werden, gleichzeitig wird ihnen – immer wieder auch vonseiten der Geschichtswissenschaft (vgl. Riederer 2006, Wilharm 2006, Moller 2018) und naturgemäß auch vonseiten einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literatur- und Medienwissenschaft (vgl. Lüdeker/Orth 2010a, S. 7–10, Wende 2011, Preußer 2016) – die Möglichkeit zugesprochen, vergangene reale Ereignisse zu reflektieren und damit wichtige gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen. Im Zuge der sogenannten ‚Visual History‘ (vgl. Paul 2006) wird Filmen etwa zugeschrieben, Geschichte nicht nur in gewisser Form abzubilden, sondern gleichzeitig auch zu erzeugen (vgl. Moller 2018, S. 38). Zudem gelten sie aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive als „historische Quelle [ihrer] Entstehungszeit“ (Wilharm 2006, S. 11). Anders als ‚Erinnerungsfilme‘, die als Geschichtsfilme Vergangenes deuten, sind derart historisch gewordene Spielfilme Dokumente eigener Art und darin geschichtlich bedeutsam. Sie transportieren das Kolorit der Zeit und deren Geist, ohne sie zwingend zum Thema erklären zu müssen. So finden wir die „DDR als Film“ in zweifacher Hinsicht: als Selbstbilder einerseits – man denke an viele, auch filmhistorisch wichtige Produktionen der DEFA, dem Filmunternehmen des ‚Unrechtsstaates‘ – und als inszenierte Rückblicke sowie Fremdbilder andererseits, die insbesondere nach der Wende inflationär zunehmen (vgl. Hallasch 2016). Als Selbstbilder fungieren bereits frühe Filme, etwa DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, der noch vor die Staatsgründung fällt; zu

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nennen wäre auch DER UNTERTAN, der historisch weiter zurückreicht. Beide Werke zeigen Grundpfeiler der neuen Ordnung bereits auf – und sei es im Verwerfen jener Muster, die man überwunden glaubt. So ist umgekehrt, und dennoch entsprechend, DER SCHWEIGENDE STERN, wie jeder Science-Fiction-Film, vielmehr ein Spiegel der Gesellschaft, in der er entsteht, als glaubhafte Projektion in die Zukunft. JAKOB DER LÜGNER, der einzige Film der DDR, der jemals für den Auslands-Oscar nominiert wurde, greift wiederum in die Vergangenheit zurück, um die Frage von Schuld und Verantwortung im Kontext der Shoah zu diskutieren: jenseits des staatlich verordneten Antifaschismus (vgl. Barnert 2008). Geschichtsfilme aus der DDR werden so gleichermaßen zu historischen Filmen über die DDR. Filmische Erzählungen hingegen, die explizit die Zeit nach der Wende in den Blick nehmen und somit als „Nach-Wende-Narrationen“ zu rubrizieren wären (vgl. Lüdeker/Orth 2010b; auch Stephan/Tacke 2008, Veen 2015), richten ihr Augenmerk auf das, was von der DDR bleibt: nostalgisch-verklärend in GOOD BYE, LENIN! oder drastisch-surreal in DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER. Neuere Filme, wie DIE STILLE NACH DEM SCHUSS, DIE UNBERÜHRBARE, HALBE TREPPE oder BARBARA, thematisieren das Politische der DDR eher unterschwellig, am Rande; anders als etwa die großen Erfolge wie GOOD BYE, LENIN! oder DAS LEBEN DER ANDEREN, die, als Komödie einerseits und als Tragödie andererseits, eine Gesamtdeutung der DDR versuchen. In Abweichung zum Theater, mit seiner Teichoskopie, haben wir mit den Gegenständen der vorliegenden Publikation immerhin die Gelegenheit, von beiden Seiten über die Mauer zu schauen. Die in diesem Band versammelten Filmanalysen sind daher auch als „Mauerblicke“ (vgl. Lüdeker/Orth 2010c) zu verstehen, als filmische Blicke auf die Mauer und die Staaten, die durch sie getrennt waren; vor und nach dem Mauerbau sowie vor und nach dem Mauerfall. Die Frühgeschichte der DDR als Film ist dabei ebenso präsent wie Filme aus der und über die mittlere/n und späte/n Phase dieses Staates sowie die Nachwendezeit. Das Spektrum der untersuchten audiovisuellen Geschichts- und historischen Fiktionen sowie dokumentarischen Formate reicht von 1946 bis ins Jahr 2015. Neben den als Klassiker geltenden Filmen DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) von Wolfgang Staudte und BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (1957) von Gerhard Klein wird mit Frank Vogels . . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962) darüber hinaus eine Produktion aus der frühen Phase des DDR-Films thematisiert, deren ideologische Prägung im wahrsten Sinne des Wortes unübersehbar ist. Als Fremd- und Selbstbild fungieren Komödien wie Billy Wilders ONE, TWO, THREE (1961) und SPUR DER STEINE (1966) von Frank Beyer, die in den 1960er Jahren das DDR-Bild beeinflussen. Ein Film wie Jürgen Böttchers JAHRGANG 45 (1965) hingegen konnte zu dieser Zeit gar nicht erst zur Aufführung gelangen. Liebe und Alltag stehen in Heiner Carows DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1973) im Zentrum. Auch SOLO SUNNY (1980)

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von Konrad Wolf thematisiert in erster Linie das Leben und die Selbstfindung im Allgemeinen und zeugt wie Carows Klassiker davon, dass DEFA-Filme auch Themen behandelten, die DDR-unspezifischer Natur sind. Mit Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN (1981) steht ein Film im Fokus, der gleichermaßen als historischer Film und als Geschichtsfilm gesehen werden kann. Fiktionale und insbesondere dokumentarische Kurzfilme wie Cynthia Beatts CYCLING THE FRAME (1988) lassen die DDR als Film auch heute noch erfahrbar werden, ebenso wie Böttchers Dokumentarfilm DIE MAUER (1990) oder die Langzeitdokumentation DIE KINDER VON GOLZOW (1961–2007). Die großen und mitunter äußerst erfolgreichen Produktionen der Nachwendezeit, wie Detlev Bucks WIR KÖNNEN AUCH ANDERS (1993), Leander Haußmanns SONNENALLEE (1999), Wolfgang Beckers GOOD BYE, LENIN! (2003) oder natürlich Florian Henckel von Donnersmarcks DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) prägen das DDR-Bild vermutlich bis heute. An einer international erfolgreichen Serie wie DEUTSCHLAND 83 (2015) schließlich zeigt sich, dass auch in anderen filmischen Formaten als dem klassischen Spielfilm Bilder aus der und über die DDR das Geschichtsbild dieses verschwundenen Staates prägen. Die DDR als Film wird in den vorliegenden Beiträgen immer als Angebot der Sinnkonstruktion aufgefasst und beschrieben – ohne formalästhetische Fragen darüber zu vernachlässigen. Die Einzelfilmanalysen stehen dabei im Zentrum, werden aber auch, von Fall zu Fall, kontextuell erweitert: durch Genrebezüge oder Rekurse auf andere Filme derselben oder ästhetisch verwandter Regisseure. Neben diesen Analysen geht es immer wieder um die Debatten, die über Sinn und Zweck nationaler Identität, gerade im geteilten Deutschland, geführt wurden. Der Untertitel unseres Buches gibt den dazugehörigen methodologischen Leitfaden preis: „Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates“. Historisierung meint hier: die Präsumtionen beiseite zu räumen und einen (soweit als möglich) unvoreingenommenen, frischen Blick auf die damals noch offene Geschichte zu werfen. Anders gesagt: im besten Sinne zu historisieren statt historistisch (wie Leopold von Ranke) zu behaupten, wie es nun eigentlich gewesen sei. Noch weniger ist gemeint, vom Jetztzustand des lange, seit drei Jahrzehnten wieder vereinigten Deutschland rückblickend die getroffenen Entscheidungen, Haltungen, Einstellungen, ideologischen Prämissen zu verurteilen: weil die Ergebnisse vormaliger Prozesse den eingeschlagenen Weg gründlich desavouiert haben. Im kleineren Deutschland gab es sicherlich eine andere Filmkultur – eine, die nicht kommerziell sein musste und auch nicht dem Autonomiepostulat folgte, die aber ebenfalls nicht nur erzwungen wurde von der allmächtigen SED. Es war eine politische Filmkunst, die maßgeblich mitwirken wollte an der Umerziehung eines beschämten, in den Nationalsozialismus verstrickten Volkes – und an der Bildung einer neuen sozialistischen

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Identität (vgl. Finke 2008, Steinle 2010, Lange 2013). Wie seine AutorInnen nahm die DDR-Führung ihre Filmschaffenden ernst, wies ihnen eine Schlüsselfunktion zu für die SBZ und die frühe DDR. Das gilt für die ersten 15 Jahre nach Kriegsende und reicht noch weit über den Bau der Mauer hinaus. Eben darum gab es eine Zensur, die so allerdings nicht heißen durfte (vgl. Beyer 2001, S. 280–286, 284 f. insb.; Habel 2000, S. 5). Ja, der Mauerbau sollte erst den Aufbau des Sozialismus garantieren, ein Ausbluten des Landes durch die Abwanderung insbesondere der Intelligenz in den Westen verhindern. Für die Genossen der Ostzone war der Staat der Westalliierten vor allem derjenige der alten Nationalsozialisten, die, weitgehend unbehelligt, auch in den neuen Strukturen ihr Auskommen hatten. Der ‚antifaschistische Schutzwall‘ war demnach nicht nur Camouflage für Todesstreifen und Maueropfer, sondern der Versuch, sich den Aufbau der neuen Gesellschaft nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Aus heutiger Perspektive sind die Filme, welche die Mauer legitimieren, kaum erträgliche Ideologie. Aus dem Zeithorizont konnten zumindest Sozialisten dem Gedankenkonstrukt etwas abgewinnen – wie Christa Wolf in ihrer Erzählung oder Konrad Wolf im gleichnamigen Film DER GETEILTE HIMMEL. Man kann das nicht allein mit der Lenkungsthese aller DEFA-Produktionen erklären (vgl. Lange 2013, S. 65–103) – oder als Negativwertung einer durchweg inferioren filmischen Produktion abtun. Es gibt noch einiges zu entdecken, gerade in der Zeit der Konstitution und rund um den Mauerbau – wie im Rückgriff auf alte Kontroversen um positive Helden, Realismus, Formalismus und Moderne, sozialistische Klassik und Volkstümlichkeit. Film als Teil der kulturellen Öffentlichkeit geht auf vielfältige Weise in politische Verflechtungen über. Das Bild, das die Analyse ergibt, ist ein durchweg ambivalentes, nie ein nur monosemes: voller Widersprüche und Fallstricke für alle beteiligten Seiten. Die Position der Regisseure berühmter Verbotsfilme macht das deutlich. Sie waren, bei allem Widerstand, den sie leisteten, und bei allen Schikanen, denen sie und ihr Werk ausgesetzt waren, doch primär bereit, den neuen und ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu verteidigen und ihre Kulturproduktion dem Zensureingriff der SED auszusetzen. Die Toleranz der politischen Führung war nur geringer, als sie selbst vermuteten. So scheiterten diese DEFA-Filme gänzlich, wurden über Jahrzehnte aus dem Verkehr gezogen und erlebten zum Teil erst mit der Wende vielgefeierte Wiederaufführungen. In den 70er und 80er Jahren, die auch in der BRD geprägt waren von einer Tendenz zur neuen Innerlichkeit, entdeckte die DDR das Widerstandspotenzial in romantischer Verklärung der Liebe und privater Anarchie. Frauen stehen im Zentrum auch der DEFA-Produktionen jener Jahre (vgl. Brockmann 2010, S. 259–282). Und ihre Rebellion gegen eine engstirnige Männerwelt wird zugleich

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zum politischen Statement gegen ein so restringierendes wie deprimierendes System. Sogar die ‚Republikflucht‘ erscheint als ein mögliches Thema, wenn es zur Beziehungstragödie entwickelt wird. Für den staatenwechselnden Thomas Brasch gerät die DDR selbst zum Niemandsland. Erneut großes Interesse an der DDR entstand im Moment ihres Verschwindens. Die rasche Transformation in das System des Westens führte zur Aufgabe all dessen, was zuvor das eigene Selbst definierte, was Umwelt war oder seinen ‚Sitz im Leben‘ hatte. Entsprechend wuchs die Sehnsucht, diesem Verlust zu begegnen: die gewesene Zeit zu verklären und zu beschönigen, ‚Ostalgie‘ zu betreiben. Damit wird nicht vergangenes Unrecht geleugnet. Aber das ‚gelebte Leben‘ will sich auch an Zeiten erinnern, in denen es mit sich einverstanden war – und der politische Rahmen spielt dabei nur eine geringe Rolle. Das jugendkulturelle Milieu der DDR betrieb Widerstand gegen die Institutionen vorwiegend durch Ignoranz derselben. Das zeigt sich auch in der Entwicklung von filmischen Avantgardeformaten schon innerhalb der DDR: an deren geschichtlichem Ende – so wie auch das Experiment auf der Westseite der Mauer erst kurz vor deren Fall auflebte. * Unserer Publikation ging eine Ringvorlesung im Sommer 2018 an der Universität Bielefeld voraus – in Kooperation mit der Bergischen Universität Wuppertal. Unser Dank geht an die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, hier das Fach Germanistik, welches die Reise- und Übernachtungskosten für die ReferentInnen der Vorlesung übernahm. Die Bergische Universität Wuppertal wiederum, namentlich die Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, der UniService Transfer sowie das Prorektorat für Forschung, Drittmittel und Graduiertenförderung, kam für die benötigten Druckkostenzuschüsse auf. Allen Geldgebern sei herzlich gedankt.

Filmverzeichnis BARBARA (D 2012), Regie: Christian Petzold, Drehbuch: Christian Petzold, Harun Farocki. BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (DDR 1957), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Gerhard Klein, Wolfgang Kohlhaase, Gerhard Hartwig. CYCLING THE FRAME (D 1988), Regie und Drehbuch: Cynthia Beatt. DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER (D 1990), Regie und Drehbuch: Christoph Schlingensief. DEUTSCHLAND 83 (D 2015), Idee: Anna Winger, Jörg Winger. ENGEL AUS EISEN (D 1981), Regie und Drehbuch: Thomas Brasch. DER GETEILTE HIMMEL (DDR 1964), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Christa Wolf, Gerhard Wolf, Konrad Wolf et al. GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker.

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HALBE TREPPE (D 2002), Regie und Drehbuch: Andreas Dresen. JAHRGANG 45 (DDR 1965/66, 1990), Regie: Jürgen Böttcher, Drehbuch: Klaus Poche. JAKOB DER LÜGNER (DDR 1974), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Jurek Becker, Frank Beyer. DIE KINDER VON GOLZOW (DDR/D 1961–2007), Regie: Winfried Junge, Barbara Junge. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Heiner Carow, Ulrich Plenzdorf. DIE MAUER (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Jürgen Böttcher. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946), Regie und Drehbuch: Wolfgang Staudte. ONE, TWO, THREE (USA 1961, EINS, ZWEI, DREI), Regie: Billy Wilder, Drehbuch: Billy Wilder, I. A. L. Diamond. DER SCHWEIGENDE STERN (DDR/PL 1960), Regie: Kurt Maetzig, Drehbuch: Jan Fethke, Wolfgang Kohlhaase, Günter Reisch et al. SOLO SUNNY (DDR 1980), Regie: Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig, Leander Haußmann. SPUR DER STEINE (DDR 1966), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Karl Georg Egel, Frank Beyer. DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (D 2000), Regie: Volker Schlöndorff, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Volker Schlöndorff. DIE UNBERÜHRBARE (D 2000), Regie und Drehbuch: Oskar Roehler. . . . UND DEINE LIEBE AUCH (DDR 1961), Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Paul Wiens. DER UNTERTAN (DDR 1951), Regie: Wolfgang Staudte, Drehbuch: Wolfgang Staudte, Fritz Staudte. WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993), Regie: Detlev Buck, Drehbuch: Detlev Buck, Ernst Kahl.

Literaturverzeichnis Barnert, Anne (2008): Die Antifaschismus-Thematik der DEFA. Eine kultur- und filmhistorische Analyse. Marburg: Schüren. Beyer, Frank (2001): Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben. München: Econ. Brockmann, Stephen (2010): A Critical History of German Film. Rochester, NY: Camden House. Finke, Klaus (2008): Politik und Film in der DDR. 2 Bde. Oldenburg: BIS. Habel, Frank-Burkhard (2000): Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme: Die vollständige Dokumentation aller DEFA-Spielfilme von 1946 bis 1993. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf. Hallasch, Alexander (2016): „Die DDR im Spielfilm nach 1989“. In: Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Redaktion: Petra Rösgen, Juliane Steinbrecher. Bielefeld/Berlin: Kerber, S. 214–240. Lange, Marcus (2013): Das politisierte Kino. Ideologische Selbstinszenierung im „Dritten Reich“ und der DDR. Marburg: Tectum. Lüdeker, Gerhard [Jens] (2012): Kollektive Erinnerung und nationale Identität. Nationalsozialismus, DDR und Wiedervereinigung im deutschen Spielfilm nach 1989. München: Edition Text + Kritik.

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Dominik Orth und Heinz-Peter Preußer

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Martin Nies

Wie anfangen? ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und ‚Neubeginn‘ nach 1945 in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) Die ‚Stunde Null‘ der deutschen Filmproduktion Am Beginn der deutschen Filmproduktion nach dem Kriegsende 1945 und der Befreiung vom Nationalsozialismus steht mit Wolfgang Staudtes DIE MÖRDER SIND UNTER UNS der erste Nachkriegsfilm als ein von der sowjetischen Militärregierung in Deutschland beauftragtes und kontrolliertes Werk. Obwohl die DDR zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiert, fragt sich, worin sich deren Ursprung legitimiert, wenn nicht genau an diesem Punkt, der in einem der zentralen kulturellen und politischen nachkriegszeitlichen Diskurse als ‚Stunde Null‘, also als Signum eines systemischen Neubeginns ausgerufen wurde. Eckhard Pabst schreibt dazu: Unabhängig davon, ob die Begriffsbildungen von der ‚Stunde Null‘ und dem ‚Untergang‘ zeitgenössische sind, wird man davon ausgehen dürfen, dass beide Metaphern Wahrnehmungen bezeichnen, die im Zeitraum zwischen Kriegsende und Gründung beider deutscher Staaten Aktualität besaßen. Wenn das so ist, dann wird unmittelbar einsichtig, vor welchen Schwierigkeiten die Kultur steht, wenn es darum geht, konsensfähige – was hier vor allem meint: erträgliche – Selbstbilder zu entwerfen, die in einer Phase ohne rechten Anknüpfungspunkt und ohne Perspektive eben dies doch zu geben vermögen: Orientierung über die Herkunft und Aussicht auf eine Zukunft. (Pabst 2012, S. 26)

Diese Problematik des Wiederanfangens, des Wiederetablierens einer Ordnung nach dem ‚Untergang‘ – einer Wiederherstellung von basalen Infrastrukturen, aber auch der Konstituierung einer ethisch-moralischen Ordnung nach dem Unrechtssystem der Nationalsozialisten ist ein explizites Thema dieser ersten Filmproduktion. Der Titel DIE MÖRDER SIND UNTER UNS skizziert dabei das Bild einer Nachkriegsgesellschaft, die noch unterwandert ist von NS-Verbrechern, somit das Image einer fundamental aus der Ordnung geratenen Gesellschaft, deren Normalität von einer Allgegenwart des Unrechts dominiert ist. Damit ist impliziert, dass der Erfolg einer jeglichen sozialen Neuordnung davon abhängt, zunächst diese Verbrecher zu identifizieren und rechtsstaatlich zu sanktionieren oder, wie es im

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Film bezogen auf die Perspektive der Opfer heißt, „Sühne zu fordern“ (TC 1:19:22).1 Wenn in diesem Kontext hier die einen völligen Abschluss mit der NS-Vergangenheit suggerierenden Begriffe ‚Vergangenheitsbewältigung‘, ‚Stunde Null‘ und ‚Neubeginn‘ Verwendung finden, dann mit der Einschränkung, dass diese lediglich auf diejenigen produktionszeitlichen Deutungsmuster und Diskurse abzielen, zu denen sich die filmische Argumentation verhält. Mit den so genannten Trümmerfilmen, also „in einer engeren Extension des Begriffes Filme[n], die auf der Ebene der dargestellten Wirklichkeit Trümmerlandschaften und das sich in ihnen abspielende Leben abbilden“ (Pabst 2012, S. 30), begründet DIE MÖRDER SIND UNTER UNS zugleich ein neues nachkriegszeitliches filmisches Genre, dessen motivische, narrative und strukturelle Grundzüge Eckhard Pabst (2012) ausführlich dargelegt hat und auf dessen Beitrag hier und im Folgenden des Öfteren verwiesen werden kann. Zur institutionellen Dimension der Filmproduktion nach 1945 schreibt er: Nach der Viermächte-Deklaration vom 5. Juni 1945 lag die Vollzugsgewalt in dem in vier Sektoren aufgeteilten Deutschland bei den jeweiligen Besatzungsmächten.2 Neben der Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, der Inhaftierung der Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Entnazifizierung lag ein wesentlicher Schwerpunkt der Bemühungen um den Aufbau der Nachkriegsgesellschaft darauf, die ideologische Neuorientierung der deutschen Bevölkerung im Sinne einer „reeducation“ zu gewährleisten. Großes Augenmerk lag dabei auch auf der Produktion und Distribution entsprechender Kinofilme. (Ebd., S. 26)

Oberst Tulpanov, Leiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, sagte anlässlich der Gründungssitzung der Deutschen Film AG DEFA in Potsdam-Babelsberg am 17. Mai 1946: Die Filmgesellschaft DEFA hat wichtige Aufgaben zu lösen. Die größte von ihnen ist der Kampf für den demokratischen Aufbau Deutschlands, das Ringen um die Erziehung des deutschen Volkes, insbesondere der Jugend, im Sinne der echten Demokratie und Humanität, um damit Achtung zu wecken für andere Völker und Länder. Der Film als Massenkunst muß eine scharfe und mächtige Waffe werden gegen die Reaktion und für die in der Tiefe wachsende Demokratie, gegen den Krieg und den Militarismus und für Frieden und Freundschaft aller Völker der ganzen Welt. (Film in der DDR – zit. n. ebd., S. 27)

Diese Rede definiert also gleichsam die Programmatik, unter der der erste deutsche Nachkriegsfilm realisiert werden wird.

1 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946), Regie: Wolfgang Staudte. TC: Zeitangaben nach der DVD: Icestorm 2002. 2 Neuere Abrisse zur deutschen Filmproduktion ab 1945 liefern Shandley 2010 und Scholz 2008; siehe ebenfalls Pleyer 1965 und Berger et al. 1989.

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Die semiotische Dimension: Filmischer Weltentwurf und narrative Prozesse Die filmische Ausgangssituation Der Icestorm-Filmverleih vertreibt die aktuelle DVD-Fassung mit der folgenden Inhaltsangabe: Berlin 1945. Susanne Wallner, eine junge Fotografin, kehrt aus dem Konzentrationslager zurück, doch ihre Wohnung ist besetzt. Hier lebt seit kurzem der aus dem Krieg heimgekommene Chirurg Mertens, der seine furchtbaren Erinnerungen mit übermäßigem Alkoholgenuss zu verdrängen sucht. Die beiden arrangieren sich, und mit Susannes Hilfe findet Dr. Mertens langsam wieder zu sich selbst. Da begegnet ihm sein ehemaliger Hauptmann Brückner, nun ein aalglatter Geschäftsmann, dem es egal ist, ob er aus Stahlhelmen Kochtöpfe macht oder umgekehrt. Mertens[’] Gewissen rebelliert, und am Weihnachtsabend 1945 will er Sühne fordern für ein von Brückner drei Jahre zuvor im Osten befohlenes Massaker an Frauen, Kindern und Männern.3

Dieser Überblick verdeutlicht bereits, dass der Film nur ein Jahr nach dem Ende des Nationalsozialismus in Explikation von – aus heutiger Sicht vielleicht unerwartet – brisanten Themen handelt: von Konzentrationslagern, von Kriegstraumata, der Schuld- und Sühnefrage hinsichtlich deutscher Kriegsverbrechen und von den Bedingungen des Wiederaufbaus. Damit zielt er unmittelbar auf die drängenden Fragen und Probleme seiner Produktionsgegenwart. Als ein narratives Konstrukt, das über erzählte Prozesse in der dargestellten Welt zentrale kulturelle Konflikte und Problemstellungen modellhaft verhandelt und mit bestimmten Semantiken korreliert, vermittelt der Film Konzeptionen von wünschenswertem und nicht-wünschenswertem Figurenverhalten und darüber auch Problemlösungsstrategien. In diesem Sinne erfüllt er eine konkrete soziale Funktion: Er dient durch die explizite oder implizite Vermittlung von Normen und Werten der ethischen Orientierung und Erziehung der deutschen Rezipienten in dieser Zeit des Übergangs, die nach dem Unrechtssystem neue ethische Maßstäbe finden und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit im Sinne der alliierten Siegermächte erlernen sollen. In dieser didaktischen Funktion (und nur darin) ist der Film mit Einschränkungen aber durchaus noch nationalsozialistischen Propagandafilmen vergleichbar: dass dem Medium damit primär die Funktion einer expliziten Normen-, Werte- und Ideologievermittlung unter politischer Kontrolle zukommt. Umso mehr stellt sich die Frage, wie er die

3 DIE MÖRDER [Klappentext].

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(D 1946), Regie: Wolfgang Staudte. DVD: Icestorm 2002

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Probleme seiner Zeit behandelt, in welche Kontexte er diese narrativ und semantisch stellt und welche Konzeptionen von ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und ‚Neubeginn‘ er modellhaft vermittelt. Im thematischen Kontext von ‚Beginnen‘ muss dem Anfang des Films, der in die dargestellte Welt und Handlung einführt, eine besondere Bedeutung zukommen – der Auftakt des ersten deutschen Filmes nach dem Krieg, der nicht zuletzt selbst einen neuen Abschnitt in der deutschen Mediengeschichte begründet, ist somit hochgradig semiotisiert. Zu Beginn wird die Diegese mit einem Schriftinsert „Berlin 1945 – Die Stadt hat kapituliert“ raumzeitlich und überdies im historischen Kontext des Kriegsendes situiert. Die erste Einstellung zeigt zwei provisorisch aufgeschüttete Gräber, Seite an Seite das eines Soldaten und eines Zivilisten, die ein vertikaler Schwenk, wie aus den Trümmern aufsteigend, dann auf einer Straße inmitten städtischer Ruinen verortet. Die noch nicht auf einen Friedhof überführten Leichname inmitten des öffentlichen Lebensraumes verdeutlichen einerseits die Allgegenwart des Todes in der zerstörten Stadt, andererseits indizieren sie, dass seit dem Ende des Kriegsgeschehens noch nicht viel Zeit vergangen sein kann und das Aufräumen noch nicht allerorten umfassend im Gange ist. Pabst stellt dazu fest, dass dieser Filmanfang zwar in Bezug auf die Kamera als Erzählinstanz, die sich aus den Ruinen erhebt, und somit den Neubeginn filmischen Erzählens versinnbildlicht, aber eben nicht hinsichtlich der dargestellten Welt einen ‚Neubeginn‘ im Sinne einer ‚Stunde Null‘ definiert (Pabst 2012, S. 34 f.), sondern das Bild einer Welt zeichnet, die sich in den Trümmern, in einer Normalität aus der Ordnung bereits wieder eingerichtet hat – angezeigt etwa durch die spielenden Kinder auf der Straße und den im Folgenden präsentierten Vergnügungsbetrieb. Nicht Bilder von Aufbautätigkeiten, vom Auferstehen aus Ruinen eröffnen die filmische Ausgangssituation, sondern die Darstellung von Alltäglichkeit und von Figurenverhalten, das den desolaten Zustand der Welt zu ignorieren bemüht ist. Nur der trotz körperlicher Unversehrtheit gebrochene Gang des Protagonisten Dr. Hans Mertens verweist auf eine psychische Krise dieser Person, die sich in der neuen Normalität offenbar nicht einzurichten vermag. Darüber hinaus dient auf der Ebene des Discours die Inszenierung einer schiefen Bildebene gleichsam als Kommentar der filmischen Erzählinstanz zu der aus den Angeln geratenen Welt (Abb. 1.1). Unterstützt wird der visuelle Effekt auf der Tonebene durch eine in bizarrer Weise fröhlich, dabei aber überakzentuiert schrill anmutende Unterhaltungsmusik, die situativ als unpassender Missklang erscheinen muss. Zwar wird diese Musik dem mit dem Schild „Tanz – Stimmung – Humor“ beworbenen Kabarett Frasquita räumlich-paradigmatisch

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Abb. 1.1: Die schiefe Bildebene im filmischen Auftakt als Signum einer Welt, die aus der Ordnung geraten ist.

zugewiesen.4 Indem sie aber im Establishing-Shot aus dem Off auch die Einführung der dargestellten Welt außerhalb des Etablissements begleitet, semantisiert der Film in dieser Weise die gesamte Diegese als nicht nur äußerlich in Trümmern liegend, sondern auch als moralisch in einer Schieflage befindlich. Denn das somit tonangebende Kabarett repräsentiert einen semantischen Gegenraum des Eskapismus in Vergnügungen musikalischer und tänzerischer Unterhaltung, in Alkoholkonsum und Prostitution, der dem produktiven Aufbau und der Herstellung von Ordnung entgegensteht. Dass das hier gezeichnete Bild der Nachkriegsgesellschaft und die daraus im Folgenden entwickelte filmische Botschaft Gültigkeit nicht nur für die Hauptstadt Berlin beansprucht, sondern pars pro toto für ganz Deutschland steht, deutet der Film am Ende der Anfangssequenz an, wenn die Kamera auf eine Tourismuswerbung mit dem Titel „Das schöne Deutschland“ zufährt, vor der sich heimatlose Kriegsheimkehrer versammeln. Das Plakat weist dabei signifikant dieselbe Schräglage auf, mit der eingangs die Diegese etabliert wurde und wird dann erneut in ein Bild von Trümmern, nun auf der horizontalen Ebene korrekt ausgerichtet und damit realistisch dargestellt, überblendet (Abb. 1.2, 1.3).

4 Zur Namenssemantik des Lokals schreibt Pabst: „Das Zigeunermädchen Frasquita, die Hauptfigur der gleichnamigen Operette von Franz Lehár (UA 1922), verdreht dem jungen Armand den Kopf und plant, seine bereits arrangierte Hochzeit zu vereiteln und ihn zu demütigen. Sehr spät erst erkennt sie, dass seine Gefühle zu ihr immer aufrichtig waren. Die Wurzel ihres Namens erinnert dabei an das Wort ‚frasque‘, das im Französischen soviel bedeutet wie ‚Dummheit‘ im Sinne von ‚Eskapade‘. Mag dies auf der Handlungsebene die im Kabarett dargebotenen anzüglichen Unterhaltungsprogramme bezeichnen, verweist der Name darüber hinaus auf das Wesensmerkmal einer Gesellschaft, die die Lehren aus der jüngsten Vergangenheit (noch) nicht gezogen hat, die sich der Tragweite ihres Tuns nicht bewusst werden will und die Auswüchse ihrer Taten als bloße ‚Eskapaden‘ abtut“ (Pabst 2012, S. 34).

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Abb. 1.2, 1.3: „Das schöne Deutschland“ in Trümmern.

Diese Art der Montage ist in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS ein häufig eingesetztes Mittel der filmischen Argumentationsweise: Sie wird funktionalisiert, um die in der Sukzession gezeigten Elemente, die in keinem unmittelbar narrativen oder logisch-denotativen Zusammenhang stehen müssen, semantisch-paradigmatisch miteinander zu korrelieren und so eigenständige Bedeutungszusammenhänge zu etablieren. Insbesondere in der Schlusssequenz macht sich der Film dies zunutze, wenn er von dem inhaftierten titelgebenden Mörder und dessen uneinsichtigen Unschuldsbeteuerungen auf versehrte Opfer und dann auf ein Gräberfeld überblendet. Wie schon in der Eingangssequenz mit der Unterhaltungsmusik in der Trümmerlandschaft konterkariert dabei das visuell Dargestellte das akustisch Wahrnehmbare im Sinne von Eisensteins Theorem des visuell-tonalen Kontrapunkts (vgl. Eisenstein 1980, S. 152): Hier beglaubigt es final die Schuld des Täters, indem es die überlebenden Opfer zeigt, die Anklage erheben müssen und die Gräber derjenigen, die dazu nicht mehr in der Lage sind.

Konfliktstruktur und narrative Prozesse Die filmische Handlung beginnt mit der Ankunft eines Zuges mit Kriegsheimkehrern; damit rückt die Protagonistin Susanne Wallner in den Fokus, die als politische Gefangene in einem Konzentrationslager in den Ostgebieten interniert war und deren Rückkehr den Transformationsprozess des männlichen Protagonisten einleitet, mit dem sie künftig ihre Wohnung teilt. Im erzählten Geschehen werden über das Aufeinandertreffen der beiden Hauptfiguren zwei verschiedene Modelle des Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit verhandelt: Hinsichtlich des Problems, wie man nach dem Erlebten neu beginnen oder überhaupt zu einer ‚Normalität‘ zurückfinden kann, zeigen sie exemplarisch unterschiedliche Wege auf, die

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sowohl unter Genderaspekten als auch in Bezug auf die Darstellung der Opferrolle interessant sind. Hans Mertens war vor und während des Krieges als Chirurg tätig und würde somit auch gegenwärtig dringend zur Behandlung all der Kriegsopfer gebraucht. Aufgrund seines überwältigenden Schuldgefühls ist er aber arbeitsunfähig geworden, verharrt in Untätigkeit und flüchtet sich zudem in Alkoholismus, Verbitterung und Sarkasmus, weil es sich „nicht lohnt, diese Menschheit zu kurieren“ (TC 0:24:18). Susanne Wallner versucht aufzuräumen, die bürgerliche Ordnung wiederherzustellen, Aufbauarbeit zu leisten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Grafikerin durch die Gestaltung von Plakaten zugunsten der Kinderhilfe so auch dem Gemeinwohl zu dienen. Der Dialog zwischen Susanne und dem alten Herrn Mondschein, dessen immer tätiges Leben ganz der Hoffnung auf die Rückkehr des Sohnes aus dem Krieg gewidmet ist, vermittelt die wünschenswerte Haltung, die filmisch den Opfern zugedacht ist: Susanne: „Sie arbeiten, als sei nichts geschehen in all den Jahren. Es ist wie ein – ich kann es noch gar nicht fassen.“ Mondschein: „Ja, es ist ein Glück!“ Susanne: „Glück?“ Mondschein: „Ja, das ist das Einzige, was ich aus dem Keller zwischen Schutt und Trümmern gerettet habe. Man hat mich immer ausgelacht, dass ich nichts wegwerfen konnte und jetzt ist dieser Kram der Anfang zu einem neuen Leben.“ Susanne: „Tja – . So schwer, so schwer zu vergessen.“ Mondschein: „Nein, es ist leicht, Fräulein Susanne, wenn man ein Ziel hat, um das es sich lohnt.“ Susanne: „Ja, arbeiten, leben, endlich einmal leben.“ (TC 0:07:33)

Wenn Mondschein nicht von einem „Wunder“, also von höherer Vorsehung, sondern von einem „Glück“ spricht, dann ist damit der Zufall gemeint, dem sie beide es verdanken, noch am Leben zu sein. Denn Mondschein als eine jüdische Figur und Susanne als politisch Inhaftierte in einem Konzentrationslager repräsentieren die von den Nazis am meisten verfolgten Personengruppen und damit die eigentlichen Opferrollen in der dargestellten Welt. Signifikanterweise findet sich bei ihnen aber keine Bitterkeit, kein Groll gegen ‚die Deutschen‘, sondern der Wunsch „zu vergessen“ und stattdessen den Blick nach vorn zu richten auf ein „neues Leben“ innerhalb der deutschen Gesellschaft und nicht gegen diese. Das Konzept von Leben in dem hier angedeuteten emphatischen Sinne entspricht in diesem Film des Jahres 1946 nicht mehr dem, was die Moderne vor

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dem Nationalsozialismus unter dem Begriff Vitalismus als die Sehnsucht nach einem gesteigerten Lebensgefühl außerhalb der Enge bürgerlicher Normen verstand. Das Zitat „Ja, arbeiten, leben, endlich einmal leben“ macht die Wertehierarchisierung von gemeinnütziger Arbeit am Wiederaufbau gegenüber dem subjektiven Lebensgefühl deutlich. Das hier gemeinte ‚Leben‘ achtet das Leben durch die Erfahrung der Todesnähe in Zeiten der Verfolgung und des Krieges höher, stellt es unbedingt aber nicht über die bürgerliche Norm, sondern verknüpft es mit der Bedingung der Restitution einer bürgerlichen Normalität. In der Weise korreliert der Film ‚Leben‘ mit ‚sozialem Handeln‘. Nicht-Arbeit, Verweigerung am Wiederaufbau mündet, wie der Fall Mertens illustriert, dagegen in diesem Sinne in ein metaphorisches Nicht-Leben. Er, der weder eindeutig einer Opfer- noch einer Täterrolle zuordenbar ist – ihn quält die Erinnerung an ein Kriegsverbrechen, dass zu verhindern er nicht imstande war, war dabei aber weder selbst einer Verfolgung ausgesetzt noch in unmittelbarer Todesgefahr –, stellt sein psychisches Leiden aus und begegnet den Bemühungen Susannes mit Verachtung. Wenn Mertens Susanne Wallner vorwirft, sie habe sich vor dem Krieg auf das Land in Sicherheit geflüchtet, sie aber über die tatsächlichen Umstände ihrer Deportation aus Berlin schweigt, wird ein Missverhältnis im Verständnis der eigenen Opferrolle, aber auch der Geschlechterrollen im Umgang mit der Vergangenheit deutlich. Bekanntlich war im Unterschied zu romantischen Konzeptionen im deutschsprachigen bürgerlichen Realismus, der Moderne und besonders prominent im Nationalsozialismus das Ideologem vom ‚Mann der Tat‘ für männliche Rollenbilder prägend. In der Konzeption der Mertens-Figur wird dieses Bild jedoch zeichenhaft negiert. Selbstverständlich belässt es der Film dabei nicht, sondern er entwickelt im Folgenden die Voraussetzungen für eine Traumabewältigung und die soziale Reintegration des Dr. Hans Mertens. Dementsprechend rechtfertigt Susanne Wallner ihn gegenüber Mondschein, der sich über ihre Geduld wundert, wenn jener wieder übellaunig und volltrunken in die Wohngemeinschaft heimkehrt, damit, dass so etwas eben Zeit brauche. Darüber sucht der Film zu diesem Zeitpunkt auch Verständnis für das tiefe moralische Schuldbewusstsein zu vermitteln, das Mertens beherrscht und ihn ‚handlungsunfähig‘ werden ließ.

Die filmische Inszenierung figuraler Leitbilder Die folgenden Anmerkungen zu den Genderkonstruktionen beziehen sich auf die filminterne Darstellung, auf die filmischen Konzeptionen, die an den diesbezüglich geltenden Normen der Produktionszeit und ihrer Kontinuität aus der Moderne zu messen sind: Susanne, die starke Frau, die ihre Schwäche und ihr persönliches Leiden immer wieder überspielt und sich – so legt es die Darstel-

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lung nahe –, so schwer es auch fallen mag, innerlich zum Standhalten durchringt, fungiert in der Geschichte als ein Vorbild und eine Katalysatorfigur für den zaudernden Mann, der sich im Laufe seines Transformationsprozesses erst ‚ermannt‘. Dass, solange ein ‚Mann der Tat‘ absent ist, die Frau eine Position der Stärke vertreten muss und auch vorübergehend männliche soziale Funktionen oder die Rolle der Zukunftsvisionärin übernehmen kann, ist auch ein häufiges Narrativ in NS-Propagandafilmen. Es findet sich in der NS-Verfilmung des Schimmelreiters von 1933/34 als einem frühen Führer-Film ebenso wie in der Geier-Wally-Verfilmung von 1940 und einem Revuefilm wie DIE GROSSE LIEBE von 1942, mit den von Zarah Leander intradiegetisch vorgetragenen programmatischen Liedern Davon geht die Welt nicht unter und Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen (vgl. Decker 2000). In DIE MÖRDER SIND UNTER UNS ist das Narrativ der starken Frau selbstverständlich anders kontextualisiert: Der reale lebensweltliche Mangel an Männern in der Nachkriegszeit zwang bekanntlich die Frauen auch zu den härtesten körperlichen Arbeiten; um diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, werden auch die sogenannten ‚Trümmerfrauen‘ filmisch präsentiert, bezeichnenderweise allerdings während Mertens den Mörder Brückner zum Stimmungslokal Frasquita führt (TC 0:51:18). Bei aller ideologischen Verschiedenheit gegenüber den NS-Propagandafilmen ist dabei die Kontinuität bestimmter Inszenierungsweisen kaum von der Hand zu weisen. Sie korrespondiert mit der grundsätzlichen Beobachtung, dass sich filmische Propaganda – einerlei welcher politisch-ideologischen Ausrichtung – oftmals der gleichen narrativen Mittel und Ästhetiken bedient. Daher finden sich auf dieser Betrachtungsebene im NS-Film, im sowjetischen und DDR-Film oder auch in amerikanischen Kriegsfilmen bis heutigentags nicht selten analoge Strukturen, Motive und Darstellungsmodi. Klaus Kanzog hat in seinem Handbuch zu den als ‚staatspolitisch besonders wertvoll‘ eingestuften Filmen der Jahre 1934 bis 1945 die Darstellung filmisch figurierter NS-Leitbilder untersucht. Unter anderem weist er darauf hin, dass die NS-Helden als Figuren mit suggestiver „menschlicher Größe“ konzipiert wurden und dass sie durch Mimik und Gestik ein überindividuelles emphatisches Sendungsbewusstsein vermitteln (vgl. Kanzog 1994, S. 31–33). Kanzog illustriert diese Aussage durch Standfotos aus den Vorbehaltsfilmen DAS MÄDCHEN JOHANNA (Gustav Ucicky 1934), HERMINE UND DIE SIEBEN AUFRECHTEN (Frank Wysbar 1935) sowie KOLBERG (Veit Harlan 1945) – also anhand von Beispielen sowohl aus der Konsolidierungs- als auch der Schlussphase des NS-Regimes (ebd., S. 21). Auch der bereits erwähnte SCHIMMELREITER-Film von 1933/34 inszeniert die Hauptfiguren Hauke und Elke in der von Kanzog beschriebenen Weise.

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Eine besondere Relevanz erhält in diesem Kontext der Moment des Erwachens der Figur zu einem höheren Sendungsbewusstsein: Die Abbildungen 1.4 und 1.5 aus dem SCHIMMELREITER zeigen Elke Volkerts, die Tochter des verstorbenen Deichgrafen in genau dem Moment, in dem ihre Trauer über den Tod des Vaters in Sendungsbewusstsein transformiert, in dem also ihr bewusst wird, dass es nun ihre Aufgabe ist, durch eine Heirat mit Hauke Haien zum Wohle aller den ‚rechten Mann‘ ins Amt zu setzen (TC 0:21:37),5 da die Regel gilt, nur der reichste Bauer kann Deichgraf werden. Um deutlich zu machen, dass damit auch eine Zeitenwende einhergeht, gleichsam die Stunde Null der Führerinthronisation, wird unmittelbar vorher ein Sinnspruch eingeblendet: „Es kommt das Leid, es geht die Freud. Es kommt die Freud, es geht das Leid. Die Tage sind nimmer dieselben“ (TC 0:21:14; vgl. Nies 2008).

Abb. 1.4, 1.5: Erwachen von Sendungsbewusstsein in DER SCHIMMELREITER (D 1933/34).

Dieselbe Inszenierungsweise zeigt Hans Steinhoffs DIE GEIERWALLY (1940) nach dem Bergroman von Wilhelmine von Hillern (1875). Während Elke Volkerts bewusst wird, dass sie Hauke Haien unterstützen muss, in Amt und Würden zu gelangen, fasst Geierwally den Entschluss, den jungen Lämmergeier, der den Bauern die Jungtiere zu rauben droht, selbst aus dem Nest zu holen, da kein Mann aus dem eigenen Tal genug ‚Mann der Tat‘ ist, dies zu tun (vgl. ausführlich Nies 2007). Die Abbildungen 1.6 und 1.7 zeigen Wally zunächst bei stupider Feldarbeit, dann ihren Blick hinauf zum Berggipfel als sie hört, dass sich kein Mann findet, die Gemeinschaft vor Schaden zu bewahren, Abbildung 1.8 und 1.9 schließlich zeigen ihr völliges Aufgehen in Sendungsbewusstsein.

5 DER SCHIMMELREITER (D 1933/34), Regie: Hans Deppe, Curt Oertel. TC: Zeitangaben nach der DVD: Universum Film 2009.

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Abb. 1.6, 1.7: Erwachen von Sendungsbewusstsein in DIE GEIERWALLY (D 1942).

Abb. 1.8, 1.9: Aufgehen der Figur in Sendungsbewusstsein in DIE GEIERWALLY (D 1942).

In diesen beiden und einer Vielzahl weiterer Filme zwischen 1933 und 1945 fungieren Frauen jeweils dem Rollenmodell folgend, das der Nationalsozialismus für sie vorsieht, als Kameradinnen und Helferfiguren für den ‚rechten Mann der Tat‘, damit dieser eine seinen Fähigkeiten entsprechende systemkonsolidierende Position einnehmen kann. Sobald er diese erreicht hat, ordnen sich die inszenierten Frauenfiguren jedoch dem Mann unter Verzicht auf jegliche Selbstverwirklichungsansprüche wiederum unter. Die Abbildungen 1.10–1.16 zeigen nun Frames aus DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, die den Transformationsprozess von Hans Mertens allein anhand der visuellen Inszenierung des Erwachens von Sendungsbewusstsein erschließen lassen – denn hier ist es die männliche Figur, die diesen Prozess vollziehen muss, während, wie dieses erste Bild zeigt, Susanne mit die-

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sem Bewusstsein von vornherein ausgestattet ist. So ist sie hier als eine visionäre Leitfigur dargestellt, an der Mertens zunächst Orientierung findet.

Abb. 1.10: Inszenierung von Sendungsbewusstsein und figuralem Leitbild in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946).

Im Laufe dieses figuralen Entwicklungsprozesses, der das Bewusstsein von Handlungsnotwendigkeit und damit von einer aus dem Trauma befreienden Tat zum Ziel hat, wird Mertens’ Blick zunehmend visionärer und zielgerichteter – ganz analog zur Inszenierung der Geierwally-Figur in Hans Steinhoffs NS-Film (vgl. o. Abb. 1.6–1.9). Zum Filmende schließlich, das nicht die individuelle Vollstreckung eines Vergeltungsmordes, sondern die Überantwortung des Schuldigen an die Militärregierung als die eigentlich befreiende Tat und narrative Problemlösung vorführt, gehen zunächst Susanne und Mertens befreit und zielbewusst Seite an Seite in eine offenbar gemeinsame Zukunft (Abb. 1.15) – doch bei dieser Inszenierung von weiblich-männlicher Gleichberechtigung belässt der Film es nicht: Signifikanterweise ist nach Mertens’ ‚Erwachen‘ und der abgeschlossenen Bewältigung seines Traumas zuletzt wiederum er als die visionär aus der Diegese in die Ferne blickende männliche Leitfigur dargestellt, zu der die weibliche Figur aufschaut (Abb. 1.16). Damit sind die traditionellen Geschlechterrollenbilder, nachdem die Psyche des Mannes temporär ‚in Trümmern‘ lag und nun wieder aufgerichtet ist, gleichsam final ‚restauriert‘. Wie zuvor in den nationalsozialistischen Narrativen gilt noch immer, dass weibliche Stärke nur solange wünschenswert ist, wie es an männlicher Stärke fehlt. Hätte der Film den Wallner-Mertens-Handlungsstrang mit einem ‚Seite an Seite in die Zukunft‘, wie in Abb. 1.15 zu sehen, beschlossen, wäre eine filmische Botschaft der Gleichberechtigung plakatiert worden, die offenbar nicht gewünscht war, sodass mit der folgenden Einstellung eine Reinstallation des männlichen Führungsprinzips innerhalb der Partnerschaft in der an Männern so defizitären Gesellschaft der Nachkriegszeit erfolgte.

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Abb. 1.11–1.14: Erwachen von Sendungsbewusstsein durch den Erinnerungsprozess in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS.

Mit dem hier aufgezeigten Vergleich von Darstellungsmitteln zur Inszenierung figuraler Bewusstwerdungsprozesse zu einem überindividuellen Sendungsbewusstsein im NS-Film und dem ersten Nachkriegsfilm will nicht ausgesagt sein, dass Wolfgang Staudte sich diese zu eigen macht, um mit der Ästhetik der NS-Propaganda zu sympathisieren – vielmehr wirft dieses Beispiel nur exemplarisch die bereits in anderen Zusammenhängen umfangreich und komplexer erörterte Frage auf, wie man nach 1945 Geschichten neu erzählen kann. Die Analogie der Darstellungsweise zum NS-Film bedeutet also keineswegs die Kontinuität auch der inhaltlich verhandelten Werte, offenbar ist es jedoch auf der Ebene der filmischen Ästhetik schwierig, neue Formen des Erzählens zu finden – zumal das Publikum aus der filmischen Tradition des Stummfilms der Moderne und eben des NS-Films mit dieser Art der Kodierung von figuralen Bewusstwerdungs- und Transformationsprozessen vertraut ist und intendierte Brüche mit den Sehgewohnheiten der Zuschauer propagandis-

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Abb. 1.15, 1.16: Von der Gleichberechtigung (Seite an Seite) zur finalen Re-Installation männlicher Führung.

tische oder didaktisch orientierte filmische Botschaften, wie sie auch DIE MÖRzu vermitteln sucht, eher unterminieren würden.

DER SIND UNTER UNS

Die destruktive und die produktive ‚Tat‘ Neben dem Wiederaufbaudiskurs ist die Frage nach dem Umgang mit den Tätern, die Schuld-und-Sühne-Problematik, zentraler Gegenstand der Verhandlung. So verknüpft die filmische Argumentation den sozialen Reintegrationsprozess Mertens’ mit einer offenbar als notwendig verstandenen Voraussetzung: der Aufarbeitung seiner empfundenen Mitschuld, somit mit einem Akt der Vergangenheitsbewältigung. Dazu wird dem Opfer Susanne Wallner und dem untätigen Hans Mertens eine Figur kontrastiert, die den Typus des Täters repräsentieren soll, einen der Mörder: Hauptmann Brückner, – ‚Mann der Tat‘ in einem negativ gewendeten Verständnis, der es versteht, sich unter allen Umständen in sozialen Führungspositionen einzurichten, ohne selbst für irgendwelche Werte außer dem eigenen Wohlergehen einzustehen. Sein Kriegsverbrechen ist im Sinne der ‚Wertigkeit von Tat‘ eine überflüssige Handlung, ein ‚Zuviel der Tat‘, ein Verbrechen an der Menschlichkeit ohne militärische Notwendigkeit. Nachdem bei dem Einmarsch deutscher Soldaten in ein polnisches Dorf vereinzelt verirrte Gegenschüsse gefallen sind, besteht Brückner darauf, ein Exempel zu statuieren und lässt die Bewohner der linken Straßenseite (im Sinne einer politischen Semantisierung von ‚links‘ und ‚rechts‘ wohlgemerkt nicht der rechten Seite), das sind insgesamt 36 Männer, 54 Frauen und 31 Kinder, erschießen. Mertens, der als Unterarzt nicht dem unmittelbaren Befehl Brückners untersteht, erhebt zaghaft Ein-

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spruch, ohne aber etwas bewirken zu können. ‚Ohnmacht/Tatenlosigkeit‘ bezeichnet in diesem Kontext Mertens’ Situation, und diese hält von dem ungesühnten Kriegsverbrechen bis in die Gegenwart der Diegese an. Als er erfährt, dass Brückner entgegen seiner Erwartung den Krieg überlebt hat und es ihm dazu „großartig“ geht, ist Mertens’ Glaube an jede höhere Gerechtigkeit erschüttert. Nachdem er sich dazu davon überzeugen konnte, wie Brückner sich als großbürgerlicher Fabrikbesitzer überaus erfolgreich wieder in der neuen Ordnung eingerichtet hat, fasst er am ‚Friedensweihnachten‘ den Entschluss zu einer befreienden Tat: mit vorgehaltener Waffe von Brückner Rechenschaft und Sühne einzufordern. In dem von Staudte vorgesehenen Schluss sollte Mertens Brückner erschießen. Dementsprechend lautete der Filmtitel ursprünglich „Der Mann, den ich töten werde“. Aber die sowjetische Militärregierung änderte den Titel in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS und ließ ein neues Ende mit der heute bekannten Schlussvariante drehen, deren Dialog hier wiedergegeben werden soll (vgl. Pabst 2012, S. 40 f.): Mertens: „Ich fordere Rechenschaft, Herr Hauptmann Brückner!“ Brückner: „Rechenschaft – wofür Rechenschaft?“ Mertens: „36 Männer. 54 Frauen. 31 Kinder. Munitionsverbrauch 347 Schuss.“ Brückner: „Ja, was denn, um Gottes Willen, da war doch Krieg! Da waren doch ganz andere Verhältnisse! Was habe ich denn heute damit zu tun? Wir haben doch Frieden! Wir haben doch Weihnachten! Friedensweihnachten! – Mertens! Um Himmels Willen! Meine Frau! Die Kinder! Was haben denn meine Kinder damit zu tun!“ (TC 1:16:00)

Nachdem in der realisierten Schlussfassung Susanne den Schuss verhindert hat, heißt es: Mertens: „Ich danke Dir, Susanne!“ Susanne: „Hans, wir haben nicht das Recht zu richten!“ Mertens: „Nein, Susanne, aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrage von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen.“ (1:19:22)

Auffällig ist, dass Mertens in dieser Szene nur als ein drohender Schatten und nicht als Person zu erkennen ist. Damit wird die für ihn so bedeutende individuelle Befreiungstat zeichenhaft überindividualisiert, indem er als gesichtsloser Rächer stellvertretend für den Sühneanspruch aller Opfer stehen kann, der, wie der folgende Gesinnungswandel zeigt, im Sinne der Militärregierung aber nicht

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mittels Lynchjustiz geltend gemacht werden darf. Der am Ende des Films ausgestellten Botschaft zufolge soll nicht der Einzelne Sühne fordern und Rache nehmen, sondern die Gesellschaft als Ganze ist aufgefordert, die Mörder in ihrer Mitte auszumachen, Anklage zu erheben und den zuständigen alliierten Behörden zu übergeben. Nur auf diese Weise – so setzt es der Film – kann die Vergangenheit ‚bewältigt‘ werden und ein Neuanfang stattfinden. Wo aber DIE MÖRDER SIND UNTER UNS einerseits negiert, dass der Einzelne sich durch eine individuelle Rachetat von den Traumata der Kriegsverbrechen befreien könne, und klarstellt, dass sich dies nur gesamtgesellschaftlich im Rahmen der gegebenen Ordnung leisten lässt, weist er doch andererseits die Täterschaft signifikant gerade nicht dem Kollektiv der Deutschen zu, sondern einem individualisierten und kriminalisierten Einzeltäter ohne Gewissen und Einsicht. Auf einem der zeitgenössischen Filmplakate, mit denen DIE MÖRDER SIND UNTER UNS beworben wurde, findet sich die hier zugrunde gelegte Täterkonzeption noch einmal paratextuell kondensiert. Im Hintergrund zeigt das Plakat Susanne Wallner überlebensgroß als Repräsentation des NS-Opfers; ikonischer Tradition folgend erscheint sie gleichsam als eine anklagende Madonna. Kleiner davor, aber in annähernd gleichem Größenverhältnis zu einer dritten Figur ist Brückner als der Täter in zivilem Anzug abgebildet und zwar mit dem Gesichtsausdruck, den er im Moment der Rechenschaftsforderung durch Hans Mertens zeigt. Dazwischen erscheint ein dem Opfer zugewandter Schatten eines Wehrmachtssoldaten als entindividualisierter Befehlsempfänger. Durch die Größe sind Befehlsgeber und Befehlsempfänger zwar annähernd gleichgesetzt, aber der Soldat ist anonym und kann somit nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ebenso wie das Plakat hat die filmische Narration kein Interesse an der Individualität derjenigen, die die eigentliche Erschießung durchführen, sondern nur an dem, der die Order dazu ausgab. Mit dieser Täterkonzeption steht der Film nicht allein in seiner Zeit, sondern er reiht sich ein in einen nachkriegszeitlichen Diskurs, der wesentlich zur Individualisierung der Schuld an den NS-Verbrechen tendiert (vgl. Krah/Wünsch 2000; Decker 2018). Darauf ist zurückzukommen.

Vor der DDR: Spuren sowjetischer Ideologisierung Nun ist es im Kontext der Realisation des Filmes unter dem Diktat der sowjetischen Militärbehörde von Bedeutung, wie er den Mörder mit persönlichen Merkmalen charakterisiert. Auf dieser Ebene der Täterkonzeption kommen Signaturen zum Tragen, die ideologischer Natur sind. Denn die Figur so darzustel-

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len, wie sie dargestellt ist, ist keine Notwendigkeit, sondern basiert auf Entscheidungen; sie ist ein semiotisches Konstrukt und deshalb ideologisch, weil die Gründe für diese Vorgehensweise filmintern nicht reflektiert werden, sondern dieser Sachverhalt schlicht gesetzt ist. So lassen sich in der semiotischen Dimension des Films Diskursspuren der sowjetischen Institutionen auch und insbesondere in der spezifischen Konzeption des Täterprofils aufzeigen: Hauptmann Brückner hätte im zivilen Leben nahezu jeden denkbaren Beruf ausüben können. Beispielsweise hätte eine – wenn auch recht simple – psychische Motivation für seinen Tötungsbefehl darin bestehen können, dass er im zivilen Leben nur eine sozial untergeordnete Rolle ausübt und im Krieg seine Befehlsgewalt ausspielen will, um der Teilhabe an der Macht willen. Dafür hat sich der Regisseur in Abstimmung mit den Produktionsinstanzen aber nicht entschieden, sondern sie konzipierten den Täter bewusst als den einzigen Vertreter des Kapitals in der Diegese, der als Inhaber einer Fabrik, die aus Stahlhelmen Kochtöpfe herstellt, nur den eigenen Wohlstand im Blick hat und zudem im marxschen Sinne dem von ihm hergestellten Produkt gegenüber als maximal entfremdet gelten muss, wenn er zu Mertens sagt: „Ob man aus Kochtöpfen Stahlhelme macht oder aus Stahlhelmen Kochtöpfe, das ist egal, nur zurechtkommen muss man dabei, darauf kommt’s an“ (TC 0:51:20). Während dieses Dialogs tritt er einen Stahlhelm mit Füßen, was seine Geringschätzung noch einmal unterstreichen soll. Brückner figuriert somit einen hochgradig unmoralischen Kriegsgewinnler, der im Wortsinne über Leichen geht, nicht nur die der Zivilbevölkerung in Polen, sondern auch der eigenen Kameraden – denn jeden herrenlosen Helm, den er in Friedenszeiten zu einem Kochtopf umschmieden lässt, trug immerhin ein toter Soldat. Der Wohlstand, den er damit im Unterschied zu allen anderen erlangt hat, kann sich sehen lassen: Es gibt bei Brückners wieder Glasscheiben und keine Pappe vor den Fenstern, Spitzendecken auf den Tischen, teure Vorhänge, tadellose Kleidung und die stramm gescheitelten Söhne leben wie die Maden im Speck – rundherum pflegt dieser Mörder einen großbürgerlichen Lebensstil, der allen anderen Figuren verwehrt ist, und darf sich dazu als Einziger über eine intakte und unversehrte Familie freuen. Umso schwerer wiegt aber der moralische Fehltritt, der dieses bürgerliche Dasein als ein Scheinleben entlarvt: Als er für einige Tage Strohwitwer ist, fragt Brückner Mertens nach einem Lokal, in dem es Alkohol und Mädchen gibt und wo sich ein „lustiger Abend“ verbringen ließe (TC 0:51:16). In diesem Kontext schildert DIE MÖRDER SIND UNTER UNS dann eine gleichsam überkreuzte Grenzüberschreitung der beiden Figuren Brückner und Mertens im Sinne des lotman-

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schen Ereigniskonzepts:6 Während Brückner sich in das Frasquita und damit in den semantischen Raum des unmoralischen Amüsements und der Realitätsflucht begibt, führt Mertens endlich eine lebensrettende Tat, eine unentgeltliche Notoperation an einem Kind durch, die einen symbolischen Schritt in seiner Trauma- und Schuldbewältigung darstellt und einen künftigen beruflichen Wiedereinstieg denkbar erscheinen lässt.

Zur filmisch verhandelten Dimension von Schuld Als ein Produkt der sowjetischen Militärregierung in Deutschland kann DIE MÖRDER SIND UNTER UNS als ein filmischer Prä-Text der DDR verstanden werden, er ist aber nicht in diesem Sinne signifikant ideologisch ausgerichtet. Ebenso wenig sind die der nationalsozialistischen Propaganda verwandten Inszenierungsweisen als ein Verweis auf die Kontinuität nationalsozialistischer Ideologeme zu verstehen.7 Sie sind vielmehr in dieser Zeit seit der Moderne standardisierte Darstellungsmittel zur Semiotisierung psychisch interner figuraler Prozesse, so wie der Film daneben auch andere Ästhetiken der Moderne, wie etwa in den Schatteninszenierungen und schiefen Ebenen diejenige des Expressionismus, funktionalisiert. Der Film stellt einen ersten Schritt in der Verarbeitung des deutschen Nationalsozialismus und der in dessen Namen verübten Verbrechen an der Menschlichkeit dar, wozu er narrativ zwei unterschiedliche Wege einer Problemlösung aufzeigt, die der Komplexität der Problematik nicht unbedingt Rechnung tragen, sondern eher als pragmatisch anzusehen sind: Die eigentlichen Opfer, hier figuriert durch Susanne Wallner, sollen das Vergangene um des höheren Zieles des gemeinsamen Wiederaufbaus willen vergessen, so schwer es auch fällt. Das diskursive Modell, das in diesem Fall zum Tragen kommt, ist eben dasjenige vom Neubeginn beziehungsweise einer ‚Stunde Null‘, das gleichsam einen endgültigen Abschluss mit dem Gewesenen zu markieren sucht, da das tatsächliche Leid der Opfer letztlich niemals vergolten werden könnte.

6 Jurij M. Lotmans Grenzüberschreitungstheorie besagt in Kürze, dass ‚Handlung‘ sich in narrativen Texten als Grenzüberschreitung eines Handlungsträgers von einem semantischen Raum in einen anderen vollzieht, hier z. B. können ‚Nicht-Tat‘ vs. ‚Tat‘ als abstrakte semantische Räume identifiziert werden, wobei im Fall der ‚Tat‘ wiederum zwischen wünschenswerter sozialer und produktiver ‚Tat‘ einerseits und nicht-wünschenswerter destruktiver ‚Tat‘ andererseits (= Massenmord) zu unterscheiden ist. Vgl. Lotman 1993. 7 Zu deren Vermittlung eignete sich schon von den Weltentwürfen her eher das Genre des Heimatfilms der 1950er Jahre als der Trümmerfilm. Wie dies geschieht, beschreibt Gräf 2012.

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Derjenige hingegen, dessen Problematik gerade darin besteht, nicht vergessen zu können, in der Gegenwart noch von der Vergangenheit gänzlich besessen zu sein, muss diese ‚bewältigen‘, ‚Frieden im Herzen‘ finden (vgl. TC 1:07:33), indem er sich bewusst erinnert, die Verantwortlichen benennt und Anklage erhebt, so, wie es der Protagonist in dem von der sowjetischen Militärregierung oktroyierten Schluss letztlich auch tut. Die Konzeption des NS-Täters als Repräsentant des Kapitals mag zwar auf den spezifischen ideologischen Kontext verweisen, dem die Filmproduktion entstammt. Auffällig ist jedoch, dass der Film keinen der hochgradig nationalsozialistisch ideologisierten Haupttäter präsentiert, sondern einen Mitläufer, der willkürlich seine Macht missbraucht. Die grundsätzliche Strategie der Individualisierung der Schuld an den NSVerbrechen wurde bereits in der zeitgenössischen filmischen Rezeption kritisiert. Wolfdietrich Schnurre, Autor und Mitbegründer der Gruppe 47, schrieb 1946 in einer Filmkritik: „DIE MÖRDER SIND UNTER UNS? Wir sind die Mörder.“ (Zit. n. Joel 2010) Worauf Schnurre damit im Unterschied zur Individualisierung der Täter, wie sie der Film vorführt, abzielt, ist der Diskurs um eine Kollektivschuld der Deutschen. Dies besagt, „dass nicht nur Hitler und die nationalsozialistische Führungsriege für Krieg und Judenmord verantwortlich seien, sondern das gesamte deutsche Volk eine Schuld trage, die sich auch auf nachfolgende Generationen vererbe“, so das Lexikon der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland (Fischer/ Lorenz 2009, S. 43).8 Das Lexikon hebt aber hervor, dass die Alliierten sich diese Sichtweise nie zu eigen gemacht, sondern sich ausdrücklich davon distanziert hätten. Vielmehr „betrieben [sie; M. N.] das Prinzip der Ahndung individueller Schuld, was vor allem in den Nürnberger Prozessen zum Ausdruck kam.“ Denn aus einer Kollektivschuld „würde logischerweise eine Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt“, so die Urteilsbegründung des IG-Farben-Prozesses (zit. n. LVBD, ebd.). Im April 1946 veröffentlichte Karl Jaspers eine philosophische Schrift mit dem Titel Die Schuldfrage, in der er vier Dimensionen von Schuld differenzierte: die kriminelle, die politische, moralische und metaphysische Schuld (vgl. LVBD, S. 44). Die politische Schuld trifft dieser Auffassung nach alle Deutschen, die dem Nationalsozialismus zur Macht verholfen haben und entspricht damit weitgehend dem Kollektivschuld-Begriff. Die metaphysische Schuld betrifft alle deutschen Überlebenden des Krieges: „Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich“ schreibt Jaspers (zit. n.

8 Im Folgenden im Fließtext zitiert unter der Sigle LVBD.

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LVBD, S. 45). Diese beiden, die Allgemeinheit betreffenden Dimensionen deutscher Schuld sind aber signifikant gerade nicht Gegenstand des Diskurses in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS. Die anderen beiden, das Individuum betreffenden Dimensionen von Schuld werden durch Brückner und Mertens dagegen figural repräsentiert. Auf ersteren trifft die Feststellung der kriminellen Schuld zu, die dem Einzelnen durch Gesetzesverstoß eindeutig nachweisbar ist (vgl. LVBD, S. 44), auf Mertens dagegen die Feststellung einer moralischen Schuld, die aber nicht justiziabel ist. Diese umfasst Jaspers zufolge „alle Einstellungen und Handlungen des Einzelnen, welche zur Katastrophe des Nationalsozialismus beigetragen hätten, darunter auch Selbsttäuschung, Mitläuferschaft und die Ausführung von menschenverachtenden Befehlen. Über die moralische Schuld dürften ausschließlich das eigene Gewissen sowie nahe stehende Personen urteilen“ (ebd.). Als ein von den Instanzen der sowjetischen Militärregierung kontrolliertes filmisches Werk mit erzieherischer Intention konzentriert sich DIE MÖRDER SIND UNTER UNS also signifikant auf die beiden unmittelbar auf Individuen konkretisierbaren Dimensionen von Schuld. Bei den kriminellen justiziablen Tätern wie Brückner liegt die Sache zumindest in der filmischen Verhandlung eindeutig, entsprechend schließt der Film mit dem Appell zur Anklageerhebung; die moralisch Schuldigen dagegen sind durch das Beispiel der Figur des Dr. Mertens implizit aufgefordert, ihre eigene Verantwortung zu reflektieren. Die narrativ präsentierte Belohnung im Falle eigener tief empfundener moralischer Schuld und dem Entschluss zur Anklageerhebung ist das filmische Versprechen eines Happy Endings, das nicht nur die Wiedereingliederung des derart mit der Vergangenheit Abschließenden in die nachkriegszeitliche deutsche Gesellschaft andeutet, sondern auch, nicht zu vergessen, in Susannes und Hans’ sich zum Schluss konstituierender Liebesbeziehung auch den Beginn von etwas Neuem darüber hinaus: Gemeint ist die über das Paar hinausweisende symbolische Versöhnung von Opfern und nicht-kriminalisierten Duldern der nationalsozialistischen Verbrechen, die hier am Beispiel des Dr. Mertens selbst zu Opfern des Regimes umsemantisiert werden (vgl. Decker 2018, S. 181–183). In diesem Verständnis markiert nicht der Filmanfang, sondern erst das Filmende nach der Bestrafung des ‚Haupttäters‘ zeichenhaft die eigentliche ‚Stunde Null‘, den Neubeginn, nun eben auch mit Frieden im „Herzen“.

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Filmverzeichnis DIE GEIERWALLY (D 1942), Regie: Hans Steinhoff, Drehbuch: Jacob Geis, Alexander Lix. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946), Regie und Drehbuch: Wolfgang Staudte. DER SCHIMMELREITER (D 1933/1934), Regie und Drehbuch: Hans Deppe, Curt Oertel.

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Berlin, offene Stadt: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (1957) Das Jahr 1957 stellt ein zentrales Datum in der jungen Geschichte der elf Jahre zuvor gegründeten DEFA dar. Es ist das Jahr eines regelrechten Produktionsbooms, denn es erleben nicht weniger als 22 Spielfilme ihre Premiere (die bis dato höchste Zahl), die lediglich in den Jahren 1959 bis 1961 überholt wird (die höchste Zahl ist im Jahr 1959 mit 27 Filmen zu verzeichnen). Es ist auch das Jahr eines generationellen Paradigmenwechsels, weil die Erstlinge oder, anders formuliert, die ersten ernstzunehmenden Filme von vielen später sehr bekannten DEFA-Regisseuren 1957 entstanden sind. Ich nenne hier fünf Beispiele: Ralf Kirstens (Jahrgang 1930) BÄRENBURGER SCHNURRE, Konrad Wolfs (Jahrgang 1925) LISSY, Frank Beyers (Jahrgang 1932) ZWEI MÜTTER, Heiner Carows (Jahrgang 1929) SHERIFF TEDDY, Joachim Haslers (Jahrgang 1929) GEJAGT BIS ZUM MORGEN. Im gleichen Jahr erscheint darüber hinaus die sehr bekannte Dilogie SCHLÖSSER UND KATEN von Kurt Maetzig, einem der bekanntesten DEFA-Regisseure aus der früheren Generation (Jahrgang 1911), und WO DU HIN GEHST von Martin Hellberg (sogar Jahrgang 1905). Einer der erfolgreichsten DEFA-Filme aus dem Jahr 1957 ist BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . von Regisseur Gerhard Klein und Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (damals noch Kohlhaas im Vorspann) – ein Film, den 12 Wochen nach der Premiere bereits 1,5 Millionen Zuschauer gesehen hatten (vgl. Schenk 1994, S. 131) und der vermutlich in jeglicher ‚Top-Five‘ der DEFA-Filme aus den 40 Jahren der DDR figurieren würde. Wie kann man aus der damaligen (und wohl auch aus der heutigen) Perspektive diesen Erfolg erklären? Ich möchte drei Gründe nennen: 1) Thematisch distanzierte sich der Film auf eine kaum zu überschätzende Weise von den damals gängigen Produktionen der DEFA; 2) der Film traf den Nerv der Zeit und befasste sich mit Themen und Problemen, die eine nationale und sogar internationale Relevanz hatten; 3) der Film verfügte über eine Bildsprache, über eine Dramaturgie und über Dialoge, die in der DDR als sehr innovativ zu bezeichnen sind. Mit diesen drei Aspekten werde ich mich im Folgenden eingehend befassen. Zunächst eine kurze Wiedergabe der Handlung: Mehrere junge Leute treffen sich regelmäßig unter den Hochbahn-Bögen, an der Haltestelle, die damals Dimitroffstraße hieß und nun Eberswalder Straße. Davon lernen wir vier https://doi.org/10.1515/9783110629408-003

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kennen, drei Jungen und ein Mädchen: Kohle, der Einzige, der noch kurze Hosen trägt, ist ein Filmjunkie, der regelmäßig in die westlichen Sektoren fährt, genauer: in die Grenzkinos geht, um sich amerikanische beziehungsweise westliche Filme anzuschauen und der ansonsten nichts tut – unter dem in der DDR wohl als unerhört einzustufenden Vorwand, er habe keine Lehrstelle gefunden. Kohle wohnt mit seiner Mutter und mit seinem Stiefvater, der permanent betrunken ist und ihn regelmäßig schlägt, zusammen. Karl-Heinz, der oppositionelle Sohn eines bürgerlichen, in Ostberlin wohnenden Steuerberaters sowie Besitzer mehrerer Wohnungen, bleibt nur im Osten, weil er Angst hat, sein Vermögen zu verlieren. Karl-Heinz ist ebenfalls ein großer Fan des Westens: zum einen was die Kleidung anbelangt, zum anderen aber auch als Ort verbrecherischer Machenschaften, die ihm zu schnellem Geld verhelfen sollen, damit er sich finanziell von den autoritären Eltern emanzipieren kann. Dieter ist einige Jahre älter als die anderen und der einzige Junge, der bereits einer Arbeit nachgeht (das Altersverhältnis betrifft auch die Schauspieler: Ekkehard Schall war damals 27 Jahre alt, Harry Engel, der Karl-Heinz spielt, war 21 und Ernst Schwill [Kohle] war lediglich 18). Dieter, der zusammen mit seinem älteren, als Volkspolizist tätigen Bruder wohnt, arbeitet zwar mit Fleiß und Erfolg auf dem Bau, die Erwartungen und Vorschriften der DDR-Gesellschaft sind ihm jedoch zu eng. Schließlich ist Angela (gespielt von Ilse Pagé, damals ebenfalls 18 Jahre alt) zu nennen, die als Näherin bei „Fortschritt“ arbeitet und bei ihrer alleinstehenden Mutter wohnt, welche jedoch ein Verhältnis mit ihrem verheirateten Boss hat. Jedes Mal, wenn er zu Besuch kommt, muss Angela das Weite suchen. Dieter und Angela haben ein Verhältnis, Angela wird später von ihm schwanger. Die Handlung ist relativ einfach und kann in vier Erzählsträngen zusammengefasst werden. Der erste Erzählstrang: Unter den Hochbahn-Bögen zerschmettert Kohle im Rahmen einer Wette mit Karl-Heinz (eine Mark West ist der Preis) eine Straßenlaterne, sämtliche Jungen werden zur Polizeistation geladen, Angela geht aus Solidarität mit, der Volkspolizist (Raimund Schelcher), quasi die fünfte Hauptfigur des Films, ermahnt sie, schickt die Jugendlichen jedoch allesamt nach Hause. Der zweite Erzählstrang kreist um die Figur Karl-Heinz, der anlässlich eines Tanzabends zusammen mit Dieter und Angela im damals wie heute sehr bekannten Pratergarten in der Kastanienallee den Diebstahl eines Ausweises organisiert – die erste einer Reihe von verbrecherischen Machenschaften, die in Westberlin zur fahrlässigen Tötung eines Hehlers führt. Der dritte und damit verbundene Erzählstrang hat mit der Flucht von Dieter und Kohle zu tun, die im Rahmen einer harten Konfrontation den sich auf

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der Flucht befindenden Karl-Heinz niederstrecken. Aufgrund der sich als falsch erweisenden Überzeugung, Karl-Heinz getötet zu haben, ergreifen Dieter und Kohle die Flucht nach Westberlin, werden in ein Aufnahmelager aufgenommen und verhört. Der vierte und letzte Erzählstrang ist in dem besagten Aufnahmelager angesiedelt: Von der Angst gepackt, nach Westdeutschland geschickt und somit eingezogen zu werden, will Kohle sich durch eine Mischung aus Kaffee und Tabak ein Fieber zuziehen. Die Mischung erweist sich als verhängnisvoll, Kohle stirbt. Dieter geht zurück nach Ostberlin und erzählt alles dem väterlichen und gütigen Volkspolizisten vom Beginn des Films. Diesem werden auch die letzten Worte des Films überlassen, genauso programmatisch wie die letzten, ermutigenden, im Off gesprochenen Worte des Films: „Ich bin schuld, und du bist schuld. Wo wir nicht sind, sind unsere Feinde. Fang neu an, Junge.“ (TC 1:17:05–1:17:18)1 Strukturell ist der Film als Ringkomposition angelegt: Nach einer kurzen, semi-dokumentarischen Einführung während des Vorspanns an der Ecke beginnt der Film mit Dieters Bekanntmachung („Kohle ist tot“, TC 0:02:18) an den Polizisten, 36 Sekunden später (TC 0:02:54) fängt durch eine sehr traditionelle Überblendung die Analepse mit den bereits erwähnten Hauptereignissen an (Abb. 2.1). Die Analepse endet 73 Minuten später (TC 1:16:05) durch eine Überblendung in das Polizeirevier (Abb. 2.2), wo der Volkspolizist Dieters Geständnis zu Ende anhört, protokolliert und ihn dann mit den Worten entlässt, die schwangere Angela warte auf ihn.

Abb. 2.1, 2.2: Überblendungen als Stilmittel.

1 BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (DDR 1957). Regie: Gerhard Klein. TC: Zeitangaben nach der DVD: Icestorm 2005.

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Der Film (der Vorspann) beginnt mit einer dokumentarisch anmutenden Szene an einem eher wolkigen Berliner Tag, er fängt mit einem langsamen Rundschwenk (360 Grad) in der Totale an der Kreuzung Schönhauser Allee an, die Szene endet genauso unspektakulär wie sie angefangen hat, ohne Schwerund Höhepunkte. Auch die allerletzte Einstellung ist ein Schwenk. Nachdem Dieter vom Polizeirevier entlassen worden ist, dreht sich die Kamera; diesmal jedoch nicht ganze 360 Grad, sondern etwas kürzer. Das Bild zeigt den Innenhof von Angelas Wohnung, der Schwenk endet diesmal mit einer Nahaufnahme von Dieters durch die Sonne erhelltem Gesicht – wohl ein deutliches Zeichen von Hoffnung und Neuanfang (vgl. Elit 2017, S. 49–55). Der Titel ist Programm: Der Film spielt an einem städtisch, verkehrstechnisch und filmgeschichtlich sehr bekannten Ort, nämlich unter den S-/U-Bahnbögen am Quadrivium Danziger Straße vormals Dimitroffstraße, Schönhauser Allee, Kastanienallee, Pappelallee im Ostberliner Viertel Prenzlauer Berg. Der Ort ist auf filmgeschichtlicher Ebene sehr wichtig, weil keine fünfzig Meter davon entfernt gleichsam das Kino oder wenigstens das deutsche Kino entstanden oder vielmehr erfunden worden ist, denn am Eckhaus zwischen der Schönhauser Allee und der Kastanienallee, die Adresse lautet heute Schönhauser Allee 146, führten die Gebrüder Skladanowsky ihre ersten Versuche mit dem sogenannten Bioskop vor.2 Auffällig ist die Distanz von BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . zu den damals gängigen DEFA-Produktionen, was als erster Grund für den Erfolg des Films gelten kann. Spätestens seit Anfang 1953 wurde die DEFA mit ihrer Neustrukturierung und der Verwandlung in einen VEB unter die strenge Kontrolle des MfK (Ministerium für Kultur) über die sogenannte HV Film (Hauptverwaltung Film) gesetzt (vgl. Hake 2008, S. 106–112). Die Filmproduktion unterstand genauso wie alle anderen Produktionsbereiche der Republik einer Planwirtschaft. Für das Ministerium und für die Partei relevante Themen sowie die ästhetischen Richtlinien der zu drehenden Filme waren sehr genau vorgegeben. Die wichtigsten zu verhandelnden Gegenstände waren: 1) der Antifaschismus, vor allem über heroische Beispiele von Widerstand, die von vorbildhaften, heldenhaften, ja mythischen Figuren verkörpert werden, die wichtige Identifikationsangebote darstellen. Genannt sei vor allem eine weitere Dilogie, die den Vorsitzenden der KPD Ernst Thälmann in den

2 Daran erinnert heute noch ein Mosaik von Manfred Butzmann in Form eines Filmstreifens mit dem Namen Skladanowsky, das 1995 eingeweiht wurde anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Versuche seitens der Brüder.

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Mittelpunkt stellt: ERNST THÄLMANN – SOHN SEINER KLASSE (1954) und ERNST THÄLMANN – FÜHRER SEINER KLASSE (1955), beide von Kurt Maetzig; 2) der Aufbau des Sozialismus, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Arbeiterklasse durch Filme, die in Betrieben, Fabriken und LPGen angesiedelt waren, genannt seien Beispiele wie der bereits erwähnte SCHLÖSSER UND KATEN oder GEHEIMAKTEN SOLVAY (1952) von Martin Hellberg; 3) Literaturverfilmungen, die den Versuch darstellen, sich das progressivrealistische Kulturerbe anzueignen. Zu nennen sind Filme wie DER UNTERTAN (nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann) von Wolfgang Staudte (dem Regisseur von DIE MÖRDER SIND UNTER UNS) aus dem Jahre 1951 oder DAS BEIL VON WANDSBEK von Falk Harnack nach dem gleichnamigen Roman von Arnold Zweig, ebenfalls aus dem Jahre 1951. Es handelt sich um Autoren, die nach dem Exil entweder in die DDR zurückkamen (Zweig) oder zurückzukommen gedachten (Heinrich Mann, welcher jedoch kurz vor der Rückkehr aus Kalifornien einem Herzinfarkt erlag). Weiterhin erwähnenswert sind POLE POPPENSPÄLER (nach Theodor Storm, 1954), DAS FRÄULEIN VON SCUDÉRY (nach E. T. A. Hoffmann, 1955) oder Martin Hellbergs Verfilmung von Lessings EMILIA GALOTTI, die erst ein Jahr nach BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . erscheint. Hellberg ist auch der Regisseur eines Films über Thomas Müntzer (THOMAS MÜNTZER – EIN FILM DEUTSCHER GESCHICHTE, 1956), der ebenfalls den Versuch darstellt, sich eine vermeintlich protosozialistische Figur aus der deutschen Geschichte anzueignen; 4) Kinderfilme, die während des vierzigjährigen Bestehens der DDR ständig im Mittelpunkt der Filmproduktion standen und wofür bereits im Jahre 1952 die DEFA ein eigenes Filmstudio aufgebaut hatte. Genannt sei hier wenigstens einer der bekanntesten Kinderfilme, nämlich DIE GESCHICHTE VOM KLEINEN MUCK aus dem Jahre 1955, ebenfalls von Wolfgang Staudte. Mit einigen wenigen Ausnahmen, wie etwa dem letztgenannten Film, waren die nach den thematischen sowie ästhetischen Richtlinien der Partei gedrehten Filme bei den Zuschauern eher unbeliebt (vgl. Lange 2013, S. 135–137); man könnte etwas plakativ behaupten, dass der DEFA-Film der 1950er Jahre eine ganze Reihe von Flops hervorbrachte. Die meisten DDR-Bürger, die relativ nah zur westdeutschen, noch nicht geschlossenen Grenze wohnten, konnten sich ganz andere Filme ansehen, wie etwa amerikanische Genre-Streifen, die in den bundesdeutschen Kinos zu sehen waren oder gar die in Westdeutschland grassierenden Heimatfilme (Titel wie DAS SCHWARZWALDMÄDEL oder GRÜN IST DIE HEIDE oder auch die SISSI-Filme mit Romy Schneider). Genauso wie viele westdeutsche wollten sich auch ostdeutsche Bürger unterhalten, zerstreuen, wollten nicht an die Nazi-Vergangenheit erinnert werden, wollten sich nicht unbe-

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dingt mit großen Idealen beschäftigen (vgl. ebd.). Und die jungen Zuschauer wünschten Filme zu sehen, die sie ansprachen, die konkrete, fassbare, plausible Identifikationsangebote versprachen. Das ist der zweite Grund für den Erfolg des Films: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . traf den Nerv der Zeit, das heißt, der Film partizipierte an einem internationalen Diskurs der 1950er Jahre, der sich mit der Entstehung einer autonomen, alternativen und oppositionellen Jugendkultur befasste; einer Jugendkultur, die sich über neue Verhaltensweisen, Kleidungscodes, Musik- und Filmkonsum ausdrückte. Es war in der Hauptsache ein eher westliches Phänomen, das jedoch auch in den osteuropäischen Ländern, etwa durch die Zirkulation existentialistischer Diskurse, ihre Aufnahme fand. Die aufmüpfige Widerständigkeit der jugendlichen Hauptfiguren von BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . hat zwei, wenn nicht sogar drei Ursachen. An erster Stelle ist die katastrophale Lage der vier Familien zu nennen, denen die drei Jungen und Angela angehören (vgl. Claus 1999, S. 93–116). Es handelt sich um dysfunktionale (vgl. Feinstein 2002, S. 49) oder abwesende Familien, die diesen jungen Leuten keine affektive Bindung und in manchen Fällen sogar keine ethischen Vorbilder bieten: Angelas Mutter, Kohles Stiefvater, der opportunistische Vater von Karl-Heinz. Auch im Falle Dieters ist die Beziehung zu seinem Bruder alles andere als idyllisch zu nennen: Während einer Konfrontation hält Dieter ihm vor: „Warum kann ich nicht leben, wie ich will? Warum habt ihr lauter Vorschriften? Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark. Wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch. Und wenn ich das Hemd über der Hose trage, ist es politisch falsch.“ (TC 0:48:22–0:48:32) Dieter bekundet seinen stolz vorgetragenen Individualismus auch den Mitgliedern der FDJ gegenüber, die in seinem Betrieb operieren und ständig versuchen, ihn zu gewinnen: „Mir braucht keiner zu helfen, und ich helfe auch keinem, und jeder macht seine Erfahrung am besten alleine.“ (TC 0:39:32–0:39:38) Im Falle Dieters ist also ein zweiter Grund zur Widerständigkeit zu nennen, nämlich seine Unduldsamkeit im Hinblick auf die politischen Institutionen der DDR sowie deren soziale Vorschriften, die kollektives Denken, Aktivismus und Agitation fordern und fördern und sich gegen die von Dieter beharrlich verteidigte Trennung zwischen Arbeitsleben und Privatleben ausdrücken. Während der erste – Rebellion gegen eine im Endeffekt vaterlose Gesellschaft, in der der Volkspolizist die einzige väterliche, positiv konnotierte Figur stellt – sowie der zweite Grund – übertriebene Einmischung der Partei und der offiziellen Institutionen ins Privatleben der jungen Menschen – eher als heikle Themen zu bezeichnen wären, sodass man sich fragen könnte, wie es der Film geschafft hat, die Zensur zu überstehen, ist der dritte Grund eher traditionell zu nennen und in mehreren DEFA-Filmen der 1950er Jahre zu finden: der Westen. Die aufmüpfige Widerständigkeit der jugendlichen

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Hauptfiguren hat mit dem negativen, ja verbrecherischen Einfluss der westlichen Gesellschaft zu tun. Dass der Westen im Film eine kaum zu unterschätzende Rolle spielt, wird bereits während der Rahmenerzählung angedeutet: durch den hektischen Lauf von Dieter, der den amerikanischen Sektor verlässt und im „demokratischen Sektor von Groß-Berlin“ ankommt. Die entsprechenden Schilder (Abb. 2.3, Abb. 2.4) markieren die Dialektik des Films.

Abb. 2.3, 2.4: Grenze ohne Mauer.

Wie wird in BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . der Westen dargestellt? Vier Aspekte sind besonders hervorzuheben: 1) Der Westen stellt den Inbegriff von Gier dar, im Westen ist das Geld, und zwar das schnelle Geld, der dominante Wert – davon zeugt die ganze Geschichte, die um Karl-Heinz kreist. Um zu schnellem Geld zu kommen, scheut Karl-Heinz nicht, Wege zu gehen, die zum Verbrechen führen, im allerersten Gespräch mit den Verbrechern am Bahnhof Zoo geht es sofort um Geld. 2) Der Westen steht in Kontinuität zur Nazi-Vergangenheit. Das sieht man anhand der Episode am Bahnhof Zoo, wo ein Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen verkündet: „Der Telegraf: Atomwaffen für die Bundeswehr“ (Abb. 2.5). Der Militarismus ist übrigens, wenn auch indirekt, der Grund, weshalb Kohle sterben wird, er versucht alles, um nicht nach Westdeutschland geschickt und damit eingezogen zu werden. Die Nazi-Vergangenheit oder besser die Inquisitionsmethoden der Nazis werden auch von den Herren verkörpert, die die beiden Jungen (Kohle und Dieter) verhören sowie von dem Schläger, der als Wache beim Aufnahmelager fungiert. 3) Der Westen ist das Reich der Lüge. Das sieht man an einem scheinbar nebensächlichen Detail: In der Nähe eines Grenzübergangs sowie eines Grenzkinos, an dem Karl-Heinz und Kohle sich zufällig treffen, schreit ein Zeitungsverkäufer – es handelt sich naturgemäß um die „Bild“-Zeitung – eine Schlagzeile, die ständig wiederholt wird: „Soraya doch in guter Hoffnung“. Es geht um die

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Abb. 2.5: Aufrüstung im Fokus.

Abb. 2.6: Freizeitprogramm West-Kino.

zweite Frau von Mohammad Reza Pahlevi, dem Schah von Persien, die keine Kinder kriegen konnte und deswegen am 6. April 1958 von ihrem Gatten verstoßen wurde; Soraya war also gar nicht in guter Hoffnung. 4) Der wohl am häufigsten markierte Aspekt in der Darstellung des Westens hat mit dem Film zu tun. Kohle ist, wie bereits erwähnt, ein Filmjunkie; anlässlich des ersten Verhörs im Polizeirevier fragt der Volkspolizist, wie viele Filme er drüben gesehen habe, und er antwortet: „Mindestens hundert“ (TC 0:11:11–0:11:12). Auch die verhängnisvolle Entscheidung, sich die schließlich tödliche Mischung aus Tabak und Kaffee zuzubereiten, ist durch einen Film beeinflusst, den er gesehen hat. Bei den zwei Szenen, die in Westberlin angesiedelt sind, sieht man in der ersten am Bahnhof Zoo Werbeplakate von Kinosälen, die zweite Szene ist in der Nähe eines Grenzkinos gedreht, das sehr kurz gezeigt wird, es handelt sich um die „Stern-Lichtspiele“, die sich an der Grenze zwischen Kreuzberg und Friedrichshain in der Naunynstraße befanden. Kurz bevor das Kino-Schild zu sehen ist, wird auch ein Plakat etwas genauer gezeigt, der Film heißt RÄCHER DER UNTERWELT (Abb. 2.6), die deutsche Fassung des amerikanischen Films THE KILLERS (1946) vom deutschen, nach 1933 in die USA ausgewanderten und seit 1952 wieder in Europa lebenden Robert Siodmak. Siodmak war einer der Ko-Autoren des epochalen, semi-dokumentarischen Kollektivfilms MENSCHEN AM SONNTAG aus dem Jahre 1930, wohl einer der Filme, der den Beinamen „neorealistisch“ verdienen könnte. Oben, über dem Kino-Schild sieht man etwas ungenau ein weiteres Plakat: DER MANN IM GRAUEN FLANELL (THE MAN IN THE GRAY FLANELL SUIT) mit Gregory Peck aus dem Jahre 1956. Ein weiterer Name, der von Angela zitiert wird, ist der von Marlon Brando: Als Dieter Angela fragt, welche Typen Männer

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ihr gefallen, antwortet sie „Ärzte und Boxer“ und als er etwas genauer erfahren möchte, wie diese Männer aussehen sollten, sagt sie ganz selbstbewusst: „Wie Marlon Brando“ (TC 0:14:36–0:14:41). Der Name spielt in diesem Kontext eine sehr wichtige Rolle, denn mit Marlon Brando verband man damals eine ganz bestimmte Art von Jugendfilmen, die aus den USA kamen und als Kultfilme galten. Brando war damals bereits bekannt für Rollen wie die des Stanley Kowalski in der Verfilmung von Tennessee Williams’ Stück A STREETCAR NAMED DESIRE (1951) von Elia Kazan, für die Rolle des Terry Malloy im ebenfalls von Kazan gedrehten ON THE WATERFRONT (1954) und vor allem für die Rolle des oppositionellen Bikers Johnny Strabler in vom Laslo Benedek gedrehten THE WILD ONE aus dem Jahre 1953 (Abb. 2.7; vgl. Gehler 2005, S. 37).

Abb. 2.7: Vorbild Marlon Brando.

Zu nennen sind selbstverständlich auch die Filme, die James Dean in der Hauptrolle führen, vor allem REBEL WITHOUT A CAUSE von Nicholas Ray aus dem Jahre 1955. Unter den amerikanischen Jugendfilmen aus der Mitte der 1950er Jahre ist REBEL WITHOUT A CAUSE wohl der Film, der am meisten zu tun hat mit BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . , und zwar in der rebellischen Grundkonstellation, im Fehlen einer affektiven Bindung zur Elterngeneration, in der Disposition der Hauptfiguren, im Aufbau des Plots mit dem jüngsten Opfer (Kohle in unserem Film und Plato im Film von Nick Ray), sogar in der väterlichen Ersatz-Rolle des Polizisten. Ein weiterer, diesmal ein westdeutscher, genauer gesagt ein Westberliner Film soll

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noch genannt werden, obwohl die Autoren von BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . bestritten haben, von diesem von Georg Tressler gedrehten, von Tressler und Willi Tremper geschriebenen Film beeinflusst worden zu sein. Der Film heißt DIE HALBSTARKEN, er hatte elf Monate zuvor seine Premiere, und es handelte sich ebenfalls um eine Geschichte von rebellischen Jugendlichen (vgl. Wrage 2014, S. 263–272). Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase hat in einem längeren Interview aus dem Jahre 2001, das als Bonus-Material der DVD beiliegt, behauptet, er habe DIE HALBSTARKEN erst nach der Fertigstellung von BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . gesehen (vgl. Schenk 2001). Aufgrund des bereits erwähnten Zitats von Dieter („Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark“) würde man eher das Gegenteil denken. Das ‚Halbstarken-Phänomen‘ war übrigens gegen Mitte der 1950er Jahre ein gesamtdeutsches Phänomen, das auch das Interesse von Sozialwissenschaftlern erweckt hatte (vgl. Faulstich 2002, S. 277–290). Im genannten, sehr ausführlichen Interview rekonstruiert Kohlhaase darüber hinaus die Konzeption sowie die Rezeption des Films, womit ich zum dritten und letzten Grund für den Erfolg der Produktion komme. Der Film ist der dritte und erfolgreichste einer Reihe von Leinwandstreifen, die aus der Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur Gerhard Klein (Jahrgang 1920, im Jahre 1970 gestorben) und dem Drehbuchautor und Schriftsteller Wolfgang Kohlhaase (Jahrgang 1931) hervorgingen. Vier von den Filmen, die aus der Zusammenarbeit zwischen den beiden entstanden sind, sind heute als „Berlin-Filme“ bekannt, es sind ALARM IM ZIRKUS (1954), EINE BERLINER ROMANZE (1956), unser Film und als letzter Film aus dem Jahre 1966 BERLIN UM DIE ECKE, der jedoch Opfer des Kahlschlags nach dem XI. Plenum der SED wurde. Nach dem frühen Tod von Gerhard Klein, eigentlich schon in den Jahren zuvor, hat Kohlhaase mit den wichtigsten DEFA-Regisseuren zusammengearbeitet, wie Konrad Wolf und Frank Beyer, und nach der Wende war er einer der wenigen, die in der ostdeutschen Filmbranche weiter arbeiten konnten, der in der Lage war, sich neu zu positionieren. Er schrieb Drehbücher für Regisseure allesamt ostdeutscher Herkunft und Sozialisation wie Andreas Dresen, Andreas Kleinert oder Matti Geschonnek sowie als Zuständiger für ‚OstGeschichten‘ für Volker Schlöndorffs DIE STILLE NACH DEM SCHUSS, den Film, der die Geschichte von RAF-Terroristen behandelt, die sich mit Hilfe der Stasi in der DDR abgesetzt hatten. Im genannten Interview rekonstruiert Kohlhaase das Zusammentreffen zwischen ihm und Klein. Klein kam vom DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme, er hatte einen dokumentarischen Blick, Kohlhaase kam eher von der Literatur. Beide waren in Berlin aufgewachsen und hatten ein ausgesprochenes Interesse und ein genaues Ohr fürs Berliner Milieu und auch für den Berliner Dialekt. Was die beiden darüber hinaus gemeinsam hatten, war die Faszination für den italienischen Neorealismus (vgl. Schenk 2001; Poss/Warnecke 2006, S. 120–122), nicht

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wohl die Filme, die noch im Krieg spielten, vor allem diejenigen von Roberto Rossellini (etwa ROM, OFFENE STADT oder PAISÀ), sondern eher die Nachkriegsfilme von Vittorio De Sica und dem Drehbuchautor Cesare Zavattini (vgl. Moine 2005, S. 42–59). Diese Vorliebe entsprach übrigens gleichsam dem Stand der Dinge in beiden deutschen Staaten: ROM, OFFENE STADT (ROMA CITTÀ APERTA, 1945) etwa wurde in Westdeutschland erst im Jahre 1961 gezeigt und in der DDR sieben Jahre später und nur im Fernsehen. Die De Sica/Zavattini-Filme wurden hingegen relativ schnell vertrieben, sowohl in West- als auch in Ostdeutschland: SCHUHPUTZER (SCIUSCIÀ, 1946) war im Jahre 1952 in der BRD und erst 1956 in der DDR zu sehen, FAHRRADDIEBE (LADRI DI BICICLETTE, 1948) kam erst 1951 in die westdeutschen und 1953 in die ostdeutschen Kinosäle, UMBERTO D. (1952) wurde ein Jahr später in der BRD und zwei Jahre später in die DDR vertrieben. Weder in West- noch in Ostdeutschland hatten es die neorealistischen Filme besonders einfach, denn die filmästhetischen Grundsätze der neorealistischen Schule waren sowohl mit der eskapistischen Tendenz des westdeutschen Heimatfilms als auch mit der verklärenden Intention der von der Ästhetik des sozialistischen Realismus geprägten DEFA-Standardprodukte kaum in Einklang zu bringen. Als pars pro toto im Hinblick auf BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . sei die Kritik von Hermann Martin zu LADRI DI BICICLETTE in der „Neuen Filmwelt“ erwähnt: Die Methode dieses kritischen Realismus, in den Jahren nach dem Kriege angewandt vor allem von einer Reihe fortschrittlicher italienischer Regisseure, wurde in unseren Diskussionen um die Methode des sozialistischen Realismus seit geraumer Zeit immer wieder und vielseitig erörtert und untersucht. Wir kamen dabei zu dem Ergebnis, daß ein kritisch-realistischer Film, so meisterhaft er auch in seiner künstlerischen Gestaltung sein mag, mit seiner Anklage gegen diese oder jene Erscheinung im Leben einer dem Untergang geweihten Gesellschaftsordnung doch nur die halbe Wahrheit über die Wirklichkeit sagen kann, weil er in der Anklage stecken bleibt und darauf verzichtet, den Kampf gegen das Überlebte zu zeigen. (Martin 1953, S. 19–20)

Die Hommage an den Neorealismus in BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . drückt sich in wenigstens fünf Aspekten aus: 1) die bewusst gewählte Qualität des Filmmaterials: „Wir haben gedreht auf Ultrarapid, das war lichtstärker, aber grobkörnig, Wochenschau wurde auf Ultrarapid gedreht, vorsätzlich, wir wollten diesen Wochenschau-Effekt haben“, erklärt Kohlhaase im genannten Interview (Schenk 2001); 2) die Position der Kamera: „Die Kamera“, behauptet Kohlhaase, „darf nicht zu bemerken sein. Sie muss – wozu du Kunst brauchst oder Kunstfertigkeit – so sein, als hättest du die Bilder eigentlich, als wärst du zufällig der Zeuge gewesen, also auch ein semidokumentarisches Prinzip“ (ebd.); 3) der Blick auf die Wirklichkeit, auf die soziale Haltung; der Versuch, Wirklichkeit ins Kino zu bringen, was natürlich in eine Richtung ging, die nicht

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unbedingt zu den verklärenden, positiven Tönen des sozialistischen Realismus passte; 4) gedreht wurde nicht im Atelier sondern auf der Straße; 5) die Schauspieler waren entweder Laien oder damals eher unerfahrene Schauspieler. Kohlhaase und Klein durften es wagen, neue Töne und neue Bilder zu schaffen aufgrund eines sehr frühen symbolischen Kapitals: Bereits anlässlich ihrer ersten Zusammenarbeit hatten sie den prestigevollen Nationalpreis III. Klasse erhalten, was ihnen eine gewisse Freiheit verlieh. Als sich mit BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . die konfliktreiche Auseinandersetzung mit dem Staat und mit dem Status Quo mit den Mitteln ihres sozialkritischen Realismus erhöhte, waren sicherlich große Risiken da. Schon ein paar Jahre später wäre der Film sicherlich nicht durchgegangen. Auch darauf lässt sich Kohlhaase im besagten Interview ein. Die Abnahme beziehungsweise die Aufnahme war facettenreich: Riesenerfolg beim Publikum und manches Wohlwollen bei der Partei und bei der Kritik (von besonderem Interesse ist die positive Kritik ausgerechnet seitens von Karl Eduard von Schnitzler, dem nachmaligen Chef-Kommentator des DDR-Fernsehens sowie Moderator der politisch-agitatorischen Fernsehsendung Der Schwarze Kanal, wo Fernsehsendungen aus dem Westen polemisch kommentiert wurden; vgl. Schnitzler 1957, S. 3). Unter den negativen Urteilen zitiert Kohlhaase verschiedene Stellungnahmen, darunter eine, in der BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . angekreidet wurde, dass im Film lediglich dreimal die Sonne scheinen würde (dafür – wie gesagt – an einer sehr markanten Stelle; vgl. Schenk 1994, S. 127–131). Unter den negativen Kritiken soll abschließend auf die spätere Stellungnahme des Regisseurs Martin Hellberg hingewiesen werden, der im dritten Teil seiner Autobiografie (der Band heißt Mit scharfer Optik, ist 1982 erschienen und Otto Grotewohl „in lebensüberdauernder Dankbarkeit“ gewidmet) mit der jungen Generation von Filmemachern rabiat abrechnet. Eigentlich wiederholt Hellberg in der Autobiografie einige Passagen aus einem Aufsatz aus dem Jahre 1957, noch bevor der Film von Klein/Kohlhaase erschien, der in der „Jungen Welt“, der Zeitschrift der FDJ, veröffentlicht worden war: „Ich weiß genau“, schreibt Hellberg, daß es auch bei unserer Jugend als höchst verdienstvoll gilt, mit realistischer Kamera den Problemen unserer ‚Halbstarken‘ nachzupirschen. Das war mein Ziel nie. Seit meiner Jugend ist es mein innerstes Anliegen, unseren ‚Ganzstarken‘ ihre Gedanken abzulauschen [. . .] Ich strebte nach sozialistischem Realismus, während ich ringsum naturalistische nach Wohnküche riechende Vorstellungen von der Wirklichkeit zu bekämpfen zu müssen glaubte. (Hellberg 1982, S. 213)

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Hellbergs Ausführungen erklären, dass BERLIN – ECKE-SCHÖNHAUSER . . . auch die Gelegenheit einer harten Konfrontation zwischen zwei Generationen von DEFAFilmemachern und zwei ästhetischen Modalitäten war.

Filmverzeichnis ALARM IM ZIRKUS (DDR 1954), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Hans Kubisch. BÄRENBURGER SCHNURRE (DDR 1957), Regie: Ralf Kirsten, Drehbuch: Hermann Werner Kubsch. DAS BEIL VON WANDSBEK (DDR 1951), Regie: Falk Harnack, Drehbuch: Hans-Robert Borfeldt, Falk Harnack, Erich Conradi. BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (DDR 1957), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Gerhard Klein, Wolfgang Kohlhaase, Gerhard Hartwig. BERLIN UM DIE ECKE (DDR 1965), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase. EINE BERLINER ROMANZE (DDR 1956), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase. EMILIA GALOTTI (DDR 1958), Regie und Drehbuch: Martin Hellberg. ERNST THÄLMANN – FÜHRER SEINER KLASSE (DDR 1955), Regie: Kurt Maetzig, Drehbuch: Michael Tschesno-Hell, Willi Bredel. ERNST THÄLMANN – SOHN SEINER KLASSE (DDR 1954), Regie: Kurt Maetzig, Johannes Arpe, Drehbuch: Michael Tschesno-Hell, Willi Bredel. DAS FRÄULEIN VON SCUDÉRY (DDR/S 1955), Regie: Eugen York, Drehbuch: Joachim Barckhausen, Alexander Graf Stenbock-Fermor. GEHEIMAKTEN SOLVAY (DDR 1952), Regie: Martin Hellberg, Drehbuch: Karl Georg Egel, Richard Groschopp. GEJAGT BIS ZUM MORGEN (DDR 1957), Regie: Joachim Hasler, Drehbuch: A. Artur Kunert, Ludwig Turek. DIE GESCHICHTE VOM KLEINEN MUCK (DDR 1953), Regie: Wolfgang Staudte, Drehbuch: Peter Podehl, Wolfgang Staudte. GRÜN IST DIE HEIDE (D 1951), Regie: Hans Deppe, Drehbuch: Bobby E. Lüthge. DIE HALBSTARKEN (D 1956), Regie: Georg Tressler, Drehbuch: Will Tremper, Georg Tressler. THE KILLERS (USA 1946, DIE KILLER), Regie: Robert Siodmak, Drehbuch: Richard Brooks, John Huston, Anthony Veiller. LADRI DI BICICLETTE (I 1948, FAHRRADDIEBE), Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Cesare Zavattini, Vittorio De Sica, Suso Cecchi D’Amico et al. LISSY (DDR 1957), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Alex Wedding, Konrad Wolf. THE MAN IN THE GRAY FLANNEL SUIT (USA 1956, DER MANN IM GRAUEN FLANELL), Regie und Drehbuch: Nunnally Johnson. MENSCHEN AM SONNTAG (D 1930), Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Drehbuch: Billie Wilder. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946), Regie und Drehbuch: Wolfgang Staudte. ON THE WATERFRONT (USA 1954, DIE FAUST IM NACKEN), Regie: Elia Kazan, Drehbuch: Budd Schulberg. PAISÀ (I 1946), Regie: Roberto Rossellini, Drehbuch: Sergio Amidei, Klaus Mann, Federico Fellini et al. POLE POPPENSPÄLER (DDR 1954), Regie und Drehbuch: Artur Pohl.

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REBEL WITHOUT A CAUSE (USA 1955, . . . DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN), Regie: Nicholas Ray, Drehbuch: Stewart Stern. ROMA CITTÀ APERTA (I 1945, ROM, OFFENE STADT), Regie: Roberto Rossellini, Drehbuch: Sergio Amidei, Federico Fellini, Celeste Negarville et al. SCHLÖSSER UND KATEN (DDR 1957), Regie: Kurt Maetzig, Drehbuch: Kuba, Kurt Maetzig. DAS SCHWARZWALDMÄDEL (D 1950), Regie: Hans Deppe, Drehbuch: Bobby E. Lüthge. SCIUSCIÀ (I 1946, SCHUHPUTZER), Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Sergio Amidei, Adolfo Franci Cesare Zavattini et al. SHERIFF TEDDY (DDR 1957), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Benno Pudra, Heiner Carow. DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (D 2000), Regie: Volker Schlöndorff, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Volker Schlöndorff. A STREETCAR NAMED Desire (USA 1951, ENDSTATION SEHNSUCHT), Regie: Elia Kazan, Drehbuch: Tennessee Williams. THOMAS MÜNTZER – EIN FILM DEUTSCHER GESCHICHTE (DDR 1956), Regie: Martin Hellberg, Drehbuch: Martin Hellberg, Horst Reinecke, Friedrich Wolf. UMBERTO D. (I 1952), Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Vittorio De Sica, Cesare Zavattini. DER UNTERTAN (DDR 1951), Regie: Wolfgang Staudte, Drehbuch: Wolfgang Staudte, Fritz Staudte. THE WILD ONE (USA 1953, DER WILDE), Regie: László Benedek, Drehbuch: John Paxton, Ben Maddow. WO DU HIN GEHST (DDR 1957), Regie: Martin Hellberg, Drehbuch: Eduard Claudius, Wolfgang Ebeling, Martin Hellberg. ZWEI MÜTTER (DDR 1957), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Jo Tiedemann, Frank Beyer.

Literaturverzeichnis Claus, Horst (1999): „Rebel with a Cause. The Development of the Berlin Filme by Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase“. In: Séan Allan/John Sandford (Hg.): DEFA. East German Cinema 1946–1992. Oxford/New York, NY: Berghahn, S. 93–116. Elit, Stefan (2017): Von Heroen und Individuen. Sozialistische Mytho-Logiken in DDR-Prosa und DEFA-Film. Bielefeld: Transcript. Faulstich, Werner (2002): „Die neue Jugendkultur: Teenager und das Halbstarkenproblem“. In: Ders. (Hg.): Die Kultur der fünfziger Jahre. München: Fink, S. 277–290. Feinstein, Joshua (2002): The Triumph of the Ordinary. Depictions of Daily Life in the East German Cinema. Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press. Gehler, Fred (2005): „Der liebe Gott in Berlin. Anmerkungen zu Gerhard Klein (1920–1970)“. In: Ralf Schenk et al. (Hg.): Apropos: Film 2005. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Berlin: Bertz + Fischer, S. 31–41. Hake, Sabine (2008): German National Cinema. London/New York, NY: Routledge. Heiduschke, Sebastian (2013): East German Cinema. DEFA and Film History. New York, NY: Palgrave Macmillan. Hellberg, Martin (1982): Mit scharfer Optik. Berlin: Henschel. Lange, Marcus (2013): Das politisierte Kino. Ideologische Selbstinszenierung im ‚Dritten Reich‘ und der DDR. Marburg: Tectum. Martin, Hermann (1953): „Fahrraddiebe“. In: Neue Filmwelt (7), Heft 6, S. 19–20.

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Moine, Caroline (2005): „Der Geschichtenerzähler. Facetten der DEFA-Filme von Wolfgang Kohlhaase“. In: Ralf Schenk et al. (Hg.): Apropos: Film 2005. Das Jahrbuch der DEFAStiftung. Berlin: Bertz + Fischer, S. 42–59. Münch, Markus (2007): Drehort Berlin: Wo berühmte Filme entstanden. Berlin: Be.Bra. Poss, Ingrid/Warnecke, Peter (2006): Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA. Berlin: Links. Schenk, Ralf (1994): „Mitten im Kalten Krieg 1950–1960“. In: Ders. (Hg.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. Berlin: Henschel, S. 51–157. Schenk, Ralf (2001): „Interview with Wolfgang Kohlhaase“. In: Gerhard Klein: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . DVD-Bonusmaterial. Berlin: Icestorm. Schnitzler, Karl-Eduard von (1957): „BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER. . .“. In: Filmspiegel (7), Heft 19, S. 3. Wrage, Henning (2014): „DEFA-Films for the Youth. National Paradigms, International Influences“. In: Ders./Marc Silberman (Hg.): DEFA at the Crossroads of East German and International Film Culture. A Companion. Berlin/Boston, MA: De Gruyter, S. 263–272.

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. . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962): Liebesdramen im Nachmauerfilm der 1960er Jahre Einleitung Die Berliner Mauer und die Liebe sind seit den 1960er Jahren kulturell eng miteinander verwobene Themen, wie zahlreiche Popsongs zeigen.1 Die wohl berühmteste Thematisierung der Mauer im Popsong ist David Bowies Hymne „Heroes“ aus dem Jahr 1977: Schon der Titel – „Heroes“ ist in Anführungszeichen gesetzt – zeigt, dass das im Song besungene Heldentum ein bloß imaginiertes ist, was durch den Irrealis unterstützt wird: Ich wünschte, ich könnte schwimmen, so beginnt das Lied. Der Vergleich mit den Delphinen schlägt dann das zentrale Thema an: Die Möglichkeit, Grenzen zu überwinden, die Mächtigen „just for one day“ zu schlagen und damit zum Helden zu werden: „Though nothing will keep us together / We can beat them for ever and ever / Oh we can be Heroes just for one day.“ Im weiteren Verlauf des Songs wird die Mauer dann explizit erwähnt: „I, I remember / standing, by the wall / And the guns shot above our heads / And we kissed / As though nothing could fall / And the shame was on the other side / Oh we can beat them for ever and ever / Then we can be Heroes just for one day.“ (Bowie 1977) Geschildert wird ein sich küssendes Liebespaar inmitten der politisch angespannten Situation des Kalten Krieges. Der intime Augenblick wird gerahmt von Weltgeschichte. Das Liebespaar trotzt für einen Moment der unbestimmt bleibenden Macht: „we can beat them.“ Das „just for one day“ allerdings relativiert die Macht des Augenblicks. Angesichts der Gewalt erweist sich das Individuum als ohnmächtig, was durch den in Anführungszeichen gesetzten Titel unterstrichen wird.2 Bowies Song war nicht das erste Lied, das die politische Situation im Bild eines Liebespaares in Szene setzt. Im Unterschied zu Bowie wird die deutschdeutsche Teilung in Wolf Biermanns Mein Vaterland, mein Vaterland (1962) direkt angesprochen: „Mein Vaterland, mein Vaterland / Hat eine Hand aus Feuer / Hat eine Hand aus Schnee / Und wenn wir uns umarmen / Dann tut das Herz uns

1 So etwa Udo Lindenbergs Klassiker Wir wollen doch einfach nur zusammen sein (Mädchen aus Ostberlin), in dem die Teilung Deutschlands die Einheit der Liebenden verhindert. 2 Zur Produktionsgeschichte von „Heroes“ vgl. Rüther 2009, S. 165–177. https://doi.org/10.1515/9783110629408-004

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weh. // Ich hab gesehn zwei Menschen stehn / Die hielten sich umfangen / Am Brandenburger Tor / Es waren zwei Königskinder / – Das Lied geht durch mein Ohr.“ (Biermann 1988) Das Lied benennt die Teilung des Vaterlands in zwei gegensätzliche Hälften. Diese Konstellation wirkt sich im zweiten Teil des Liedes unmittelbar auf die Liebenden aus: Sie können, wie die Königskinder in der Volksballade (vgl. Springer-Strand 1982, S. 21–31), deren Liebe an einem ‚bösen Weib‘ scheitert, nicht zusammenkommen. Biermann überträgt die Konstellation der literarischen Vorlage also auf die Situation nach dem Mauerbau. Das Lied handelt von der Auswirkung scheinbar schicksalhafter Ereignisse auf Individuen, die angesichts der Macht der Mächtigen ohnmächtig sind. Sowohl bei Bowie als auch bei Biermann wird dabei gleichzeitig die Trennung der Liebenden durch historische Prozesse verdeutlicht wie auch der Traum der Überwindung der Trennung im Bild der sich umarmenden Liebenden dargestellt. Gerade in Biermanns Lied markieren die Liebenden sowohl das Trauma der Trennung wie den Traum der Vereinigung Deutschlands. Die beiden Popsongs sollen einführend zeigen, dass über Liebesbeziehungen vielfach zeithistorische Konstellationen zum Thema gemacht werden: Die funktionale Ausrichtung der Liebesthematik ist dabei vielgestaltig. Über sie lassen sich Trennungen darstellen, der Wunsch nach Einheit abbilden oder Krisen im Privaten beschreiben, die zu existenziellen Entscheidungen zwingen. Besonders in den filmischen Mauer-Narrationen der frühen 1960er Jahre bilden intime, private Konstellationen vielfach zeichenhaft politische beziehungsweise historische Problemzusammenhänge ab.

‚Liebe‘ und ‚Mauer‘ in DEFA-Spielfilmen der frühen 1960er Jahre Besonders deutlich ist diese Korrelation von Liebe und gesellschaftspolitischer Aussage in jenen DEFA-Spielfilmen der 1960er Jahre ausgeprägt, die die Themen Grenzschließung und Republikflucht umkreisen: Wer in den Westen geht, „lässt eine große Liebe zurück“ (Kuhrmann et al. 2011, S. 357), nicht selten kann die Trennung der Liebenden erst in letzter Minute verhindert werden. In Kurt Maetzigs Film SEPTEMBERLIEBE (1960/61), der vor dem Mauerbau entstanden ist, aber bereits diejenigen zentralen Konflikte vorwegnimmt, die die Nachmauerfilme prägen, hindert beispielsweise „eine junge Frau ihren Geliebten an der – in diesem Fall – sinnlosen und panikartigen Flucht in den Westen, indem sie ihn an die ‚guten Genossen‘ von der Stasi verrät.“ (Ebd., S. 347) Der Film weist diesen Verrat als moralisch ‚richtiges‘ Verhalten aus (vgl. Schittly 2002, S. 121;

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Ivanova 2010, S. 78–88), womit SEPTEMBERLIEBE eine Aussage trifft, die im DEFAFilm der Nachmauerzeit häufig vorzufinden ist: Die Flucht aus der DDR-Gesellschaft ist keine Lösung, vielmehr müssen die Probleme innerhalb der Gesellschaft bewältigt werden. Die Bandbreite an Konfliktszenarien, die im Medium des DEFA-Films durchgespielt werden, illustrieren zwei Beispiele besonders deutlich: JAHRGANG 45 (1966, Regie: Jürgen Böttcher) einerseits3 und Heinz Thiels DER KINNHAKEN (1962, Regie: Heinz Thiel) andererseits. JAHRGANG 45 beschreibt einen innergesellschaftlichen Konflikt. Der Film umkreist die Ehe zwischen Al und Li, die vor dem Aus steht: Al will die Scheidung, das Leben in der engen Wohnung empfindet er als bedrückend und unfrei. Er zieht aus, zunächst in eine Kellerwohnung, schließlich kommt er für ein paar Tage bei seiner Mutter unter. Am Ende nähern sich die Ehepartner wieder an: Sie fahren mit dem Motorrad aus Berlin hinaus aufs Land. Der Film deutet außerhalb der großstädtischen Tristesse den möglichen Neubeginn für das Paar an (vgl. Scharnowski 2016, S. 115–133). Der Spielfilm bildet einen Generationenkonflikt ab, der deshalb vor dem Hintergrund der Mauerschließung brisant ist, weil durch ihn ein radikaler Freiheitswusch der Jugendgeneration artikuliert wird. Der Wunsch nach Freiheit drückt sich in vielfacher Hinsicht aus: Erstens in der Abgrenzung von gesellschaftlichen Autoritäten wie Eltern oder Vorgesetzten. Zweitens im Streben nach sexueller Selbstbestimmung und drittens: dem Wusch nach Konsum, wie er die Jugendkultur im Westen prägt. Die Radikalität des Films zeigt sich besonders in einer Sequenz, die die Spaltung Berlins visuell in Szene setzt. Im Schuss-Gegenschuss-Verfahren wird gezeigt, wie ein westdeutscher Reisebus am ostdeutschen Gendarmenmarkt anhält. Die Szene – aus der Perspektive der Gruppe um die Hauptfigur Al erzählt – zeigt, wie junge Westdeutsche aus einem Bus steigen und mit gelangweiltem Gesichtsausdruck fotografieren. Beide Seiten stehen sich gegenüber, treten aber nicht in Kontakt. Der Film zieht eine unsichtbare Grenze zwischen Ost und West und macht damit die Teilung Deutschlands auf eine indirekte Art und Weise sichtbar (vgl. Kuhrmann et al. 2011, S. 342). Diese Grenze markiert die Differenz von Freiheit auf der einen und Gefangenschaft auf der anderen Seite. Die Westtouristen – so die Bildsprache – verhalten sich wie Besucher eines Zoos; die Ostjugendlichen werden zu in Gefangenschaft lebenden Schauobjekten. Auf das semantische Begriffsfeld ‚Unfreiheit/Gefangenschaft‘ verweisen zusätzlich zahlreiche Strukturen und Motive des Films: Schon die Eingangssequenz markiert die Enge der Einzimmerwohnung, in der die Eheleute leben. Ein Hauptmotiv des Films ist der Vogel im Käfig, der ausgeprägte Freiheitswunsch der Jugendlichen, wird zusätzlich über die Symbolik des Motorrads

3 Der Film entstand im Jahr 1966, kam aber erst nach der Wende in die Kinos.

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dargestellt. Freiheit korreliert der Film mit Jugend, dem titelgebenden Jahrgang 45. Diese Jugend, die sich im Film als modisch bewusst und ‚cool‘ präsentiert (vgl. Scharnowski 2016, S. 128 f.), wird in Kontrast zur Eltern- und Großelterngeneration gesetzt, die die Verhaltensweisen der Jugend mehrheitlich ablehnen. Auffällig ist hierbei, dass der Film die hippen, körperbewussten Jugendlichen in einer zerstörten Stadt zeigt: Dieser Kontrast versinnbildlicht den generationellen Konflikt, sind es doch die Vorgängergenerationen, die Krieg, Zerstörung und Freiheitsverlust verursacht haben (vgl. ebd., S. 130). Nur folgerichtig ist es, wenn der Film schließlich verdeutlicht, dass es nicht, wie Al Anfangs vermutet, die Ehe ist, die Freiheit verhindert, sondern dass der Mangel an Freiheit von außen, durch die autoritären Strukturen der Gesellschaft verursacht ist. JAHRGANG 45 kritisiert auf diese Weise das generationelle Binnenverhältnis in der DDR und macht den systembedingten Mangel an Freiheit zum Thema. Es geht um innergesellschaftliche Grenzen, die zu überwinden sind, um jene Freiheit zu gewinnen, die der Film am Ende vage in Aussicht stellt. Im Unterschied zu JAHRGANG 45, der also eine Überwindung von Schranken und Grenzen zum Thema macht, geht es in DER KINNHAKEN um gesellschaftliche Grenzziehungen nach dem Mauerbau. Über die Liebesgeschichte wird zweierlei vermittelt: erstens die Notwendigkeit der Abschottung vom Westen und seinem Wertesystem sowie zweitens das Erfordernis, sich der im Sinne des Films ‚richtigen‘ Werte zu versichern und falsche Werte auszugrenzen. Die Handlung des Films beginnt in der Nacht des Mauerbaus, also am 13. August 1961. Carolin, die in Westberlin in einer Bar arbeitet, wird von der Grenzschließung überrascht. An der Grenze trifft sie auf Georg, einen Angehörigen der Betriebskampfgruppe, der, um Carolin wiederzusehen, in Aussicht stellt, sie in einigen Wochen über die Grenze bringen zu können. Als Carolin auf dieses Angebot zurückkommt, gesteht Georg, dass er sie angelogen habe. Die beiden werden dennoch ein Paar. Carolin beginnt, im Lebensmittelgeschäft zu arbeiten, doch plötzlich holt sie ihre Vergangenheit ein. Es stellt sich heraus, dass sie eine Affäre mit einem Schweizer Geschäftsmann hatte, der den Kriminellen ‚Bubi‘ dafür bezahlt hat. Bubi betreibt also Zuhälterei, Carolin gerät (unwissentlich) in die Rolle der Prostituierten. Bubi verlangt nun, dass Carolin diese Affäre fortsetzt, er erpresst sie und droht damit, Georg über die Vergangenheit aufzuklären. Der Filmhandlung liegt ein klares Wertedenken zugrunde: Bubi, der für die Westberliner Halbwelt steht, repräsentiert genau jenen dekadenten Lebensstil, der durch die Grenzschließung ausgeschlossen werden soll. Die Prostitution lässt sich hier metonymisch als umfassendes Prinzip des Kapitalismus verstehen, zumal der Film verdeutlicht, dass sich die naive Carolin unwissentlich der Prostitution hingegeben hat. Sie wurde manipuliert.

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Lehnt der Film den westlich-kapitalistischen Lebensstil rigoros ab, so zeigt er zugleich, dass im sozialistischen Osten kein Mangel herrscht. Die Wohnung Georgs – dem Idealbild des starken, wertetreuen Mannes – ist modern eingerichtet4 und im Lebensmittelladen gibt es zwar Engpässe, die jedoch gleichwertig kompensiert werden können: Sind beispielsweise die Erdbeeren ausverkauft, kann die Verkäuferin stattdessen Himbeeren anbieten. Die Filmhandlung mündet in folgendem Finale: Carolin hält der Drucksituation nicht stand, sie flüchtet nach Dresden. Ihre Unfähigkeit, die Situation selbstbestimmt aufzulösen, signalisiert der Film durch einen Ohnmachtsanfall. Der starke und moralisch integre Georg hingegen nimmt den Kampf mit Bubi auf und ist am Ende siegreich. Der Kriminelle wird durch den titelgebenden Kinnhaken überwältigt und schließlich verhaftet: Der Osten ist vom westlichen Lebensstil befreit, die ostdeutsche Gesellschaft hat sich ihrer Werte vergewissert und kann ihre Zukunft im eigenen Land nun selbstbestimmt gestalten. Diese Zukunft – so zeigt der Film – setzt voraus, dass die ehemalige Bardame Carolin zur bodenständigen Hausfrau geworden ist. Sie durchläuft eine Entwicklung, an deren Ende sie für eine feste Liebesbeziehung in Frage kommt: Sie entwickelt sich schließlich zu einem produktiven Teil der Ostgesellschaft. Diese Beispiele illustrieren grundsätzlich, wie Mauerfilme über Liebesgeschichten soziale und politische Wertekonflikte verhandeln. Gemeinsam ist vielen DEFA-Filmen, dass es ihnen um eine gesellschaftliche Standortbestimmung nach der historischen Zäsur der Grenzschließung geht. Sie thematisieren, so lässt sich filmübergreifend feststellen, normativ-ideologische Grenzen und Grenzziehungen, sowohl zwischen der DDR und der BRD als auch innerhalb der DDR-Gesellschaft. Diese doppelte Grenzthematisierung zeigt sich besonders deutlich in Frank Vogels . . . UND DEINE LIEBE AUCH.

Frank Vogels Spielfilm . . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962) Frank Vogels . . . UND DEINE LIEBE AUCH, der im Jahre 1962 in die Kinos kam, reagierte unmittelbar auf die Grenzschließung vom 13. August 1961. Thematisiert wird eine Dreiecks-Liebesgeschichte, die in den Tagen des Mauerbaus in Berlin spielt. Im Zentrum der Fiktion stehen die ungleichen Brüder Ulrich und Klaus,

4 Die „Ausstattung einer Figur mit aktuellem Design“ ist im Film der frühen 1960er Jahre keine Seltenheit. Mit ihr ist eine „positive Konnotation“ verbunden, die es ermöglicht, die Figur als „Vorbild“ wahrzunehmen (Kuhrmann et al. 2011, S. 374).

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wobei schnell klar wird, dass es sich nicht im biologischen Sinne um Brüder handelt. Vielmehr ist Ulrich nach dem Tod seiner leiblichen Mutter von Anna, der Mutter von Klaus, aufgenommen und erzogen worden. Die ‚Brüder‘ treffen sich in der Nacht vor der Grenzschließung am Grab der Mutter, die an diesem Tag Geburtstag hat. Klaus ist später mit der Briefträgerin Eva verabredet, er bittet Ulrich, ihn zu begleiten, womit die Dreiecksgeschichte, die im Wechsel aus der Perspektive von Ulrich und Eva erzählt wird, ihren Lauf nimmt. Ulrich muss in der Nacht zum 13. August 1961 für einige Wochen ausrücken, um die Grenze zu sichern. Eva gibt in dieser Zeit dem Werben von Klaus nach, für den die Grenzschließung berufliche Konsequenzen hat: Er verdient als Fahrer in Westberlin gutes Geld und kann nun diesem Beruf nicht mehr nachgehen. Klaus und Eva werden ein Paar, unterdessen leidet Ulli unter der Situation, weil er ebenfalls in Eva verliebt ist. Der Rest des Films ist schnell erzählt: Eva, die mittlerweile von Klaus schwanger ist, merkt immer deutlicher, dass sie Ulli und nicht Klaus liebt. Nach einem Streit, in dem Klaus handgreiflich wird, trennt sich Eva von ihm und wendet sich Ulrich zu. Klaus möchte sie schließlich überreden, mit ihm in den Westen zu fliehen, was Eva ablehnt. Es kommt zum Fluchtversuch, den Ulrich verhindert, dabei wird er von Grenzpolizisten angeschossen. Die Handlung des Films endet an Weihnachten beziehungsweise dem Silvesterabend des Jahres 1961. Klaus ist inzwischen inhaftiert und geläutert, Ulrich aus dem Krankenhaus entlassen. Am Ende wird deutlich, dass Ulrich mit Eva zusammenbleiben und das Kind seines Bruders aufziehen wird: „Das Kind wird im Kommunismus leben“ (TC 1:26:44–1:26:46).5 Dieser kurze Handlungsabriss deutet bereits an, dass der Film den Mauerbau rechtfertigt. Die Sympathien, so kommentiert der Regisseur im Jahre 1990, lägen „eindeutig bei dem, der die Mauer bejaht [. . .]. Und sie gehen gegen den Grenzgänger, der versucht abzuhauen zu seiner alten Arbeitsstelle. Das ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei ideologischen Welten, die damals ungeheuer hart aufeinanderprallten. Entsprechend war auch die Aufnahme des Films: Entweder lehnte ich den Film ab, weil ich gegen die Mauer war, oder ich war für ihn, weil ich mir von der Mauer einiges erhoffte.“ (Zit. n. Drössler et al. 2015, S. 9) Entsprechend polarisierte der Film bei den Kritikern. Während ihm in der Westkritik hoffnungslos „apologetische Züge“ (Gregor 2015, S. 5) zugesprochen wurden, wurde er im Osten positiv aufgenommen: Dies ist wohl der wesentlichste DEFA-Gegenwartsfilm der letzten Jahre. Dass es dazu ein leiser, zärtlicher, sehr menschlicher ist, eine kleine Alltagsgeschichte, zählt in unseren

5 . . . UND DEINE LIEBE AUCH (DDR 1961), Regie: Frank Vogel. TC: Zeitangaben nach der DVD: Edition Filmmuseum (93) 2015.

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Breitengraden doppelt. [. . .] Vieles an diesem Film ist neu und interessant. So die Verschmelzung von Dokumentarischem und erdichteter Fabel. [. . .] Die Schöpfer des Films besitzen scharfe Augen, einen klaren Kopf, ein heißes sozialistisches Herz. Ihr Film hat den Atem Berlins, den Geruch seiner Straßen und Plätze, und er hat zugleich den Optimismus einer neuen Welt, die sich eben bildet. (Rehahn 2015, S. 4 f.)

Die zeitpolitische Brisanz des Films zeigt sich in seiner ‚semi-dokumentarischen‘ Ästhetik: Vogel fügt dokumentarische Bilder in die Fiktion ein, womit der Film vorführt, wie persönlich-biografisches Erleben von zeitgeschichtlichen Verwerfungen geprägt wird. In Vogels Film stehen Fiktion und Zeitgeschichte dabei im Verhältnis der Kommentierung: Über die Fiktion werden die dokumentarischen Bilder im Sinne der DDR-Ideologie gedeutet, was vor allem an der Erzählperspektive liegt: Die Geschichte wird hauptsächlich aus der Sicht Ulrichs erzählt – dem Befürworter der Mauer. Klaus hingegen, der die Mauer als Freiheitshindernis begreift, ist keine Erzählerfigur. Ulrich erzählt aber nicht nur die Liebesgeschichte aus seiner Sicht, sondern kommentiert darüber hinaus das dokumentarische Material, das in diese Liebesgeschichte hineinmontiert ist. Durch die Kopplung der Bilder an die Figur Ulrich weist der Film dem Mauerbefürworter die Deutungshoheit zu.6 Diese Deutung geht – so zeigt eine Szene, in der Ulrichs Stimme über dokumentarische Bilder gelegt wird, die diskutierende Passanten an der innerdeutschen Grenze ins Bild setzt, – von einer Unterteilung der Welt in das sozialistische ‚Wir‘ und das rückständige, der alten Obrigkeit folgende ‚Ihr‘ aus. „In der ganzen Welt befreiten sich die Völker, in Deutschland gibt’s aber immer noch Dumme genug, Untertanen der alten Obrigkeit. Wozu gebt ihr euch her? Wir wissen, was wir tun. Wisst ihr es?“ (TC 0:23:51–0:24:07) Charakteristisch für diese und andere Passagen des Films ist eine spezifische Montageform. Die Blicke Ulrichs sind so geschnitten, dass sie sich mit denjenigen der Passanten aus den dokumentarischen Bildern treffen und den Eindruck einer konfrontativen Diskussion erwecken. Im Voice-Over werden die Bilder von Ulrich kommentiert. Diese Montageform setzt zwar ganz offensichtlich unterschiedliche Bewertungen der Situation ins Bild, die artikulierte (und damit privilegierte) Sichtweise ist aber stets diejenige des Mauerbefürworters Ulrich. Die Vertreter der Gegenmeinung haben keine Stimme. Diese auf eine bestimmte Deutung der Zeitgeschichte zulaufende Montageform offenbart sich beispielhaft, wenn die Bilder der sich im August 1961 zuspitzenden Konfrontation zwischen Ost und West (zu sehen sind rollende Panzer, weiße Grenzlinien und patrouillierende Soldaten) wie folgt kommentiert und 6 Zwar signalisiert der Erzähler, dass es offensichtlich verschiedene Wahrnehmungen auf die Wirklichkeit geben kann („Sonderbar, wie es auf die Augen ankommt. Klaus sah die Welt anders als ich. Es war doch aber die gleiche Welt“; TC 1:01:27–1:01:35), dennoch verfolgt das filmische Verfahren insgesamt die Strategie, eine privilegierte Weltsicht zu präsentieren.

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gedeutet werden: „Im August hatten wir gesagt: Halt! Der Klassenfeind kommt nicht durch. In unserem Deutschland bestimmen wir selbst. In Moskau berieten die Genossen gerade auf dem 22. Parteitag das neue kommunistische Programm. Welche Möglichkeiten!“ (TC 1:02:39–1:02:55) Wird zunächst die Entscheidung vom 13. August als Akt der Selbstbestimmung gerechtfertigt, erfolgt im Anschluss der Hinweis auf die neuen Möglichkeiten, die nun entstehen würden. Die Rede von der positiven Gestaltung der Zukunft wird mit den Bildern der auffahrenden US-Panzer konfrontiert, womit der Film zeigt, wie der Westen Zukunftschancen durch sein aggressives Verhalten gefährdet. Die prekäre politische Lage erweist sich schließlich als zukunftsgefährdend für die schwangere Eva, die im Anschluss an das soeben Zitierte das Erzählen kurzfristig übernimmt: „Ich erschrak und dachte: Das Kind.“ (TC 1:03:42– 1:03:45) Über die spezifische Verknüpfung von Dokument und Fiktion, so lässt sich an dieser Sequenz beispielhaft illustrieren, vermittelt der Film seine historische Wahrheit: Die Zukunft der DDR-Gesellschaft wird durch die westliche Aggression existenziell bedroht. Diese Verknüpfung von Fiktion und zeitgeschichtlicher Deutung ist schon im Paratext angelegt, präziser: Sie manifestiert sich in der Figurenkonstellation, die auf dem Filmplakat zu sehen ist.7 Das Plakat zeigt eine Frau zwischen zwei Männern. Ulli schaut nach Osten, Klaus nach Westen, die Frau – die sich entscheiden muss – blickt ebenfalls nach Osten, was das Ende schon vorwegnimmt. Das Plakat demonstriert auf diese Weise, dass der Ost-West-Konflikt, den der Film in zahlreichen Szenen dokumentarisch abbildet, im Bruderkonflikt zwischen Ulrich und Klaus seine Entsprechung findet. Dass private Geschichte und Weltgeschichte unmittelbar zusammenhängen, wird schon zu Beginn des Films symbolisch ins Bild gesetzt. Die Weltkarte, die in der Privatwohnung des Funkamateurs Ulli hängt, visualisiert Berlin als politisches ‚Zentrum‘, von dem einerseits Impulse in die Welt ausgehen. Andererseits, so lassen sich die Markierungen auf Ullis Weltkarte deuten, laufen im Berlin jener Tage die weltpolitischen Fäden zusammen. Wenn Ulrich Sittich beim Gang über die Warschauer Brücke sagt: „und ich hatte keine Ahnung, dass hier die Geschichte schon losging“ (TC 0:02:41–0:02:45), meint der Film einerseits die verworrene Liebesgeschichte, andererseits die welthistorisch relevanten Ereignisse jener Tage. Auf diese Korrelation kommt der Film immer wieder zurück: „Neben unseren kleinen Geschichten“, so der Erzähler Ulrich, „geht die große Geschichte weiter und wir alle mit ihr.“ (TC 0:35:34–0:35:37) Anhand der Bruderrivalität stellt der Film beides dar: die kleine Liebesgeschichte und die große Politik. Die

7 Vgl. Begleitheft zur DVD der Edition filmmuseum (93).

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existenzielle Grenzsituation im Privaten wird dabei zur Systemfrage: Der Bruderkampf um Liebe, Glück und die richtigen Werte verweist zeichenhaft auf den historischen Bruderkampf zwischen Ost und West. Dass die ungleichen Brüder konträre Mentalitäten vertreten, die der Film dem Osten einerseits und dem Westen andererseits zuschreibt, wird überdeutlich inszeniert. Klaus ist an ökonomischen Werten des Westens orientiert und verfolgt seine individuellen Ziele: „Ich verdien’ mir mein Geld, wo ich will.“ (TC 0:10:52–0:10:54) Er hat Freude am Glücksspiel, handelt nicht ideell, sondern nur pragmatisch. Nach der Grenzschließung ist er unwillig, sich in die Gesellschaft zu integrieren, er nimmt nur zögerlich und merklich desinteressiert einen Job in Ostberlin an. Der Film weist ihm zudem eine unkontrollierte, gewalttätige Seite zu: In einem Streit schlägt er Eva ins Gesicht. Und überdies wird er als Verführer inszeniert: „Bei jeder seiner Bewegungen“, so erzählt Eva, „durchfuhr mich ein merkwürdig kitzelnder Stich. Ich hatte Angst. [. . .] Ich glaube, ich habe den Verstand verloren und alle Selbsterziehung und guten Eigenschaften vergessen. [. . .] Alles war so lautlos. Mit sanfter Gewalt und so katzenartig und blitzschnell passiert, dass ich gar nicht recht wusste, was er tat und was ich tat.“ (TC 0:31:00–0:31:05; 0:31:34–0:31:40) Eva muss (zumindest vorläufig) vor der „sanften Gewalt“ des Verführers kapitulieren. Dessen WestMentalität wird demnach mit Potenz, einer triebhaften Sexualität sowie mit Gewalt in Zusammenhang gebracht, gegen die sich die ostdeutsche, wohlerzogene Frau nicht zur Wehr setzen kann. Sie wird zum irrationalen Handeln verleitet. Die triebhafte Seite der Figur Klaus visualisiert der Film über die Lichtverhältnisse: Klaus agiert in der Verführungsszene des Films im Dunkeln, schleicht ‚katzengleich‘ über das Fenster in Evas Wohnung. Im Schutz der Dunkelheit spielt sich später im Film eine weitere Grenzüberschreitung ab: Der Fluchtversuch an der Berliner Mauer. Beide Grenzverletzungen lassen sich aufeinander beziehen. Die Flucht in den Westen wird in ein Analogieverhältnis zur Verführung Evas gesetzt und darin als animalische, irrationale Handlung klassifiziert: Im Fluchtimpuls offenbart sich die triebhafte (mit dem ideologischen Programm des Westens assoziierte) Seite des Menschen. Ulrich hingegen, dem Vertreter der Ost-Mentalität, ist das Licht (und damit der Verstand) zugeordnet, was sich schon daran zeigt, dass er in einer Glühbirnenfabrik arbeitet. Mehrfach macht der Film darauf aufmerksam, dass Licht für Fortschritt und Selbstbestimmung steht.8 Die Figur Ulrich wird von Anfang an

8 Klaus wird hingegen als „verblendeter Idiot“ (TC 0:51:43–0:51:44) bezeichnet und mit dem ‚Dunkel‘ assoziiert. „Wir produzieren Licht“, so wirft ihm Ulrich in einem Gespräch vor, „aber bei dir ist da noch Dunkel“ (TC 0:51:47–0:51:50).

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als Idealist mit intakter (sozialistischer) Moral vorgeführt, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Er übernimmt als Wortführer des Kollektivs Verantwortung, nimmt – wie er im Voice-Over sagt – den Staat in die Hand. Er trete für die Selbstbestimmung der Völker sowie den Frieden in Berlin, Europa und der Welt ein. „Jeder ist heutzutage verantwortlich“, „wir alle zusammen entscheiden in der täglichen Arbeit über die Republik, über ganz Deutschland, über den Frieden“ (TC 0:38:04–0:38:16). Die Mauer, für Klaus ein Freiheitshemmnis, begreift Ulrich als eine legitime Grenzziehung gegenüber dem ‚Klassenfeind‘. An der Figur Ulrich versucht der Film überdies zu veranschaulichen, dass die Mauer die DDR-Bürger keineswegs unfrei macht. Ulrich reist nach Cuba, wobei diese Reise in Bildern von exotischer Lebensfreude und Freiheit erzählt wird. Das Interesse Ullis am Funken unterstreicht seine Weltoffenheit: „Mich interessiert ja auch die ganze Welt.“ (TC 0:13:49–0:13:52) Die Charakterstärke der Figur Ulrich, seinen solidarischen Einsatz für die Gemeinschaft, stellt der Film eindeutig als Stärke des sozialistischen Systems aus. In der Konfrontation oder vielmehr im Kampf der Brüder bildet der Film zeichenhaft die Rivalität zweier Gesellschaftssysteme ab, was sich anhand dreier Sequenzen besonders markant veranschaulichen lässt. Die Rivalität setzt der Film erstens in Szene, als sich die Brüder am Tag der Grenzschließung auf der Warschauer Brücke treffen. Schon der Ort, die Grenze zwischen Ost und West, an dem die Auseinandersetzung stattfindet, markiert die historische Dimension des Streits. Genau an dieser Stelle werden die unterschiedlichen Standpunkte der Brüder (und damit der Gesellschaftssysteme) klar markiert: Klaus fragt verwundert „Du?“, worauf Ulli „Ja, wir“ entgegnet (TC 0:20:42–0:20:45). Der westaffinen Egozentrik von Klaus stellt der Film das von Ulrich repräsentierte sozial denkende Kollektiv entgegen. Dieses Kollektiv, so wird in den inneren Monologen Ulrichs deutlich, stehe für Frieden sowie die Freiheit des Volkes, während Klaus in der Wahrnehmung Ulrichs egoistische Interessen verfolgt: Er denke nur an seinen Job im Westen. Interessant ist die mehrfache Aufforderung Ullis, den Verstand zu benutzen, was an Formulierungen wie „Denk nach, Bruder“ (TC 0:21:32–0:21:22) oder „Denk an Mutter, wo sind unsere Väter geblieben“ (TC 0:21:58–0:22:00) verdeutlicht wird.9 Wenn Ulrich mehrfach die Hoffnung äußert, dass der Bruder ‚schon vernünftig werden‘ würde, dann findet jene Dichotomie ihre Fortsetzung, die der Film auf der Bildebene mit der Kontrastierung von ‚hell‘ und ‚dunkel‘ etabliert hat. Ulrichs sozialistische Position wird sowohl in Wort als

9 Diese Rede vom Tod der Väter wird mit dem Bild der amerikanischen Flagge („Flagge der Freiheit“) kontrastiert (TC 0:22:00).

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auch im Bild als rational deklariert, der vermeintlich kapitalistisch-egoistische Bruder muss hingegen noch zur Vernunft erzogen werden. Die zweite Szene, die sich als Abbildung der Systemrivalität von Sozialismus und Kapitalismus verstehen lässt, ist eine Auseinandersetzung der Brüder um Eva, die in der Mitte des Films erzählt wird. Die Sequenz zeigt zunächst einen Boxkampf, der zeichenhaft auf den Bruderkampf um Eva verweist. Der innere Monolog Ulrichs, der über diese Bilder gelegt wird, schildert wiederum seinen inneren Kampf um die die richtige Haltung, die dem Bruder gegenüber einzunehmen ist: „In eine Prügelei mich einlassen, hier. Sittich, du bist Genosse! Faule Ausreden, ich hätte zuschlagen sollen, Klaus eine Lehre erteilen. Ich sagte mir: Wellensittig, man denke. Und ich fühlte mich traurig und allein wie nie. Der Wind auf der Warschauer Brücke. Spinner, Waschlappen.“ (TC 0:46:22–0:46:52) Verdeutlicht wird auch in dieser Sequenz eine Entsprechung zwischen privater Geschichte und Zeitgeschichte: Sowohl im Privaten wie auch im Politischen, dies zeigt nicht zuletzt die erneute Referenz auf die Warschauer Brücke, geht es um ‚Grenzen‘, die zu ziehen sind, sowie die Frage der Gewaltanwendung als eines legitimen Mittels, Grenzen zu ziehen und zu verteidigen.10 Diese gesellschaftspolitische Brisanz des Bruderstreits zeigt sich schließlich drittens im finalen Kampf, der den Aspekt der Legitimität von Gewalt aufgreift: Ulrich verhindert mittels körperlicher Gewalt die Flucht seines Bruders in den Westen. Wiederum erfolgt in dieser Sequenz die aus dem Off gesprochene Aufforderung: „Denk an Mutter“, was auf die familiäre Verwurzelung von Klaus im Osten anspielt. Ergänzt wird diese Aufforderung durch den Hinweis auf die gefallenen Väter, womit der Film dazu auffordert, die (aus seiner Sicht) richtige Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen.11 Die Einhaltung von Wertegrenzen wird aber nicht nur verbal gefordert; sondern der Film stellt in der Fluchtsequenz Gewalt als legitimes Mittel dar, das Überwinden der Grenze zu verhindern. Zunächst ist es ein Faustkampf, durch den Klaus an der Republikflucht gehindert werden soll, später – Klaus ist im Begriff, auf die Mauer zu klettern – erfolgt der Einsatz von Schusswaffen durch das Grenzregime. Vertritt Klaus im Film mehrfach die Meinung, „jeder solle nach seiner Façon selig werden“ (z. B. TC 0:14:41–0:14:43), so teilt der Film diese Position offensichtlich nicht. Vielmehr stellt er durch die Charakterisierung von Klaus die Republikflucht als abweichendes Verhalten dar, dem mit Gewalt und Erziehung zu begegnen ist. Der Film legitimiert, so lässt sich der pädagogische Impetus, mit dem Ulrich auf sei10 Durch den soeben zitierten Monolog wird verdeutlicht, dass die Frage der Gewaltanwendung wohl überlegt sein muss („man denke“). 11 Im Sinnzusammenhang des Films ist die zu ziehende Lehre eine Integration in die sozialistische, antifaschistische Gesellschaftsordnung der DDR.

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nen Bruder einwirkt, zeithistorisch deuten, Mauerbau und Schießbefehl als notwendige Erziehungsmaßnahmen. Der erbitterte Kampf Ulrichs um den Verbleib des Bruders verdeutlicht, dass das Kollektiv um jeden Einzelnen kämpfen möchte: Es muss – das wird im Kampf zwischen ‚Licht‘ und ‚Dunkel‘ zum Ausdruck gebracht – Aufklärung für eine bessere Gesellschaft betrieben werden, die es nach dem Bau der Berliner Mauer im Osten des Landes aufzubauen gilt. Nicht zufällig schließt sich an die Szene der versuchten Republikflucht die symbolträchtige Sequenz auf dem Berliner Weihnachtsmarkt an, wo ein Plakat mit der Aufschrift „Friede – erstes Gebot der Menschlichkeit“ (TC 1:18:01) ins Bild gesetzt ist. Das Weihnachtsfest steht für Werte wie Nächstenliebe, es symbolisiert Geburt und Zukunftsoptimismus. Vor dem Hintergrund der Fluchtsequenz, die die Mauer als Grenze deutlich ins Bewusstsein des Zuschauers rückt, wird Weihnachten zum Symbol der gesellschaftlichen Neugeburt, für die die durch den Mauerbau vollzogene Abgrenzung zum Westen die Initialzündung bildete. Der Neuanfang ist im Film also quasi-mythologisch aufgeladen, was sich schon im Lied andeutet, das dem Film seinen Titel gibt. Das Lied „. . . und deine Liebe auch“ besingt die Liebe zwischen Adam und Eva: „Der Adam war’s, der Eva küsst und Berlin liegt an der Spree.“ (TC 0:15:32–0:15:45) Mit Eva ist hier ganz offensichtlich nicht nur die Figur des Films, sondern auch die biblische Eva als Urmutter der Menschheit gemeint. Der biblische Kontext wird zusätzlich dadurch aufgerufen, dass Sünde und Erkenntnis im Film eine zentrale Rolle spielen: Evas ‚Sünde‘ besteht darin, dass sie den Verführungen von Klaus und damit denjenigen des westlichen Lebensstils erliegt. Allerdings erkennt sie ihren Fehler („wie hab’ ich mich bloß verändert in ein paar Monaten“; TC 1:18:29–1:18:32) und wird in der Folge gleichsam zur Gründungsfigur einer neuen Gesellschaft stilisiert. Die Korrelation zwischen Schwangerschaft und Weihnachtsfest, wie sie die Sequenz auf dem Weihnachtsmarkt verdeutlicht, legt zumindest diese biblisch-mythologische Lesart nahe. Was die Neuausrichtung der Gesellschaft angeht, so rückt der Film zwei Aspekte besonders in den Fokus. Er betont erstens die Notwendigkeit von Grenzziehungen: Immer wieder ist die Rede von Grenzen, die es geben müsse, oder Grenzen, die nicht überschritten werden können. Im Sinnzusammenhang des Films meint Grenze nicht nur die Staatsgrenze zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch eine damit einhergehende moralisch-normative Grenze. Diese Grenzziehung ist, so lässt sich die Aussage des Films auf den Punkt bringen, notwendig, damit eine neue Gesellschaft überhaupt entstehen kann. Dieser Zusammenhang lässt sich wiederum an der Weihnachtsmarkt-Sequenz besonders markant aufzeigen: Vor der romantischen Kulisse des Weihnachtsmarktes werden Kinder als Symbol einer friedlichen Zukunft in Szene gesetzt. Zudem erzählt Eva von der Zukunft des Kollektivs: „Auf dem Marx-Engels-Platz“, so erklärt sie, sei es

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ihr „bewusst geworden: Es wird alles gut werden, wenn wir nur wissen, was wir wollen.“ (TC 1:19:28–1:19:35) Der eigene Lernprozess, den Eva durchlaufen hat (das Bewusst-Werden), wird kollektiviert und dieser Lernprozess ist mit ihrer eigenen Mutterschaft verknüpft: Eva muss sich im Laufe des Films zwischen Klaus und Ulli entscheiden; zudem muss sie entscheiden, ob sie das Kind von Klaus behalten möchte. „Irgendwo muss eine Grenze sein!“ (TC 1:10:45–1:10:47), lässt der Film Eva in der Entscheidungssituation sagen.12 Es muss also zum einen eine klare Grenze zu Klaus – beziehungsweise zu dem, was er repräsentiert – und zum anderen eine Grenze zwischen Vater und Kind gezogen werden. Gleichzeitig entscheidet sie sich für Ulrich, den sozialistischen Mann, oder vielmehr für die Werte, die er vertritt. Das Zeichen ‚Grenze‘ zieht sich leitmotivisch (sprachlich wie dokumentarisch-visuell) durch den gesamten Film, womit beständig Grenzziehungen im Privaten zur politisch-historischen Grenzziehung ins Verhältnis gesetzt werden. Evas Entscheidung, im Osten zu bleiben und das Kind ohne den Vater aufzuziehen, verdeutlicht, dass Grenzziehungen sowohl im Politischen wie im Sozialen Voraussetzung für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft sind. Der zweite Aspekt ist das Familienmodell, das der Film der Neubegründung von Gesellschaft zugrunde legt. Familie definiert sich im Film nicht biologisch, sondern über gemeinsame Werte. Dies zeigt sich bereits anhand der ungleichen Brüder Klaus und Ulli. Obgleich Ulli nicht der leibliche Sohn von Anna ist, verweist der Film immer wieder darauf, dass Ulrich ihre Werte übernommen hat. Seinen ‚Bruder‘ muss er hingegen beständig an die tote Mutter und ihr Wertevermächtnis erinnern. In der nächsten Generation setzt sich dieses Prinzip fort: Eva und Klaus zeugen ein Kind, Eva zieht allerdings eine Grenze zwischen sich und dem Erzeuger des Kindes. An die Vaterstelle tritt (mutmaßlich) Ulrich. Das Figurentableau zeigt deutlich, dass die Keimzelle der gesellschaftlichen Neuausrichtung nicht die biologische Familie ist. Der Film versteht Familie vielmehr als Wertegemeinschaft.

Fazit und Ausblick Frank Vogels Film verarbeitet das historische Ereignis der Grenzschließung und des Mauerbaus in Form einer Liebesfiktion, die über die dokumentarischen Bilder des Mauerbaus den Konflikt zweier Brüder als Gesellschafts- und Systemkonflikt verhandelt. Kern der ästhetischen Verarbeitung sind die Thematisierungen von Grenzen: Die Liebeskonflikte bilden innergesellschaftlicher Konflikte ab, die 12 Dieser zentrale Satz fällt insgesamt dreimal im Film.

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zu normativen Grenzziehungen führen; bestimmte Verhaltensweisen werden dabei ausgegrenzt oder sanktioniert. Der Film veranschaulicht dadurch, dass solche Grenzziehungen zur Stärkung der Wertegemeinschaft führen. Dabei bildet die Dreieckskonstellation verschiedene Positionen innerhalb der Gesellschaft ab: Ulrich ist grundsätzlich als statische Figur konzipiert, der wertefest die Interessen der sozialistischen Gemeinschaft vertritt. Die Figur ist zudem als ‚Aufklärer‘ inszeniert. Eva hingegen durchläuft einen Bewusstwerdungs- und Entscheidungsprozess, der sie erst zur Erkenntnis der Überlegenheit des sozialistischen Systems bringt. Klaus, der sich aus der Sicht des Films falsch verhält, muss für den Sozialismus gleichsam ‚umerzogen‘ werden. Alles in allem: Die Ereignisse des Mauerbaus haben seit den 1960er Jahren regelmäßig ästhetische Verarbeitungen erfahren. Im DEFA-Film der 1960er Jahre ließ sich eine Auseinandersetzung mit normativen Grenzziehungen beobachten, die die Filme als Medien kultureller Aushandlungs- und Selbstvergewisserungsprozesse erscheinen lassen. Im Medium des Liebesdramas, so konnte gezeigt werden, werden gesellschaftliche Konflikte ausgetragen, die in den DEFA-Spielfilmen auf die zukünftige Ausrichtung der gesellschaftlichen Praxis bezogen ist. Die Mauer repräsentiert in diesen Filmen – wie tendenziell auch in der DDR-Literatur jener Jahre –13 eine soziale Grenze, die verschiedene, nicht kompatible Wertesysteme in Kontrast zueinander stellt. Sind Mauerfiktionen wie . . . UND DEINE LIEBE AUCH symptomatisch für eine Kultur, die sich infolge der historischen Zäsur des Jahres 1961 neu zu definieren versucht, so verschwand in den Folgejahren – den späten 1960er und 1970er Jahren – die Berliner Mauer allmählich aus der filmischen und literarischen Praxis der DDR-Kultur. Dies lag insbesondere an dem „Darstellungsverbot der Mauer in den offiziellen Bildmedien der DDR. Zwar war die Grenze [. . .] im öffentlichen Sprachgebrauch ein anerkanntes und schützenswertes Faktum, dem Begriff und Bild der Mauer aber haftete durchgängig etwas Problematisches und Monströses an.“ (Kuhrmann et al. 2011, S. 336 f.) Erst ab den späten 1970er Jahren lassen sich wieder signifikante Mauerthematisierungen ausmachen, so 13 Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel (1963) erzählt die Geschichte eines Liebespaares, Rita und Manfred. Manfred flüchtet nach Westberlin, Rita sucht ihn dort auf, entscheidet sich aber kurz vor der Grenzschließung im August 1961 aus Treue zur DDR zurückzukehren. Sie stellt das Kollektiv über ihr persönliches Glück. Der Roman bezieht insofern Position für die DDR; gleichzeitig übt er Kritik an der Mauer: So heißt es im Roman: „Wer auf der Welt hatte das Recht, einen Menschen – und sei es einen einzigen! – vor eine solche Wahl zu stellen, die, wie immer er sich entschied, ein Stück von ihm forderte?“ (Wolf 1985, S. 179) Deutlich ist die Mauer als unmenschliches Konstrukt bezeichnet und eben auch mit Verlust korreliert. Wolfs Roman lässt sich insofern auf die DEFA-Filme der 1960er Jahre beziehen, als mit der Liebe soziale Prozesse von Grenzziehungen angesprochen werden.

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etwa in Klaus Schlesingers Erzählband Berliner Traum aus dem Jahr 1977. An Schlesingers Prosa lässt sich in zweifacher Hinsicht beispielhaft die historische Variabilität von Mauerdarstellungen beschreiben: Zum einen zeigt sich etwa in seiner Erzählung Am Ende der Jugend, dass ein realistisch-dokumentierender Stil, wie er die Ästhetik von Vogels Mauerfilm prägt, einer tendenziell ‚fantastischen‘ Darstellung von Zeitgeschichte gewichen ist;14 zum anderen repräsentiert die Mauer bei Schlesinger zeichenhaft eine innere, psychologische Konfliktgrenze. Die Spaltung Deutschlands, so ließe sich pointiert formulieren, findet ihre Entsprechung in figuralen Persönlichkeitsspaltungen, womit die Texte signalisieren, dass die Spaltung Deutschlands nicht auf Dauer aufrecht zu erhalten ist. Im Unterschied zu vielen DEFA-Filmen der 1960er Jahre wird die Mauer als sinnstiftende Grenze mehr und mehr in Frage gestellt.

Filmverzeichnis JAHRGANG 45 (DDR 1966), Regie: Jürgen Böttcher, Drehbuch: Klaus Poche, Jürgen Böttcher. DER KINNHAKEN (DDR 1962), Regie: Heinz Thiel, Drehbuch: Horst Bastian, Manfred Krug. SEPTEMBERLIEBE (DDR 1960), Regie: Kurt Maetzig, Drehbuch: Herbert Otto. . . . UND DEINE LIEBE AUCH (DDR 1961), Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Paul Wiens.

Diskografie Biermann, Wolf (1988): „Mein Vaterland, mein Vaterland“. Auf: Ders.: VEB – Volkseigener Biermann. EMI. Bowie, David (1977): „Heroes“. Auf: Ders.: „Heroes“. RCA.

14 In der Erzählung Am Ende der Jugend wacht die Figur Gottfried am 13. August 1961 auf und ist schlagartig mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert. Die Umgebung wirkt plötzlich „feindlich“: „Ich weiß nicht, ob ich die Stadt jemals wieder so gesehen habe, wie an diesem Tag.“ Alles „war unverändert und doch auf eine schwer faßbare Weise anders.“ (Schlesinger 1977, S. 158 f.) Das politische Ereignis der Grenzschließung bewirkt eine Wahrnehmungsveränderung, was bereits die Korrelation von Politik und Psyche zeigt. Zur Interpretation der Erzählung vgl. Loescher 2006, S. 211–243.

. . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962)

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Literaturverzeichnis Drössler, Stefan et al. (2015): „Interview mit Frank Vogel und Manfred Freitag“. In: DVD-Booklet zur DVD . . . UND DEINE LIEBE AUCH. Edition Filmmuseum (93), S. 8–11. Gregor, Ulrich (2015): „Rezensionsauszüge“. In: DVD-Booklet zur DVD . . . UND DEINE LIEBE AUCH. Edition Filmmuseum (93), S. 5. Ivanova, Mariana (2010): „‚You Have to Draw a Line Somewhere‘. Tropes of Division in DEFA Films from the Early 1960s“. In: Philip Broadbent/Sabine Hake (Hg.): Berlin. Divided City, 1945–1989. New York, NY: Berghahn, S. 78–88. Kuhrmann, Anke et al. (2011): Die Berliner Mauer in der Kunst. Berlin: Links. Loescher, Jens (2006): „Eine wahnsinnige Situation: geteiltes, phantastisches Berlin. Die DDRAnthologie Berliner Geschichten“. In: Almut Hille/Matthias Harder (Hg.): Weltfabrik Berlin. Eine Metropole als Sujet der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 211–243. Rehahn, Rosemarie (2015): „Drei in einer großen Stadt“. In: Wochenpost (1962), Heft 38. Zit. in: DVD-Booklet zur DVD . . . UND DEINE LIEBE AUCH. Edition Filmmuseum (93), S. 4 f. Rüther, Tobias (2008): Helden. David Bowie und Berlin. Berlin: Rogner & Bernhard. Scharnowski, Susanne (2016): „Jugendrebellion und Generationenkonflikte der 1950er und 1960er Jahre in Filmen der DDR“. In: Almut Hille et al. (Hg.): Generationenverhältnisse in Deutschland und China. Soziale Praxis – Kultur – Medien. Berlin/Boston, MA: De Gruyter, S. 115–133. Schittly, Dagmar (2002): Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen. Berlin: Links. Schlesinger, Klaus (1977): Berliner Traum. Rostock: Hinstorff. Springer-Strand, Ingeborg (1982): „Tradition und Variation. Die Ballade von den Königskindern“. In: Volker Meid (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Renaissance und Barock. Stuttgart: Reclam, S. 21–31. Wolf, Christa (1985): Der geteilte Himmel. München: dtv.

Heinz-Peter Preußer

Heldische Antihelden: Drei Komödien, drei Länder – ONE, TWO, THREE (1961), SPUR DER STEINE (1966) und WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (1993) Republikflucht als Lustspiel? Wolfgang Kohlhaase, einer der wichtigsten Drehbuchautoren der DDR und des wiedervereinigten Deutschland, hat zum ‚Scheitern‘ seines Films SONNTAGSFAHRER (1963) eine dezidierte Meinung, die unmittelbar mit unserem Thema zu tun hat. Es sei, erklärt er, in einem Interview vom November 1982, grundsätzlich falsch gewesen, sich diesem sehr komplizierten Vorgang [des Mauerbaus], der die verschiedensten Betroffenheiten erzeugt hat, der Probleme beendete und andere Probleme eröffnete, im Stil der Komödie nähern zu wollen. Komödie setzt voraus, daß man sich mit seinem Zuschauer über den Punkt, von dem aus eine Sache komisch ist, verständigt. Ich glaube, wie immer man zu diesem Vorgang steht, daß der komische Blick auf ihn nicht möglich war. Wir dachten, wir könnten etwas zur Erhellung und Entkrampfung beitragen (in dem bescheidenen Maß natürlich, in dem ein Film überhaupt direkt eingreift in öffentliche Gefühlslagen). Das war ein Irrtum. Der Film ist elementar mißglückt, nicht etwa handwerklich. (Zit. n. Habel 2000, S. 567, aus: Schmidt 1984)

Die SONNTAGSFAHRER sind jene, welche die Republik verlassen wollen: alte Nazis, Bürgerliche, Akademiker, die sich im Westen eine bessere Existenz erhoffen, aber letztlich nur ihrem Eigennutz folgen. Auf dem Weg in die Freiheit, die vor allem als materieller Wohlstand und als eine Welt der Reklame (via Rundfunk) denunziert wird, scheitern sie allesamt kläglich. Allein die erwachsenen Kinder begehren dagegen auf, werden zu Hoffnungs- und Sympathieträgern für einen Sozialismus, der sich nur der objektiven Schwierigkeiten erwehrt. Ihre zart aufkeimende Liebe steht zudem in deutlichem Kontrast zur Verlogenheit der Elterngeneration: eine klassische Komödienkonstellation, die aber am Gewicht scheitert, auch die Ideologie transpostieren zu müssen, die ein Dableiben plausibel macht (vgl. Habel 2000, S. 567 f.). Eine Tragödienversion, die sich an das gleiche Thema wagt, den ‚ungesetzlichen Grenzübertritt‘ – und auf andere Art scheitert –, bietet der Film DIE FLUCHT (DDR 1977), unter der Regie von Roland Gräf entstanden. Wie . . . UND DEINE LIEBE AUCH (1962) ist SONNTAGSFAHRER aber ein unmittelbarer Reaktionsfilm auf den Mauerbau: und eine direkte Verteidigung des ‚antifaschistischen Schutzwalls‘ post festum. Dafür muss die Haltung der eigenen https://doi.org/10.1515/9783110629408-005

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Bevölkerung standardisiert, auf eben diese Ideologie zurechtgebogen werden. Denn für viele war die dauerhafte Grenzbefestigung in erster Linie ein Freiheitsentzug (vgl. ebd., S. 567; 636), der sich sehr konkret bemerkbar machte im Alltag. Dass der Osten ausbluten würde, an einen Aufbau des Sozialismus bei offenen Grenzen nicht mehr zu denken war, interessierte die Majorität hingegen weniger. DER GETEILTE HIMMEL (als Buch 1963 und Film 1964) hatte noch dasselbe Problem (vgl. Habel 2000, S. 211 f.): und verkaufte die Zumutung damit, „dem Druck des härteren, strengeren Lebens stand[zu]halten“ (Wolf 1965, S. 288; vgl. Schirrmacher 1990), den die Mauer gleichsam erzwinge.

Komödie in tragischen Zeiten: Billy Wilders ONE, TWO, THREE In Billy Wilders Komödie ONE, TWO, THREE liegen die Dinge noch vertrackter. Über grausige Sachverhalte kann man durchaus lachen. THE GREAT DICTATOR von Chaplin war so eine Provokation, die funktionierte – vielleicht auch, weil die Uraufführung vor dem Kriegseintritt der USA lag und die Verbrechen des NS-Regimes in ihrem monströsen Ausmaß noch nicht so deutlich zu Tage traten wie nach Kriegsende. In Wilders amerikanischer Berlin-Komödie hingegen koinzidierte der Mauerbau unmittelbar mit den Dreharbeiten. Zwar gab es, logischerweise, im Westen keine Verrenkungen, das Bauwerk zu legitimieren (wie bei den zuvor genannten DEFA-Filmen). Aber hinderlich wurde es – auf eine zuvor nicht bedachte Art und Weise. Geplant als Ost-Westkomödie mit mehrfachen Grenzüberschreitungen im Politischen (und Gesellschaftlichen), war der geografische Wechsel in den anderen Teil der Stadt plötzlich, seit dem 13. August 1961, unterbunden worden (Abb. 4.1). Das Brandenburger Tor – als symbolträchtiger Ort – musste im Atelier (in den Bavaria-Studios in München-Geiselgasteig) neu aufgebaut werden (vgl. DPA 2011; Karasek 1992, S. 444), um es mehrfach passieren zu können. Die Szenen im (fiktiven) Osten verraten nun manchmal (durch Hintergründe und Blickwinkel), dass sie im (faktischen) Westen gedreht wurden. Vor allem aber war das Publikum nicht mehr gewillt, die irrwitzige screwball comedy zu goutieren. „Niemand wollte über eine Ost-West-Komödie, die in Berlin spielt, lachen, während Menschen[, die] unter Einsatz ihres Lebens aus Fenstern über die Mauer sprangen, durch Kanäle zu schwimmen suchten, beschossen, ja totgeschossen wurden“, sagt Wilder selbst (zit. bei Karasek 1992, S. 445). Doch im Unterschied zu Wolfgang Kohlhaases und Gerhard Kleins Film über die SONNTAGSFAHRER (1963) funktioniert EINS, ZWEI, DREI, sobald der politische Druck schwindet. Ein verständlicher Flopp bei seiner Urauf-

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Abb. 4.1: Blick zurück beim Grenzübertritt Brandenburger Tor.

führung 1961 (s. o.), wird die erneute Kinoauswertung 1985 in Westberlin zum Ereignis; der Film genießt seitdem Kultstatus (vgl. Karasek 1992, S. 445 f.). Ferenc Molnár hatte mit seinem Schauspiel Egy, kettö, három – oder Eins, zwei, drei – (aus dem Jahr 1928) den Rahmen geliefert, der ins geteilte Berlin, in die Gegenwart (1961) und deren politische Verhältnisse transponiert wurde (vgl. Karasek 1992, S. 444). Der Plot folgt dem Stück in der Grundkonstruktion – Kleider machen Leute (Abb. 4.2) –, entfaltet, durch die geänderten Parameter, aber eine politische Brisanz und mehrpolige Gesellschaftskritik, die das ältere Stück nicht besaß.

Abb. 4.2: Kleider machen Leute – Die Grundkonstruktion der mehrpoligen Gesellschaftskritik.

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Mr. MacNamara (James Cagney) leitet die Coca-Cola-Niederlassung in Westberlin und strebt als nächste Stufe seiner Karriere an, nach London versetzt zu werden. Mit den Deutschen – in Ost und West – kommt er nur bedingt zurecht. Sein Adjutant Schlemmer (Hanns Lothar) kann nur mühsam und kaum glaubwürdig versichern, er habe vom Nationalsozialismus keine Kenntnis erlangt. Wie er militärisch die Hacken zusammenschlägt, ist ein running gag. Er hat die zurückliegenden Jahre der Diktatur verinnerlicht – wie das gesamte Personal – und fügt sich den neuen Verhältnissen der Demokratie eifrig, aber vergeblich. Wenn der Chef das Großraumbüro betritt (Abb. 4.3), stehen alle Angestellten nach wie vor auf mit dem nämlichen Hackenschlag – und MacNamara herrscht sie dann an: „Sitzen machen!“

Abb. 4.3: MacNamara (James Cagney) betritt das Großraumbüro: „Sitzen machen!“

Weil sein Deutsch noch verbesserungsbedürftig ist, nimmt er, wann immer es geht, Nachhilfe bei seiner hübschen Sekretärin Ingeborg (Liselotte Pulver; Abb. 4.4). Das „Fraulein“ bringt ihm am Wochenende und so manchem Überstundentermin am Abend aber offenbar nicht allein die Umlaute bei: „Fräulein!“ (TC 0:06:35–0:06:42),1 sondern erweist sich, verwöhnt von allerlei Geschenken, auch in intimeren Beziehungen als gefällig. Verärgert ist sie aber, wenn die Übungsstunden immer wieder verschoben werden sollen, denn der Abteilungsleiter muss es mit seiner Gattin Phyllis aufnehmen (Arlene Francis), die ihn

1 ONE, TWO, THREE (USA 1961, EINS, DVD: Studiocanal 2012.

ZWEI, DREI),

Regie: Billy Wilder. TC: Zeitangaben nach der

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Abb. 4.4: Die hübsche Sekretärin Ingeborg im Pünktchenkleid (Liselotte Pulver).

gerne ironisch abkanzelt – „[you’re] feeling pretty good, aren’t you, mein Führer“ (TC 0:46:50–0:46:52; vgl. 0:24:54) – und auch sonst recht dominant und selbstbewusst agiert. Die Komödie hat also die gleiche frivole Konstellation wie THE APARTMENT, Wilders Film vom Jahr zuvor (1960), die ebenso selbstverständlich von amourösen Abenteuern der Verheirateten ausgeht – und daraus Verwechselungsszenen entwickelt. Doch dabei bleibt es nicht. Wendel P. Hazeltine (Howard St. John), sein Vorgesetzter in Atlanta, GA, schickt seine siebzehnjährige Tochter Scarlett (Pamela Tiffin) zum Ausflug nach Berlin – und quartiert sie überraschend bei den MacNamaras ein. Frau und Kinder können nun nicht, wie geplant, nach Venedig reisen, der Vater wiederum verpasst die geplanten Übungsstunden zum Umlaut mit „Fraulein Ingeborg“. Die attraktive Scarlett Hazeltine ist der Schwarm aller Männer – und verdreht schon dem Flugpersonal den Kopf. In Berlin lernt sie ausgerechnet Otto Ludwig Piffl kennen (Horst Buchholz), einen sozialistischen Agitator und Heißsporn erster Güte, den sie, unerkannt, nächtens besucht, heiratet und von dem sie zudem schwanger wird. Als alles auffliegt, hat der Berlin-Chef von Coca-Cola alle Hände voll zu tun: Zunächst lässt er die Heirat in Ostberlin annullieren. Als er von der Schwangerschaft erfährt, muss Piffl, den er zuvor durch Intrigen zum Staatsfeind der DDR umgedeutet hat, hingegen wieder aus dem Gewahrsam der Geheimpolizei befreit und anschließend in einen vorzeigbaren Schwiegersohn verwandelt werden. Dazu reist er mit Ingeborg zunächst in den Ostteil der Stadt und setzt die eigne Sekretärin und Geliebte als sexuelle Waffe ein. In einem runtergekommenen und schon weithin verlassenen Speisesaal des Grand Hotel Potemkin (!) – zuvor Grand Hotel Göring und davor wiederum Grand Hotel Bismarck benannt – dirigiert der (reale) Komponist Friedrich Hollaender

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den Schlager: Ausgerechnet Bananen. Doch die Parodie des Fräuleinwunders und der Sexbombe Marilyn Monroe (aus Wilders SOME LIKE IT HOT von 1959, vgl. Karasek 1992, S. 448) steigt barfuß auf die Tische und tanzt zu Aram Khatchaturians Säbeltanz. Da wird den drei Kommissaren der UdSSR ganz warm ums Herz. Der Schweiß dringt aus den Poren, die Wände wackeln, die Schachfiguren am Nebentisch tanzen mit und das Porträt Nikita Chruschtschows fällt aus dem Rahmen – dahinter kommt Stalin zum Vorschein.2 Ingeborg hat alles in der Hand, nicht nur die flambiert brennenden Fleischspieße (Abb. 4.5), mit denen sie den flotten Ritt – im Pünktchenkleid – garniert.

Abb. 4.5: Die Parodie Marilyn Monroes steigt barfuß auf die Tische und tanzt.

Naturgemäß wird Ostberlin hier zur Groteske verzerrt – und nur in der parodistischen Übertreibung kenntlich; doch der Kapitalismus scheint keinen Deut besser.

2 Aram Khatchaturian: „Sabre Dance“ aus der Ballet-Suite Gayaneh, No. 3. Zu Hollaender vgl. DPA 2011.

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Otto kommt frei, Ingeborg wird durch Schlemmer (im Kleid) ersetzt, und es geht, in wilder Verfolgungsjagd, zurück durchs Brandenburger Tor in den Westen. Nun gilt es, den Raketeningenieur aus dem Osten umzupolen. Statt nach Moskau zu reisen mit seiner Angetrauten, soll er zum Grafen verwandelt und in den Cola-Konzern integriert werden. Die Metamorphose in einen vorzeigbaren Schwiegersohn hat in dreieinhalb Stunden zu geschehen. Die Zeit ist also wiederum zu knapp – und MacNamara kommandiert, wie aus der Pistole geschossen: eins, zwei, drei. Graf Waldemar von und zu Droste-Schattenburg (Hubert von Meyerinck) versieht derzeit die Toilette des Kempinski (eine Anspielung auf Murnaus DER LETZTE MANN) – und soll durch Adoption Otto in den Kreis der Familie aufnehmen: für einen nicht geringen Geldbetrag. Entsprechende Kleider, Schuhe, Hüte müssen her, das Familienwappen aufs Auto gemalt, Tischmanieren eingeübt, das Haar geschnitten werden. Ganz zu schweigen von der ideologischen Umerziehung, die in Windeseile erledigt wird. Das Flugzeug landet zudem zehn Minuten früher in Tempelhof. Auch im Detail läuft alles gegen MacNamara. Die Widerstände sind riesig, sein Aufbäumen dagegen gleicht einer herkulischen Anstrengung. So verschiebt sich endgültig die Neigung des Zuschauers – hin zum Boss und seinem schier endlosen Kampf mit den Windmühlen, den Widrigkeiten seines Alltags. Held und Antiheld vertauschen also die Rollen: der renitente Schwiegersohn ist zum Turbokapitalisten mutiert – just in time (Abb. 4.6).

Abb. 4.6: Der renitente Schwiegersohn (Horst Buchholz) ist zum Turbokapitalisten mutiert.

Zum Abschied aus Berlin spendiert der halb gescheiterte und halb erfolgreiche Vater den Kindern und seiner Frau eine Cola aus dem Automaten; und erst in der letzten Einstellung erkennt er, dass es sich hier um ein Produkt der Konkurrenz

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handelt: Pepsi. „Schlemmer“, geht ein letzter, verzweifelt komischer und aggressiver Ausruf in die Leere – und wird nicht mehr beantwortet. Die spätere Kritik hat den Film ausführlich gelobt für das, was man an ihm partout zuvor nicht sehen wollte (vgl. Staguhn 1985): dass er in alle Richtungen schießt. Die BZ war schlicht verstört: „Der scheußlichste Film über diese Stadt“, hieß es dort (zit. n. Wolf 2008, S. 71). Ganz anders Die Zeit: „Kein Kultur-Klischee über Deutsche und Amerikaner, Kommunisten und Kapitalisten wird ausgespart, aber eben so ironisch gespiegelt, wie es nur Wilder, der Berliner aus Hollywood, konnte.“ (Joffe 2005; vgl. Wolf 2008, S. 70 f.) Die Sowjets der Besatzungszone sind ungehobelte Kerle, die Cola konfiszieren – und sogleich den Flaschenhals abschlagen, um das begehrte Getränk ohne Aufschub in den Schlund zu kippen. Im Verhör terrorisieren sie den angeblichen Spion – mit einem unerträglichen Lied US-amerikanischer Provenienz: Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini. Eine Schwarzwälder Kuckucksuhr spielt, zu allen unpassenden Gelegenheiten, den Yankee Doodle – und statt des Vogels kommt Uncle Sam aus dem Häuschen, mit wehender Nationalfahne. Wenn die Amerikaner sich rühmen, den Deutschen die Demokratie gebracht zu haben, sieht man im Schwenk gleich die Werbung für Coca-Cola. Die Deutschen wiederum lassen sich gern kolonisieren, weil sie vergessen wollen – und schon der Amnesie weitgehend verfallen sind. Dennoch lebt der inwendige Preuße in ihnen fort – vielleicht sogar ein halber Nazi (vgl. DPA 2011). Doch denunziert werden auch diese Verrenkungen nicht: „Wilders Einstellung zu seinen Figuren, das ist die liebevolle Nachsicht mit der Kreatur“, schreibt Katja Nicodemus (2000). Er zeige ihre Schwächen, „ohne sie auszustellen oder zu betonen“. Im Unernst der Komödie, in der pointierten Zuspitzung, steckt gerade darum mehr Wahrheit über beide Systeme, als die Zeitgenossen vertragen konnten.

Berühmt und verboten: Frank Beyers SPUR DER STEINE Von den Vorfällen um den Verbots- und ‚Kellerfilm‘ überlagert wurde die kritische Aufnahme von Frank Beyers SPUR DER STEINE aus dem Jahr 1966.3 Die herausragende DEFA-Produktion ist ein besonderer Skandal in der langen Geschichte der Zensur in der DDR – und jener zeigt auch das Scheitern eines Gutwilligen,

3 Der anschließende Text folgt weitgehend meinem gleichlautenden Kapitel 1.5 in Preußer 2013, S. 115–122.

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nämlich ihres künstlerischen Leiters. „Unsere Hoffnungen von damals wurden enttäuscht und schließlich betrogen“ (Beyer 2001, S. 7), notiert der Regisseur in seinen Erinnerungen, gleich zu Anfang. Er sieht sich in der Position Gesine Cresspahls, der DDR-Emigrantin in New York aus Uwe Johnsons Roman Jahrestage, die doch am Sozialismus als Prinzip festhalten will und 1968 nach Prag aufbricht, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu erleben (Johnson 1992, Bde. 3 und 4, S. 784).4 Diese Formel zeigt zudem das beiderseitige Missverständnis zwischen den Betonköpfen der sozialistischen Diktaturen einerseits und den Reformern andererseits auf. Der Gestaltungsspielraum gerade in der DDR war, auch nach dem Mauerbau, eng; und er blieb eng. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns, für den Frank Beyer mit seiner Unterschrift 1976 eintrat, zeigt das markant. Zu viel Komik wird da schnell gefährlich. Es lohnt sich, in diesem Fall ein gesondertes Augenmerk auf die Rezeption und den institutionellen Rahmen zu legen. Dann erkennt man, was Beyers DEFA-Film über die DDR verrät – weit über den Plot hinaus. Die Umstände sind komödiantischer als die Geschichte, die erzählt wird. Und auch hier gibt es untypische Wechsel in der Helden- und Antiheldenfunktion ihrer Figuren. Wolf Biermann sollte für den Film SPUR DER STEINE den Titelsong beisteuern. Seit 1963 war er aus der SED ausgeschlossen und seit 1965 mit einem faktischen Berufsverbot belegt; er durfte nicht mehr öffentlich auftreten. Konzerte gab der Liedermacher fast zwölf Jahre lang nur zu Hause, in der Chausseestraße (vgl. Barner 1994, S. 699 f.). Mit dem nachfolgend zitierten Prolog hätte er sich wieder direkt an ein Millionen-Publikum wenden können: an sich bereits ein Politikum. Frank Beyer selbst hat sich von dieser Idee im Vorfeld getrennt, wollte das Lied Warte nicht auf bessre Zeiten von Biermann bringen, was dann aus dem nämlichen Anlass auch aufgegeben werden musste. Somit sollte der geplante Prolog nur noch als Werbetrailer genutzt werden. Doch auch dazu kam es nicht mehr (vgl. Schenk 1995, S. 59). Vor aller Zensur steht die Vorzensur, die der Regisseur selbst verübt in seinem Kopf. Beyer konnte das ganz gut. Es gehört zum Grunddilemma der kritisch-loyalen DDR-Künstler, den Anteil an Affirmation des Systems nicht zu sehen, den sie ebenfalls geleistet haben (vgl. Preußer 2003, S. 42–45). Der Zensierte wird nicht allein dadurch zum Helden, weil er ein Opfer der politischen Prozesse geworden ist. SPUR DER STEINE bietet ein gutes Beispiel für diesen Grundkonflikt.

4 Der Roman endet am 20. August 1968, dem Tag der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Paktes. Cresspahl ist noch auf dem Weg, in „einem Badehotel an der dänischen Küste, Schweden gegenüber“, Johnson 1992, Bde. 3 und 4, S. 784.

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Biermann hatte einen für ihn charakteristischen Text geschrieben. Im Stile einer bänkelsängernden Moritat sagt er das Wichtigste zum Film, ohne doch zu viel vom Inhalt zu verraten (zit. n. Beyer 2001, S. 135): Prolog für den Film SPUR DER STEINE Sie sehen hier ein DEFA-Stück! Bleiben sie sitzen, Sie haben Glück! Frank Beyer ist der Regisseur Das Ding handelt vom Parteisekretär Und Arbeitsmoral Und Suff im Lokal Und Liebe im Mai Mit Tränen dabei Parteidisziplin Mit Nackend-Ausziehn Mit Plandiskussion Und Hochleistungslohn Mit Lug und Betrug! Mit Manne Krug! Als Baubrigardier Kübelt er Bier Ein Volkspolizist

Fliegt in den Mist Ein Bürokrat Schadet dem Staat Ein Anarchist Wird Kommunist! ’ne schöne Frau Macht man zur Sau Sie kriegt ein Kind Man kriegt davon Wind Ein Mann geht kaputt In all dem Schutt ’ne Ehe zerbricht Gekittet wird nicht! Hier ist nichts gelogen! Nichts gradegebogen! Hier wird nix frisiert und blank poliert! Hier ist das Leben kraß und klar Verrückt und wahr, verrückt und wahr!

Das metrisch rumpelnde Lied kündigt an, was sich als Plot einer Dreiecksgeschichte entwickelt auf der Großbaustelle des fiktiven Schkona (gemeint ist Leuna 2; vgl. Rehahn 1995, S. 191). Horrath, gespielt von Eberhard Esche, heißt der Betriebsparteisekretär, der hier für Ordnung sorgen will. Er trifft auf den Anarchisten Balla, der ihm das Leben schwer macht und den er doch gewinnen will für die Partei. Beide haben Interesse an der ebenfalls neuen Bauingenieurin Kati Klee, die von der Polin Krystyna Stypułkowska dargestellt wird und die Jutta Hoffmann synchronisiert. Hoffmann und Armin Mueller-Stahl, die zunächst für beide Hauptrollen vorgesehen waren, kamen wegen anderer Verpflichtungen für die Drehtage ab dem Mai 1965 nicht in Frage (vgl. Schenk 1995, S. 52; Beyer 2001, S. 129–131). Dominierend aber ist Manfred Krug als Hannes Balla (Abb. 4.7). Die Figur bestimmt schon den gleichnamigen Roman von Erik Neutsch aus dem Jahr 1964, der als Vorlage diente: mit mehr als 500.000 Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher der DDR-Literatur (vgl. Killy 1990, Bd. 8, S. 383). Bei Erik Neutsch ist es die Arbeit, die das Selbst formt. Wenn die Brigade der Ballas ein Kai baut, wird nicht nur durch den neuen Hafen ein Tor zur Welt aufgestoßen, sondern auch im Innern der Arbeiter, zu ihrer „innere[n] Welt“. Balla selbst denkt und ahnt „wohl zum ersten Mal, daß es eine Spur der Steine gab . . .“ (Neutsch 1964, S. 334): die Spur der werktätig Schaffenden, die nicht im Arbeitsprozess

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Abb. 4.7: Dominierend und cool: Manfred Krug als Hannes Balla.

entfremdet werden vom Produkt ihrer Arbeit, sondern in der Tätigkeit ihr Ich als selbstbestimmtes bauen. Dieser Prozess, nicht die Zugehörigkeit zur Partei, ist für den frei denkenden und anarchistischen Zimmermann das Entscheidende. „Auf die SED sauf ich nicht“, sagt Balla dazu. Wenn er trinkt – und das tut er nicht selten –, dann gegen die Marschrichtung der Partei und ihrer Blasmusik (Abb. 4.8; ebd., S. 335).

Abb. 4.8: Prosit! Eine Kolonne gegen die Marschrichtung der Partei und ihrer Blasmusik.

Und er spricht für die ganze Gruppe, die er so unumwunden wie autokratisch beherrscht (Abb. 4.9; vgl. ebd., S. 14–17). Anarchie gibt es also nicht für alle,

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Abb. 4.9: Der Anarch als autokratischer Herrscher und seine Getreuen.

sondern nur für den Einen, das Urgenie, den Kraftkerl. Wenn Hannes mit Kati anbändelt, säuselt der ewige Schelm: „In mir wächst nämlich eine kleine Sympathie“ (TC 0:44:49).5 Für ein Rendezvous bekennt der unabhängige Arbeiter: „Mit Ihnen würd’ ich sogar einen DEFA-Film angucken“ (Abb. 4.10; TC 0:31:58; vgl. Rehahn 1995, S. 194 f.). Der Film erzählt nun, wie Ballas Energie umgelenkt werden soll zum Wohle aller – vom „Selbsthelfer zum sozialistischen Aktivisten“ –, und das heißt eben auch: zum Wohl der Partei (Barner 1994, S. 522). Der Regisseur sagt es selbst, und es handelt sich hier nicht nur um einen Kniefall vor der ihn treffenden Repression: „Ich habe immer im Bewußtsein und im Gefühl gearbeitet, mit SPUR DER STEINE einen Film für die Partei zu machen, einen Film, der unserer Gesellschaft nützt“: so in einem Brief vom 4.8.1966 (als Reaktion auf ein Schreiben Leipziger Werktätigen vom 5.7.1966; zit. n. Schenk 1995, S. 112).6 Zum Verhängnis wird ihm und dem Film, dass die Parteiführung der SED diese dienende Funktion nicht sehen und nicht begreifen will. Dabei wird Horraths Verhalten, sein ‚Versagen‘, schon als amoralisch gebrandmarkt (vgl. Emmerich 1989, S. 189); er wird in die Pflicht der Partei wieder eingebunden, degradiert, darf sich bewähren (Abb. 4.11).

5 SPUR DER STEINE (DDR 1966), Regie: Frank Beyer. TC: Zeitangaben nach der DVD: Icestorm 2002. 6 Hervorhebung im Original gesperrt, hier kursiv wiedergegeben.

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Abb. 4.10: „In mir wächst nämlich eine kleine Sympathie“. Balla zu Kati Klee (Krystyna Stypułkowska).

Abb. 4.11: Horraths ‚Versagen‘ wurde als amoralisch gebrandmarkt (Eberhard Esche).

Das gilt auch noch für die Dramatisierung der Vorlage in Heiner Müllers (1984) Der Bau [1965]. Der Betriebsparteisekretär trägt dort den Namen Donat (vgl. Emmerich 1989, S. 209; Barner 1994, S. 521 f., 567 f.). Eine intermittierende, zweite Handlungsebene, die das vergangene Geschehen unterbricht und ein klassisches Parteiverfahren darstellt, wirkt im Film aber irritierend, weil die Partei so erscheint, wie sie größtenteils wahrgenommen wurde: als starrköpfig. Niemand könnte das so überzeugend verkörpern wie Hans-Peter Minetti, der sozialistische Bruder des großen Bernhard Minetti, der den Dogmatiker gibt mit

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dem sprechenden Namen Bleibtreu. Und eben diese Starrköpfigkeit der SEDParteigenossen war denn auch der Hauptvorwurf, den die Kulturbürokratie der SED gegen SPUR DER STEINE erhob. Sie erkannte sich selbst in der ironischen Persiflage. Und das tat weh. Nicht der dreiste Anarchist Hannes Balla und seine Auflehnung gegen die kommunistische Staatsmacht – etwa in der Ententeichszene (Abb. 4.12) – waren das Problem, sondern dieses Selbstbild der Partei.

Abb. 4.12: Auflehnung gegen die kommunistische Staatsmacht – die Ententeichszene.

Uraufführung und Verbot des Films lassen Teile der SED so agieren, als reproduzierten sie die entsprechenden Figuren im Film. Damit aber sind wir schon mitten in der Zensurgeschichte, die ein unrühmliches Kapitel in der Historie der DEFA-Produktionen darstellt. Schon Neutschs Roman, ein Wälzer von 800, 900 Seiten (je nach Auflage), war kritisch diskutiert worden (vgl. Emmerich 1989, S. 43). Einem möglichen Machtwort begegnete man mit dem sinnvollsten Selbstschutz: Er wurde für den Nationalpreis vorgeschlagen. Durch die Zuerkennung des Preises war ein Verbot so gut wie unmöglich. Die Partei hätte sich selbst revidieren müssen, was in einem solchen Fall nahezu ausgeschlossen war. Neutsch kam zugute, dass er von Horst Sindermann protegiert wurde, dem Hallenser SED-Bezirkssekretär. In Halle, beim Mitteldeutschen Verlag, erschien auch das Buch. Im Nachbarbezirk Leipzig, dem Paul Fröhlich vorstand, wäre das undenkbar gewesen (vgl. Beyer 2001, S. 126). Nun also wurde das von der SED abgesegnete Werk verfilmt und musste der Gegenwartsfilm sein zum runden Jubiläum 20 Jahre DEFA (vgl. Schenk 1995, S. 59; auch S. 57). Entsprechend waren die Erwartungen, aber auch die Aufmerksamkeit kanalisiert. Mit 56 Kopien sollte der Film in der DDR starten; er wurde

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vorgeschlagen für das Prädikat „besonders wertvoll“ und wäre beim Internationalen Filmfestival (Karlový Várý) in Prag gelaufen (Beyer 2001, S. 127). Es gab eine Vorpremiere in Potsdam zu den Arbeiterfestspielen Pfingsten 1966 (vgl. ebd., S. 126; Habel 2000, S. 574). Alles lief also nach Plan. Auch die früheren Zensurfälle, um die es, im Kontext des berüchtigten 11. Plenums des ZK der SED vom Dezember 1965, großes Aufsehen gab, schienen das Vorhaben nicht mehr torpedieren zu können. DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE von Frank Vogel und Kurt Maetzigs Film DAS KANINCHEN BIN ICH wurden von der Hauptverwaltung Film 1965 als Produktionen der DEFA-Studios nicht abgenommen. Auch Günter Stahnkes DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT verfiel dem Verbot (vgl. Gregor 1983, S. 393; Beyer 2001, S. 133; Habel 2000, S. 110 f., 307, 187; 574). Nun aber warb man bereits in großem Maßstab und vor allem in Berlin für Beyers SPUR DER STEINE. Die eigentliche Premiere, nach den Voraufführungen, sollte im Berliner Kino International stattfinden. Aber zwischen den letzten Drehtagen im Oktober 1965 und der Endfertigung des zweieinviertelstündigen Streifens im Januar und Februar 1966 lag (vgl. Beyer 2001, S. 133, 139), vom 16. Dezember 1965 an, eben jenes 11. Plenum des Zentralkomitees der SED (vgl. ebd., S. 136). Pessimismus, vor allem aber „Liberalismus und Skeptizismus“ waren dort die zentralen Vorwürfe gegenüber abweichenden Kunstwerken, und eben dies sah man auch in Beyers SPUR DER STEINE verwirklicht (Barner 1994, S. 509; vgl. Beyer 2001, S. 138 f.). Nun wurde der Film zur Staatsaktion umgedeutet. Frank Beyer notiert: Am 11. März 1966 versammelten sich Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Leiter der ideologischen Kommission beim ZK der SED, Alexander Abusch, Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats, verantwortlich für die Bereiche Kultur und Volksbildung, Hans Rodenberg, Mitglied des Staatsrats, Klaus Gysi, Kulturminister, sein Staatssekretär Horst Brasch sowie Funktionäre aus der Hauptverwaltung Film und dem DEFA-Studio für Spielfilme zu einer Voraufführung des Films. / Die sich daran anschließende Diskussion und Kritik waren vernichtend. (Beyer 2001, S. 139)

Klaus Gysi hält die Darstellung der Partei in dem Spielfilm nun für „einerseits kleinbürgerlich und andererseits unmenschlich“ (zit. n. ebd., S. 140). Das zeugt von Urteilsvermögen. Alexander Abusch erkennt: „Die gescheiten Leute sind die Parteilosen.“ (Zit. n. ebd.) Auch dagegen kann man nichts einwenden. Kurt Hager hält die gesamte Grundkonzeption für falsch: „Das heißt, dass die Darstellung der [. . .] Kollektivität der Partei, die Rolle der Partei im Leitungsprozess nicht der tatsächlichen Rolle und dem Wesen der Partei entspricht.“ (Zit. n. ebd., S. 141) Hier wiederum irrt Hager. Was gezeigt wurde, entsprach nur nicht dem Bild, das die Genossen von sich selbst haben wollten. Beyer wurde zu Änderungen genötigt, die er mit Humor aufnahm. Er erinnert sich an Goethe, der an seinem Götz von Berlichingen ebenfalls streichen und verbessern musste (vgl. ebd., S. 142).

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Der kommentierte das mit den Versen: „Mußt all’ die garstigen Wörter lindern: Aus Scheißkerl Schurk, aus Arsch mach Hintern“ (Goethe 1887, S. 95). Wie aber verfährt man mit einem Film, der schon an verschiedenen Stellen Zuspruch erhalten hatte, der ausgewählt wurde, die DDR zu repräsentieren und der nun doch verschwinden muss? Konrad Wolf führt dieses Argument für Beyer ins Feld, um doch letztlich zu kapitulieren. Er schreibt seine Verteidigung, in einem Brief an die Parteiaktivtagung der SED vom 13.7.1966 (Wolf 1995, S. 119–123, insb. S. 121), allerdings nicht nur als Kollege und Regisseur, sondern auch als der damalige Präsident der Akademie der Künste in der DDR, der in genau dieser Funktion gefährdet wäre, wenn er bei seinem Kurs bliebe. So erledigt sich auch sein Einspruch und mutiert, in einem zweiten Text „Über SPUR DER STEINE (2)“ zu einer üblen, naturgemäß geheuchelten Form von Selbstkritik (ebd., S. 123 f., hier S. 123). Minister Gysi kanzelt sogar den Autor der Vorlage, Erik Neutsch, ab, der sich für den Film verwenden will: „Du bist als Romanautor befangen und kannst das gar nicht beurteilen“ (zit. n. Beyer 2001, S. 145). Die SED entsendet nun bestellte Störer für die ersten Aufführungen, insbesondere zur Premiere des Films am 30. Juni 1966 in Berlin, um sich nachträglich für ihr Vorgehen Legitimation zu verschaffen. Gemäß Gysis Anweisung soll SPUR DER STEINE höchstens eine Woche nach der Premiere laufen (vgl. Beyer 2001, S. 146): mit der entsprechenden, lancierten Erregung des Publikums. ‚Am besten‘ fällt die Reaktion in Leipzig aus. Dort ruft das aufgebrachte Volk: „Das sind nicht unsere Arbeiter!“ (Ebd., S. 148) Krugs Leistung kommentiert man: „Geh endlich arbeiten, du Schwein!“ (Ebd.) Eine Frau ruft: „Unsere Barteisekredäre schlafn nich mit fremdn Fraun!“ (Ebd.) Nach zwanzig Minuten wird die Vorführung abgebrochen (vgl. ebd.). Frank Beyer fühlt sich an Aktionen der Nationalsozialisten erinnert, welche die Adaption von Remarques Roman IM WESTEN NICHTS NEUES, unter der Regie von Lewis Milestone, mit ähnlichen Störmanövern torpedierten. „Unfassbar war für mich, dass die SED, deren Mitglied ich war, eine solche gelenkte ‚Provokation‘ organisiert hatte.“ (Ebd., S. 149) In Rostock kommt es hingegen zu einer Panne. Der Leiter des Premierenkinos weiß offenkundig nichts von den geplanten Zwischenrufern und lässt die Provokateure von der ortsansässigen Polizei aus dem Saal entfernen (vgl. ebd.). Für Beyer endete die verspätete Absetzung seines Films weniger humoristisch. Die Rezension für das Neue Deutschland, die Horst Knietzsch (1995, S. 116 f.) verfasste, wurde nicht gedruckt. Stattdessen erscheint unter dem Pseudonym Hans Konrad (1995, S. 118) eine Besprechung, die den Vorgaben Kurt Hagers bis ins Detail folgt. Weitere Kritiken in anderen Zeitungen werden großenteils nicht veröffentlicht (vgl. Rehahn 1995, S. 190; siehe auch Habel 2000, S. 574 f.). Wilfred Maaß, der Leiter der Hauptverwaltung Film, teilt Beyer mit, er müsse nun für etwa zwei Jahre das DEFA-Studio für Spielfilme verlassen und sich an Theatern der Republik verdingen, außerhalb von Berlin und Umgebung, also in

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der Provinz, die mit Dresden freilich noch moderat ausfällt (vgl. Beyer 2001, S. 152 f., 155 f.). Man schickt den gefeierten und prämierten Regisseur der BrunoApitz-Verfilmung NACKT UNTER WÖLFEN von 1963 in die Wüste (vgl. Müncheberg 1995, S. 182; Habel 2000, S. 429 f.), der mit einer weiteren Literatur-Adaptionen, Jurek Beckers JAKOB DER LÜGNER, sogar jenen einzigen Film aus DDR verantwortet, der, 1977, für einen Oscar nominiert wurde (vgl. Gregor 1983, S. 389; Rehahn 1995, S. 191; Schieber 1995, S. 208; Habel 2000, S. 284; Beyer 2001, S. 197). Aber eben das ist typisch für die DDR. Wer das nicht erkennt, wie die Rezensentin Rosemarie Rehahn, betreibt, gewollt oder nicht, ‚Ostalgie‘. Rehahn (1995, S. 194) schreibt rückblickend über die Neuaufführung im Wendejahr: „1989 hat SPUR DER STEINE im Berliner International, dem Ort der einstigen Krawall-Premiere, eine festliche Wiederaufführung erlebt – 1989, als alles, fast alles schon passiert war mit diesem Land, das einmal die Republik unserer Hoffnung war, auf die wir so schlecht achtgegeben haben. / Once upon a time.“ Es steht schlecht um ein Land, auf das man, wegen solcher Gründe wie dem Verbotsfall von SPUR DER STEINE, achtgeben muss. Rosemarie Rehahn sollte das selbst gewusst haben. Das Kippen von Komödie in die Tragikomödie, ja ins echte Drama, das von den Figuren im Film angelegt war – und sich nicht hat entfalten dürfen durch Zensur und Vorzensur –, kehrt nun im Prozess des Verbotsfalls zurück: Das Faktuale schlägt die Fiktion. Beyer ist der heldische Antiheld, zu dem sich Balla, alias Manfred Krug, durch Zuruf der Partei nicht hatte entwickeln können. Nur so lustig, wie sein Hauptdarsteller im Film agiert, war seinem Regisseur nicht zumute. Und auch er kippt in dieser schwankenden Pose um wie Balla, weil er der aufrichtige Sozialist sein wollte, dem seine Hoffnungen – wie der späteren Rezensentin – genommen wurden. So wird selbst die Zensur in ‚Ostalgie‘ überführt.

Die DDR als wilder Osten: Detlev Bucks WIR KÖNNEN AUCH ANDERS. . . Diametral entgegengesetzt verliefen Zuspruch und Anerkennung für unsere dritte Komödie, eine ‚westdeutsche‘ Produktion nach der Wende.7 Regisseur Buck hat mit seinem Film WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993), der vielfach ausgezeichnet wurde, einen der großen Kinoerfolge der 1990er Jahre verbuchen können

7 Der nachfolgende Text geht weitgehend zurück auf einen Teil des Kapitels 1.4 in Preußer 2013, S. 97–102.

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(vgl. Allmaier 2010). Die Zuschauer wie die Jury des Deutschen Filmpreises scheint die Karikatur der gerade erst abgewickelten DDR wenig gestört zu haben (Filmportal 1993). Das ist erstaunlich, denn hier wird in der satirischen Überzeichnung politisch völlig inkorrekt über Land und Leute befunden. Dennoch sagt uns auch diese Genreparodie mehr über die DDR als manch neuerer, gesamtdeutscher Spielfilm, der sich, zumindest im Nebeninteresse, ein geschichtlich gesättigtes, vielleicht sogar authentisches Bild der DDR zu geben bemüht, wie man das etwa für Leander Haußmanns SONNENALLEE (D 1999), Wolfgang Beckers GOOD BYE, LENIN! (D 2003) oder Florian Henckel von Donnersmarcks DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006) unterstellen könnte, um hier nur die bekanntesten Beispiele zu erwähnen. Buck präsentiert uns weder einen „Erinnerungsfilm“, wie Gerhard Lüdeker (2012, S. 75, 77, 82–85, 269–273) die Kategorie des Ost- und insbesondere Wendefilms genannt hat, in dem eine gemeinsame Erinnerung in ein kollektives Gedächtnis überführt oder, in der bekannten Terminologie von Aleida und Jan Assmann, ein kommunikatives in ein kulturelles Gedächtnis transformiert wird (vgl. J. Assmann 2000, S. 13, 15, 19, 37, 41, 113, 115, 118). Noch akzentuiert der Regisseur die Verlusterfahrung (vgl. Grampp 2010, S. 198 f., 201), die sich in der DDR zeitgleich massiv artikuliert. Die Ostkomödie von Buck leistet das genaue Gegenteil. Der Zuschauer wird nicht in seiner Erwartungshaltung bestätigt, er bekommt keine quasi historistische Versicherung, so sei es wirklich gewesen – im jugendkulturellen Gegenmilieu, in der spießigen Welt der Erwachsenen, im Identifikationsraum der östlichen Warenprodukte, in der Überwachungsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, bei den Pionieren oder in der Nationalen Volksarmee, der Haußmann mit NVA (D 2005) gleich noch einen Film gewidmet hat, welcher, nebenbei bemerkt, aber kaum ein anderes Bild des Militärs zeichnet, als es die westliche Bundeswehr in NEUE VAHR SÜD (D 2010) unter der Regie von Hermine Huntgeburth abgibt (nach dem Roman von Sven Regener). Die Vergangenheitsbewältigung im ‚Ostalgie‘Film ist häufig eben doch nur die übliche Coming-of-Age-Geschichte (vgl. Lüdeker 2012, S. 305–313), in der sich Ost- wie Westkomödie nicht viel nehmen. All das also – Bekräftigung des authentisch Erlebten, Bewältigung eines Verlustes, Kompensation von Trennungsschmerz oder gar Identitätsstiftung der neuen Nation im Sinne eines Gründungmythos (vgl. Galli/Preußer 2008) – liefert WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . nicht. Der Film versucht ebenso wenig als Funktionsgedächtnis für eine spezifische Gruppe zu dienen, in dem die abgelegten Erinnerungen erneut abzurufen und mit der Gegenwart kohärent zu verknüpfen wären. Er fungiert auch nicht als zeitenthobenes Speichergedächtnis institutioneller und musealer Allgemeingrößen, das später wieder instrumentalisiert und in den öffentlichen Diskurs mit seinen Partialinteressen integriert werden kann (vgl. A. Assmann 2006a, S. 54 f.; dies. 2006b, S. 134 f.; Lüdeker

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2012, S. 58 f., 63, 78; Erll 2008, S. 10, 15, 20 f.). Bucks Film ist in diesem Sinne nicht gruppenbildend, noch weniger staatstragend und schlechterdings ungeeignet für die filmische Transformation von Vergangenheit in den Geschichtsunterricht (vgl. Hallasch 2016, S. 216, 238 f. und passim). Stattdessen sehen wir die Brüder Kipp (Joachim Król) und Most (Horst Krause), beide des Lesens nicht kundig, die sich in den Osten aufmachen, um das Erbe ihrer soeben verstorbenen Großmutter anzutreten. Sie sind die Naiven, die, als Insasse der Psychiatrie wie Kipp (Abb. 4.13) oder als tumber Bauer wie Most, nur einen sehr beschränkten Zugang zur Welt haben. In einem Hanomag Pritschenwagen, wohl der L 28, der seit 1950 gebaut wurde und vermutlich noch aus diesem Jahrzehnt stammt, machen sich unsere Figuren, mit 60 km/h Spitzengeschwindigkeit, auf in die Fremde (Abb. 4.14). Dies ist die klassische Konstellation für ein Roadmovie, das zudem – über die Bildkadrierung, entsprechende Accessoires und Mimik wie über den Soundtrack – mit einem Western gekreuzt wurde, der im Osten spielt (vgl. Wilde 2010, S. 87–89). Unwirklich wird unseren Protagonisten der Osten schon deshalb, weil sie die Schilder und Karten nicht lesen können, die ihnen den Weg weisen würden zum Gut Wendelohe, das irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern liegen soll – und einen so sprechenden Namen trägt. Immer wieder benötigen die ungleichen Brüder Hilfe; und in ihrer ausgestellten Einfalt werden sie auch deshalb vielfach zu Opfern vermeintlich schlauerer Zeitgenossen. Im Osten hingegen gibt es Händler, die den neu eingeführten Kapitalismus gleich als legalisierten Raub auffassen: Ein Tankstellenverkäufer etwa erfindet Mondpreise für sein billiges Werkzeug, das er nur im Set abgeben will – obgleich nur ein Schraubenschlüssel benötigt wird. Ein schmieriger Händler verkauft ihnen überteuert ein Ruderboot, dessen möglicher Verwendungszweck unklar bleibt und das die beiden dann quer durch das Land transportieren – und sich darüber freuen wie sonst nur Hans im Glück (vgl. Grimm/Grimm 1993, S. 419–427). Oder wir sehen Neonazis, die lediglich auf einen Anlass warten, eine Prügelei anzetteln zu können – unter ihnen der Regisseur selbst in einer Nebenrolle (Abb. 4.15). Eine Imbissbudenbetreiberin gibt den nunmehr völlig Mittellosen kein Essen für das angebotene Tauschobjekt, ein Autoradio. Beinahe moralisch legitim erscheint dann, dass die Brüder die Tageskasse der Imbissdame einsacken. Ein LKW-Fahrer lässt die armen Schweine, die er transportiert, fast verdursten – und denkt sich nichts dabei, bis Kipp den Tieren unerlaubten Freigang verschafft. Vom einstigen Sozialismus erkennt man nichts wieder – außer der ländlichen Bausubstanz. Wegelagerer sehen wir (Abb. 4.16), die durch ihre Körper-

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Abb. 4.13: Wo geht’s lang? Kipp (Joachim Król) findet sich noch nicht zurecht.

Abb. 4.14: Drei vor dem Hanomag – selbstbewusst mit Kalaschnikow (Mitte: Sophie Rois).

Abb. 4.15: Der Regisseur selbst in einer Nebenrolle als Neonazi (Detlev Buck, links).

Abb. 4.16: Wegelagerer signalisieren, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist.

Abb. 4.17: Wiktor (Konstantin Kotljarow, rechts), Most (Horst Krause, links) und Kipp „können auch anders“.

Abb. 4.18: „Einige Tage später, irgendwo am stillen Don“: Freibier für alle!

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sprache allein signalisieren, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist. Weil die beiden Westdeutschen aber einen flüchtigen Rotarmisten an Bord haben, der mit der üblichen Kalaschnikow bewaffnet ist, fällt im Moment höchster Not der titelgebende Ausspruch: „Wir können auch anders!“ (TC 0:19:57)8 Rudi Kipp, alias Kipp, und Moritz Kipp, alias Most, zwingen mit Wiktors Hilfe (Konstantin Kotljarow) die Räuber, in ihren BMW einzusteigen und rückwärts in einen See zu fahren (Abb. 4.17). Da drei der fünf Haudegen aber nicht schwimmen können, sind unsere Helden von diesem Zeitpunkt an, ohne es genau zu wissen, selbst Mörder auf der Flucht, die von einen Großaufgebot der Polizei verfolgt werden. Wieder registrieren wir das Kippmoment, in dem hier, in dieser Hauptszene, unsere Antihelden heldisch reagieren – und die gegebene ‚Ordnung‘ auf den Kopf stellen. Das macht, erneut, den komischen Effekt aus. Die Kriterien einer Filmkomödie umreißen Heinz-B. Heller und Matthias Steinle (2005, S. 11–21), ohne sich freilich auf eine verbindliche Definition festlegen zu können; dieses Dilemma reproduzieren Jörn Glasenapp und Claudia Lillge (2008, S. 9) – jeweils in ihren einleitenden Texten zu grundsätzlichen Kompendien. Dennoch wird man folgende Muster oftmals antreffen: Komödien leben vom Tausch der etablierten, stereotypisierten Rollen – bei einer strikten Gliederung der sozialen Position, welche die Figuren einnehmen. Dopplungen und Verwechselungen gehören deshalb häufig in die Plot-Struktur – bei Shakespeare wie Molière oder Kleist. So ist es auch hier: Die Unterlegenheit unserer Figuren, ihr Scheitern an der Gier des reinen Eigennutzes, spiegelt das Ost-WestVerhältnis: allerdings reziprok proportional. „Wir lachen über den Clown“, schreibt Friedrich Dürrenmatt (1998, S. 260), „weil er uns als ein so unbeholfener Mensch gegenübertritt, daß sich ihm jeder überlegen fühlt. Wir identifizieren uns nicht mit dem Clown, wir objektivieren ihn“ (ebd.) und „bewahren“ dadurch „Distanz“ (ebd., S. 261). Doch die Position des Clowns ist eben jene der Westler, die zuvor meinten, sich über andere und ihre Unbedarftheit lustig machen zu dürfen. Die ‚Wessis‘ sind nun diejenigen, die brutal ausgenommen werden. Das ergibt den gewitzteren komischen Effekt. Ähnlich mag es manchem Ostdeutschen nach der Wende ergangen sein. Aber diese fiktiven Opfer aus dem Westen nehmen sich – im ungewollten Tötungsakt – nun ihr Recht, das ihnen ein irre gewordener Kapitalismus nicht zu-

8 WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993), Regie: Detlef Buck. TC: Zeitangaben nach der DVD: Cine Plus Entertainment 2001.

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billigt.9 Freilich: Am Ziel angelangt, wird nicht alles ‚gut‘. Das Erbe entpuppt sich als kleines, abgebranntes Nebengebäude, Gut Wendelohe bleibt, wieder privatisiert, in adligem Besitz. Nun sehen wir auch noch eine Geiselnahme mit (unbeholfenem) Polizeieinsatz und einer alten ‚Roth-Händle-Raucherin‘, die aus dem Fenster zuschaut, etwas DDR-Flair versprüht, aber zumindest im Zigarettenkonsum schon auf die harte Westware umgestiegen ist. Inzwischen zu viert, mit einer Geisel, der Kneipenwirtin Nadine (Sophie Rois), die ein recht kurzes Kleid trägt und darin offenbar Wiktor gefällt, fahren alle gemeinsam in den wahren Osten, nach Russland – das, naturgemäß, mehr der Imagination entspringt als realen Verhältnissen dort. „Einige Tage später, irgendwo am stillen Don“ (TC 1:20:09) und am Ende der Narration bricht dann offenbar der Sozialismus aus – mit Freibier für alle (Abb. 4.18). Also bietet der Film auch hier eine Inversion: die des klassischen Western (vgl. Lux 1993), liegt die Verheißung doch nun im lebensphilosophisch und gemeinschaftsromantisch idealisierten Osten, der – erneut – entdeckt werden soll (vgl. Wilde 2010, S. 83 f.).10

Es bleiben die Komödien, die zunächst verkannt werden, weil ihre Helden tragisch scheitern Gemäß der berühmten franzschen Pyramide ist die Komödienstruktur das Inversbild der Tragödie (vgl. Kandorfer 2003, S. 166–169). Nach Exposition (1) und Konfliktschürzung (2) gelangt man zur Klärung und zum Höhepunkt des tragischen Helden (3); dem entspricht der Tiefpunkt der komischen Hauptfigur. Die – in der Regel von außen bewirkte – Peripetie (4) führt dann zum Niedergang des Protagonisten, während sich in der Komödie nun alles zum Guten wendet. Die Tragödie endet gegebenenfalls mit dem Tode, sicher mit dem schimpflichen Untergang des Helden – und einer Neutralisation der Gegensätze, während in der Komödie dasselbe Ergebnis erreicht wird durch das glückliche Ende der Hauptfigur.

9 Die Kapitalismuskritik ist im Übrigen ein konstitutives Moment der ‚westlichen Ostfilme‘: neben Buck auch bei Roehler und Schlöndorff. Vgl. dazu Lüdeker 2012, S. 206f., 215 f., 218, 220 f., sowie Preußer 2013, S. 102–109. 10 Das naivere Gegenstück dazu ist Go Trabbi Go! Vgl. dazu Rytz 2010, S. 74, 77, 81. Den Aufbruch nach Westen findet man auch in SCHULTZE GETS THE BLUES. Galli (2008, S. 338 f.) klassifiziert den „kleinen, aber sehr bemerkenswerten“ Film anerkennend als „neue[n] Heimatfilm[..]“.

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Naturgemäß gibt es zahlreiche Abweichungen von diesem Schema. Eine hat sich sogar zu einer Untergattung verfestigt: die Tragikomödie. Hier scheitert der komische Held – und wird damit letztlich zur tragischen Figur umgedeutet. Die großen Komödien haben häufig einen Zug zur Tragikomödie, wenn sie nicht gleich dieser Subkategorie zuzurechnen sind. Und auffallend oft ist ihr Start beim Publikum genau darum schwierig. Molières Misanthrope (1993, S. 1054, 1057) wurde 1666 vom Publikum nicht gleich verstanden, Kleists Zerbrochnen Krug hat immerhin Goethe 1808 inszeniert – jedoch, gelinde gesagt, unvorteilhaft – und damit ein Debakel produziert (Kleist 1993, S. 585–588, 592, 594 f.). Tschechows große Tragikomödien, Die Möwe, Onkel Wanja, Drei Schwestern und Der Kirschgarten, begannen gleichfalls mit einem grandiosen Misserfolg (vgl. Tschechow 2006, S. 542, 558). Dennoch gehören gerade diese Stücke seit Langem zum Kernbestand der Weltkomödien. Wie lautet der Befund nun für unsere filmischen Komödien mit ihren heldischen Antihelden? In Wilders ONE, TWO, THREE kommt Otto Ludwig Piffl, unser (leicht verblendeter) Kommunist aus dem Berliner Osten, zwar zu seiner Braut (klassischer Schluss) – und hat auch sonst allen Erfolg der Welt; aber er verrät, mit der Übernahme der Europaleitung von Coca-Cola in London, doch seine Ideale und mutiert zu einer Marionette des Kapitalismus, den er eigentlich abgrundtief verachtet (Abb. 4.19).

Abb. 4.19: Otto Piffl, leicht verblendeter Kommunist aus dem Osten, und seine Braut (Pamela Tiffin).

Sein Gegenspieler, Mr. MacNamara, ist hingegen nicht allein der unterlegene Antagonist, sondern der eigentlich tragisch Scheiternde im Film. Er findet zurück zu Frau und Kindern, geht mit ihnen nach Atlanta – und gibt damit seine große Hoffnung auf, selbst in London zu reüssieren. Alle Lebensanstrengung, diesen

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Posten zu ergattern, muss er dem Taugenichts aus dem Osten überlassen, dem er zum gräflichen Titel wie zu Manieren und entsprechender Phraseologie verholfen hat. Und seine Geliebte, die schöne Sekretärin, opfert er zudem dem russischen Kommissar Peripetschikoff (Leon Askin) – wobei sie diesem Deal auch noch begeistert zustimmt, weil sie absolut käuflich ist. In einer klassischen Komödie wäre MacNamara die Vater- oder Onkelfigur, die dem jugendlichen Liebesglück im Wege steht. Doch hier sind beide männliche ‚Helden‘ Unfreie, gefangen in Positionen, die sie nicht wollten, nun aber zu ertragen haben. Der hohle Piffl allerdings findet nicht die Zustimmung des Zuschauers; die Sympathien liegen bei MacNamara, eben jenem, der klein beigeben muss – und sich dem Regiment seiner (selbstbewusst resoluten) Frau beugt. In SPUR DER STEINE scheitern alle Hauptfiguren noch eindeutiger. Hannes Balla, der Zimmermann und Brigadeleiter, wird seiner anarchischen Qualitäten beraubt (Abb. 4.20) – und eingenordet in die Planstrukturen des realen Sozialismus. Werner Horrath, der SED-Parteisekretär, verliert seinen Idealismus, sein Amt, seine Geliebte, ja sogar Kind und Frau, die sich von ihm abwenden. Kati Klee, von Balla umgarnt, aber mit Horrath liiert, wird das Kind des ehemaligen Parteisekretärs ohne Vater aufziehen. Sie hat ja den Sozialismus als Stütze, könnte man böse sagen, der sie erst zu Fall gebracht hat. Der Stoff aber tendiert hier schon deutlich zum Gesellschafts- und Liebesdrama. Komödiantisch sind nur wenige Szenen; die aber sind ausgesprochen unterhaltsam – und ein sicherer Lacherfolg. WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . ., der Film von Detlev Buck, hat die klarste Komödienstruktur. Unsere drei Antihelden Rudi Kipp, Moritz Kipp und Wiktor, der Rotarmist, geraten auf ihrer Reise in den Osten immer tiefer in den Schlamassel (Abb. 4.21).

Abb. 4.20: Noch genießt Balla, Zimmermann und Brigadeleiter, seine anarchischen Eskapaden.

Abb. 4.21: Unsere drei Antihelden Kipp, Most und Wiktor geraten immer tiefer in den Schlamassel.

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Sie werden nicht allein permanent übers Ohr gehauen, sondern müssen sogar, als vorgebliche Mörder und Entführer, vor der Polizei fliehen – noch dazu mit einer Geisel, der Dorfkneipenwirtin Nadine. Das Ziel, jenes vererbte Gut, ist realiter eine kleine, zudem abgebrannte Kate. Doch mit dem Glück des Tüchtigen werden alle entlohnt; „am stillen Don“ (TC 1:20:09) leben die Brüder auf und sind fröhlich eingemeindet. Zitiert wird hier, im Titel, das Hauptwerk Michail Scholochows (1959: Der stille Don) und damit zugleich die Fiktionalität des Schlusses unterstrichen. Wiktor und Nadine sind ein ideales Paar, dem die Sympathien zufliegen. Doch wie war die Wirkung, über die Zeiten verteilt? WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . funktionierte sofort und war ein großer Erfolg in den 1990er Jahren. Heute wirkt die neue DVD-Ausgabe verblasst in den Farben, aber auch in der Geschwindigkeit und im Esprit. SPUR DER STEINE wurde ambivalent aufgenommen, durch das Verbot als ‚Kellerfilm‘ geadelt und gefeiert bei der Wiederaufführung 1989. Diese, wie den Neustart 1985 von ONE, TWO, THREE, habe ich jeweils im Kino erlebt: am 23. November 1989 im International, 1985 im Delphi, beide in Berlin (Ost und West). Gelacht habe ich herzlich 1985, 1989 und 1993. Heute, bei der erneuten Sichtung und Bearbeitung aber, wirkt die älteste Komödie am frischesten: die von Wilder – mit dem Blick des aus Berlin emigrierten US-Bürgers, der die Verhältnisse von außen so absurd wahrnahm, wie sie strukturell immer waren – und der das alles mit einem turbulenten Tempo (vgl. Karasek 1992, S. 448) inszeniert, das immer noch, und immer wieder, mitreißt: eins, zwei, drei!

Filmverzeichnis ALL QUIET AT THE WESTERN FRONT (USA 1930, IM WESTEN NICHTS NEUES), Regie: Lewis Milestone, Drehbuch: Maxwell Anderson, George Abbott, Del Andrews. THE APARTMENT (USA 1960, DAS APPARTEMENT), Regie: Billy Wilder, Drehbuch: Billy Wilder, I. A. L. Diamond. DENK BLOSS NICHT, ICH HEULE (DDR 1965), Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Manfred Freitag, Joachim Nestler. DIE FLUCHT (DDR 1977), Regie: Roland Gräf, Drehbuch: Roland Gräf, Hannes Hüttner. DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT (DDR 1965), Regie: Günter Stahnke, Drehbuch: Hermann O. Lauterbach, Konrad Schwalbe, Günter Stahnke. DER GETEILTE HIMMEL (DDR 1964), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Christa Wolf, Gerhard Wolf, Konrad Wolf u. a. GOOD BYE, Lenin! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker. GO TRABI GO (D 1991), Regie: Peter Timm, Drehbuch: Reinhard Klooss, Peter Timm. THE GREAT DICTATOR (USA 1940, DER GROSSE DIKTATOR), Regie und Drehbuch: Charles Chaplin.

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JAKOB DER LÜGNER (DDR 1977), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Jurek Becker, Frank Beyer. DAS KANINCHEN BIN ICH (DDR 1965), Regie: Kurt Maetzig, Drehbuch: Kurt Maetzig, Manfred Bieler. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. DER LETZTE MANN (D 1924), Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, Drehbuch: Carl Mayer. NACKT UNTER WÖLFEN (DDR 1963), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Bruno Apitz, Frank Beyer. NEUE VAHR SÜD (D 2010), Regie: Hermine Huntgeburth, Drehbuch: Christian Zübert. NVA (D 2005), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig, Leander Haußmann. ONE, TWO, THREE (USA 1961, EINS, ZWEI, DREI), Regie: Billy Wilder, Drehbuch: Billy Wilder, I. A. L. Diamond. SCHULTZE GETS THE BLUES (D 2003), Regie und Drehbuch: Michael Schorr. SOME LIKE IT HOT (USA 1959, MANCHE MÖGEN’S HEISS), Regie: Billy Wilder, Drehbuch: Billy Wilder, I. A. L. Diamond. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig, Detlev Buck, Leander Haußmann. SONNTAGSFAHRER (DDR 1963), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Karl Georg Egel, Wolfgang Kohlhaase. SPUR DER STEINE (DDR 1966), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Karl Georg Egel, Frank Beyer. . . . UND DEINE LIEBE AUCH (DDR 1962), Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Paul Wiens. WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993), Regie: Detlev Buck, Drehbuch: Detlev Buck, Ernst Kahl.

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Anne Barnert

Seitenblicke auf die Weltgeschichte: Jürgen Böttchers Filme JAHRGANG 45 (1965) und DIE MAUER (1990) Die beiden Daten, die Jürgen Böttcher mit den Filmtiteln JAHRGANG 45 und DIE MAUER aufgerufen hat, sind die Jahre 1945 und 1989 – das Ende des Zweiten Weltkrieges und, mit dem Mauerfall, das Ende des Kalten Krieges. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass der Regisseur mit beiden Titeln jeweils Weltgeschichte angekündigt hat. Es ist Weltgeschichte, die nahe und vertraut erscheint – so vertraut, dass sie zu feststehenden Bildern geronnen ist: Bei 1945 steht sofort das graue, zerbombte Berlin mit seinen Flüchtlingszügen und verzweifelten Menschen zwischen Ruinen vor den Augen. Bei 1989 sind es die auf der Berliner Mauer feiernden Menschen unter den Silvesterknallern des Jahreswechsels 1989/90. Diese Bilder wirken heute so selbstverständlich, dass sie scheinbar natürlich erscheinen. Sie sind Erinnerungsstereotype. Oft verdecken sie daher mehr, als dass sie zeigen. An diese inneren Historienbilder und an ihre selbstverständliche Überzeugungskraft knüpft der folgende Text an. Anhand der beiden Filme des DEFADokumentarfilmregisseurs und Malers Jürgen Böttcher, JAHRGANG 45 und DIE MAUER, soll dessen Erzählung der historischen Einschnitte 1945 und 1989 untersucht und gefragt werden: Wie werden diese Zäsuren dargestellt, und wie ist es möglich, dabei dem manchmal überwältigenden Vorwissen des Zuschauers und seinen Erwartungen zu entkommen? Wie kann diesen Bildikonen zudem auf produktive Weise entkommen werden, das heißt, ohne die Kommunikation über die gemeinsamen Erinnerungsbilder einfach nur zu zerstören? Die vor dem inneren Auge des Zuschauers spontan entstehenden Geschichtsbilder müssten vorsichtig und behutsam für andere Möglichkeiten geöffnet werden – und zwar, noch ehe sie sich wie ein Raster über die Filmerzählungen legen können, das alles nur in einem bestimmten, selbstverständlich erscheinenden Licht zu sehen erlaubt. Jürgen Böttcher soll im Folgenden vorgestellt werden als ein Regisseur, der in zweien seiner wichtigsten Filme Wege dafür gefunden hat. Jürgen Traugott Hans Böttcher wurde geboren am 8. Juli 1931 in Frankenberg in Sachsen.1 Er hat später mehrfach in Interviews betont, welch starken

1 Angaben zur Biografie Jürgen Böttchers hier und im Folgenden aus Löser 2011, S. 98–109; Kreimeier 2009; Seidel 2007; Texte und Materialien zu Jürgen Böttcher in DEFA-Stiftung 2000, https://doi.org/10.1515/9783110629408-006

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und prägenden Einfluss für ihn als Vierzehnjährigen und als Filmemacher das Kriegsende 1945 hatte. In einem Gespräch im Jahr 2000 sagte er etwa: „Man hatte so Unfaßbares erlebt und überlebt [. . .], und so war es damals mein Traum, etwas davon [im Film] zu realisieren – also, was unsereiner und meinesgleichen in dieser irren Welt erfahren haben. Weil ich das einfach für notwendig hielt. Weil es sich sonst nicht gelohnt hätte. Man war davon besessen, wiedergutzumachen“ (Böttcher 2000, S. 10, Abb. 5.1). Jürgen Böttcher gehört damit zu einer Generation von Filmemachern, die als Jugendliche 1945 den völligen Zusammenbruch in ihrer äußeren und oft auch inneren Welt erlebten und die als Erwachsene zu dieser Erfahrung immer wieder zurückkehrten.

Abb. 5.1: Jürgen Böttcher (1990). „Man war davon besessen, wiedergutzumachen“.

Für Böttcher ist in der Frage der Verantwortung vor der deutschen Geschichte vielleicht die Generationengemeinsamkeit mit etlichen westdeutschen Filmemachern gleichen Alters und mit ähnlichen Erfahrungen in Kindheit und Jugend wichtiger als die der gemeinsamen Produktionsbedingungen mit manch jüngerem DEFA-Regisseur in der DDR. Und so ist es auch ein Text des westdeutschen Filmemachers und Autors Alexander Kluge, der helfen kann, die beiden Filme Jürgen Böttchers zu erschließen. Alexander Kluge, der mit dem Oberhausener Manifest 1962 den westdeutschen Autorenfilm mitbegründete, wurde 1932 nur wenige Monate nach Böttcher geboren. Kluge ist ein Generationsgenosse

S. 10–48; https://bit.ly/2UY5Ozz (letzer Zugriff: 24.06.2018); https://bit.ly/2V06NyW (letzter Zugriff: 24.06.2018).

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Böttchers, der für sein Leben ebenso geprägt wurde durch eine Kindheit im Nationalsozialismus und eine Jugend am Ende des Krieges (vgl. Stollmann 1998, S. 138 f.; Roberts 1983; Combrink 2014).2 Ebenso wie bei Böttcher taucht in Kluges Werk deutsche Geschichte auch als ein Darstellungsproblem des Filmemachens auf. Alexander Kluges Essay, der hier auf Böttchers Filme bezogen werden soll, hat den Titel Parade in der Sylvesternacht 1918 in Paris. Wie wir zu spät lernten, den subjektiven Eindruck auf dem Filmmaterial festzuhalten (vgl. Kluge 2007). Es zeigt sich darin eine Verwandtschaft im Denken Kluges und Böttchers, die auch biografisch verstanden werden kann. Es geht in dem Text um das Filmen eines historischen Ereignisses, in diesem Fall des Weltkriegsendes 1918. Die Frage, wie ein welthistorischer Moment filmisch dargestellt, von der Kamera ‚eingefangen‘ werden kann, versucht Kluge hier aus der Perspektive fiktiver Kriegsberichterstatter zu beantworten, die 1918 die Siegesparade in Paris filmen. Kluge schreibt: Über der letzten Parade der französischen Truppen habe am Ende des Krieges 1918 „eine eigentümlich traurige Stimmung“ gelegen (ebd., S. 137). Sie schien „daher zu rühren, daß es diese Mühseligkeit so vieler Jahre, diesen Krieg überhaupt gegeben hatte, daß keine zu erwartende Veränderung des Lebens als Lohn dem Elend gegenüberstand. Nur ärmer waren sie geworden.“ (Ebd.) Kluge schildert weiter, wie während der nächtlichen Parade jedes Filmmotiv – die Kanonen, die Trosse, die Panzerwagen – mit Lichtergirlanden versehen war, wie selbst die Infanteristen Lampen an ihren Helmen trugen und wie sie als geordnete Lichterkolonnen durch Paris marschierten. „Die Lichtverhältnisse in dieser Nacht“, so Alexander Kluge, „waren opulent“, und in euphorischer Stimmung drehten die Filmemacher reichlich Filmmaterial (ebd.). Er beschreibt nun den Schock, den die Filmemacher im Schneideraum 1918 erlebten, als sie entdecken mussten, dass diese ganze, ungewöhnliche Nacht auf den Filmbildern nicht wiederzufinden war. Das Filmmaterial zeigte nur Bilder von an Kabeln schaukelnden Glühbirnen in der Dunkelheit. Sie mussten erkennen, dass es ihnen nicht gelungen war, das historische Ereignis des Kriegsendes zu verfilmen: Der „Sinneskitzel der Lichter“ hatte ihre Augen verführt (ebd., S. 138). Die Erkenntnis, die Kluge den Filmemachern daraufhin in den Mund legt, lautet: „Man mußte, das wußten wir jetzt, die Kamera nicht auf die Leuchtkörper selbst (die das Auge reizten), sondern auf die Schatten richten, die sich vor den Glühbirnen bewegten. Das hätte so ausgesehen, als marschierten nicht die Überlebenden des Kriegs, sondern die Toten der großen Schlachten vor uns dahin“ (ebd., S. 139). Nicht die Aktionen und Sensationen hätten demnach wiedergegeben dürfen,

2 Ich danke Jens Grimstein, Jena, für diese Hinweise.

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sondern das „Wesentliche“ der Parade. Dieses Wesentliche waren aber nicht die überlebenden Soldaten, sondern die Toten, die nicht mehr dabei sein konnten. Diese Abwesenden, so Kluge, hätten gefilmt und dargestellt werden können in den Schatten, die die Überlebenden während der Parade warfen. Das gebannte Starren der Filmemacher auf die Attraktion der Lichter jedoch, auf die Sensation des Ereignisses, hatte sie getäuscht. Alexander Kluge gibt abschließend fast so etwas wie die Bauanleitung für einen historischen Film. Als Schlussfolgerung schreibt er: „Man muß neben dem Ereignis zu filmen anfangen, das Ereignis kurz streifen und dann das, was subjektiv tief im Gefühl auf die ‚ganze Nacht‘ antwortet, wenn man Glück hat, einfangen.“ (Ebd., S. 140) Geschichte kann also in den Film gelangen, wenn der Blick zunächst abgewendet wird von dem, was sich ihm selbstverständlich, quasi natürlich und automatisch darbietet; wenn dann die unmittelbar sichtbaren Ereignisse nur in kurzen Seitenblicken auftauchen; und wenn schließlich die Filmemacher aus ihrem eigenen Erleben heraus darauf antworten. Diese drei Schritte, (1) neben dem Ereignis filmen, (2) das Ereignis kurz streifen, (3) einfangen, was subjektiv im Gefühl darauf antwortet, stellen ein Instrumentarium dar, um die Rolle von Geschichte in den beiden Filmen Jürgen Böttchers zu beschreiben und zu erschließen. Kaum einer der DEFA-Regisseure war für solche Seitenblicke auf die deutsche Geschichte mehr geeignet als Jürgen Böttcher. Ein Seitenblick bedeutet ja zum einen immer eine Position vom Rande her und aus dem Vorübergehen. Zum anderen bedeutet er auch, dass dem Filmemacher der Blick überhaupt gestattet wird. Es ist daher eine Position auf der Schwelle zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Dabei- und Ausgeschlossen-Sein. In Böttchers Leben und Werk gibt es gleich mehrere Aspekte, die ihn in eben diesem Sinne zum Grenzgänger machten. Dies beginnt schon mit dem für den DDR-Film ungewöhnlichen Umstand, dass Böttcher sowohl im DEFA-Dokumentarfilmstudio Filme drehen konnte wie auch im Spielfilmstudio – in der Regel wurden die institutionellen Grenzen hier strikt eingehalten. Böttcher war aber nicht nur Grenzgänger zwischen den Gattungen und den dazugehörigen DEFA-Institutionen. Er wanderte auch zwischen den Künsten: Von 1955 bis 1960 hatte er Regie in Potsdam-Babelsberg studiert, zwischen 1949 und 1953 Malerei in Dresden. Als Maler arbeitete er unter dem Pseudonym Strawalde. Schon in seinem Namen liegt somit etwas Doppeltes, Grenzgängerisches. Als Maler Strawalde war er bis 1989 mit einem Berufsverbot belegt. Seit 1961 aus dem Verband der Bildenden Künstler ausgeschlossen, bedeutete dies, dass er seine Bilder nicht in Ausstellungen zeigen durfte und er kaum Verkaufsmöglichkeiten besaß – dass er als Maler also praktisch mit Berufsverbot belegt war. Öffentlich sichtbar wurde Böttcher-Strawaldes künstlerische Seite in einigen

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seiner DEFA-Filme. Besonders seine Filmtrilogie VERWANDLUNGEN wurde in der DDR der 1980er Jahre zum Vorbild für die Untergrund-Filmszene, die seine Techniken des Übermalens und Verarbeitens fremder Materialien im Film rezipierte (vgl. Löser 2011, S. 105). Böttchers zwiespältige Position im Dazwischen rührte schließlich auch daher, dass er Parteikünstler war. Er realisierte eine ganze Reihe von Repräsentations- und Auftragsfilmen für die SED zu Parteitagen und anderen offiziellen Anlässen. Böttcher selbst bezeichnete diese Produktionen später als „Strafarbeiten“ (ebd., S. 104). Wiederum wurden einige seiner Filme auch verboten: sein erster Film DER JUNGE MIT DER LAMPE von 1957, seine Filme DREI VON VIELEN (1961) und BARFUß UND OHNE HUT (1964). Sein ebenfalls verbotener Spielfilm JAHRGANG 45 von 1965/66 entstand in den Monaten nach dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965. In dessen Folge wurden fast alle neuproduzierten DEFASpielfilme aus der Öffentlichkeit gezogen. Auch Böttchers Film gehörte zu den Opfern dieses oft so genannten ‚Kahlschlagplenums‘. Wie die anderen Verbotsfilme auch wurde JAHRGANG 45 als ‚dekadenter‘, ‚skeptizistischer‘, westlich beeinflusster, ‚sozialismusfeindlicher‘ Film verurteilt (vgl. Kötzing/Schenk 2015). Noch in der Rohschnittfassung wurde er abgebrochen und im Staatlichen Filmarchiv der DDR unzugänglich eingelagert. Das Kahlschlagplenum 1965 und seine Folgen waren ein Trauma für Jürgen Böttcher persönlich wie für den gesamten DEFA-Film. Es brauchte mehrere Jahre, bis sich die Filmproduktion aus der darauffolgenden Starre wieder lösen konnte. In der Zeit danach realisierte Böttcher einige der erwähnten „Strafarbeiten“, etwa den Dokumentarfilm WER DIE ERDE LIEBT von 1973 über die X. Weltfestspiele der Jugend in Berlin. Seit Ende der 1970er Jahre änderte sich dies, und Böttcher prägte mit seinen Filmen den berühmten DEFA-Stil des Dokumentarfilms wesentlich mit (vgl. Stanjek 2012) – es entstanden Produktionen wie MARTHA über eine Berliner Trümmerfrau, sein Weimarfilm oder IM LOHMGRUND über den Bildhauer Peter Makolies. Diese Filme haben wenig mit Propaganda, positiven Helden und Sozialistischem Realismus zu tun, eher mit genauem und nahem Beobachten, mit ruhigen und langen Einstellungen, mit dem häufigen Verzicht auf Kommentar oder Musik. In den 1980er Jahren verschwindet dann auch die Sprache immer mehr aus seinen Filmen. Böttcher sagte, was in seinen Filmen bis dahin zur Sprache gekommen war, habe ihm nicht mehr genügt. Er habe gewusst, „es sind noch Dinge darunter, die eigentlich öffentlich werden müssten“ (Böttcher 2008). Indem er selbst die Sprache einstellte, reagierte er auf das öffentliche Verschweigen einer ganzen Reihe von Tabu-Themen in der DDR. Er begann, in seinen Filmen das gesprochene Wort ganz und gar zu meiden. In seinem berühmten Film RANGIERER (1984) gibt es gar keine Fragen mehr, nur noch stumme Annäherungen an sein Gegenüber, etwa mit Blicken.

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1990, im selben Jahr, in dem er seinen Film DIE MAUER drehte, sagte er in einem seiner Interviews, es habe ihm Spaß gemacht, das Wort aus seinen Filmen zu vertreiben. Er habe damit die „nötige Härte, Klarheit und Sachlichkeit“ erreichen wollen (ebd.). Jetzt allerdings, 1990, müsse er eigentlich zum Wort zurückkehren, denn nach dem Ende der DDR wäre das „nun Quatsch, ohne Worte“ (ebd.). Im selben Interview 1990 spricht er aber auch über sein Gefühl, in der DDR langjährig „so negativ verstrickt“ gewesen zu sein, dass er sich nun nicht hervortun könne mit Dokumentarfilmen über die Wende (ebd.). Und so wird auch DIE MAUER ein mehr oder weniger stummer Film. Im Grunde wird dort weiterhin die akustische Filmebene von Geräuschen und Wortfetzen beherrscht. Seine wesentlichen Beobachtungen zeigt er in gelegentlichen Blicken auf das Geschehen von der Seite her; Interviews gibt es nicht, höchstens kurze Nachfragen. Der biografische Aspekt kann an dieser Stelle zusammengefasst werden mit der Feststellung, dass Jürgen Böttcher beides war: Ein Außenseiter und Ausgeschlossener der DDR-Kulturszene mit Kontakten in den DDR-Untergrund, einer, der auch selbst Verbote und Verboten-Sein erlebte. Zugleich war er auch Parteimitglied, anerkannter Staatskünstler und Repräsentant der DDR im Ausland. Er gehörte zu den Privilegierten, die in der DDR überhaupt professionell Filme drehen durften. Böttcher war also ein Regisseur, der die loyalen Filme lieferte, die von ihm verlangt wurden, aber auch ein Künstler, der immer wieder genug Distanz hatte, um neue Wege im Dokumentar- und Spielfilm zu erproben. So ist auch Böttchers Film JAHRGANG 45 von 1965/66 ein außergewöhnlicher Spielfilm, der mit kaum einem anderen DEFA-Film vergleichbar ist. Die Idee, den Dokumentarfilmer Böttcher mit einem Spielfilm zu beauftragen, war im DEFASpielfilmstudio entstanden. Man wollte eine neue Form des DDR-Spielfilms, eine, die mehr von der Gegenwart zeigte, und eine, die mehr mit der alltäglichen Realität verbunden war. Der Grenzgänger Jürgen Böttcher mit seiner Dokumentarfilmerfahrung schien der Richtige zu sein, um dem DEFA-Spielfilm diese alltägliche Realität einzuflößen: „Vom Dokumentarfilmstudio aus hat man mir die Chance gegeben, weil es gewisse Kräfte gab im Spielfilmstudio, die auch Erneuerung wollten. Und es war eben bekannt, dass es eine ganz bestimmte Tendenz gab in der Welt, dass der Film erneuert wurde, sehr stark durch Leute, die mit dem Dokumentarischen umgehen konnten. “ (Zit. n. Seidel 2007, S. 75) Zu dieser Zeit waren im internationalen Film längst neue Stilrichtungen entstanden, die als Vorbilder dienten für einen solchen, ‚wahrhaftigeren‘ Spielfilm. Jürgen Böttcher selbst hat immer wieder gesagt, wie sehr ihn die Filme des italienischen Neorealismus aus der Nachkriegszeit beeinflusst hätten. Rossellini, Fellini oder De Sica hatten Techniken entwickelt, die das unmittelbar Erfahrene und Erlebte direkt auf die Leinwand bringen sollten. Anstelle von Studioaufnahmen fanden dazu Außenaufnahmen an Originalschauplätzen statt, Laiendarsteller wurden

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verpflichtet; die Filmgeschichten kreisten nicht mehr nur um ein kompaktes Zentrum, sondern nutzten Bruchstücke aus der Realität der Nachkriegswirklichkeit. 1965 tat Böttcher all dies auch. Vor allem verließ JAHRGANG 45 als erste DEFAProduktion die künstliche Welt der Studios und nahm sich die Großstadt Berlin als Kulisse – so, wie sie sich Mitte der 1960er Jahre zeigte: noch vom Krieg gezeichnet, mit Lücken und Leerstellen in der Stadt. Der Film schildert einige Tage aus dem Leben eines jungen Ehepaares in Berlin, das im Begriff steht, sich scheiden zu lassen. Das Augenmerk des 94 Minuten langen Schwarz-Weiß-Films liegt auf dem jungen Mann, Alfred. Der Film begleitet ihn über einige Urlaubstage, während derer er durch Berlin streift, Freunde trifft, Familie und Arbeitskollegen. Im Film geschieht nicht viel mehr als das – was die Aufmerksamkeit des Zuschauers weglenkt von der handlungs- und personengeleiteten Frage, ob seine Ehe nun halten wird oder nicht. Anstelle dessen wird der szenische Raum des Films bedeutsam: Ins Zentrum rücken einzelne Momente, die Alfred in Berlin erlebt. Böttcher unterstreicht dies mit dokumentarisch wirkenden Momentaufnahmen der Stadt: aus der S-Bahn heraus, im Hinterhof oder im Eiscafé. Direkt aus seiner Berliner Umgebung heraus griff sich Böttcher auch viele seiner Filmfiguren. Nicht die Protagonisten, aber die meisten ihrer Mitspieler sind Laiendarsteller. Etwa wird Alfreds Obermieter Mogul, ein alter Antifaschist, im Film von Jürgen Böttchers realem Obermieter Paul Eichbaum gespielt, einem älteren Mann mit ähnlicher Widerstandsbiografie wie die Filmfigur Mogul (vgl. Böttcher 2000, S. 15). Alexander Kluge hatte beschrieben, dass ein historisches Ereignis vom Film nur dann erfasst werden könne, wenn die Augen sich nicht verführen ließen von den Sensationen und Attraktionen, die das Ereignis begleiteten: In eben dieser Weise umkreist Böttcher mit seinem Film JAHRGANG 45 das Ereignis des Kriegsendes eher, als dass er es an einem Punkt packen würde. Er stellt ‚1945‘ nicht direkt dar, sondern wählt mit seinem Gegenwartsfilm aus dem Jahr 1965 eine Distanz von 20 Jahren. Dass es dabei im Grunde genommen aber immer um das Jahr 1945 geht, kündigt schon der Titel an, JAHRGANG 45. Die zwanzigjährigen Haupthelden dieses Films sind die im Jahr 1945 Geborenen. Sie durchstreifen eine Stadt Berlin, die von der Vergangenheit gezeichnet ist: Überall werden dabei Brandmauern, leere Stellen im Stadtraum und Einschusslöcher sichtbar. Alfred, der versucht, dem zu entfliehen, sagt an einer Stelle des Films zu seiner Mutter: „Opa kommt von früher nicht los, und du auch nicht. Es reicht, wenn Ihr das durchgemacht habt, ich leb’ heute. Das sagt Mogul auch. Heute, das ist meins. Versteh doch.“ (TC 0:45:00)3 Dabei

3 JAHRGANG 45 (DDR 1965/66, 1990), Regie: Jürgen Böttcher. TC: Zeitangaben nach der DVD: Icestorm 2015.

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allerdings ist sein Blick aus dem Fenster zu sehen, wie er sich Alfred in diesem Moment gerade darbietet: mit Brandmauern und leergebombter Stadtfläche. (Abb. 5.2) Das Filmbild zeigt hier sehr deutlich, dass auch Alfred „von früher“ nicht loskommen wird.

Abb. 5.2: JAHRGANG 45 (1965/66, 1990): Stadtraum mit Spuren der Vergangenheit.

Jürgen Böttcher filmt hier Geschichte 20 Jahre nach, oder eben auch neben 1945. Das Ereignis des Krieges wird in diesem Spielfilm angedeutet oder – wie Alexander Kluge sagen würde – gestreift, indem ein dokumentarisches Bild der Stadt Berlin in der Mitte der 1960er Jahre entworfen wird. Überall stößt der Film dabei auf Spuren der Vergangenheit. Diese Präsenz des Vergangenen betont Jürgen Böttcher, indem er das Drehbuch von Klaus Poche um zwei weitere Drehorte ergänzt. Die zusätzlich von ihm eingefügten Szenen heben den Aspekt der Geschichtlichkeit der Stadt nochmals hervor. Im Film sieht man zunächst Alfred und einen Freund auf einem der zugewachsenen Berliner Trümmerberge. (Abb. 5.3, 5.4) Der Freund sagt zu Alfred: „So’n Berg. Nur Trümmer. Halb Berlin liegt hier drunter“ (TC 1:02:32) und zeigt dabei nach unten. Wie später auch in seinem Film DIE MAUER verweist Böttcher hier auf den historischen Untergrund der sichtbaren Oberfläche beziehungsweise der sichtbaren Gegenwart. Gleich auf den Trümmerberg folgt seine zweite Einfügung in das Drehbuch: der Berliner Gendarmenmarkt, der in der DDR ‚Platz der Akademie‘ hieß. Die Freunde sitzen hier vor den Ruinen des noch zerstörten Platzes. (Abb. 5.5, 5.6) Es fahren Reisebusse ein, es steigen Westtouristen aus. Sie schauen und fotografieren. Die gesamte Szene wurde mit versteckter Kamera gefilmt. Für Böttcher war dies eine

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zentrale Szene – als Verweis auf das im DDR-Film verbotene Bild der Berliner Mauer und der Teilung Deutschlands (vgl. Böttcher 2000, S. 14 f.).

Abb. 5.3–5.6: JAHRGANG 45 (1965/66, 1990). 20 Jahre danach: Trümmerberg und Ruine.

Nach dem Verbot von JAHRGANG 45 drehte Jürgen Böttcher keinen weiteren Spielfilm mehr. Erst während der Wende 1989/90 wurde der Film fertiggestellt und im Februar 1990 erstmals auf der Berlinale vorgeführt. Böttcher sagte damals über die Folgen des Verbots, es sei für ihn „ein Schmerz“ gewesen, dass er nach dem Plenum 1965 nur noch indirekt an dem weiterarbeiten konnte, was ihn in JAHRGANG 45 beschäftigt hatte (Böttcher 2008). Das Indirekte des Dokumentarischen sei für ihn erst später zu einer bewussten Lebens- und Arbeitsform geworden (vgl. ebd.). Dieses Indirekte in Böttchers Arbeitsweise spielt auch eine Rolle bei seiner Beschäftigung mit Geschichte im Film: Es ist eine mögliche Antwort auf die Frage, wie vermieden werden kann, dass Film einerseits zur Historienmalerei wird, dass andererseits die kollektiven Geschichtsstereotype aber auch nicht einfach nur zertrümmert werden.

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Böttchers anderthalbstündiger Dokumentarfilm DIE MAUER ist ein Abbild dieser indirekten Vorgehensweise. Er entstand unter dem hohen Zeitdruck der sich 1989/90 überschlagenden Ereignisse nach dem Mauerfall – also unter Bedingungen, bei denen es besonders schwer war, sich der Attraktion der Ereignisse zu entziehen. Böttcher arbeitete bei diesem Film nach nur sehr kurzer Vorbereitungszeit mit einem kleinen Filmteam (vgl. Löser 2011, S. 108). Die Beweglichkeit, die er damit erreichte, ist im Film auch zu sehen: Er umkreist die Mauer aus allen nur denkbaren Perspektiven, ohne sich dabei von den Ereignissen an der Mauer selbst einfangen zu lassen. Die berühmte Silvesterfeier 1989/90 an und auf der Mauer zeigt er oft seitlich abseits stehend, zum Beispiel aus der distanzierten Ferne des leeren Mauerstreifens. Am Ende des Films gibt es eine Aufsicht auf das Mauergelände aus extremer Vogelperspektive, wenn das Filmteam von einem Hochhaus herab eine Menschenmasse von Konzertbesuchern an der Mauer aufnimmt. Der markanteste Seitenblick des Films auf die ehemalige Grenze ist jedoch eine Sequenz ganz zu Beginn des Films, wenn Böttcher die Mauer ‚von unten‘ erkundet und mit seinem Filmteam dazu in die Katakomben des stillgelegten U-Bahn-Bahnhofes ‚Potsdamer Platz‘ unterhalb der Grenzlinie steigt. Böttcher umkreist die Mauer von unten, von oben, von der Seite. Es ergibt sich dabei nicht nur einfach eine Gesamtsicht auf das Bauwerk. Man könnte auch sagen, hier ist enthalten, was Alexander Kluge das „neben dem Ereignis filmen“ nannte: Böttcher führt 1989/90 nicht die aus dem Fernsehen gewohnten Bilder der offenen Grenze vor und der darüber strömenden Menschenmassen. Wenn er etwa die unterirdischen Ausläufer der Mauer zeigt, dann bildet die Leere, die an dem einstigen Verkehrsknotenpunkt des U-Bahnhofs herrscht, einen wirksamen Kontrast zu dem oberirdischen Trubel des Mauerfalls. Diese Position jenseits des Zentrums der Geschehnisse macht den Blick frei für anderes. Im Film entsteht so etwa eine ganz besondere Wahrnehmung der Materialität der Mauer: Immer wieder zeigt Böttcher deren Oberflächen – den harten Beton, die Graffiti und eingeritzten Zeichnungen oder auch die ungewöhnliche Oberfläche einer verrosteten Metalltür im U-Bahn-Untergrund. Dies führt in DIE MAUER zu Momenten, die als Alexander Kluges zweiter Schritt, „Das Ereignis kurz streifen“, wahrgenommen werden können. Der Film visualisiert auf dieser zweiten Ebene das Ereignis des Mauerfalls als ein langsames Verschwinden. Die gewohnten Bildikonen des Mauerfalls – jubelnde Menschen, fassungslose Grenzpolizisten, das Feuerwerk über dem Brandenburger Tor – kommen zwar alle auch vor, aber eben nur am Rande. Die stereotypisierten Bilder der kollektiven Erinnerung werden von Böttcher vielmehr konkretisiert und in viele kleine Ereignisse des Mauerfalls zerlegt. Er filmte über Monate hinweg den Mauerfall und zeigte ihn wortwörtlich als ein langsames Fallen, ein Verschwinden der Mauer: Zu sehen sind immer wieder die mühsamen Abrissarbeiten der Bagger; zu

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sehen und zu hören sind im gesamten Film auch die sogenannten Mauerspechte, die Steine als Andenken aus dem Bauwerk klopfen und es auch damit zum Verschwinden bringen. Dem Zuschauer wird durch diese durchweg präsenten Mauerklopfer vorgeführt, welche Mühe es kostete, die begehrten Steine aus dem harten Beton zu schlagen. (Abb. 5.7) Aufgenommen wird auch die Performance einer Tänzerin an und mit der Mauer. (Abb. 5.8) Wieder geht es dabei um Materialität: Die Performance zeigt das Harte und Unüberwindliche des Mauerbetons, das immer noch Ab- und Zertrennende der Mauer – während die Mauerspechte im Hintergrund schon das Ereignis des Mauerfalls zu sehen und zu hören geben.

Abb. 5.7, 5.8: DIE MAUER (1990). Visualisierungen des Mauerfalls.

Alexander Kluges dritter Schritt auf dem Weg, Geschichte im Film zu fassen, ist schließlich, dasjenige zu finden, was „subjektiv tief im Gefühl“ des Filmemachers auf das gesamte Ereignis antwortet. 1989/90 ist Böttchers Antwort auf den Mauerfall, sich dem Augenblick des Ereignisses nicht vollständig zu überlassen, sondern an Geschichte und Vorgeschichte der deutschen Teilung zu erinnern. Insgesamt drei Mal projiziert er dazu Kompilationen historischer Schwarz-Weiß-Filmmaterialien direkt auf die Mauer: Die erste Projektion zeigt Filmaufnahmen des Mauerbaus 1961. Die zweite zeigt Paraden des Kaiserreichs, NS-Fackelzüge und Hakenkreuzfahnen am Brandenburger Tor, marschierende Soldaten, Goebbels und Hitler, Aufnahmen aus den letzten Kriegstagen mit den Ruinen des zerstörten Berlins. Die dritte Projektion inszeniert DDR-Filmaufnahmen. Unter diesen Filmmaterialien aus der DDR ist auch der Mauerfall enthalten. Dieser liegt zur Drehzeit des Films zwar erst wenige Wochen zurück, wird in DIE MAUER aber schon als ein Ereignis in Schwarz-Weiß historisiert und in die Ferne gerückt.

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In allen drei Projektionen tauchen hier nun die von Böttcher sonst gemiedenen kollektiven Bildikonen auf – zum Beispiel die Mauerfall-Bilder oder das Bild des im August 1961 in letzter Minute über den Stacheldraht springenden NVASoldaten. (Abb. 5.9) Allerdings werden diese und andere Ikonen im Film nicht ‚pur‘ vorgeführt. Böttcher baut für die Vorführung dieser Geschichtsstereotype eine spezielle Wahrnehmungskonstruktion auf, die sie rahmen und zugleich deuten: Die Bilder, die jeder kennt, weil sie ‚Geschichte schrieben‘, projiziert er auf die gerade noch bestehende Berliner Mauer. Dabei zeigt er auch den Wahrnehmungsapparat, also die ‚Gemachtheit‘ dieser Bilder und ihre Abhängigkeit von der Wahrnehmungssituation: Zu sehen ist der Projektor, das ratternde Filmband, das vorführende Filmteam, die zufälligen Zuschauer am Rande, das Geröll zu Füßen der Mauer und der körnige Projektionsuntergrund der Mauer selbst. (Abb. 5.10–5.12)

Abb. 5.9–5.12: DIE MAUER (1990): Geschichte, subjektiv präsentiert.

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Diese drei historischen Kompilationen sind durch und durch subjektiv. Als „künstlerische Performance par excellence“ (Löser 2000, S. 48) konfrontiert Böttcher den Zuschauer hier mit der historischen Dimension der Mauer, wie er sie selber sieht. Die Filmmaterialien werden in einer von ihm bestimmten, subjektiven Auswahl präsentiert, ebenso in einer von ihm bestimmten Montage. Auch die Projektion der ‚Historienbilder‘ auf die Mauer als Schwarz-Weiß-Film und das Vorzeigen des dazugehörigen Wahrnehmungsapparates vermitteln eine persönliche Sicht des Regisseurs. Betrachtet man zudem die Inhalte der drei Sequenzen, dann erscheint das Bild, das er vom Mauerfall entwirft, wie ein Echo des eingangs zitierten Böttcher-Satzes, dass das „Unfassbare“, das er in Kindheit und Jugend bis 1945 erlebt hatte, im Film gezeigt werden müsse, „weil es sich sonst nicht gelohnt hätte“, weil es sonst sinnlos gewesen wäre. Das damals als „unfassbar“ Erlebte versucht er mit den drei historischen Projektionen in einen historischen Ablauf zu bringen und ihm damit einen Sinn zu verleihen. Für den 1931 geborenen Böttcher ist es nicht denkbar, den Mauerfall zu zeigen, ohne zugleich auch nach den Gründen für die Existenz der Mauer zu fragen. Die unmittelbaren, positiven Emotionen des Mauerfalls 1989 kann er dem Zuschauer nur distanziert und historisch gerahmt zu sehen geben. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Jürgen Böttchers dokumentarische Vorgehensweise, Filme zu drehen, sich grundsätzlich unterscheidet von einem gebannten Starren auf das dargestellte Ereignis. Dieses Starren wäre der faszinierte Blick, der sich den Ereignissen und Gefühlen überlässt und sich in ihnen treiben lässt. Böttchers historisch gerahmter Blick von der Seite her mag dieses Sich-Verlieren im Augenblick vielleicht nur für kurze Momente gewähren. Dafür ergeben sich aber – „wenn man Glück hat“, wie Alexander Kluge sagt – eher ein Gesamteindruck aus der Distanz und ein Blick, der ‚Wesentliches‘ zu erschließen vermag: vielleicht eine Atmosphäre, vielleicht Widersprüche und Paradoxien, vielleicht auch unausgesprochene und versteckte Fantasien, Ängste und Hoffnungen, die Ereignisse wie 1989 und 1945 begleiten.

Filmverzeichnis DOKUMENTARISCH ARBEITEN 1. KLAUS WILDENHAHN, JÜRGEN BÖTTCHER, PETER NESTLER, VOLKER KOEPP (D 2008), Regie: Christoph Hübner. JAHRGANG 45 (DDR 1965/66, 1990), Regie: Jürgen Böttcher, Drehbuch: Klaus Poche. DIE MAUER (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Jürgen Böttcher.

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Literaturverzeichnis Biographische Datenbanken, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. https://bit. ly/2UY5Ozz, letzter Zugriff am 24.06.2018. Böttcher, Jürgen (2000): „Filmsplitter. Fragmentarisches über die Anfänge“. In: DEFA-Stiftung (Hg.): Apropos: Film 2000. Berlin: Das Neue Berlin, S. 10–19. Böttcher, Jürgen (2008): „Der Moment, der ist“ [1990]. In: Christoph Hübner: Dokumentarisch arbeiten 1. Klaus Wildenhahn, Jürgen Böttcher, Peter Nestler, Volker Koepp [DVD]. München: Filmmuseum, Goethe-Institut. Combrink, Thomas (2014): „Kommentar“. In: Alexander Kluge: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. Mai 1945. Berlin: Suhrkamp, S. 89–122. DEFA-Stiftung (Hg.) (2000): Apropos: Film 2000. Berlin: Das Neue Berlin. Kluge, Alexander (2007): Geschichten vom Kino. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kötzing, Andreas/Schenk, Ralf (Hg.) (2015): Verbotene Utopie. Die SED, die DEFA und das 11. Plenum. Berlin: Bertz + Fischer. Kreimeier, Klaus (2009): „Gedämpfte Töne, Wortsplitter, halbe Sätze, kaum ein Lachen. Über einige Filme von Jürgen Böttcher“. In: Tobias Ebbrecht et al. (Hg.): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg: Schüren, S. 23–37. Löser, Claus (2000): „Zum Oeuvre Jürgen Böttchers. Kritisch kommentierte Filmographie“. In: DEFA-Stiftung (Hg.): Apropos: Film 2000. Berlin: Das Neue Berlin, S. 35–48. Löser, Claus (2011): Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR. Berlin: DEFA-Stiftung. Roberts, David (1983): „Alexander Kluge und die deutsche Zeitgeschichte“. In: Thomas BöhmChristl (Hg.): Alexander Kluge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 77–116. Seidel, Falko (2007): Der Künstler im Staat. Die Lebenswelt der DDR in den Filmen des DEFA-Dokumentaristen Jürgen Böttcher. Saarbrücken: VDM. Stanjek, Klaus (Hg.) (2012): Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms. Berlin: Bertz + Fischer. Stollmann, Rainer (1998): Alexander Kluge zur Einführung. Hamburg: Junius.

Stephan Brössel

„Alles oder nichts“: ‚Romantische‘ Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1973) Einleitung: Ein Film als moderner Mythos Die Legende von Paul und Paula erzählt von der Kraft der romantischen Liebe. Paul (Winfried Glatzeder) und Paula (Angelica Domröse) sind das utopische, ideale Paar, dessen unbedingte Liebe die Schranken des Milieus, der repressiven Gesellschaft, selbst des Todes überwindet [. . .]. Erlösende Kraft besitzt diese Liebe zunächst für Paul, durch Identifikation mit der unbekümmerten und veränderungsbereiten Paula aber auch für den Zuschauer: Die Widersprüche und Uneindeutigkeiten der Moderne, zu der auch die Erfahrung der Diktatur gehört, scheinen vorübergehend gelöst. (Barnert 2014, S. 235)

Die LEGENDE VON PAUL UND PAULA genießt offenkundig den Ruf eines modernen Mythos. So liest man über Heiner Carows Film aus dem Jahr 1973 im Metzler Lexikon moderner Mythen weiter, es handele sich spätestens seit den 1990er Jahren um einen „ostdeutschen Kultfilm“ (ebd.), der durch eine „Mischung verschiedener Erzählstile“ und die „Kreuzung von konkrete[m] Zeitkontext mit legendhaften Überhöhungen“ besteche.1 In der DDR treffe der Film das Zeitgefühl der 1970er Jahre. Der wichtigste Aspekt seiner Wirkung sei sein „dominierendes Erlösungs- bzw. Bekehrungsmotiv“: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA erfülle die „Hoffnungen auf Liebe und Erotik als subversive, befreiende Kraft“ (ebd.) und könne daher auch als Film gelesen werden, der den gesellschaftlich-politischen Anpassungsdruck der beginnenden Honecker-Ära zunehmend ins Individuelle und Innere verlagere. Abschließend wird gar konstatiert: „Mit seinem vieldeutbaren Versprechen einer Selbstbefreiung des Menschen aus den ihn beherrschenden Zwängen ist der Film [. . .] für eine Vielzahl moderner Lebenserfahrungen anschlussfähig geblieben und weist über seine regionale Bedeutung als DDRMythos weit hinaus.“ (Ebd., S. 236)

1 Mit dieser Aussage wird natürlich auch auf den Titel des Films hingedeutet, der die Erzählung in die Nähe der Textgattung ‚Legende‘ rückt. Bei der Legende handelt es sich um eine „Gattung meist kurzer, erbaulicher Erzählungen von heiligen Personen, Dingen oder Ereignissen“ (Kunze 2007, S. 389). In einem engen Sinne sind damit Texte der Hagiografie gemeint, in einem weiten Verständnis wird der Bezug auf Heilige und das Kriterium der Erbauung generell aufgehoben (vgl. ebd., S. 390) und ersetzt durch das Kriterium der „Relevanz, d. h. der Darbietung bedeutungsvoller und zur Daseinsbewältigung verwertbarer Heilstatsachen“ (ebd.). Der kommunikative Rahmen, den damit DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA im titelgebenden Selbstanspruch setzt, könnte deutlicher nicht sein. https://doi.org/10.1515/9783110629408-007

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Hiermit sollte eine Behandlung des Films in einem Band zur Rekonstruktion der filmischen Modellierung der DDR, wie dem vorliegenden, hinlänglich legitimiert sein. Wenn dem Film – auch heute noch2 – ein Kultstatus zugesprochen wird, dann liegt die Vermutung nahe, dass ihm rückblickend die Eigenschaft zugeschrieben wird, auf besondere Weise mit Wissenselementen umzugehen, mit zentralen Problem- und Fragestellungen seines Entstehungskontextes, eben der Kultur, die ihn als filmisches Produkt hervorgebracht hat. Der Film kann daher – in kultursemiotischer Perspektive – als künstlerischer ‚Text‘ aufgefasst werden, durch den sich ‚Kultur‘ ausdrückt und sich über sich selbst verständigt. Kultstatus und Mythenbildung sprechen zusätzlich dafür, dass es sich bei dem Film um einen besonders repräsentativen ‚Text‘ handelt, der das von ihm gewählte Sujet signifikant verhandelt.3 Nun hat eine Analyse, die von diesen Prämissen ausgeht, die Frage zu klären, welche Problemkonstellationen der Film aufgreift und wie er diese verarbeitet: Was erzählt DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA und auf welche Art und Weise erzählt der Film es? Auch mit Blick hierauf ergibt sich eine erste Beobachtung ausgehend vom zitierten Artikel im Metzler Lexikon moderner Mythen: Im Zentrum aller Bemühungen, den Film als Mythos zu deklarieren ‒ oder der Mythenbildung auf den Grund zu gehen ‒, steht seine Liebesthematik. Die Liebe ist es – so eine Erkenntnis dort und eine Ausgangshypothese hier – , die den Menschen befreit, die sich auflehnt gegen gesellschaftliche Repression und die offenbar auch Anlass ist zu deviantem, besonders ‚markiertem‘ Erzählen. Der vorliegende Beitrag verfolgt dementsprechend eine Grundlagenanalyse und strebt Erkenntnisse an, die auf einer filmimmanenten Auseinandersetzung basieren: Es geht grundsätzlich um die Rekonstruktion dessen, welche Welt der Film modelliert, durch welche Merkmale und Regularien diese Welt gekennzeichnet ist und wie dies auf der filmischen discours-Ebene präsentiert wird. Verzichtet wird damit vorderhand auf eine kontextuale Sichtweise auf den Film. Vielmehr soll aus ihm selbst heraus geklärt werden, warum Liebe eine so wichtige, und zwar: strukturgebende Größe darstellt, mit der Funktion, eine subtil sozialkritische Aussage zu treffen, und wie der Film es damit schafft, ein alternatives „Menschenbild und Lebensgefühl“ (Lüdeker/Orth 2010, S. 7) zu vermitteln.

2 Neben dem Artikel im Lexikon moderner Mythen vgl. etwa Maxwill 2013 und Buchholz 2010, S. 33. 3 Für eine weiterführende kultursemiotische Analyse verweise ich auf den Fragenkatalog bei Nies 2011, S. 220.

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Liebe versus Realität: Zur semantischen Grundordnung des Films Carows Film fokalisiert im Wesentlichen auf die beiden titelgebenden Hauptfiguren. Paula stößt als alleinerziehende Mutter im Alltag und in der Bewältigung von Arbeit, Kinderbetreuung und Haushalt an ihre Grenzen. Glücklos ist sie auf der Suche nach einer festen und vor allem auch für sie befriedigenden Beziehung zu einem Mann. Zwar wird sie als attraktive Frau durchaus vom anderen Geschlecht wahrgenommen: Die einen Männer aber sind unzuverlässig und untreu, die anderen schlicht zu alt. Ihr Nachbar Paul seinerseits ist unglücklich verheiratet mit einer treulosen Frau und arbeitet als Staatsbediensteter in einer aussichtsreichen Stellung (Kader). Paul und Paula verlieben sich während eines Konzerts und beginnen vorsichtig eine Affäre. Während Paul zunächst zurückhaltend agiert, gibt sich Paula vollends ihren Gefühlen hin. Nachdem eines von Paulas Kindern bei einem Unfall ums Leben kommt, nimmt sie Abstand von Paul. Er wiederum erkennt den Wert der gemeinsamen Liebe und gibt – vorübergehend – sein bisheriges Leben auf. Es kommt zum temporären sozialen Aus- und Abstieg Pauls, bevor er – einem Appell vonseiten seiner Arbeitskollegen und seiner Dienststelle folgend – erneut zu seiner Familie zurückkehrt. Er erkennt jedoch die nachhaltige Treulosigkeit seiner Frau und überwindet schließlich auch alle Grenzen zu Paula: Es kommt zur Wiedervereinigung der beiden. Sie zeugen ein Kind, bei dessen Geburt Paula ihr Leben lässt. Am Ende zeigt der Film Paul mit den gemeinsamen Kindern an einem Morgen im Bett liegend – im Aufbruch begriffen zu etwas Neuem, der durch den Wohnungsauszug angezeigt wird. So weit die wesentlichen Geschehensmomente des ordo naturalis. Ganz offensichtlich bildet der Komplex ‚Paarbildung‘ den roten Faden der Filmerzählung: Es geht fortwährend darum, einen Partner/eine Partnerin zu finden, die richtige Partnerwahl abzuwägen, eine Beziehung aufzubauen. Dass hierbei durchaus von einem Komplex – und nicht etwa von einem bloßen Motiv – die Rede sein kann, verdeutlicht ein Blick auf die semantische Grundordnung des Films. Denn ausgehandelt über verschiedene Nuancen der Paarfindungsproblematik wird zusätzlich das Verhältnis des Individuums zur dargestellten Realität. (Abb. 6.1) Die Paarfindungs- und Paarbildungsthematik prägt die im Film entworfene Wirklichkeit in hohem Maße: Alle im Zentrum stehenden Figuren müssen sich mit ihr auseinandersetzen, um in der Welt zu bestehen – und das heißt hier vor allem: einen harmonischen Ausgleich zu finden zwischen privatem und öffentlich-gesellschaftlichem Leben.

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Realität körperlichsexuelle Affinität Paarfindung

Realisierung des harmonischen Ausgleichs von privatem und offentlichem Leben

sozialökonomische Sicherheit

Abb. 6.1: Relevante Teilbereiche der dargestellten Realität in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA. Gelesen: Paarfindung ‒ motiviert durch sexuelle Affinität oder das Bedürfnis nach ökonomischer Sicherheit ‒ ist notwendig für eine Realisierung des harmonischen Ausgleichs von privatem und öffentlichem Leben.

Bereits die junge Paula – die erzählte Zeitspanne des Films umfasst mehrere Jahre – wird als alleinerziehende Mutter eingeführt, die auf der Suche nach einem Mann ist: Ihre aus einer Rummelplatz-Romanze hervorgehende Beziehung zu einem unbedarften Frauenhelden beschert ihr weiteren Nachwuchs, nicht aber eine längerfristige Bindung und Sicherheit ‒ er betrügt sie noch während sie gebärend im Krankenhaus weilt. Paul findet seine künftige Frau mit Ines ebenfalls auf einem Rummelplatz; sie ist die Tochter eines Ständebetreibers. Bezeichnend für diese und alle weiteren Paarbildungsoptionen sind die zwei Alternativen, die vorgeführt werden: Paula wird in ihrer Wahl von körperlich-sexueller Affinität geleitet; sie findet den jungen Mann in allererster Linie attraktiv und lebt mit ihm – schon gleich am Abend des Kennenlernens – ihre Sexualität aus (TC 0:10:53).4 Das erste Treffen hingegen von Paul und Ines ist gekennzeichnet durch eine Konzentration auf die in sozialer und ökonomischer Hinsicht absichernde Existenz, die mit der künftigen Paarbeziehung in Aussicht steht. Ines’ Fragen an Paul belegen dies ganz deutlich (TC 0:12:23). Einer der beiden Aspekte steht stets im Fokus: Bei Herrn Saft, der jahrelang um Paula wirbt, ist es der Aspekt der sozial-ökonomischen Absicherung – er verfügt über finanzielle Mittel und Immobilien. Bei Ines’ Liaison mit einem namenlosen

4 DIE LEGENDE VON PAUL der DVD: Kinowelt 2009.

UND

PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow. TC: Zeitangaben nach

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Liebhaber geht es allein um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse – sie findet allerdings statt vor dem Hintergrund einer nach außen hin funktionierenden Ehe und vermeintlich heilen Familie. Kurzum: Wer einen Lebenspartner findet, wer in der Ehe lebt und eine Familie gründet, der/die ist bestmöglich funktionierender Teil der Gesellschaft und im besten Fall zusätzlich persönlich zufrieden. Harmonische Realisierung des Ausgleichs beider Lebensbereiche – des privaten und öffentlichen Bereichs – bedeutet, die angestrebte Verwirklichung der Werte ‚persönliche Ausgeglichenheit‘ und – wichtiger noch – ‚funktionierender Teil der Gesellschaft‘ sowie die wechselseitige Bedingtheit beider. Dass nun aber dieses Modell für den Film zu kurz greift, liegt begründet in der als exzeptionell gekennzeichneten und im Fokus stehenden Beziehung zwischen Paul und Paula. Die dargestellte Welt sieht nämlich nicht allein Sexualität und ökonomische Absicherung vor, sondern auch Liebe als Grundpfeiler der Partnerwahl. Während alle bislang genannten Paarbildungsvarianten allein durch die beiden ersten Aspekte geprägt sind, führt die Beziehung zwischen Paul und Paula zusätzlich eine grundlegende Alternative vor Augen. (Abb. 6.2)

Abb. 6.2: Semantische Grundordnung der dargestellten Welt in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA mit den abstrakt-semantischen Räumen 1 (Realität) und 2 (Liebe) und ihren dominanten Merkmalen.

Das präsentierte Weltmodell gliedert sich in die abstrakt-semantischen Räume ‚Realität‘ (sR 1) und ‚Liebe‘ (sR 2). ‚Realität‘ ließe sich mit ‚Alltagswirklichkeit‘ übersetzen, als Gesamtheit von lebensweltlichen Aspekten wie routinierte Abläufe, allgemeine (z. B. häusliche) Verpflichtungen, die berufliche Tätigkeit,

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zwischenmenschliche Bindungen (z. B. in der Familie) im Zusammenhang mit Subjekten dieser Beziehungen (z. B. Arbeitskollegen, Familienmitglieder) usw. Ausgehend von der Paarfindungsvariante A ist Liebe nur in einer minimalisierten Form ansteuerbar – beispielsweise ersichtlich an der nur angedeuteten Beziehung zwischen Herrn Saft und Paula; hier wäre wohl Liebe zumindest einseitig gegeben. Unabhängig allerdings davon, ob in dieser Hinsicht eine minimale Liebe realisiert wird oder nicht, findet in dieser Variante eine Ausrichtung des persönlichen Lebens am gesellschaftlich-öffentlichen statt, gekoppelt an Konformität und – leider auch – Unglück: Zu beobachten an Ines’ Eltern, die entweder streiten oder ansonsten über das Geschäft sprechen, oder auch an der Ehe Pauls, die allenfalls als defektiv bezeichnet werden kann. Da aber eine minimalisierte Form der Liebe anzunehmen ist, ergibt sich ein Schnittmengenbereich zwischen beiden semantischen Räumen, der von potenziell allen Figuren betreten werden kann. Alternativ zur ersten Variante führt der Film eine Paarfindungsvariante B vor – nämlich die der Hauptfiguren – , mittels derer ein Maximum an Liebe erreicht werden kann. Damit einher geht eine Umkehrung der wesentlichen Merkmale von ‚Realität‘: die Ausrichtung des öffentlichen Lebens am persönlichprivaten, Non-Konformität und Glück. Variante A ist nicht-ereignishaft und gilt in der dargestellten Welt als gesetzter Normalfall, Variante B ist ereignishaft. Nun ist aber freilich Variante B nicht nur ereignishaft, sondern zudem auch als Problem markiert: Es soll oder kann nicht funktionieren mit Paul und Paula; ihre Verbindung hat im Rahmen der dargestellten Welt keinen Bestand. Und doch ist der Umgang des Films mit diesem Problem bemerkenswert. Einerseits lässt der Film das Figurenpaar scheitern. Andererseits wird dieses Scheitern vonseiten der Figuren bewusst hingenommen (und im Gegensatz zur Möglichkeit etwa, dass es sie ohne ihr Zutun und ‚von außen‘ ereilt) und auch auf der übergeordneten Filmerzählebene wird es nicht als dramatisches und niederschmetterndes Scheitern inszeniert, sondern hat einen alles in allem versöhnlichen Grundton. Obschon die Liebe zwischen Paul und Paula also ereignishaften Charakter hat, so hat die Grenzüberschreitung der Figuren doch kein Metaereignis, keinen Umsturz des Ordnungsgefüges zur Folge – trotzdem wird das Gefüge, wie es der Raum ‚Realität‘ repräsentiert, nachhaltig angezweifelt und als morbide und überholungsbedürftig ausgestellt. Das ist nicht unwichtig, wenn es um die Frage geht, wie hier die DDR modelliert wird, die ja als kulturelles System, in das sich die Handlung einbettet, präsupponiert ist. Wenn nun aber Liebe einen derart hohen Wert darstellt, dann ergeben sich folgerichtig vorrangig die Fragen, wie Liebe konkret realisiert und in die

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Ereignisstruktur des Erzählten übertragen ist, und zugleich auch, wie sich dies wiederum auf Ebene der filmisch-narrativen Präsentation (discours) zeigt.5

‚Romantische‘ Liebe: Zum literaturgeschichtlichen Hintergrund eines Entwurfs exzeptioneller Liebe und seiner filmischen Realisierung In einer Sequenz kommt es zum Schlagabtausch zwischen Paul und Paula, bei dem sie die Zukunftsfähigkeit ihrer Liebe offen thematisieren. Paul: Ist doch ganz nett hier, was? Paula: Es ist vorbei, ja? Paul: Ach, i wo! ‒ Das . . . das dauert noch ’ne ganze Weile hier oben. (Sie dreht sich hadernd weg) Paula: Du hast recht. Ich bin vielleicht zu . . . Paul: Ja! Ja, ja! Du bist zu . . . zu . . . Was du willst, geht doch nicht. Paula (beginnt zu weinen): Wat will ick denn schon. Paul: Alles oder nichts willst du. Paula (schreit): Na, und?! Paul: Hör mal, es gibt Verpflichtungen. Denen muss man nachkommen. Keiner kann immer bloß das tun, was er will. Vorläufig jedenfalls ist das so. Paula: Aber einfach glücklich sein. Paul: Aber nicht auf Kosten anderer. Paula (schreit): Und wenn doch! (Dreht sich schluchzend weg; weint) ’Tschuldige. Sehen wir uns noch? Paul (süffisant-lächelnd): Aber natürlich. Wir können doch Freunde bleiben. (Sie ohrfeigt ihn, umschlingt dann seinen Hals und küsst ihn leidenschaftlich. Läuft nach hinten aus dem Bild hinaus; TC 1:11:50‒1:13:37)

5 Man kann den Film demnach auch als Liebesfilm bezeichnen, der sich aufgrund seiner Thematik und seines narratorialen Fokus in diesem Feld zu lokalisieren scheint (vgl. zu Kennzeichen des Liebesfilms jüngst Orth 2019). Liebe hier allerdings ist funktional verschaltet mit fundamentalen Fragen des Umgangs mit Realität und reicht daher über den Status eines ‚harmlos-smarten‘ Liebesfilms hinaus. Zur Funktionalisierung des smarten Liebesfilms vgl. auch Schmidt 2014, S. 39–43.

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Wenn Paul Paula unterstellt, sie wolle „alles oder nichts“ und damit die Unabdingbarkeit ihrer Liebe nahelegt, wenn Paula buchstäblich hin- und hergerissen ist zwischen ihren Gefühlslagen, ja ihren Leidenschaften regelrecht ausgeliefert zu sein scheint, dann legt der Film damit offen, dass er Bezug nimmt auf ein zentrales Konzept des Literatursystems der Goethezeit (1770–1830):6 Das Konzept der sogenannten romantischen Liebe. Es seien einzelne exemplarische Fälle für die literarische Modellierung dieses Konzeptes schlaglichtartig an- und ihre gemeinsamen Merkmale zusammengeführt. Bekanntlich muss sich bereits Goethes Werther in Die Leiden des jungen Werthers (1774) mit einer übermäßigen Liebe herumschlagen – und an ihr im Suizid zugrunde gehen. Im Brief vom 30. August (1771) schreibt die Figur an ihren Freund Wilhelm: „Was soll all diese tobende endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr, als an sie, meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles um mich her, sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr.“ (Goethe 1962, S. 61) Anhand dessen lassen sich drei wesentliche Merkmale ableiten: Werther beschreibt die eigene emotionale Befindlichkeit als hochgradig leidenschaftlich. Er versieht Lotte rekurrent mit der Semantik einer Heiligen. Und er überträgt seine Fokussierung auf sie in die Wahrnehmung seiner sonstigen Umwelt. Die geliebte Person steht im Mittelpunkt seines Denkens, Fühlens und Handelns – sein Umgang mit ‚Welt‘ wird von diesem Ausleben der Gefühlslage bedeutend beeinflusst. In Friedrich Schlegels Lucinde (1799) liest man über die beiden Hauptfiguren Julius und Lucinde: „Lucinde hatte einen entschiedenen Hang zum Romantischen, er fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eigenen selbstgedachten und selbstgebildeten.“ (Schlegel 1962, S. 53) Und: Sie waren nur wenige Tage allein, als sie sich ihm auf ewig ergab und ihm die Tiefe ihrer großen Seele öffnete, und alle Kraft, Natur und Heiligkeit, die in ihr war. [. . .] In einer Nacht wechselten sie mehr als einmal heftig zu weinen und laut zu lachen. Sie waren ganz hingegeben und eins und doch war jeder ganz er selbst, mehr als sie es noch je gewesen waren, und jede Äußerung war voll vom tiefsten Gefühl und eigenstem Wesen. (Ebd., S. 54)

Die liebenden Figuren sind hier gar semantisch korreliert mit dem Romantischen, das in Schlegels Text offensichtlich in zwei Hinsichten konstituiert ist: in der Einswerdung mit dem Gegenüber und dies in der Abgeschlossenheit einer eigenen, von der „gemeinen Welt“ abgeschiedenen Welt. Damit im Ver-

6 Zur Kategorie des Literatursystems im Allgemeinen – auch in Relation zu ‚Epoche‘ – vgl. Titzmann 2013, S. 171–179; zu einigen Bereichen (der Anthropologie) der Goethezeit im Besonderen vgl. Titzmann 2012a.

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bund stehen abermals Heiligkeit und Natur, mit heftiger (auch wechselhafter) Affektivität sowie mit (hier: changierend-ambiger) Subjektivität, in deren Auffassung der Eine im Anderen zu sich selbst findet. Schließlich findet sich das Konzept ebenfalls deutlich ausgeprägt in seiner ironischen Brechung, etwa in den späten Texten Ludwig Tiecks wie Des Lebens Überfluß (1839). Darin zieht sich ein Liebespaar aus der Welt zurück und lebt in höchster Armut ‒ allein von der gegenseitigen Liebe.7 So vergingen den Vereinsamten, Verarmten und doch Glücklichen Tage und Wochen. Die dürftigste Nahrung fristete ihr Leben, aber im Bewußtsein ihrer Liebe war keine Entbehrung, auch der drückendste Mangel nicht, fähig, ihre Zufriedenheit zu stören. Um in diesem Zustande fortzuleben, war aber der sonderbare Leichtsinn dieser beiden Menschen notwendig, die alles über der Gegenwart und dem Augenblick vergessen konnten. (Tieck 1986, S. 230)

Romantische Liebe – so kann in Anbetracht dieser Textbelege (und anderer mehr8) festgehalten werden – ist unter anderem durch den folgenden Merkmalsverbund geprägt: Maximale Unbedingtheit. Liebe muss unter allen Umständen umgesetzt, gelebt werden. Und Liebe ist absolut: Das Liebesobjekt ist unersetzlich und nicht austauschbar, das Subjekt selbst zeichnet sich durch Nicht-Verzichtbereitschaft aus. Es kann nur genau eine und nur eine optimale Liebe geben (vgl. Titzmann 2012b, S. 366). Das Maximum an Leidenschaftlichkeit. Massive, teils ‚überlastende‘ Emotionalität in allen Facetten ist nicht nur – subjektintern – im Liebenden stark ausgeprägt, sondern sie muss auch – subjektextern – nach außen kommuniziert werden – an den Partner wie auch an die Umwelt (vgl. Kremer 1997, S. 103). Das hat mit der „Intensivierung der emotionalen Besetzung“ (Titzmann 2012b, S. 366) im Sturm und Drang zu tun, aber auch mit der „Autonomie und Universalität des Gefühls“ (Kremer 2015, S. 132) in der Romantik. Das Gefühl – in der Literatur der Romantik – ist absolut (und wird nicht durch andere Gefühle relativiert) und autonom (und ist nur durch sich selbst begreifbar; vgl. Kremer 1997, S. 103). Die maximale Unbedingtheit der exzeptionellen Liebe und die einhergehende Maximierung von Leidenschaft sind in ihrer Radikalisierung mit Konse-

7 Weitergehend zum Text von Schlegel in der Entwicklung des Konzeptes ‚romantischer‘ Liebe vgl. Reinhardt-Becker 2015, S. 320. 8 Systematisch erfasst worden ist das Liebeskonzept der Goethezeit – in Abkehr von der Auffassung von ‚Liebe‘ in der Aufklärung/Empfindsamkeit – in Titzmann 2012b, mit Blick auf Goethe in Wünsch 1975, S. 67–90 und 191–193 sowie für die Romantik in Kremer 1997, S. 103–119. Dort (wie auch in Reinhardt-Becker 2005, S. 79–84) finden sich weitere Textbelege.

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quenzen behaftet, die literarische Texte im Spannungsfeld zwischen Autonomie des Subjekts, Partnerschaftlichkeit und kulturellem Normensystem experimentell abwägen.9 Überhöhung der geliebten Person. Der/die Andere wird als exzeptionell wahrgenommen und teils ins Heilige überhöht: „Der Partner wird zum höchsten Wert des Subjekts: ein summum bonum, das mit der Gottheit konkurriert.“ (Titzmann 2012b, S. 366; Hervorh. i. Orig.) Aufgebaut wird damit zum einen die Singularität, der Alleinstellungsstatus, die Unersetzbarkeit der geliebten Person gegenüber anderen potenziellen Liebesobjekten, wie auch zum anderen die Transzendierung der Liebe im Ideal. Die Projektion des eigenen Selbst in den Anderen und des Anderen in das Umfeld. Erlebnis- und Wahrnehmungssphäre des liebenden Subjekts stehen in einem notwendigen Bezugsverhältnis zum Liebesobjekt, das stets dominanter Teil des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens ist und zu dem alle anderen Objekte in Beziehung gebracht werden. Das betrifft auch die Selbstwahrnehmung: Das Liebesobjekt wird erachtet als essenzieller Teil des eigenen Selbst, zugleich findet sich das Subjekt selbst im Anderen wieder. Dies korreliert mit der Unbedingtheit der Liebe und der hohen Emotionalität – vor allem zeigt es das Zentrum an, worum es der goethezeitlichen Liebeskonzeption geht: die Frage nach der Autonomie des Subjekts, die in diesem Punkt in Form von Strukturen narzisstischer Überlagerungen zugleich problematisiert wird (vgl. Kremer 1997, S. 103). Zeitparadoxie. Liebe wird ewig gedacht, sie ist ein „Verlangen nach dem Unendlichen“ (Schlegel 1962, S. 59) und ist zugleich als „der heilige Genuß einer schönen Gegenwart“ (ebd.) konzipiert, bei der der gemeinsam erlebte Augenblick im Fokus steht. Liebe ist zeitparadoxal gestaltet; in ihr korreliert die Absolutsetzung des Gegenwärtigen mit der Aufhebung von Zeitlichkeit im Unendlichen.10 Dieses Konzept ist in der Kombinatorik seiner Merkmale spezifisch zu nennen. Dagegen spricht nicht die Tatsache, dass ‚überhöhte Liebe‘ (versehen mit entsprechenden Problemen in verschiedenen Codierungsstrategien) freilich auch schon in antiken, mittelalterlichen oder barocken Texten gefunden werden kann (vgl. Luhmann 1994, S. 49–56). Nicht zuletzt ist das goethezeitliche Liebeskonzept als Folge mehrerer denk- und mentalitätsgeschichtlicher Prozesse zu begreifen, die in der mittleren Aufklärung (oder: Empfindsamkeit) ab Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen und in der Auseinandersetzung mit der Wertigkeit 9 Nicht selten führt dies zur „Vision eines katastrophischen, blutigen Endes romantischer Liebe“ (Kremer 1997, S. 114). 10 Zur paradoxalen Gestaltung romantischer Liebe allgemein vgl. Kremer 1997, S. 103, 106 sowie Bickenbach 2015, S. 127–136.

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von Subjektivität, Autonomie und Gefühl münden. Allerdings ist in Abwägung der Begriffsverwendung und hinsichtlich der herangezogenen literarischen Beispiele zugleich auch eine Relativierung vorzunehmen: Romantische Liebe hat nur zum Teil mit dem Literatursubsystem der Romantik zu tun. Dass bei Schlegel der Ausdruck ‚romantisch‘ fällt, sollte daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dort entworfene Liebe ebenfalls schon im Sturm und Drang und in alternativer Aushandlung in der Klassik wiederzufinden ist. Es handelt sich generell um ein Konzept, das als Reaktion auf Konzepte der Aufklärung zu werten ist (vgl. Kremer 1997, S. 103) und zunächst bis in die 1830er Jahre hinein Bestand hat, bevor es durch andere Konzepte (in der Biedermeierzeit sowie der Zeit des Vormärz und später des Realismus) abgelöst wird.11 Womit man es dann – in Auseinandersetzung mit filmischen Referenzen – zu tun bekommt, sind Varianten dieses Konzepts. Vorgebildet ist es in seiner Spezifik in der Goethezeit – es müsste daher adäquater ‚goethezeitliches Liebeskonzept‘ heißen – , die Forschung hat es ‚romantische Liebe‘ getauft.12 Die relativierte Begriffsverwendung und die einhergehende Vorsicht im Umgang zeige ich im Folgenden mittels einfacher Anführung an. Die Isomorphie jedenfalls zwischen dem goethezeitlich-romantischen Liebeskonzept und demjenigen Modell, wie es unser Film entwirft, ist unverkennbar. Auch von anderer Seite aus sind Applikationen des goethezeitlichen Konzepts in einem breiteren Rahmen festgestellt worden:13 So demonstriert beispielsweise die Literatur der Aufklärung einen paradigmatischen Wandel von Familie und Sexualität. War Familie in der Literatur der Frühaufklärung (ca. 1720–1750) vor allem eine patriarchalisch geführte Institution sozialer Versorgung und ökonomischer Absicherung, so wird sie in der Literatur der mittleren Aufklärung

11 Zum Wandel des Liebeskonzeptes am Ende der Goethezeit vgl. Begemann 2002 und Lukas 2002. 12 Ähnliches lässt sich für die filmwissenschaftliche Auseinandersetzung feststellen (vgl. Reinhardt-Becker 2015; Orth 2019). Elke Reinhardt-Becker weist – mit Luhmann – auf die unreflektierte begriffliche Übernahme hin, relativiert aber zugleich auch die damit verbundene Problematik: „Diese Unkenntnis [der Romantik] ist aber nicht sonderlich problematisch, denn romantische Liebe ist heute nichts anderes als ein kulturelles Muster, das die Köpfe, Herzen und Handlungen der Menschen bestimmt. Es besteht aus trivialisierten Formen, aus ‚industriell erzeugte[n] Illusionen‘, die sich über Schlagertexte, Seifenopern, Trivialromane oder Ratgeberliteratur verbreiten.“ (Reinhardt-Becker 2005, S. 14 f.) Angesichts dieser, an sich richtigen Feststellung bleibt allein eine Vorsicht in metasprachlich-terminologischer Hinsicht geboten: Romantische Liebe ist das Konzept der Romantik, ‚romantische‘ Liebe betrifft alle möglichen Referenzen auf dieses Konzept (und Neuausformungen in Film und anderen Medien) in der Folgezeit. 13 Vgl. etwa auch Reinhardt-Becker 2015, S. 315–324.

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(der sogenannten Empfindsamkeit, ca. 1750–1780) zunehmend emotionalisiert; schließlich wird zugunsten eines Konzepts leidenschaftlicher Liebe zwischen zwei optimalen Partnern im Sturm und Drang (ca. 1760–1780) die Ehe als soziale Institution zunehmend entwertet. Ein solches Konzept leidenschaftlicher, romantischer Liebe, bei dem sich zwei vorherbestimmte Partner für ein Leben zu zweit auf ewig finden, ein solches Konzept, bei dem das Finden des einen, vorherbestimmten, optimalen Partners die existenz- und sinnstiftende Aufgabe ist, demonstrieren heute vor allem Fernsehserien. Exemplarisch sei hier auf die – uns zeitliche nahe, aber räumlich fremde – Serie ALLY MCBEAL (USA 1997– 2002) verwiesen, die genau dieses heute noch kulturell virulente Konzept von Liebe ins Zentrum der Darstellung rückt und wohl deshalb so massenmedial erfolgreich rezipiert wurde, weil sie eine Vorstellung über Liebe vermittelt, die wir aus unserer eigenen Kulturgeschichte kennen. (Decker 2007, S. 16)

Dasselbe ließe sich angesichts dessen auch im Fall von DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA annehmen. Der Erfolg des Films und die retrospektive Mythenbildung lassen sich zurückführen auf die Übernahme und Verarbeitung ebendieser Vorstellung von Liebe – nicht nur die Thematisierung von Liebe, sondern auch ihre funktionale Einbindung in den filmischen Bedeutungsaufbau: Liebe ist markiert und entworfen als ‚romantische‘ Liebe und formiert den Dreh- und Angelpunkt der Problemverhandlung des Films. Und mehr noch: Die maximale Unbedingtheit einer als optimal gedachten Liebe, das Maximum an Leidenschaftlichkeit gemessen an sonstigen (Paar-)Konstellationen, die Überhöhung der geliebten Person, die Projektion des eigenen Selbst in den Anderen und in Ansätzen auch die zeitparadoxale Fundierung der vorgeführten Liebe lassen sich gleichfalls im Film ausmachen.14 Insofern ließe sich tatsächlich in erster Linie von einem Liebesfilm sprechen; um einen Liebesfilm indes, der das Konzept ‚romantischer‘ Liebe im engeren Sinne appliziert und funktionalisiert (im Gegensatz zu Filmen, die in ihrer Liebessemantik lediglich eine wie auch immer geartete ‚idealisierte Überhöhung‘ anlegen und allenfalls lose an das Konzept der Goethezeit anknüpfen; vgl. Orth 2019, S. 398 f.). In dieser Applizierung transportiert der Film damit ein Konzept, das aufgrund der eigenen (deutschen) Literaturgeschichte bekannt ist und im Zusammenhang steht mit der Prononcierung von Emotionalität und Affektivität in Verbindung mit den für die Goethezeit zentralen Kategorien der Autonomie und der Subjektivität.

14 Vgl. dazu die tendenzielle Aufhebung von Zeitlichkeit in der Liebe zwischen Paul und Paula durch ihre Einbettung in die Familiengeschichte Paulas, die mehrere Generationen in die Vergangenheit reicht und im Traum versinnbildlicht wird. Vgl. in diesem Kontext auch die mediale (langzeitliche) Fixierung des (kurzzeitigen) Wiedervereinigungsmomentes in einer Fotografie, die Platz in demjenigen Holzrahmen findet, in dem zuvor ein Bild ihrer Großeltern platziert war.

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Doch wie gestaltet sich Liebe im Film konkret? Zur Klärung bieten sich zwei Aspekte zur Erläuterung an: (a) die – im Lexikon moderner Mythen angesprochene – Kreuzung der Umgangsweisen mit ihrer Liebe vonseiten der Protagonisten und (b) ein wesentlicher Teilaspekt des semantischen Raums ‚Liebe‘, den ich ‚Realitätsverlust‘ nennen möchte. In (a) wird zum einen die Divergenz von ‚Realität‘ und ‚Liebe‘ deutlich, zum anderen die Regulationsfunktion, die von der sozialen Wirklichkeit (= ‚Realität‘) ausgeht, in der das Geschehen situiert ist. Eine Auseinandersetzung mit (b) gibt Aufschluss über die konkrete Umsetzung der virulenten Semantiken auf der filmischen Oberflächenstruktur. Am Ende finden Paul und Paula erneut zusammen. Zuvor verlassen sie – nachdem ihre anbahnende Beziehung zunächst von Paul unterbunden wird – einzeln ihr sicheres Umfeld und vollziehen Handlungen mit ereignishaftem Charakter: Zuerst Paula, während Paul sich sukzessive wieder zurückzieht, dann Paul, während sich Paula in ihrem Ausgangsumfeld isoliert. Zunächst zu ihr: Mit dem Kennenlernen Pauls und der sich kurz entwickelnden Affäre blüht Paula regelrecht auf – im Rahmen des rekonstruierten Modells gesprochen: Sie überschreitet die Grenze vom Raum ‚Realität‘ zum Raum ‚Liebe‘ und erfährt damit die Umkehrung der räumlichen Merkmale. Die Figur ist ganz augenscheinlich glücklich und überträgt ihr Glück, ihre Non-Konformität, ihr persönliches Innenleben in ihren Berufsalltag: Sie bricht mit der alltäglichen Routine, indem sie das Fahrangebot Herrn Safts ablehnt und den Weg zu Fuß und tanzend zurücklegt (Abb. 6.3). Im Liebesdusel versäumt sie es, ihre Berufskleidung überzuziehen und tritt den Kunden in Unterbekleidung entgegen (Abb. 6.4). Und sie singt an der Kasse ihres Supermarkts sitzend zur Belustigung der Beleg- wie auch der Kundschaft unanständige Lieder (Abb. 6.5). Bemerkenswert ist dann ihr Rückzug nach dem Tod eines ihrer Kinder: Sie kappt die Beziehung zu Paul; es kommt zur umgekehrten Bewegungsrichtung. Paul wird sich seiner Liebe zu Paula bewusst und verlässt sein soziales Umfeld. Er richtet sich im Hausflur vor Paulas Wohnung ein und verlagert seinen Lebensmittelpunkt klar in Richtung der geliebten Person. Er vernachlässigt seine Körperpflege, verfällt dem Alkohol und geht nicht mehr zur Arbeit (Abb. 6.6). Hier kollidiert die Perspektive der Figur mit der Präsentation auf Filmebene. Denn so befreiend eine derartige Liebe aus persönlicher Sicht sein kann, sie führt – bleibt sie wie hier noch unerwidert – eben auch zu Verwahrlosung und sozialer (Selbst-)Ausgrenzung. Der Film distanziert sich daher an dieser Stelle ein Stück weit vom dargestellten Figurenverhalten. Nichtsdestotrotz: Die Überhöhung der geliebten Person, die Absolutheit und Ausschließlichkeit der dargestellten Liebe erinnert in ihrer Darstellung ganz deutlich an das goethezeitliche Vorbild. Zusätzlich wird mit Pauls Deutungsvariante auch Alltäglichkeit – durch die Tatsache, dass sie in den Hausflur verlagert wird – konterkariert.

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Abb. 6.3–6.6: Versetzung der Figuren Paula und Paul in den semantischen Raum ‚Liebe‘.

Der zweite Gesichtspunkt (b) schwingt bereits mit – und hierin stimmen Figurenverhalten und Erzählverhalten des Films wieder überein: Denn mit ‚romantisch‘-leidenschaftlicher Liebe geht stets auch ein Verlust von Realität einher, der nicht allein für die Figuren signifikant ist, sondern zugleich auch auf der filmischen Präsentationsebene angezeigt wird. Das Aufbrechen von Realität ist demnach bedeutsam für das Erzählte wie auch für das Erzählen. Während die Figuren jeweils in unterschiedlicher Weise ihren Bezug zur Alltagswirklichkeit einbüßen oder ein Stück ihrer Realität unwiederbringlich aufzugeben haben, werden ferner vom Film Verfahren genutzt, die das Paradigma weiter anreichern. So zeigt sich dies metaphorisch in den rekurrenten Einstellungen der gesprengten Häuserzeilen. Es zeigt sich vor allem aber auch dann, wenn die Figurenwahrnehmung und -erlebnissphäre im Präsentationsakt Widerklang findet: in Formen der Okularisierung und Aurikularisierung.15 Dazu drei Beispiele: Eine Sequenz zeigt Paul und Paula, wie sie einem klassischen Freiluftkonzert beiwohnen (TC 0:49:11–0:54:22). Paula ist ihren Gefüh-

15 Okularisierung und Aurikularisierung sind taxonomisch und kategorisch zu unterscheiden von der Fokalisierung. Die Fokalisierung betrifft den Bereich des Wissens einer Figur und seine Informationswiedergabe im filmischen Erzählakt; Okularisierung und Aurikularisierung betreffen hingegen die Bereiche der Wahrnehmung einer Figur und ihre narrative Vermittlung. Von François Jost eingeführt, in einen discours-narratologischen Gesamtrahmen gesetzt u. a. von Markus Kuhn und Sabine Schlickers (vgl. die Übersicht bei Kuhn 2017, S. 50–52).

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len ausgeliefert; präsentiert wird dies im Film durch eine hohe Dichte an figurenbezogenen Darstellungsstrategien. Sie hält sich die Ohren zu, der Ton auf der Tonebene wird auf ihr Atmen reduziert. In einer Schuss-Gegenschuss-Sequenz schließlich nimmt die Kamera ihre Sicht auf Paul ein, der im Takt der Musik entkleidet wird, bis er mit nacktem Oberkörper und allein mit einem Medaillon um den Hals hängend neben ihr sitzt. Der Film übernimmt die Wahrnehmung und die Vorstellungssphäre der Figur und übersetzt sie in die eigene Präsentation von Welt: Die figürliche Perspektive wird auf die narratoriale Perspektive übertragen. Dass das Medaillon wiederum ihr eigenes Konterfei zeigt, belegt auch im Detail den Bezug auf das goethezeitliche Liebeskonzept: Es handelt sich um eine vergegenständlichte Projektion des eigenen Selbst auf den Anderen. Eine weitere Sequenz erzählt die zentrale Liebesszene zwischen den beiden Protagonisten, bei der Rauschmittel im Spiel sind und in deren Rahmen die Figuren schließlich in einem gemeinsamen Traum den Bezug zur wirklichen Außenwelt verlieren und im Kreise von Paulas bereits verstorbenen Verwandten die Ehe schließen (TC 0:57:06–1:06:08). Nicht nur veranschaulicht der Kleiderwechsel Pauls den übertragenen ‚Ausstieg‘ aus der Wirklichkeit (Soldatenuniform gegen Blumenkranz), auch, dass er seine Arbeitskollegen als skurrile Musiker imaginiert, Paula sich auf die Vision einlässt und diese gar reguliert („Ach, die! Die sehen doch nüscht.“, TC 1:01:00) und dies wiederum abermals in einer Art Mindscreen gezeigt wird,16 spricht für die narratoriale Übernahme der temporären Degression des realistischen Realitätsgefüges. Die Wirklichkeit verändert sich also in den Augen der Figuren und sie sind imstande, ihre Illusionen zu steuern – und zusätzlich überführt der Film dies auf seine Präsentationsebene (vgl. Buchholz 2010, S. 53 f.). Schließlich ist die Wiedervereinigungssequenz aufschlussreich. Paul kehrt nach Hause zu seiner Frau zurück und feiert mit ihr ihre Versöhnung, bei der sie sich ihm gegenüber merkwürdig reserviert verhält. Im gemeinsamen Ehebett kommt es zur entscheidenden Szene: Ines scheint mit ihrem Betrug durchzukommen und Paul erneut für sich zu gewinnen, indem sie ihm etwas vorspielt („Na, mein kleiner Dummer, du!“, TC 01:34:26). Er fährt lachend hoch, öffnet den Schrank und befreit daraus ihren Liebhaber: „Das machen wir ganz anders. Ganz anders. [Er trägt plötzlich andere Kleidung] Ganz anders. Kollegen, Sportsfreunde. Macht’s gut.“ (TC 1:34:40–1:34:57). Substituiert wird ‚Realität‘ hier durch eine figürlich-motivierte alternative ‚Realität‘: Die dargestellte Welt wird durch die

16 Zu unterschiedlichen Formen des Mindscreen vgl. Kuhn 2011, S. 152–156.

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Figur umgestaltet. Abermals ist Wirklichkeit nicht länger Wirklichkeit – jedenfalls, was die emphatisch Liebenden anbelangt. Alles in allem codiert der Film folglich in seiner Liebesgeschichte die Botschaft, dass in der verhandelten Problematik und in den angebotenen Problemlösungsstrategien eine für das Subjekt positive Neubewertung, ja sogar potenziell eine Umgestaltung von Wirklichkeit möglich ist: Die erzählte Geschichte ist gleichbedeutend mit der Emanzipation des (liebenden) Subjekts in einer tristen Alltagswelt. Zunächst ist es Paula, die die Tristesse des Alltags überwindet, dann ist es Paul, der aussteigt und in seiner Liebe selbstgenügsam ist. Schließlich sind es beide, die im dionysischen Traumrausch oder dann in ihrer Wiedervereinigung einen starken und positiv konnotierten Kontrast zu ihrer Umwelt formieren.

„Geh zu ihr“: Kulturelles Gefüge und Individualität – die DDR als diegetisch-kultureller Hintergrund ‚Romantische‘ Liebe wird demnach also nicht lediglich als Kompensationsmittel entworfen, mittels dessen Figuren temporär aus ihrer festgefahrenen und unbefriedigenden Lebenswirklichkeit auszubrechen vermögen, sondern als Weg einer neuen Wirklichkeitserfahrung und -gestaltung semantisiert, als ein Problemlösungsangebot mit nachhaltigem Effekt. Allerdings wäre damit nur eine Teilkomponente des Entwurfes exzeptioneller Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA aufgedeckt. Eine weitere Komponente ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass sie oberflächlich scheitert – zumindest für das Paar nicht-lebbar ist. Um diesem Problem auf den Grund zu gehen, sei abschließend die Relationierung von kulturellem Gefüge und Individualität, wie zu Beginn entfaltet, aufgegriffen, vor allem hinsichtlich der filmischen Modellierung der DDR. Denn funktionalisiert ist Liebe nicht allein auf individuell-subjektiver Ebene, sondern ebenfalls auf Ebene der dargestellten Welt insgesamt. Alle im Zentrum stehenden Figuren, so wurde gesagt, arbeiten sich am Komplex ‚Liebe‘ ab. Sie tun dies mehrheitlich primär aber deshalb, um ein harmonisch-kompatibles, jegliche Störungen vermeidendes Gleichgewicht von privatem und öffentlich-gesellschaftlichem Leben anzustreben. Sozial-ökonomische Absicherung des privaten sowie die funktionale Stellung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens sind dazu unabdingbar, so eine wesentliche Proposition des Films. Ebenfalls mehrheitlich nachrangig behandelt – wenngleich nicht gänzlich ausgespart – wird der Wert persönlicher Zufriedenheit, zumindest in seiner behäbig-

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minimalisierten Form, wenn es sich auch nur – wie bei Herrn Saft – um eine asexuelle Altherrenliebe oder – wie bei Ines – um eine rein auf die Befriedigung des sexuellen Verlangens abzielende Zufriedenheit handelt. Allein Paul und Paula kehren die Wertehierarchie um und setzen ihr persönliches (Liebes-)Glück wertehierarchisch über ihre Funktionalität im Gesellschaftskontext. Doch alle Figuren, so deutete sich bereits an, sind beeinflusst durch den sozial-kulturellen Kontext, in dem sich das Geschehen ereignet und an dem Handlungen auszurichten sind. Und das sogar im Fall von Paul und Paula. Die syntagmatisch-versetzte Verschiebung des Verhaltens beider Figuren, wie oben erörtert, führt auf unterschiedliche Weise vor Augen, dass im Liebesverhältnis (zunächst) die Hintergrundfolie der sozialen Alltagswirklichkeit mitgedacht wird – und sie durchaus relevant ist. Im Fall von Paula wird sie mit dem Wechsel der Figur in den semantischen Raum ‚Liebe‘ parallelgeschaltet: Vor der Folie des Alltags wird der Kontrast, den die ‚romantische‘ Liebe im Rahmen der dargestellten Welt hervorzubringen imstande ist, deutlich hervorgekehrt (Abb. 6.3–6.5). Konsequenterweise wäre der Tod des Kindes im Rahmen des Modells als maximaler Teilverlust von Realität zu werten. Denn mit dem Kind verliert Paula einen wesentlichen Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit, und zwar unwiederbringlich. Der Verlust trifft sie hart, sie kehrt in den Ausgangsraum zurück – Realität weist hier demzufolge einen regulativen Anteil auf. Ebenso wie bei Paul. In seinem Fall wird der Verlust von Realität nicht als Übertragung des Persönlich-Überhöhten in die übliche Alltagsroutine vorgeführt (und wie im Fall von Paula parallelisiert), sondern als Abkapselung vom Alltag inszeniert und prononciert dadurch die Präferenz der eigenen individuell-subjektiven Belange gegenüber sozialen Verpflichtungen. Das Leben in seiner ‚Realität‘ und das Leben als emphatisch Liebender werden kontrastiert (Abb. 6.6). Doch auch dieser deutlich markierte Bezugsverlust wird zunächst abgewendet und vonseiten der Arbeitskollegen und des Arbeitgebers, die an dieser Stelle als quasi-moralische, vor allem aber als normierende Instanz auftreten, aufgehoben. Erneut findet eine Regulation statt, die von (offensichtlich) hierarchisch höherrangigen Repräsentanten des Teilraums ‚Realität‘ vorgenommen wird. Daher lässt sich folgern: Die abstrakt-semantischen Räume ‚Realität‘ und ‚Liebe‘ verhalten sich disjunkt zueinander; ‚Realität‘ aber scheint eine übergeordnete Regulationsfunktion einzunehmen, die auf Figuren, die emphatisch lieben, bis zu einem bestimmten Punkt Einfluss nehmen kann. Entweder werden diese Figuren mit unwiederbringlichen und wertehierarchisch hohen Realitätsverlusten konfrontiert und dadurch ihr Bestehen im Raum ‚Liebe‘ auf die Probe gestellt (Paula). Oder aber sie werden unter Rückbezug auf ihre eigene funktionale

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‚Wertigkeit‘ im Realitätsraum fremdbestimmt in diesen zurückbeordert und dadurch ihre Grenzüberschreitung rückgängig gemacht (Paul). Der Film stellt damit zunächst eine Teilproposition 1 auf: Wer normabweichend agiert, wird in seine Schranken gewiesen. Es handelt sich – narratologisch gesprochen – um einen oberflächlich besehen restitutiven Film (vgl. Martínez/Scheffel 2012, S. 158), der eine Welt zeichnet, die darauf bedacht ist, in der Form bestehen zu bleiben, in der sie besteht, ohne Figuren die Möglichkeit zu bieten, habitualisierte, normierte und routinierte Verhaltensformen und Lebenskonzepte (wie ‚Ehe‘, ‚Familie‘, ‚alleinerziehende Mutter‘, ‚Staatsbediensteter‘ usw.) zu unterlaufen oder revidieren zu können. ‚Restitutiv‘ ist er allein schon deshalb zu nennen, da der Film die Grenzüberschreitung ja an beiden Hauptfiguren vorexerziert und sie vorläufig rückgängig macht. Bezeichnenderweise aber ist die Wiedervereinigung von Paul und Paula geprägt erstens durch massiv-überhöhte, zwischen rührender und übermäßig-zerstörerischer Leidenschaftlichkeit und zweitens dadurch, dass sie buchstäblich der als veraltet, unfruchtbar und morbide semantisierten Wirklichkeit ein in seiner singulären Einzigartigkeit deutlich hervorgehobenes Gegenbild des Lebens vor Augen führt. Zum einen wird angezeigt, dass Liebe subjektintern nicht reguliert werden kann, sondern lediglich von außen, von subjektexterner Seite aus ‒ und dies noch nicht einmal nachhaltig. ‚Romantische‘ Liebe hat innerhalb der Filmwelt entgegen vorheriger Regulationsmaßnahmen Bestand und wird als semantischer Raum eben nicht getilgt. Zum anderen wird die zuvor aufgestellte Proposition 1 ausgehend von der erneuten Zusammenführung der Figuren substituiert durch eine Teilproposition 2: ‚Romantische‘ Liebe als Handlungsabweichung stellt eine wünschenswerte Alternative innerhalb des (antiquierten und morbiden) Lebensumfeldes dar. Wenn nun aber Paula stirbt, dann indiziert ihr Tod lediglich einen Verlust, der im Rahmen des vorgeführten Modells abermals nur konsequent ist ‒ der Selbstverlust nämlich als maximale Form des Realitätsverlustes ‒, der allerdings auch von Paula zum Preis des gemeinsamen Kindes bewusst hingenommen wird.17 Der sie behandelnde Arzt wird in der entsprechenden Sequenz philosophisch: „Es gibt eben Dinge, die nicht gehen. Du kannst nicht alles haben. Wenn du was von Philosophie verstehen würdest, dann würde ich jetzt sagen: Ideal und Wirklichkeit 17 Es ist allerdings auch bezeichnend, dass Paula und nicht Paul ihr Leben lassen muss. Ob darum aber eine frauenverachtende Tendenz vorliegt, ist fraglich ‒ ist doch Paula zweifellos die positiv besetzte Heldin des Films. Zum Film als „frauenverachtende Schnulze“ vgl. Sander 1974. Überzeugender zu diesem Punkt: Buchholz 2010, S. 59 f. und 64.

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gehen nie übereinander. Ein Rest bleibt immer.“ (TC 1:38:57) Gemäß dem kulturellen Wissen der Filmwelt, das sich in diesem Fall später auch bewahrheitet, ist das Konzept, das Paul und Paula zu realisieren anstreben, demnach also unmöglich. Das Ideal (= ‚romantische‘ Liebe) ist mit der Wirklichkeit (= dargestellte Realität) nicht kompatibel (der „Rest“ = Paulas Tod). Dass aber der Film nicht in einen melodramatischen Modus überwechselt, liegt an seinem versöhnlichen Ende. Paul erscheint mit den drei Kindern von äußeren Zwängen befreit; er wirft den alten Morast als Sperrmüll aus dem Fenster und steht unmittelbar vor einem Neuanfang als alleinerziehender Vater. Der Teilproposition 2 wird demnach also komplementär Proposition 3 an die Seite gestellt: ‚Romantische‘ Liebe ist für die Partizipierenden nicht-lebbar und muss in ein vom kulturellen Gefüge nur geringfügig abweichendes und damit zwar kompatibles Lebenskonzept umgewandelt werden, aber doch auch in eines, das latent ordnungssubversiv sein darf. Die Andeutung eines Neuanfangs, wie auch die Kinder, die im vorgeführten Endzustand eine im Lebensentwurf maßgebliche Rolle spielen, weisen darauf hin, dass die angestrebte Befreiung des Individuums zwar bereits in Teilen vollzogen ist, ihr vollständiger Vollzug aber in einer nur angedeuteten Zukunft liegt und liegen muss. Die dargestellte Welt ist dazu noch nicht (ganz) bereit. „Geh zu ihr“ ‒ das Lied, dass während der dionysischen Bettsequenz erklingt, ist dahingehend mehrdeutig aufzufassen: Als Allegorie der vorgeführten Sexualität, als Musikalisierung des Konzeptes ‚romantischer‘ Liebe, als lyrischer Kommentar auf das Verhältnis von Gesellschaft (und gesellschaftlicher Pflicht) und Individuum (bzw. der Freiheit des Individuums) und schließlich vielleicht sogar als verschlüsselter Verweis in die Zukunft, die die Kinder, die im Spiel den Drachen steigen lassen, repräsentieren. „Geh zu ihr und lass Deinen Drachen steigen. / Geh zu ihr, denn Du lebst ja nicht vom Moos allein. / Augen zu, dann siehst Du nur diese eine! / Halt’ sie fest und lass Deinen Drachen steigen.“18 Die Liebe scheitert im Rahmen der Paarbeziehung, die nicht fortgesetzt werden kann, nicht aber scheitert sie, was den Wechsel der Lebensmentalität Pauls und ihr (biologisches) Produkt – die Kinder als Zukunftsträger – anbelangt (vgl. Buchholz 2010, S. 56, 58). Nun ist vom Film all dies auch in Beziehung gesetzt zur DDR. Zwar ruft DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA im Gegensatz etwa zu FÜR DIE LIEBE NOCH ZU MAGER? aus demselben Jahr 1973, der eine ganz ähnliche Thematik verhandelt, das Staatssystem der DDR nicht explizit auf (zum Beispiel, wie dort, indiziert durch offen gezeigte Staatsinsignien, wie Flaggen oder bestimmte Riten). Aber

18 https://bit.ly/2NzJx6d (letzter Zugriff: 02.10.2018).

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auch hier ist die DDR als nationalstaatliches Setting unverkennbar: Das Geschehen ereignet sich in einem Stadtteil in Ostberlin, Paul trägt als Soldat eine Uniform der DVA. Das wiederum heißt auch, dass der Entstehungskontext nicht einfach abgebildet oder vielmehr angedeutet wird, ohne eine größere Rolle zu spielen, sondern, dass obige Propositionen, die der Film evoziert, direkt auf diesen Entstehungskontext und die DDR zurückweisen. Ziehen wir daher aus den obigen Beobachtungen entsprechende Schlüsse, so muss für die vorliegende Modellanordnung Folgendes angenommen werden: Die DDR als staatliches und kulturell-soziales System wird vom Film eindeutig als jenes präsupponiert. Sie steht damit in Korrelation mit dem, was hier ‚Realität‘ genannt worden ist: Sie bildet den diegetischen Hintergrund für all dasjenige, das die Lebenswirklichkeit der Figuren ausmacht und bestimmt. Und mehr noch: Realität und damit die DDR sind im Rahmen des Narrativs massiv handlungsdeterminierend, vor allem auch ‒ und dies wird vom Film ja dominant verhandelt ‒, was partnerschaftliche Beziehungen mit allen Konsequenzen und Herausforderungen für den Einzelnen anbelangt. Exzeptionell-romantische Liebe ist dabei als eine Art Fremdsystem des Handelns, Denkens und Fühlens strukturiert, das das Ordnungsgefüge als latent-rigides Gefüge entlarvt, als solches hinterfragt und ‒ zumindest im Kleinen und Familiären ‒ nachhaltig stört: und das trotzdem sie in erotisch-partnerschaftlicher Hinsicht scheitert. Die Liebe weist ja im neuen Familienkonzept und im Mentalitätswandel Pauls über diese Ebene hinaus.19 Und darin liegt wohl auch der Reiz von DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA: In seiner teils ambivalenten und devianten, in jedem Fall deutlich markierten Erzählform stimmt der Film kritische Klänge, die gegen den Staatsapparat und 19 An dieser Stelle böte sich ein Vergleich zur Liebessemantik in der Literatur der Zeit an. Aumüller spricht mit Blick auf Romane seit Ende der 1960er Jahre von Entkopplungserscheinungen: „Diese Phase [bis Anfang der 1980er Jahre] ist dadurch geprägt, dass die Liebeshandlung von der politisch-ideologischen Handlung entkoppelt wird. Die Liebe steht der politisch-ideologischen Einstellung nicht mehr entgegen. Sie scheitert nicht mehr an den Erfordernissen des Kollektivs [. . .], sie scheitert an persönlichem Versagen, an unmoralischem Verhalten des Individuums“ (Aumüller 2015, S. 250). Die Unterschiede liegen auf der Hand: Weder scheitert die Liebe in DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA vollends – jedenfalls wird dies vom Film nicht als ein Scheitern präsentiert und von den Figuren als solches wahrgenommen –, noch resultiert der Tod Paulas aus persönlichem Unvermögen. Er ist eine Folge lediglich physiologischer Insuffizienz. Die Entkopplung von Liebe und politischer Ideologie ist dabei – dies scheint mir entscheidend – Thema des Films, nicht wird sie von vornherein präsupponiert: Es geht um die Emanzipation des Individuums vom soziokulturellen Normensystem vermittels Liebe. Damit wäre auch ein Grund offengelegt, warum der Film gerade ‚romantische‘ Liebe appliziert, geht es doch auch um die Reflexion von Liebe: Was ist Liebe? Wozu ist sie imstande? Was kann sie bewirken? Dieses selbstreferenzielle Potenzial attestiert auch Luhmann der romantischen Liebe (vgl. Luhmann 1994, S. 51 u. 52).

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seine Mechanismen gerichtet sind, nur subtil an. Glorifiziert wird die DDR hier nicht, aber ebenso wenig wird sie offen kritisiert.

Einstürzende Altbauten: Liebe als Selbstzweck und als Mittel zur moderaten Sozialkritik – ein Fazit Der Kultstatus von DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA basiert auf dem Umgang des Films mit Liebe, die als angestrebter und ausgestellter Selbstzweck gleichsam ein subversives Mittel in Auseinandersetzung mit der DDR-Wirklichkeit darstellt. Die Aufgabe dieses Beitrages war es, ebendiesem Zusammenhang nachzugehen. In diesem Zuge sollte aufgezeigt werden, dass über die optimal-emphatische und problematische Liebe zwischen den beiden Hauptfiguren hinaus, Partnerfindung und Paarbildung, Familiengründung und Paarbeziehung für das Figurenensemble insgesamt von höchster Bedeutung sind. In Verbindung steht alles dies mit Belangen des Subjekts auf der einen Seite und Regulationen ausgehend von der sozialen Wirklichkeit, in dem das Geschehen situiert ist, auf der anderen. Kann ein solcher Relationszusammenhang wohl als Allgemeinplatz für die Behandlung von Liebe in der (erzählenden) Kunst – wie in Literatur und Film – insgesamt gelten, so besteht die Besonderheit des hier behandelten Films darin, in Rückbezug auf das literarische Liebeskonzept der Goethezeit, Wirklichkeit als Wirklichkeit auszuhebeln, und im Modus eines Liebesfilms ohne melodramatischen Einschlag, Sozialkritik, wenn überhaupt, dann allenfalls subtil in Anschlag zu bringen.20 Dem Film geht es vielmehr um ein bestimmtes Lebensgefühl, um eine (Neu-)Entdeckung des Individuums21 als um eine offene Staatskritik ‒ die DDR-staatliche Zensur hat ihn dahingehend in seiner Freigabe sicher zunächst unterschätzt. Die Sozialkritik, die der Film anbringt, ist also moderat ‒ ansonsten wäre er der Öffentlichkeit auch vorenthalten worden. Und dennoch ist sie durchaus gegeben, nicht zuletzt angezeigt in den rekurrenten Einstellungen, die Häusersprengungen zeigen und die in metaphorischem Verhältnis zur erzählten Handlung stehen. ‚Liebe‘ (Partnerschaft, Familie, Sexualität usw.) ist in der dargestellten Welt gesetzt, wie auch Altbauten gesetzt sind. Das tertium comparationis von

20 Vgl. auch Buchholz 2010, S. 65. 21 Buchholz spricht dahingehend von der „Konstruktion des [. . .] neuen sozialistischen Menschen“ (Buchholz 2010, S. 56).

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Häusersprengung und verhandelter ‚romantischer‘ Liebe ist dabei das der Überwindung von ‚Altem‘ und des Neuanfangs ‒ nicht zufällig umgibt daher auch das zentriert-fokussierte Geschehen um Paul und Paula eine weitreichende Baustelle: Es ist etwas Neues im Entstehen begriffen. Und genau darin besteht wohl auch der Clou des Films: In DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA ist ein kritischer Unterton codiert, die Filmerzählung kann aber auch ohne diesen Unterton gelesen werden. Hinsichtlich des vermittelten Lebensgefühls und Menschenbildes fungiert der Film seinem Titel nach folglich als eine ‚Legende‘ nicht im Sinne einer Heiligenerzählung, sondern als Erzählung mit eigens auferlegt daseinsbewältigendem Charakter.

Filmverzeichnis DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Heiner Carow, Ulrich Plenzdorf. FÜR DIE LIEBE NOCH ZU MAGER? (DDR 1973), Regie: Bernhard Stephan, Drehbuch: Bernhard Stephan, Jochen Nestler.

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Henning Wrage

Neue Männer braucht das Land: SOLO SUNNY (1980) und die Frauenfilme der DEFA Konrad Wolfs SOLO SUNNY ist sicher einer der erstaunlichsten und gewagtesten Filme des DEFA-Kinos. Kein vernünftiges Happy End, keine positive Heldin, kein sozialistisches Kollektiv, das der Protagonistin über einen nicht-antagonistischen Konflikt hinweghilft; kein einziger Partei- oder FDJ-Kader ist im Film zu sehen und selbst die Polizei hat nur einen durchaus unspektakulären Auftritt. Schließlich ist SOLO SUNNY einer der ganz wenigen Filme in der Geschichte der DDR, der einen Suizidversuch ins Bild setzt – ein kulturpolitisches Tabu, das erst in letzter Zeit zum Gegenstand ausführlicher wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geworden ist. Selbst in der letzten Dekade der DDR-Kulturgeschichte ist eine so ostentative Verweigerung unambivalent positiven Heldentums ein Skandal – und nur erklärlich, wenn man die Sonderstellung des Regisseurs zur Erklärung des Films heranzieht. Dieser Text wirft einen genaueren Blick auf diesen außergewöhnlichen Film, konzeptualisiert ihn in der Kulturgeschichte der späteren DDR und zieht ihn zur Erklärung der ‚Frauenfilm‘-Konjunktur heran, die die DEFA in den letzten anderthalb Jahrzehnten kennzeichnet. Ich möchte argumentieren, dass, eben weil das Frauenkino in der DDR im Wesentlichen von Männern produziert wurde, die Orientierung auf weibliche Protagonistinnen durch eine Krise männlicher Handlungsmacht in Bezug auf die Gesellschaft motiviert ist. Wie ich am Ende zeigen möchte, hat der Film durch die Hybridisierung von Künstler-Film und Frauenfilm einerseits und die Repräsentation des prekären Status’ nichtkonformistischer Lebensentwürfe von Frauen in der DDR eine einzigartige gesellschaftskritische Qualität.

Zur Kulturgeschichte der späten DDR Die Kulturgeschichte der DDR oszillierte zwischen Perioden bemerkenswerter Freiheit und solchen kulturpolitischer Disziplinierung. In den 60er Jahren war es der Mauerbau am 13. August 1961, der die Staatsführung zu vorübergehenden Konzessionen veranlasste.

https://doi.org/10.1515/9783110629408-008

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In den 1970er Jahren ist es wiederum ein politisches Erdbeben, der Wechsel an der Spitze politischer Macht im Land, der eine Phase temporärer kultureller Liberalisierung einleitet: 1971 hält mit Erich Honecker ein (mehr oder weniger) neuer Mann im Land seine Zeit für gekommen. Hinter den Kulissen setzt ein rücksichtsloser Kampf um die politische Macht ein, als Honecker beginnt, mit der Unterstützung des neuen sowjetischen Machthabers Leonid Breschnews, im Politbüro des ZK der SED die Absetzung Walter Ulbrichts vorzubereiten. Nachdem Ulbricht zunächst versucht, gegen Honecker zu opponieren, gibt er schließlich nach und tritt von allen wichtigen Ämtern zurück (vgl. Malycha 2014, S. 60–66; Kaiser 1997, S. 324–326). Am 3. Mai 1971 kommt Honecker offiziell an die Macht. Der erste substantielle Wechsel in der Regierungsgewalt in der DDR nach 22 Jahren der Ägide Ulbricht hat unmittelbare Konsequenzen für die Kultur im Allgemeinen und das Kino im Besonderen. In einer frühen Rede auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED proklamiert Honecker: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet der Kunst und Kultur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils.“ (Honecker 1974, S. 198) In der Folge wird die Beat-Musik rehabilitiert, eine Reihe verbotener Theaterstücke, unter anderem von Heiner Müller, können wieder aufgeführt werden, kontroverse Lyrik von Reiner Kunze bis Sarah Kirsch wird veröffentlicht. Im Fernsehen werden erstmals Publikumsbefragungen durchgeführt, mehr unterhaltsame Filme und Shows kommen ins Programm (vgl. Beutelschmidt/Wrage 2008). Insgesamt wird ‚Weite und Vielfalt‘ zum offiziellen kulturpolitischen Motto, und das macht sich auch bei der DEFA bemerkbar (vgl. Hager 1972a; Eisold 1979). Nun gelangen Filme wie Roland Gräfs BANKETT FÜR ACHILLES (1975) und Horst Seemanns BEETHOVEN (1976) ins Kino. Frank Beyer, Ulrich Plenzdorf, Frank Vogel und Heiner Carow setzten ohne großes Aufsehen ihre in den 1960ern unterbrochenen Karrieren fort. Eine neue Generation von Regisseuren von Lothar Warneke über Rainer Simon, Iris Gusner, Roland Gräf bis hin zu Egon Günther debütiert im Erwachsenenfilm. Eine Welle von Künstlerfilmen von DER VERLORENE ENGEL (Ralf Kirsten, 1966/1972) bis GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS (Konrad Wolf, 1972) hinterfragt in der Camouflage historischer Narrative die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. Zugleich darf man nicht vergessen, dass es der ‚neue Mann‘ Erich Honecker war, der im Dezember 1965 Jahre zuvor das heute als Kahlschlagplenum berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED organisiert hatte (vgl. Agde 1991; CarpentierTanguy 2001). Das Plenum war eine für die Literatur und das Kino verheerende Zensuraktion; ein fast kompletter Jahrgang von DEFA-Filmen, darunter SPUR DER STEINE, JAHRGANG 45, DENK BLOSS NICHT ICH HEULE und KARLA, allesamt heute im

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Kanon der besseren Filme des Landes, verschwand in den Regalen (vgl. Wrage 2009, S. 165–180). Auch dieses Mal, in den 1970er Jahren, sollte die Atmosphäre von Freiheit und Offenheit nicht andauern. 1976 kam es nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns zu einer Kette von Ereignissen, die zu einem politischen Erdbeben werden und den – ohnehin prekären – Frieden zwischen Kunst und Macht beenden sollten: Als Reaktion auf die Ausbürgerung unterschrieben dreizehn der prominentesten Künstler des Landes eine Petition, mit der sie sie Wiedereinbürgerung Biermanns forderten. Es war der erste Akt öffentlichen Ungehorsams von Prominenten seit dem Aufstand vom 17. Juni 1953, und schlimmer noch: Die Autoren sendeten die Petition nicht nur an das Neue Deutschland und den ADN, sondern auch an die französische AFP, um die Veröffentlichung zu garantieren (vgl. Berbig 1994, S. 11–28). Die Erstunterzeichner, darunter Christa Wolf, Kandidatin des Zentralkomitees bis 1967, Volker Braun, Stephan Hermlin und Stefan Heym, legten der SED nahe, sie müsse „eine solche Unbequemlichkeit“ wie Biermann „gelassen nachdenkend ertragen können“ (Jäger 1982, S. 162). Der Petition folgten staatliche Maßnahmen, die die vom Dezember 1965 noch in den Schatten stellten. Einige der weniger prominenten Künstler wie Jürgen Fuchs und Christian Kunert landeten direkt im Gefängnis, andere erhielten Produktions-, Auftritts- oder Publikationsverbot, die meisten wurden von der Stasi überwacht (vgl. Weber 2015, S. 164). Als Resultat davon geht die Mehrheit der prominentesten DDR-Künstler in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in die Bundesrepublik – und das ist das Klima, in dem SOLO SUNNY entsteht. Die bis zu diesem Moment und aller Enttäuschungen zum Trotz in der DDRKultur existierende, fundamentale, wenn auch kritische Solidarität der Künstler mit dem sozialistischen Projekt geht hier verloren. Vielleicht noch fundamentaler als diese Ereignisse ist der Paradigmenwechsel, der kulturell mit dem Machtwechsel zu Honecker einhergeht: Seit dem Kriegsende und durch die gesamte Periode der Ulbricht’schen Staatsführung begriff sich die DDR – sowohl offiziell als auch in den Projektionen der Künstler – als Land im Auf- und Umbruch zu einer besseren Gesellschaft, als Übergangsvehikel. Tatsächlich war die DDR, vor allem in den 1950er und 1960er Jahren, eine Gesellschaft sowohl eines nicht mehr (also der Abgrenzung von der NS-Vergangenheit) als auch eines noch nicht (Teil eines sozialteleologischen Designs, das es als Projekt auf eine paradiesische Zukunft hin perspektivierte). Die DDR der 1950er und 1960er Jahre ist eine getriebene Gesellschaft, eine Zeit ohne Gegenwart, die die Scham und Schuld der Vergangenheit in Treibstoff für die Zukunft zu transformieren versucht. Die Literatur und die Filme dieser Zeit, und besonders in den frühen 1960er Jahren, spiegeln dies wider. Die Charakter-Entwürfe und die Geschichten selbst verstehen sich, oft

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ganz explizit, als Entwürfe für die Lösung konkreter politischer und sozialer Probleme (vgl. Wrage 2014). Aus einer Gender-Perspektive betrachtet, bleibt das Kino in der DDR in dieser Zeit weitgehend traditionellen Handlungsmustern treu: es sind die männlichen Protagonisten, zwischen denen ein sozialer Konflikt ausgetragen wird, Frauen werden marginalisiert oder idealisiert: Oft inkorporieren sie von Anfang an eine Position, die die Männer erst nach agonaler Auseinandersetzung erreichen können. Mit anderen Worten: Der Film bis zum Beginn der 1970er Jahre ist eine unmittelbar sozial engagierte Form von Kunst, in der Männer soziale Konflikte repräsentieren, während Frauen die Position ihrer Lösung markieren. Es ist das Kino einer sozial dynamischen Gesellschaft, ein Kino der Repräsentation (vgl. Wrage 2018). Der Machtantritt Honeckers dagegen markiert einen Bruch im narrativ–ideologischen Gefüge der DDR, einen Wechsel von Dynamik zu Statik, dem in der kulturpolitischen Erzählung der Wechsel vom Leitmotiv des ‚Auf- und Umbruchs‘ von den Baustellen und den großen Konflikten zur ‚Ankunft im Alltag‘ korrespondiert, zur Rekonfiguration des Kulturellen in der stillgestellten Gesellschaft (vgl. Jessen 1995). SOLO SUNNY ist hierfür ein paradigmatisches Beispiel: Es ist ein atektonischer Film ohne starkes Narrativ, er ist zudem frappierend frei von expliziten politischen Statements. Die Abwesenheit sozial relevanten Handelns, die omnipräsenten interpersonalen Aggressionen, und die alles prägende Melancholie des Films machen darüber hinaus eine ‚bleierne Zeit‘ präsent, die es nicht nur in Margarethe von Trottas gleichzeitigem Film gibt, sondern die auch in SOLO SUNNY das Paradigma für die Möglichkeit gesellschaftlicher Initiative abgibt. Kurzum: Die DDR der 1970er und 1980er Jahre hat, bewusst oder unbewusst, den Glauben an das ‚Noch Nicht‘ verloren – und vor diesem Hintergrund ist ein Film von 1980, der die Kunst, die Heimatfunktion des Kollektivs, und den Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft infrage stellt, nur umso bemerkenswerter.

Konrad Wolfs SOLO SUNNY Nur wenige Regisseure in der DDR haben in dieser stagnativen Phase der Kultur das Gewicht, aller Zensur zum Trotz kontroverse Filme zu machen. Der wichtigste unter ihnen ist Konrad Wolf, Sohn von Friedrich Wolf, dem Dramenautor der Weimarer Republik, Markus Wolf, der Bruder von Konrad Wolf, ist von 1952 bis 1986 Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung in der DDR. Wenn es in der DDR so etwas wie einen kommunistischen Adel geben würde – die Familie Wolf gehörte dazu.

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Konrad Wolf studierte bis 1954 an der Moskauer Filmhochschule und begann im Anschluss als Regisseur bei der DEFA zu arbeiten; er wurde, nach der Meinung vieler Forscher, zum wichtigsten Filmemacher der DDR (vgl. etwa Jacobsen/Aurich 2018). Zudem war Konrad Wolf für viele Jahre der Präsident der Akademie der Künste, mithin ein wichtiger kulturpolitischer Funktionär. SOLO SUNNY ist die vierte Zusammenarbeit zwischen Wolf und dem vielleicht wichtigsten Autor für die DEFA: Wolfgang Kohlhaase. Kohlhaase hatte auch ICH WAR NEUNZEHN (1968) geschrieben, ebenso wie das Drehbuch für DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974) und MAMA, ICH LEBE (1977). Narrativ folgt SOLO SUNNY einem nicht untypischen Schema von Krise und Neubeginn, wenn auch die Krise deutlich im Vordergrund steht und der Neubeginn lediglich als Versprechen dargestellt wird. Das allein ist ungewöhnlich für einen Film der DEFA. Seine Einzigartigkeit entsteht jedoch aus einem Zusammenspiel zwischen einer ganzen Reihe von Aspekten. Zu ihnen zählen die Adaption des Künstlerfilm-Genres und der diesem impliziten Befragung der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft. Zu nennen sind weiterhin das Charakterdesign, das immer neue Ambivalenzen generiert und die Identifikation mit der Hauptfigur problematisch macht. Wesentlich sind auch eine symbolische Topographie, für die der Prenzlauer Berg als Handlungsort zentral ist, und die oft fast beiläufige Allusion auf fundamentale und kulturell kaum belichtete Aspekte des gesellschaftlichen Lebens der DDR: von Sexualität, Hass, und Gewalt. Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, ist SOLO SUNNY ein Film, der eindrucksvoll die prekäre Position der nicht-konformen Frau in der späten DDR zeigt. Sie alle sollen – nach einer kurzen Rekapitulation des Plots – kurz erläutert werden. Die Heldin – oder besser: die Antiheldin – der Geschichte ist Ingrid Sommer (Renate Krößner), Schlagersängerin mit dem titelgebenden Pseudonym Sunny. Die Geschichte spielt im Prenzlauer Berg, wo sowohl die Protagonistin als auch ihr späteres Liebesinteresse, der Philosoph Ralph (Alexander Lang), leben, und in namenlosen Ortschaften, durch die Sunny mit der Band „Tornados“ als Teil eines Show-Ensembles tingelt. Die Liebe bleibt im Film durchweg unerfüllt: Ein biederer Taxifahrer (Dieter Montag) liebt Sunny (unerwidert), der Saxophonist Norbert (Klaus Brasch) aus der Band begehrt sie (unerwidert) und versucht sie in einer Szene gar zu vergewaltigen. Sunny wiederum ist Ralph zugetan, der das zwar zögerlich erwidert, sie aber betrügt. Der Versuch, eine SoloKarriere zu beginnen (illustriert durch einen Einzelauftritt in einer Bar) scheitert wie die Beziehung zu Ralph; schließlich auch aus der Band entlassen, begeht Sunny einen Suizid-Versuch. Erst das Ende gestaltet dieser durchweg melancholische Film zu einem gewissen Maß als versöhnlich, als Sunny sich einer jungen, sichtbar noch wenig professionalisierten Band im Prenzlauer Berg anschließt.

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a) Künstlerfilme Wie angedeutet, fällt SOLO SUNNY in das Genre der damals boomenden Künstlerfilme (vgl. im Überblick Allan 2014). Tatsächlich hatte Wolf an der Konjunktur des Genres schon zuvor selbst teilgehabt und – implizit in GOYA (1971), und expliziter in DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974) die Spielräume und Grenzen der Kunst in der DDR zum Thema gemacht. Dass Wolf das Genre des Künstlerfilms immer wieder aufgriff, ist signifikant, denn kunstreferentielle Kunst wie diese weist in diesem Fall doppelt in die Biographie Wolfs zurück: Als Regisseur hatte er selbst gelegentlich die Härten der politischen Kontrolle des Filmwesens erfahren (der Film SONNENSUCHER aus dem Jahr 1958 durfte erst 1972 erscheinen); als Präsident der Akademie der Künste war er jedoch zugleich ein hochrangiger Kulturpolitiker, mithin selbst Teil des regulativen Apparats. Der Film braucht nach den Eröffnungs-Credits gerade 14 Sekunden, um zum Thema zu kommen: Eine Totale zeigt die Band „Die Tornados“ in einem zunächst weitgehend schwarzen Kader. Von hier entwickelt sich, moderiert von einem Conférencier namens Benno Bohne (Harald Warmbrunn) ein traditionelles Varieté-Programm mit Akrobatik, Schlagernummern (unter denen Sunnys eine ist) und den zynisch anmutenden Witzeleien des Moderators, dargestellt in wechselnden, oft in leichter Untersicht gefilmten Nahaufnahmen. Die fast fünf Minuten lange Szene ist im Film noch vor die Etablierung der Hauptfigur gesetzt; sie ist ebenso lang wie detailliert und zeigt neben den Protagonisten auf der Bühne auch die Schauspieler dahinter und die Arbeit der Techniker – ein Mikrokosmos kultureller Produktion. Ausgespart in dieser Szene bleibt jedoch das Publikum, und das ist, wenn man bedenkt, dass die sozialistische Kunst stets und im größten Sinn dem Publikum, also: dem Volk verpflichtet, war, höchst frappierend. Vergleicht man diese Szene mit den großen kulturrevolutionären Anstrengungen der 1960er Jahre – etwa dem ‚Alles durch das Volk und alles für das Volk‘ des Bitterfelder Wegs, der Arbeiter zu Künstlern und Kulturschaffende zu Werktätigen umschmelzen sollte: Nichts davon ist hier zu sehen (vgl. etwa Wrage 2009, S. 41–47). Der Auftakt dieses Künsterfilms zeigt Kulturindustrie, sozial indifferentes Entertainment in einem Setting, in dem das Volk überhaupt nicht vorkommt. Kunst ist hier allen sozialen Engagements, ja jeder sozialistischen Komponente beraubt, und tatsächlich scheint die Szene gerade die Entfernung zwischen Kultur und Publikum zu signalisieren. Selbst wenn in weiteren Wiederholungen der Show das Publikum porträtiert wird (vgl. etwa TC 0:42:45–0:43:50),1 bleibt das Programm ohne

1 SOLO SUNNY (DDR 1980), Regie: Konrad Wolf. TC: Zeitangaben nach der DVD: Icestorm 2015.

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Resonanz. Wo dieser Film, mit anderen Worten, Kunst zeigt (und das gilt schließlich auch für Sunnys eigenen Soloauftritt; TC 1:11:07–1:14:10), bleibt der Zuschauer unberührt, Leerstelle. b) Charakter-Design Neben dem selbstreflexiven Aspekt ist Kunst auch ein zentraler Aspekt des Protagonisten-Designs, ein Vehikel der Hauptfigur, den Dispositiven des Kollektivs sozial und künstlerisch zu entkommen. Immer wieder akzentuiert der Film den titelgebenden Kontrast zwischen Sunnys ‚Solo‘ – ihrem Streben danach, singulär, ein Star zu sein – und der sozialistischen Gemeinschaft. Inszeniert wird eine Wechselbeziehung, die ambivalent bleibt, ebenso übrigens, wie das Phänomen des Stars in der DDR insgesamt nur dynamisch zu denken ist.2 Die erste Szene des Films, die die Hauptfigur, relativ am Anfang der Geschichte, allein zeigt, demonstriert diese Spannung eindrucksvoll. Von der vollkommen stillsitzenden Protagonistin ist nur ein Ausschnitt in einem Spiegel zu sehen, im Vordergrund spielt ein Kassettenrekorder, Schminkutensilien sind zu sehen. Mit einem Schwenk nach oben wird die Szene zum Selbstporträt im Spiegel, die Remodulation der visuellen Trope des Blicks in den Spiegel, die seit frühen Stummfilmzeiten als Metapher der Selbstreflexion gilt und hier mit der Dyade von öffentlicher und Selbstwahrnehmung gekoppelt wird. Wir sehen Sunny weiterhin wie erstarrt, still und emotionslos vor dem Spiegel. Der Score wird beherrscht von einer instrumentalen Version des leitmotivischen Titelsongs. Im Verlauf der Szene fährt die Kamera, die hinter der Figur positioniert ist, langsam nach oben und nach links, wodurch das Spiegelbild effektiv ersetzt wird durch eine Schwarzweiß-Fotografie nicht der Protagonistin, sondern ihrer intradiegetischen Star-Persona. Was die Unheimlichkeit der Szene noch verstärkt, ist, dass Bildkomposition und Kameraführung das Bild zu animieren scheinen – mit dem Effekt, dass nicht nur belebt und unbelebt, sondern auch Beobachter und Objekt vertauscht sind. Auf den polemischen Punkt gebracht, kann man argumentieren, dass hier die konventionalisierte und symbolisch generalisierte Repräsentation der Figur ihren persönlichen, individuellen, und fehlerhaften Ursprung betrachtet. Insgesamt ist dieser Film mithin eine mehrfache Doppelgänger-Geschichte in der besten Tradition der schwarzen Romantik. Er entwickelt Dialektik zwischen zwei Identitäten, Ingrid (der proletarischen Vergangenheit des Charakters)

2 Lutz Warnicke etwa hat am Beispiel der Sportstars im Fernsehen demonstriert, wie dem Star in der DDR inszenatorisch immer der Rückbezug ins Alltägliche zugeschrieben wird (vgl. Warnicke 2006).

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und Sunny (eine Künstler- und Star-Persona), zwischen denen die Protagonistin hin- und hergetrieben ist. In gewisser Weise wird damit angespielt auf die oben angedeutete Struktur des ‚Nicht-mehr‘ und ‚Noch-nicht‘, allerdings hier in einer radikal subjektivierten, wenn man so will: ent-gesellschaftlichten Variante. Beide Gestalten, Ingrid und Sunny, hängen gleichwohl zusammen. Wenn Ingrid ein relativ normales Arbeitsleben und die Interaktion mit dem Kollektiv repräsentiert, scheint die Persönlichkeit Sunnys gerade durch deren Widerlegung charakterisiert zu sein. Nicht zufällig heißt dieser Film ‚SOLO‘ SUNNY, und in einem symbolischen Akt radikaler Individualisierung ist das einzige Bild im Film, das Ingrid als Teil des Kollektivs zeigt, eine Fotografie, aus der sie ihren eigenen Kopf herausgeschnitten hat (Abb. 7.1).

Abb. 7.1: Die Dialektik von Individuum und Kollektiv in SOLO SUNNY.

Darüber hinaus ist die Hauptfigur kein zweifelsfrei identifikatorischer Charakter. Die frühere Fabrikarbeiterin bleibt der Sängerin Sunny eingeschrieben. Die Protagonistin repräsentiert – gerade durch ihre zuweilen aggressive Art anderen gegenüber – alles andere als eine ideale Heldin, und das ist, glaubt man Wolf und Kohlhaase, durchaus gewollt. Worauf die Macher zielten und was Zuschauerbriefe in der Presse bestätigen, ist eine anfänglich oft aggressive Aversion der Hauptfigur gegenüber, die dann durch einen Akt allmählicher Identifikation ersetzt wird, die sich aus den durchsetzungsstarken und konsequenten Aspekten der Figur speist (vgl. Wischnewski 1980; Anonymus 1980).

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Anders als in anderen Filmen Konrad Wolfs macht SOLO SUNNY es dem Zuschauer explizit schwer zu entscheiden, ob es sich hier um einen starken oder schwachen, schönen oder hässlichen Charakter handelt, ob sie durch Emanzipation oder Entwurzlung charakterisiert ist, und ob es sich bei der Hauptfigur um eine talentierte Künstlerin handelt oder nicht. Dieses Oszillieren wird durch verschiedene textuelle und paratextuelle Qualitäten noch verstärkt: Dem zeitgenössischen Zuschauer muss, erstens, bewusst gewesen sein, dass Sunny nach der existierenden Sängerin Sanje Torka modelliert ist (vgl. Westphal 2009). Zweitens konstituiert die Schauspielerin Renate Krößner die physische Präsenz der Figur Ingrid/Sunny. Drittens aber müssen alle Gesangsperformances im Rahmen der visuellen Absenz der eigentlichen Künstlerin gesehen werden – wenn Krößner im Film singt, bewegt sie lediglich die Lippen zum Gesang der Jazz-Künstlerin Regine Dobberschütz. Die Protagonistin ist mithin gekennzeichnet durch die Überlagerung zweier Star-Personas, die noch durch eine dritte (die der Stimme) kompliziert wird. c) Leitmotive: Tod, Gewalt, Sexualität Gleichwohl ist die Selbstdefinition Sunnys, ihre Individuierung durch die Kunst, immer regressionsbedroht: Sie ist, wie der Film nahelegt, kein Ausnahmetalent. Der Conférencier bringt es mit dem Satz „Eine Nachwuchssängerin, nicht mehr ganz jung, wie Sie selbst sehen, aber immer noch Nachwuchs“ (TC 0:43:45) auf einen zynischen Punkt. Auch Sunny ist von permanenten Selbstzweifeln geplagt („Manchmal denke ich, ich bin gar keine richtige Sängerin“; TC 0:32:51). Dem Rauswurf aus der Band folgt die versuchsweise Rückkehr in die Arbeitswelt und, wohl einzigartig in der Geschichte des DDR-Films (abgesehen von COMING OUT; R: Heiner Carow, 1989), die Schilderung eines Suizidversuchs. Selbstmorde waren in der späten DDR ein akutes Problem (vgl. Blankenship 2017): Die Suizidrate lag, wie Udo Grashoff schätzt, im Osten etwa anderthalb Mal über der in der Bundesrepublik, zugleich wurden seit Beginn der 1960er Jahre die Zahlen dazu geheim gehalten (vgl. ausführlich Grashoff 2006). Ideologisch war die hohe Selbstmordrate ein Störfall, der dem proklamierten Ende der Selbstentfremdung in der sozialistischen Gesellschaft widersprach; politisch brisant ist die Darstellung des Suizidversuchs im Film sicher auch durch die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz auf dem Marktplatz von Zeitz am 18. August 1976. Aus kulturpolitischer Perspektive ist der Suizid in gewisser Hinsicht das ultimative Gegenstück zum nicht-antagonistischen Konflikt – der Doktrin, dass Probleme in der sozialistischen Kunst stets im Zeichen ihrer Überwindbarkeit zu zeigen waren. Die Szenen, die dem Selbstmordversuch folgen (beginnend TC 1:23:10) gehören visuell zu den eindrucksvollsten des Films: Sie präsentieren dauernden

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Stillstand: Therapiesitzungen, die von Schweigen dominiert sind, neblige Landschaften, Eisenbahngleise, verlassene Brücken – nichts weniger als Metonymien eines gesellschaftlich fossilierten Sozialismus. Auch sonst ist das Thema Tod in SOLO SUNNY überall präsent – bei einem Spaziergang über einen Friedhof, weil der Philosoph Ralph – Sunnys Liebesinteresse – sich mit dem Thema Tod und Gesellschaft (vgl. TC 0:47:30, 0:55:45) beschäftigt, und schließlich durch einen nicht durchgeführten Mord (beginnend TC 1:07:30). In einer Szene, die zunächst mit extremen Nahaufnahmen operiert und sich dann den Bildraum erweitert, sehen wir Sunny und Ralph zusammen erwachen. Eine idyllische Intimität, die ins Unheimliche umschlägt, als Ralph im Bett ein Messer entdeckt, immerhin auch ein phallisches Symbol, das Sunny im Lauf der folgenden Szene in ihrer Tasche verstaut, mithin als Eigentum kommuniziert. Der sich darauf entspinnende, von Ralphs Seite zunächst ungläubig, dann verzweifelt geführte Dialog endet fast lakonisch: „Sunny: Ich wollte dich umbringen. // Ralph: Und warum hast du’s nicht gemacht? // Sunny: Ich bin eingeschlafen.“ (TC 1:08:05) Diese Szene hebt mehrere Aspekte dieses Films deutlich hervor, die vom Modell des sozialistischen Realismus – der prinzipiellen Schablone für das Filmemachen in der DDR – deutlich abweichen. Sie inszeniert, wie oben angedeutet, einerseits einen unverhohlen antagonistischen, unlösbaren Konflikt, andererseits bleibt dieser Verstoß gegen die Verletzung des Überwindbarkeitsproblems aber wenig motiviert: Er betrifft nicht den Kern der Handlung, sondern inszeniert nur eine weitere Variante des ‚Solos‘, des Versuchs der Protagonistin, alleine zurechtzukommen. Ähnlich präsent wie der Tod ist in diesem Film – Thanatos und Eros – das Thema Sexualität, das hier regelmäßig mit dem Topos der Gewalt verknüpft ist. Tatsächlich ist die Art, wie Alltagsbrutalitäten des Zwischenmenschlichen gezeigt werden, frappierend, und das trifft insbesondere auf eine Szene zu (vgl. TC 0:38: 30–0:41:40), in der während eines Tour-Aufenthalts der Saxophonist der Band Norbert Sunny zu vergewaltigen versucht. Dies geschieht in einem Gemeinschaftsschlafraum – vor Zeugen also, die lediglich der Lärmbelästigung wegen das Wort ergreifen – und endet erst, nachdem Sunny mit einem Schuh auf ihren Angreifer einschlägt. Das Geschehen erinnert in der Art, wie das Begehren des Täters persönliche Verzweiflung zu kompensieren sucht („Sunny, ich bin kaputt, ich brauche jemanden.“ TC 0:38:40) und dann in schiere Brutalität umschlägt, durchaus an den späten Fassbinder. Konrad Wolf bemerkt dazu in einem Interview: „Für mich ist die schleichende, alltäglich selbstverständliche Brutalität in den Beziehungen viel aufregender und bedrohlicher als jeder unverhüllte Extremfall. Diese Mischung aus Gleichgültigkeit, Empfindungsarmut, Ich-Bezogenheit, aus denen sich

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Katastrophen vorbereiten, deren Ursachen dann keiner mehr entschlüsseln kann.“ (Zit. n. Wischnewski 1980) Dies als Teil der sozialistischen Gegenwart zu zeigen, war alles andere als selbstverständlich. Es ergibt wahrscheinlich Sinn, die Allgegenwart der Gewalt in diesem Film als Set von Übersprungshandlungen zu verstehen, als kompensatorische Reaktionen von Individuen, denen die Gesellschaft keinen Handlungsraum bietet. Das beginnt mit dem legendär gewordenen Satz „ist ohne Frühstück, ist auch ohne Diskussion“ (TC 0:06:31; mit dem Sunny einem One-Night-Stand die Tür weist), führt über die unglücklichen Liebesanstrengungen Sunnys gegenüber Ralph und Harrys gegenüber Sunny (vgl. ausführlicher Powell 2018). d) Handlungsort Prenzlauer Berg Betrachtet man den Film aus einer abstrakteren Perspektive als eine Verhandlung von Spielräumen im Sozialismus, nachdem die großen Fragen nach dem gesellschaftlichen Fortschritt nicht mehr gestellt werden – zwischen den Oppositionen von Konvention und Entgrenzung, Liebe und Gewalt, Stadt und Land, kollektiver Behausung und individueller Sinnsuche, ist der Prenzlauer Berg als symbolische Matrix von evidenter Bedeutung. Er ist der Handlungsort fast aller Filme, an denen Wolfgang Kohlhaase als Autor beteiligt ist. Darüber hinaus führt hier erstmals Eberhard Geick, ein neuer Kameramann, die Aufnahmen für einen Konrad-Wolf-Film. Geick war eigentlich Dokumentarfilm-Regisseur, schien aber dank seiner Jugend und seiner Prenzlauer-Berg-Sozialisation der geeignete Mann für den Job zu sein (vgl. Anonymus 1979). Die Kulturgeschichte der DDR (vgl. Felsmann/Gröschner 2012; Voigt 2016) hat den Prenzlauer Berg in den 80er Jahren als Brennpunkt alternativer Dichtung und Musik beschrieben, der sich von den großen gesellschaftlichen Fragen des staatlichen Sozialismus emanzipiert hat, und das ist in diesem Film bereits angedeutet. Wenn SOLO SUNNY konventionelle Lebensentwürfe und die Kleinkunst der „Tornados“ als Kulturindustrie präsentiert, geschieht dies auf dem Land, in einem Hotel oder in der Plattenbausiedlung von Sunnys Freundin Christine (Heide Kipp). Der Prenzlauer Berg dagegen, in dem sowohl Sunny als auch Ralph wohnen, erscheint als zugleich prekariatsnah und regelfern, ein Hoffnungsort, der mit alternativen Zuschauern resoniert haben muss. Während der Film auf einer konventionellen Bühne beginnt, endet er – und weist den Ausweg aus der Krise der Protagonistin – als Sunny, nach der Aufkündigung aller vorher existierenden Bindungen, einen Neuanfang im Prenzlauer Berg macht: Sie bewirbt sich bei einer neuen, nicht-professionellen, und ungebrochen enthusiastischen Band, die in einem Hinterhof probt. Die etablierte Kultur trifft am Ende des Films auf eine neue, die unverbraucht, und, wenn man so will, von der Vorgeschichte weithin un-affiziert ist. In der Geschichte kommt Sunny in dieser

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Szene zu sich selbst: Alle Auftritte zuvor fanden anderswo statt, nun, so das Versprechen, ist ihre Kunst dort, wo ihr Leben stattfindet. Abstrakter betrachtet sehen wir hier den Entwurf einer Synthese, der Wiedergeburt der etablierten Kunst durch das Zusammenspiel mit einer neuen. Historisch betrachtet kam dieser Entwurf für die DDR zu spät – der historische Prenzlauer Berg der 1980er Jahre wollte mit den Protagonisten traditioneller Kunstformen durchaus nichts mehr zu tun haben. e) Die nicht-konforme Frau In mancher Hinsicht repräsentiert SOLO SUNNY eine ganze Welle von Frauenfilmen, die die letzten 20 Jahre der ostdeutschen Filmgeschichte prägte. Mehr als die Hälfte der Gegenwartsfilme zwischen Honeckers Machtantritt und dem Ende der DDR-Filme waren mit weiblichen Hauptfiguren besetzt, was, wie oben angedeutet, umso erstaunlicher ist, weil es insgesamt nur vier Regisseurinnen gab: Hannelore Underberg, Ingrid Reschke, Evelyn Schmidt und Iris Gusner. Das hat damit zu tun, dass es bei der DEFA für Regisseure ein Festanstellungsprinzip gab – Engagements in der Regel auf Lebenszeit und unabhängig von der tatsächlichen Produktion. Daher ist in der DDR, in der die DEFA praktisch das Filmmonopol hatte, die Filmkultur hochkanonisiert, zerfällt in Generationen – und ist dominant männlich. Wenn die DDR-Männer-Regisseure in den 1970er Jahren beginnen, mit Nachdruck weibliche Hauptgestalten zu etablieren, ist das nicht unbedingt ein Zeichen echter Emanzipation. Vielmehr reproduziert die Männerclique der DEFA auch in der Hochzeit des Frauenfilms Handlungsklischees, in denen Männern Handlung und Konflikt, Frauen Rezeption, Stasis und Psychologie zugeeignet wird. Das Paradigma für das Geschichtenerzählen in der Endzeit der DDR gründet sich nunmehr auf die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Veränderung unmöglich geworden ist. Die Bedingung der Möglichkeit für Frauen als Protagonisten im DEFA-Film ist mithin, dass sie eine Form gesellschaftlicher Agonie repräsentieren, eine Ohnmacht, die sich mit dem Klischee des aktiven männlichen Protagonisten nicht mehr vereinbaren lässt. Der Frauenfilm in der DDR ist, abgesehen von ein paar Ausnahmen, nicht von Frauen oder für Frauen gemacht. Er dient als Selbstverständigung der Männer darüber, dass gesellschaftliche Veränderung in der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ (vgl. Hager 1972b) keine Option mehr ist. SOLO SUNNY, der die Genres von Frauen- und Künstlerfilm miteinander verschmilzt, korrespondiert mit diesem Trend insofern, als staatliche Institutionen im Film kaum eine Rolle spielen. Die Frage nach der sozialen Repräsentanz und Verantwortung der Kultur wird nicht nur nicht beantwortet, sie wird nicht gestellt.

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Er weicht vom Genre jedoch grundsätzlich ab, indem er – wie wohl kein anderer DEFA-Film – Sunnys Bedrohtheit, die Problematik der nicht-konformen Frau umfassend sichtbar macht. Beinahe jede Form gesellschaftlicher Abweichung durch Sunny hat im Film ein Komplement. Während bei der „solo“ agierenden Sunny der Annäherungsversuch durch den Saxophonisten in exzessiver Gewalt mündet, wird in einer anderen Szene ein ähnlicher Annäherungsversuch durch den Partner der Angesprochenen abgewendet, den stets chaotisch verlaufenden Quasi-Beziehungen Sunnys steht das geordnete Familienleben ihrer Freundin Christine gegenüber, Sunnys alternative Lebensentwürfe scheitern regelmäßig, während Ralph sich in seiner Nicht-Karriere relativ stabil eingerichtet hat. Immer wieder belegt die Geschichte Sunnys die besondere Gefahr non-konformistischen Verhaltens gerade für Frauen in der DDR. Nicht zuletzt dadurch gewinnt eine gesellschaftskritische Virulenz, die über andere Frauenfilme ebenso wie über Wolfs eigene vorhergehenden Künstlerfilme hinausgeht.

Filmverzeichnis BANKETT FÜR ACHILLES (DDR 1975), Regie: Roland Gräf, Drehbuch: Martin Stephan. BEETHOVEN – TAGE AUS EINEM LEBEN (DDR 1976), Regie: Horst Seemann, Drehbuch: Günter Kunert, Horst Seemann. COMING OUT (DDR 1989), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Wolfram Witt, Erika Richter. DENK BLOß NICHT, ICH HEULE (DDR 1964/65), Regie: Frank Vogel, Drehbuch: Manfred Freitag, Joachim Nestler. GOYA – ODER DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS (DDR 1971), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Konrad Wolf, Angel Wagenstein. ICH WAR NEUNZEHN (DDR 1968), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolf. JAKOB DER LÜGNER (DDR 1974), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Jurek Becker, Frank Beyer. JAHRGANG 45 (DDR 1965), Regie: Jürgen Böttcher, Drehbuch: Jürgen Böttcher, Klaus Poche. KARLA (DDR 1965), Regie: Hermann Zschoche, Drehbuch: Hermann Zschoche, Ulrich Plenzdorf. DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Heiner Carow, Ulrich Plenzorf. MAMA, ICH LEBE (DDR 1977), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolf. DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (DDR 1974), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, Gerhard Wolf. SOLO SUNNY (DDR 1980), Regie: Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase. SPUR DER STEINE (DDR 1965/66), Regie: Frank Beyer, Drehbuch: Frank Beyer, Karl-Georg Egel. DER VERLORENE ENGEL (DDR 1972), Regie: Ralf Kirsten, Drehbuch: Ralf Kirsten, Joachim Nestler, Manfred Freitag.

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Literaturverzeichnis Anonymus (1980): „‚Es ist etwas im Gange in der DDR‘. SPIEGEL-Interview mit dem DDRFilmregisseur Konrad Wolf“. In: Der Spiegel, Heft 15, S. 232–236. Anonymus (1979): „‚Nicht mehr ganz jung, aber immer noch Nachwuchs‘. Der Kameramann Eberhard Geick“. In: Neue Zeit vom 14.06.1979, S. 4. Agde, Günter (Hg.) (1991): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin: Aufbau. Allan, Seán (2014): „Representation of Art and the Artist in East German Cinema“. In: Marc Silberman/Henning Wrage (Hg.): DEFA at the Crossroads of East German and International Film Culture. Berlin/Boston, MA: De Gruyter, S. 87–106. Austin, Thomas (2016): „Spectral Cinema from a Phantom State: Film Aesthetics and the Politics of Identity in Divided Heaven and Solo Sunny“. Studies in Eastern European Cinema (7), Heft 3, S. 274–286. Beutelschmidt, Thomas/Wrage, Henning (2008): „Weite und Vielfalt. Reformansätze in der Fernsehdramatik.“ In: Rüdiger Steinmetz/Reinhold Viehoff (Hg.): Deutsches Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR-Fernsehens. Berlin: Verlag Berlin Brandenburg, S. 311–325. Berbig, Roland (1994): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung. Berlin: Links. Blankenship, Robert (2017): Suicide in East German Literature: Fiction, Rhetoric, and the SelfDestruction of Literary Heritage. Rochester, NY: Camden House. Carpentier-Tanguy, Xavier (2001): „Die Maske und der Spiegel. Zum 11. Plenum der SED 1965.“ In: Klaus Finke (Hg.): DEFA-Film als nationales Kulturerbe. Berlin: Vistas, S. 124–148. Eisold, Dietmar (1979): „Weite und Vielfalt der Kunst des Sozialistischen Realismus“. In: Neues Deutschland vom 03.12.1979. Felsmann, Barbara/Gröschner, Anett (2012): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg: Eine Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften. Berlin: Lukas. Grashoff, Udo (2006): „In einem Anfall von Depression.“ Selbsttötungen in der DDR. Berlin: Links. Hager, Kurt (1972a): Die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Berlin (DDR): Dietz. Hager, Kurt (1972b): „Zur Kulturpolitik der SED“. In: Neues Deutschland vom 08.07.1972. Honecker, Erich (1974): Die Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der Gesellschaft. Berlin: Dietz. Jacobsen, Wolfgang/Aurich, Rolf (2018): Der Sonnensucher. Konrad Wolf Biographie. Berlin: Bild und Heimat. Jäger, Manfred (1982): Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß. Köln: Edition Deutschland-Archiv. Jessen, Ralph (1995): „Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR.“ In: Geschichte und Gesellschaft, Heft 1, S. 96–110. Kaiser, Monika (1997): Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED in Konfliktsituationen 1962 bis 1972. Berlin: Akademie. Krampitz, Karsten (2016): 1976. Die DDR in der Krise. Berlin: Verbrecher.

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„Freiheitsversuch im Niemandsland“: Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN (1981) und die ästhetischen Gesellschaftsexperimente der späten DDR Lehrfilm, offene Gegend, herrschaftsfreier Raum: Thomas Brasch dreht ENGEL AUS EISEN (1981) Thomas Brasch hat nie einen Film über die DDR gedreht, und nachdem er im Gefolge der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1977 die DDR verlassen hatte, fand die DDR auch in seinem literarischen Werk kaum weitere Erwähnung. Seine Dramen und Prosastücke spielen zur Zeit des Expressionismus (Lieber Georg) oder in historisch nicht markierten gesellschaftlichen Minimalräumen (Frauen. Krieg. Lustspiel; Mercedes); sie berühren die DDR-Geschichte allenfalls in historischer Beiläufigkeit (Lovely Rita; Rotter).1 Sein großer und unvollendet gebliebener, 1999 lediglich in einer Kurzfassung erschienener Roman über den Mädchenmörder Brunke verbindet die Jahrhundertwende um 1900 mit der anderen ‚Wendezeit‘ nach 1989.2 Die DDR und die Mauer – sie scheinen bei Thomas Brasch geradewegs aus dem Blickfeld verschwunden zu sein. Und doch ist Thomas Braschs 1981 erschienener Film ENGEL AUS EISEN nicht nur eng mit der DDR verbunden, sondern auch ein DDR-Film – nicht, weil sein Autor und Regisseur, der 1945 geborene Sohn eines hohen DDR-Kulturfunktionärs, erst vier Jahre zuvor die DDR verlassen hatte, und nicht nur, weil sich sein literarisches und filmisches Werk stets auf eine spezifische DDR-Erfahrung – Zwangsexmatrikulation, Studium, Gefängnis, Fabrikarbeit – wie auf eine abwesende Wunde bezogen hat. ENGEL AUS EISEN ist vielmehr auch ein Film über die DDR, weil sich die Geschichte auf jenem staatenlosen Territorium abspielt, das sich wenig später in das geteilte Deutschland verwandelt. Die Ereignisse um eine Bande jugendlicher Krimineller mit ihrem Anführer Werner Gladow sind im besetzten Berlin der Jahre

1 Brasch 1988; 1989a; 1989b. Vgl. dazu Janssen-Zimmermann 1995; Ponath 1999 (dort auch zu den partiell in Westberlin spielenden Filmen DOMINO aus dem Jahr 1982 und DER PASSAGIER – WELCOME TO GERMANY aus dem Jahr 1987, S. 157–176, S. 223–234). 2 Brasch 1999. Zu diesem Romanprojekt und zur intellektuellen Biografie von Thomas Brasch vgl. Wilke 2010. https://doi.org/10.1515/9783110629408-009

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1948 und 1949 situiert, sie markieren die unmittelbare Vorgeschichte, eine Art Blaupause der anschließend errichteten DDR. Thomas Brasch, der sich stets über das ihm verpasste Etikett eines DDR-Dissidenten oder eines geflüchteten DDR-Schriftstellers beschwerte, der bis zur offenen Provokation darauf hinwies, dass er mit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik keinesfalls in einer anderen Gesellschaft gelandet sei und nur marginale Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Systemen wahrnehme,3 postuliert die Grenze und die Mauer gerade nicht als die entscheidende Differenz zwischen den beiden deutschen Staaten; vielmehr richtet sich sein Blick auf die Anwesenheit und Abwesenheit von staatlich-gesellschaftlichen Ordnungen schlechthin. Thema des Films ENGEL AUS EISEN ist ein temporär entstandenes ‚Niemandsland‘, das – so die These des vorliegenden Beitrags – einen fiktiv-ästhetischen Reflexionsraum der DDR-Literatur darstellt, insbesondere in den 1980er Jahren, nicht nur bei Thomas Brasch. Ein solches, in Thomas Braschs Werk häufig umkreistes, in den Orten und Figuren des Films ENGEL AUS EISEN besonders markant präsentiertes Niemandsland ist in spezifischer Hinsicht auf jene DDR hin orientiert, die 1949 kurz nach den im Film vorgeführten Geschehnissen entstand, die der Autor 1977 verließ und die 1990 zu existieren aufgehört hat. ENGEL AUS EISEN zeigt eine Geschichte und einen Zustand vor, aber auch jenseits und nach der DDR: ein Gesellschaftsexperiment über abwesende Staaten und über noch nicht entstandene oder gerade verschwundene deutsche Gesellschaften, eine ‚Mauerschau‘ ganz eigener Art. Im Jahr seiner Ausbürgerung wurde Thomas Brasch als DDR-Autor schlagartig berühmt: mit dem 1977 im Westberliner Rotbuch-Verlag erschienenen Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne, seinem einzigen Buch über die DDR (vgl. Brasch 1977). Es sind Geschichten über den Konflikt der Generationen, und bereits in der ersten Erzählung, „Fliegen im Gesicht“, wird dieser Konflikt exemplarisch, fast überdeutlich in Szene gesetzt. Der Held Robert, der sich mit dem Gedanken trägt, aus der DDR zu fliehen, trifft einen alten Mann, der einst im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Kommunisten gekämpft hatte: „Ich war in Spanien. Wir haben gekämpft und wir wußten wofür. Ich habe die Fliegen auf den Gesichtern der Toten gesehen. Ich war ein junger Mann. [. . .] Als es keinen Sinn mehr hatte, sind wir über die Grenze gegangen.“ (Brasch 1977, S. 18) Das Gespräch über die Erfahrungen unterschiedlicher Generationen nutzt Robert für die Darstellung seiner Ausweglosigkeit in einem Land, das einige Jahre zuvor erst die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten errichtet

3 Vgl. die dokumentierten Interviews und Statements nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik in: Häßel/Weber 1987, S. 144–148.

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hatte: „Über welche Grenze kann ich gehen, wenn es keinen Sinn mehr hat? [. . .] Ich kann nicht machen, was du konntest. Schließlich habt ihr um die schönen Häuser auch noch eine Mauer gebaut.“ (Ebd.) Der alte Spanien-Kämpfer versteht weder das Unbehagen noch die Wünsche des Jüngeren: „Was ist mit dir los. Wer hat dir was getan. Was willst du denn.“ (Ebd.) Robert antwortet mit einer anarchistischen Sehnsucht: „Was ich will, schrie er, diese Nabelschnur durchreißen. Die drückt mir die Kehle ab. Alles anders machen. Ohne Fabriken, ohne Autos, ohne Zensuren, ohne Stechuhren. Ohne Angst. Ohne Polizei. [. . .] Von vorn anfangen in einer offenen Gegend.“ (Ebd., S. 18 f.) Der drei Jahre später gedrehte Film ENGEL AUS EISEN ist die Probe aufs Exempel eines solchen Wunsches – „Von vorn anfangen in einer offenen Gegend“. Die Geschichte geht auf eine historische Begebenheit zurück: In dem von den amerikanischen und sowjetischen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzten und provisorisch geteilten Berlin der späten 1940er Jahre sorgte die Gladow-Bande mit ihren Verbrechen für Aufsehen. Der siebzehnjährige, alsbald als Berliner Al Capone stilisierte Werner Gladow nutzte die Verbindung zu dem ehemaligen, für beide Besatzungsmächte tätigen Scharfrichter Völpel, um an Informationen aus dem Polizeipräsidium und an Waffen heranzukommen; daraufhin weiteten sich die kriminellen Aktivitäten der Bande aus, von kleinen Diebstählen bis zum Raubüberfall auf größere industrielle Komplexe. Die Bande machte sich dabei die politische (Des-)Organisation der geteilten Stadt zunutze, zuletzt jedoch wurde Gladow gefasst und mit weiteren Bandenmitgliedern hingerichtet.4 Thomas Brasch stellt die historischen Ereignisse weitgehend detailgetreu nach, bereits die erste Idee zu diesem Film allerdings bezog sich auf ein spezifisches filmdidaktisches Modell: eine experimentelle Fallstudie über kriminelle Handlungen. Das ursprünglich aus einem Gespräch mit dem Regisseur Rainer Maria Fassbinder hervorgegangene Filmprojekt (vgl. Lorenz 1995, S. 352–359) intendierte eine fast dokumentarische Unterweisung in kriminelle Handlungen: „Es sollte ein Lehrfilm sein für ganz wenig Geld [. . .], so wie ein Film über das Leben der Ameisen oder über die Bergbauern, wie man das aus der Schule kennt, so sollte Gladow in diesem Lehrfilm ein Publikum in Kriminalität unterrichten.“ (Brasch 1981, S. 180) Unverkennbar ist dieser Plan mit der Literatur und Kultur der 1920er Jahre verbunden: mit dem Stil und der Atmosphäre der Neuen Sachlichkeit sowie mit

4 Vgl. die Rekonstruktion und Dokumentation der historischen Ereignisse in Brasch 1981, S. 132–219.

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Abb. 8.1: 1981, Zeit des kalten Krieges: Das Filmplakat © Joachim von Vietinghoff.

Bertolt Brecht. Für kurze Zeit hatte Thomas Brasch 1971 durch Vermittlung von Helene Waigel eine Anstellung am Bertolt-Brecht-Archiv gefunden, sein „Lehrfilm“ über kriminelle Praktiken erinnerte zehn Jahre später nicht von ungefähr an die „Verhaltenslehren der Kälte“,5 mit denen manche Autoren der Neuen

5 Vgl. die so betitelte, einflussreiche historische Bestandsaufnahme der Epoche und ihres literarisch-intellektuellen Profils: Lethen 1994.

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Sachlichkeit den angemessenen Umgang mit der modernen Welt einzuüben empfahlen und Gesellschaft auf Distanz zu halten versuchten. Brechts Theaterstück Im Dickicht der Städte (vgl. Brecht 1984) hatte davon ebenso Zeugnis abgelegt wie sein Lyrikband Aus einem Lesebuch für Städtebewohner, in dem ähnliche lehrhafte Maximen einer Überlebenstechnik in modernen Städten formuliert sind: „Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Bahnhof / Gehe am Morgen in die Stadt mit zugeknöpfter Jacke / Suche dir Quartier, und wenn dein Kamerad anklopft: / Öffne, oh, öffne die Tür nicht / Sondern / Verwisch die Spuren!“ (Brecht 1967, S. 267)6 Auch in den Ideen zum Film ENGEL AUS EISEN spielt die Stadt als Ort und Schauplatz bald eine große Rolle, ebenso wie die durch die „Figuren“ ins Spiel gebrachte „Kontinuität“ einer Geschichte, die sich – so Thomas Brasch – im Hinblick auf den historisch geprägten Stoff erst allmählich entwickelt hatte (Brasch 1981, S. 180). Die um Werner Gladow, den Scharfrichter Völpel und die Frau eines Bandenmitglieds, Lisa Gabler, zentrierte Geschichte handelt von ‚Städtebewohnern‘ am Rande der Gesellschaft: „Es ist erst einmal die Geschichte von drei Leuten, die, jeder für sich, ausgestiegen sind und sich in den Kellerlöchern der Gesellschaft aufhalten.“ (Ebd., S. 188) Eine Hauptrolle nimmt dabei die Stadt Berlin ein, die in der Interimszeit zwischen den Epochen und den politischen Systemen nicht nur das ‚Aussteigen‘ ermöglicht und solche ‚Kellerlöcher‘ hervorbringt, sondern eine Zwischenposition par excellence repräsentiert: „Die Stadt zwischen Panik und Gewöhnung, Krieg und Frieden, Vorkrieg und Nachkrieg; die Stadt im Aufbau: in Trümmern noch, mit Glanz schon wieder; die Stadt zwischen Besetzungsmächten und ihren Kulturen: Amerika und Asien“ (ebd.). Es ist genau jene ‚offene Gegend‘, von der Robert in Vor den Vätern sterben die Söhne gesprochen hat, und in einem weiteren Interview hat Thomas Brasch seinen Film als ein soziales Experiment des „Anarchismus“ umschrieben und damit an einem Ort jenseits der Gesetze und der Gesellschaftsordnungen platziert (ebd., S. 191). Zeitlich und historisch gesehen ist dieser Ort in eine Epoche verlegt, wo etwas zu Ende gegangen ist und nichts Neues anfängt; der Film präsentiert – so wiederum Thomas Brasch – einen „Freiheitsversuch im Niemandsland“ (ebd.), die historisch-utopische Phantasie eines herrschaftsfreien Raums.

6 Zu Thomas Braschs „Lehrstück-Dramaturgie“ im Anschluss an Bertolt Brecht vgl. Ponath 1999, S. 47–64.

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Vor und nach der Gesellschaft: Szenen der Anarchie Der Film inszeniert die ‚offene Gegend‘ und das ‚Niemandsland‘ zunächst auch in seinen visuellen Arrangements. Bereits das erste Standbild des Films ENGEL AUS EISEN, noch im Vorspann, mit dem Filmtitel als Insert, zeigt eine verlassene Straße (TC 0:00:42):7 eine Stadtlandschaft, in der alles verlassen und alles möglich scheint (Abb. 8.2).

Abb. 8.2: Leere Straßen, Niemandsland: Berlin 1948.

Ein zweites Bild (Abb. 8.3) rückt wenig später eine Mauer ins Bild, die im Jahre 1981 zunächst unweigerlich den Gedanken an die Berliner Teilung nahelegt (TC 0:01:30); es handelt sich allerdings um eine andere, durch das Straßenschild identifizierbare Mauer, auf dem ein Schriftzug, ein Graffiti zu lesen ist: „Die Führer kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt“. Das Gemäuer ähnelt einer Ruine und einer Friedhofsmauer, zugleich situiert sich der Film durch den auf der Mauer geschriebenen Text in einem temporären Zwischenbereich zwischen Kommen und Gehen, der die Herrschaft der ‚Führer‘ außer Kraft setzt. Ein weiterer ikonografisch prägnanter Ort des Filmbeginns ist der Grenzübergang, an dem 1961 – zeitlich nach der im Film gezeigten Geschichte – die Mauer erbaut werden wird (TC 00:03:28): eine im Film 7 ENGEL AUS EISEN (D 1981), Regie: Thomas Brasch. TC: Zeitangaben nach der DVD: filmedition suhrkamp 2010.

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noch fast zufällig markierte, ungesicherte und einfache Passage, deren Durchlässigkeit Gladows Aktivitäten zuallererst ermöglicht (Abb. 8.4).

Abb. 8.3: See the Writing on the Wall: Kein Staat, kein Ort, nirgends.

Abb. 8.4: Poröse Grenzen: Passagen und Freiheiten.

Zu diesen ersten Filmbildern gesellt sich das dominante akustische Element des Films: das laute Geräusch der Flugzeugmotoren, die als ‚Engel aus Eisen‘, als ‚Luftbrücke‘ der Alliierten, den Himmel bevölkern. Die den Menschen beherrschende politische Ordnung, die ‚Führer‘ ebenso wie die Wirtschaft und der Handelsverkehr, die Zeichen des Krieges, der Siegermächte und der Technologie – sie befinden sich allesamt über den Akteuren und über der Stadt, ohrenbetäubend hörbar, doch physisch abwesend, ein Ereignis in der Luft, dessen Abgehobenheit die anarchistischen Zustände auf der Erde zulässt und die Geschehnisse dort gleichsam ihrem eigenen Schicksal überlässt.

Abb. 8.5: Die Gladow-Bande im Niemandsland (1948/1981).

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Auf diese Weise etabliert sich – historisch zwischen der Kriegs- und Nachkriegsepoche, geografisch auf einem sich selbst überlassenen Terrain – die Freiheit eines Niemandslandes, in dem die Akteure des Films ihre Begegnungen und Verhandlungen nunmehr selbst zu organisieren gezwungen sind, sich dazu aber auch selbst ermächtigen. In einer Reihe von Close-Ups sucht der für das Polizeipräsidium arbeitende Völpel den Blickkontakt zu Gladow (TC 0:12:23), als er selbst – mit Stift und Papier, beim Einsammeln von Ausweisen – die Daten verdächtiger Personen aufnimmt, sich kurz darauf jedoch mit der kriminellen Bande zu verbünden sucht (Abb. 8.6, 8.7).

Abb. 8.6: Staatsvertreter, Beamte, Ordnungshüter: Auflösung der Macht.

Abb. 8.7: Gladow: Rebell und Bandenchef.

In einer urbanen Choreographie der allmählichen Annäherung verfolgt Völpel die Figuren Gladow und Lisa – vor dem Polizeipräsidium, auf dem Schwarzmarkt, vor dem Flugplatz, im Treppenhaus, im Kino (wo sich Gladow und Völpel in einer späteren Szene bezeichnenderweise einen anderen Endzeitfilm ansehen: den ersten Teil von Sergeij Eisensteins IWAN DER SCHRECKLICHE aus dem Jahr 1944). Die von leeren Straßen und Plätzen sowie von unklaren Suchbewegungen der Figuren und der Kamera geprägte Topografie der Stadt wird im Film auch durch entsprechende Metaphern gekennzeichnet. Als Gladow in einer der Straßenszenen aus dem Haus tritt, kommentiert eine Nachbarin das Wetter: „Daß du noch freiwillig aus’m Haus gehst bei der Hitze. Wie in der Wüste.“ (Brasch 1981, S. 34)8 Die „Wüste“ verwandelt sich daraufhin von einem bloßen Stichwort, einer versteinerten Metapher, in das Thema eines Dialogs: „Gladow: Waren Se schon mal da. Frau: Nee. Aber so stell ich sie mir vor.“ (Ebd.)

8 Die Figurenreden und Regieanweisungen des Films werden im Folgenden zitiert nach dem Drehbuch in Brasch 1981.

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Später führt Völpel Gladow zu seinem alten Arbeitsplatz, einem Hinrichtungsraum mit Guillotine, und bietet ihm dort die Zusammenarbeit an. Zugleich verbindet er sein eigenes Motiv mit einer Fantasie über das freie Leben danach: „In Hamburg geht’s los. In keinem Hafen länger als drei Tage. Warste schon mal am Meer . . . Ich sag dir: alles können wir haben.“ (Ebd., S. 63) „Wüste“ und „Meer“ sind komplementäre Räume, durch deren Nennung die Abwesenheit gesellschaftlicher Ordnungen auch sprachlich-metaphorisch evoziert wird. Das im städtischen Binnenraum entstandene Vakuum einer eigentlich abwesenden Gesellschaft charakterisiert auch die im Film anfangs gezeigten sozialen Interaktionen. Sowohl die Ehe des ehemaligen Scharfrichters Völpel als auch die Familie des Werner Gladow werden im Zustand der Auflösung vorgeführt: das teilnahmslose Nebeneinander und die Trauer zerstörter Beziehungen hier, ein nicht mehr das Bett verlassender, nur noch lamentierender Familienvater dort. Die bürgerlichen Fundamente des privaten alltäglichen Lebens – Ehe und Familie – sind außer Kraft gesetzt, ebenso auch die öffentlichen und staatlichen Institutionen: Der desillusionierte Polizeikommissar Schäfer wird zumeist Bier trinkend und unrasiert in einer so genannten „Polizeikneipe“ (ebd., S. 24) gezeigt, wo er sich offensichtlich die meiste Zeit aufhält und mit Völpel am Tresen steht. Bereits im Hof des Polizeipräsidiums hatte er den konfiszierten Alkohol gleich selbst getrunken; wie Völpel hat auch er die während der Berliner Luftbrücke nicht mehr bestehende Ordnung für sich aufgekündigt: „Mit uns deutschen Arschlöchern können sie’s machen. Ziehen durch die Stadt ’n Strich und wir können sehen, wie wir damit klarkommen. Die ganze Dienstordnung übern Haufen. Ordnung machen. Wie denn.“ (Ebd.) Der Zustand einer derangierten Ordnung bezieht sich nicht nur auf den Alltag sowie auf die staatlichen Institutionen und das organisierte Verbrechen; mit dem Kriegsende und der Auflösung gesellschaftlicher, sozialer und politischer Bindungen steht die moderne Welt selbst auf dem Prüfstand: Gladows Mutter organisiert Seancen, auf denen sie im Kreis von Frauen, deren Ehemänner vermisst oder gefallen sind, bei Kerzenlicht die Toten ins Leben zurückzurufen versucht. Damit sichert sich Frau Gladow wohl ihr Einkommen, solch okkulte Sitzungen haben in der Dramaturgie des Films aber zugleich den Zweck, das Niemandsland mit der partiellen und temporären Aufhebung von Rationalität und Aufklärung sowie mit der Revision gesellschaftlicher Modernität in Verbindung zu bringen. Dem Rückzug der Ordnungssysteme entspricht die historische tabula rasa eines gleichsam vor der modernen Gesellschaft gelegenen Zustands. Seinen filmisch-visuellen Ausdruck findet dieser Zustand immer wieder in den riesigen Geröll- und Ruinenfeldern, auf denen sich Gladow als entsprechend kleine Figur, als Spaziergänger und Wanderer, bewegt (TC 0:52.55): Er sucht sei-

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nen ziellosen Weg buchstäblich auf den Trümmern einer nicht mehr bestehenden Ordnung (Abb. 8.8).

Abb. 8.8: Anarchie aus Ruinen: Gladow im städtischen Niemandsland.

Negative Freiheit: ENGEL AUS EISEN als Gesellschaftsexperiment Der Film inszeniert den „Freiheitsversuch im Niemandsland“ als Abwesenheit von Ordnung, zugleich freilich stellt sich die Frage, worin die solcherart eröffnete Freiheit besteht, wohin der im Film präsentierte ‚Versuch‘ und der mit ihm verbundene narrative Verlauf der Geschichte eigentlich führen. Zunächst scheint es sich – in einem offensichtlich vorgeführten Gesellschaftsexperiment – um eine ausschließlich negative Freiheit zu handeln: die Abwesenheit von Zwang und Gesetz, die Freiheit zu tun, was man möchte, die Ermächtigung des eigenen Willens. Genau in diesem Sinn hat Thomas Hobbes im einundzwanzigsten Kapitel seines Leviathan die gesellschaftliche „Freiheit“ definiert: „Liberty, or Freedom, signifieth, properly the absence of opposition [. . .]. And according to this proper, and generally received meaning of the word, a FREEMAN, is he, that in those things, which by his strength and wit he is able to do, is not hindered to do what he has a will to do.“ (Hobbes 1983, S. 204) Hobbes spricht bei der Herstellung von Gesetzen und der Einrichtung einer gesellschaftlich-staatlichen Ordnung von der Produktion eines „künstlichen Men-

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schen“ („an artifical man“) und der Herstellung „künstlicher Ketten“: „for also have they made artificial chains, called civil laws“ (ebd., S. 205). Diese ‚Künstlichkeit‘ verdeckt die ursprüngliche, ‚wahre‘ oder ‚erste‘ Natur des Menschen, über die es lediglich Mutmaßungen, theoretische Überlegungen und historische Spekulationen anzustellen gilt. Für Hobbes sind die Gesetze notwendig, um den primär unzivilisierten Menschen im Zaum zu halten; für Rousseau verdecken sie lediglich die ursprünglich guten und friedfertigen Anlagen des Menschengeschlechts. Jede anarchistische Vision ist von der Verheißung geprägt, die Künstlichkeit solcher ‚Ketten‘ in Nichts aufzulösen, um sich auf diese Weise dem ‚Naturzustand‘ wieder anzunähern. Der ‚Freiheitsversuch‘ in ENGEL AUS EISEN macht die gesellschaftlichen ‚Fesseln‘ rückgängig; wie bei jedem mit Prämissen eines imaginären Ursprungs operierenden Gesellschaftsexperiment – sei es bei Hobbes oder bei Rousseau – stellt sich jedoch die Frage nach der mutmaßlichen, aber ebenso ursprünglichen Fortsetzung dieser gleichsam in vitro erzeugten Anfänge: die Frage nach der Art und Weise, wie die Entstehung und die Funktion einer gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung und Moral im experimentellen Zustand der Natur zu denken sei. Die im freien Raum eines anarchischen Niemandslandes agierende jugendliche Verbrecherbande in Thomas Braschs Film berührt nicht von ungefähr ein seit Platon und Augustinus diskutiertes moral- und staatsphilosophisches Problem: Auch die Räuber benötigen eine Ethik des Zusammenlebens, auch ihre neu gegründete Gemeinschaft ist offensichtlich von der Einhaltung von Regeln, von Ordnung und Zusammenhalt geprägt. Der in Thomas Braschs Film so deutlich präsentierte Gesellschaftszustand evoziert deshalb dieselben Fragestellungen wie die Gesellschaftstheorien von Hobbes und Rousseau: Wie werden nach dem Zusammenbruch oder in einem Vakuum gesellschaftlicher Ordnung die gemeinschaftlichen Beziehungen unter den Bandenmitgliedern, zwischen Gladow, Völpel und Lisa Gabler, hergestellt? Wie gestalten sich die Interaktionen der in eine solcherart negative Freiheit gesetzten Subjekte? Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN gibt hier zwei programmatische, in Filmszenen verdichtete Antworten. Als sich in einer Szene Gladow und Völpel in einem Auto treffen und Gladow seine Hand ausstreckt wie zu einer Begrüßung, zu einem Handschlag und einem zu besiegelnden Bündnis, überreicht ihm Völpel – mit den Worten „Na . . . Al Capone“ (Brasch 1981, S. 73) – stattdessen einen aus der Aktentasche gezogenen Revolver (TC 0:38:17, Abb. 8.9). Mit der Waffe weitet sich das organisierte Verbrechen aus; das Bündnis der beiden Hauptfiguren jedoch – so lässt sich dieser Austausch von Waren und Worten interpretieren – beruht auf einem rein strategischen Motiv: der geschäftlichen Transaktion, dem Tausch zur Verfolgung des eigenen Interesses. In einer anderen emblematischen Szene hat die Bande mit Waffengewalt Automotoren und Ersatzteile aus einem Berliner Motorenwerk erbeutet, die sie in einer

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Abb. 8.9: Komplizen der Kriminalität, Bündnis auf Zeit: Gladow und Völpel.

Art Fabrikraum in einer gemeinschaftlichen Aktion – ohne Gladow – zusammenschrauben. Ein Bandenmitglied verbindet damit ein lukratives Geschäftsmodell: „Erstklassisches Material. In spätestens zwei Monaten lecken sich alle MercedesWerkstätten danach die Finger. Eine Augenweide für jeden echten Mechaniker.“ (Brasch 1981, S. 91) Gladow betritt erst in diesem Moment den Raum (TC 0:50:38, Abb. 8.10), kommentiert dieses Modell seinerseits „verächtlich“ mit der Wiederholung des Terminus „Mechaniker“ (ebd.); in einer der nächsten Szenen versenkt er den LKW mit den Motoren – gegen handgreiflichen Widerstand der weiblichen Hauptfigur Lisa Gabler – in einem Teich. Die Szene der handwerkenden, an den Motoren schraubenden und arbeitenden Bandenmitglieder zeigt auch in ihrer ikonografischen Umsetzung – in einer Art ‚Werkhalle‘, mit enthusiastisch tätigen Arbeitern – ein Bild wie aus den regimefreundlichen Spielfilmen der DDR-Zeit: gesellschaftlich organisierte, fabrikähnliche Arbeit, ein arbeitendes sozialistisches Kollektiv. Das Drehbuch eröffnet die Szene dementsprechend mit der dramaturgischen Pointe eines ebenso poetischen wie agitatorischen sozialistischen Realismus: „Hände, die einen Motor auseinandernehmen / Hände, die einen Motorteil mit Benzin abwaschen / Hände, die eine Zündkerze reinigen.“ (Ebd.) Gladows destruktiver Widerstand gegen dieses auch historisch-ästhetische Produktionsmodell wiederum artikuliert die Absage an Arbeit als eine neue gesellschaftliche Basis des von negativer Freiheit beherrschten Niemandslandes. Die Bündnisse zwischen Völpel und Gladow sowie zwischen Gladow und Lisa, untergründig und doch unübersehbar von latenter Gewalt und Aggression geprägt, sind

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Abb. 8.10: Arbeiter, Utopien, Sozialistischer Realismus: Die verfehlten Alternativen.

Zweckgemeinschaften und frei von Solidarität. Statt einer neu aufzubauenden Gemeinschaft und auch statt längerfristiger ‚wirtschaftlicher‘ Perspektiven konzentriert sich Gladow auf den zuletzt erfolgenden Überfall auf das Berliner Elektrizitätswerk BEWAG. Diese letzte gemeinschaftliche Aktion der bereits in sich brüchig gewordenen Bande wird allerdings nicht in eine Fortsetzung der Geschichte, eine narrative Struktur überführt, sondern durch die Beendigung der Luftbrücke abrupt unterbrochen. Plötzlich setzt der Motorenlärm der Flugzeuge über der Stadt aus, Experiment und Geschichte werden von außen stillgelegt. Völpel erhebt Anspruch auf seinen Anteil, um die Stadt zu verlassen: „Ich bleib nich’ mehr hier. Mein Auto hab’ ich schon verkauft. [. . .] Verstehst du nicht. Die große Ordnung ist ausgebrochen . . . die da oben haben sich geeinigt.“ (Ebd., S. 114) Die sprachliche Inversion einer ‚ausgebrochenen Ordnung‘ deutet auf den im Film gerade vorgeführten Gesellschaftszustand einer organisierten und strategisch ausgenutzten Unordnung. Am Ende ist das Niemandsland aufgelöst; das Ende der negativen Freiheit und der Gladow-Bande wird im Film vom einzigen Mord begleitet, als Gladow den Chauffeur eines zu stehlenden Autos erschießt. Bezeichnenderweise zerfallen die in der Geschichte geknüpften strategischen Beziehungen mit einem Schlag: zwischen Gladow und Völpel, aber auch innerhalb der Bande, wenn Lisa Gabler bei dem in der Kneipe sitzenden Polizeikommissar Völpel als Mörder denunziert und damit auch Gladow der Justiz ausliefert. Völpel erhält vom Polizeikommissar das Angebot, seine Kontakte mit der Bande im Nachhinein als Undercover-Tätigkeit auszugeben, dadurch rehabilitiert zu werden und

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dem Polizeipräsidium zugleich zu einem öffentlichen Erfolg zu verhelfen. Gladow – darüber informieren die Inserts am Ende des Films – wurde 1950 hingerichtet, Völpel lehnte die weitere Zusammenarbeit mit den Behörden ab und starb 1959 nach siebenjähriger Haft. Das Niemandsland in Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN erprobt die Gesellschaftsform der negativen Freiheit: In einem Zustand aufgelöster Ordnung lassen sich lediglich strategische Beziehungen zur Herstellung und Vermehrung individueller Freiheit beobachten, nicht jedoch der Aufbau einer wie auch immer gearteten gesellschaftlich-sozialen Ordnung oder die Anfänge einer sich auf gemeinsame Zielsetzungen stützenden Gemeinschaft. Der Film erteilt damit auch den sich historisch anschließenden Gesellschaftssystemen („Die große Ordnung ist ausgebrochen“) eine deutliche Absage. Für Thomas Braschs weiteres literarisches Werk repräsentiert der „Freiheitsversuch“ in ENGEL AUS EISEN deshalb ein Gesellschaftsmodell, das auch für die Entstehungszeit des Films um 1980 und für die Zeit nach Beendigung der DDR im Jahr 1989 Gültigkeit beansprucht. Folgerichtig entwirft Brasch in seinem Werk auch weiterhin eine Reihe fiktiver ‚Niemandsländer‘. Man könne Braschs Werke der 1980er Jahre insgesamt – so ein früher Interpret – „als einen anarchistischen Anschlag auf die Werte des Staates: Arbeit, Leistung, Ordnung lesen“ (Davis 1987, S. 406). Das Schauspiel Mercedes (1983) setzt das Experiment von ENGEL AUS EISEN gewissermaßen fort und präsentiert den Stillstand auf einem fast apokalyptischen, zwischen Arbeitslosigkeit und Industrieruinen unspezifisch lokalisierten Territorium. Das Romanprojekt Mädchenmörder Brunke schließlich entlarvt die Ordnungsbemühungen des 20. Jahrhunderts allesamt als Herrschaftsgesten einer instrumentellen Vernunft und die Anstrengungen, Gegenbewegungen und Antworten der ihr unterworfenen Subjekte als eine Serie fortgesetzter sozialer Pathologien (vgl. Erhart 2008). Der historisch initiale Moment eines noch möglichen „Freiheitsversuchs“ allerdings bleibt die in ENGEL AUS EISEN vorgeführte Zwischenzeit eines von vorausgegangenen und nachfolgenden Mächten freien Berlin, ein Land ohne Mauern, in dem nicht nur jene zum Symbol gewordene innerdeutsche Grenze, sondern jeder staatliche Ordnungsversuch demonstrativ fehlt.

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Naturzustand und Gemeinschaft: Alternative Niemandsländer bei Thomas Brasch und Stefan Heym In der politischen Theorie bildet die in ENGEL AUS EISEN ebenso historisch wie modellhaft präsentierte negative Freiheit oftmals nur den Ausgangspunkt einer Reflexion über andere Formen sozialer und gesellschaftlicher Freiheitsvorstellungen. Spätestens seit Hegel dient das Experiment des die negative Freiheit beschränkenden „Leviathan“ in der Theorie des Thomas Hobbes als Ausgangspunkt, um über eine reflexive und ‚positive‘ Form der gesellschaftlichen Freiheit nachzudenken (vgl. Berlin 1995). Diese Reflexion hätte genau dort zu beginnen, wo im Film von Thomas Brasch die alten gesellschaftlichen Formen der Familie, des Staates und der rationalen Ordnungssysteme zusammenbrechen und neue, im Film nur angedeutete und sofort wieder strategisch und negativ besetzte Bündnisse entstehen: Freundschaft, Liebe, Gemeinschaft. Axel Honneth hat 2011 in seinem grundlegenden gesellschaftstheoretischen Entwurf Das Recht der Freiheit die von Hegel inspirierte Vorstellung einer „individuellen Freiheit“ aus solchen von den Individuen gesuchten und organisierten sozialen Formen hergeleitet: Für vergesellschaftete Subjekte muß es eine Art von Selbstverständlichkeit bilden, daß der Grad ihrer individuellen Freiheit davon abhängig ist, wie responsiv sich die sie umgebenden Handlungssphären gegenüber ihren Zielen und Absichten verhalten: Je stärker sie den Eindruck haben können, daß ihre Zwecke von denjenigen unterstützt, ja getragen werden, mit denen sie regelmäßig zu tun haben, desto eher werden sie ihre Umwelt als den Raum einer Expansion ihrer eigenen Persönlichkeit wahrnehmen können. Die Erfahrung eines solchen ungezwungenen Zusammenspiels zwischen Person und intersubjektiver Umgebung stellt für Wesen, die auf Interaktionen mit ihresgleichen angewiesen sind, das Muster aller individuellen Freiheit dar. (Honneth 2011, S. 113)

Gesellschaftsexperimente sind Ausdruck einer kritischen Bestandsaufnahme existierender Gesellschaften: Die fiktive Vergewisserung eines ‚Naturzustandes‘ und einer eigentlich anzustrebenden Gemeinschaft dient jeweils dazu, gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Pathologien mithilfe eines normativen Gegenbildes deutlich sichtbar zu machen. Ob ‚Naturzustand‘ oder Freiheitsfantasie – stets modellieren solche Gesellschaftstheorien und Fiktionen eine experimentelle, kontrafaktische „Umwelt“, die den Subjekten entgegenkommt, als „responsiv“ angelegt ist und der ‚Natur‘ des Menschen mutmaßlich mehr entspricht. Thomas Brasch hat an diesem Modell die ‚kalte‘ Person des Verbrechers, die strategische Option der negativen Freiheit, in den Vordergrund gerückt, eine

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Anarchie, deren Freisetzung die Autonomie des Einzelnen begründet, zugleich aber zu keiner neuen Vergesellschaftung führt. Bezeichnenderweise war im letzten Jahrzehnt der noch existierenden DDR nicht nur Thomas Brasch an dem Modell eines ‚Niemandslandes‘ als Versuchsort alternativer Gesellschaftsentwürfe interessiert. Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym hat diese Idee 1984 an einem anderen, ebenso symbolträchtigen historischen Modell erprobt: an der von den alliierten Siegermächten im Jahre 1945 für einige Wochen nicht besetzten Stadt Schwarzenberg im Erzgebirge. In seinem nur wenige Jahre nach Braschs Film erschienenen Roman Schwarzenberg verwandelt Heym die historische Begebenheit ebenfalls in ein fiktives Experiment, einen gesellschaftlichen ‚Freiheitsversuch‘ ganz anderer Art, der jedoch auf den gleichen Voraussetzungen beruht wie bei Thomas Brasch (vgl. Heym 1984). Nach dem Zerfall der politischen Ordnung übernehmen die Siegermächte dort noch nicht das Kommando, stattdessen entsteht auf diesem Terrain eine Übergangszeit ohne Staat, in der sich das Experiment einer anderen Gesellschaftsform entwickeln kann. Anders als bei Brasch verlaufen die Dinge schon zu Beginn anders. Das Experiment beginnt mit einer Gründungsabsicht, nicht als entstehendes Vakuum einer sich selbst überlassenen ruinösen Stadtlandschaft. Als eine Gruppe von Bürgern in Heyms Roman versucht, mit dem Einverständnis der amerikanischen und sowjetrussischen Behörden einen temporären eigenständigen Gesellschaftszustand herzustellen, ergreift gemäß den fiktiven Aufzeichnungen der Figur Kadletz eine weitere Hauptfigur, Max Wolfram, bezeichnenderweise in einer „Versammlung“, das Wort: „Der Genosse Kadletz hat vorhin von einem Niemandsland gesprochen. Aber sind wir denn niemand? Ist dieses Land kein Land, sind diese Berge und Wälder keine Heimat, sind diese Städte und Dörfer, ob auch zerstört, diese Gruben und Werke, ob auch stillgelegt, nicht unser Erbteil?“ (Ebd., S. 39) Das hier als Land zwischen den historischen Epochen etikettierte „Niemandsland“ wird nicht nur angeeignet und als „Heimat“ und „Erbteil“ in Besitz genommen, es wird – politisch, kulturell, semantisch – auch neu benannt, in einem Hin und Her der Versammlungsreden und im Dialog zwischen Wolfram und Kadletz: „ [N]ennen wir’s nicht Niemandsland, nennen wir es – ’ / ‚ – Republik Schwarzenberg‘ sagte ich halb im Scherz und dennoch mitgerissen vom Schwung seiner Worte“ (ebd.). Das „Niemandsland“ bei Stefan Heym und in der selbst ernannten Republik Schwarzenberg ist räumlich und zeitlich, als Natur („Berge und Wälder“) und als kulturelle Überlieferung („Erbteil“), mit der Vergangenheit assoziiert; daraus ziehen seine Bewohner ihre Legitimation. Gerade dadurch entsteht eine gemeinschaftlich bestimmte Bewegung, die eine mit dem Begriff „Niemandsland“ evozierte ‚negative‘ Freiheit auf ‚positive‘ Elemente, auf Kontinuität und Zukunft

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hin orientiert. Bestimmt vom „Schwung“ der „Worte“, lässt sich die Hauptfigur sofort rhetorisch überreden, obwohl sich die anderen Zuhörer davon (noch) nicht überzeugen lassen: „[T]atsächlich bröckelte die Stimmung, die er erzeugt hatte, feierlich und unwirklich, in gleichem Maße, bereits ab, und ein Kopfschütteln hier und dort deutete an, daß so mancher sich zu überlegen begann, was das große Gerede denn solle zu einer Zeit, wo alles im Zerfall war“ (ebd., S. 40). Auch wenn die Rhetorik hier noch auf jene ‚Unwirklichkeit‘ bezogen ist, die der Roman selbst als fiktives Experiment vorführt, „erzeugt“ sie im Einzelfall – und als romanhafte Darstellung auch bei den Leserinnen und Lesern – jene ‚responsive‘ Haltung, die Axel Honneth als „Erfahrung [. . .] eines ungezwungenen Zusammenspiels zwischen Person und intersubjektiver Umgebung“ (Honneth 2011, S. 113) und als Grundlage einer ‚positiven‘ individuellen Freiheit bestimmt hat. Der Roman Schwarzenberg versucht, diese Erfahrung mit ästhetisch-literarischen Mitteln zugleich selbst herbeizuführen. Wie in der Szene mit dem „Schwung“ der „Worte“ artikuliert der Roman eine zur Gemeinschaft führende Stimmenvielfalt, die sich aus den autobiografischen Aufzeichnungen des „Genossen Kadletz“, den Figurenreden und der internen Fokalisierung auf den Helden Max Wolfram zusammensetzt und dabei die zunehmend gemeinschaftliche Organisation der „Aktionsausschüsse“ und der Dorfbevölkerung literarisch orchestriert. Sogar die Amerikaner beginnen sich bald für das Gesellschaftsexperiment zu interessieren. In einer Unterredung mit Wolfram geht es dem Lieutenant Lambert am Ende dabei weniger um eine ‚responsive‘ Rhetorik als um die gesellschaftstheoretischen Implikationen: „‚Sergeant‘, unterbrach Lambert, ‚bringen Sie uns doch Kaffee. Und ein Sandwich für Herrn Wolfram, bitte [. . .]. Und was [. . .] wäre nun Ihre besondere Perspektive in diesem Falle?‘ – ‚Schwarzenberg als Labor [. . .]. Als Labor zur Entwicklung einer echten Demokratie.‘ [. . .] ‚Utopia‘, sagte Lambert, ‚das Land Nirgendwo.‘“ (Heym 1984, S. 242 f.) „Niemandsland“ und „Nirgendwo“ sind Bezeichnungen für historische Lücken und Leerstellen, die in Heyms Roman – anders als bei Brasch – eine deutlich positive und zukunftsorientierte Bedeutung sowie ein mit Gemeinschaft verbundenes Prädikat erhalten. Sie deuten auf ein Experiment, das ebenso temporär ist und ebenso misslingt wie bei Thomas Brasch; anders als in ENGEL AUS EISEN jedoch bleibt die damit verbundene Interimszeit kein Exempel einer negativen Freiheit, sondern bildet – zwischen den Epochen, vor der DDR – das Modell für eine utopische, nie dagewesene Republik. Am Ende des Romans formuliert eine innere und somit mit der Stimme des Erzählers eng verbundene Rede des Max Wolfram die Botschaft des Textes: Scheinbar bleibe „nichts“ mehr übrig von diesem Experiment, keine „Hoffnung“ in Bezug auf die hier nur kurz initiierte Republik, „es sei denn auf ein anderes Schwarzenberg irgendwo, das andere Menschen zu errichten haben würden in einer anderen Zeit.“ (Ebd., S. 246)

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Thomas Braschs ENGEL AUS EISEN und Stefan Heyms Schwarzenberg sind gleichsam seiten- und spiegelverkehrte Imaginationen über ein historisches Niemandsland zwischen den Staaten und zwischen den Epochen: im einen Fall das kurze Intermezzo einer anarchistischen Abwesenheit von Ordnung und Staatlichkeit, eine negative, individualistische Freiheit, die mit dem Scheitern der dabei entstehenden strategischen Zweckgemeinschaften an ihr Ende gelangt, im anderen Fall das Intermezzo einer utopischen Ordnung, das Scheitern eines ‚Freiheitsversuchs‘ anderer Art, in der sich die Gemeinschaftlichkeit möglicher neuer politischer und gesellschaftlicher Ordnungen trotz des begrenzten lokalen und zeitlichen Raums bereits modellhaft formiert: mit Institutionen, Ausschüssen, Abstimmungsprozessen, diskursiven Aushandlungen. Film und Roman entwerfen mit ihren je eigenen ästhetischen Mitteln die kontrastierenden Phantasien eines danach als DDR fortgesetzten Niemandslandes – ein Blick gleichsam über die DDR und über die später entstandene Mauer zurück, auf einen möglichen ‚Naturzustand‘ vor der DDR, auf einen Anfang anderer Art. Umgekehrt entstehen diese vergleichbaren Szenarien nicht von ungefähr in einer Zeit der DDR-Gesellschaft, in der sich die Bevölkerung zunehmend selbst als fremd und heimatlos, als in einer Art Niemandsland empfand. Die DDR-Literatur der 1980er Jahre reagierte auf die damals bereits spürbaren Auflösungserscheinungen dieser realen sozialistischen Republik mit subversiver ästhetischer Vielfalt bei gleichzeitig zunehmender Zensur (auch Stefan Heyms Roman durfte 1984 nicht in der DDR erscheinen; vgl. Schössler 2014), mit Verweigerung, ‚Endspielen‘ und dem Bewusstsein, in einer „Übergangsgesellschaft“ zu leben.9 Auch die Idee und das historisch greifbare Modell eines Niemandslandes setzte damals eine Phantasie in Gang, die in den 1980er Jahren eng mit der DDR selbst verbunden war, besonders auch in Bezug auf die mit den Namen Brasch und Heym prominent personalisierten gesellschaftlichen Erwartungen, Haltungen und Positionen.

Ein Bogen um die Geschichte: Utopien und Laienspiele nach der DDR Der Film ENGEL AUS EISEN und der Roman Schwarzenberg präsentieren zu dieser Zeit zwei unterschiedliche Reaktionen, zwei utopische Alternativen 9 Zur entsprechenden DDR-Literatur in den 1980er Jahren vgl. bereits den ursprünglich kurz nach 1989 entstandenen literaturhistorischen Rückblick in: Barner 2006, S. 873–922. Der Begriff „Übergangsgesellschaft“ – Titel eines Theaterstücks von Volker Braun aus dem Jahr 1982 – findet sich bereits als Überschrift einer Anthologie des Jahres 1989: Reichel 1989.

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und ‚Freiheitsversuche‘, zwei politische und gesellschaftstheoretische Entwürfe im Schatten der Mauer. Während Thomas Brasch die Verheißung individueller Anarchie ins Zentrum stellt, erinnert Stefan Heym an die Chance eines anderen Gemeinwesens.10 Auf die Zustände der DDR lässt sich in den 1980er Jahren sowohl aufbegehrend-eruptiv als auch utopisch-politisch reagieren, beim Fall der Berliner Mauer 1989 werden zuletzt beide Optionen reaktiviert, und über die Fortdauer und den Verlust solcher Phantasien und Utopien zeugen nach 1989 nicht zuletzt die literarischen Werke, die schriftstellerischen Biografien und die jeweilige Wirkungsgeschichte der Autoren Thomas Brasch und Stefan Heym. Vom Ende der beiden mit ENGEL AUS EISEN und Schwarzenberg in Szene gesetzten utopischen Energien eines Niemandslandes kündet später aber auch ein weiterer, dritter Versuch, den historischen Moment um 1945 mit neuem fiktiven Leben zu füllen. Volker Braun hat die Episode der Republik Schwarzenberg im Jahr 2004 noch einmal nachgestellt. In seinem Prosastück Das unbesetzte Gebiet wird das Geschehen von einem distanzierten Erzähler geschildert, in einer Reihe von Fragmenten, als eine Art Chronik vergangener Zeiten. Als „Niemandsland“ wird das Gebiet mehrfach adressiert: „Es hatte sie niemand gerufen, und niemand ernannt. Sie waren im Niemandsland.“ (Braun 2004, S. 21) Geschichtsmächtig, gegenwartsnah und mit utopischer Freiheit verbunden ist diese Idee hier freilich nicht mehr. Volker Braun lässt seine Figuren sinnieren, was passiert, wenn „die Geschichte um uns einen Bogen macht“, der Erzähler wiederum tituliert die Überlegungen sogleich als Ausdruck einer „absurden Sehnsucht“ (ebd., S. 45). Die Historie wird hier nicht mehr gestaltet, sondern ausgesetzt; der Chronist taucht die Geschehnisse demzufolge in das Licht melancholischer Trauer. Mehr noch evozieren die Theater-Metaphern der Erzählung die Vergeblichkeit dieser nicht stattgefundenen Geschichte, zugleich auch die Sinnlosigkeit jedes historischen Geschehens. Wie das sich an diesen historischen Moment anschließende Staatswesen der DDR selbst – so ist zwischen den Zeilen zu lesen – sind gesellschaftliche Experimente mit der Freiheit schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie allenfalls punktuell realisiert und von vornherein in einem illusionären Rahmen verortet sind, als Theaterstücke mit begrenzter Laufzeit: „Ein Laienspiel, das der Ami grinsend, der Iwan verblüfft verfolgte, bevor das agitatorische Stück abgesetzt wurde.“ (Ebd., S. 100) Im distanzierten Blick auf ein theatrum mundi scheint sich die bei Brasch und Heym entfaltete politische und gesellschaftstheoretische Wirkung eines

10 Im Roman selbst finden sich deshalb auch konkrete Angaben zu der von Max Wolfram entworfenen „Verfassung“ der Republik Schwarzenberg (Heym 1984, S. 124–134); vgl. dazu Lindner 2002, S. 154–167.

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‚Niemandslandes‘ zuletzt gänzlich aufzulösen. Mit der DDR sowie mit der ‚Nachwendezeit‘ haben sich sowohl die Energien des anarchischen Aufbegehrens als auch die Utopien, der Blick auf einen Möglichkeitsraum vor und nach der DDR erschöpft. Nicht zuletzt Volker Brauns literarisches Werk nach 1989 hat fortgesetzt von dieser Erschöpfung und entsprechenden Verlusterfahrungen erzählt. Mit Blick auf fortdauernde Mauern und Grenzen in einer globalisierten Welt, inmitten von ökonomischen Regimes und neoliberalen Herrschaftsordnungen, bedrängt von gesellschaftlich einengenden Verhältnissen und den in spätmodernen Zeiten nicht weniger gewordenen Erfahrungen von gesellschaftlicher Missachtung und persönlichen Herabsetzungen, von überall spürbaren sozialen „Verwilderungen“ (Honneth 2013) aller Art – kurz: In der Gegenwart bildet das ‚Niemandsland‘ nach wie vor eine Ahnung von Freiheiten und Möglichkeiten, deren Vielfalt sich nicht zuletzt der Reichweite ästhetischer Imaginationen verdankt.

Filmverzeichnis ENGEL AUS EISEN (D 1981), Regie und Drehbuch: Thomas Brasch. DOMINO (D/F 1982), Regie und Drehbuch: Thomas Brasch. IVAN GROZNYY (SU 1944, IWAN DER SCHRECKLICHE I), Regie und Drehbuch: Sergeij Eisenstein. DER PASSAGIER – WELCOME TO GERMANY (GB/CH/D 1988), Regie: Thomas Brasch, Drehbuch: Thomas Brasch, Jurek Becker.

Literaturverzeichnis Barner, Wilfried (Hg.) (2006): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart [1994]. 2. Aufl. München: Beck. Berlin, Isaiah (1995): Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brasch, Thomas (1977): Vor den Vätern sterben die Söhne. Berlin: Rotbuch. Brasch, Thomas (1981): Engel aus Eisen. Beschreibung eines Films. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brasch, Thomas (1988): „Mercedes“. In: Ders.: Lovely Rita. Berlin: Henschel, S. 63–118. Brasch, Thomas (1989a): Lovely Rita, Rotter, Lieber Georg. Drei Stücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brasch, Thomas (1989b): Frauen. Krieg. Lustspiel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brasch, Thomas (1999): Mädchenmörder Brunke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Braun, Volker (2004): Das unbesetzte Gebiet. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1967): „Aus einem Lesebuch für Städtebewohner“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 267–276. Brecht, Bertolt (1984): Im Dickicht der Städte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Davis, Geoffrey V. (1987): „‚Gegenbilder‘. Ordnung und Anarchie im Werk Thomas Braschs“. In: Margarete Häßel/Richard Weber (Hg.): Arbeitsbuch Thomas Brasch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 392–409.

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Walter Erhart

Erhart, Walter (2008): „‚Schreib den Roman deiner Generation‘. Thomas Brasch und die Dialektik der Aufklärung.“ In: Marc W. Rectanus (Hg.): Über Gegenwartsliteratur / About Contemporary Literature: Interpretationen und Interventionen / Interpretations and Interventions. Festschrift für/for Paul Michael Lützeler. Bielefeld: Aisthesis, S. 175–192. Häßel, Margarete/Weber, Richard (Hg.) (1987): Arbeitsbuch Thomas Brasch. Frankfurt a. M. Suhrkamp. Heym, Stefan (1984): Schwarzenberg. Roman. München: btb. Hobbes, Thomas (1983): Leviathan. Glasgow: Collins. Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp. Honneth, Axel (2013): „Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ In: Ders. et al. (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 17–39. Janssen-Zimmermann, Antje (1995): „Träume von Angst und Hoffnung“. Untersuchungen zum Werk Thomas Braschs. Frankfurt a. M. u. a.: Lang. Lethen, Helmut (1994): Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lindner, Doris (2002): Schreiben für ein besseres Deutschland. Nationenkonzepte in der deutschen Geschichte und ihre literarische Gestaltung in den Werken Stefan Heyms. Würzburg: Königshausen & Neumann. Lorenz, Juliane (1995): „‚Ändere die Welt‘. Interview mit Thomas Brasch.“ In: Dies. (Hg.): Das ganz normale Chaos. Gespräche über Rainer Werner Fassbinder. Berlin: Henschel, S. 352–359. Ponath, Jonas (1999): Spiel und Dramaturgie in Thomas Braschs Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann. Reichel, Peter (Hg.) (1989): Die Übergangsgesellschaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR. Berlin: Reclam. Schössler, Franziska (2014): „DDR-Dramen der 1980er Jahre. Krisen und ästhetische Vielfalt.“ In: Der Deutschunterricht (66), Heft 4: Was bleibt? Erinnerung an die DDR-Literatur, S. 24–34. Wilke, Insa (2010): Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch. Berlin: Matthes & Seitz.

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Ostwärts – Westwärts: Wege zur Wende im Kurzfilm Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen Am 27. Oktober 1954 wurden die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen gegründet.1 Unter dem Motto „Wege zum Nachbarn“ verstand sich das älteste Kurzfilmfestival der Welt, als dies noch nicht politisch opportun war, als Vorreiter einer auf Dialog ausgerichteten Politik. Als „Fenster zum Osten“ wurde speziell osteuropäischen (aber auch ostdeutschen) Filmen ein Forum geboten, was im Rückblick als historische und bleibende Leistung der Kurzfilmtage zu verzeichnen ist: „Wir haben den Durchbruch hier in Oberhausen auch für andere westliche Festivals geschafft, wir haben der damaligen Politik des Kalten Krieges der Bundesrepublik entgegengesteuert, indem wir gezeigt haben, dass auch drüben Filmkunst ist, dass es auch drüben selbstkritische Filme gab“ erinnerte sich der Festivalgründer und langjährige Leiter Hilmar Hoffmann im Rückblick (zit. n. Bernstorff 2008, S. 107). Filme aus der DDR wurden gezeigt, die sonst nicht in der Bundesrepublik zu sehen waren; bis 1967 liefen Produktionen aus West- und Ostdeutschland sogar in gemeinsamen deutschen Länderprogrammen: „‚Der Weg zum Nachbarn‘ ist nicht allein ein Motto der Toleranz, an der es im Kalten Krieg lange Zeit unter konservativen Regierungen in der BRD mangelte, sondern auch der Weg zur Öffnung“ (Günter 2004, S. 37). Die politische Entscheidung der Kurzfilmtage, auf die SED-Kulturbürokraten zuzugehen, hatte aber auch eine Kehrseite, „sie erforderte von Oberhausen nicht nur viel diplomatisches Geschick [. . .] und die Bereitschaft zu Kompromissen bei der Einladung von Filmen und Regisseuren; die Verhandlungen konnten auch demütigend sein, weil man immer wieder auf unüberwindliche Hindernisse stieß“, wie Programmkurator Wilhelm Roth zum 30. Jubiläum des Festivals in der Broschüre zu einer „Kritischen Retrospektive“ des Festivals bemerkte (Roth 2004, S. 9). Frei von Trübungen und Spannungen war die kulturelle Annäherung nie. Repräsentativ für die deutsch-deutschen Beziehungen war nicht nur der hartnäckige Kampf der DDR um staatliche Anerkennung, sondern auch die

1 Gegründet wurde das Festival unter dem Namen Westdeutsche Kulturfilmtage, ab 1959 hieß es Westdeutsche Kurzfilmtage; 1990 erfolgte die Namensänderung in Internationale Westdeutsche Kurzfilmtage, 1991 erfolgte die bislang letzte Umbenennung in Internationale Kurzfilmtage Oberhausen. https://doi.org/10.1515/9783110629408-010

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kompromisslose Haltung der konservativen Bundesregierung, die sich lange Zeit gegen jedwede Anerkennung der DDR einsetzte. Das offizielle Bonn hat die politische Geste des Oberhausener Brückenschlages lange nicht gewürdigt und verweigerte dem Festival zunächst finanzielle Zuschüsse. DDR-Politiker hingegen versuchten eine Zeit lang, das Festival gezielt als politische Bühne zu nutzen. Filme wie O.K. von Walter Heynowski (1965) – die Geschichte einer jungen Frau, die aus dem Osten in den Westen flieht, dort als Animierdame in einem Lokal für US-amerikanische G.I.s landet, für ihren Egoismus, ihren Verrat am Sozialismus mit gesellschaftlicher Schande bestraft wird und schließlich reumütig und geläutert in die DDR zurückkehrt – empörten westdeutsche Presse und Publikum gleichsam und beendeten beinahe die gemeinsame deutsch-deutsche Kulturpolitik (vgl. Kötzing 2013, S. 49). Hermann Höcherl, der Bundesminister des Inneren von der CSU sprach mit Blick auf das Programm von einer „höchst merkwürdigen Bewunderung für fast alle Produkte der kommunistischen Diktaturen“ (zit. n. Bernstorff 2008, S. 110 f.). Der Versuch, das Festival für politische Zwecke zu instrumentalisieren, schwächte die Position der DDR-Delegation in Oberhausen langfristig, schadete aber auch dem Festival selbst und ließ den Konflikt mit dem Bundesinnenministerium eskalieren. Erst im Zuge der politischen Entspannungspolitik, die unter Kanzler Willy Brandt durch die sozialliberale Koalition umgesetzt wurde, fand auch das politische Konzept der Oberhausener Kurzfilmtage eine Anerkennung von staatlicher Seite, sogar seitens der konservativen Medien. Mit der Verkündigung des „Oberhausener Manifestes“ im Jahr 1962 – einem Festivaljahrgang, der übrigens ohne Beteiligung fast des kompletten sogenannten Ostblocks stattfand, da die DDR wegen des Mauerbaus ausgeladen wurde und die sozialistischen Brüderstaaten Polen, ČSSR sowie die Sowjetunion dem Festival daraufhin ebenfalls fernblieben – entwickelte sich Oberhausen zur Plattform kultureller, ästhetischer und politischer Diskussion, die die Kurzfilmtage bis heute sind. Auch nach der Eskalation des Kalten Krieges durch die Schließung der innerdeutschen Grenze wollte Oberhausen am politischen Konzept des Festivals festhalten und weiterhin den Kontakt zu den osteuropäischen Nachbarn suchen. Nachdem der Schock der nun endgültig scheinenden Teilung überwunden war, begann man auch wieder, zunächst zurückhaltend, mit Vertretern der DDR zu kooperieren. Oberbürgermeisterin Luise Albertz und Oberstadtdirektor Werner Petersen von der SPD erklärten: „Weg zum Nachbarn, das kann nicht bedeuten, dass weltpolitische Gegensätze mit Hilfe einer Woche Film gelöst werden, aber es kann bedeuten, die Welt des anderen kennenzulernen, seine Motive zu verstehen, miteinander zu sprechen, Maßstäbe zu erarbeiten“ (zit. n. Günter 2004, S. 34). Die DDR-Produktionen, die das westdeutsche Gesellschaftssystem kritisierten, auf eine kontrastive Auseinandersetzung mit

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der Bundesrepublik setzten und dabei zumeist stereotype Feindbilder konstruierten, wurden in den 1970er Jahren weniger. Dies lag auch am neuen Festival-Leiter Wolfgang Ruf, der das Unkonventionelle in allem Erstarrten in Ost und West suchte (vgl. Dammeyer 2004, S. 41–44): Arbeiten von Petra Tschörtner, Volker Koepp, Helke Misselwitz, Jürgen Böttcher oder dem Animationsfilmer Lutz Dammbeck, die vielmehr aufgrund ihrer Qualität und außergewöhnlichen Ästhetik für Aufsehen sorgten, waren daraufhin häufig in Oberhausen zu sehen. 1981 präsentierte das Festival eine ganze Reihe mit polnischen Filmen zur Demokratie- und Gewerkschaftsbewegung und dokumentierte auch in den Folgejahren den Prozess der Peristroika. Die in den 1980er Jahren eingereichten DDR-Beiträge vermittelten immer häufiger politische und gesellschaftliche Kritik in verschlüsselter, poetischer und doppelbödiger Weise und unterliefen damit engen Grenzen des Sagbaren, die von der SED-Kulturpolitik gesetzt wurden. Auch dafür wurden 1984 die am Festival teilnehmenden Filme aus der DDR als Ganzes ausgezeichnet. Als repräsentativ können die Arbeiten von Jürgen Böttcher gelten, die das Verhältnis von Sprache und Nicht-Sprache, von Wirklichkeit und dem Poetischen darin ausloten. Böttchers dokumentarische Beobachtung RANGIERER (1984) über Arbeiter auf dem Güterbahnhof Dresden-Friedrichstadt wurde mit einem „Ehrendiplom“ des Festivals ausgezeichnet. Was an seinem Arbeiterporträt damals subversiv war, bedarf heute einer Erläuterung: Diese Jungs [die Rangierer auf dem Dresdener Bahnhof] haben an den Wochenenden, in Zwölf-Stunden-Schichten und in der Nacht, bei jedem Wetter gearbeitet. Wenn die Waggons auf sie zurollen, ist das wie Stierkampf. Das erinnert fast an einen friedlichen Krieg. Mich interessierte das Gleichnis. Rangieren ist Sisyphos-Arbeit, ist auch Zeit und Raum, etwas für andere tun. Von einem Bekannten wusste ich, das ganz viele Ehemalige aus dem Knast dort arbeiteten. Die hatten schlechtes Schuhwerk, haben gesoffen. Da sind so viele draufgegangen, junge Leute, einfach halbiert, tot, die Beine weg, ausgerutscht. Das wurde natürlich nie publik. Das wusste ich alles unter den Bildern. Auf einmal dachte ich, dort brauchst du nicht mehr zu reden. Was soll man da reden? (Böttcher 2004, S. 74)

1989 plante die Festivalleiterin Karola Gramann ein Sonderprogramm mit Filmen der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR Konrad Wolf (HFF), das nur auf Initiative und einen bürokratischen Trick des späteren Linkspartei-Politikers und damaligen Hochschuldirektors Lothar Bisky in dieser Form aufgestellt werden konnte. Darunter fanden sich zahlreiche Arbeiten, die in der DDR offiziell nicht gezeigt werden durften, wie beispielsweise ABER WENN MAN SO LEBEN WILL WIE ICH von Bernd Sahling (1989), die Geschichte eines Punkers, der seine Lebensvorstellung in der DDR natürlich nicht verwirklichen konnte. 1990 widmete das Festival, mittlerweile unter der neuen Leitung von Angela Haardt, verschiedene Schwerpunktprogramme den „Politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa

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im Spiegel von Film und Video“. Gezeigt wurden Verbots-Filme vorheriger Jahrgänge aus der DDR, der ČSSR, aus Bulgarien, Rumänien, Polen und Jugoslawien, die Oberhausen schon einmal ohne Erfolg eingeladen hatte. Der künstlerisch ambitionierteste Film in diesem Programm war Konrad Herrmanns KONFRONTATION – REKONSTRUKTION EINES DICHTERS (1977). Das Berlin der 1930er Jahre wird hier mit dem Berlin der 1970er Jahre konfrontiert – es ist mitunter noch erhalten, aber verriegelt, verwahrlost, zum Teil zerstört. Unterlegt sind die Bilder mit satirischen Gedichten von Erich Weinert, die aus dem Off vom damals populären Schauspieler Eberhard Esche – bekannt aus Konrad Wolfs DER GETEILTE HIMMEL (DDR 1964) – pointiert vorgetragen werden. Sie waren ursprünglich gegen den aufkommenden Faschismus gerichtet, konnten und sollten im Subtext aber genauso aus DDR-Perspektive von 1977 verstanden werden. Bevor mit dem Fall des Eisernen Vorhangs Oberhausens Rolle als Mittler zwischen den Ideologien verblasste, boten die Festivaljahrgänge 1990 und 1991 noch einmal Programme mit einer Vielzahl von Filmen aus sozialistischen Staaten, die eine regelrechte Explosion an Kreativität, Offenheit und Selbstkritik offenbarten. Hinter dem Titel DAS WAR’S BRÜDER UND SCHWESTERN – DIE EASTSIDE-STORY (DDR 1990) verbarg sich eine Kompilation von Sendungen des DDR-Jugendmagazins Elf 99, das mit kritischem Journalismus und in frechem Tonfall die Umwälzungen in der DDR und Wiedervereinigung kommentiert hat. Die Dokumentarfilme der Oberhausener Programme beschäftigten sich natürlich mit den Umbrüchen in den letzten Monaten der DDR und/oder prognostizierten die gesellschaftlichen Entwicklungen in den kommenden Monaten. KEHRAUS von Gerd Kroske (DDR 1990) führt in die Welt der Frauen und Männer der „Abteilung manueller Kehrbetrieb“ in Leipzig. Der Film lässt in Interviews Straßenkehrer zu Wort kommen, die nach den Leipziger Montagsdemonstrationen und Wahlveranstaltungen im Frühjahr 1990 Zettel mit den Parolen vom „Deutschland – einig Vaterland“ wegkehren. Ihre physisch anspruchsvolle Arbeit dient der Lebenserhaltung und ist für die Außendarstellung der Stadt notwendig, ist aber schlecht bezahlt. Sie standen schon in der DDR am gesellschaftlichen Rand und würden auch im kapitalistischen Gesamtdeutschland nicht zu den Gewinnern gehören, daran lässt KEHRAUS, obwohl die ästhetisierten Schwarz-Weiß-Bilder den Protagonisten Würde verleihen, keinen Zweifel. Später wird Kroske noch zweimal zu seinen Protagonisten zurückkehren: in KEHREIN, KEHRAUS (D 1996) und KEHRAUS, WIEDER (D 2006). Die meisten seiner Protagonisten werden später arbeitslos sein und ihren Alltag zwischen Wohnung, Sozialamt, Gelegenheitsjobs und Kneipe verbringen. Eine experimentelle Videosektion beschäftigte sich beispielsweise 1990 mit „Bildern der Mauer“. Die Einbindung des neuen Formats weist schon auf strukturelle Veränderungen des Oberhausener Festivals in den kommenden Jahren

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hin. Im nun gesamtdeutschen Wettbewerb wurden Talente entdeckt, die auch in Zukunft das deutsche Kino prägen sollten. In Bertram von Boxbergs Satire ALLES OFFEN (D 1990) ist ein DDR-Zollbeamter zu sehen, der im vereinigten Deutschland seine Karriere nahtlos fortsetzt und unter geänderten ideologischen Vorzeichen – aber genauso ‚wie in alten Zeiten‘ – die Passagiere am Berliner Flughafen schikanieren kann. Die Absolventen der (West-)Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Detlev Buck und Wolfgang Becker (GOOD BYE, LENIN!, D 2003) wirken hier mit – Detlev Buck als Zollbeamter, Wolfgang Becker an der Kamera. Die Vorliebe für Komödien und leichte Unterhaltungsfilme im gesamtdeutschen Kino der 1990er Jahre, für stereotype Produktionen wie Detlev Bucks WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993) oder die GO TRABI GO-Reihe (D 1991–92), wird in ALLES OFFEN schon einmal vorweggenommen. Ein weiteres Beispiel für das Karrieresprungbrett Oberhausen ist Andreas Dresen. Seine DDR-Endzeitparabel ZUG IN DIE FERNE wurde im Oktober 1989 gedreht. Die Protagonisten, die über ihre bloße Person hinaus jeweils einen Teil der späten DDR-Gesellschaft repräsentieren, verharren in Ungewissheit und erhoffen sich einen Ausbruch aus der Lethargie des Alltags in einem Staat, der sich in Agonie befindet. Die tagesaktuellen politischen Ereignisse beeinflussen die Dreharbeiten, die sich immer wieder verzögern, weil Mitglieder des Filmteams bei Demonstrationen verhaftet wurden (vgl. Lode 2009, S. 29). War es noch zum Zeitpunkt der Dreharbeiten äußerst schwierig, den ‚antifaschistischen Schutzwall‘ überhaupt im DDR-Film ins Bild zu setzen und geradezu unmöglich den Wunsch nach (Reise-)Freiheit zu thematisieren, hatte sich die Situation nur kurze Zeit später komplett geändert, wie Dresens Mittellangfilm SO SCHNELL GEHT ES NACH ISTANBUL (DDR 1990) zeigt, der 1991 in Oberhausen im selben Wettbewerb wie ZUG IN DIE FERNE präsentiert wurde. Die Idee zur Handlung zum ZUG IN DIE FERNE basiert auf Motiven der Erzählung Romeo von Jurek Becker (Becker 1983). In dessen Vorlage aus dem Jahr 1980 ist es ein Italiener aus Westberlin, der sich eine Freundin im Ostteil der Stadt sucht, um Geld zu sparen. Er will im Westen arbeiten und im Osten wohnen. Unmittelbar nachdem die Mauer am 9. November durchlässig geworden ist, beginnt Dresen gemeinsam mit Laila Stieler, seiner Kommilitonin an der HFF, am Drehbuch zu arbeiten. Bei Dresen/Stieler wird aus dem Italiener der türkische ‚Gastarbeiter‘ Niyazi, der sich von einer Bekannten mit Klara aus Ostberlin verkuppeln lässt, um bei ihr zu wohnen, die Mietpreisunterschiede nutzen und sich finanziell verbessern zu können. Die Beziehung gestaltet sich als ziemlich umständlich. Niemand sagt offen, was er oder sie denkt und eigentlich will. Fast mechanisch entwickelt sich langsam eine verhaltene Zuneigung zwischen der spröden jungen Frau aus dem Osten und dem fordernden jungen

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Mann aus dem Westen, der sie zu beeindrucken versucht und in ihr in die Wohnung folgt. „Mich haben Reflexionen über die DDR-Gesellschaft und über den für mich zum Teil unbefriedigenden Zustand, ja immer interessiert. [. . .] Insofern spielte die Mauer eine Rolle als Teil der DDR-Realität, den ich als unbefriedigend empfand“ (TC 0:13:30), erinnert sich Dresen rückblickend.2 Der Film erzählt nicht zuletzt auch von der Emanzipation zweier Personen, die sich im Laufe der Geschichte aufeinander zu bewegen und ‚Mauern‘ überwinden. Spielerisch, niemals überheblich werden Ost-West-Stereotype und Wahrnehmungen von fremden Kulturen aufgenommen. Ähnlichkeiten zwischen Ost- und Westteil der Stadt werden gesucht und gefunden; den Hoffnungen der Menschen dies- und jenseits der Grenze nach einer besseren Zukunft wird Ausdruck verliehen. Wie auch in ZUG IN DIE FERNE lebt SO SCHNELL GEHT ES NACH ISTANBUL von den langen beobachtenden Einstellungen und der Zeit, die der Regisseur der Entwicklung seiner Personen lässt. Gezeigt werden Plätze, die für das geteilte Berlin große Symbolkraft haben und später zu Erinnerungsorten wurden: Grenzübergänge mit Wachtürmen, der Reichstag, der „Tränenpalast“, die Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz und vor allem der Bahnhof Friedrichstraße. Dieser ist einer der wenigen Orte in der deutschen Teilungssituation, der historisch neben dem offiziellen Grenzübergang eine Art Schlupfloch bildete, einen Schleusengang für Agenten, Überläufer oder heimliche Übersiedelungen. Gedreht wurde im Sommer 1990, nach dem Mauerfall, als die Grenzposten schon verlassen waren, die Mauer aber immer noch sichtbar vorhanden war. SO SCHNELL GEHT ES NACH ISTANBUL mutet dokumentarisch an, was durch die Schwarz-Weiß-Aufnahmen noch verstärkt wird. Dresen selbst gibt im Audiokommentar zum Film an, er wolle mit der Wahl des Filmmaterials die „bunte Alltagsrealität“ (TC 0:02:05), die nach der Maueröffnung visuell über das ganze Land hereingebrochen ist, künstlerisch entrücken. Der Film gewann mehrere Festivalpreise, national und international, etwa den „Preis der Unterzeichner des Oberhausener Manifests“ oder den „Grand Prix: XV. Rencontres Internationales Henri Langlois“ in Poitieres (1991). Nachdem der Film 1991 auf der Berlinale in der Sektion „Internationales Forum des jungen Films“ trotz der schwierigen Länge von 45 Minuten – fürs Kurzfilmprogramm zu lang und fürs Langfilmprogramm zu kurz – gezeigt worden war, bekam Andreas Dresen vom Produzenten Wolfgang Pfeiffer das Angebot, gemeinsam einen Langfilm zu inszenieren. Aus dem Projekt entstand dann der Film STILLES LAND (D 1991/92),

2 Die 2007 und 2018 in einer neuen Digitalisierung vom Verleih Pandora erneut veröffentlichte DVD zu Andreas Dresens Debütlangfilm STILLES LAND enthält neben dem Hauptfilm als Bonusmaterial sechs von Dresens frühen Kurzfilmen. Das Interview, aus dem zitiert wurde, ist im Audiokommentar des Regisseurs zu SO SCHNELL GEHT ES NACH ISTANBUL (DDR 1990), Regie: Andreas Dresen, nachzuhören. TC: Zeitangaben nach der DVD STILLES LAND: Pandora 2018.

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der für Dresen Auftakt für eine bis heute erfolgreiche Karriere werden sollte, in der er – wie etwa in GUNDERMANN (D 2018) – bis heute differenzierte Gesellschaftsbilder der DDR zeichnet. Zu den Versäumnissen der Oberhausener Kuratoren gehört es, dass die Arbeiten von Studenten der DFFB in den Wendejahren kaum berücksichtigt worden sind. War in den Filmen der BRD die Teilung des Landes bis 1989 nur gelegentlich thematisch und motivisch verankert, begann ab 1990 auch im westdeutschen Lang- und Kurzfilm eine vermehrte – manchmal subtile, manchmal direkte – Thematisierung von Teilung und Mauerfall. Einen Anfang machten die Studenten der DFFB: Stellvertretend genannt werden könnte AM RANDE (D 1991), ein experimenteller Kurzfilm von Thomas Arslan, einem Regisseur, der spätestens mit seiner Jean-Pierre-Melville-Hommage IM SCHATTEN (D 2010) zu einem der wichtigsten Vertreter der „Berliner Schule“ werden sollte. In AM RANDE, der kurz nach der Wende in einem Produktionsseminar des renommierten Dokumentarfilmers Peter Nestler entstand, erkundet Arslan in langen Spaziergängen den Berliner Stadtraum. Der Film zeigt ehemalige Berliner Mauerstreifen als „Terrain Vague“ (Broich/Ritter 2017), als ehemalige Orte der Disziplinierung, die zu machtfreien Zonen ohne Kontrollen geworden sind, Orte, wie sie auch in Arslans späteren Produktionen eine zentrale Rolle spielen sollten. Für Diskussionsstoff sorgte bei den Oberhausener Filmtagen 1991 ein Animationsfilm. Jochen Kuhn, der bis heute mit einer Übermaltechnik arbeitet, zeigt in DIE BEICHTE (D 1990) einen Dialog zwischen Karol Woytyla und Erich Honecker. Sie sprechen über Wünsche, Träume, Versäumnisse und sexuelle Fantasien, am Ende nimmt sogar Erich Honecker dem Papst die Beichte ab. Beide enden sie im Limbus, der dem Warteraum einer öffentlichen Verwaltung nachempfunden ist. Es ist die ‚Montage‘, die Animationstechnik Kuhns, die zu überraschenden Bildwechseln führt und die eine tiefere Bedeutungsebene herstellt. „Der Begriff Animationsfilm kommt dem Wesen seiner Filme allerdings nicht immer sehr nahe“, schreibt Michael Jahn in seinem Porträt Jochen Kuhns auf shortfilm.de, denn „wenn von ihm ein gemaltes Bild ‚ausgewischt‘ wird, dies in die Handlung mit eingebunden wird, wenn auf der entstandenen ‚entleerte Fläche‘ ein neues Bild entsteht, dann wirkt das kaum animiert. Vielmehr fühlt man sich als Beobachter eines visuellen Entstehungs- und Verwitterungsprozesses, einer Ästhetik des Verschwindens“ (Jahn 2005). Diese Technik bildet die Grundlage für die utopische Grundhaltung des Films. Jochen Kuhn imaginiert durch den Mauerfall eine Zeit, in der die großen Ideologien ‚ausgewischt‘ werden konnten, in der es dann Platz für eine tatsächliche Verbrüderung zwischen allen Menschen geben könne. Bei aller Euphorie über die Qualität des Festivaljahrgangs 1991 wies die Fachzeitschrift epd Film bereits hellsichtig darauf hin, dass

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die großen Veränderungen, die sich in den letzten Monaten im sogenannten Ostblock vollzogen haben, [. . .] nun Oberhausen seiner bisher wichtigsten Funktion [berauben]. Die Länder dort werden demnächst normale europäische Länder sein, der Film wird sich nach der marktwirtschaftlichen Decke strecken müssen, auch wenn er weiterhin Subventionen erhält. Aber die große Blüte, auch Scheinblüte, des voll subventionierten Kurzfilms wird vorbei sein. Die Hauptquelle des Oberhausener Programms, aus Osteuropa kamen immer die meisten – meist auch die besten – Filme, wird also spärlicher fließen. Die Westdeutschen Kurzfilmtage werden sich auf diese neue Situation einstellen müssen. (Worschech 1991, S. 6)

Ab 1992 war die DDR als Thematik im Programm von Oberhausen nur noch am Rande präsent. Nur wenige Produktionen setzten sich noch mit dem Geschehen der deutschen Vereinigung auseinander. Wenn doch, dann waren diese Auseinandersetzungen mit den sentimentalen Erinnerungen an die DDR durchsetzt, die später, in verstärkter Form, in einer ‚Ostalgie-Welle‘ münden sollten. Ebenfalls fand eine Auseinandersetzung mit dem verblichenen sozialistischen Staat in Verbindung mit ökologischen Themen, etwa ELEGIE BITTERFELD (von Horst Markgraf, D 1991, unter Mitarbeit von Oskar Roehler; DIE UNBERÜHRBARE, D 2000) oder mit einer zunehmend öffentlich präsenten Ausländerfeindlichkeit statt. So widmet sich Angelika Nguyen in ihrem Dokumentarfilm BRUDERLAND IST ABGEBRANNT (D 1991) von dem Verbleib der vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern in der DDR, deren Staatsverträge mit dem Mauerfall ihre Gültigkeit verloren hatten. Sie wurden mit einer Art ‚Abschiebegeld‘ aus Deutschland herausgedrängt. BRUDERLAND IST ABGEBRANNT zeigt – noch bevor Thomas Heise mit seinem Film STAU – JETZT GEHT’S LOS (D 1992) zum Chronisten des Rassismus in Ostdeutschland werden sollte – strukturelle Ausgrenzung und Alltagsrassismus sowie invektive Konstellationen (vgl. Ellerbrock et al. 2017) denen die ‚Gastarbeiter‘ im nun vereinigten Deutschland ausgesetzt waren. Betont wird, dass für die meisten Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter aus Vietnam Gewalt und Ausgrenzung auch vor dem Mauerfall allgegenwärtig waren – Übergriffe, die in einigen Fällen auch in Morden endeten, wurden aber in der DDR nur selten statistisch erfasst. Die sinkende Anzahl an osteuropäischen Filmen, das Wegfallen der Funktion als ‚Brücke zum Nachbarn‘, kompensierte das Oberhausener Festival erfolgreich durch eine programmatische Erneuerung, die von Angela Haardt vorangetrieben wurde: durch die Integration von Musikvideos und Neuen Medien sowie eine verstärkte Verankerung von Videokunst im Programm. Seine politische Relevanz hat das Festival aber bis heute erhalten können. Es sind heute thematisch angelegte Sonderprogramme, die aktuelle gesellschaftliche oder kulturelle Fragen aufgreifen.

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Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war es das 1955 gegründete und ursprünglich gesamtdeutsch konzipierte Leipziger Filmfestival, das dem DDRPublikum die exklusive Möglichkeit bot, bestimmte Dokumentarfilme ‚von drüben‘ zu sehen. Leipzig stellte als „Mekka für spaltbreite Weltoffenheit durch permanente Westpräsenz“ (Klunker 1992) – wie Oberhausen – eine wichtige Bühne für den kulturellen Austausch zwischen Ost und West dar und fungierte zudem als Schaufenster für Produktionen aus Asien, Afrika und Lateinamerika. Nach dem Mauerbau entwickelte sich die Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche zu einem staatstragenden Festival, das in allen wichtigen Bereichen der SED-Kulturpolitik verpflichtet war. Die Aufführung von Filmen verschiedener weltanschaulicher Standpunkte wurde zwar gebilligt, jedoch nur in Grenzen. Das Verhältnis zur BRD war dabei durchaus widersprüchlich und changierte zwischen Verflechtung und Abgrenzung. Zunehmend wurde das Festival für propagandistische Zwecke vereinnahmt. Zwar suchte die SED-Führung mit ihren Kulturleistungen im Medium Film die Anerkennung des Westens und wollte möglichst viele westdeutsche Filmemacher, Produzenten und Journalisten einladen, sie fürchtete sich aber gleichzeitig auch vor einem Kontakt, hatte Angst vor einer Infiltration. Während die DDR für sich in Anspruch nahm, auf den westdeutschen Festivals mittels einzelner Filme offensiv gegen das politische System der BRD zu agitieren und damit die demokratischen Freiheitsrechte ausnutzte, wurde in Leipzig eher selten eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Regierungspolitik geduldet. „Leipzig war [. . .] das einzige internationale Filmfestival des SEDStaates, der natürlich immer wieder versuchte, seine Kultur an der kurzen Leine zu halten. Zugleich aber auch einer der wichtigsten kulturellen Freiräume der DDR, eine Drehscheibe weltweiter Kontakte, ein Forum spannender und auch oft kontroverser Diskussionen“, so fasste Thomas Frickel von der AG Dokumentarfilm sein ambivalentes Verhältnis zu Leipzig später zusammen (zit. n. Roth 1991, S. 10). Filmemacher, die der extremen Linken der BRD zugerechnet werden konnten, wurden nicht eingeladen, agitatorische Filme aus dem Westen fanden keinen Weg ins Programm. Selbst Filme aus sozialistischen Bruderländern waren oft nicht willkommen, denn sie beinhalteten teilweise deutliche politische Selbstkritik, wie sie in der DDR nicht geäußert werden sollte. Natürlich gab es in der DDR auch kritische Filme, die – manchmal zur Überraschung der Filmemacher selbst – toleriert wurden, sie waren aber in der DDR eher nicht zu sehen, sondern wurden auf Festivals in den Westen geschickt, zur Berlinale, nach Oberhausen, zu den

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Mannheimer Filmwochen oder zum Dokumentarfilmfestival nach Duisburg, um dort für das sozialistische Lager zu werben. Filme, die sich unmittelbar mit der politischen, gesellschaftlichen oder sozialen Situation in der DDR auseinandersetzen sowie osteuropäische ‚Glasnost-Filme‘, wurden in Leipzig in der unmittelbaren Vorwendezeit nur selten ins Programm genommen. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Helke Misselwitz’ vorweggenommener DDR-Abgesang WINTER ADÉ (DDR 1988), eine Art dokumentarisches Roadmovie, das 1988 Einzug in den Leipziger Wettbewerb fand und dort sogar ausgezeichnet wurde. 1989 musste die Festivalleitung notgedrungen ihre Programmpolitik ändern und wurde von den rasanten Veränderungen auf der Straße getrieben. Knapp 20 zumeist tagesaktuelle Filme waren in Leipzig zu sehen, welche die essenziellen Momente des Verfalls der DDR und die friedlichen Aufmärsche von Menschenmassen dokumentierten, die von der Euphorie des Umbruchs getragen waren. Geschichte wurde in diesen Filmen aufgezeichnet, noch während sie sich ereignete. Im Wettbewerb fanden sich etwa die Kurzfilme AUFBRUCH ’89 – DRESDEN (Thomas Eichberg, Katja Hofmann, Thomas Rist, Volker Langhoff, René Jung, Sabine Wittig, DDR 1989), ES LEBE DIE R . . . (Jörn Zielke), 10 TAGE IM OKTOBER (Thomas Frick, DDR 1989) oder DRESDEN, OKTOBER ’89 (Róza Berger-Fiedler, DDR 1989) von Studenten der HFF. Diese begannen mit den Dreharbeiten teilweise schon vor dem Sturz Erich Honeckers am 18. Oktober 1989, als noch niemand die weiteren politischen Entwicklungen erahnen konnte. Gedeckt wurden sie durch Lothar Bisky, der bereits das Zustandekommen des DDR-Schwerpunktes der Oberhausener Filmtage 1989 ermöglicht hatte. Für einen kurzen Zeitraum wirkte die Leipziger Dokumentarfilmwoche sogar relevanter als die Berlinale, die ihr Programm 1990 unter der Leitung von Moritz de Hadeln zwar auch den deutsch-deutschen Umbrüchen widmete, aber beim dokumentarischen Film nur wenige Eigenentdeckungen aufzubieten hatten. Die stärksten Produktionen das Leipziger Programms wurden einfach nochmal ins Berlinale-Programm aufgenommen und wiederholt. Auffallend ist, dass viele dieser in Leipzig gezeigten Filme Kollektivarbeiten waren, die dem Wunsch nach Information, Aufklärung und auch dem Bewusstsein entsprangen, historische Momente festhalten zu müssen. Teils liefen die Filme in Rohfassungen, teils als Materialsammlungen. Ihre Unmittelbarkeit, ihre rohe Form, erinnert an die Filmdokumente, die weltweit in den jeweiligen revolutionären Umbruchsituationen des legendären Jahres 1968 entstanden sind und zum 50. Jahrestag dieser Ereignisse wieder aus dem Archiv geholt wurden.3

3 Als Beispiel könnte man LA REPRISE DU TRAVAILLE AUX USINES WONDER (F 1968), Regie: Jacques Willemont, nennen.

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Die Dokumentarfilme aus den DEFA-Studios hatten es – mit Ausnahme vom Mittellangfilm LEIPZIG IM HERBST (Gerd Kroske/Andreas Voigt, DDR 1989), der im Laufe des Jahres 1990 bei zahlreichen nationalen und internationalen Filmfestivals laufen sollte, gegenüber diesen spontan entstandenen filmischen Kommentaren zur Wende schwer. Ihr Ausloten des Sagbaren und Nicht-Sagbaren, die Kühnheit, die sie riskiert hatten, waren in der Umbruchszeit zum Normalfall geworden. Sie erreichten das Publikum zu spät und wurden erst mit zeitlichem Abstand gewürdigt. Ein Beispiel ist Roland Steiners UNSERE KINDER, ein 1988 und 1989 entstandenes Porträt über die rechtsradikale Skinheadszene in der DDR. Erst mit der Wende bekam der Film seine Freigabe und kam im Dezember 1989 in die Kinos. Viel Aufmerksamkeit bekam UNSERE KINDER angesichts der aktuellen Wende-Filme allerdings nicht (vgl. Roth 1990, S. 6). Die Dokumentation reflektiert über die Ursachen des vorhandenen, aber nicht öffentlich zugegebenen Rechtsradikalismus in der DDR und findet sie in einer perspektivlosen Gesellschaft, in der die Jugendlichen aufgewachsen sind und aus der sie gewaltsam ausbrechen wollten. WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN von Helke Misselwitz (DDR 1989) porträtiert mit viel Witz und Zuneigung Berliner Kohlemänner, eine Berufsgruppe, die bald verschwinden würde. Der auf Schwarz-Weiß-Material gedrehte, 52-minütige, künstlerisch gestaltete Mittellangfilm war im Grunde ein „Luxusprodukt, wie es sich nur die voll subventionierte staatliche Filmproduktion der DDR leisten konnte“ (ebd., S. 7). Wilhelm Roth prognostizierte Anfang 1990 der DDR-Filmproduktion nach dem Mauerfall: „Wenn der Film der DDR nun marktorientierter werden wird, was alle erwarten, wird es solche Filme, was viele befürchten, kaum mehr geben“ (ebd.). Seine Befürchtung sollte eintreffen. Beim Leipziger Festival von 1990 dominierten Rückblicke auf die DDR, Anklagen gegen das SED-Regime und gegen die Stasi, melancholische Porträts von Menschen, die bisher in der DDR Außenseiter waren sowie skeptische Beobachtungen über den Prozess der Einigung. Der Fall der Mauer, der Zerfall der DDR, die Währungsunion, die Vereinigung, die wirtschaftliche Not in den neuen Bundesländern – dies alles hat die Filmemacher herausgefordert. Ihre Produktionen hielten das „letzte Jahr ihres Landes“ – so hieß auch eine eigene Programmreihe in Leipzig – sehr plastisch im Bilde fest. Ein bemerkenswerter Film aus diesem Jahrgang ist der Mittellangfilm VERRIEGELTE ZEIT von Sybille Schönemann (DDR 1990), der auch mit der „Silbernen Taube“ ausgezeichnet wurde. Die Regisseurin arbeitete in den frühen 1980er Jahren in Potsdam-Babelsberg für die DEFA. Nach verschiedenen abgelehnten Projekten stellte sie zusammen mit ihrem Ehemann einen Ausreiseantrag. Das Ehepaar wurde daraufhin verhaftet – auch aufgrund von Denunziationen aus Kreisen ihrer Mitarbeiter – und wurde wenige Monate später, im Jahr 1985 von der BRD freigekauft. Nach dem Mauerfall suchte Schönemann

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die Personen auf, die damals ihre Verhaftung und Verurteilung betrieben oder zumindest nicht verhindert hatten. Stilistisch erinnert VERRIEGELTE ZEIT an den KlausBarbie-Film HOTEL TERMINUS (F/GB/D 1988) von Marcel Ophüls, der wiederum mit NOVEMBERTAGE (GB/D/CH 1990) im selben Jahr noch einen der zentralen Filme zur Wiedervereinigung vorlegen sollte. VERRIEGELTE ZEIT machte deutlich, dass auch die DEFA eine Vergangenheit hatte, der sie sich früher oder später stellen musste. In seinem dokumentarischen Langfilm DIE MAUER (DDR 1990) projizierte Jürgen Böttcher Ende des Jahres 1989 auf die Reste der teils schon geschliffenen Mauer unweit des Brandenburger Tores mittlerweile historisch gewordene Filme aus der Zeit des Mauerbaus. Durch diesen historischen Rückbezug erhält die – nun ungefährlich gewordene – Mauer ihre komplexe Geschichte zurück, indem sie mit ihrer eigenen Vergangenheit überschrieben wird. Diese Szene erhellt schlaglichtartig ein grundlegendes Problem, das mit dem Thema der Mauer im Film verbunden ist nämlich die Frage nach der Sichtbarkeit, die wie bei einem Januskopf die Nichtsichtbarkeit als Kehrseite anhaftet. Dies begründet sich [. . .] aus dem weitgehenden Darstellungsverbot der Mauer in den offiziellen Bildmedien der DDR. (Dorgerloh 2011, S. 336 f.)

Im Kino der BRD gab es zwar kein Darstellungsverbot; mit Ausnahmen – wie etwa Ulrike Oettingers BILDNIS EINER TRINKERIN (D 1979), Peter Hauffs DER MANN AUF DER MAUER (D 1982), Wieland Specks WRESTLER (D 1985) oder Wim Wenders’ DER HIMMEL ÜBER BERLIN (D 1987) – war sie im narrativen Spielfilm (im Gegensatz zum Experimentalfilm) in Westdeutschland eher beiläufig präsent. Daher war eine gesamtdeutsche Produktion, die die Mauer in den Mittelpunkt stellte, von großer Bedeutung: EIN SCHMALES STÜCK DEUTSCHLAND (D 1990), von den DEFA-Regisseuren Joachim Tschirner und Lew Hohmann sowie dem Westberliner Klaus Salge. Inhaltlich relevant von dem aus drei eigenständigen Kurzfilmen bestehenden Anthologiefilm sind die dokumentarischen Episoden von Joachim Tschirner und Lew Hohmann. Joachim Tschirner porträtiert eine Familie, für die die Mauer zum Schicksal wurde: Volker Fülbier war Mauerspezialist und mehrere Jahre für den Ausbau und die Erhaltung des ‚antifaschistischen Schutzwalls‘ zuständig. Seine Schwester kam mit dem Leben in der DDR nicht zurecht und wollte zu ihrem Freund in den Westen. Beim Fluchtversuch verhaftete man sie. Ihr Vater, der eine wichtige Position bei der NVA innehatte, bekannte sich zu seiner Tochter und verlor seine Arbeit bei der Armee. Der Bruder distanzierte sich von ihr, verlor aber trotzdem seinen Arbeitsplatz. Erst beim Abriss der Mauer war er wieder dabei. In den Interviews im Film äußert er immer noch sein Unverständnis für die Fluchtmotive seiner Schwester. Klaus Salge interviewt in seinem Beitrag die

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Mutter des letzten Mauertoten: Im Februar 1989 wurde Chris Gueffroy beim Versuch, die Mauer zu überklettern, erschossen. Seine Mutter hält sich in dem Interview an Fakten, es sind aber gerade die Details über die unmenschlichen Verhöre durch die Stasi nach der Flucht und dem Tod ihres Sohnes, die erschüttern. Dieser Anthologiefilm deutet bereits eine Tendenz an, die sich in späteren Filmen über die DDR verstärken sollte: mehr dem politischen System selbst als einzelnen Menschen darin – also den Bürokraten des Unrechtssystems, Mittätern und Mitläufern – wird die Schuld am Unrecht zugewiesen. Auf diese Weise sollten politischen Veränderungen in der DDR, die vom Volk kamen, gewürdigt werden. 1990 waren, bedingt durch die sogenannte politische, kulturelle und wirtschaftliche ‚Neustrukturierung der ostdeutschen Medienlandschaft‘ nicht nur die DDR-Filmindustrie, sondern auch mit ihr das Leipziger Festival in ihrer Existenz bedroht. 1991 deutete es sich aber an, dass es weitergehen würde, wenn auch mit einem geringeren Budget. Im Laufe der kommenden Jahre wurden der Animationsfilm und der Kurzfilm zu selbständigen Teilen des Festivals, das unter dem neuen Namen DOK Leipzig zu einem internationalen ‚Kompetenzzentrum‘ für den Dokumentarfilm mit Filmmarkt ausgebaut wurde.

Filmfest Dresden Im Frühjahr 1989 fand zum ersten Mal das Filmfest Dresden statt. Zwar wurde von bürokratischer Seite, der „Hauptverwaltung Film“, das Gros des international ausgelegten Festival-Programms nicht genehmigt, trotz (und gerade wegen) der Zensur von beispielsweise sowjetischen ‚Glasnost-Filmen‘ wurde es ein Erfolg, auch wenn der damalige Stadtrat für Kultur die Durchführung des Festivals als ‚politischen Schaden‘ abwertete. Im Frühjahr 1990 gründete sich als einer der ersten Vereine in Dresden nach dem Fall der Mauer die Filminitiative Dresden e. V., die das Filmfest Dresden bis heute ausrichtet. Die ersten Festivaljahrgänge zeigten ein Programm mit Lang- und Kurzfilmen, zahlreichen DDR-Erstaufführungen, lange Zeit verbotenen und den politischen Aufbruch dokumentierenden Produktionen (vgl. Faust 2018, S. 11 f.). So würdigte etwa im Jahr 1992 eine umfassende Retrospektive mit 40 Arbeiten aus den Jahren 1957 bis 1990 das in Teilen in Oberhausen gezeigte und in der DDR weitgehend zurückgehaltene Werk von Jürgen Böttcher. Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich das Filmest Dresden zu einem international fest positionierten Festival für Kurzfilme, das bis heute besonders die lange Tradition der Animation durch das in Dresden beheimatete ehemalige Trickfilmstudio der DEFA (1955–1990) herausstellt (vgl. Filmfest Dresden 2018).

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Einen ersten Animationsfilmwettbewerb gab es 1992, zu einem Zeitpunkt, als die Dresdener Trickfilmstudios insolvent waren und abgewickelt wurden. In einer begleitenden Retrospektive, die einen Blick auf das mitunter gesellschaftskritische Potenzial des DDR-Animationsfilms mit einbezog und dessen Relevanz herausstellte, war etwa auch der Puppentrickfilm DIE SELTSAME HISTORIA VON DEN SCHILDBÜRGERN (DDR 1961) zu sehen, der die Volkssage mit subtilen Kommentaren zum Mauerbau aktualisierte – was wiederum die Entlassung Jan Johannes Hempels, des ersten Leiters der Trickfilmstudios, zur Folge hatte (vgl. Felsmann 1992). Der Mauerfall und der bald schon einsetzende Zerfall der postsowjetischen Friedensordnung, die ‚Abwicklung‘ von Teilen der ostdeutschen Geschichte und Identität bedeuteten eine Zäsur, eine Zeitenwende, die viele Menschen verunsicherte. Deshalb war die vielleicht wichtigste Filmreihe der Anfangszeit des Filmfest Dresden eine Retrospektive mit Arbeiten von Aleksander Sokurow. Seine von Andrei Tarkowski geprägten Elegien ОДИНОКИЙ ГОЛОС ЧЕЛОВЕКА (DIE EINSAME STIMME DES MENSCHEN, UdSSR 1978–87) oder СКОРБНОЕ БЕСЧУВСТВИЕ (SCHWERMÜTIGE GEFÜHLSLOSIGKEIT, UdSSR 1983–87) werfen existenzielle Fragen auf (vgl. Rusch 2018, S. 17 f.) – beispielsweise: woher plötzlich in freie Selbständigkeit geworfene Menschen die Kraft nehmen, ihr gebrochenes Leben neu zu beginnen – welche die Ängste, Sorgen und Gefühle des Dresdener Publikums in den Wendejahren auf den Punkt brachten. Das zwischen Buenos Aires und Berlin angesiedelte Melodrama LA AMIGA (D/RA 1988/89) von der heutigen Präsidentin der Berliner Akademie der Künste Jeanine Meerapfel – der Eröffnungsfilm des Filmfests Dresden 1990 – reflektiert über Unrechtssysteme und ihre Aufarbeitung, über Umbrüche, geteilte Identitäten und Heimat – Themen, die in der komplex gewordenen Gegenwart speziell in Ostdeutschland immer noch von großer Relevanz sind. Auch aus diesem Grund blickte das Filmfest Dresden zur 30. Festival-Ausgabe in einem Sonderprogramm mit Filmen von Jochen Kuhn, Thomas Heise, Cynthia Beatt und Penelope Buitenhuis auf die Anfänge des Festivals zurück und schlug einen Bogen zur Gegenwart. Im Gespräch mit Erika Richter sagte der 1955 in Ostberlin geborene Filmemacher Thomas Heise: „Wenn ein Film in den Keller wandert, weißt du, daß er irgendwann wieder herauskommt. Und dann muß er immer noch bestehen“ (Richter 1993, S. 195). Mehr als zehn Jahre machte Thomas Heise nur Filme für den Keller, denn er war trotz prominenter Fürsprecher wie Heiner Müller mit einem faktischen Berufsverbot belegt. Erst ab 1990 konnte er seine Filme öffentlich vorführen. Seine Dokumentationen, zumeist Alltagsbeobachtungen, haben aber aus Sicht der Kritiker und aus Sicht des Publikums den Test der Zeit bestanden. Anke Westphal empfahl ihren Leserinnen und Lesern EISENZEIT (D 1991) gesamtdeutschen DDR-Porträts wie SONNENALLEE (Leander Haußmann, D 1999) oder

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GOOD BYE, LENIN! (Wolfang Becker, D 2003) vorzuziehen, Bert Rebhandl nannte IMBISS SPEZIAL (DDR 1990) den vielleicht besten Wendefilm (vgl. Rebhandl 2009). In IMBISS SPEZIAL spielt sich Geschichte ausgerechnet an einem Ort ab, den Marc Augé als „Nicht-Ort“ bezeichnen würde (Augé 1994). Am Bahnhof Lichtenberg, im Mikrokosmos eines Schnellrestaurants, ursprünglich ein Ort der Modernität und Zukunftsgewandtheit, zeigt sich die ganze Agonie des sozialistischen Staates. Auf Bild- und Tonebene, die geschickt als Gegensatzpaar aufgebaut sind, wird präzise die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit der Wendezeit eingefangen. Die Kamera hält am 7. Oktober 1989, kurz vor den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, die monotone Arbeit der Gastronomieangestellten, ihre Gesten, Gewohnheiten und Handgriffe, in gefühlt endlosen Wiederholungen in streng kadrierten Bildern fest. Die Angestellten kommentieren ihre persönliche Situation, erzählen Fluchtgeschichten aus ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis, geben preis, was sie selbst von der Zukunft erwarten, beklagen sich über die Stagnation in ihrem Leben, dazwischen fertigen sie Gäste ab. Die Leute, die hier auf eine Bockwurst in die Mitropa-Gaststätte vorbeikommen, befinden sich mitten in einer gesellschaftlichen Umwälzung, merken es aber nicht. Angespannte Betriebsamkeit wechselt sich mit Phasen des Wartens ab. Vor der Tür kommt es beinahe zu einem Handgemenge. Ein Mann sagt im Vorbeigehen in die Kamera: „Ab heute regiert das Militär“ (TC 0:20:01).4 Aus dem Radio dringen Schlageridyllen, die einen Gegensatz zu der Realität der lethargisch an ihren Tischen sitzenden Gästen und den routiniert-betriebsamen Angestellten hinter dem Tresen bilden. Man hört die Reden von sozialistischen Bürokraten, offizielle Verlautbarungen, die die Leistungen und Verdienste des Arbeiter- und Bauernstaates aufzählen – „Wovon Generationen deutscher Arbeiter nur träumen konnten, ist in unserem Vaterland gesellschaftliche Wirklichkeit“ (TC 0:04:06). Sie beschwören die Zukunft der DDR, während diese sich auflöst. Als der Arbeitsalltag endet, nimmt auch die Kamera den Weg nach oben. Ins Bild kommt ein Fackelzug der FDJ. Die Schwarz-WeißBilder werden durch nun unwirklich leuchtende Farben abgelöst, eine extradiegetische Musik setzt ein, die letzte Strophe des Stückes In der Ferne aus Schuberts Liederzyklus Schwanengesang ertönt. Als Epilog erscheint eine Texttafel mit einem kapitalistischen Werbespruch der Deutschen Bank: „Aus Ideen werden Märkte“. Aus dem Off ist dann noch einmal eine Radiomeldung zu hören: „Randalierer versuchten die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Republik zu stören. [. . .] Im Zusammenspiel mit westlichen Medien rotteten sie sich am Alexanderplatz

4 IMBISS SPEZIAL (DDR 1990), Regie: Thomas Heise. TC: Zeitangaben nach der StreamingVersion in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/me diathek/264712/imbiss-spezial.

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zusammen. Die Rädelsführer wurden festgenommen“ (TC 0:26:25). Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, offizielle Vorstellung und Realität der Bevölkerung vermischen sich: „Für das Fernsehen kam die Wende mit dem Fall der Mauer. Für einen Mann wie Thomas Heise begann sie viel früher, und es war auch noch nach 1989 nicht sicher, ob sie kommen würde“ (Öhner 2009, S. 59). In CYCLING THE FRAME (D 1988) unternahm die auf Jamaika geborene und seit Mitte der 1970er Jahre in Berlin lebende Regisseurin Cynthia Beatt im Auftrag des Sender Freies Berlin (SFB) zusammen mit Tilda Swinton eine Fahrradtour entlang der Westseite der Berliner Mauer. Der Zuschauer begleitet sie auf ihrer 160 Kilometer langen Radstrecke, die am Brandenburger Tor begann und endete. Die Tour führte durch beinahe schon als idyllisch zu bezeichnende Landschaften, durch Industriebrachen und Terrain Vague. Beatt und Swinton verfassten im Vorfeld gemeinsam ein Drehbuch mit Kommentaren und Gedanken zur Mauer und zum geteilten Deutschland, die als von Tilda Swinton gesprochene Off-Kommentare den Film strukturieren. Eine hohe Komplexität bekommt der Film durch die Soundscapes von Simon Fisher Turner, der bereits im Rahmen einiger Soundtrack-Beiträge für Derek Jarman mit Tilda Swinton zusammengearbeitet hatte. Mit sparsamen Mitteln baut Simon Fisher Turner ein Verweissystem aus Klängen auf, das Gegenwart und NS-Vergangenheit Deutschlands miteinander verbindet. Durch ein Stipendienprogramm des Deutschen Akademischen Auslandsdienst DAAD kamen in den 1970er und 1980er Jahren viele ausländische Künstler in die Stadt. Die Filme, die sie hier drehten, bewegten sich in einem anderen „Raum-Zeit-Koordinatensystem als diejenigen der Westberliner“ (Wolf 2008, S. 214). Sie suchten „von außen kommend nach Spuren der Geschichte, aus denen heraus sie filmische Konzepte entwickelten“ (ebd.). So lauteten die Titel ihrer Filme JOURNEYS FROM BERLIN/1971 (Gábor Bódy, HU/D 1982), DAS SCHLESISCHE TOR (Clemens Klopfenstein, CH/D 1982), ABSCHIED IN BERLIN (Antonio Skármeta, D 1984), SIGNAL – GERMANY ON THE AIR (Ernie Gehr, USA 1985), BERLIN: TOURIST JOURNAL (Ken Kobland, USA 1988) oder LLAW (Penelope Buitenhuis, D 1990). Die Kanadierin Penelope Buitenhuis lebte viele Jahre in Berlin und war von der deutsch-deutschen Umbruchsituation so beeindruckt, dass sie Anfang 1990 beschloss, in einem ‚Videotagebuch‘ die Wende zu dokumentieren. LLAW – rückwärts das englische Wort für Mauer, Wall – ist ein höchst experimenteller Film, der filmische phantom rides, found footage, Aufnahmen aus der Tagesschau und performative Szenen miteinander kombiniert. Unterlegt werden die Bilder mit Kommentaren aus dem Off, die vor Ausverkauf des Ostens durch den Westen warnen und durch einen Soundtrack, der – passenderweise – an die Musik der Einstürzenden Neubauten erinnert. Sie knüpft dabei an die Arbeiten westdeutscher Experimentalfilmer an, die ihre Affinität

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zur sogenannten Underground-Musik herausstellen5 und, anders als im narrativen Film, den Mauerstreifen immer wieder zum Thema des Films machen.6 LLAW war trotz seiner Relevanz durch seine interessante Außenperspektive auf die deutsch-deutsche Geschichte und die Geschehnisse des Mauerfalls beim Filmfest Dresden erstmals seit 1991 wieder auf einer Leinwand zu sehen und steht damit repräsentativ für das Gros der Kurzfilme über die Wendezeit. Es bedarf eines hohen Rechercheaufwands, diese Filme aufzufinden, sie sind mitunter nur schwer verfügbar, einige Arbeiten sind sogar, nur 30 Jahre nach ihrer Entstehung (durch Verfall, technischen Datenverlust, unsachgemäße Lagerung) in ihrer Existenz bedroht. Von LLAW beispielsweise gab es weltweit nur noch eine (restaurierungsbedürftige) 16mm-Kopie sowie wenige Digital-Betacam-Kassetten als Kopien – Formate, die nur noch wenige Kinos abspielen können. Dies sollte zum Anlass genommen werden, sich noch einmal die fundamentalen ästhetischen und materiellen Entwicklungen des Mediums Film in den vergangenen 30 Jahren bewusst zu machen und über Möglichkeiten zur besseren Verankerung und Sichtbarmachung des Kurzfilms im Allgemeinen und des zeitgeschichtlich relevanten Kurzfilms im Speziellen nachzudenken.

Filmverzeichnis 10 TAGE IM OKTOBER (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Thomas Frick. ABER WENN MAN SO LEBEN WILL WIE ICH (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Bernd Sahling. ABSCHIED IN BERLIN (D 1984), Regie und Drehbuch: Antonio Skármeta. ALLES OFFEN (D 1990), Regie und Drehbuch: Bertram von Boxberg. AM RANDE (D 1990), Regie und Drehbuch: Thomas Arslan. AUFBRUCH ’89 – DRESDEN (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Thomas Eichberg, Katja Hofmann, Thomas Rist, Volker Langhoff, René Jung, Sabine Wittig. DIE BEICHTE (D 1990), Regie und Drehbuch: Jochen Kuhn. BERLIN: TOURIST JOURNAL (USA 1988), Regie und Drehbuch: Ken Kobland. BILDNIS EINER TRINKERIN (D 1979), Regie und Drehbuch: Ulrike Oettinger. BRUDERLAND IST ABGEBRANNT (D 1991), Regie und Drehbuch: Angelika Nguyen. СКОРБНОЕ БЕСЧУВСТВИЕ (SU 1983–87, SCHWERMÜTIGE GEFÜHLSLOSIGKEIT), Regie und Drehbuch: Alexander Sokourow. CYCLING THE FRAME (D 1988), Regie und Drehbuch: Cynthia Beatt.

5 Als Beispiel könnte man die Dokumentationen von Uli M. Schüppel über Nick Cave oder die Einstürzenden Neubauten nennen, die auch die Mauerstadt Berlin zum Thema haben oder das filmisch festgehaltene NATURKATASTROPHENKONZERT (1983) der Berliner Performance-Gruppe Die tödliche Doris. 6 Vgl. Michael Brynntrups Film TODESSTREIFEN (D 1983).

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DAS WAR’S BRÜDER UND SCHWESTERN – DIE EASTSIDE-STORY (DDR 1990), Regie: Christoph Albert, Drehbuch: Lutz Rentner, Andreas Richter. DRESDEN, OKTOBER ’89 (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Róza Berger-Fiedler. EISENZEIT (D 1991), Regie und Drehbuch: Thomas Heise. ELEGIE BITTERFELD (D 1992), Regie: Horst Markgraf, Drehbuch: Horst Markgraf, Thomas Arslan. ES LEBE DIE R. (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Jörn Zielke. DER GETEILTE HIMMEL (DDR 1964), Regie: Konrad Wolf, Drehbuch: Christa Wolf, Konrad Wolf et al. GO TRABI GO (D 1991), Regie: Peter Timm, Drehbuch: Peter Timm, Reinhard Klooss. GO TRABI GO – DAS WAR DER WILDE OSTEN (D 1992), Regie: Peter Timm, Drehbuch: Peter Timm, Reinhard Klooss. GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Wolfgang Becker, Bernd Lichtenberg. GUNDERMANN (D 2018), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Laila Stieler. DER HIMMEL ÜBER BERLIN (D/F 1987), Regie: Wim Wenders, Drehbuch: Wim Wenders, Peter Handke. IM SCHATTEN (D 2010), Regie und Drehbuch: Thomas Arslan. IMBISS SPEZIAL (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Thomas Heise. JOURNEYS FROM BERLIN/1971 (HU/D 1982), Regie und Drehbuch: Gábor Bódy. KEHRAUS (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Gerd Kroske. KEHRAUS, WIEDER (D 2006), Regie: Gerd Kroske, Drehbuch: Gerd Kroske, Manuela Martinson. KEHREIN, KEHRAUS (D 1996), Regie: Gerd Kroske, Drehbuch: Gerd Kroske, Manuela Martinson. KONFRONTATION – REKONSTRUKTION EINES DICHTERS (DDR 1977), Regie und Drehbuch: Konrad Herrmann. LA AMIGA (D/RA 1988/89), Regie: Jeanine Meerapfel, Drehbuch: Jeanine Meerapfel, Osvaldo Bayer. LEIPZIG IM HERBST (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Gerd Kroske, Andreas Voigt. LLAW (D 1990), Regie und Drehbuch: Penelope Buitenhuis. DER MANN AUF DER MAUER (D 1982), Regie: Reinhard Hauff, Drehbuch: Peter Schneider. DIE MAUER (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Jürgen Böttcher. NATURKATASTROPHENKONZERT (D 1983), Regie und Drehbuch: Wolfgang Müller, Nikolaus Utermühlen, Käthe Kruse. NOVEMBERTAGE – STIMMEN UND WEGE (GB/CH/D 1990), Regie und Drehbuch: Marcel Ophüls. ОДИНОКИЙ ГОЛОС ЧЕЛОВЕКА (SU 1978–87, DIE EINSAME STIMME DES MENSCHEN), Regie und Drehbuch: Alexander Sokourow. O.K. (DDR 1965), Regie und Drehbuch: Walter Heynowski. RANGIERER (DDR 1984), Regie und Drehbuch: Jürgen Böttcher. LA REPRISE DU TRAVAILLE AUX USINES WONDER (F 1968), Regie und Drehbuch: Jacques Willemont. DAS SCHLESISCHE TOR (CH/D 1982), Regie und Drehbuch: Clemens Klopfenstein. EIN SCHMALES STÜCK DEUTSCHLAND (D 1990), Regie und Drehbuch: Joachim Tschirner, Lew Hohmann, Klaus Salge. DIE SELTSAME HISTORIA VON DEN SCHILDBÜRGERN (DDR 1991), Regie und Drehbuch: Jan Johannes Hempel. SIGNAL – GERMANY ON THE AIR (USA 1985), Regie und Drehbuch: Ernie Gehr. SO SCHNELL GEHT ES NACH ISTANBUL (DDR 1990), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Andreas Dresen, Laila Stieler. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig, Leander Haußmann.

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STAU – JETZT GEHT’S LOS (D 1992), Regie und Drehbuch: Thomas Heise. STILLES LAND (D 1992), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Andreas Dresen, Laila Stieler. TODESSTREIFEN (D 1983), Regie und Drehbuch: Michael Bryntrupp. UNSERE KINDER (DDR 1988/89), Regie und Drehbuch: Roland Steiner. VERRIEGELTE ZEIT (DDR 1990), Regie und Drehbuch: Sybille Schönemann. WER FÜRCHTET SICH VORM SCHWARZEN MANN (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Helke Misselwitz. WINTER ADÉ (DDR 1989), Regie und Drehbuch: Helke Misselwitz. WRESTLER (D 1985), Regie und Drehbuch: Wieland Speck. WIR KÖNNEN AUCH ANDERS . . . (D 1993), Regie: Detlev Buck, Drehbuch: Detlev Buck, Ernst Kahl. ZUG IN DIE FERNE (DDR 1989), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Andreas Dresen, Laila Stieler.

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Stephen Brockmann

SONNENALLEE (1999) und die Geburt der filmischen Ostalgie Leander Haußmanns SONNENALLEE ist sicherlich das wichtigste Beispiel filmischer Ostalgie. Das Werk war einer der erfolgreichsten deutschen Filme der 1990er Jahre, mit 2.660.119 Zuschauern.1 Er bereitete auch den Weg für andere nostalgische Filme über die untergegangene Deutsche Demokratische Republik, vor allem für Wolfgang Beckers noch beliebteren Film GOOD BYE, LENIN! (2003). Als Komödie, die nichts besonders ernst nimmt, steht SONNENALLEE durchaus in der Hauptströmung des deutschsprachigen Kinos der 1990er Jahre. Die 1990er Jahre waren schließlich ein Jahrzehnt, in dem die deutschsprachige Filmkomödie, mit Exemplaren wie Sönke Wortmanns DER BEWEGTE MANN (1994), Rolf Silbers ECHTE KERLE (1996), Detlev Bucks MÄNNERPENSION (1996), oder auch Martin Walz’ KONDOM DES GRAUENS (1996) einen entscheidenden Durchbruch erlangte und offensiv gegen die Schwermut des eher ernsten Neuen Deutschen Films der 1960er und 1970er Jahre Stellung nahm (vgl. z. B. Nicodemus 2004; Kilb 1997). Diese Filme der 1990er Jahre erhoben keinen Anspruch darauf, von Kritikern als großartige Kunstwerke angesehen zu werden oder gar Belehrungen an das deutsche Volk zu verteilen. Stattdessen wollten sie ihr Publikum unterhalten. Genau dies taten die deutschen Filmkomödien der 1990er Jahre, wenn man sich den Verkaufserfolg dieser Filme anschaut. SONNENALLEE musste zwar 1999 gegen harte Konkurrenz ankämpfen, z. B. gegen STAR WARS: EPISODE 1 – DIE DUNKLE BEDROHUNG (über 8 Millionen Zuschauer in Deutschland) und auch gegen MATRIX (über 4 Millionen deutsche Zuschauer). Aber immerhin schlug SONNENALLEE den Überraschungserfolg BLAIR WITCH PROJECT (unter anderthalb Millionen Zuschauer in Deutschland). Er war der drittpopulärste deutsche Film des Jahres 1999, nach Claude Zidis ASTERIX & OBELIX GEGEN CAESAR (eine deutsch-französische Koproduktion) und Gerhard Hahns WERNER – VOLLES ROOÄÄÄ!!! In der Gunst des deutschen Publikums besiegte SONNENALLEE auch locker den beliebtesten deutschen Film des Jahres 1998, Tom Tykwers internationale Sensation LOLA RENNT. Es stimmt allerdings, dass die deutschen Filmkomödien, mit der Ausnahme von SONNENALLEE, kaum Beachtung im Ausland fanden, da der deutsche Humor anderenorts nicht verstanden wird und weil ernsthaftere deutsche Filmprodukte, z. B. Filme über den Zweiten Weltkrieg und Hitler, im Ausland einen klaren

1 Vgl. zu den im Text genannten Zuschauerzahlen http://www.insidekino.com. https://doi.org/10.1515/9783110629408-011

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Marktvorteil haben, der für Produktdifferenzierung und manchmal Verkaufserfolge sorgt (vgl. Bradshaw 2006).2 Schließlich ist das deutsche Kino unter anderem für die Auseinandersetzung mit der Hitlerdiktatur zuständig, und Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts wollen, auch im Ausland, vor allem mit Ernsthaftigkeit angegangen werden, besonders wenn die Filme aus Deutschland kommen. Das ist wohl der Grund, warum erst GOOD BYE, LENIN! im Jahre 2003 und dann vor allem Florian Henckel von Donnersmarcks DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) – also Filme, die das DDR-Thema eher ernsthaft angingen – auch im Ausland populär wurden. SONNENALLEE war wohl zu unernst für das Ausland, zudem setzte er gewisse Vorkenntnisse über die DDR voraus (etwa dass ein Mann sich drei Jahre lang zur Nationalen Volksarmee verpflichten musste, um studieren zu dürfen, dass man in Dresden keine Westsender sehen konnte oder dass die meisten Menschen keinen Telefonanschluss hatten), die außerhalb Deutschlands und vielleicht sogar außerhalb des ehemaligen DDR-Gebiets kaum vorhanden waren. Vor der in SONNENALLEE dargestellten DDR konnte man sich sowieso nicht gruseln, waren doch ihre schlimmsten Vertreter eher gutmütige DDR-Soldaten, die am Ende des Filmes den Fall der Mauer zu begrüßen schienen. So etwas konnte im Ausland kaum auf großen Zuspruch rechnen. Wenn man aber in Deutschland allein über zwei Millionen Kinokarten an den Mann und die Frau bringen kann, braucht man nicht unbedingt auch noch einen Auslandserfolg. Die deutschen Filmkomödien der 1990er Jahre, zu denen SONNENALLEE durchaus gehört, waren Filme, die trotz manchmal niederschmetternder Kritiken – und das gilt übrigens auch für SONNENALLEE – einen Beitrag zur finanziellen Gesundung der deutschen Filmbranche leisteten. Sie sollten wohl nicht nur deswegen, sondern auch wegen der Einblicke, die sie in die Kultur der 1990er Jahre gewähren, auch von akademischen Kritikern ernsthafter behandelt werden, als es bisher der Fall ist.3

2 Bradshaw (2006, S. 52) behauptet: „Ich habe das ungute Gefühl, dass dies in der Sprache der Werber immer noch den unique selling point des deutschen Kinos in Großbritannien darstellt. Es sieht so aus, als ob nichts der großen Tragödie des Zweiten Weltkrieges den Rang ablaufen könnte.“ Mattias Frey (2013, S. 172) schreibt sogar von einem „Adolf-Bonus“, das heißt „yet another product for Germany, one of the world’s largest exporters, to sell“. 3 Über deutsche Filmkomödien ist relativ wenig geschrieben worden, wohl weil die Filme nicht ernst genommen werden [wollen]. Zur sogenannten Berliner Schule gibt es einiges; zu Filmen wie der FACK JU GÖHTE-Reihe fast nichts, obwohl letztere viel populärer sind. Zu dieser Problematik in der Filmforschung schreibt auch Mattias Frey (2013, S. 139), allerdings nur flüchtig. Der heftigste und weitreichendste Angriff in der internationalen Filmforschung auf die Filme der 1990er Jahre war: Rentschler 2000. Auch wenn man zugibt (was ich keineswegs will), dass die angegriffenen Filme in ästhetischer Hinsicht Schrott sind, bleibt dennoch die Frage, ob man nicht trotzdem (oder gerade deswegen) aus diesen populären Filmen einiges über den Zustand Deutschlands in den 1990er Jahren lernen kann. Solche Fragen werden aber

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SONNENALLEE unterschied sich von den anderen großen deutschen Filmkomödien der 1990er Jahre vor allem dadurch, dass der Film sich eingehend mit der ehemaligen DDR auseinandersetzte und so das deutsche Publikum auf spätere diesbezügliche Filmerfolge, vor allem die Streifen von Becker und Donnersmarck, vorbereitete.4 SONNENALLEE verband die Unterhaltsamkeit der anderen Filmkomödien der 1990er Jahre mit einem Thema, der DDR, das bis zu diesem Zeitpunkt eher ernsthaft angegangen oder – noch bezeichnender – kaum beachtet worden war. Wie der Produzent Claus Boje behauptete: „Endlich kann man mal über die DDR lachen.“ (Zit. n.: Anonymus 1999a) Zwar hatten kleinere Filme wie Peter Timms GO TRABI GO (1991) und Detlev Bucks WIR KÖNNEN AUCH ANDERS (1993), beide sogenannte Roadmovies, die sich einerseits mit ostdeutschen Entdeckungen im Westen (inklusive Italien) und andererseits mit westdeutschen Entdeckungen im Osten (inklusive Osteuropa) beschäftigten, die beträchtlichen Möglichkeiten einer komödiantischen Auseinandersetzung mit dem DDR-Thema unter Beweis gestellt. Buck und sein Kollege Boje wurden denn auch später folgerichtig Produzenten für SONNENALLEE. Es gab auch in den 1990er Jahren sehr gute Dokumentarfilme über die DDR und die Entwicklungen in den ostdeutschen Bundesländern in der Nachwendezeit, wie Andreas Voigts hervorragende Filme über Leipzig, LETZTES JAHR TITANIC (1991), GLAUBE LIEBE HOFFNUNG (1994) und GROSSE WEITE WELT (1997). Das im Untergang begriffene DEFA-Studio machte auch faszinierende Filme über den Zusammenbruch und den Verwesungsprozess des DDR-Staates, etwa Jörg Foths bitter-bösen Film LETZTES AUS DER DADAER (1990) oder Andreas Dresens leisen, traurigen Film STILLES LAND (1992; vgl. Steingröver 2014).5 Die letzten DEFA-Filme bekamen jedoch kaum Aufmerksamkeit und wurden vom Publikum ignoriert, und auch die Dokumentarfilme von Voigt und anderen waren eher etwas für Spezialisten, nichts für ein großes Publikum. Nun kann man sich fragen, ob solche Filme zum DDR-Thema deswegen nicht beachtet wurden, weil sie nicht gezeigt wurden, das heißt kaum in den Verleih kamen, und weil das Publikum gerade deswegen keine Chance bekam, auch in der internationalen Filmforschung viel zu wenig beachtet, obwohl gerade die Popularität des Films und die Tatsache, dass er der Arbeit vieler Menschen bedarf, den Status des Films als Gradmesser auch für nationale Befindlichkeiten begründen soll. Dies behauptete schon der Student Enno Patalas (1952) in Berufung auf Siegfried Kracauer in einer frühen Arbeit: „Unter den künstlerischen Ausdrucksformen nimmt dabei der Film insofern eine Sonderstellung ein, als er in den seltensten Fällen nur Widerschein der Gesinnung eines Einzelnen oder einer kleinen Zahl ist.“ (Patalas 1952, S. 27) 4 Das ostdeutsche Thema ist wohl der Hauptgrund, warum es zu diesem Film auch in englischer Sprache einige akademische Studien gibt, z. B. Cafferty 2001, Cooke 2003 oder Kutch 2011. 5 Steingröver schreibt auch über Voigts Dokumentarfilme.

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sie zu sehen, oder ob die Filme umgekehrt nicht verliehen und gezeigt wurden, weil kaum ein Publikum vorhanden gewesen wäre, das sich für sie interessiert hätte (vgl. Steingröver 2014).6 Das ist eine schwierige Frage, die wohl kaum zu beantworten ist. Wahrscheinlich ist, dass beides eine Rolle spielte: erstens, dass das Publikum, und zwar in beiden Teilen Deutschlands, lieber unterhalten werden wollte als sich mit ernsthaften oder gar deprimierenden Themen zur deutschdeutschen Geschichte und zu DDR-Befindlichkeiten auseinanderzusetzen; und zweitens, dass Verleiher und Kinobetreiber solchen Filmen sowieso kaum eine Chance gaben, weil sie mit anderen Filmen mehr Geld zu verdienen glaubten. So kam es aber dazu, dass die größte politische und soziale Veränderung in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nämlich der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Wiedervereinigung, in den Hauptströmungen des deutschen Gegenwartskinos der 1990er Jahre kaum Eingang fand. Was die Menschen in der ehemaligen DDR in den 1990er Jahren durchliefen, war durchaus eine radikale Veränderung der Lebensumstände, der Besitzverhältnisse, der Politik und des Alltags bis ins kleinste Detail. Aber gerade diese radikale Veränderung wurde auf den deutschen Kinoleinwänden der 1990er Jahre kaum zur Kenntnis genommen. Was man stattdessen zu sehen bekam, waren einerseits amerikanische Blockbuster wie STAR WARS oder, wenn schon deutsche Filme, dann eher Filme über die komischen Beziehungsprobleme wohlhabender Westdeutscher in Städten wie Köln oder München.7 Dieses Missverhältnis zwischen den Hauptströmungen des deutschen Kinos und der übrigen deutschen Kultur in den 1990er Jahren einerseits und den tatsächlichen Lebensverhältnissen der Bürger der neuen Bundesländer, einschließlich Ostberlins, führte unter anderem zu der in Ostdeutschland in den 1990er Jahren überall um sich sprießenden Ostalgie, die sich zum Beispiel in Auftritten ostdeutscher Rockbands wie Die Puhdys oder Zitty oder auch in Berliner Szenekneipen sättigte, etwa ab Juni 1994 freitags in Prenzlauer Berg in der berühmten Kulturbrauerei mit der Disco Ost rock test the west (vgl. Broder 2004, S. 93; Müller 1997). Alles deutete Mitte der 1990er Jahre darauf hin, dass es einen realen Markt für Ostalgie gab, aber das deutsche Kino war noch nicht bereit, diese Nachfrage zu bedienen. Wenigstens in der Filmbranche überließ man die Ostdeutschen weitgehend sich selbst und ihrer Nostalgie für einen Lebenszustand, für dessen Verabschiedung sie sich

6 Steingröver behauptet, die Filme wurden nicht gesehen, weil sie nicht gezeigt wurden. Sie vernachlässigt dabei die Frage, ob es damals überhaupt ein Publikum für solche Filme gab. Meine Antwort darauf: Brockmann 2014. 7 Z. B. und vor allem DER BEWEGTE MANN aber auch IRREN IST MÄNNLICH oder ECHTE KERLE. Vgl. Brockmann 2020, S. 553–561.

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kaum hatten vorbereiten können. Dies änderte sich schlagartig Ende des Jahrzehnts mit Haußmanns SONNENALLEE. Man muss dem Regisseur und seinem Drehbuchautor Thomas Brussig zugutehalten, dass sie die daraus resultierende filmische Marktlücke durchaus erkannten und zur Tat schritten. Haußmann führte zwar zwei Jahrzehnte später aus, dass „Ostalgie [. . .] ein diskriminierender, dekadenter und ignoranter Begriff sei“, bestand aber trotzdem darauf, dass jeder „ein Recht darauf [habe], seine Erinnerungen zu verklären. In vielen Fällen ist das sehr hilfreich und gut gegen Depressionen. Aber es geht darum, den Standort zu definieren.“ (Zit. n. Seidler 2018, S. 27) Brussig war schon durch seinen Erfolgsroman Helden wie wir (Brussig 1995) auch im Westen bekannt geworden. Dieser Roman schien quasi aus dem Nichts zu kommen, denn Brussig war bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt geblieben, obwohl er schon 1991 einen ersten Roman, allerdings zunächst unter Pseudonym, veröffentlicht hatte (Brussig 1991). Schon Helden wie wir hatte deutlich genug die Möglichkeiten einer komödiantischen Handhabung des DDR-Themas gezeigt. Bis 1995 hatte man die DDR und den Fall der Mauer in der deutschen Kultur eher ernst genommen und die Ereignisse des Herbstes 1989 als deutsche Heldengeschichte angesehen. Ja, in seiner großen Berliner Rede vom 4. November 1989 hatte der Schriftsteller Christoph Hein der Stadt Leipzig, dem Geburtsort der DDR-Revolution, den alles anders als ironisch gemeinten Titel „Heldenstadt“ verliehen.8 Nun kam der junge – erst im Jahre 1964 geborene, also zur Zeit der Veröffentlichung des Romans kaum dreißigjährige – Schriftsteller Thomas Brussig und machte sich lustig über genau diese deutsche Heldengeschichte. Denn die Hauptfigur des Romans war alles andere als ein nachahmenswerter Held: der unbeholfene, verklemmte und recht widerliche Klaus Uhltzscht, ein Stasi-Agent, dessen Name auch noch sehr schwer auszusprechen war. Uhltzscht ließ die Berliner Mauer nicht durch den geballten Zorn und den Freiheitswillen des DDR-Volkes fallen; er behauptete stattdessen, der Mauerfall sei eine unbeabsichtigte Reaktion auf das ungeheure Wachstum seines vorher kleinen Geschlechtsorgans gewesen. Ja, Uhltzscht sagt unumwunden: „Die Geschichte des Mauerfalls ist die Geschichte meines Pinsels“, und zwar nicht etwa im Selbstgespräch, sondern gegenüber einem Reporter der New York Times mit dem sprechenden Namen Mr. Kitzelstein, dem Uhltzscht seine unglaubliche Geschichte erzählt (Brussig 1995, S. 33). Durch die ganzen 1990er Jahre hindurch und bis weit ins 21. Jahrhundert hinein suchten Literaturkritiker in der Bundesrepublik und anderswo nach dem

8 Der Wortlaut von Heins Rede unter: http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4novem ber1989/hein.html.

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großen deutschen Wenderoman.9 Plötzlich erhob 1995 ausgerechnet dieser komische, groteske Roman Anspruch auf diese Bezeichnung, indem er sich über die ganze DDR und ihren Untergang lustig machte, über die Stasi, über die angebliche sexuelle Verklemmtheit des DDR-Kleinbürgertums, aber auch über die Revolution, die zum Ende der DDR geführt hatte, ja, auch über die DDR-Kultur selbst und ihre angesehensten Repräsentanten, allen voran die Schriftstellerin Christa Wolf und deren Berliner Rede vom 4. November 1989.10 Brussig scheute sich sogar nicht, Wolfs ersten Roman Der geteilte Himmel (Wolf 1963) mit seinem letzten Kapiteltitel „Der geheilte Pimmel“ verächtlich zu machen (Brussig 1995, S. 277). Konnte man das DDR-Thema im wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre auch so angehen? Thomas Brussig zeigte: man konnte. Und zwar durchaus mit Erfolg. Viel von diesem männlichen Pennäler-Humor findet sich dann auch im Film SONNENALLEE, wo einer der Schüler, Mario (Alexander Beyer), durch Hinzufügung eines Buchstabens sich einen Jux daraus macht, Lenins kommunistische Parole „Die Partei ist die Vorhut der Arbeiterklasse“ in die für die Schüler amüsantere Parole „Die Partei ist die Vorhaut der Arbeiterklasse“ zu verwandeln. Im ganzen Film triumphieren die jugendlichen Helden mit ihrem anti-ideologischen Humor über die Humorlosigkeit der zum Teil kommunistisch verbohrten älteren Generation und auch über die Versuche westdeutscher Jugendlicher, sich über sie zu mokieren oder hinwegzusetzen. Ja, im Film rufen diese westdeutschen Jugendlichen das Wort „Ossi“ aus, was klar darauf hinweist, dass der Film vor allem ein Produkt der 1990er Jahre und nicht der Vorwendezeit ist, denn der Begriff „Ossi“ wurde erst nach 1989 gebräuchlich (vgl. Cooke 2003, S. 161).11 Der Film SONNENALLEE wie auch Brussigs damit zusammenhängender Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee – beide erschienen im gleichen Jahr 1999, zum zehnten Jahrestag der DDR-Revolution und des Mauerfalls, und der Film öffnete nicht zufällig am 7. Oktober 1999, dem fünfzigsten Jahrestag der

9 Brussig selbst machte sich zwar etwas lustig über diese Suche nach dem Wenderoman, wollte aber durchaus selber den großen Wenderoman schreiben. Siehe z. B.: Anonymus 2004. Zu den Erwartungen an den Wenderoman im Allgemeinen siehe auch meinen Artikel Brockmann 2007. 10 Für den Wortlaut von Wolfs Rede siehe: http://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4no vember1989/cwolf.html. 11 In seiner Besprechung des Films machte Claus Löser aus dem Wort „Ossi“ einen Vorwurf an Regisseur und Drehbuchschreiber, weil das Wort „Ossi“ für die 1970er Jahre nicht authentisch, sondern „eindeutig [. . .] ein Nachwende-Produkt“ sei (Löser 1999). Löser hat natürlich recht, übersieht aber, dass der Film gar nicht realistisch sein will. Gerade das Wort „Ossi“ ist vielmehr ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Film auch von den Autoren selbst nicht als ‚authentisch‘ verstanden werden will.

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DDR-Staatsgründung – knüpften an den Erfolg des Romans Helden wie wir an. Im Presseheft des Filmes ließ Brussig auch verlauten: „Die Filmschaffenden der DDR bündeln ihre Kräfte und präsentieren der Republik dieses Geburtstagsgeschenk.“ (Zit. n. Junghähnel 1999) Helden wie wir aber war grotesk und absurd gewesen, mit einer abstoßenden Hauptfigur, der für die Stasi arbeitet und zusätzlich auch noch bis ins unerträgliche Detail gehenden sexuellen Perversionen nachgeht. Mit Klaus Uhltzscht konnte sich auch der wohlwollendste Leser nicht identifizieren. Eine solche Identifikation beabsichtigte Thomas Brussig mit seinem ekelhaften Protagonisten auch gar nicht. Im Gegenteil, der Roman war geradezu ein Aufschrei gegen die Heroisierung des DDR-Geschehens am Ende der 1980er Jahre. Im Grunde genommen behauptet der Roman Helden wie wir, dass ‚wir‘ – also die Bürger der ehemaligen DDR – gar nicht so große Helden, sondern eher miese kleine Anpasser waren. Brussig selbst räumte ein: „Mit dem Buch habe ich mir die Wut über die fehlende Auseinandersetzung mit der Realität in der DDR von der Seele geschrieben.“ (Zit. n. Dockhorn 1998) Die komische Herangehensweise war zwar innovativ, aber Brussig erlaubte gerade westdeutschen Lesern, ihre Distanzierung gegenüber dem Leben in der DDR beim Lesen des Romans aufrechtzuerhalten. Das war nicht weiter schlimm, denn der Roman war vor allem für ostdeutsche Leser geschrieben. Aber der Roman ließ eine humoristische, identifikatorische Möglichkeit offen, die Brussig und Haußmann dann mit dem vier Jahre später erschienenen Film SONNENALLEE und auch mit dem dazugehörigen Roman ausschöpften. SONNENALLEE arbeitet nämlich mit allen Mitteln auf eine Identifikation zwischen dem Zuschauer und der Hauptfigur Michael Ehrenreich hin, der die Geschichte erzählt. Ehrenreich ist kein Stasi-Agent und auch kein Ekel-Paket, sondern ein normaler Junge mit ganz normalen Jugendproblemen. Der Film ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem an berühmte amerikanische Coming-of-Age-Filme der 1960er, 1970er und 1980er Jahre erinnert, wie Mike Nichols’ THE GRADUATE (1967), Peter Bogdanovichs THE LAST PICTURE SHOW (1971), George Lucas’ AMERICAN GRAFFITI (1973), Peter Yates’ BREAKING AWAY (1979), Rob Reiners STAND BY ME (1986) oder auch Peter Weirs DEAD POETS SOCIETY (1989). Der Film erinnert auch an Filme der 1950er Jahre, die sich mit der Jugendproblematik auseinandersetzten, etwa Laslo Benedeks THE WILD ONE (1953), Nicholas Rays REBEL WITHOUT A CAUSE (1955), Richard Brooks’ THE BLACKBOARD JUNGLE (1955) oder auch den westdeutschen Film DIE HALBSTARKEN (1956) von Georg Tressler und DDRFilme wie Gerhard Kleins BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (1957) und BERLIN UM DIE ECKE (1965). Die Jugendfilme der 1950er Jahre zeigten die tiefe Kluft zwischen der älteren und einer gefährdeten jüngeren Generation und endeten meistens tragisch, während die Filme der 1960er, 70er und 80er Jahre hauptsächlich auf eine Selbstvergewisserung der verlorenen, nostalgisch verklärten Jugend ausgerichtet

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waren und die Kluft zwischen den Generationen eher vernachlässigten. So war das auch bei SONNENALLEE, denn, wie Brussig einräumte: „Dieser Film will versöhnen.“ (Zit. n. Dockhorn 1998) Versöhnung war im Übrigen auch ein Hauptziel der viel kritisierten Heimatfilme der 1950er Jahre gewesen, die in einer ganz anderen geschichtlichen Situation ein deutsches Publikum auf das Leben in der jungen Bundesrepublik einstimmen wollten. In beiden Fällen ging es aber darum, nach einem radikalen geschichtlichen Umbruch sich ein neues, versöhnlicheres Bild von dem Land zu entwerfen, in dem man nun gewollt oder ungewollt leben musste oder (im Fall der DDR) hatte leben müssen. Über die Heimatfilme der 1950er Jahre behauptete bereits Claus Seidl: „Der Heimatfilm [. . .] sollte Trost spenden. Versöhnen statt spalten hieß schon damals das Motto.“ (Seidl 1987, S. 68) In Seidls Sichtweise ging es in den Heimatfilmen darum, „aus dem Provisorium Bundesrepublik eine wirkliche Heimat zu machen.“ (Ebd.) In SONNENALLEE aber geht es darum, aus der plötzlich als provisorisch und vorübergehend entpuppten DDR nachträglich eine gewesene Heimat zu machen. Der Film SONNENALLEE könnte also durchaus als anders gearteter und urban angelegter DDR-Heimatfilm angesehen werden. Während jedoch die Heimatfilme der 1950er Jahre ihr Publikum mit der westdeutschen Gegenwart versöhnen wollten, wollte SONNENALLEE eine gewisse Versöhnung mit der ostdeutschen Vergangenheit erreichen. In beiden Fällen kann natürlich von Realismus, geschweige denn historischer Detailversessenheit, überhaupt nicht die Rede sein. Man kann also durchaus diese Filme für ihre Geschichtsvergessenheit bzw. -blindheit kritisieren, aber eine solche Kritik dringt nicht zu den tieferen psychologischen und soziologischen Gründen für die Entstehung und die Beliebtheit der Filme vor. Gerade für die nostalgischen Jugendfilme der 1960er, 70er, und 80er Jahre – und übrigens auch für den Heimatfilm, allerdings auf andere Art – spielt die Musik eine große Rolle, weil sie quasi den Soundtrack der Jugend darstellt und eine gemeinsame Identifikation unter den Filmfiguren selbst, aber auch zwischen diesen einerseits und dem Kinopublikum andererseits anbietet. SONNENALLEE ist paradigmatisch für dieses Verfahren, denn außer der Liebe und der Freundschaft mit anderen Jugendlichen ist es vor allem die westliche Musik, die den Inhalt des Lebens der Jugendlichen darstellt. Diese Jugendlichen hängen eben herum und hören sich Musik an, vor allem die westliche Rockmusik der 1970er Jahre, überspielt auf Kassetten. Michael Ehrenreich, die Hauptfigur des Filmes, ist meistens in einem T-Shirt zu sehen, auf dem die Worte „Rock & Pop“ stehen, was deutlich genug auf seine Prioritäten hinweist. Schon die erste Einstellung des Filmes zeigt dem Zuschauer, wie Michael vor einer mit Sternchen in den Farben der amerikanischen Fahne dekorierten Wand Musik auf eine Kassette überspielt. Um seine Taten möglicherweise technologisch

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unkundigen Zuschauern der späten 1990er Jahre zu erklären, sagt Michael auch hilfreich: „Ich bin gerade dabei, einen verbotenen Song zu überspielen.“ (TC 0:01:39)12 Seine ersten Worte sind „Ich wollte immer ein Popstar sein, einer, der was bewegt.“ (TC 0:01:20) Über seinen Wohnort und seine Lebensverhältnisse sagt er einfach: „Ich lebe in der DDR. Ansonsten habe ich keine Probleme.“ (TC 0:01:35) Dies waren zugleich die berühmtesten Worte des Filmes – die garantiert einen Lacheffekt unter ehemaligen DDR-Bürgern im Publikum hervorkitzelten – und zugleich das Programm des Films.13 Denn der Film zeigt in der Tat ganz normale Jugendliche, deren einziges wirkliches Problem die DDR selbst darstellt. Das ist also alles andere als eine Verteidigung oder Ehrenrettung der DDR, wie dem Film manchmal irrtümlicherweise unterstellt wurde.14 Im Übrigen ist der Film so weit entfernt von Realismus, dass der Zuschauer kaum in Versuchung kommt, ihn mit der Wirklichkeit zu verwechseln (vgl. Kutch 2011, S. 211). Der Film fährt dann fort, die Probleme die Michael (nicht) hat, zu zeigen. Am Ende des Filmes scheint es Michael fast gelungen zu sein, ein Popstar zu werden, denn er und sein Freund Wuschel stehen oben auf einem Balkon, spielen Luftgitarre und tanzen vor einem ihnen enthusiastisch zuschauenden Publikum, in dem sich nicht zufällig Miriam, das Mädchen, in das sich Michael verliebt hat, befindet. Wie ein Rockstar zieht sich Michael dann sein Rock & Pop-T-Shirt aus und wirft es nach unten, wo Miriam es bewundernd als Reliquie aufhebt. Sogar die DDR-Soldaten an der Mauer machen enthusiastisch mit, und die Menge bewegt sich tanzend auf die Mauer und damit auf die DDR-Staatsgrenze zu, die somit außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Die Parallele zu der Maueröffnung im Roman Helden wie wir ist klar: Es ist die westliche Musik, der Enthusiasmus, und ja sogar die jugendliche Liebe, die zum Ende des DDR-Staates beigetragen haben und nicht etwa irgendeine langweilige Rede eines älteren SED-Parteifunktionärs oder gar politischer Protest von mündig gewordenen Staatsbürgern. Aus dem Osten ist der Westen geworden, aus dem ‚Eastern‘ ein

12 SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann. TC: Zeitangaben nach der DVD: Highlight Video 2000. 13 Über diese Worte und die Zeichentrick-Ästhetik des Filmes im Allgemeinen siehe Kutch 2011, besonders S. 207. 14 Siehe z. B. Bisky 2000 und auch Bühler 2000, einen Bericht über ein öffentliches Gespräch zwischen Haußmann und Brussig einerseits und Vertretern der DDR-Opferorganisation HELP andererseits. HELP hatte eine gerichtliche Klage gegen den Film erhoben, da der Film angeblich das Leid der DDR-Opfer verniedliche oder verächtlich mache. Aber der Film verneint bzw. verniedlicht die Opfer der DDR keineswegs; im Gegenteil, er handelt gar nicht von ihnen, sondern von relativ normalen DDR-Bürgern, also genau den anpassungswilligen und -fähigen Menschen, die Brussig auch in Helden wie wir apostrophiert hatte – nur diesmal positiv und wohlwollend, nicht negativ und kritisch.

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Western, und der filmische Beweis dafür ist der auf der Straße vor der Mauer umherflatternde Amarant, dessen Erscheinen sich schon am Anfang des Filmes – nicht nur visuell sondern auch in der Musik – angekündigt hatte: ‚Test the West‘ eben. Auf den Filmplakaten wurde für SONNENALLEE mit den Worten „Es war einmal im Osten . . .“ geworben, ein klarer Hinweis auf einen der größten aller von Europäern gemachten Western, Sergio Leones ONCE UPON A TIME IN THE WEST (deutscher Titel: SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD, 1968). Die Musikliste in SONNENALLEE ist lang und von großer Bedeutung für das Verständnis und das Lebensgefühl des Filmes, denn die Jugendlichen interessieren sich vor allem für Westmusik. Die wichtigste Rolle im Film spielt das Rolling Stones-Doppelalbum Exile on Mainstreet (1972), das zwar im Soundtrack selbst nicht vorkommt, wohl in erster Linie weil die Rechte dazu für die Produzenten zu teuer gewesen wären, in zweiter Linie aber auch, weil der ganze Film auf den Wunsch nach westlicher Musik ausgerichtet ist, nicht aber auf den tatsächlichen Besitz dieser Musik. Für die Filmfigur Wuschel (Robert Stadlober), einer von Michaels besten Freunden, stellt die Suche nach Exile on Main Street im Grunde genommen den wichtigsten Inhalt seines Lebens dar. Durch den Film hindurch versucht Wuschel, dieses legendäre Doppelalbum ausfindig zu machen und zu kaufen, aber in dem Augenblick, wo es ihm tatsächlich gelingt, des Albums habhaft zu werden, wird er nach einem – bezeichnenderweise von einem importierten japanischen Kassettenrecorder veranlassten – Stromausfall an der Mauer angeschossen. Nur das Album selbst rettet Wuschel das Leben, denn die Kugel zerbricht zwar beide Platten des Doppelalbums, verletzt ihn aber nicht. Und so ist die Sehnsucht nach der Westmusik buchstäblich die Rettung seines Lebens. Später, gegen Ende des Filmes, wenn Wuschel glaubt, dass ihm ein zweiter Versuch, Exile on Main Street zu kaufen, gelungen ist, stellt sich heraus, dass er für 150 Ostmark nicht das gewünschte Album, sondern eine glatte Fälschung gekauft hat. Der Versuch der Hauptfigur Micha, Wuschel zu trösten, führt dann zum Ende des Filmes, indem die wichtigsten Filmfiguren auf die Berliner Mauer zutanzen, während Wayne Carson Thompsons Lied „The Letter“ gespielt wird, allerdings in einer extra für den Film SONNENALLEE produzierten Fassung der auch nur für den Film gebildeten Gruppe Dynamo 5 – eben mit Robert Stadlober als Hauptsänger, der die Figur des Wuschel schauspielerisch verkörpert. Hier fließen die diegetischen und die nichtdiegetischen Ebenen des Filmes ineinander: Auf dem gefälschten Album singt Robert Stadlober als Musiker, während der von Robert Stadtlober gespielte Wuschel tanzt und vorgibt zu spielen. Und auf dem Balkon, wo die Musik des gefälschten Albums in Wirklichkeit sowieso nicht mehr gehört werden könnte, geht die Musik putzmunter einfach weiter. Das ist durchaus angemessen für einen Film, der die ganze Diegese sowieso nicht besonders ernst nimmt und schon gar nicht den Anspruch erhebt, die DDR detailgenau

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und historisch korrekt zu rekonstruieren oder gar die DDR-Vergangenheit tiefschürfend zu bewältigen. Das wurde anderen Filmen überlassen. Die Musik des Filmes ist vor allem keine tatsächliche Westmusik der 1970er Jahre – dem Jahrzehnt, in dem die Handlung des Films angeblich passiert – sondern quasi ein Wunschtraum dieser Musik, hergestellt von hauptsächlich deutschen Musikern der späten 1990er Jahre. Die wichtigsten Ausnahmen bilden Moscow der westdeutschen Rockgruppe Wonderland (1968), das Lied, das am Anfang des Filmes von Michael überspielt wird, und das zu Auseinandersetzungen mit dem vom Produzenten Detlev Buck verkörperten Nachbarschaftspolizisten (Abschnittsbevollmächtigten = ABV) führt, weil es so „verboten“ ist (wobei die Jungen dem ABV weismachen wollen, dass „verboten“ nichts anderes als „cool“ bedeutet) und Bang a Gong (Get it On) (1971) der britischen Rockgruppe T. Rex, ein Lied, das während der wichtigen Schuldiscoszene gespielt wird, in der Michael und seine Freunde durch gemeinsames Tanzen ihre Solidarität gegenüber den sie vernachlässigenden Mädchen zum Ausdruck bringen wollen. Ein besseres Beispiel für die sinn- und gemeinschaftsgefühlstiftende Wirkung der westlichen Popmusik ließe sich schwerlich finden. Ansonsten ist vieles von der angeblichen westlichen Musik der 1970er Jahre in dem Film eigentlich aus den späten 1990er Jahren und nicht etwa von englischen oder amerikanischen, sondern von deutschen Musikern gemacht. Die westdeutsche Rockgruppe Einstürzende Neubauten komponierte einige Lieder extra für den Film, vor allem „Goes Without Saying“, das während der Liebesszene zwischen Michas Freund Mario und seiner in den französischen Existentialismus und in die Kunst verliebten Freundin Sabrina (Elena Meißner) gespielt wird, und das die absolute Freiheit des Menschen in der Entscheidung, in der Liebe, und in der Kunst feiert: „There is a labyrinth / But it has no walls / There are no exit signs / No arrows, no red lights“ (TC 0:36:01). Diese Worte haben selbstverständlich im Schatten der Berliner Mauer eine besondere Bedeutung, die jedoch nichts von der Liebesszene wegnimmt. Im Übrigen erinnert diese Liebesszene stark an die berühmte Liebesszene in Jerry Zuckers amerikanischem Spielfilm GHOST (1990), in der die von Demi Moore gespielte Molly Jenson an der Töpferdrehscheibe arbeitet, während der von Patrick Swayze gespielte Sam Wheat seine Liebhaberin bewundert, berührt und anbetet. In beiden Filmen werden die Kunst, die Liebe und die Musik als Gipfel menschlicher Erlebnismöglichkeiten zusammengebracht und gefeiert. Wahrscheinlich war sich der Regisseur Leander Haußmann dieser Ähnlichkeit zwischen den zwei Szenen bewusst, denn der Film ist voller Bezüge auf andere Filme, wie auch das Beispiel des Amarants belegt. Das Kunstwerk, vor dem Mario seine Lektion in Sachen Liebe bereitwillig lernt, stammt vom deutschen Künstler Jonathen Meese, der auch eine kleine Rolle im Film spielt.

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Der andere wichtige Musikbeitrag der Einstürzenden Neubauten kommt während der großen Partyszene des Films, mit dem starken Rhythmus des Lieds „What Love Does to Me“, wo fast alle Partygäste, allen voran Michael Ehrenreich selbst, durch Alkohol, Drogen, Musik und Liebe völlig die Selbstbeherrschung verlieren, während der Sänger Blixa Bargeld die Liebe als eine Art Krankheit oder Droge diagnostiziert, die zum Realitätsverlust führt: „A drastic loss of reality / Do not operate machinery / She radiates, I disintegrate / These symptoms mean it is too late“. Obwohl Drogen eigentlich kaum eine Rolle in der DDR spielten, beschreibt Thomas Brussig in seinem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee den Gebrauch eines Asthmamedikaments für Drogenexperimente: „Das Zeug gab es in der Apotheke. Es musste mit Cola verrührt und in einem Zug ausgetrunken werden.“ (Brussig 1999, S. 101) Genau das wird auch im Film gezeigt. Der Berliner Galerist Bernd Heise verbürgt den Gebrauch des gleichen Medikamentes unter drogenwilligen DDR-Bürgern: Asthma-Kraut Halle war eine Möglichkeit, ähnliche Erfahrungen zu machen wie mit LSD. Es enthielt unter anderem Tollkirsche und Schachtelhalm und war für 75 Pfennig in der Apotheke zu haben. Eigentlich war das ein Inhallationsmittel. Normalerweise wurde es aufgekocht und in einem Gerät eingeatmet. Wir aber füllten ein Glas bis zur Hälfte mit diesem Zeug und gossen Club-Cola drüber. Dann musste man es – das war ganz wichtig – auf ex trinken. Sonst hätte man gemerkt, wie scheußlich das ist, und sich übergeben. Dann ging alles ganz schnell. In 10 Minuten warst du sehr glücklich und ausgeglichen. Du hattest wilde Halluzinationen und einen Rundumblick. Wie eine Science-FictionFigur, die um den ganzen Kopf herum Augen hat: 360-Grad-Cinemascope. Das Problem bei dieser Arznei war, dass der Rausch nur zwei Stunden anhielt und man 24 Stunden lang dafür bestraft wurde. Du warst hinterher völlig ausgetrocknet. Dein Mund war eine Wüste. Und du warst blind. Die Pupillen waren so weit, dass du nichts mehr sehen konntest – als wenn man Atropin in den Augen hat. Es war wirklich furchtbar, deswegen habe ich es auch nie wieder genommen. Als Asthma-Kraut Halle populär wurde, verschwand es natürlich vom Markt.15

Der Regisseur Leander Haußmann gab Jahre später zu, dass er den Film – seinen ersten – nur unter Drogeneinfluss zustande brachte (vgl. Zander 2015). Kein Wunder also, dass der ganze Film, und nicht etwa nur die Partyszene, etwas halluzinatorisch anmutet, als angenehmer Traum oder Märchen von der DDR, wie sie unter freundlichsten Bedingungen vielleicht hätte sein können: „Es war einmal ein Land, und ich habe dort gelebt. Wenn man mich fragt, wie es war – es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt.“ Diese Worte öffnen die Tür für die ebenfalls märchenhafte, halluzinatorische Sicht auf die DDR in Wolfgang Beckers GOOD BYE, LENIN!: die DDR als

15 Zit. n. http://www.zeit.de/1999/40/34691.

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Land, das sich ein junger Mensch gewünscht hätte, nicht als realexistierende und alles andere als amüsante Diktatur. Die Drogenszene und die Halluzinationen in SONNENALLEE haben übrigens eine Entsprechung in der DDR-Filmkultur und sind keinesfalls gänzlich aus der Luft gegriffen. Schon Heiner Carows ebenfalls märchenhafter Film DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1973) hatte mit Drogen und Halluzinationen gespielt, denn die Protagonistin jenes Filmes behauptet von sich, dass sie eine Hexe sei, und sie verleiht ihrem Liebhaber Paul drogenähnliche Visionen. „Was war das für Zeug?“, fragt sie Paul in Bezug auf den Schnaps, den die zwei Liebhaber gemeinsam getrunken haben (Plenzdorf 1974, S. 55). Die Möglichkeit von Drogen ist also auch in Carows Film, dem einzigen wirklichen Kultfilm der DDR, gegeben, mit entsprechenden Visionen und Erlebnissen. In SONNENALLEE sieht Micha eine Vision, die aus einem DEFA-Indianerfilm zu kommen scheint (also sozusagen aus einem ‚eastern western‘). Leander Haußmann verneigt sich auch in aller Form vor Heiner Carows Film, indem er gegen Ende von SONNENALLEE den Schauspieler Winfried Glatzeder, der in Carows Film die Figur Paul gespielt hatte, auftreten lässt. Micha will, genau wie Paul in Carows Film, zu der Frau, die er liebt, und, genau wie Paul, läuft er die Treppe eines Altbaus hoch. Während dessen wird das Lied „Geh zu ihr“ der DDR-Rockgruppe Die Puhdys gespielt, das auch eine wichtige Rolle in Carows Film innehatte, und zwar genau während der Halluzinationsszene: „Geh zu ihr / Und laß deinen Drachen steigen. / Halt sie fest / Denn du lebst ja nicht vom Muß allein. / Augen zu / Dann siehst du nur diese eine / Geh zu ihr/ Und laß deinen Drachen steigen.“ (Ebd., S. 59) Glatzeder, der ähnlich gekleidet ist wie schon in Carows Film, fragt Micha: „Na, ein Beilchen gefällig?“ In Carows Film hatte Glatzeders Paul bei einer Nachbarin gefragt, ob sie ein Beil oder eine Axt hat, um die Tür seiner Liebhaberin Paula damit einzuschlagen. An der Tür der Wohnung, in die Glatzeder in SONNENALLEE dann geht, stehen auch die Namen „Paul“ und „Paula“. Michas Geliebte Miriam ist also quasi die Nachbarin von Carows Paula und Paul (obwohl es Paula eigentlich nicht mehr geben darf, weil sie am Ende von Carows Film gestorben war). Es ist durchaus konsequent, dass die wichtigste filmische Ostalgie-Halluzination der 1990er Jahre, Haußmanns SONNENALLEE, durch diese Szene auf die wichtigste DDR-Film-Halluzination der 1970er Jahre, Carows DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA, intertextuell verweist. Wie kann man die Popularität von Haußmanns SONNENALLEE erklären? Erstens durch den Humor, der aus einem bis zu diesem Zeitpunkt bierernsten Thema etwas Heiteres und dem Zeitgefühl der 1990er Jahre Angemesseneres machte. Vielleicht noch wichtiger als der Humor war aber, dass der Film die schon in Carows Kultfilm apostrophierte, auf Nostalgie angelegte DDR der 1970er Jahre so verklärte, dass die in Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt coole

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DDR ein Jahrzehnt nach ihrem Untergang als cool wiederauferstehen konnte. Ja, in Haußmanns Film war die DDR quasi der Inbegriff der 1970er Jahre und also der Inbegriff der Coolness überhaupt. Die 1990er Jahre waren sowieso von einer Nostalgie nach den 1970er Jahren geprägt (vgl. Colletti 2012). Wie ein Kritiker der Berliner Zeitung anmerkte: „Gerade weil die Autoren bewusst auf die Zutaten Sex, Drugs & Rock ‘n’ Roll, das Grundrezept aller Spaßgenerationen, setzten, funktioniert der Film auch im Westen. In einer Zeit, in der Abiturienten mit Schlaghosen und Strickwesten zu Abba-Partys ziehen, hätte den Filmemachern nichts Besseres einfallen können, als die Handlung in die frühen siebziger Jahre zu legen.“ (Anonymus 1999b) Nostalgie nach den 1970er Jahren gab es in den 1990er Jahren in den USA ebenso wie in Deutschland auf beiden Seiten des verschwundenen Eisernen Vorhangs. Waren die 1970er Jahre doch das letzte relativ stabile Jahrzehnt der DDR mit mehr oder weniger erfolgreicher weltweiter diplomatischer Anerkennung und im Westen das Jahrzehnt der sozialliberalen Koalition, der Ostpolitik, und der sogenannten Tendenzwende weg von der großen Politik und hin zum persönlichen Glück, zu persönlichen Beziehungen und Gefühlen. Wie die amerikanische Germanistin Leslie Adelson schon 1984 anmerkte, erwies sich der Begriff Tendenzwende in den 1970er Jahren als „a ready label for a development which seems to favor personal concerns and aesthetic expression over collective interests and political content.“ (Adelson 1984, S. 2 f.) In der DDR hatte etwas Ähnliches schon nach der Katastrophe des 11. Plenums des ZK der SED eingesetzt, und Carows DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA war ohne Zweifel ein Teil dieser Hinwendung zum persönlichen Glück und weg von der großen Politik.16 In den 1990er Jahren, nach der größten politischen Veränderung in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und während der Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien, die ebenfalls die schlimmsten militärischen Auseinandersetzungen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren, war die Sehnsucht nach dem kleinen persönlichen Glück und der individuellen oder paarweisen Erfüllung menschlicher Glücksversprechen ebenso kulturell ausgeprägt. Der Film SONNENALLEE schaffte das Kunststück, die Hinwendung zum Persönlichen in Einklang zu bringen mit der großen Politik und machte so eine imaginäre DDR nachträglich zu einem Sehnsuchtsort. Waren die DDR-Bürger der 1990er Jahre in Wirklichkeit die ‚Ossis‘, die immer neidisch nach Westen geschielt hatten, mehr Geld wollten und dem westlichen Wohlstand nacheiferten, so konnten sie wenigstens im Film über die ‚Besserwessis‘ auf der anderen Seite

16 Zu der Flucht vor der großen Politik nach dem Elften Plenum, die durchaus der späteren „Tendenzwende“ in der Bundesrepublik ähnelte, siehe Brockmann 2020, S. 283.

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der ehemaligen Mauer triumphieren. Der Schauspieler Alexander Scheer, der Michael Ehrenreich im Film verkörpert, gab in einem Interview solche Ostressentiments preis und berief sich auf den legendären Spruch des Jahres 1989 „Wir sind das Volk“, der auch heute wieder von ressentimentgeladenen Ostdeutschen benutzt zu werden pflegt: Niemand denkt daran, dass die Ostler die Revolution gemacht haben. Wir sind das Volk! Niemand hat daran gedacht, dass es so schnell geht, alle wollten nur schauen, niemand wollte so schnell die Wiedervereinigung. Der Sozialismus war zwar nicht mehr tragbar und alles ging den Bach runter, damit war es ja auch okay, und letztendlich haben sie uns über den Tisch gezogen. Die haben ausgenutzt, dass die Ossis keine Ahnung vom Business hatten und haben alles platt gemacht. (Zit. n.: Anonymus 1999c)

Fast zwei Jahrzehnte später äußerte sich Leander Haußmann ähnlich: „Leute [. . .] wie ich haben die DDR gehasst bis zum Erbrechen. Als dann der Westen kam, hat es uns angekotzt, dass wir nun alle schön gemeinsam die DDR hassen müssen. Auf einmal haben wir unsere verkorkste Liebe zu dem Land entdeckt. Wir sind nicht fertig damit, das ist noch nicht Geschichte. Es sitzt mir tief im Nacken.“ (Zit. n. Seidler 2018, S. 27) In der Wirklichkeit der 1990er Jahre fühlten sich wohl manche ostdeutschen Menschen genauso vom Westen gedemütigt wie Michael am Anfang des Filmes, als eine Gruppe westdeutscher Jugendlicher ihm zuruft, „Guck mal, ’nen Ossi! O ist er süß, da könnte man sich ja glatt verlieben!“ oder „Juhu Ossi, mach mal winke-winke! Komm, mach mal! Willste eine Mark? Ich schmeiß runter!“ (TC 0:02:52) Aber im Film konnten die Ostberliner Jugendlichen immer gegenüber den jungen und älteren Wessis die Oberhand bekommen und sich über sie lustig machen. Michael knallt sie dann alle imaginär mit einem fingierten Sturmgewehr ab. Er und Mario verspotten mit ihren „Hunger! Hunger!“-Rufen die westdeutschen Touristen (TC 0:08:57), die im Bus durch den Tierpark des wilden Ostens fahren, und auch Michas wohlmeinender Westonkel Heinz, der die DDR so schlecht versteht, dass er glaubt, dort sei grundsätzlich alles verboten und nichts erlaubt, und er deswegen sämtliche nach Ostberlin gebrachten Geschenke einschmuggeln müsste, wird am Ende selbst zu einem Witz, in dem er von seiner Schwester, Michas Mutter, als Asche illegal in die DDR eingeführt wird. Der Schmuggler wird so zur geschmuggelten Ware. Onkel Heinz ist es ja auch, der an Krebs stirbt, nicht die DDR-Bürger, denen er immer prophezeit hatte, dass sie bald wegen des DDR-Asbests Krebs bekommen würden. Am Ende des Films sind es die Ostdeutschen, nicht die Westdeutschen, die putzmunter und kerngesund weiterleben. Und der westdeutsche Schönling, in den sich Michas Geliebte Miriam verguckt hatte, entpuppt sich am Ende des Filmes als unwichtiger Hotelpage und Angeber, der anderer Leute teure BMWs nach Ostberlin

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reinfährt, um bei schönen Ostmädchen Eindruck zu schinden. Am Ende kann Miriam Micha versichern, dass ostdeutsche Jungen doch viel besser küssen als Wessis: „Und ich dachte, die im Westen küssen besser!“ (TC 1:14:30) Wenigstens in diesem Film gewinnen die ‚Ossis‘ immer, besonders gegenüber den sie verachtenden und missverstehenden ‚Besserwessis‘. Kein Wunder, dass der Film im Osten besonders populär war. Er nahm sich der Ostdeutschen an. Schließlich kann der Film SONNENALLEE an der Schwelle des 3. Jahrtausends auch als Beschwörung einer glücklicheren, einfacheren Welt und einer wohlbehüteten Kindheit angesehen werden, in der jeder jeden kennt, alle einen Platz in der Gemeinschaft haben, Kinder ohne wirkliche Probleme aufwachsen können, Drogenexperimente zu keinen ernsthafteren Problemen führen und Schusswaffen vor allem dazu dienen, Lärm zu machen oder als Gitarrenersatz benutzt zu werden. In diesem Film ist sogar die plötzliche Erscheinung eines eher nüchtern aussehenden Telefonapparates in der Wohnung von Michas Familie ein riesiges Ereignis, das die ganze Familie atemlos und sprachlos vor Staunen macht. Wer könnte eine solche Welt nicht lieben, in der schon die einfachsten Dinge die Menschen glücklich machen? „Mir geht’s nicht so schlecht, aber das muss ich denen hier nicht auf die Nase binden“, gesteht Micha in Anbetracht der viel zu reichen und verächtlichen ‚Wessis‘ am Anfang des Filmes (TC 0:03:02). Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, der selbst in einem sozialistischen Land aufwuchs, behauptet provokativ, dass die Tschechoslowakei in den 1970er Jahren trotz aller Probleme ein relativ glückliches Land war. In seiner Argumentation gibt es drei Bedingungen für das Glück eines Volkes: erstens, eine weitgehende materielle Befriedung, die allerdings nicht übersättigt und träge macht, sondern gelegentliche Engpässe aufweist, die der Freude einer Sehnsucht und eines Wunschtraums Platz erlauben; zweitens, ein politischer oder gesellschaftlicher Apparat, dem man das gelegentlich auftretende Unglück vorwerfen kann (um sich nicht z. B. selbst für schuldig halten zu müssen), und drittens einen lokalisierbaren, nicht allzu fernen, aber auch nicht zu nahen Ort der Sehnsucht, auf den man sich freuen und seine Wünsche projizieren kann (vgl. Žižek 2018). Alle diese Bedingungen waren in der Tschechoslowakei und wohl auch in der DDR der 1970er und 1980er Jahre erfüllt, also könnte man sich, so Žižek, das dort lebende Volk in gewisser Hinsicht als glücklich vorstellen, ohne dass es das selbst freilich unbedingt gewusst hätte. Nicht alle diese Bedingungen waren aber in den ostdeutschen Bundesländern der 1990er erfüllt und auch nicht in den westdeutschen Bundesländern. Im Gegenteil, das deutsche Volk hatte den scheinbar unmöglichen Traum der Wiedervereinigung zwischen West und Ostdeutschland erlebt, konnte sich also nicht mehr danach sehnen, und auch ein Schuldiger für die vielen Probleme der 1990er Jahre ließ sich weit und breit nicht finden. Die Sozialistische Einheitspartei war nämlich weg, und weder Bill Clinton

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noch Helmut Kohl kamen als wirklich große Bösewichte in Betracht. Zwar waren die materiellen Bedürfnisse des wiedervereinigten Deutschland weitgehend befriedigt, aber möglicherweise gab es nicht genug Engpässe oder Probleme, um sich noch sehnsüchtig irgendetwas zu wünschen. Wenn man die deutschen Filmkomödien der 1990er anschaut, ist es tatsächlich so, dass die Figuren in Haußmanns SONNENALLEE, auch mit all ihren Problemchen, glücklicher zu sein scheinen als die übersättigten Westdeutschen in Filmen wie DER BEWEGTE MANN. Und so ließ Haußmanns Film die DDR der 1970er Jahre als Wunschtraum wiederauferstehen, nach dem sich sogar Westdeutsche oder auch der eine oder andere Amerikaner oder Brite sehnen konnte. Wie Brussig sagte, „das soll ein Film werden, bei dem die Westler neidisch werden, daß sie nicht im Osten leben durften.“ (Haußmann 1999, S. 22) Auch Haußmann bekannte sich zu diesem Ziel: „Wir wollten einen Film machen, in dem die Leute neidisch werden, daß sie da [in der DDR] nicht gelebt haben. Wo doch die Politiker die DDR gerne in Konzentrationslagernähe rücken, um ihre historische Mission in dieser Sache hervorzuheben. Und das ist es, was den DDR-Bürgern stinkt: Man soll immer entweder Lagerkommandant oder Lagerinsasse gewesen sein – das dazwischen war aber der Alltag.“ (Nicodemus 2004, S. 325) SONNENALLEE macht ganz gezielt aus der oft schwarzweißen Geschichtsschreibung zur DDR einen ‚Farbfilm‘, und zwar auch in der Farbtechnik des Films selbst, wo die Farben oft unrealistisch akzentuiert werden, gerade um gegen allzu eindeutige Schwarzweiß-Bilder anzukämpfen. Denn ein richtiger Heimatfilm muss in Farbe sein, und SONNENALLEE ist unter anderem eben ein deutscher Heimatfilm neuer Art. Genauso wie die Heimatfilme der 1950er Jahre Identifikationsmöglichkeiten in einer veränderten Umgebung anboten, so bietet SONNENALLEE ost- und auch westdeutschen Bürgern neue, positivere Identitäten jenseits vom Opfer- oder Täterschema.17 Heimatfilme sind bekanntlich alles andere als realistisch und am besten in Farbe. Sehr prominent wird am Ende des Filmes auch das Nina-Hagen-Lied „Du hast den Farbfilm vergessen“ (1974) gespielt. Auch

17 Zu der diesbezüglichen Bedeutung der Heimatfilme der 50er Jahre siehe z. B. Feistauer 2017, S. 132 f. Natürlich waren ostdeutsche Bürger in den 1990er Jahren keine Flüchtlinge oder Vertriebene; jedoch hatten auch sie, wie die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen der 1950er Jahre, sehr große und einschneidende Veränderungen durchlebt, von deren Ausmaß die meisten westdeutschen Mitbürger kaum eine Ahnung haben konnten. Feistauer betont das Irreale der Heimatfilme: „Vielmehr wird eine sorgfältig ausgewählte und inszenierte Ideallandschaft, ein locus amoenus, filmisch als ‚Heimat‘ präsentiert und vom Publikum als solche akzeptiert“ (ebd., S. 133). Das ist auch der Vorgang in SONNENALLEE, wenn auch die „Heimat“ jetzt nicht auf dem Lande, sondern in der Stadt Ostberlin liegt. Aber dieses Ostberlin hat durchaus Dorfcharakter.

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dies ist eine klare Botschaft.18 Das soll eine bunte, farbige DDR gewesen sein. Mario und seine Liebhaberin Sabrina beschmieren sich ja auch gegenseitig buchstäblich mit bunter Farbe. Tykwers Film LOLA RENNT hatte das wiedervereinigte Berlin der 1990er Jahre international cool gemacht (vgl. Brockmann 2020, S. 584). Nun machte Haußmanns imaginiertes Ostberlin der 1970er Jahre ein Jahr später die DDR und ihre Hauptstadt cool, wenigstens für ein deutsches Publikum. Und wer diese Jahre in Wirklichkeit erlebt hatte, konnte sich trotz aller Unstimmigkeiten rühmen, selbst dabei gewesen zu sein. Aus der Ostherkunft wurde also wenigstens imaginär ein Standortvorteil.

Filmverzeichnis AMERICAN GRAFFITI (USA 1973), Regie: George Lucas, Drehbuch: George Lucas, Gloria Katz, Willard Huyck. ASTÉRIX & OBÉLIX CONTRE CÉSAR (F/I/D 1999, ASTERIX & OBELIX GEGEN CAESAR), Regie und Drehbuch: Claude Zidi. BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER . . . (DDR 1957), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Gerhard Klein, Wolfgang Kohlhaase, Gerhard Hartwig. BERLIN UM DIE ECKE (DDR 1965), Regie: Gerhard Klein, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase. DER BEWEGTE MANN (D 1994), Regie: Sönke Wortmann, Drehbuch: Sönke Wortmann. THE BLACKBOARD JUNGLE (USA 1955, DIE SAAT DER GEWALT), Regie: Richard Brooks, Drehbuch: Richard Brooks, Evan Hunter. THE BLAIR WITCH PROJECT (USA 1999), Regie und Drehbuch: Daniel Myrick, Eduardo Sanchez. BREAKING AWAY (USA 1979, VIER IRRE TYPEN), Regie: Peter Yates, Drehbuch: Steve Tesich. C’ERA UNA VOLTA IL WEST (I/USA, 1968, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD), Regie: Sergio Leone, Drehbuch: Dario Argento, Sergio Leone, Sergio Donati. DEAD POETS SOCIETY (USA 1989, DER CLUB DER TOTEN DICHTER), Regie: Peter Weir, Drehbuch: Tom Schulman. ECHTE KERLE (D 1996), Regie: Rolf Silber, Drehbuch: Rolf Silber, Rudolf Bergmann. GHOST (USA 1990, GHOST – NACHRICHT VON SAM), Regie: Jerry Zucker, Drehbuch: Bruce Joel Rubin. GLAUBE LIEBE HOFFNUNG (D 1994), Regie und Drehbuch: Andreas Voigt. GO TRABI GO (D 1991), Regie: Peter Timm, Drehbuch: Reinhard Klooss, Peter Timm. GROSSE WEITE WELT (D 1997), Regie und Drehbuch: Andreas Voigt. GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Wolfgang Becker, Bernd Lichtenberg. THE GRADUATE (USA 1967, DIE REIFEPRÜFUNG), Regie: Mike Nichols, Drehbuch: Calder Willingham, Buck Henry. DIE HALBSTARKEN (D 1956), Regie: Georg Tressler, Drehbuch: Will Tremper, Georg Tressler.

18 Das Buch zum Film hieß denn auch folgerichtig Sonnenallee: Das Buch zum Farbfilm und war in grellem Rosa gestaltet, wie auch die Filmplakate und die CD mit der Musik zum Film. Vgl. Haußmann 1999.

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IRREN IST MÄNNLICH (D 1996), Regie: Sherry Hormann, Drehbuch: Kit Hopkins. KONDOM DES GRAUENS (D 1996), Regie: Martin Walz, Drehbuch: Ralf König, Martin Walz. THE LAST PICTURE SHOW (USA 1971, DIE LETZTE VORSTELLUNG), Regie: Peter Bogdanovich, Drehbuch: Larry McMurtry und Peter Bogdanovich. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow, Drehbuch: Ulrich Plenzdorf, Heiner Carow. LETZTES AUS DER DADAER (D 1990), Regie: Jörg Foth, Drehbuch: Steffen Mensching, Hans-Eckardt Wenzel. LETZTES JAHR TITANIC (D 1991), Regie: Andreas Voigt, Drehbuch: Andreas Voigt, Sebastian Richter. LOLA RENNT (D 1998), Regie und Drehbuch: Tom Tykwer. MÄNNERPENSION (D 1996), Regie: Detlev Buck, Drehbuch: Detlev Buck, Eckhard Theophil. THE MATRIX (USA 1999), Regie und Drehbuch: Lana und Lilly Wachowski [als Die Wachowskis]. REBEL WITHOUT A CAUSE (USA 1955, . . . DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN), Regie: Nicholas Ray, Drehbuch: Stewart Stern, Irving Schulman, Nicholas Ray. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Leander Haußmann, Thomas Brussig. STAND BY ME (USA 1986, STAND BY ME – DAS GEHEIMNIS EINES SOMMERS), Regie: Rob Reiner, Drehbuch: Stephen King, Raynold Gideon, Bruce A. Evans. STAR WARS: EPISODE I – THE PHANTOM MENACE (USA 1999, STAR WARS: EPISODE I – DIE DUNKLE BEDROHUNG), Regie und Drehbuch: George Lucas. STILLES LAND (D 1992), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Laila Stieler, Andreas Dresen. WERNER – VOLLES ROOÄÄÄ!!! (D 1999), Regie: Gerhard Hahn, Drehbuch: Rötger Feldmann et al. THE WILD ONE (USA 1953, DER WILDE), Regie: Laslo Benedek, Drehbuch: John Paxton. WIR KÖNNEN AUCH ANDERS (D 1993), Regie: Detlev Buck, Drehbuch: Detlev Buck, Ernst Kahl.

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Mauer/Schau-Halten in Cynthia Beatts CYCLING THE FRAME (1988), CYCLING THE INVISIBLE FRAME (2009) sowie Bartek Konopkas MAUERHASE (2009) Prolog ‚Teichoskopie‘ kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus ‚teicho‘ = ‚Stadtmauer‘ und ‚Skopie‘ = ‚beobachten‘ zusammen. Im Deutschen wird dafür auch der Begriff der ‚Mauerschau‘ verwendet. Im Drama liegt immer dann eine ‚Mauerschau‘ vor, wenn eine Figur von einer erhöhten räumlichen Position aus Vorgänge beobachtet, die die Zuschauer im Zuschauerraum selbst nicht sehen können, weil diese entweder auf der anderen Seite der (Stadt-)Mauer passieren oder viel zu weit weg sind. Es braucht einen Vermittler, der den Zuschauern plastisch und anschaulich davon berichtet, was auf der anderen Seite geschieht. Die Zuschauer bezeugen so die geschilderte Szene auch nicht selbst, sondern vernehmen lediglich den mündlichen (Live-)Bericht der Botenfigur. Auf diese Weise können sie zwar an dem entrückten Geschehen teilnehmen, selbst mit ihren eigenen Augen bezeugen tun sie dieses jedoch nicht. Sie schenken vielmehr einer Erzählung aus zweiter Hand ihr Vertrauen. So ist auch der Erzähler, das Medium, zwischen sie und das Geschehen geschaltet. Ist der Blick der Zuschauer buchstäblich ‚vermauert‘, hat einzig der Bote die Möglichkeit, über die ‚Sichtbehinderung‘ hinwegzuschauen und mehr und anderes zu sehen. Der Trick der ‚Mauerschau‘ wird im klassischen Theater immer dann angewandt, wenn aus ästhetischen oder auch moralischen Gründen die Ereignisse auf der Bühne selbst nicht dargestellt werden können – sei es, weil sie zu komplex zu realisieren sind (wie z. B. bei aufwendigen Schlachten mit großen Kompagnien) oder auch zu grausam zu zeigen wären (wie die Folterung und Tötung von einzelnen oder mehreren Figuren). Geschickt macht die Botenfigur sichtbar, was eigentlich nicht gezeigt werden kann, gerade weil es auf der Bühne schwer darzustellen ist. Die Botenfigur verweist insofern immer auch auf ein Darstellungsproblem. So wird durch sie manifest, dass es ein ‚Außerhalb des (Theater-)Rahmens‘ gibt, das die Geschehnisse auf der Bühne durchaus entscheidend mitprägen kann. Die grundsätzlich einschränkende Rahmung des Theatersettings rückt sinnfällig in den Blick. Aber auch die Botenfigur selbst gerät durch den Theatertrick der ‚Teichoskopie‘ prominent in den Fokus, ist sie es schließlich, die dem undarstellbaren https://doi.org/10.1515/9783110629408-012

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Geschehen überhaupt durch ihre scheinbar objektive und doch letztendlich subjektiv gefärbte Erzählung eine Form gibt und somit als Vermittlerinstanz immer kritisch zu befragen bleibt. Wovon erzählt sie dem Publikum? Und was lässt sie in ihrer Erzählung weg, ja was verschweigt sie vielleicht sogar bewusst? Und wie, mit welchen Worten und Schilderungen, erzählt sie das Geschehen und strukturiert dieses dadurch entscheidend mit? Letztlich ist es die Erzählung aus dem Mund des Boten, die bei den Zuschauern das Geschehen erst in ihren Vorstellungen entstehen lässt und so aus der Sicht verstellenden Mauer (häufig ist es im klassischen Theater buchstäblich eine Stadtmauer) eine ganz besondere Projektionsfläche macht. Die Mauer als Objekt verstellt auf der Bühne insofern nicht nur die Sicht und schränkt den Blick ein, sondern regt auch zu Spekulationen an: Was mag sich hinter ihr verbergen? Was findet hinter ihr statt? Die Mauer wird zu einer Leinwand, die nicht nur die Vorstellungskraft anregt, sondern auch neue Denkräume eröffnen kann.

Mauerfilme Die Berliner Mauer, als historisches Bauwerk, kommt in vielen Spiel- und Dokumentarfilmen seit ihrem Bau im Jahr 1961 bis zu ihrem Fall im Jahr 1989 immer wieder große Aufmerksamkeit zu. Insbesondere nach der Wiedervereinigung scheint bis heute kein Wendefilm ohne sie als dominantes Requisit auszukommen. An ihr kristallisieren sich wichtige historische Ereignisse, an ihr findet Geschichte statt, werden Spione ausgetauscht, gefährliche Grenzübertretungen vollzogen und lassen sich allegorisch überhöhte Liebesdramen erzählen, die um Abschiedsschmerz und Trennung kreisen. In ihren brutalen Ausmaßen erzählt die Mauer als Bauwerk bereits für sich vom Kalten Krieg und seinen Folgen. Längst sind die Bilder vom Mauerbau und -fall in unser kollektives Gedächtnis übergegangen. Es sind diese Bilder, die unsere Vorstellungen von der deutschen Teilung und Wiedervereinigung maßgeblich mitprägen, indem sie immer mehr unsere eigenen Erinnerungen überlagern und schließlich ganz verblassen lassen (vgl. Bösch 2016, S. 10). Schon Anton Kaes wusste in seiner luziden Studie Deutschlandbilder um diesen Fakt: „Es scheint unheimlich: Je weiter sich die Vergangenheit zeitlich entfernt, desto näher rückt sie. Bilder, unauslöschlich fixiert auf Zelluloid, in Archiven gespeichert und tausendfach reproduziert, lassen die Vergangenheit nicht vergehen; sie haben den Platz eingenommen, den früher Erfahrung, Erinnerung und Vergessen innehatten.“ (Kaes 1987, S. 5) Zu Jahrestagen werden die alten Schwarzweiß- oder auch Farbfilme, die den Mauerbau und später den Mauerfall dokumentieren, in Endlosschleife wieder

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und wieder in den Medien gezeigt. Nicht selten werden die historischen Dokumente begleitet von neuen Fernsehspielfilmen, die extra für den Anlass produziert worden sind und zur besten Sendezeit ausgestrahlt werden. Häufig erzählen diese Filme „die letzten Jahre der DDR als Vorgeschichte des Mauerfalls oft im Gewand einer Familiengeschichte. Sie versprechen einen scheinbar authentischen Blick auf den Alltag der DDR mit seinen Brüchen und Widersprüchen, seinen Zumutungen und Problemen, aber auch dem hartnäckigen Ringen um Freiräume.“ (Hallasch 2016, S. 217) Die Erzeugung eines Realitätseffekts (Barthes) durch die Integration von bekannten dokumentarischen Foto- und Filmaufnehmen ist dabei durchaus gewünscht, während eine kritische Reflexion über die Darstellung von Geschichte im Film und die Probleme, die dies grundsätzlich mit sich bringt, möglichst vermieden werden soll. Wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg die kommerziellen Filme über die Nazizeit bis heute „Filme im Imperfekt“ sind, die die Vergangenheit „durch ‚authentische‘ Rekonstruktion [...] als abgeschlossen“ zeigen „und niemanden wirklich betroffen machen“ (Kaes 1987, S. 30), sind die heutigen ‚Wendefilme‘ genauso vergangenheitszugewandt. Die Mauer selbst als brutales Bauwerk, ja als „monströser Alptraum“, der die Deutschen erneut mit ihrer schmerzhaften Vergangenheit konfrontiert – wie es der Regisseur Jürgen Böttcher in seinem beeindruckenden Dokumentarfilm über die Demontage der Mauer suggeriert (vgl. Tacke 2008, S. 305 f.) –, rückt dabei nur selten in den Fokus der Filme: Zu schmerzhaft ist das, für was sie steht. An und um die Mauer entzünden sich vielmehr (Familien-)Geschichten, die dann vorwiegend im Zentrum des Geschehens stehen. Dabei unterscheiden sich Ostalgie-Komödien, so amüsant und witzig sie im Einzelnen auch sind, nicht wirklich von den deutlich seriöser daherkommenden Auseinandersetzungen wie beispielsweise DAS VERSPRECHEN (1995) von Margarethe Trotta oder auch der oscarprämierte Film DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. In ihren brutalen Ausmaßen bleibt die Mauer sowohl in den Komödien als auch in den Dramen weitestgehend ausgespart. Mehr als die Funktion, ein zeithistorisches Requisit zu sein, kommt ihr in diesen Filmen nicht zu. Ausgenommen von Jürgen Böttchers beeindruckendem Blick auf die stille und langsame Demontage der Mauer als Bauwerk in seinem Film DIE MAUER (1990) sind es interessanterweise vor allem ausländische Regisseure wie die in Berlin lebende, aber in Jamaika geborene Britin Cynthia Beatt und der polnische Jungregisseur Bartek Konopka, die die Mauer bislang zum ausschließlichen Hauptdarsteller ihrer Filme erhoben haben.1 Der fremde Blick von außen

1 Als ein weiteres, zu lobendes Beispiel sei hier noch der luzide Dokumentarfilm von Elke Sasse und Stefan Pannen erwähnt: WO IST DIE MAUER – WHERE IS THE WALL? (D 2007).

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scheint einen wesentlich klareren Blick auf die Mauer, ihre Beschaffenheit, ihre Vieldeutigkeit, aber auch ihre maßlose Absurdität und Brutalität zuzulassen. So unterschiedlich Cynthia Beatts und Bartek Konopkas filmische Ansätze auch sind, gibt es doch zwischen ihnen mehrere Vergleichsebenen, weshalb ich die zwei filmischen Positionen im Folgenden gemeinsam abhandeln möchte. Da ist zum einen das Spiel mit Genregrenzen, das Cynthia Beatt und Bartek Konopka als Filmschaffende eint. So lassen sich ihre Filme weder eindeutig als Dokumentar- noch als Spielfilm klassifizieren, wenngleich dies aus vermarktungstechnischen Gründen meistens dann doch passiert. Spielerisch oszillieren ihre Filme zwischen Fakt und Fiktion, historischer Erzählung und Märchen. Geschickt stellen Beatt und Konopka so nicht zuletzt auch Genregrenzen kritisch in Frage. Sie fragen danach, wie bestimmte Genres (Dokumentar- oder Spielfilm) unser Geschichtsverständnis immer schon mitprägen und mitformen, indem sie stets auf ähnliche Erzählmuster vertrauen und feste Ikonografien konstant (re-)zitieren, ohne diese wirklich kritisch zu hinterfragen. Zum anderen lässt sich bei beiden ein ausgeprägtes Interesse für tierische Grenzgänger beobachten. Unterschiedlichste Tiermotive von Fischen, Fröschen, Seeschlangen, Bienen, Hunden und Pferden ziehen sich durch Beatts Filme CYCLING THE FRAME (1988) und CYCLING THE INVISIBLE FRAME (2009), während Konopka die Geschichte des Mauerbaus und -falls ausschließlich aus der Perspektive von Kaninchen zu erzählen versucht, die während des Bestehens der Mauer im Grenzstreifen tatsächlich zahlreich vorhanden gewesen sind. Die tierischen Grenzgänger fungieren bei Beatt und Konopka gleichermaßen als Allegorien, die Fragen nach dem Entstehen von Mauern und ihrer subversiven Unterlaufung aufwerfen. Darüber hinaus arbeiten beide Regisseure ästhetisch mit der Methode der Verdichtung. Es sind durchkomponierte Filme, in denen Bild- und Tonspur sich überlagern, ergänzen oder auch vieldeutig widersprechen. Ihre Filme sind angelegt wie Partituren. So haben ihre Bild- und Tonspuren auch mehrere Schichten, lassen vielfältige Deutungen zu und rufen reichhaltige Assoziationen hervor. Ihr Blick gleicht einem archäologischen, der es ermöglicht, den historischen Ort bis tief in die Erdschichten freizulegen und dadurch in seinen Fundamenten nachhaltig zu erschüttern. Orte und Bilder werden von Beatt und Konopka gleichermaßen kritisch seziert und untersucht. Es geht ihnen um Neurahmungen, indem sie den gängigen Blick auf die Bilder dieser Orte stören und in Frage stellen. Vielmehr geht es darum, die unterschiedlichen Deutungsebenen und Konnotationen, die diese mit sich bringen, offenzulegen. Der Akt des Mauer/Schau-Haltens gerät selbst in den Blick.

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Geschichte erfahren: Cynthia Beatts CYCLING THE FRAME (1988) und CYCLING THE INVISIBLE FRAME (2009) Cynthia Beatt, 1949 in Jamaika geboren, lebt seit 1975 als Darstellerin, Regisseurin, Drehbuchschreiberin und Produzentin in Berlin. Ihren ersten größeren Durchbruch als Regisseurin feierte sie 1988 mit dem Film CYCLING THE FRAME. Die ursprüngliche Idee zu dem Film, in dem Tilda Swinton die Mauer um Westberlin mit dem Fahrrad entlangfährt und dabei über die Lebenssituation in der geteilten Stadt in einem Inneren Monolog frei assoziiert, ist Cynthia Beatt bei eigenen Fahrradausflügen an den Rand von Westberlin in den 1980er Jahren gekommen. Es war die „stillstehende Situation“ der Stadt Berlin (Beatt 2009), die sie faszinierte und anzog.2 Eine Anfrage von Carola Wedel vom SFB an die Regisseurin im Frühjahr 1988 einen Beitrag zu einer Serie von Nicht-Deutschen „Blicken von außen“ zu machen, ermöglichte es Beatt schließlich, ihre Idee zu realisieren. Ohne damals zu wissen, dass die Mauer bereits ein Jahr später fallen und in den Jahren danach fast gänzlich abgetragen und verschwinden würde, erstellte Beatt ein historisches Zeitdokument, das auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall einen Blick auf eine entschwundene Inselstadt, die Westberlin damals gewesen ist, bietet. In ihrem Film CYCLING THE FRAME lässt Beatt Tilda Swinton buchstäblich Geschichte erfahren, das heißt die historischen Ausmaße und enormen Dimensionen der Mauer körperlich auf dem Fahrrad nachempfinden. Auf dem Fahrrad sitzend fährt Swinton auf westdeutscher Seite den gesamten Mauerverlauf entlang. Eine Drehgenehmigung von ostdeutscher Seite wäre damals undenkbar gewesen. Durch das Fahrradfahren entsteht im Film eine eigenwillige Dynamik. Die Mauer, die sich eigentlich durch ihre Statik und Unverrückbarkeit auszeichnet, wird durch das Entlangfahren mit dem Fahrrad mehr und mehr in Bewegung versetzt. Langsam entsteht so ein Denkraum, der Überlegungen zur Bedeutung der Mauer, ihrer historischen Beschaffenheit sowie zu Mauern und Abgrenzungen generell

2 In dem Interview führt Beatt zu ihrer Motivation aus: „Ich lebte damals bereits seit 12 Jahren in Berlin im obersten Geschoss eines alten Fabrikgebäudes nahe dem Potsdamer Platz. Ich konnte aus meinem Fenster auf die Ruinen, die nach dem Krieg stehen geblieben waren, schauen. Von meiner Terrasse aus konnte ich die Soldaten in den Wachtürmen sehen. Die Ruinen und die Mauer waren meine unmittelbaren Nachbarn. Die Unbegreiflichkeit der Mauer war allgegenwärtig. Man lebte mit ihr, war aber im Stillen entsetzt darüber und ungläubig. Das Verlangen der Mauer zu folgen war schon lange bevor ich die Idee zu dem Film hatte da. Ich fuhr die ganze Tour und verstand zum ersten Mal, was die Mauer wirklich war, was sie bedeutete. Ich begriff, dass wir auf einer Insel innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik lebten, das physische Umfahren der Insel war eine Offenbarung.“ (Beatt 2009)

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zulässt (ebd.).3 Durch das Fahrradfahren wird buchstäblich etwas in Gang gesetzt. Gedankenspiele machen die Mauer zur Projektionsfläche und bringen Denkprozesse ins Rollen. Die Durchlöcherung und Überwindung der Mauer wird so zumindest gedanklich durchgespielt, wenngleich dies zu dem Zeitpunkt der Entstehung des Films als reale Möglichkeit noch völlig abwegig erschien. Der Kontrast zwischen Statik und Bewegung, der sich durch den ganzen Film zieht und der durch die Kameraführung zusätzlich betont wird, denn auch sie wechselt zwischen ruhigen Standbildern und schnelleren Kameraschwenks oder -fahrten hin und her, wird bereits am Anfang des Films markant aufgemacht. Rasant fährt Tilda Swinton auf das Brandenburger Tor zu, bremst leicht ab und biegt nach links ab. Eine Fahrt durch das prominente historische Tor ist nicht möglich, der Weg ist durch die Mauer abgeschnitten. Tote Straßenenden und Sackgassen zeigt der Film in Standbildern danach immer wieder: Straßen, Brücken und Durchgänge werden ebenso von der Mauer durchschnitten und versperrt wie ganze Gebäude, deren Türen und Fenster bis oben hin zugemauert sind (Abb. 11.1, 11.2).

Abb. 11.1, 11.2: Cynthia Beatt: CYCLING THE FRAME (D 1988).

3 Zur Wahl des Fahrrads als Fortbewegungsmittel in ihrem Film äußert sich Beatt in dem Interview mit Katja Petrowskaja wie folgt: „Es war eine ideale Art und Weise um der Mauer zu folgen. Du sitzt und fährst in eine Richtung, dein Kopf ist frei, du kannst dir Zeit lassen oder schnell fahren und deine Gedanken fließen mit dir. Das Blut wird durch deinen Körper gepumpt. Es ist sowohl geistig wie auch körperlich stimulierend. Und vor allem ist man frei. Der Film hat mit einer Pilgerfahrt zu tun, in der man sich selbst ein finales Ziel setzt, um ihm dann Tag für Tag näher zu kommen.“ (Beatt 2009)

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Die Brutalität des Einschnitts wird durch die kunstvolle Gestaltung der Soundwall von Simon Fischer Turner, der unter anderem bekannt für die Tongestaltung vieler Derek-Jarman-Filme ist, zusätzlich betont. Insbesondere das blecherne Schlagen und das Zerknirschen von Glasscherben, das vielen Filmbildern unterlegt ist, lässt ganz unterschiedliche Assoziationen aufkommen: brutale Zerstörung, aber auch mechanischer Auf- oder Abbau werden ebenso aufgerufen wie die deutsche Vorgeschichte, die durch Krieg, Trümmer und Vernichtung geprägt ist. Geschickt schafft es Beatt insbesondere durch die Soundwall die dunkle Vorgeschichte Deutschlands präsent zu halten. Auch wenn die Reichskristallnacht und die industrielle Ermordung der Juden nur beiläufig durch unangenehme Störtöne und eine eigenwillige Soundkulisse angedeutet werden, grundiert dieses Wissen doch den Film mit. Durch Züge und ins Leere führende Schienengleise wird auch auf der visuellen Ebene wiederholt an die deutschen ‚Ikonen der Vernichtung‘ angeknüpft (vgl. Brink 1998; Abb. 11.3). Ohne zu explizit zu werden und ohne zu viele Erklärungen zu geben, erzählt CYCLING THE FRAME geschickt auch von der grausamen Vorgeschichte Deutschlands, die überhaupt erst zur Teilung und letztendlich zum Bau der Mauer geführt hat. Platte Vergleiche zwischen DDR- und Nazi-Regime, wie sie teilweise unmittelbar nach dem Mauerbau in der BRD gerne mobilisiert wurden und bis heute viele Mauerdenkmale bestimmt (vgl. Ullrich 2001), entgeht Beatt durch ihre subtile Bildersprache und Tonspur gekonnt.

Abb. 11.3, 11.4: Cynthia Beatt: CYCLING THE FRAME (D 1988).

Auch die künstliche Aufteilung von Berlin durch die vier Siegermächte wird immer wieder im Film thematisiert. So manifestiert sich die Grenze nicht nur materiell in dem Bauwerk der Mauer, sondern auch Hinweisschilder (wie End of British Sector oder Fin du secteur français) weisen performativ auf den bru-

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talen Eingriff einer territorialen Auf- und Zerteilung hin (Abb. 11.4). Auch Flüsse und Seen können zu Grenzgebieten mutieren, in deren Mitte die Teilung verläuft und diese so zu hoch gefährlichen Gewässern werden, die mit einem strikten Schwimmverbot belegt sind. Wie künstlich und absurd gerade solche Grenzgebiete sind, zeigt der Film wiederholt über die Tiere, die dort leben und sich – anders als die Menschen – frei von Ost nach West und von West nach Ost bewegen können. Denn nur die Tiere (wie Fische, Seeschlangen und Frösche, später auch Vögel und Bienen) sind es, die sich nicht an die Teilung Deutschlands halten müssen. Für sie gelten die künstlich errichteten Grenzen der Menschen nicht. Die Tiere werden bei Beatt so überwiegend zu Freiheitsboten (ausgenommen sind Hunde und Schlangen, die im Verlauf des Films eher negative Assoziationen an die Hölle oder auch an die (Ur)Schuld hervorrufen). Die vitale Lebendigkeit der Tiere und ihre Fähigkeit, die Mauer jederzeit zu unterlaufen, steht im deutlichen Kontrast zur toten und erratisch dastehenden Mauer, die jegliche Veränderung – sei sie organischer oder auch kultureller Natur – aufzuhalten wünscht. Betonen Passagen wie diese die künstliche Beschaffenheit und Kontingenz der Mauer, auf die – wenn sie sich materiell nicht in einer Mauer manifestieren kann – darüber hinaus performativ extra hingewiesen werden muss, um sie überhaupt als solche kenntlich zu machen, macht Beatt im Verlauf ihres Films insbesondere die unterschiedlichen Blicke von Ost und West auf die Mauer zum Thema. Dabei weist sie auf das unausgeglichene Verhältnis zwischen beiden mehrfach hin. Deutlich wird der Interessenschwerpunkt Beatts bereits am Titel ihres Films. Schließlich ist es nicht so sehr die Mauer (= „Wall“) als vielmehr der „Frame“, das heißt der Rahmen, der sie interessiert und den sie kritisch in ihrem Film reflektiert. Immer wieder stoppt Tilda Swinton mit ihrem Fahrrad, besteigt die Aussichtstürme, die an ihrem Weg stehen, benutzt ihr Fahrrad als Räuberleiter und schaut von oben herab auf den leeren Mauerstreifen oder einfach nur über die Mauer zu den anderen Häusern (Abb. 11.5). Wiederholt rahmt Beatt die Rahmungen und macht so die unterschiedlichen Blickperspektiven zum Thema. Es sind verschachtelte Rahmungen im Rahmen, mit denen sie auch auf die eigene beschränkte Perspektive des Films aufmerksam macht. Das Blickregime in Ost und West ist so auch klar aufgeteilt, wie Beatt in ihrem Film anschaulich zeigt: Wird die Grenze im Osten von Grenzsoldaten streng (und nicht selten vom Wachturm aus mit einem Fernglas) bewacht, während für die allgemeine Ostbevölkerung „ein striktes und streng geahndetes offizielles Nähertreten- und Fotografier- demnach Bildverbot“ gilt (Diers 1996, S. 125), lässt sich im Westen eine doppelte Reaktion in Bezug auf die Mauer beobachten: Blenden die Berliner in ihrem Alltag die Mauer weitestgehend aus und ignorieren sie (worüber Tilda Swinton in einem längeren Inneren Monolog kritisch

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räsoniert), ist sie für die Touristen zu einer beliebten Attraktion geworden. Denn nach dem Mauerbau hat sich insbesondere in Westberlin ein Mauertourismus herausgebildet, der zum Bau von zahlreichen Aussichtstürmen an besonders pittoresken Stellen des Mauerstreifens geführt hat. Kommerzialisierung und Ästhetisierung gingen dabei zum Teil Hand in Hand und verstellten doch letztlich den Blick für die grässliche Ausgeburt, die die Mauer eigentlich darstellt.

Abb. 11.5, 11.6: Cynthia Beatt: CYCLING THE FRAME (D 1988).

Von den Aussichtstürmen aus kann man buchstäblich ‚Mauerschau‘ betreiben: So sieht man von dort den stark bewachten Mauerstreifen sowie Teile von Ostberlin, wirklich ‚sehen‘ tut man jedoch nichts. Der Anblick des Stillstands und der angehaltenen Zeit verdichtet sich in dem leeren Zwischenraum des Mauerstreifens, der nur durch unser Wissen angereichert und mit Bedeutung versehen werden kann. Geschichte ist nicht wirklich sichtbar und manifestiert sich doch gerade an diesem Ort, in dem Dazwischen. Die Absurdität dieses Ortes, wo Ost- und Westblick auf eigenwillige Weise aufeinanderprallen, wird von Beatt wiederholt thematisiert. So macht sich Tilda Swinton beispielsweise in einem längeren Inneren Monolog Gedanken über die Sichtbeschränkungen und -deformationen, die ein künstliches Setting wie das der Mauer mit seinen Bewachungstürmen beim Bewachungspersonal über längere Zeit bewirken kann. Indem jedoch Swinton selbst die Mauer und die Wachtürme fotografiert, reflektiert sie auch ihre eigene beschränkte Sichtweise auf die Mauer, denn was kann ihre Polaroid-Kamera an dieser Stelle schon festhalten: den Soldaten im Wachturm, den Wachturm selbst, den Grenzstreifen? (Abb. 11.6) Die historische Situation mit all ihren Konsequenzen und Auswirkungen erfasst sie damit nicht wirklich. Diese ist und bleibt schwer zu fassen und kann nicht in einem einzigen Bild dargestellt werden; sie ist und bleibt undarstellbar. Kreuzen sich die

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Blicke zwischen Grenzsoldaten und Schaulustigen aus dem Westen teilweise, kommt es im Film doch nicht zu einem Dialog zwischen den beiden Parteien. Ähnlich wie die Brücken, Straßen und Wege ist auch die Kommunikation abgeschnitten. Nur Tilda Swinton winkt den Grenzsoldaten im Osten mehrfach während des Films aus dem Westen zu und versetzt sich gedanklich immer wieder in ihre Lage – überlegt, was sie denken und fühlen oder was möglicherweise ihre Sehnsüchte sein könnten. Eine Antwort auf ihre Spekulationen bleibt jedoch aus. Hinter die Mauer reicht auch ihr Blick nicht. Dort ist und bleibt der blinde Fleck, den auch sie nicht zu ergründen vermag. Zu einem Dialog zwischen Ost und West kommt es nicht. Dementsprechend können die unterschiedlichen Denkbewegungen von Tilda Swinton während der Fahrradtour die statische Mauer auch nicht wirklich zum Einreißen bringen. Der Film endet dementsprechend auch mit einem Standbild: Tilda Swinton steht vor dem geschlossenen Brandenburger Tor mit fragendem Blick Richtung Osten (Abb. 11.7). Wie verrückt dieser Ort ist, scheinen dabei nur wenige überhaupt zu erfassen und zu sehen. All die Schilder, Wach- und Aussichtstürme verstellen den Blick für das Wesentliche und scheinen über die wahre Brutalität und Unfassbarkeit dieses Ortes hinwegzutäuschen. Aus heutiger Sicht wirken die Schlussbemerkungen, die Tilda Swinton in ihrem abschließenden Inneren Monolog äußert, fast prophetisch: „Es wird sich alles klären. Alles wird, wie es sein soll. Und das ist es. Finito. Geschlossen.“ (TC 0:25:28)4 * In der Tat sollte es auch nur ein Jahr dauern, bis die derart stark bewachte Mauer endgültig fiel und die deutsche Teilung ihr Ende fand. Wie nicht anders zu erwarten, begann mit der Öffnung der Mauer unmittelbar ihr Abriss. ‚Mauerspechte‘ machten sich mit Hammer und Meißel an die Arbeit, trugen das verhasste Bollwerk scheibchenweise ab. Die Menschen eroberten, vereinnahmten, bestiegen und schliffen sie, halfen beim Abtragen oder begrüßten freudig die Bagger, Presslufthammer und Kräne, die sie zum Einstürzen brachten. „Dem Bauwerk, das über Jahrzehnte einen solchen Schrecken verbreitet und so viel Leid verursacht hatte, schlug“ dabei weniger Hass entgegen als „vielmehr eine Mischung aus Verachtung, Respektlosigkeit, Triumph und Lust an seiner Zerstörung“ (Detjen 2009, S. 389). Neue Durchgänge, Schneisen und Übergänge wurden geschaffen. Bereits im Dezember 1989 gab die erste demokratisch gewählte DDRRegierung den offiziellen Befehl zum Abriss der Mauer, mit dem dann im Juni 1990 begonnen wurde.

4 CYCLING THE FRAME (D 1988), Regie: Cynthia Beatt. TC: Zeitangaben nach der DVD: Filmgalerie 451 2009.

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Abb. 11.7: Cynthia Beatt: CYCLING THE FRAME (D 1988).

Insbesondere in Berlin sollten unterbrochene Straßen- und Bahnverbindungen rasch wiederhergestellt werden. Mehr noch als praktische Erwägungen, hatte die Schleifung der Mauer symbolischen Charakter, denn die Öffnung „der Mauer bedeutete gerade wegen der realen Dimension eines zentralen Kollektivsymbols definitiv den Umsturz der symbolischen Ordnung der gesamten Nachkriegsepoche“ (Korngiebel/Link 1992, S. 45). ‚Mauerspechte‘ und jubelndes Publikum begleiteten und wirkten aktiv an diesem Umsturz mit. Im Sommer 1991 wurden endgültig die noch übrig gebliebenen Mauersegmente zu ‚güteüberwachtem‘ Straßenschotter verarbeitet. Umgewandelt in Straßenschotter, der für Parkplätze und Autobahnen im Berliner Umland und in ganz Deutschland verwendet wurde, war die Mauer in kürzester Zeit fast völlig verschwunden. Heute erinnern lediglich „Spurenelemente als beglaubigte Original-Relikte und zertifizierte Reliquien, als Souvenirs in aller Welt verwahrt und als Denkoder Mahnmal vor Ort erhalten oder (wieder-)errichtet und/oder ins Museum verbracht“ (Diers 1996, S. 127), an diesen prominentesten ‚Gedächtnisort‘ deutscher Historie (vgl. Detjen 2009). Als Abwesende blieb die Mauer dennoch weiterhin spürbar im Stadtbild präsent. Auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall

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lassen sich ihre Spuren finden. Die Narbe, die die Mauer in der Landschaft, im Stadtbild und auch bei den Menschen in Ost und West hinterlassen hat, ist längst noch nicht verheilt, wie auch der zweite Film CYCLING THE INVISIBLE FRAME aus dem Jahr 2009 von Cynthia Beatt anschaulich zeigt. Bewusst nicht als Remake, Wiederholung oder gar Fortsetzung konzipiert, sollte der zweite Film – unabhängig vom ersten – für sich alleinstehen können. Tilda Swinton, die auch im zweiten Film zwanzig Jahre nach dem ersten wieder das Fahrrad besteigt, um dieses Mal den ehemaligen Mauerverlauf nachzufahren und nach der ‚Ex-Mauer‘ – wie es im Film heißt – in West und Ost Ausschau zu halten, nannte CYCLING THE INVISIBLE FRAME bezeichnender Weise einmal den „Abdruck eines zweiten Fußes, zwanzig Jahre und den Fall einer Mauer später“ (Beatt 2009). In einem Interview erläutert Cynthia Beatt ihre Herangehensweise bei ihrem zweiten Film folgendermaßen: „Ich war sehr aufgeregt, was ich finden würde. Ich habe nicht nur die tatsächlichen Spuren der Mauer, nicht nur die Monumente und Denkmäler – obwohl sie natürlich auch wichtig waren – gesucht. [. . .] Für mich war dieser Film auch die Suche danach, was in diesen Mauer-Streifen entsteht und sich dort entwickelt.“ (Ebd.) Obwohl längst abgebaut und verschwunden, erscheint die Mauer im zweiten Film fast präsenter als im ersten. Überall sind noch Spuren von ihr in der Landschaft, im Straßenverlauf und am Wegesrand zu finden. Zahlreiche Gedenkorte und -plaketten, Denkmäler, Hinweistafeln und Memorialzonen oder auch alte Relikte der Mauer wie ehemalige Wachtürme, Mauersegmente und andere Ruinen weisen auf den traumatischen Erinnerungsort Deutschlands hin, der einst eine Stadt und eine Nation geteilt hat. Immer wieder wird dabei auch der Maueropfer gedacht, die beim Versuch die Mauer zu überwinden, nicht selten ihr Leben gelassen haben. Der zweite Film versucht insofern noch mehr als der erste, Trauerarbeit zu leisten, indem er gesamtdeutsche Geschichte reflektiert. Anders als die gängigen Filme über den Mauerfall feiert CYCLING THE INVISIBLE FRAME so auch nicht euphorisch die Wiedervereinigung, sondern versucht sich vielmehr kritisch an der Aufarbeitung von deutscher Vergangenheit, die mit dem Mauerfall erst richtig begonnen hat und zwanzig Jahre nach dem Mauerfall immer noch nicht zu ihrem Ende gekommen ist. Deutliches Anliegen des Films ist es so auch die Wunde, die die Mauer hinterlassen hat, jene „Linie der seelischen Abgrenzung“ (ebd.), die 2009 immer noch überall zu spüren ist, durch eine webende Bewegung zu vernähen (Abb. 11.8). „Meine Entscheidung war es“, äußert Cynthia Beatt in einem Interview, „eine webende Bewegung mit der Fahrt entlang der alten Mauerlinie, an der Trennungslinie zu machen, als ob man die zwei Seiten zusammennäht. Es ist sinnbildlich, man versteht es unbewusst im Herzen, den Wunsch diese

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Wunde zu heilen.“ (Ebd.) Neben der webenden Bewegung, die Tilda Swinton mit ihrem Fahrrad nachzeichnet, ist es die Vereinnahmung der neuen Frei- und Zwischenräume durch Menschen oder auch einfach nur durch die Natur, die im Film (zumindest ansatzweise) eine heilende Wirkung erkennen lässt. Doch der Film verstellt seinen Blick auch nicht davor, dass nach dem Fall der Mauer längst wieder neue Mauern entstanden sind – und zwar sowohl weltweit (so ist der Film den Menschen in Palästina gewidmet) als auch vor Ort. So werden die ‚neuen‘ sozialen und ökonomischen Mauern vor allem immer wieder dadurch zum Thema, dass die Neubauvillen mit riesigen Zäunen umgeben sind und auch hier Hundebellen (wie einst im Mauerstreifen) eine abschreckende Funktion bekommt (Abb. 11.9).

Abb. 11.8, 11.9: Cynthia Beatt: CYCLING THE INVISIBLE FRAME (D 2009).

Das neuerliche Kartografieren, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch mitten im Gange, wird von Beatt nüchtern und in poetisch-einfachen Bildern und Einstellungen betrachtet. Alten Karten kann nicht mehr getraut werden, sie bilden einen längst vergangenen Zustand ab. Die Territorien sind aber auch noch nicht endgültig neu abgesteckt und eingeteilt, Häuser und Grundstücke stehen noch zu Verkauf und warten auf neue Besitzer, während Straßen und Wege bereits neue, bedeutungsschwangere Namen erhalten haben. Alte Weggabelungen und räumliche Einteilungen zeichnen noch ehemalige Trennlinien nach, erodieren jedoch schon langsam und eröffnen einen Zwischenbereich, der neu besetzt werden kann (Abb. 11.10). Tief verschüttet unter all diesem lauern die traumatischen Erinnerungen der Vergangenheit. Die Natur hat sich zwar den Mauerstreifen wieder zurückerobert, dennoch schlummern darunter noch die schmerzhaften Erinnerungen von ehemals, die jederzeit wieder aufbrechen können. Auch wenn manche Passagen bei Cynthia Beatt etwas zu pathetisch daherkommen und das Abfahren der Landschaft vereinzelt allzu sehr an die langen Landschaftseinstellungen in Alain Resnais’ Film NACHT UND NEBEL erin-

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nern, schafft sie es doch auch immer wieder in bestimmten Szenen deutsche Geschichte besonders verdichtet abzuhandeln.

Abb. 11.10, 11.11: Cynthia Beatt: CYCLING THE INVISIBLE FRAME (D 2009).

Auf einem Bootssteg sitzend, die englische Fassung von Hans Falladas Roman Alone in Berlin zusammen mit einer Postkarte, auf der die ehemaligen Grenzanlagen zu sehen sind, neben sich liegend, philosophiert Swinton beispielsweise über all die Überbleibsel, auf die sie während ihrer Fahrradtour gestoßen ist (Abb. 11.11): All diese Überbleibsel, Mauerreste, Wachtürme, Ferngläser, Uniformen und Photos sind wie archäologische Überreste einer lang ausgestorbenen Zivilisation. . . um das 13. Jahrhundert, vielleicht byzantinisch, prähistorisch. Kaum zu verstehen wie es überhaupt funktioniert hat. Aber es war nur 20 Jahre her! Wo sind all die Menschen? Die Menschen von den Wachtürmen? Warum müssen wir alles erraten? Es ist alles verborgen, als hätte man eine Falltür zugeschlagen und einen Teppich darüber gerollt. Verschwunden unter Bergen von Scham, und ungeschriebener Geschichte. Keine gute Idee. Es wird alles ans Licht kommen.

Verschlüsselt reflektiert Cynthia Beatt in dieser Filmpassage ihren eigenen ästhetischen Ansatz, indem sie den Film als ein archäologisches Instrument versteht, mit dem man Geschichte wieder erfahrbar machen kann. So betreibt sie mit und durch ihren Film im Grunde eine Archäologie, indem sie den Orten ihre Geschichte wiedergibt. Vertraut sie im Film stark auf die Aura der Orte selbst und nutzt lediglich minimale Markierungen, die die Orte zu historischen machen, kann man auf der Homepage zum Film durch Anklicken noch mehr zu den einzelnen Orten und ihrer jeweiligen Geschichte lesen. Die Orte erhalten auf diese Weise ihr Gedächtnis zurück. Dass dies allerdings eine Praxis ist, die immer wieder von Neuem vollzogen werden muss, legt der Film dabei ebenso offen: So wird Tilda Swinton wiederholt als Desorientierte gezeigt, die nicht mehr weiß, wo sie sich gerade befindet. So kritisch der Film gegenüber der Ver-

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änderbarkeit (ja vielleicht sogar auch Anfälligkeit) von Memorialkultur generell bleibt, hört er doch hoffnungsvoll auf. Wie schon der erste Film endet auch der zweite Film vor dem (nun offenen) Brandenburger Tor und Tilda Swinton spricht die Zauberformel: Sesam öffne Dich! Dass dieser Ausspruch dabei mehr eine Wunschvorstellung ist, als realen Gegebenheiten entspricht, lässt der Film mit seinem kritischen Blick für die vielen neuen Mauern, die weltweit entstehen, durchaus durchblicken.

Eine Archäologie der Bilder: Bartek Konopkas MAUERHASE (2009) Betreibt Beatt in ihrem Film eine Archäologie der Orte und trägt so zum historischen Bewusstsein der Zuschauer bei, konzentriert sich Bartek Konopka in sei´ , 2009), der für einen Oscar in der nem Film MAUERHASE (KRÓLIK PO BERLI NSKU Kategorie Bester Auslandsfilm nominiert gewesen ist, auf alte Archivbilder und ihre vielfältigen Konnotationen. Mit welchen Bildern und wie Geschichte normalerweise erzählt wird, wird von Konopka in seiner raffinierten Bildercollage einer kritischen Revision unterzogen. Unterschiedlichstes Archivmaterial wie dokumentarische Aufnahmen vom Mauerbau und -fall sowie Propagandafilme aus dem Osten und Westen werden geschickt mit alten und neuen Aufnahmen von Kaninchen kombiniert, die den Mauerstreifen tatsächlich von 1961 bis 1989 massiv bevölkert haben. Sowohl die Blickverschiebung, das heißt die deutsche Geschichte aus der Perspektive der ‚Mauerhasen‘ zu erzählen, als auch die Neurahmungen der altbekannten Bilder ermöglicht dabei nicht nur eine andere Art und Weise vom Mauerbau und -fall zu berichten, sondern auch eine kritische Reflexion über die Rhetoriken und Ikonografien, die andere Filme üblicherweise nutzen, um über ‚die Wende‘ zu erzählen. Den Mauerbau und -fall in einer Bildercollage aus der Perspektive von Kaninchen zu erzählen ist dabei nicht besonders originell, sondern knüpft an ein symbolträchtiges Tiermotiv an. So ist der Hase für seine Vermehrungsfähigkeit berühmt, ist kein Einzelgänger, sondern lebt in Kolonien und symbolisiert bereits seit der Antike Lebenskraft, Sinnenlust, Fruchtbarkeit, Wiedergeburt und Auferstehung. Auch die christliche Ikonografie knüpft an diese Symbolik an. Wohl mit eines der berühmtesten Tierbildnisse der europäischen Kunstgeschichte überhaupt ist der Junge Feldhase von Albrecht Dürer (Abb. 11.12). Das Aquarell aus dem Jahr 1502, dass heute in der Albertina in Wien hängt, ist im Zusammenhang mit Dürers exakten Naturstudien zu sehen. Es ging

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Abb. 11.12: Albrecht Dürer: Feldhase (1502). Aquarell, Deckfarben, weiß gehöht 25,1 x 22,6 cm, © Albertina, Wien.

ihm bei der Wiedergabe des Feldhasen um eine möglichst ‚realistische‘ Erfassung der Natur in all ihren Erscheinungsformen. In gehockter Position, die Augen gerade nach vorne gerichtet (in einem Auge spiegelt sich interessanterweise ein Fensterkreuz) und die Ohren weit geöffnet, ruht der Feldhase in sich und hat doch seine Umgebung fest im Blick. „In der gekonnt inszenierten Ambivalenz zwischen statischer, schaubarer Präsenz und Bewegungs- und Fluchtlatenz liegt“, laut Elisabeth M. Trux (2003, S. 50), „der überzeitliche Reiz“ des Feldhasen. Kommt der Zeichnung, laut Kunsthistorikerin, wohl keine größere symbolische Bedeutung zu, ist doch seine Rezeptionsgeschichte einzigartig. Schließlich gehörte eine Reproduktion des Feldhasen lange zum festen Inventar von guten bürgerlichen Wohnstuben in Deutschland. Bereits im 16. Jahrhundert begannen andere Künstler den Hasen von Dürer zu kopieren und dadurch seinen Bekanntheitsgrad stetig zu steigern. Auch für den deutschen Künstler Joseph Beuys, der sich in seinen Aktionen und Kunstwerken u. a. immer wieder mit deutscher Geschichte kritisch auseinandergesetzt hat, ist der Hase zentral für sein Gesamtwerk.

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Abb. 11.13: Die Aktion Joseph Beuys’: „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ am 26. November 1965 in der Galerie Schmela (Düsseldorf), © bpk/ Walter Vogel.

In seiner Aktion Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, die am 26. November 1965 in der Galerie Schmela in Düsseldorf stattgefunden hat (Abb. 11.13), fungiert der Hase als ein Interpretationsspielräume öffnender Bestandteil der Performance. Er wird zum Symbol für die Inkarnation, wie Beuys die Wahl des toten Hasen begründet: „Da kommt man wieder auf die Inkarnationsbewegung. Das macht der Hase, sich stark in diese Erde hineininkarnieren, was der Mensch nur mit seinem Denken radikal durchführt: Sich damit an der Materie (Erde) reiben, stoßen, graben; schließlich eindringt [. . .] in deren Gesetze, in dieser Arbeit sein Denken verschärft dann umwandelt und Revolutionär wird.“ (Zit. n. Eva & Wenzel Beuys 2010, S. 68) Viele Jahre später sollte Beuys die Bedeutung der Aktion und seine Funktion darin noch weiter spezifizieren: Entschuldigung, darf ich nur eben sagen, man kann es ja auch ganz einfach erklären. Es wäre doch auch ganz schön, wenn die Menschen das, was ich mache und was ich eigentlich bin, viel einfacher erklären könnten und würden sagen, da erzählt ein Mensch etwas Un-

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verständliches, er erzählt eigentlich etwas so ähnliches, wie ich im Gefühl habe an Märchen gehört zu haben. Und er könnte mich durchaus als einen Märchenerzähler wahrnehmen, wo geheimnisvolle Figuren ins Spiel kommen. [. . .] [Wobei] diese Märchen ja einer viel tieferen Wirklichkeit von Weltinhalt entsprechen als jede einfache rationale Beschreibung irgendeines sogenannten exakten naturwissenschaftlichen Vorgangs. (Ebd., S. 35)

Eine ähnliche Funktion kommt auch dem Hasen bei Bartek Konopka zu. Über den Hasen schafft Konopka es, eine vermeintlich altbekannte Geschichte – nämlich die von der Teilung Deutschlands, dem Mauerbau und -fall und der glücklichen Wiedervereinigung – neu und anders zu erzählen, als dies üblicherweise geschieht. Er rekurriert dabei u. a. auf das Archivmaterial, das zu Jahrestagen gerne auch im Fernsehen wiederholt Verwendung findet. Diese altbekannten Bilder arrangiert und ordnet Konopka neu, ergänzt sie mit Bildern von Hasen, die er entweder im alten Archivmaterial bei erneuter Sichtung entdeckt hat, oder auch mit Bildern von Hasen, die einem Tierdokumentationsfilm entnommen sein könnten. Außerdem befragt Konopka Zeitzeugen, darunter alte Grenzsoldaten, aber auch Fotografen und Künstler, die bereits während des Bestehens der Mauer einen Blick für die ‚Mauerhasen‘ im Grenzstreifen entwickelt haben. Zudem lässt er einen Evolutionsbiologen und einen Jäger zu Wort kommen, die das Verhalten der Kaninchen aus ihrer rational-wissenschaftlichen Sicht erläutern. Auf diese Weise gelingt Konopka eine interessante Ent- und Neurahmung der altbekannten Bilder – wobei seine Neurahmungen vieldeutige Lesarten zulassen. Ähnlich wie Beatt geht es auch ihm darum, eine Archäologie zu betreiben. Ihn interessieren dabei insbesondere die Tiefenschichten der Bilder. Das Vieldeutige von ihnen möchte er aufzeigen und ausschöpfen. So lauern beispielsweise unter den Bildern, die das massenhafte Abschlachten der Hasen zeigen, weil sie Mitte der 1980er Jahre im Mauerstreifen zu viele geworden waren und deshalb vom DDR-Regime systematisch getötet wurden (Abb. 11.14), Assoziationen an die Leichenberge in den Vernichtungslagern im Zweiten Weltkrieg. Subtil verweist Konopka auf diese Weise – so wie schon Beatt – immer wieder auf den Holocaust und ruft damit die dunkle Vorgeschichte Deutschlands auf, die überhaupt erst zur Teilung und zum Mauerbau geführt hat. Mit Doppel- und Vieldeutigkeiten spielt Konopka auch auf der Erzählebene. Wird dort der Mauerbau und -fall einzig aus der naiven Perspektive des Mauerhasen wiedergegeben, haben wir es doch nicht mit dem Mauerhasen in Ich-Form zu tun. Vielmehr gibt es eine auktoriale Erzählstimme, die die Ereignisse des Potsdamer Platzes nach dem Zweiten Krieg bis zum Mauerfall aus der Sicht der Mauerhasen erläutert.

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Abb. 11.14, 11.15: Bartek Konopka: MAUERHASE/KRÓLIK PO BERLINSKU ´ (D/PL 2009).

Wird eine solche Erzählerin, die gerne in Tierfilmen, aber auch bei anderen historischen Dokumentarfilmen als Off-Stimme Verwendung findet, generell nicht in Zweifel gezogen, sondern repräsentiert Objektivität, verliert sie bei Konopka im Laufe des Films deutlich an Autorität. Vielmehr geht es darum, sie als auktoriale Konstruktion, die Geschichte (re-)konstruiert und neu und anders festschreibt, überhaupt erst sichtbar zu machen. Diese andere Erzählung, die teilweise Ost-Propagandaparolen mit Westaussprüchen witzig mixt, die auf der Bildebene wiederum nicht selten konterkariert werden, scheint dabei der ‚Wahrheit‘ über den Mauerbau und -fall jedoch näherzukommen, als die üblichen Rückblickfilme, die zu Jahrestagen auf den unterschiedlichen Fernsehkanälen immer wieder gezeigt und dabei stets unisono aus der Perspektive der westlichen Sieger erzählt werden. So endet Konopkas Film auch viel nachdenklicher. Schon alleine die Tatsache, dass die Maueröffnung für die zahlreichen Mauerhasen des Grenzstreifens, nicht nur die Freiheit, sondern auch die Neufindung eines neuen Heims bedeutete und ihre erste Wahl, nämlich den Tiergarten zu besiedeln, von den Westberlinern als Plage empfunden wurde (Abb. 11.15), deutet auf die Schwierigkeiten hin, mit denen u. a. die ältere Bevölkerung Ostdeutschlands nach der Wende zu kämpfen hatte. Diesen Fakt lässt Konopka ebenso nicht aus, wie die Vermutung – die er übrigens mit Cynthia Beatt, aber auch Jürgen Böttcher teilt – , dass mit der Öffnung der Mauer die Deutschen mit ihrer gesamten deutschen Geschichte noch einmal schmerzhaft konfrontiert werden. Dass es sich dabei nicht nur um die Aufarbeitung des Holocausts, sondern auch um eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Romantik handelt, legt das Ende des Films nahe. Mit einem fast ironischen Wink, lässt Konopka so auch seinen Film mit zwei konträren Bildern enden: einer Landschaftszeichnung von Michael Sowa, die an romantische Gemälde von Casper David Friedrich erinnert (Abb. 11.16), sowie mit goldenen Hasengedenksteinen, die ebenso wie die Stolpersteine in Berlin und anderen

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Abb. 11.16, 11.17: Bartek Konopka: MAUERHASE/KRÓLIK PO BERLINSKU ´ (D/PL 2009).

Städten in den Straßenbelag eingelassen sind (Abb. 11.17), um an die geflohenen und vernichteten Juden zu gedenken. Augenzwinkernd weist Konopka uns am Ende so noch einmal darauf hin, wie sehr unsere kollektiven Erinnerungen immer schon von einer bestimmten Bildsprache mitgeformt und einer bestimmten Memorialkultur (vor-)geprägt sind. Diese gängigen (Geschichts-)Narrative kritisch zu befragen, ist dabei sowohl Bartek Konopkas als auch Cynthia Beatts Anliegen, indem sie anders und neu auf die Mauer schauen.

Filmverzeichnis CYCLING THE FRAME (D 1988), Regie und Drehbuch: Cynthia Beatt. CYCLING THE INVISIBLE FRAME (2009), Regie und Drehbuch: Cynthia Beatt. ´ (D/PL 2009, MAUERHASE), Regie: Bartek Konopka, Drehbuch: Bartek KRÓLIK PO BERLINSKU Konopka, Piotr Rosolowski. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. DIE MAUER (D 1990), Regie und Drehbuch: Jürgen Böttcher. NUIT ET BROUILLARD (F 1956, NACHT UND NEBEL), Regie: Alain Resnais, Drehbuch: Jean Cayrol. DAS VERSPRECHEN (D 1995), Regie: Margarethe von Trotta, Drehbuch: Felice Laudadio, Margarethe von Trotta, Peter Schneider. WO IST DIE MAUER – WHERE IS THE WALL? (D 2007), Regie und Drehbuch: Elke Sasse, Stefan Pannen.

Literaturverzeichnis Beatt, Cynthia/Petrowskaja, Katja (2009): „Interview“ am 29.10.2009. http://www.invisible-frame.com/de/der-film/interview-mit-der-regisseurin/, letzter Zugriff 04.05.2018. Beuys, Eva/Beuys, Wenzel (Hg.) (2010): Joseph Beuys. Die Eröffnung 1965 . . . irgend ein Strang . . . Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Götting: Steidl.

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Alexandra Tacke

Bösch, Frank (2016): „Zeitgeschichte im Spielfilm – Konjunkturen eines erfolgreichen Genres“. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Inszeniert – Deutsche Geschichte im Spielfilm. Bielefeld: Kerber, S. 9–19. Brink, Cornelia (1998): Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin: Akademie. Detjen, Marion (2009): „Die Mauer“. In: Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 389–402. Diers, Michael (1996): „Die Mauer. Notizen zur Kunst- und Kulturgeschichte eines deutschen Symbol(l)werks“. In: Ders.: Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 121–141. Hallasch, Alexander (2016): „Die DDR im Spielfilm nach 1989“. In: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Inszeniert – Deutsche Geschichte im Spielfilm. Bielefeld: Kerber, S. 215–237. Kaes, Anton (1987): Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte im Film. München: Edition Text + Kritik. Korngiebel, Wilfried/Link, Jürgen (1992): „Von einstürzenden Mauern, europäischen Zügen und deutschen Autos. Die Wiedervereinigung in Bildern und Sprachbildern der Medien“. In: Rainer Bohn et al. (Hg.): Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien. Berlin: Edition Sigma, S. 31–53. Tacke, Alexandra (2008): „Die Mauer im Kopf. Mauerbau und -fall im kollektiven Gedächtnis“. In: Inge Stephan/Dies. (Hg.): NachBilder der Wende. Köln [u. a.]: Böhlau, S. 301–318. Trux, Elisabeth M. (2003): „Überlegungen zum Feldhasen und anderen Tierstudien Dürers mit einer Datierungsdiskussion“. In: Klaus A. Schröder/Marie L. Sternath (Hg.): Albrecht Dürer. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, S. 45–55. Ullrich, Maren (2001): Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze. Berlin: Aufbau. Wolfrum, Edgar (2001): „Die Mauer“. In: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. München: Beck, S. 552–568. Wolfrum, Edgar (2009): Die Mauer. Geschichte einer Teilung. München: Beck.

Sabine Moller

Geschichtsunterricht im Fake-NewsFormat: GOOD BYE, LENIN! (2003) und sein internationales Publikum GOOD BYE, LENIN! ist der – gemessen an den Kinozuschauerzahlen in Deutschland – erfolgreichste deutsche Kinofilm über die DDR nach der Wende (vgl. Krämer 2008).1 GOOD BYE, LENIN! ist eine Tragikomödie. In Ostberlin im Oktober 1989, einen Monat vor dem Fall der Berliner Mauer, erleidet die Mutter eines jungen Mannes einen Herzanfall und fällt in ein mehrmonatiges Koma. Als sie erwacht, ist vieles von der DDR, wie sie sie kannte, bereits verschwunden. Um die Aufregung über den gesellschaftlichen Umbruch von seiner Mutter fernzuhalten, reinszeniert der Sohn eine erfolgreiche Version des DDR-Staates in der gemeinsamen Wohnung der Familie. Der Konzeption des Bandes entsprechend, geht es mir im Folgenden nicht primär um Lesarten der DDR-Geschichte, die der Film GOOD BYE, LENIN! bereitstellt, sondern vor allem – wie es im Ankündigunstext der zugrundeliegenden Ringvorlesung hieß – um eine kontextuelle Erweiterung durch „Genrebezüge und Rekurse auf andere Filme derselben oder ästhetisch verwandter Regisseure“. Einer meiner zentralen Vergleichshorizonte wird dabei im Folgenden ein Hollywood-Blockbuster sein, bei dem man zunächst nicht unbedingt auf die Idee kommen würde, dass er etwas mit der DDR-Vergangenheit und GOOD BYE, LENIN! zu tun haben könnte. Die auf eine ganz spezifische Weise verwandte Produktion, auf die ich mich beziehe, ist der Film FORREST GUMP, der zu Beginn der 1990er Jahre in den USA unter der Regie von Robert Zemeckis entstanden ist. FORREST GUMP ist ein Blockbuster, der die amerikanische Zeitgeschichte aus der Erinnerung der titelgebenden, fiktiven Hauptfigur inszeniert. Forrest Gump kann die historische Bedeutsamkeit seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen – wie etwa

1 Dass dieser Befund auch Jahre später noch gültig ist, zeigt ein Blick in die „Hitliste der erfolgreichsten 100 Filme“ der letzten 15 Jahre (2001 bis 2015), auf der der Film auf Platz 7 rangiert. Die Liste ist über die Filmförderungsanstalt abrufbar: https://www.ffa.de/filmhitlisten.html. Die Liste „Erfolgreichste deutsche Filme nach Zuschauerzahlen“ bei Wikipedia wird jährlich aktualisiert; hier belegt der Film (u. a. verdrängt durch die Publikumserfolge von FACK JU GÖHTE (D 2013 & 2015) im Jahr 2019 den zehnten Platz (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_er folgreicher_Filme, letzter Zugriff: 30.05.2019). https://doi.org/10.1515/9783110629408-013

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die Begegnung mit dem 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy – aufgrund von mangelnder Intelligenz und Unwissenheit nicht erfassen. FORREST GUMP und GOOD BYE, LENIN! behandeln einschneidende Ereignisse der amerikanischen und deutschen Zeitgeschichte.2 Während FORREST GUMP mehrere Jahrzehnte der amerikanischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg Revue passieren lässt, konzentriert sich GOOD BYE, LENIN! auf den Ereigniskomplex von politischem Umbruch und deutscher Wiedervereinigung in den Jahren 1989/90. Beide Filme haben jedoch nicht allein mit Blick auf die visuelle Reinszenierung von Vergangenheit Geschichte geschrieben. Als außerordentlich erfolgreiche Geschichtsfilme markieren sie wichtige Meilensteine der Filmgeschichte und können – wie ich später auch noch anhand von Interviews zeigen werde – individuelle wie kollektive Vorstellungen von Vergangenheit bebildern und verändern. Beide Filme lassen sich als Blockbuster oder Hit-Filme einordnen. Was beide Kategorien eint, sind überragende Einspielergebnisse. Was sie unterscheidet, ist die Ausgangssituation. Blockbuster werden mit immensen finanziellen Mitteln ausgestattet. Sie werden konzipiert wie „Supertanker oder Flugzeugträger, wie Wolkenkratzer, Bürokomplexe und Shopping Malls“ (Elsaesser 2009, S. 231). FORREST GUMP gehört mit einem Budget von 55 Millionen Dollar unzweifelhaft in diese Kategorie (vgl. Block/Wilson 2010, S. 766 f.).3 Im Unterschied dazu können jedoch auch Filme, für die gemessen an Hollywoodblockbustern eher bescheidene Finanzmittel zur Verfügung stehen, außerordentlich erfolgreich werden. Mit seinen knapp fünf Millionen Dollar Produktionskosten lässt sich GOOD BYE, LENIN! zwar als ein Hochhaus in der deutschen Filmlandschaft, mit Blick auf Hollywood aber eher in die von Peter Krämer geprägte Kategorie der Hit-Filme einordnen (vgl. Krämer 2008). Was Blockbuster und Hit-Filme wiederum verbindet, ist, dass sie nicht nur Geld generieren, sondern auch breitenwirksame audiovisuelle Vorstellungen – Bilder und Bildsequenzen, Töne und Musikstücke –, die kollektiv geteilt, mit Bedeutung versehen und erinnert werden. Außergewöhnlich erfolgreiche Spielfilmproduktionen sind nicht allein Ergebnis ökonomischer Interessen und eines entsprechenden Marketings, sondern sie stehen am Anfang wie am Ende kultureller Verflechtungszusammenhänge. Insbesondere das Blockbusterkino schafft – nicht zuletzt mit Hilfe von Special Effects – etwas Neues, das gleichzeitig ganz fundamental auf Wiedererkennungseffekte abstellt; es inkorporiert und modifiziert klassische Erzählweisen, ikonische Bilder und archetypische Figuren. Blockbuster und Hit-Filme als außerordentlich erfolgreiche Spielfilme sind, wie es bei Elsaesser heißt, „Zeitcontainer“ (Elsaesser 2009, S. 231), die auf

2 Teile des vorliegenden Beitrags entstammen Moller 2018. 3 Vgl. auch http://www.imdb.com/title/tt0109830/business?ref_=tt_dt_bus.

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universelle, evolutionär geprägte wie historisch gebundene Rezeptionsbedingungen gleichermaßen zurückverweisen.

Die Medienerinnerungen unzuverlässiger Erzähler FORREST GUMP und GOOD BYE, LENIN! rekapitulieren wichtige Ereignisse der Zeitgeschichte. Beide Filme tun dies, indem sie den Vorgang der Erinnerung mit im Blick halten: Sie präsentieren Geschichte nicht allein als Ereignisgeschichte, die Einfluss auf das Leben der Erzähler nimmt. Die Filme zeigen vielmehr zwei Männer, die ihre Geschichten als biografische Erzählungen entwickeln. Die Verflechtung von Autobiografie und Zeitgeschichte wird so reflexiv gewendet: Anders als in vielen anderen Geschichtsfilmen, sieht der Zuschauer nicht einfach die Geschichte, sondern er beobachtet Menschen dabei, wie sie sich an Geschichte erinnern (FORREST GUMP) und dabei neu montieren und erzählen (GOOD BYE, LENIN!). Für die Zuschauer beider Filme ist dabei erkennbar, dass sie es mit unzuverlässigen Erzählungen zu tun haben: Die in den Film verwobenen, weithin bekannten Bilder, die zum Teil ikonischen Status erlangt haben, wie beispielsweise der Zapruder-Film, der die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahre 1963 in Dallas zeigt, werden durch die kindlich-naiven Kommentare von Forrest Gump (Tom Hanks) verfremdet. Für die Filmwissenschaftlerin Michaela Krützen ist der Film ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie das neue Hollywoodkino gängige Erzählmuster auf unkonventionelle Weise variiert und dabei auf unzuverlässige Erzähler setzt (vgl. Krützen 2010, S. 35–49). Doch auch wenn Forrest Gump als Erzähler eine höchst unzuverlässige Instanz darstellt, so ist er doch eine zuverlässige Figur, die sich im Verlauf des Films weder äußerlich noch charakterlich verändert. Sein Verhalten ist insofern kalkulierbar, als es sich durch eine unbedingte, über den Tod hinausgehende Verlässlichkeit gegenüber seiner Mutter, seiner Freundin und seinen Freunden auszeichnet. Offensichtlichstes äußerliches Kennzeichen dieser Beständigkeit ist die Kostümwahl. Forrest ist zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten und in ganz verschiedenen Lebensphasen ähnlich gekleidet: Schon als Kind trägt er karierte Hemden. Die filmische Narration von GOOD BYE, LENIN! ist anders gestaltet. Dem Protagonisten Alexander Kerner (Daniel Brühl) ist durchaus bewusst, dass seine Erzählung über die Vergangenheit nicht zutreffend ist. Es sind gerade die Unzuverlässigkeit und die Manipulation von Erinnerungen, die der Film visuell in Szene setzt. Der Zuschauer sieht, wie von Alexander Kerner Nachrichten nachgestellt und mit Filmdokumenten aus dem Kontext der Wiedervereinigung am Schneidetisch neu montiert, kommentiert und so verfremdet werden.

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Die unzuverlässige Erzählung, die der Hauptprotagonist für seine Mutter inszeniert, wird durch seinen Kommentar aus dem Off als solche benannt und reflektiert. „Die DDR, die ich für meine Mutter schuf, wurde immer mehr die DDR, die ich mir vielleicht gewünscht hätte.“ (TC 1:22:50–1:22:54)4 Alexander Kerner weist den Zuschauer auf den fiktiven Charakter seiner Geschichte hin: Er erfindet die Geschichte der DDR neu. Eine Geschichte, so wie sie hätte sein können: kontrafaktische Geschichtsschreibung (vgl. Hillman 2006) oder Geschichtsunterricht im Fake-News-Format. Die Variationen eines unzuverlässigen Erzählstils in beiden Filmen lassen sich dabei in Beziehung setzen zu stillstehenden wie bewegten Bildern, die bewusst auf Verdoppelungseffekte und Widersprüche sowie auf Leerstellen und Unschärfeeffekte setzen. Bild-im-Bild-Konstruktionen sind häufig Rätselbilder, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer besonders binden. Eines der bekanntesten Bilder, das sich einer solchen Komposition bedient, ist das Gemälde Die Hoffräulein (Las Meninas) von Diego Velázquez, das die Betrachter im Laufe der Jahrhunderte wie wohl wenige andere beschäftigt hat (vgl. Greub 2001). Filmhistorisch betrachtet, haben aber Orson Welles und Woody Allen die Geschichte bereits im analogen Zeitalter im Fake-News-Format inszeniert, indem sie ihre fiktiven Filmfiguren Citizen Kane und Leonard Zelig mit Adolf Hitler zusammentreffen ließen. In den Filmen von Welles und Allen wird dabei einerseits die Produktion von Filmen im Film, deren Verbreitung durch Bildschirme und Leinwände sowie die Anwesenheit von Zuschauern in Szene gesetzt. Auch der Regisseur von GOOD BYE, LENIN!, Wolfgang Becker, holt Filmemacher und Zuschauer immer wieder mit ins Bild und in seiner Erzählung erweist sich die eine gemeinsame Familiengeschichte durch die Vielzahl der Perspektiven (gezielte Manipulationen, filmische Rückgriffe, Off-Erzählung, Beichten und Widersprüche) nicht mehr als eine (vergangene) Fiktion. Diese Darstellungsweise könnte auch die Zuschauer auf die mediale Durchdringung der eigenen Erinnerung durch technische, bisweilen manipulierte Bilder aufmerksam machen. Dies gilt umso mehr, als die Filme GOOD BYE, LENIN! und FORREST GUMP auch die Medialisierung der Alltagswelt bereits für die Kindheit der Hauptfiguren aufzeigen und dabei als ein verbindendes, generationen- bzw. nationenübergeifendes Moment inszenieren. Die SESAMSTRASSE (SESAME STREET; USA/D 1969ff.) und UNSER SANDMÄNNCHEN (DDR/D 1959 ff.) sind in dieser Hinsicht Beispiele für kollektive Medienerinnerungen, an die Kinder und Eltern, Deutsche und Amerikaner (SESAMSTRASSE) sowie Ost- und Westdeutsche (SANDMÄNNCHEN) anknüp-

4 GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker. TC: Zeitangaben nach der DVD: Warner Home Video Germany 2004.

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fen können. Kino und Fernsehen, wie insbesondere Blockbuster und Hit-Filme schaffen familiäre wie gesellschaftliche Kommunikationsanlässe und Formen geteilter Erinnerung. In diesem übertragenen Sinne sind auch die Zuschauer von FORREST GUMP und GOOD BYE, LENIN! bereits im Film enthalten. Damit kommt in beiden Filmen ein ganz spezifisches Phänomen der Massenmedialisierung in den Blick. Der Alltag ist seit gut 50 Jahren von elektronischen Bildern durchdrungen, insbesondere von Fernsehbildern, die in den letzten Jahrzehnten durch Bilder auf Computerbildschirmen und Smartphones sowie anderen mobilen Medien ersetzt werden. Das meiste von dem, was wir uns als historische Ereignisse der letzten vierzig Jahre ins Gedächtnis rufen können, konnten wir live an den Bildschirmen und damit mit Millionen von anderen Menschen gemeinsam erleben, was vorher den direkt Beteiligten vorbehalten war oder nur im engsten Familienkreis zirkulierte (vgl. Dayan/Katz 1992; Bösch 2010). Die Epoche der Zeitgeschichte ist damit nicht mehr allein (nach der bekannten Definition des Historikers Hans Rothfels) die Epoche der Mitlebenden (vgl. Rothfels 1953, S. 2), sondern sie ist viel stärker, als die Geschichtswissenschaft dies bis dato akzentuiert hat, als eine Epoche der Mithörenden und Mitsehenden zu konzipieren. Es sind, wie der Historiker Thomas Lindenberger betont, die Massenmedien, die den Erfahrungsschatz individueller Biografien anreichern: Denn die Wahrnehmung der Bilder „basiert auf ‚authentischen‘ Sinneseindrücken in tendenziell unbegrenzten öffentlichen Räumen“ (Lindenberger 2004, S. 82). In diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass die technischen Bilder aus der Perspektive der Populärkultur den Kampf zwischen Geschichte und Gedächtnis für sich entschieden haben. Thomas Elsaesser führt dazu aus: Dies bedeutet, dass wir es – selbst in unserer individuellen Biographie – oft mit einer vermittelten, mediatisierten Erinnerung zu tun haben und dass es nun die Summe aller Bilder ist, der privaten wie der öffentlichen – wobei private oft als öffentliche und öffentliche als private Bilder erscheinen – die sich zu Lebensgeschichten formen. Nachrichtenbilder im Fernsehen, Kinobilder auf der Leinwand, Agenturfotos in den Tageszeitungen oder Bildreportagen in den Wochenzeitungen – es sind die Schultüten unseres Gedächtnisses und die Schuhschachteln unserer Erinnerung. (Elsaesser 2009, S. 181)

Betrachten wir zunächst Forrest Gump. Dieser hat als Zeitzeuge nicht allein den Vietnamkrieg und die Aufhebung der sogenannten Rassentrennung in den USA miterlebt. Er wohnt auch anderen einschneidenden Ereignissen der amerikanischen Zeitgeschichte bei, beeinflusst sie und berichtet an einer Bushaltestelle wartenden Menschen von diesen. Auch dabei handelt es sich letztlich um eine Verdopplungsfunktion: Die Zuhörer im Film lauschen jener Geschichte, die für die Zuschauer des Films durch Filmdokumente visualisiert wird. Dass Forrest Gump dabei die historische Bedeutsamkeit seiner lebensgeschichtlichen Erfah-

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rungen verborgen bleibt, ist der Running Gag des Films: Die Zuhörer im Film ebenso wie die Zuschauer des Films können sich jene Sachverhalte erschließen, die der Wahrnehmung der Hauptfigur entgehen. In GOOD BYE, LENIN! hingegen weiß der Ich-Erzähler um den Fortgang der Handlung. Er ist kein gleichermaßen unwissender oder unzuverlässiger Erzähler wie Forrest Gump, sondern er erzählt davon, wie er seine Mutter mit Hilfe von unzuverlässigen Erzählungen täuscht, um sie zu schützen. Es ist somit nicht der Erzähler, sondern dessen bewusst getäuschte Mutter, die die Welt als Unwissende betrachtet. Der Filmwissenschaftler Thomas Bauermeister schreibt über GOOD BYE, LENIN!: Die Lüge, die Vortäuschung einer vergangenen Realität hilft uns scheinbar besser wissenden Zuschauern, diese Realität noch einmal mit den Augen der Unwissenden oder der in der Täuschung Verfangenen zu sehen. Darin liegt das Vergnügen. Aber es öffnet vor allem die Augen auf die Zeit, die Figuren und schließlich für uns selbst, für unsere eigenen Erfahrungen, wir, die wir Teil dieser Vergangenheit sind. (Bauermeister zitiert nach Töteberg 2003, S. 151)

Die inszenierte Unwissenheit wird hier mit der Hoffnung auf ein (selbst-)reflexives Moment verbunden, das die selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe des Menschen erkennbar werden lässt. Betrachtet man die Unwissenheit in dieser Weise als potenziellen epistemologischen Vorteil, dann ist der Übergang von der Unwissenheit zur Dummheit nicht weit.5 Literarisch lässt sich dabei jene vertrackte Form des Erzählens, die in FORREST GUMP zur Anwendung kommt, anschließen an die Tradition des Schelmen- oder Pikaroromans, in dem bereits im 16. Jahrhundert die Welt aus der rückblickenden Perspektive eines unzuverlässigen Ich-Erzählers dargestellt wurde. Charakteristisch für diese Erzählhaltung ist, einen „pseudoautobiographischen Erzählstrang der Selbstdarstellung mit einem paraenzyklopädischen Erzählstrang der Weltdarstellung“ zu verknüpfen (Bauer 1994, S. 1 f.). Der Dummkopf macht sich dabei nicht nur selbst zum Narren, sondern er eröffnet dem Leser die Chance, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Die auf Naivität, Unwissenheit und gezielte Manipulation gründenden Erzählstrategien zielen somit auf Verfremdungseffekte ab, über welche die in die Filme eingebauten Filmdokumente, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechenden Wahrnehmungen der Protagonisten einer Neubetrachtung zugänglich gemacht werden. Während Alexander Kerner ganz gezielt historische

5 Diese Annahme gründet sich darauf, dass der Dummkopf durch seine vermeintlich abwegige Betrachtungsweise eher zur „Auflösung der Regelschablonen des Denkens“ (Gadamer 2015, S. 46) beitragen könne als der Gebildete, der die leisen Stimmen überhört.

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Gegenerzählungen entwirft, konterkariert Forrest Gump die Absurdität der Welt mit seinen unbedarften Fragen und Handlungen.

News und Fake-News: Der Umgang mit historischen Bilddokumenten Die Filme von Robert Zemeckis und Wolfgang Becker sind gespickt mit zahllosen Bild- und Filmzitaten. Dabei handelt es sich um direkte Zitate, bei denen existierende Fotografien, Filmausschnitte und sonstige Bilder in die Filmhandlung integriert werden oder um indirekte Bildzitate, indem entsprechende visuelle Dokumente nachgestellt werden. In der Filmanalyse werden solche Formen der Zitation auch über vor allem aus der Literaturwissenschaft stammende Konzepte wie Intertextualität, Intermedialität, Interpikturalität, Remediation oder EchoKino diskutiert (vgl. Eder 2008; Paul 2014; Erll 2011; Lindeperg 2003). Alle diese Begriffe versuchen Phänomene zu fassen, bei denen einzelne Bilder, Sujets oder Motive adaptiert werden und dabei von einem Medium in ein anderes übergehen. Intertextuelle Bezüge lassen sich nur dort herstellen, wo einschlägige Lektüreerfahrungen und das entsprechende Vorwissen vorhanden sind. In FORREST GUMP dienen Originalfilmdokumente zum einen der zeitlichen Orientierung. Als Forrest Gump seine Militärzeit bestreitet, wird die Mondlandung im Fernsehen übertragen. Sie läuft im Hintergrund und bleibt unkommentiert, verweist aber auf ein weiteres historisches Großereignis, das Forrest Gump als Zeitzeuge miterlebt hat. Zum anderen werden die Erinnerungen von Forrest Gump immer wieder mithilfe von Filmdokumenten aus Nachrichtensendungen bebildert. In GOOD BYE, LENIN! übernehmen die Fernsehbilder eine ähnliche Funktion. Sie haben einerseits orientierenden Charakter und illustrieren wichtige Ereignisse der DDR-Geschichte (wie den 40. Jahrestag der DDR). Dadurch, dass sie als biografische Erinnerungen eingeführt werden, kommt ihnen eine binnendiegetische Funktion zu. In beiden Filmen wird darüber hinaus die dramaturgische Funktion für die erinnerte Lebensgeschichte durch manipulierte oder nachgestellte Bildzitate erhöht. Originalfilmdokumente werden in FORREST GUMP durch CGITechniken (Computer Generated Imagery) verfremdet.6 Robert Zemeckis nutzte die CGI-Technik dabei einerseits, um das Zusammentreffen von Forrest Gump mit 6 Der Einsatz computergenerierter Bilder wurde von Filmemachern bereits in den 1960er Jahren angewendet, erlebte jedoch in den 1990er Jahren u. a. mit TERMINATOR 2 (1991; R: James Cameron) und JURASSIC PARK (1993; R: Steven Spielberg) spektakuläre Höhepunkte und gehört heute zum Alltag des Filmemachens. Zu CGI vgl. Koebner 2011.

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historischen Persönlichkeiten zu inszenieren und damit die Bedeutsamkeit der berichteten Lebensgeschichte zu erhöhen und für ein Publikum anschlussfähig zu machen, das diese Ereignisse zum Teil (am Bildschirm) selbst miterlebt hat oder denen diese Ereignisse durch die medialen Reproduktionsschleifen wohl vertraut sind. Der Film GOOD BYE, LENIN! stützt sich ebenfalls auf computergenerierte Bilder. Die in dieser Hinsicht eindrucksvollsten Beispiele finden sich in der titelgebenden Sequenz, in der die Lenin-Skulptur mit einem Helikopter aus Berlin-Mitte abtransportiert wird. Historische Filmdokumente hat der Regisseur Becker allerdings, wie er in einem dem DVD-Bonusmaterial beigegebenen Interview betont, ganz bewusst nicht manipuliert. Hier ist somit ein deutlicher Unterschied zu FORREST GUMP auszumachen. Gleichwohl werden auch in GOOD BYE, LENIN! historische Filmquellen in einer Weise mit inszenierten Filmausschnitten montiert, dass ein ähnlicher Effekt entsteht. Zu Beginn des Filmes erhält Alexander Kerners Mutter einen Orden. Diese Ordensverleihung wird ähnlich gerahmt wie jene in FORREST GUMP: Ein Originalfilmdokument kündigt die Auszeichnung verdienter Staatsbürger an. Während Forrest Gump nun digital in historische Filmmaterialien integriert wird, hat Becker den Akt der Ordensverleihung (mit der Schauspielerin Kathrin Sass) kurzerhand nachgestellt und dem Look der DDR-Fernsehberichterstattung der 1970er Jahre so angeglichen, dass er in der Montage mit den Originalfilmbildern visuell nicht als Nachstellung erkennbar ist.7 Beckers Technik, historische Bilder oder Medienereignisse (wie eine Ordensverleihung) zu reinszenieren, ist ein für Geschichtsfilme wie insbesondere Doku-Dramen gängiges Verfahren. Bereits für DIE GEBURT EINER NATION wurde auf diese Technik zurückgegriffen und historischen Fotografien aus dem Kontext des amerikanischen Bürgerkriegs so gewissermaßen Leben eingehaucht (vgl. Steinle 2010). Auch FORREST GUMP wartet natürlich mit einer Vielzahl von weiteren Reinszenierungen auf. Eine der aufwändigsten, ebenfalls mit CGITechnik produzierten Szenen entstand dabei in Washington vor dem Lincoln Memorial (vgl. Moller 2018, S. 79 f.). Die Sequenz zeigt, wie Forrest Gump dort auf einer Massenkundgebung in Uniform eine Rede hält. In dieser Szene, die zu den bekanntesten des Films zählt, überlagern sich gleich mehrere Verfremdungs- bzw. Auslassungsstrategien. Die Filmemacher drehen an dieser entscheidenden Stelle dem Protagonisten den Ton ab. Forrest Gump hält eine

7 Die technische Herstellung der Titelszene wird in den Bonus-Materialien der DVD ausführlich dargelegt. Der Vorbehalt, historische Filmdokumente zu manipulieren wird in dem Making-Of ebenfalls thematisiert. Vgl. Töteberg 2003.

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Rede, die die Zuschauer nicht hören können. In GOOD BYE, LENIN! stellt die Schlüsselszene des Films, die den Abtransport eines Lenin-Denkmals aus der Mitte Berlins (in Anlehnung an zahlreiche historische Vorbilder) dramatisch in Szene setzt, ebenfalls eine sprachliche Leerstelle dar. Der Abtransport der Lenin-Skulptur vor dem Himmel Berlins wird zwar durch ein musikalisches Stück von Yann Tiersen dramatisch orchestriert, mit Worten kommentiert wird die Handlung jedoch zunächst nicht. Die Mutter, die zunächst unbemerkt die Wohnung der Familie verlassen hat, zeigt sich schockiert über die im Zeichen von Kapitalismus und Globalisierung dramatisch gewandelte Außenwelt. Der Kulturschock erschließt sich allein über Gestik und Mimik.

FORREST GUMP und GOOD BYE, LENIN! als Erfolgsfilme FORREST GUMP ist eine transnationale Medienikone. Der Film hat etwas mehr als die Hälfte seines Einspielergebnisses von 677 Millionen Dollar außerhalb der USA erzielt. Allein in Deutschland hatte der Film im Jahr 1994 mehr als sieben Millionen Kinozuschauer.8 In den USA waren neben den enormen Einspielergebnissen von FORREST GUMP vor allem die sechs Oscar-Auszeichnungen (unter anderem bester Film, bester Hauptdarsteller, beste Regie) ein sensationeller Erfolg. Vom American Film Institute wird der Film dabei seit seinem Erscheinen zu den 100 wichtigsten Filmen aller Zeiten gezählt.9 Ebenso wichtig wie seine Platzierungen in einschlägigen Film-Rankings ist sicherlich die Aufnahme in das nationale Filmerbe der USA, die National Film Registry der Library of Congress im Jahr 2011. Dem Film wurde so staatlicherseits zuerkannt, in kultureller, historischer oder ästhetischer Hinsicht dauerhaft bedeutsam zu sein.10 Als GOOD BYE, LENIN! 2003 in die Kinos kam, hatte er allein in Deutschland weit über sechs Millionen Zuschauer. Den knapp fünf Millionen Dollar Produktionskosten standen am Ende Einspielergebnisse von 79 Millionen Dollar gegenüber.11 In den USA zählte er mit einem Box-Office-Erlös von über vier Millionen Dollar im Jahr 2004 zu den zwanzig erfolgreichsten deutschen Importprodukten und war darüber hinaus der einzige deutschsprachige Film

8 Vgl. http://www.imdb.com/title/tt0109830/business?ref_=tt_dt_bus. 9 Vgl. http://www.afi.com/100years/movies10.aspx. 10 Vgl. http://www.loc.gov/film/faq.html. 11 Vgl. die Angaben zu den Zuschauerzahlen bei filmportal: https://bit.ly/2XqyPla sowie bei IMDb: https://www.imdb.com/title/tt0301357/, letzter Zugriff: 30.05.2019.

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unter den 250 erfolgreichsten Filmen in den USA im Jahr 2004 (vgl. Krämer 2008). Für GOOD BYE, LENIN! gab es eine Nominierung für den Golden Globe sowie neun Auszeichnungen allein beim Deutschen Fernsehpreis (u. a. bester Spielfilm, beste Regie, bester Hauptdarsteller). Neben zahlreichen weiteren nationalen und internationalen Preisen wurde er mit dem paneuropäischen Filmpreis Felix und dem französischen César als bester europäischer Film des Jahres ausgezeichnet. Beide Filme sind schon allein deshalb für viele Publikumssegmente attraktiv und anschlussfähig, weil es sich um Familienfilme handelt. Bei GOOD BYE, LENIN! ist dieser Umstand unmittelbar einsichtig. Ähnlich wie in der Fernsehserie HOLOCAUST oder beim Ahnherr des Geschichtsfilms THE BIRTH OF A NATION (DIE GEBURT EINER NATION) werden die Auswirkungen zeithistorischer Ereignisse an einzelnen Familienmitgliedern illustriert. Einen Hinweis darauf, dass FORREST GUMP Insbesondere als ein Medium intergenerationeller Kommunikation begriffen und genutzt wurde, zeigte sich an einer Langzeitstudie zum Geschichtsbewusstsein von Schülern in den USA. In diesem Zusammenhang haben die Autoren der Studie auf einen formalen Aspekt hingewiesen, der für die Verbreitung des Films nicht unerheblich ist. Der Film ist im Unterschied zu den meisten anderen Filmen zur amerikanischen Zeitgeschichte, die das Thema Vietnam behandeln, in den USA bereits für Zuschauer ab 13 Jahren in Begleitung von Eltern bzw. Erwachsenen (PG 13) freigegeben. Der Film ist deshalb in schulischen Kontexten leichter einsetzbar als Filme wie FULL METAL JACKET oder APOCALYPSE NOW, die als Restricted klassifiziert sind und die Lehrer nur zeigen können, wenn sie vorher eine Genehmigung hierfür eingeholt haben (vgl. Wineburg et al. 2007). Im Folgenden werde ich die amerikanische Perspektive auf GOOD BYE, LENIN! beleuchten. Im Zusammenhang mit der Altersfreigabe der Filme lassen sich erste deutliche kulturelle Unterschiede in der Filmwahrnehmung aufzeigen. Denn während FORREST GUMP durch seine niedrigschwellige Altersfreigabe zum amerikanischen Unterrichtsmedium avancieren konnte, wurde GOOD BYE, LENIN! in den USA als Restricted klassifiziert.12 Nimmt man die Begründung für diese Klassifikation hinzu – „Sexualität und Vulgärsprache“ –, dann kann man sich vorstellen, in welche Begründungsschwierigkeiten Lehrkräfte in den USA kommen, wenn sie eine Genehmigung zum Einsatz im Unterricht einholen wollten. In Deutschland hingegen ist GOOD BYE, LENIN! ab 6 Jahren freigegeben

12 So die Angaben auf der amerikanischen DVD-Version (Sony Pictures Home Entertainment 2014): „Restricted. Brief language and sexuality.“ Die Definition von Restricted lautet: unter 17 Jahren nur in Begleitung eines Erwachsenen.

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und trägt zusätzlich das Prädikat „feiertagsfrei“, das heißt, er kann auch an sogenannten stillen Feiertagen wie Karfreitag oder Totensonntag öffentlich vorgeführt werden.13 Aus deutscher Perspektive scheint er damit wie für den Einsatz im Schulunterricht gemacht, zumal die Bundeszentrale für politische Bildung ein eigenes Filmheft und geschichtsdidaktische Zeitschriften Unterrichtsentwürfe und Arbeitsblätter bereitstellten.14 GOOD BYE, LENIN! geriet nach seiner Veröffentlichung in Deutschland in das Fahrwasser historisch-politischer Debatten. Das war insofern erwartbar, als der Film die Erinnerung an die DDR zu einem Zeitpunkt thematisierte, an dem eben jene Erinnerung politisch wie öffentlich höchst umstritten war (vgl. Sabrow 2007). Der Film geriet jedoch zeitgleich in den Sog einer klamaukartigen Ostalgie-Welle in den deutschen Medien. GOOD BYE, LENIN! war hierfür nicht verantwortlich, er war mehr Symptom als Ursache dieser Auseinandersetzungen, wurde aber gleichwohl in deren Verlauf zur Mutter der Ostalgie stilisiert. Medienreflexive und geschichtstheoretische Lesarten des Films gerieten dabei ins Hintertreffen (vgl. Hillman 2006). Die Einschätzung, GOOD BYE, LENIN! biete einen ausschließlich ostalgisch verklärten Blick auf die Diktaturvergangenheit, wurde in der sich fortsetzenden Diskussion über die DDR-Erinnerung hingegen weiter bestärkt. Hier war es insbesondere der Regisseur von DAS LEBEN DER ANDEREN, Florian Henckel von Donnersmarck, der seinen Film als bewussten Kontrapunkt zur Ostalgie wie insbesondere zu GOOD BYE, LENIN! vermarktete und so die Lesart von Letzterem als allein komödiantischem Ostalgieprodukt weiter popularisierte (vgl. Seegers 2008; Cooke 2013; Henzler/Moller 2016).

Das amerikanische Publikum in Mikroperspektive Meine Lektüre der beiden Filme möchte ich nun um eine Forschungsperspektive ergänzen, die einerseits auf eine lange Tradition zurückblicken kann, die andererseits aber auch völlig neu ist. Die Frage, wie Medien ‚wirken‘, ist in Bezug auf den Film genauso alt, wie das Ende des 19. Jahrhunderts erfundene Bewegtbild-

13 Vgl. zu den genannten deutschen Einstufungen die Homepage der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK): http://www.fsk.de/?seitid=2828&tid=188. 14 Das Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung liegt mittlerweile in der dritten Auflage vor: http://www.bpb.de/shop/lernen/filmhefte/34162/good-bye-lenin. 2006 erschienen Unterrichtsmaterialien in der Zeitschrift Praxis Geschichte. Darüber hinaus existieren englische Unterrichtsmaterialien (http://filmeducation.org/pdf/film/GoodbyeL.pdf) sowie zahlreiche Angebote für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: http://www.goethe.de/ins/be/ bru/pro/download/GoodbyeLenin.pdf.

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medium. Auch die Frage, wie Geschichtsfilme wirken, ist recht alt und wurde insbesondere auf der Grundlage standardisierter Befragungen schon des Öfteren beantwortet. Legt man allerdings einen modernen Begriff von Geschichte zugrunde, der Geschichte nicht nur als ein umfassendes Wissen davon, wie es ‚wirklich gewesen ist‘, sondern als eine gegenwartsgeprägte Konstruktion begreift, dann werden die Antworten spärlich (vgl. Moller 2013). Ich möchte ohne weitere methodische Vorbemerkungen in das einsteigen, was ich in meiner Studie untersucht habe (ausführlich zur Methodik vgl. Moller 2018, S. 52–68). Ich beginne dabei mit einem – insbesondere für den amerikanischen Kontext – höchst einflussreichen Zuschauer von GOOD BYE, LENIN! Der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert schreibt 2004 über den Film und übersetzt dabei die Erfüllung eines politischen Wunschtraumes für seine amerikanischen Leser in einen kulturell vertrauten Kontext. Mit der 1819 publizierten Erzählung Rip Van Winkle des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving existiert ein US-amerikanisches Vorbild für die erzählerische Ausgangs- bzw. Problemlage von GOOD BYE, LENIN! Rip van Winkle ist ein Bauer, der in der englischen Kolonialzeit in einen Zauberschlaf fällt. Als er nach zwanzig Jahren wieder erwacht, ist er kein Untertan des englischen Königs mehr, sondern Bürger der Vereinigten Staaten. Aus der Perspektive dieser bekannten Figur der amerikanischen Literaturgeschichte, die einen politischen Umbruch verschläft, füllt Ebert den Traum von einer besseren Welt nun seinerseits mit Leben. „The central idea [of GOOD BYE, LENIN!] travels well: Imagine an American Rip Van Winkle who is told that President Gore has led a United Nations coalition in liberating Afghanistan, while cutting taxes for working people, attacking polluters and forcing the drug companies to cut their bloated profits. Sorry, something came over me for a second“ (Ebert 2004). Ebert erbringt auf mehreren Ebenen eine Übersetzungsleistung für das amerikanische Publikum. Allerdings schreibt er nicht allein als Amerikaner, sondern aus der Perspektive eines Filmkritikers, der der zum Zeitpunkt der Filmveröffentlichung amtierenden Regierung von George W. Bush zutiefst kritisch gegenübersteht.15 Eberts Beispiel gibt uns einen ersten Eindruck davon, wie sich die Aneignung von Geschichte im Film auf Zuschauerseite vollzieht. Die filmische Inszenierung wird über intertextuelle Verweise mit Bedeutung aufgeladen und in den für die sozialen Bezugsrahmen des Zuschauers wichtigen Kontexte übersetzt und in dieser Hinsicht mit Leben gefüllt. Wir haben es hier mit einem avancierten Beispiel des-

15 Die Bedeutsamkeit dieses Blickwinkels bei Ebert erschließt sich unmittelbar, wenn man seine Kritik des Films DAS LEBEN DER ANDEREN hinzuzieht (vgl. Ebert 2007). Vgl. hierzu Moller 2015.

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sen zu tun, was die qualitative Medienforschung als kommunikative Aneignung bezeichnet: „einen aktiven als auch kulturell umfassend kontextualisierten Prozess des ‚Sich-zu-Eigen-Machens‘ von Medieninhalten“ (Hepp 2005, S. 67). Bilder werden mit Sinn versehen, indem sie in einen vertrauten kulturellen Kontext übersetzt und so lesbar gemacht werden. Expertenmeinungen und durch ein studium informierte Filmkritiken stehen uns zuhauf zur Verfügung und sie werden auch schon seit jeher für die Rezeptionsforschung fruchtbar gemacht. Die Befragung ganz gewöhnlicher Zuschauer vor dem Hintergrund der Frage, wie sie sich die in einem Film inszenierte Geschichte aneignen, stellte jedoch bis dato eher eine Leerstelle dar – und diese Leerstelle habe ich mit meiner Studie zu füllen versucht. Ich habe Zuschauern in Deutschland und in den USA zwei Sequenzen aus GOOD BYE, LENIN! vorgespielt und sie dann danach gefragt, was sie gesehen haben. Eine der Sequenzen beinhaltetet die Schlüsselszene des Films: Sie zeigt, wie die Mutter die Wohnung der Familie verlässt und auf der Straße den Abtransport einer Lenin-Skulptur sieht und wie der Sohn diese überraschende Beobachtung in einer gefaketen Sendung der Aktuellen Kamera zu einer sinnvollen Nachricht verarbeitet. Diese knapp 10-minütige Filmsequenz enthält natürlich eine Vielzahl von Details, Symbolen und Nebenhandlungen, die sich nicht vorab darstellen lassen: Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte. Amerikanischen Zuschauern Sequenzen aus GOOD BYE, LENIN! vorzuspielen – das deutete sich bereits bei Eberts Filmkritik an –, trifft auf deutlich andere mentale Bildhaushalte und Resonanzräume als bei deutschen Zuschauern. Die amerikanischen Zuschauer aktivieren Wissensbestände, Assoziationen und Einstellungen zu den Themenkomplexen Sozialismus und Kalter Krieg. Einen Einblick in diesen Vorgang vermittelt das Interview mit einem amerikanischen Geschichtslehrer. Der Mittdreißiger sagt über den Film: The relationship between a boy and his mother is something that I never considered as anything that took place in East Germany, in, you know, a communist state, and actually this is something I never came up with, which struck me most about that scene to some extent and the movie in general [. . .]. You know, growing up, there was this more or less, especially throughout the ’80s as well as the communist balance in all the movies, you never really heard about anything as far as family life or relationships or any of that stuff and it’s just the big communist threat, the big Arnold Schwarzenegger, you know, these different villains in the movies. (GBL08 USA AHT SM S1)16

16 Die Sigel der Interviews sind folgendermaßen lesbar: Bsp. GBL08 USA AHT SM S1 = Good Bye, Lenin!; Interview Nr. 8; Land, in dem das Interviews durchgeführt wurde: USA; Nationalität und angegebene Berufsbezeichnung des Interviewpartners; American History Teacher; Interviewerin: Sabine Moller; Antwort auf die Frage zu: Sequenz 1.

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Der Geschichtslehrer scheint über die Familiengeschichte genauso betroffen wie ihn die Reflexion des eigenen Geschichtsbildes vom Kommunismus erstaunt. Auf seine diesbezüglichen Vorstellungen kommt er im weiteren Verlauf des Interviews immer wieder zurück. Neben Schauspielern wie Arnold Schwarzenegger gehören wiederkehrende Bildkompositionen von uniformierten Massen, die vor Diktatoren paradieren, zu jenen Vorstellungsbildern, die kommunistische Staaten bei ihm hervorrufen. Unvertraut sind dem Lehrer dabei auch die Bilder von den Demonstrationen und der friedlichen Revolution in der DDR, die er in GOOD BYE, LENIN! gesehen hat. Bilder von Protestmärschen assoziiert er, wie andere amerikanische Befragte auch, in erster Linie mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Kampf gegen Rassendiskriminierung. Filme sind hybride Medien: Sie sind Mischgewebe. Das betrifft zum einen die Eingliederung anderer Medien − von Bildern, Texten, Tönen. Der Film lässt sich in dieser Hinsicht auch als „das erste technische Hypermedium mit einer eigenen Ästhetik“ und zugleich als ein Vorreiter des Internets begreifen (vgl. Pauleit 2009; Essid 2004). Der Film ist jedoch im Gegensatz zum World Wide Web linear, weil die Verbindung von einem Bild mit dem nächsten durch die filmische Montage vorgegeben ist. Gleichwohl führt uns das Beispiel des amerikanischen Geschichtslehrers sehr plastisch vor Augen, inwiefern auch das lineare Film-Sehen auf Zuschauerseite als Montage funktioniert. Der Lehrer gleicht die Bilder des Films mit den Medienbildern ab, die für ihn durch seine Sozialisation und Ausbildung in den USA als Vorstellungsbilder abrufbar sind. Seine Ausführungen verweisen damit auf eine spezifische „Bildhaftigkeit von mentalen Modellen“ (Mikos 2010, S. 244). Diese visuellen Assoziationen verweisen auf die in einer Gesellschaft flottierenden Deutungsmuster und Begriffe, die sich auch in den Gestaltungselementen von Bildern materialisieren. Durch das Sprechen über Filmbilder nehmen die entsprechenden Diskurse Kontur an: Es entstehen Blaupausen des Geschichtsbewusstseins. Dies lässt sich sehr eindringlich auch an einem Interview mit einer amerikanischen Rentnerin zeigen. Der Titelszene des Films, die – wie erwähnt – eine am Himmel über Berlin schwebende Lenin-Skulptur zeigt, schenkt die Rentnerin in ihren Ausführungen zu dieser Sequenz kaum Aufmerksamkeit. Ihr Schwerpunkt der Betrachtung ist ein ökonomischer: Die filmische Inszenierung scheint ihr im Hinblick auf ihre Vorstellungen vom Leben im Sozialismus bzw. in der DDR (die sie u. a. auf den Film DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM stützt, vgl. Moller 2018, S. 112–118) widersprüchlich. Sie ist irritiert davon, dass in dieser Sequenz – wie auch an anderer Stelle des Films – so viel eigentlich noch brauchbares Mobiliar zur Entsorgung auf der Straße steht. Dass die Menschen sich ihrer alten, noch funktionstüchtigen Möbel entledigen, erscheint aus ihrer Perspektive abwegig zu sein. „Well, there seemed to be blocks of stuff out on

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the street, and I didn’t know if everybody was moving or if they were getting rid of old things, because they were buying new things. [. . .] That seemed odd, because I would think that in a depressed economy that goods would be more valuable“ (GBL06 USA ETR SM S2). Auch eine Szene, in der die Schwester von Alexander die verwirrte Mutter auf der Straße erkennt, ihre Taschen fallen lässt, um ihr zu Hilfe zu eilen, erscheint der Rentnerin angesichts der ökonomischen Situation in der DDR abwegig zu sein. „I was concerned when the sister dropped her groceries and ran to the mother, because I thought, I think these people don’t have very much money, and I thought probably in that enormous situation she would just run with the groceries, but from theatrical point of view, dropping the groceries is a considered point that I am not sure it’s reality“ (ebd.). Der Realitätsbezug der in Szene gesetzten Geschichte erscheint ihr an dieser Stelle fragwürdig. Das Handeln der Protagonisten erweckt Skepsis, weil dieses den von der Rentnerin antizipierten Rollen von armen DDR-Bürgern nicht entspricht. Diese auf den ersten Blick abwegig bzw. nebensächlich erscheinende Interpretation der Filmszene verweist indes auf die theoretischen Grundannahmen der Historik zurück: Historische Fragen entstehen in der Lebenswelt. Ich sitze bei diesem Interview einer älteren Dame gegenüber, für die materielle Fragen wie insbesondere eine angemessene Krankenversorgung eine wichtige Rolle spielen und die dieser Schwerpunktsetzung folgend den Film kritisch hinterfragt. Vor diesem Hintergrund wird auch die Annahme der amerikanischen Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack verständlich, dass Aufmerksamkeit immer zufällig und zielgerichtet zugleich ist (vgl. Sobchack 1990, S. 27). Das Gespräch mit der Rentnerin dokumentiert, wie sich die Filmzuschauerin der Welterfahrung der Kamera auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen zuwendet. Dass sich ihre Aufmerksamkeit auf die auf die Straße fallenden Einkaufstaschen fokussiert, kann an dieser Stelle zufällig sein; in der hier vermuteten lebensweltlichen Verwurzelung lässt sie sich jedoch auch als plausibel und zielgerichtet begreifen. Der lebensweltliche Kontext meint hier zum einen die mit Alter und Ruhestand verbundenen existenziellen Bedürfnisse, die zu ganz spezifischen mit dieser Perspektive verbundenen Schwerpunktsetzungen führen. Lebensweltlicher Kontext meint aber andererseits immer auch die vorangegangenen Medienerfahrungen, die in Form von emotionalen Filmeindrücken wie von konkreteren Erinnerungen an die Gestaltung einzelner Filmszenen aufgerufen werden. In dieser Hinsicht verweisen die beiden Interviews auf die Bedeutsamkeit der filmischen Erinnerung für das Geschichtsbewusstsein von Menschen, die über ihre Medienerfahrungen hinaus keinerlei Erfahrungen mit dem Leben in sozialistischen Staaten gesammelt haben. Dieser Vorgang lässt sich auch an einer weiteren Beobachtung des bereits vorgestellten afroamerikanischen Geschichtslehrers verdeutlichen, dem bei der

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Schlüsselsequenz des Films ein Detail besonders ins Auge sticht: „Few questions with this one, and this is just me like figuring out things, like the baby was playing with the black doll, and how like this is at the norm? So, that struck me immediately, like that was a black doll, and that’s an issue here“ (GBL08 USA AHT SM S2). Für den Geschichtslehrer, für den das Thema „Brown versus Bord of Education“ zum curricularen Standard gehört, weckt dieses Bild vermutlich Assoziationen zu dem bekannten Doll-Test, der in den 1940er Jahren angestellt und später wiederholt wurde (vgl. Moller 2018, S. 131). Der Oberste Gerichtshof in den USA hatte im Jahr 1954 geurteilt, dass die Segregation an Schulen und Universitäten verfassungswidrig sei. Im Vorfeld dieser Entscheidung hatte man im sogenannten Doll-Test afroamerikanischen Kindern weiße und schwarze Puppen zum Spielen zur Auswahl gestellt. Die Kinder hatten in ihrer Mehrheit die weißen Babypuppen gewählt und diesen positivere Eigenschaften zugeschrieben. Die für den Versuch verantwortlichen Psychologen schlossen daraus, dass die staatliche Diskriminierung und Segregation zu Unterlegenheitsgefühlen und Selbsthass bei farbigen Kindern führen würde. Die in GOOD BYE, LENIN! nur kurz im Bild zu sehende schwarze Puppe macht mit ihrem Verweis auf das Thema Race einen ganz neuen Betrachtungshorizont auf. Die eigene Betroffenheit wird am Ende von dem Geschichtslehrer gleichermaßen hervorgehoben wie zurückgenommen. Indem er sagt, dass es sich dabei um eine persönliche Frage handle, unterstreicht er seine eigene Betroffenheit; gleichzeitig markiert diese Bemerkung aber auch eine Zurücknahme. Es ist eine persönliche Frage, die von dem eigentlich zur Debatte stehenden Thema wegführt. Ich glaube allerdings, dass sich in dieser Sequenz etwas ganz symptomatisches zeigt: Ein nebensächliches Detail springt ins Auge und wird – über Fragen – mit Bedeutung aufgeladen. Wir haben es hier erneut mit einer geradezu idealtypischen Verknüpfung der Lebenswelt mit dem Universum des Historischen zu tun. Die Kategorie Race meint dabei nicht allein die Hautfarbe des Geschichtslehrers, sondern sie markiert einen für den US-amerikanischen Geschichtsunterricht höchst bedeutsamen Lerngegenstand. Gleichwohl erscheint uns beiden – dem Geschichtslehrer, in dem er die Frage als persönlich einstuft und ihre Reflexion damit eingrenzt, ebenso wie mir, die ich nicht weiter nachfrage – die Verknüpfung als eher zufällig. Die Puppe fällt indes auch einem amerikanischen Historiker auf. „In general, I noticed that, as I mentioned to you when we were watching the clip that the little baby, the grand-daughter is playing with a doll that is black, and I hadn’t seen that before, and so I wondered if this was something, this was a common doll in East Germany or not, and if indeed the director was trying to insert some discussion of race into the film, because otherwise it’s relatively absent“ (GBL01 USA AHM SM S2). Auch hier ist es zunächst die Zufälligkeit, die besonders deutlich wird. Der Historiker hat den Film schon häufig gesehen, aber es ist das erste Mal,

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dass ihm dabei die schwarze Babypuppe auffällt. Einmal auf dieses Detail aufmerksam geworden, stellt sich leicht eine Verknüpfung her zwischen dem Film und seiner Alltagswelt (die u. a. in der Beschäftigung mit der DDR-Geschichte besteht).

Schluss Der subjektiven Aneignung von prinzipiell vieldeutigen Bildern sind generell keine Grenzen gesetzt. Genau das deutet sich in dem von Roland Barthes geprägten Begriff des punctums an: ein scheinbar unwichtiges Detail kann den Betrachter ergreifen – ihn punktieren. Bei Barthes ist dies etwa eine Kette, die eine Frau auf einem Foto um den Hals trägt: „[D]enn ohne Zweifel war es die gleiche Kette (ein schmales Band aus geflochtenem Gold), die ich stets an einer Verwandten gesehen hatte und die nach dem Tod dieser Frau in einer Kassette mit altem Familienschmuck aufbewahrt wurde“ (Barthes 2012, S. 62). Ein solch biografischer Erinnerungssplitter macht einen ganz neuen Wahrnehmungshorizont auf. Die betrachteten Bilder werden unablässig ergänzt durch jene Bilder, wie der Literaturwissenschaftler Sven Kramer schreibt, „die sich unwillkürlich einstellen und sich über jene legen, die wir gerade ansehen“ (Kramer 2014, S. 159). Auf der Seite der Aneignung ist das Netz potenzieller Assoziationen und möglicher Deutungen prinzipiell unendlich – das haben bereits die Cultural Studies in zahlreichen aufschlussreichen Untersuchungen illustriert (vgl. Hepp et al. 2015). Diese Forschungsrichtung hat zwar den Zuschauerraum und damit die Aneignungsseite hell ausgeleuchtet, dabei aber bisweilen die Leinwand oder den Bildschirm aus dem Blick verloren (vgl. Livingstone/Das 2013). Der Beliebigkeit des everything connects, das subjektive Aneignungsprozesse kennzeichnet, gilt es daher bild- bzw. filmwissenschaftliche Lektürestrategien an die Seite zu stellen. Auch wenn sich Kunstwerke wie Filme nicht auf die Übermittlung einer Nachricht reduzieren lassen, so ist es doch möglich, Darstellungsstrategien herauszuarbeiten, die spezifische Rezeptionsmuster nahelegen können. In diesem Sinne meine ich gezeigt zu haben, dass beide Filme mit ganz spezifischen Bild-im-Bild-Konstruktionen und damit mit einer Vielzahl von Medienikonen arbeiten, die biografische Erinnerungen evozieren und gleichzeitig durch audiovisuelle Leerstellen hinreichend Raum für diese aufgerufenen Assoziationen schaffen. Die Interviews zeigen, wie sich erwartbare und überraschende Deutungszuschreibungen von Zuschauerinnen und Zuschauern des Films GOOD BYE, LENIN! vollziehen. In den intertextuellen Verweisen, den zufälligen Assoziationen und vermeintlichen Fehlinterpretationen offenbaren sich bedeutsame Koordinaten und Aspekte der historischen Orientierung aufseiten der Zuschauer. Die Bedeu-

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tungsnetze, in die Filmerfahrungen verwoben werden, lassen sich in diesem Sinne auch als Blaupausen des Geschichtsbewusstseins begreifen. In ihnen zeichnen sich spezifische Gruppenzugehörigkeiten und biografische Erfahrungen ab, die die Erkenntnis, dass Geschichte ein multiperspektivisches Konstrukt ist, sehr plastisch vor Augen führen. Empirisch illustriert wird dabei etwas, das im Grunde genommen schon so lange theoretisch bekannt ist, wie Konzepte und Vorstellungen vom Konstruktivismus existieren. Es ist allerdings an der Zeit, dass wir diesen Konstruktivismus, wie dies der Kulturpsychologe Jerome Bruner schon vor Längerem gefordert hat, als einen genuinen Ausdruck demokratischer Kultur begreifen (vgl. Bruner 1997, S. 48). Nimmt man den Konstruktivismus ernst, dann verlangt er, dass wir uns Rechenschaft darüber ablegen, woher wir und wie wir etwas wissen. Bezogen auf die allgegenwärtigen Medien heißt das auch, dass wir uns stärker um eine Reflexion darüber bemühen, welchen Medieninformationen wir welche Bedeutung beimessen. Medienmanipulationen und Fake-News zu erkennen, ist zweifelsohne eine schwierige und notwendige Medienkompetenz. Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, dass auch vertrauenswürdige Medieninhalte Konstruktionsleistungen beinhalten, die wir in unsere eigene Perspektive auf die Geschichte einpassen. Reflektiertes Geschichtsbewusstsein setzt somit voraus, dass ein Wiedererkennen von etwas Bekanntem zur Kenntnis genommen und als bedeutsamer Ausgangspunkt der Kommunikation über Geschichte aufgegriffen wird.

Filmverzeichnis APOCALPYSE NOW (USA 1979), Regie: Francis Ford Coppola, Drehbuch: John Milius, Francis Ford Coppola. THE BIRTH OF A NATION (USA 1915, DIE GEBURT EINER NATION), Regie: D. W. Griffith, Drehbuch: D. W. Griffith, Frank E. Woods, Thomas F. Dixon Jr., nach Dixons Romanen. CITIZEN KANE (USA 1941), Regie: Orson Welles, Drehbuch: Herman J. Mankiewicz, Orson Welles. FORREST GUMP (USA 1994), Regie: Robert Zemeckis, Drehbuch: Eric Roth. FULL METAL JACKET (USA/GB 1987), Regie: Stanley Kubrick, Drehbuch: Stanley Kubrick, Michael Herr, Gustav Hasford. GODD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker. HOLOCAUST (USA 1978, HOLOCAUST – DIE GESCHICHTE DER FAMILIE WEISS), Regie: Marvin J. Chomsky, Drehbuch: Gerald Green. JURASSIC PARK (USA/1993), Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Michael Crichton, David Koepp. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. SANDMÄNNCHEN (D 1959 ff.). SESAME STREET (USA/D 1969 ff.), Idee: Joan Ganz Cooney, Lloyd Morrisett.

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THE SPY WHO CAME IN FROM THE COLD (GB 1965, DER SPION, DER AUS DER KÄLTE KAM), Regie: Martin Ritt, Drehbuch: John le Carré, Paul Dehn, Guy Trosper. TERMINATOR 2: Judgment Day (USA/F 1991, TERMINATOR 2 – TAG DER ABRECHNUNG), Regie: James Cameron, Drehbuch: James Cameron, William Wisher. UNSER SANDMÄNNCHEN (DDR 1959 ff.). ZELIG (USA 1983), Regie und Drehbuch: Woody Allen.

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Eine durch Spielfilme rekonstruierte DDR – und junge Lerner des Deutschen als Fremdsprache: Über DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) Filme im Fremdsprachenunterricht Der Einsatz von bewegten Bildern gilt im Fremdsprachenunterricht allgemein, und damit auch im Unterricht für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, inzwischen schon seit vielen Jahren als selbstverständlich. Der Fortschritt der Technik hat dies ermöglicht. War es zunächst der Videorekorder, der den Sprachunterricht in den letzten beiden Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts begünstigte und zu einer vielzitierten und eine Generation von Studierenden des Fachs prägenden Übungstypologie (vgl. Brandi 1996) ‚zur Arbeit mit Filmen im Unterricht‘ führte, so ist es seit etwa zwei Jahrzehnten die sich ständig weiter entwickelnde Computertechnologie und die Ausstattung von Klassenräumen mit Tageslichtprojektoren – im Deutschen zur Belustigung englischer Muttersprachler ‚Beamer‘ genannt –, die den Sprachunterricht revolutioniert haben. In Ländern mit der entsprechenden technischen Ausstattung ist der Einsatz von Filmmaterial im Unterricht für Deutsch als Fremdsprache längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Es ist kaum noch ein Lehrwerk denkbar, dem nicht eine DVD mit Filmausschnitten beigefügt ist oder zu dem auf einer Verlagsplattform Bildmaterialien bereitgestellt werden. Die gestiegene Bedeutung bewegter Bilder im Sprachunterricht für Deutsch als Fremdund Zweitsprache wird auch deutlich an der Zunahme von thematisch relevanten Fachartikeln, vor allem aber Sammelbänden und speziellen Themenheften (vgl. Welke/Faistauer 2010; Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 17 (2012), Heft 2; Welke/Faistauer 2015; Lay et al. 2018a). Hierfür spielt die Dominanz der rasant gewachsenen Bedeutung von Bildern in unserem Leben – Stichwort iconic turn – die entscheidende Rolle. „Auf dynamische oder bewegte Bilder in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen, vom Kinofilm zum Youtube-Video, vom Werbespot zur Fernsehserie u. a. m. treffen wir sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen und sie sind aus unserer Lebenswelt nicht mehr wegzudenken. Sie prägen unser Leben und unser Wissen von der und über die Welt.“ (Lay et al. 2018b, S. 1)

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Bildinformationen werden dabei oft unbewusst oder halbbewusst wahrgenommen, was ihre Wirkmächtigkeit nur noch erhöht. Allein schon deswegen gibt es seit langem im Fach DaF die Forderung nach einer Förderung des „SehVerstehens“ (Schwerdtfeger 1989, S. 24), inzwischen mehrfach zum ‚Hör-SehVerstehen‘ ausgeweitet. Und die Entwicklung geht mit der Veränderung des Sehverhaltens von Kindern und Jugendlichen – weniger Fernsehen und Kino, mehr und selektiverer Konsum im Internet – einher. Das führt folgerichtig auch im muttersprachlichen Unterricht zur Forderung nach einer „‚Bewegtbild-Lesekompetenz‘ – im digitalen Zeitalter“ (Leonhard 2018, S. 269). Auch zum Spielfilm mit Geschichtsthemen liegen erste Veröffentlichungen vor (vgl. Weber 2010; Grond 2012; Koreik 2015). Die Arbeit mit Spielfilmen im Fremdsprachenunterricht ist im Rahmen des Medieneinsatzes insofern noch etwas Besonderes, als ihnen zum einen eine spezielle Möglichkeit des interkulturellen Lernens (vgl. Chudak 2010; Horstmann 2010; Carl 2012) eingeräumt wird, sie zum anderen aber aufgrund ihrer Länge nur bedingt in den DaF-Unterricht integriert werden können. Die Länge einer normalen Unterrichtsstunde, auch wenn weltweit leicht unterschiedlich, ist in der Regel nie ausreichend, um einen kompletten Spielfilm zu zeigen. Das führt zu der allerdings auch aus methodisch-didaktischen Erwägungen sinnvollen Aufteilung in einzelne Filmausschnitte oder sogar die Arbeit mit kürzeren Sequenzen, wobei sich das Prinzip der methodischen Vorgehensweise zu einer inhaltlichen und auf Spracherwerb ausgerichteten Gliederung in ein „Vor“, „Während“, „Nach“ (Köster 2013, S. 248) eingebürgert hat. Anders gestaltet sich die Situation, wenn im Rahmen eines Film- oder Kulturabends ein Spielfilm im Goethe-Institut komplett gezeigt wird. Und in diesem Kontext gehört DAS LEBEN DER ANDEREN zu den in den letzten beiden Jahrzehnten im Rahmen der Kulturarbeit im Ausland am häufigsten gezeigten Filmen (vgl. auch Bürner-Kotzam 2012).

DAS LEBEN DER ANDEREN in der deutschen Sprach- und Kulturarbeit im Ausland Für die nicht-kommerzielle Verbreitung deutscher Spielfilme im Ausland sorgen in erster Linie die Goethe-Institute, Lehrkräfte an deutschen Auslandsschulen und Lektor*innen des DAAD sowie Hochschullehrer*innen an Universitäten oder aber auch politische Stiftungen im Rahmen von Sonderveranstaltungen. Der Deutschen Welle kommt dabei die Aufgabe zu, über aktuelle und erfolgreiche Filme zu berichten. DAS LEBEN DER ANDEREN, so heißt es in einer Mitteilung vom 11.6.2010, „ist die

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zweifellos berührendste Auseinandersetzung mit der ehemaligen DDR seit der Wende 1989“ (Bales 2010). Die Stichworteingabe des Filmtitels in der Suchmaske des Goethe-Instituts erbringt in kürzester Zeit knapp 600 Einträge. Aus den eher zufällig geordneten Einträgen lässt sich schließen, dass dieser Film neben LOLA RENNT, GOOD BYE, LENIN! und DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI zu den am häufigsten vorgeführten Filmen der letzten beiden Jahrzehnte gehört. Das ist auch nicht verwunderlich, da dieser Film mit einem Oscar ausgezeichnet wurde und allein deswegen, aber auch wegen seiner Thematik, weltweite Aufmerksamkeit erfahren hat. Auf diversen Seiten verschiedener Goethe-Institute weltweit finden sich Berichte über Aufführungen, einzelne Arbeitsblätter für den Unterricht, komplett didaktisierte Unterrichtsmaterialien und zahlreiche Zusammenfassungen und Interpretationen des Films. Zu nennen wären hier in erster Linie die „Arbeitsblätter zum Film“ vom Goethe-Institut Brüssel (Meurer/Jost, o. J.). Auch die Bundeszentrale für politische Bildung dürfte mit seinem sehr schnell erschienenen und auch im Ausland leicht zugänglichen Filmheft (Falck 2006) maßgeblich zu einer umfassenden Verbreitung des Films im DaF-Unterricht im Ausland beigetragen haben. Und dass der Film nicht nur hinsichtlich seiner Verbreitung, sondern auch inhaltlich im DaF-Kontext eine bedeutende Rolle gespielt hat, zeigt die Untersuchung zur Vermittlung von deutscher Landeskunde von Katja Grupp an der Universität in Kaliningrad, an der sie im Rahmen einer empirischen Studie Interviews mit Studierenden durchgeführt hat: „Der Film als Quelle für Informationen wird in fast allen Interviews erwähnt. Filme spielen im Rahmen des interkulturellen Lernens eine wichtige Rolle. Genannt werden in den Interviews [. . .], [u. a.] DAS LEBEN DER ANDEREN“ (Grupp 2014, S. 293). Und wie sehr der Film nicht nur geeignet ist, die deutsche Geschichte im Unterricht (im Ausland) zum Thema zu machen, sondern darüber hinaus auch Anlass zu weiterführenden Diskussionen bietet, verdeutlicht eine Passage aus den von ihr transkribierten Interviews: „ [. . .] ah während der zeit wenn man kann nicht frei schreiben und ah ja wenn mit der politischen ansichten sehr streng war und so [. . .]“ (Grupp 2014, S. 297). Und Grupp konstatiert wie viele andere, dass Spielfilme nicht primär den Zweck der Kulturvermittlung verfolgen und dass zusätzlich die Rezeption von Spielfilmen im Ausland eine eventuell andere Rezeption erfahren, als das im Entstehungsland des Films der Fall ist (vgl. Grupp 2014, S. 293, auch Ramishvili 2017, z. B. S. 174–175). Aber die Rezeption eines Spielfilms fällt ja selbst im Entstehungsland durchaus sehr unterschiedlich aus.

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Zur Beliebtheit und Bedeutung von DAS LEBEN DER ANDEREN Der Film DAS LEBEN DER ANDEREN ist bereits in der frühen Phase seines Erscheinens in einer Art und Weise ‚geadelt‘ worden, wie es selten einem Film widerfährt. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck, langjähriger Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und ehemaliger evangelischer Pfarrer in der DDR, wird folgendermaßen zitiert: Ich bin im Kino, ich kenne, was ich sehe. Ja, sage ich, so war es. Wenn das geschieht, wird es normalerweise nostalgisch. Aber jetzt: keine Nostalgie – nirgends, kein Erinnern also, das ohne Schmerz auskommt. Der Film heißt DAS LEBEN DER ANDEREN, für mich könnte er auch heißen ‚Das andere Leben‘, das nämlich, was wir verlassen haben, als wir die DDR endlich los waren. (Gauck 2006)

Und Wolf Biermann, der 1976 aus der DDR ausgebürgerte kritische Liedermacher, bringt in einer sehr viel differenzierteren Stellungnahme zahlreiche Zweifel an der Authentizität des Films an. Dabei berücksichtigt er die Argumente von Diskussionspartner*innen, die eine Vorab-Version des Films gemeinsam gesehen haben, und bringt sogar fiktive Gegenargumente vor, wie von dem massiv unter der Stasi drangsalierten Regimekritiker Jürgen Fuchs. Biermann kommt zu folgendem Schluss: „Ich komme aus dem Staunen gar nicht raus, daß solch ein westlich gewachsener Regie-Neuling wie Donnersmarck mit ein paar arrivierten Schauspielern in den Hauptrollen ein dermaßen realistisches Sittenbild der DDR mit einer wahrscheinlich frei erfundenen Story abliefern konnte.“ (Biermann 2006) Das sind gewichtige Aussagen von bedeutenden Zeitzeugen, die unterschiedlich lang und in sicherlich verschiedenem Maße in und unter der DDR gelitten haben. Und sie machen den Film wertvoll. Dem entsprechen auch frühe Würdigungen, die DAS LEBEN DER ANDEREN in Rezensionen gewidmet waren. In Spiegel Online vom 15.3.2006 hieß es: Nach SONNENALLEE, GOOD BYE, LENIN!, NVA und DER ROTE KAKADU ist DAS LEBEN DER ANDEder erste deutsche Spielfilm, der sich durchgehend ernsthaft, ohne Trabi-Nostalgie, Spreewaldgurken-Romantik und anderen folkloristischen Klamauk mit dem Kern der 1989 untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik auseinandersetzt – der systematischen Einschüchterung, Drangsalierung und Unterdrückung ihrer Bürger im Namen der ‚Staatssicherheit‘ [. . .]. (Mohr 2006) REN

Und in einem Artikel in Zeit Online vom 23.6.2006, in dem Evelyn Finger DAS LEBEN DER ANDEREN als „bisher besten Nachwende-Film über die DDR“ bezeichnet, lautete es: „DAS LEBEN DER ANDEREN ist politischer als SONNENALLEE, philosophischer als GOOD BYE, LENIN!, sarkastischer als BERLIN IS IN GERMANY – eine

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Kinonovelle, die deprimierende Einsichten in die Herrschaftsmechanismen der Diktatur gewährt“ (Finger 2006). Genau diese „Einsichten“ jedoch sind es, die unter dem Stichwort ‚Realismus‘ zu unterschiedlichen Gesamtwertungen des Films führen. Noch 2016 heißt es im Ausstellungskatalog zu Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm: DAS LEBEN DER ANDEREN „ist bis heute der eindringlichste und bedeutendste Erinnerungsfilm zum Agieren des Ministeriums für Staatssicherheit. [. . .] Kein anderer Film zum Thema DDR, weder davor noch danach, wurde derart intensiv diskutiert“ (Stiftung Haus der Deutschen Geschichte 2016, S. 231). Und Braun erklärt DAS LEBEN DER ANDEREN „zu einem parabolischen Erinnerungsfilm“ (Braun 2013, S. 129). Die „erfundene Erinnerung“ mache den Film zu einem „Gleichnis von der unentwirrbaren Verflechtung von Machtapparat und Kunstfreiheit“ und damit „die Arbeit der Stasi zu einem exemplarischen Fall des kulturellen Gedächtnisses“ (ebd., S. 129). Dem stehen jedoch diametral entgegengesetzte Einschätzungen von Zeitzeugen gegenüber. Unter der Überschrift „Kunst versus Dummheit – Aufruf zum Filmboykott“ finden sich in einem Leserbrief zum erwähnten Artikel in Zeit Online folgende per Mail übermittelte Aussagen von „MFalcke“ (2006), die hier für einen wissenschaftlichen Artikel in einer ungewöhnlichen Länge (unkorrigiert) zitiert werden sollen, da es angesichts der Thematik unangemessen erscheint, lediglich auf einzelne Passagen zurückzugreifen, den Gesamttext in einen Anhang zu verbannen oder es nach isolierten Kernaussagen bei einem Verweis auf die Quelle zu belassen: Ja, Film kann man das Ganze noch nennen. Schliesslich darf jeder für das Kino produzieren – wenn er die Finanzierung zusammenbringt. Ja, mir ist wichtig das Jeder seine Meinung auch künstlerisch ausdrücken darf. NEIN: eine Diktatur darf man jedoch NICHT verfälscht und mit einem versöhnlichen Mäntelchen umkleidet darstellen – besonders wenn der blutige Geschmack und der Horror noch nicht einmal Geschichte ist! Als ob zehntausende Opfer der Stasi und der Repression der SED-Diktatur nicht noch leben würden und wahrhafter bezeugen können WIE die Zersetzung des ‚Schild und Schwert der Partei‘ wirklich funktionierte. Da ich selbst knappe 3 Jahre meines Lebens hinter dicken Mauern der Stasi-Haftanstalten und Gefängnisse verbringen musste, freut mich jeder ernsthafte Versuch die DDR als das darzustellen was sie war: ein miefige Diktatur Deutschen Ungeists. Erst die braune Kacke und dann die blutrote Knute im Namen des Kommunismus der doch dem Menschen diene: beides widert mich an. Statt einem sehenswerten Film bekam ich einen – vielleicht im Kern noch gut gemeinten – Plot vorgesetzt, der in jeder Hinsicht vor Unfähigkeit und vor Falschheit nur so strotzte. Es verging keine Minute in der das inhaltliche Totalversagen nicht ablesbar war. In einer Mischung aus dokumentativer Kamera und eher literaturtypischer Sprache, gaukelt der Autor/Regisseur dem Publikum eine Stasi vor die es so nie gab. Man lässt den Stasiprotagonisten sämtliche Verfolgungsmassnahmen selbst machen und darstellen: er hört ab, er beschattet, er tritt als Vernehmer im Verhör auf und er fühlt sich immer mehr

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seinen Opfern zugeneigt. Das ganze wird garniert mit possenhaften Bildern über die Arbeitsweise der Stasi. So dringt man ohne Absicherung in die Wohnung des ‚Feindobjekts‘ ein (ja, so nannte man beobachtete Menschen im Jargon des MfS), baut unterm Dach des Deliquenten gleich noch eine Abhörstation ein und lässt sich dort zum täglichen Dienst nieder. So richtig heimelig und unauffällig das Ganze. Oder man lässt die Stasi zur offiziellen Wohnungsdurchsuchung antreten und hört dann so Sätze wie ‚Genosse Meier und Schulze durchsuchen die Küche, Genosse Schmidt und Hoffmann das Bad‘. Nomen est omen! Ein schwatzhafter Geheimdienst in einem schwatzhaften Film . . . Was für den einen oder anderen als Erbsenzählerei anmuten dürfte ist für Menschen, die bis zum erbrechen durch derartige konspirative Methoden geschädigt wurden, keine Lappalie. So aber entsteht ein Bild der Stasi das einen unprofessionellen und kaum von offiziell tätigen ‚Ordnungskräften‘ unterscheidbaren Eindruck abgibt. Das war nicht die Absicht des Films aber es wird das Ergebnis sein. Ein trottelig ungeheimer Geheimdienst der in seinen Reihen echte Helden verbarg. Neben den dutzendfachen dümmlichen Darstellungen des Geheimdienstapparats der DDR macht das Ende des Films meine Empörung so stark das ich darüber öffentlich schreiben möchte: denn eine Hauptaussage des Films ist einem Täter gewidmet der zum Helfer der Opfer wurde. Der Zuschauer bekommt eingetrichtert: Ein hoher Offizier der Stasi half den Opfern der Stasi. Der Film endet somit auch mit einer Szene, in der der Stasitäter Dank und Ruhm für seine Taten bekommt: ihm wird ein Buch gewidmet. Ich widme diesen Beitrag meinem Boykottaufruf: sparen Sie sich den Film und besuchen Sie lieber die Gedenkstätte Hohenschönhausen in Berlin (oder http://www.stasiop fer.de). Dort erfahren die Besucher durch ehemalige politische Häftlinge wie die Verfolgung durch das MfS tatsächlich war. Der Besuch kostet nichts ist aber nicht umsonst . . . [unkorrigiert].

Dem fiktiven Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler, dem von allen Zuschauern als Helden wahrgenommenen Protagonisten in DAS LEBEN DER ANDEREN, wurde im Film ein Buch gewidmet, was zur berührenden und rührseligen Schlussszene führt. Der offensichtlich prekär Beschäftigte, der eher zufällig beim Vorbeilaufen von der Buchveröffentlichung Kenntnis nimmt und dann im Buchladen die ihm darin gewidmete Danksagung entdeckt, antwortet auf die Frage, ob das Buch als Geschenk eingepackt werden soll, mit dem theatralischen – und sicherlich auch den Erfolg des Films ausmachenden – Satz: „Nein, das ist für mich.“ (TC 2:06:36–2:06:37)1 Die Innensicht eines/einer offensichtlich direkt Betroffenen verdeutlicht, wie eigene Erlebnisse den Blickwinkel auf den Film verändern können. Gerade auch die Diskrepanz zwischen den positiven Wertungen von Gauck und Biermann sowie der Fundamentalkritik in der ausführlich zitierten Lesermail vermag zu veranschaulichen, warum auch die Rezeption des Films letztlich insgesamt sehr

1 DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie: Florian Henckel von Donnersmarck. TC: Zeitangaben nach der DVD: Buena Vista Home Entertainment, 2008.

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unterschiedlich ausfiel: Den positiven Einschätzungen steht folgende Wertung gegenüber: Unter dem Titel „Die meistüberschätzten Filme aller Zeiten“ heißt es: „DAS LEBEN DER ANDEREN ist die Mutter aller kitschig-verklärender Historienfilme, die es sich zum Ziel gesetzt haben, einen Schlussstrich unter Episoden der deutschen Geschichte zu setzen.“ (Vetter 2019, S. 1) Und der Autor dieses Artikels mutmaßt, dass es tatsächlich einen guten Grund gegeben haben könne, warum der Film nicht für die Berlinale 2006 zugelassen wurde. Suchsland formuliert unmissverständlich klar: „Geschichtspolitisch ist dies einmal mehr ein Film, der mit ästhetischen Mitteln an der Bildung einer deutschen Opfergemeinschaft schmiedet.“ (Suchsland 2006) In eine ähnliche Richtung wie die des ausführlich zitierten anonymen Leserbriefs geht die ebenfalls fundamentale und generell auf das Filmschaffen ausgeweitete Kritik des Bürgerrechtlers und Zeitzeugen Werner Schulz: So hat der große Lauschangriff der Firma ‚Horch und Guck‘ nicht funktioniert. Doch der gravierendste Fehler des Films besteht darin, dass es einen solchen Stasi-Offizier, der unter Lebensgefahr einen Dissidenten rettet, nicht gab und im System begründet liegt, warum es ihn nie geben konnte. Stauffenberg, Harnack, Sophie Scholl sind keine Erfindungen. Steven Spielberg wäre weltweit zerpflückt worden, hätte er sich Oskar Schindler und dessen Liste ausgedacht. Roman Polanski wäre es mit dem PIANISTEN ähnlich ergangen. Mit der DDR-Geschichte kann man offenbar losgelöst von historischer Authentizität frei und phantasievoll umgehen. Da wird aus einem harten Hund, einem Spezialisten für Verhörmethoden und Stasi-Dozenten, plötzlich ein Dissidentenbeschützer. (Schulz 2007)

Und genau die Läuterung des fiktiven Stasi-Hauptmanns Wiesler ist es, woran sich in erster Linie die Geister scheiden: seine Metamorphose vom knallharten Stasi-Protagonisten, der eingangs seine perfiden und unmenschlichen bis zur Folter reichenden Methoden eindrucksvoll offenbart, zu einem das System untergrabenden ‚Gut-Menschen‘, der zugleich zum tragischen Helden wird, indem er den von ihm zu überwachenden Schriftsteller schützt. Gilt den Einen diese Figur als ein Beleg für eine tiefgehende historische Unkorrektheit und damit gegebene theatralische Überhöhung des Films, ist sie für die Anderen das entscheidende emotionale Moment des Films, welches den Film erst zu dem überaus erfolgreichen und Oscar-preisgekrönten Film gemacht hat, der er ist. In DAS LEBEN DER ANDEREN dürfen die Zuschauer sinnbildlich nicht nur miterleben, wie aus einem zunächst staatstragenden Dramatiker ein systemkritischer und konspirativ handelnder Schriftsteller wird, sondern als Zuschauer dürfen wir auch mitvollziehen, wie ein Täter durch sein schrittweise immer menschlicheres Handeln in gewisser Weise von seiner Schuld entlastet wird. Genau diese Schuld wird in einem neueren Film zur DDR, GUNDERMANN (2018), in den Mittelpunkt gestellt, was zwölf Jahre nach dem Erscheinen von DAS LEBEN DER ANDEREN noch einmal ein wenn nicht anderes, so aber doch erweiterndes Licht auf den Film wirft.

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Der Historiker Sabrow betont mit Verweis auf DAS LEBEN DER ANDEREN in dem umfassenden Band zu Erinnerungsorten der DDR die „zunehmende Ikonisierung der Stasi in der heutigen Erinnerungswelt“ (Sabrow 2009, S. 107). Er hebt dabei „die graue, kalte Sicherheitsbürokratie, die Rundumüberwachung und psychologische Perfidie, die Konfrontation der Zyniker und Ideologen mit der Szene der kritischen Künstler“ (ebd.) hervor. Zudem konstatiert er, dass die im Film gezeigten und zur Überwachung und Verfolgung eingesetzten Geruchsprobentücher „Symbol für die akribische Durchdringung persönlicher Intimität“ seien und heute in „nahezu jeder künstlerischen Verarbeitung“ zum Thema zu finden wären (ebd.). Abschließend kommt Sabrow zu folgendem Urteil: „Auch in seinen dramaturgischen Irrealitäten und weißen Flecken gibt der Film ein Abbild des Erinnerungsortes Stasi. Dies gilt für die Hauptfigur des grüblerischen, hoch reflektierten Stasi-Offiziers (den es so nie gab), aber noch mehr für die fast völlige Abwesenheit der gewöhnlichen Bevölkerung in der Handlung.“ (Ebd.) Und Sabrow weist außerdem zu Recht darauf hin, auch dieser Film trage dazu bei, dass sich „Film- und Fernsehbilder [. . .] so nach und nach über die persönlichen Erinnerungen [schieben]“ (ebd.). Diese Feststellung gilt natürlich umso mehr für Menschen, die gar keine persönliche Erinnerung an die DDR haben (können). Für sie sind – neben Dokumentaraufnahmen – Bilder aus Spielfilmen die Bilder, die man überhaupt nur kennen kann. Wie auch immer man DAS LEBEN DER ANDEREN abschließend beurteilen wird, muss jedoch unbestritten bleiben, dass der Film Nachwirkungen hat, die bis in die Gegenwart reichen. Diese Nachhaltigkeit ist nicht nur der Bildsprache, der in vielerlei Hinsicht potenziell berührenden Thematik oder der Tatsache geschuldet, dass diesem Film nach den humorvollen Darstellungen der DDR in SONNENALLEE und GOOD BYE, LENIN! eine realitätsnahe Authentizität und ernsthafte Auseinandersetzung mit der Stasi-Unterdrückung bescheinigt wurde. Die nachhaltige Wirksamkeit ist auch nicht nur mit dem beeindruckenden internationalen Erfolg des Films (vor allem in Frankreich, Polen und den USA) und der damit verbundenen Rückwirkung auf Deutschland zu erklären, sondern seine immer noch anhaltende Wirkmächtigkeit ist auch auf die überaus schnelle Übernahme des Films in schulische und außerschulische Unterrichtskontexte zurückzuführen. Bereits kurz nach dem Kinostart des Films stellte die Bundeszentrale für politische Bildung ein Filmheft zur Verfügung, in dem nicht nur den Film selbst perspektivenreich dokumentiert und thematisiert wird, sondern in dem zusätzliche Hintergrundinformationen und vor allem Unterrichtsvorschläge für verschiedene Fächer mit Arbeitsblättern zur Verfügung gestellt wurden. Diese Informationen werden auch im Ausland – vor von deutschen Lehrkräften – sehr schnell rezipiert und nach entsprechenden Adaptionen auch eingesetzt.

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Zum Einsatz von DAS LEBEN DER ANDEREN im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Angesichts der Tatsache, dass der Film mit einer Länge von 137 Minuten deutlich mehr als zwei Stunden reine Vorführzeit benötigt, ist der Filmeinsatz im in der Regel zeitlich getakteten Fremdsprachenunterricht nur in bestimmten Kontexten geeignet. Auch wenn der Film von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ab 12 Jahren freigegeben ist, dürfte der Einsatz im Sprachunterricht alleine schon wegen des notwendigen Sprachniveaus und zudem wegen des nötigen Hintergrundwissens erst in einem höheren Alter möglich und sinnvoll sein. Damit entfallen sehr viele Unterrichtssituationen, in denen im Zielsprachenland Deutsch erlernt wird. In Integrationskursen, in denen die Thematik aufgrund der inhaltlichen curricularen Modulvorgaben sehr gut in die inzwischen einhundertstündige Orientierungskurseinheit passen würde, dürfte angesichts der erzwungenen Fokussierung auf den für die Einbürgerung wichtigen Abschlusstest, des oft nicht ausreichenden Sprachniveaus der Teilnehmer*innen sowie der organisatorischen und auch rechtlichen Schwierigkeiten ein Einsatz des Films eher nicht in Frage kommen. In öffentlichen Schulen wird der Film vor allem in Deutsch- und Geschichtskursen sicherlich weiterhin eingesetzt, wobei dabei nur bedingt auf die besondere Situation von Schüler*innen mit nichtdeutscher Muttersprache eingegangen werden dürfte, da der Film erst für höhere Klassenstufen geeignet ist, in der der Spracherwerb kaum noch eine vordergründige Rolle spielt. Im Ausland wurde, wie eingangs erwähnt, der Film allerdings häufig eingesetzt und Spuren im Internet deuten darauf hin, dass das auch weiterhin so ist. Zum pädagogischen Einsatz des Films, und das mit Blick auf den deutschen schulischen Kontext, formuliert Erhart sehr deutlich, „dass einerseits die DDR in den Filmbildern von DAS LEBEN DER ANDEREN in eindringlicher Präsenz greifbar bleibt, dass andererseits der dazugehörige gesellschaftlich-historische Kontext mit wachsender zeitlicher Distanz verblasst.“ (Erhart 2014, S. 76) Diese Aussage gilt erst recht für den Filmeinsatz im Ausland, wenn man bedenkt, dass dort die deutsche Geschichte oft nur ein Randthema in den schulischen Curricula ist. Deswegen dürfen uns Aussagen wie folgende nicht mehr überraschen: „Ich hab’ gar nicht gewusst, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg mal zwei deutsche Länder gab (so oder annähernd so von türkischen und spanischen Deutschlernenden geäußert)“ (Koreik 2018, S. 40 f.). Hinzu kommt, dass sich weltweit die Mediennutzung der jüngeren Generationen ändert oder bereits deutlich verändert hat. Statt der Rezeption von Fernsehbeiträgen mit zumindest gelegentlich informativen Beiträgen, findet ein selektiver Medienkonsum im

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Internet statt. Und damit wird nicht unbedingt das Weltwissen erworben, das die nötigen Hintergrundinformationen für ein besseres Verständnis von DAS LEBEN DER ANDEREN bereitstellt. „Filme sind“, so Carl zu DDR-Filmen im DaF-Unterricht, „wie andere Texte auch, aus didaktischer Sicht zuerst daraufhin zu befragen, ob die zu ihrem basalen Verständnis benötigten kulturellen Modelle aus den Bereichen des Welt- und Textwissens bei den Lernenden vorausgesetzt – oder mit realistischen Mitteln hergestellt – werden können“ (Carl 2012, S. 9). Und konkreter bedeutet dies, dass entsprechende „Schemata des Weltwissens, Schemata über Erzählungen, Typen und Genres sowie Wissen über formale Gestaltungselemente von Filmen“ (ebd.) gegeben sein müssen. Alle drei Ebenen sind in der Tat bedeutsam. Allenfalls die Gewichtung wird je nach Film nicht immer gleich ausfallen (können). Ein sinnvoller Einsatz des Films DAS LEBEN DER ANDEREN nach inzwischen zwölf Jahren seines Kinodebüts – und das bestimmt nicht erst jetzt – erfordert folglich eine umfassende vorbereitende und begleitende Arbeit im Unterricht. Dies wird auf der inhaltlichen Ebene umso deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Themenpalette im Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung zur genaueren Erarbeitung und zum besseren Verständnis des Films für Deutsch- und Geschichtskurse an deutschen Schulen vorgeschlagen wird. Das reicht von der Literatur- und Theaterszene – über das Gesellschafts- und Machtsystem bis zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in der DDR bis zum Mauerfall (vgl. Falck 2006, S. 14). Nicht alle der vorgeschlagenen Themen wird man im DaF-Unterricht im Ausland behandeln müssen, um den Film sinnvoll einzusetzen, manche davon aber sind unabdingbar. Die Erkenntnis, wie viel bekannt sein muss, um umfassend verstehen zu können, kann entmutigen, darf aber kein Grund sein, einen erfolgreichen Film – auch im Ausland – nicht einsetzen zu wollen. Erschwerend kommt allerdings hinzu, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Wirkungskraft historische Spielfilme haben. In der Ankündigung zur Bielefelder Ringvorlesung im Sommersemester 2018 mit dem Titel Mauerschau – Die DDR als Film. Beiträge zur Historisierung eines verschwundenen Staates heißt es, prägnant formuliert: Die Prägekraft von (Spiel-)Filmhandlungen übersteigt den Gehalt der Nachrichten, die mit dem Tagesgeschäft verschwinden, um ein Vielfaches, ja sie verdrängt sogar die eigene Erfahrung. Im Kontext kollektiver Erinnerungsprozesse übernehmen Fiktionen, die Zeitgeschichte narrativ aufgreifen, wichtige kulturelle Funktionen, auch und sogar dann, wenn realweltliches Geschehen im Zuge einer Aufbereitung für breite Zuschauerinnen- und Zuschauerkreise verdichtet und zugespitzt wird. Die von entsprechenden Erzählungen tradierten Motive und Themen sind oftmals diskursbestimmend, wenn über die ehemalige Deutsche Demokratische Republik gesprochen und geschrieben wird – unabhängig davon, wie nah oder fern sie sich tatsächlich an der Historie messen lassen können. (Preußer 2018)

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Diese Einschätzung deckt sich exakt mit einer zuvor für den DaF-Bereich veröffentlichten Feststellung: „Und gerade Spielfilme mit gesellschaftspolitischen und historischen Inhalten entfalten eine Wirkmächtigkeit, die dazu führen kann, dass Ereignisse mit zeitlichem Abstand primär aus Filmen erinnert werden und nicht aus Lehrbüchern, Nachrichten oder gar eigenem Erleben“ (Lay et al. 2018b, S. 3). Wie substanziell diese Aussagen sind, verdeutlicht eine empirische Untersuchung zum Thema Geschichtsbilder und Spielfilme (vgl. Sommer 2010), die mit Studierenden des Studiengangs Geschichtswissenschaft an einer deutschen Hochschule durchgeführt wurde. Das zentrale Ergebnis der Studie Geschichtsbilder und Spielfilme lässt sich in folgender, vielleicht schlicht anmutender These ausdrücken: Historische Spielfilme stellen im Horizont der befragten Geschichtsstudierenden [. . .] keine Randerscheinung dar, sondern sind vielmehr ernstzunehmende Konstituenten von Geschichtsbildern. Weiter kann konstatiert werden, dass Perspektive und Wertung eines historischen Ereignisses, die ein Film vorgibt, vom Rezipienten ebenfalls übernommen werden können. (Ebd., S. 257, Hervorhebungen im Original)

Wenn diese Erkenntnis schon für deutsche Studierende des Studiums der Geschichtswissenschaft gelten muss, darf man umso mehr davon ausgehen, dass gerade deutsche Spielfilme mit historischen Inhalten von einer außerordentlich prägenden Kraft für das Geschichtsbild ausländischer Lerner der deutschen Sprache sind. Empirisch erhobene Daten bestätigen dies (vgl. Grupp 2014; Fornoff 2016). Auch für die Geschichte der DDR dürfte gelten, was Harald Welzer für eine andere (deutsche) historische Epoche belegt. In seinem erstmals 2002 publizierten Buch Das kommunikative Gedächtnis konstatiert er, dass mediale Bilder, vor allem die aus Filmen, die kollektive Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust maßgeblich prägen (vgl. Welzer 2011, S. 188–206). Ähnliches dürfte auch für die vergangene Geschichte der DDR gelten. Dieses gilt umso mehr, als folgende Feststellung zutreffend zu sein scheint: „Auch der DDR-Erinnerungsfilm scheint inzwischen dort angekommen, wo der NS-Erinnerungsfilm sich schon eine Weile aufhält: in der Identitätseventkultur, die in erster Linie dramatische, emotional anrührende Geschichten präsentiert, und der die Geschichte nur den – letztlich recht beliebigen – Stoff zuführt.“ (Preußer 2014/15, S. 155) Diese Erkenntnis verdeutlicht zusätzlich sehr klar, wie wichtig ein überlegter methodisch-didaktischer und gut vorbereiteter Umgang beim Einsatz des Films DAS LEBEN DER ANDEREN im Sprachunterricht insbesondere auch im Ausland ist. Angesichts der nun mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Entstehungszeit des Films und der Tatsache, dass der Film eine Zeit aus den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts widerspiegelt, ergibt sich ein weiteres Problem: „Sich von Donners-

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marcks Film heute anzusehen“, stellt James Harding, Professor für Theater und Darstellende Kunst an der University of Maryland, 2017 fest, sei eine „bizarre Erfahrung.“ (Harding 2017) Mit Blick auf die heutigen Möglichkeiten einer umfassenden Datenerhebung mit omnipräsenten Überwachungskameras, mit zahlreichen, den jeweiligen Standort erfassenden GPS-Systemen und Gesichtserkennungsprogrammen, kämen „einem die Überwachungsmethoden in DAS LEBEN DER ANDEREN geradezu possierlich altmodisch vor“ (ebd.). Auch so gesehen bietet der Film genügend Anlass für Diskussionen im Sprachunterricht. Um den Film jedoch als Grundlage für eine landeskundliche Beschäftigung mit der nun schon seit fast dreißig Jahren nicht mehr existierenden – uns aber in der deutschen Gegenwart immer noch beschäftigenden – DDR zu nutzen, müssten im Sprachunterricht (nicht nur) im Ausland unbedingt Vorkenntnisse vermittelt werden, die einerseits ein tiefer gehendes Verstehen des Films ermöglichen, andererseits müssten auch Hintergrundkenntnisse erarbeitet werden, die ein Verständnis der historischen Situation mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart erlauben. Wie vielfältig das zu erarbeitende Spektrum ist, zeigen die angeführten Themen in den Unterrichtsvorschlägen im Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung. Für das Fach Geschichte werden folgende Aspekte genannt: –

Das Gesellschafts- und Machtsystem unter der SED-Herrschaft



ehemaliges Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen



Gesellschaftsgeschichte der DDR



deutsch-deutsche Beziehungen



Amt und Person Erich Honecker



Beziehungen zwischen Kunst und Politik



Politischer Widerstand in der DDR



Von der deutschen Frage zur deutschen Einheit



Wirtschaftliche und soziale Situation der DDR vor dem Mauerfall



40-jähriges Jubiläum der DDR (Falck 2006, S. 14)

Was hier für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen, insbesondere für den Geschichtsleistungskurs an einem Gymnasium, gedacht ist, kann in dieser Ausführlichkeit und zeitlichen Intensität kaum im Auslandskontext in Schule, Hochschule oder außerschulischen Institutionen verwirklicht werden. Und wenn, dann wäre der Ort am ehesten die Universität, in der für ein ganzes Semester die Möglichkeit der thematischen Schwerpunktsetzung gegeben ist, wie es zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust von der Universität Belgrad im Rahmen einer Seminarreihe ausführlich geschildert wird (vgl. Fornoff 2016). Das bedeutet, dass eigentlich für eine wirklich intensive Auseinandersetzung mit dem

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Film, bei der Hintergründe erarbeitet werden, nur Veranstaltungen im Germanistikstudium an einer ausländischen Hochschule infrage kommen. Es wäre zu überlegen, ob nicht sogar auch Themen in den Blick genommen werden müssten, wie sie im Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung für den Unterricht im Fach Deutsch vorgeschlagen werden: –

Literaturszene der DDR (beispielsweise Berlin/Prenzlauer Berg)



Theater in der DDR



Theaterplakate (zum Beispiel bei Jerska: „Die Räuber“)



Bertolt Brecht, Wolf Biermann, politische Lyrik



Bertolt Brecht, „Der gute Mensch von Sezuan“



Figurencharakterisierung und -entwicklung (zum Beispiel Wiesler; Dreyman „Vom Staatskünstler zum Staatsfeind“)



Literaturzensur in der DDR (Falck 2006, S. 14)

Und spätestens hier dürfte klargeworden sein, dass das gesamte potenzielle Themenspektrum – so sinnvoll es für eine intensive Bearbeitung des Films DAS LEBEN DER ANDEREN auch sein mag – in der Regel den Rahmen des Möglichen im DaF-/DaZ-Unterricht sprengt. Und warum sollte auch der nicht mehr existierende Staat DDR derart in den Vordergrund der landeskundlichen oder auch kulturwissenschaftlichen Betrachtung gerückt werden? Das wird wohl lediglich speziellen, thematisch darauf ausgerichteten Seminaren vorbehalten bleiben. Für den ‚normalen‘ Einsatz des Films im Sprachunterricht (vor allem im Aus-, aber auch im Inland) bleibt nur das Plädoyer, dass es einer thematischen Hinführung, einer Verständnissicherung nach Unterbrechungen des Films und einer abschließenden einordnenden Gesamtwürdigung bedarf, um mehr mit dem Film zu erreichen, als eine filmisch umgesetzte narrative Komplexitätsreduktion, bei der sich manche Bilder in das Gedächtnis einbrennen und dann die Aufnahme anderer Informationen sogar beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist die Auswahl der den Filmeinsatz begleitenden Textauswahl von besonderer Bedeutung. Dabei bietet es sich an, nicht nur informierende historische Texte hinzuzuziehen, sondern auch authentische Zeitdokumente, die es ermöglichen, einer „symbolischen Kompetenz“ näher zu kommen, wie es Kramsch eindrucksvoll am Beispiel des Einsatzes einer Passage aus Erich Kästners autobiografischer Erzählung Als ich ein kleiner Junge war (1957), zu der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945, veranschaulicht hat (vgl. Kramsch 2011). Als potenzielles Beispiel sei hier ein Zeugniskommentar aus einer Schule in der DDR aus den 1980er Jahren angeführt (Abb. 13.1):

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Abb. 13.1: Zeugniskommentar zu Michael Heinze, Klassenstufe 4, Schuljahr 1982/83. Anmerkung: Dieses Originaldokument wurde mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Michael Wilding, z. Zt. DAAD-Lektor in Astana. Wilding, der vor 1990 den Nachnamen Heinze trug, schreibt dazu: „Das Zeugnis stammt aus dem Jahr 1982/1983. Klassenstufe 4 (4R1, das R steht für Russisch-Klasse). Die Schule war die 8. POS Edgar Andre in Berlin Friedrichshain.“ Der hier handschriftlich wiedergegebene Text findet sich abgedruckt im Anhang.

Ein offensichtlich aus der Gesamtgruppe der Klasse herausragender Schüler bekommt hier attestiert, dass „er sich unterordnen lernt und sich den richtigen Umgangston im Kollektiv aneignet“. Ein derartiges authentisches Zeitdokument aus dem Alltag aus einer Schule der DDR kann entscheidend dazu beitragen, dass die Rezeption des Films DAS LEBEN DER ANDEREN eine affektive Zugangsweise erfährt, welche die dem Film inhärenten, auch übertragbaren, Deutungsmuster einer jüngeren Lernergruppe zugänglich machen. Man wird bei diesem Originaldokument unweigerlich an eine Wendepunktszene in DAS LEBEN DER ANDEREN erinnert. Ein kleiner Junge, mit einem Ball unter dem Arm, fragt im Fahrstuhl Hauptmann Wiesler: „Bist Du wirklich bei der Stasi?“ (TC 0:52:20; Abb. 13.2) Auf die Rückfrage, ob er überhaupt wisse, was die Stasi sei, antwortet er: „Ja, das sind schlimme Männer, die andere einsperren, sagt mein Papa.“ Die sich direkt anschließende Nachfrage „So, wie heißt denn dein . . . ?“ beendet Wiesler zunächst nicht, um dann nach einer längeren Pause und einer Nachfrage des Jungen den Satz mit dem Wort „Ball“ abzuschließen. „Wie heißt denn dein

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Abb. 13.2: Die Fahrstuhlszene in DAS LEBEN DER ANDEREN.

Ball?“ lautet der dann nachgeschobene vollständige Satz. Diese kurze Szene verdeutlicht die Metamorphose vom linientreuen Stasi-Hauptmann Wiesler zum guten Menschen. Die Fahrstuhlszene folgt direkt auf die Szene, in der er ergriffen, der „Sonate vom Guten Menschen“ lauscht, die der von ihm überwachte Schriftsteller Dreymann nach der Nachricht vom Selbstmord seines Freundes Jerska am Klavier spielt. „Kann jemand“, so Dreymann zu seiner Freundin, „der diese Musik gehört hat, ich meine wirklich gehört hat, noch ein schlechter Mensch sein?“ (TC 0:51:39–0:51:54) Bei allen Überlegungen zum Einsatz des Films DAS LEBEN DER ANDEREN im Sprachunterricht für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache gilt weiterhin folgende zentrale Aussage: „Um Filme unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten, müssen sie als kulturelle Produkte angesehen werden, nicht als Wirklichkeit“ (Horstmann 2010, S. 10). Auch wenn hier viele Probleme benannt wurden, die dem Einsatz des Films DAS LEBEN DER ANDEREN im DaFund DaZ-Unterricht entgegenstehen, dürfte doch auch deutlich geworden sein, welches Potenzial dieser Film auch weiterhin bietet.

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Filmverzeichnis GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Wolfgang Becker, Bernd Lichtenberg. GUNDERMANN (D 2018), Regie: Andreas Dresen, Drehbuch: Laila Stieler. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. LOLA RENNT (D 1998), Regie und Drehbuch: Tom Tykwer. DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI (D/A 2004), Regie: Hans Weingartner, Drehbuch: Katharina Held, Hans Weingartner. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Leander Haußmann, Thomas Brussig.

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Anhang Zeugniskommentar zu Michael Heinze, Schuljahr 1982/83. Klassenstufe 4 (4R1, das R steht für Russisch-Klasse). 8. Polytechnische Oberschule Edgar Andre, Berlin Friedrichshain. „Michael ist ein wißbegieriger Schüler. Er ist sehr belesen und weiß daher oft mehr als seine Mitschüler. Sein anwendungsbereites Wissen beweist er in seiner aktiven Mitarbeit. Michael ist in der Lage, in kurzer Zeit ein großes Arbeitspensum selbständig und richtig zu lösen. Seine zeitweisen Bemühungen

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um eine Verbesserung seines Verhaltens im Unterricht sind anmerkenswert. Meist wirkt Michael aber durch sein impulsives und unruhiges Verhalten störend. Er muß unbedingt disziplinierter werden und gestellte Forderungen der Lehrer besser beachten. Es ist erforderlich, daß er sich unterordnen lernt und sich den richtigen Umgangston im Kollektiv aneignet.“

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„ . . . sich später mal als DDR-Bürger wiedersehen zu können“: Vom ethnografischen zum historiografischen Modus in der dokumentarischen Langzeitstudie DIE KINDER VON GOLZOW (1961–2007) Dokumentarische Langzeitprojekte erweisen sich mit Blick auf die Deutsche Demokratische Republik und auf das, was von ihr blieb, als einzigartige Zugänge. Speziell die Jahrzehnte und ganze Lebensläufe überspannende Chronik DIE KINDER VON GOLZOW (1961–2007) ist als ein Stück Alltagsgeschichte der DDR ein besonders ergiebiger Untersuchungsgegenstand: Ansetzend am Leben ‚ganz normaler Leute‘, begleitete Winfried Junges Filmprojekt die Erstklässler aus dem kleinen Dorf Golzow im Oderbruch, gelegen direkt an der polnischen Grenze und circa eine Autostunde entfernt von Berlin, von der Einschulung im Sommer 1961 bis in das Jahr 2007. In 46 Jahren und über ‚Mauerfall‘ und ‚Wiedervereinigung‘ hinweg entstehen 20 kürzere und lange Einzelfilme (seit 1992 in Co-Regie mit Barbara Junge, die zuvor zuständig für Montage und Archiv war). Sie ergeben zusammen eine Lauflänge von etwa 43 Stunden und machen DIE KINDER VON GOLZOW damit zum umfangreichsten dokumentarischen Langzeitprojekt der Filmgeschichte.1 Es ist vor allem die Langzeitigkeit, die dem Projekt zu seinem dokumentarischen Wert verhilft und die Filmchronik für einen Blick auf (ost-)deutsche Geschichte so wesentlich macht: DIE KINDER VON GOLZOW lässt sich als filmisches Dokument über das Aufwachsen in der DDR lesen, bei dem sich privates und

1 Etwas später, 1964, beginnen in England die Arbeiten an der ähnlich gelagerten SEVEN UPSerie (seit dem zweiten Film aus dem Jahr 1970 kontinuierlich unter der Regie von Michael Apted), die die Geschichten ‚ihrer Kinder‘ in strikten Sieben-Jahres-Intervallen weiterschreibt (vgl. Bruzzi 2007). Anfang Juni 2019 hat der britische Fernsehsender ITV 63 UP ausgestrahlt. Der Untersuchungszeitraum von nunmehr 56 Jahren hat den der Golzow-Chronik überschritten. Die Gesamtlänge der Filme fällt aber weitaus geringer aus. Überblicksdarstellungen zur Genese und Entwicklung der Golzow-Chronik sind, neben Wolf 2004 und 2015: Kilborn 2009; 2010; Lori 2009; Uellenberg 2010; Häußer 2018. Vgl. außerdem Junge 1982; 1995; Byg 2000 und 2001; Alter 2002; Panse 2008; Fischer 2014, S. 163–204. https://doi.org/10.1515/9783110629408-015

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öffentliches Leben gleichermaßen offenbaren: zwei Sphären, die im sozialistischen Selbstverständnis der DDR ohnehin eng verbunden waren. Von Kindesbeinen bis ins Erwachsenenalter, vom Sandkasten unmittelbar vor der Einschulung, wo die Studie ihren Ausgangspunkt nimmt, über Jugendweihe und Ausbildung oder Studium in das Berufsleben hinein, bei der Gründung der eigenen Familien und darüber hinaus, waren die Filmemacher bemüht, bei den ‚Dingen des Lebens‘ dabei zu sein und die Einschätzungen, Vorstellungen, Zukunftsentwürfe ihrer ‚Untersuchungsobjekte‘ abzufragen und zu verzeichnen. Nicht von ungefähr werden solche filmischen Versuchsanordnungen als Langzeitstudien über den Alltag bezeichnet, was sie in die Nähe wissenschaftlicher Langzeit-Untersuchungen aus Ethnografie, Soziologie, Entwicklungspsychologie oder Geschichtswissenschaft rückt und empirische Messbarkeit und Beweiskraft im Sinne der Konservierung und Wiedergabe von Vergangenem suggeriert (vgl. von Keitz 2011): als könne eine dokumentarische Langzeitstudie das Leben der Gefilmten erfassen und dann zeigen, ‚wie es damals wirklich gewesen war‘, eine über die einzelnen Biografien hinausweisende Geschichte der DDR erzählen und damit zugleich als Gegenentwurf oder Korrektiv dienen zu populären Spielfilmen der Post-Wende-Zeit mit ihrem Hang zur ‚Ostalgie‘.

Langzeitstudien und ihr Zugang zur Geschichte Der dokumentarische Wert der Filme liegt kaum in der getreulichen Wiedergabe des ansonsten Nicht-Fassbaren, im Sinne von audiovisuellen Beweisstücken, aus denen sich ein generelles Alltagsbild über das Leben in der DDR formen ließe. Langzeitprojekte wie DIE KINDER VON GOLZOW, so möchten wir es beschreiben, fungieren vielmehr als Dokumente ‚gelebter Geschichte‘, als Teil einer Erfahrungsgeschichte. Als vielschichtige ‚Lebensdauerpräparate‘ bewahren sie und vermitteln, was es heißt, eine Zeit miterlebt zu haben, die sich vor den Augen der Beteiligten mit der sogenannten ‚Wende‘ und der ‚Wiedervereinigung‘ in einen Teil deutscher Geschichte zu verwandeln beginnt. DIE KINDER VON GOLZOW zeugt denn auch nicht von einer allgemeingültigen, übergreifenden ‚Geschichte der DDR‘, sondern ermöglicht, gleichsam bottom-up, einen Zugang zur Geschichte ‚von unten‘ wie ‚von innen‘ (vgl. Petraitis 2016). Dem gesellschaftlichen und politischem Umbruch 1989/90 kommt dabei besondere Bedeutung zu, wie wir darlegen wollen. Anstatt einen retrospektiven Blick von außen zu richten auf das, was war, gibt die jahrzehntelange Beobachtung und Begleitung, die regelmäßige Wiederkehr zum Ort Golzow und seinen Bewohnern, den Blick aus dem Inneren einer

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Gesellschaft auf Geschichte frei, wie sie sich in den alltäglichen Lebenswelten der Golzower und im sich wandelnden Verhältnis zwischen Filmemacher und Protagonist*innen manifestiert.2 Diese spezifische Perspektivierung von Langzeitfilmen führt, wie Richard Kilborn festhält, „weg von den institutionellen und personalisierten ‚Akteuren‘ der Geschichte hin zu jenen, in deren Leben sich Geschichtsprozesse einschreiben, die in der beobachtenden Begleitung eines Lebens als solche sichtbar werden können“ (Kilborn 2009, S. 235). Der Nachvollzug ‚gelebter Geschichte‘ wird maßgeblich befördert von der filmischen Methode der „revisitations“ (Kilborn 2010, S. 4), der stetigen ‚Wieder-Begegnung‘ mit den Menschen und der Konfrontation mit ihren Bildern und Aussagen in früheren Aufnahmen. Kilborn (ebd., S. 26) bezeichnet diese Struktur als „time shuttle“ und sieht in dieser Form der insistierenden Wiederholung und Wiederbegegnung mit der Vergangenheit das zentrale Charakteristikum und besondere Vermögen dokumentarischer Langzeitstudien. Die Wiederbegegnung folgt dabei der Suche nach Relevanz, nach den bestimmenden Momenten biografischer Entwicklung, den Höhepunkten des Lebens wie auch den biografischen Krisenmomenten und Umbrüchen. Stella Bruzzi spricht in ihrem Band über die SEVEN UP-Serie von diesen prägenden Momenten des Lebens als den „golden bits“ (Bruzzi 2007, S. 56), auf die hin das Material durchkämmt werde und zu denen die späteren Filme zurückkehren. Über Rückkehr, Wiederholung, Konfrontation von einst und jetzt legt das Golzow-Projekt über die Jahre in vielen kleinen Momentaufnahmen, in Rückund Ausblicken wertvolle Fragmente vom Leben, Erinnern, Hoffen (und Filmen) in und unter den Bedingungen der DDR offen. Es erzählt ‚von den Rändern der Geschichte‘ her (vgl. Petraitis 2016) von Auf- und Umbrüchen, von Neuanfängen, aber auch von Abbrüchen, von Stagnation und Resignation in fünf Jahrzehnten des Lebens in der DDR und in der Bundesrepublik. Die Verschränkung der so entstehenden Alltagsbilder ermöglicht einen anderen Blick auf die DDR. Gleichzeitig schmiegen sie sich aus heutiger Perspektive an die Bilder einer ‚offiziellen‘ Geschichtsschreibung, die das Bilderreservoir unseres kollektiven Gedächtnisses von der Wendezeit prägen: die zu den Jahrestagen von ‚Mauerfall‘ und ‚Wiedervereinigung‘ beständig wiederholten Bilder von Trabi-Schlangen am geöffneten Grenzübergang Bornholmer Straße; Menschen, die sich glückselig und unter Tränen in den Armen liegen;

2 In der Langzeitstudie kommt der Beziehung zwischen Filmemacher*innen und sozialen Akteur*innen besondere Bedeutung zu, wie Inga Selck (2016) in ihrem Artikel zu Bettina Brauns „Hansaring-Trilogie“ (2004–2011) darlegt.

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Kohl, Brandt und Momper am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus schief die Nationalhymne intonierend; Feiernde Silvester 1989 oben auf der Berliner Mauer.

Anfänge und ethnografischer Modus Das Interesse an der Erforschung des Alltags mit den Mitteln des Films, mit dem Winfried Junge und sein Kameramann Hans Eberhard Leupold3 sich zu Beginn des Projekts den Kindern und ihrem Umfeld nähern, ähnelt den Methoden der Ethnografie.4 Statt der Beobachtung fremder Kulturen und ihrer Rituale fokussiert das Projekt mit den Golzower Kindern auf ‚den eigenen Stamm‘, zuweilen distanziert, zuweilen aus der Nähe, mal beobachtend und mal teilnehmend, mitunter die Filmsituation ausstellend und – seltener – sie reflektierend. Ziel ist, im (vermeintlich) Bekannten etwas wieder oder auch neu zu entdecken, wobei in der Mikroperspektive auf die Schulklasse eines Dorfes nahe der deutsch-polnischen Grenze (der ‚Friedensgrenze‘ im DDR-Sprachgebrauch) immer auch ein gesellschaftliches Makro mitgedacht wird, insofern die gewonnenen Erkenntnisse auf die sozialistische Gemeinschaft zu übertragen sind. Die Erstklässler des Jahres 1961 stehen, und dieser Umstand wird im Kommentar immer wieder betont, für weit mehr als ihr zunächst unspektakulär wirkendes Leben in einem kleinen Gemeinwesen: Vielmehr müssen sie, Jahrgang 1954/55 und damit Kinder der selbst noch jungen DDR, als lebendige Exempel für sozialistische Ideale herhalten. Anhand der Generation, die unmittelbar nach dem Mauerbau im August 1961 eingeschult wurde, sollte sinnfällig demonstriert werden, wie sich die Reifung zum sozialistischen Menschen vollzieht, nun, da mit der Abriegelung der DDR der staatspolitische Rahmen dafür geschaffen war. Regisseur Karl Gass, ‚Vater der Idee‘ und Lehrer Junges, der als Assistent von Gass im DEFA-Studio für populärwissenschaftliche Filme begann, bevor er

3 Leupold folgte 1962 auf Hans Dumke, der beim ersten Film die Kamera geführt hatte. Dumke verstarb im Jahr 1963. 4 Junge selbst stellt später, im Film DREHBUCH: DIE ZEITEN (1993), im Rückblick auf den ersten Golzow-Film WENN ICH ERST ZUR SCHULE GEHʼ . . . (1961) und seinen Kurzfilm DER AFFENSCHRECK (DDR 1961), mit selbstironischem Tonfall die Nähe seines Ansatzes zur Ethologie, genauer zur Affenbeobachtung her: „Kinder und Affen – so sagte man mir damals – das geht immer. Ich machte dann auch gleich noch einen Film über Affen. Für Kinder allerdings.“ (TC 0:24:12– 0:24:22) TC: Zeitangaben nach der DVD: Absolut Medien 2010 (DIE KINDER VON GOLZOW. Alle Filme von 1961–2007, Gesamtausgabe auf 18 DVDs, hier DVD Nr. 5: DREHBUCH: DIE ZEITEN, 1. Teil).

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mit ihm 1961 ins DEFA-Studio für Wochenschau- und Dokumentarfilme in Berlin wechselte, umriss die Zielsetzung des Golzow-Projekts: Das wird das Portrait einer in einer sozialistischen Gesellschaft aufwachsenden Generation: Schule, Lehrer, Lehre, Studium, Beruf, Partnerwahl, Kinder, wieder Schule – Erfolge und Misserfolge, Umwelt und Probleme des Lebensstandards einbegriffen. (Gass 2004, S. 11 f.)5

Die Chronik richtet sich folglich prospektiv aus, auf die Zukunft des Sozialismus und der Menschen, die ihn tragen – so der Auftrag an die Filmemacher (und die Rechtfertigung, mit der die Filmarbeit über all die Jahre unter dem Dach und mit den Mitteln der DEFA und gegen manche Einwände fortgesetzt werden konnte). Der väterlich-freundliche Blick auf die Golzower Schulklasse versteht sich dabei auch als Beziehungsangebot an die Zuschauer. In den (fremden) Kindern lässt sich die eigene Kindheit wiederentdecken: der Schulalltag, die Spiele, die Wünsche, Träume, Vorstellungen, die man hatte, die Regeln, denen man gehorchen musste. Der Abgleich des Fremden mit dem Eigenen, Vertrauten, die implizite Aufforderung, sich in Beziehung zu setzen, ist eines der kommunikativen Angebote des Dokumentarfilms und macht seinen Reiz aus (vgl. Hartmann 2012, S. 172). Nun ist DIE KINDER VON GOLZOW natürlich kein ethnografisches Filmprojekt im engeren Sinne, weil es sich nicht einfügt in eine weiterreichende Forschung, in der es methodisch reflektiert zum Instrument wird. Dennoch ist es aufschlussreich in Hinblick auf Überlegungen zum ethnografischen Modus in einem weiter gefassten Verständnis von Ethnografie, deren forschendes Interesse und beobachtend-registrierenden Ansatz die Filmreihe teilt (vgl. Keifenheim 1995; Ruby 2000). Mit dem ethnografischen Modus rückt nicht zuletzt auch das Verhältnis von Junge und seinen Protagonist*innen in den Fokus, um das es an späterer Stelle noch gehen soll. Mit der ‚Wende‘ verändert sich die Chronik in dieser Hinsicht erkennbar: Der ethnografische Modus, der sich bereits in den 1980er Jahren durch die neu hinzugekommene Form der Porträtfilme – angefangen mit dem mehr als vierstündigen LEBENSLÄUFE – DIE GESCHICHTE DER KINDER VON GOLZOW IN EINZELNEN PORTRÄTS (1980), in den 1990ern dann fortgesetzt in acht biografischen Einzelstudien – zu wandeln begann, weicht mit dem Mauerfall einem primär historiografischen Modus, der den besonderen Zugang des Langzeitprojekts zu reflektieren beginnt.

5 Auch dieses soziologische Interesse verbindet DIE KINDER VON GOLZOW sowohl mit dem britischen SEVEN UP-Projekt wie mit der ähnlich gelagerten schwedischen Langzeitstudie über DIE KINDER VON JORDBRØ (BARNEN FRAN JORDBRØ, Rainer Hartleb, Schweden 1972–2006). Alle drei Projekte beginnen in der Grundschulzeit und zielen auf die Untersuchung der soziodemografischen Bedingtheit von Bildungsbiografien.

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Der Umbruch, der von den Golzowern wie von den Filmemachern als gesellschaftliche wie lebensgeschichtliche Krisensituation wahrgenommen wird, eröffnet letzteren zugleich eine neue Sicht auf die dokumentarische Arbeit: Mit dem Ende der DDR werden sie der einzigartigen Perspektive gewahr, welche die Langzeitstudie auf die deutsche Geschichte anbietet. Dieses Wissen um die eigene Bedeutung als Dokumentarist führt für Winfried Junge konsequenterweise, begünstigt durch den Wegfall der DEFA-Produktionsstrukturen und damit auch der Restriktionen, denen das Projekt unterworfen war (zugleich aber auch der gesicherten Arbeitsbedingungen durch Festanstellung bei der DEFA), zu einer sich und das Projekt befragenden, stärker selbstreflexiven Form (vgl. Richter 1993; Hecht 2000, S. 243). Davon zeugt der erste Film, der nach ‚Wende‘ und ‚Wiedervereinigung‘ und zum 30. Jahrestag der Chronik entsteht und sich mit dem sperrigen Titel DREHBUCH: DIE ZEITEN. DREI JAHRZEHNTE MIT DEN KINDERN VON GOLZOW UND DER DEFA – EIN FILM ÜBER EINEN FILM (D 1993) wie mit der schieren Laufzeit von vier Stunden und 44 Minuten, dargeboten in drei Teilen, als Meta-Film und Schüsselwerk zu verstehen gibt.

Umbrüche und historiografischer Modus In DREHBUCH: DIE ZEITEN wird über die genannten Veränderungen hinaus vor allem eine Reflexion über die historische Bedeutung der Chronik erkennbar. Die Protagonist*innen vor der Kamera werden von nun an dezidiert zu historischen Subjekten, zu Akteuren einer Geschichtsschreibung, die dazu angehalten sind, ihre eigenen Positionen angesichts der historischen Umwälzungen zu hinterfragen und in diesem und den folgenden Filmen direkt zu thematisieren. Bereits die Eröffnungssequenz von DREHBUCH: DIE ZEITEN gibt einen Eindruck, was der historische Umbruch, das Ende der DDR, für das Projekt bedeutet. Der Film beginnt mit nächtlichen Bildern eines Feuerwerks, auf die sich die Stimme von Winfried Junge legt: „Dieser Film wird einen Kommentar haben. Ich weiß, das könnte ihn Sympathien kosten“, konstatiert er programmatisch und setzt damit den Ton des filmischen Unterfangens (TC 0:00:14–0:00:20). Der Film ist durchzogen von Junges räsonierender, reflektierender und wertender Off-Stimme, welche die bisherige Chronik kritisch hinterfragt und neu bewertet und sich insbesondere gegen den fremdbestimmten, manipulativen Kommentar aus DDR-Zeiten (zumeist von Sprechern der DEFA) zu positionieren versucht. Dabei hatte sich Junge über die Jahre, vor allem im (mitunter gezwungen wirkenden) Gespräch mit den Golzowern und mit verschiedengradiger Vehemenz, als strukturierende, zuweilen provozierende und oft auch als übergeordnete erzählerische, ideologisch aufgeladene Kraft in das Projekt eingeschrieben und sich als freundlich lenkende Autorität

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auch im Leben der Kinder zur Geltung gebracht – eine stets spür- und hörbare Präsenz, die Nora M. Alter (vielleicht etwas zu wohlwollend) als „partisan commentary“ (Alter 2002, S. 201) auffasst. Junge spricht gelegentlich kritisch über seine Methoden – seine Kritik jedoch zielt in erster Linie auf die DDRoder DEFA-Obrigkeit. „Wie anfangen?“, fragt Junge im weiteren Verlauf der Eröffnungssequenz beinahe vorsichtig und gibt selbst die Antwort: „Vielleicht, womit Filme gerne enden, mit Feuerwerk. Feuerwerk ist Höhepunkt und Abschluss.“ (TC 0:00:14– 0:00:33) Freudig ist sein Tonfall dabei kaum, der „Abschluss“ setzt die gedämpfte Note. Der Beginn erzählt dergestalt vom ersten Jahrestag der ‚Wiedervereinigung‘, der von einigen Golzower Kindern – inzwischen erwachsen und mit ihren Ehepartnern zu sehen – auf einem von der Filmproduktion organisierten Ausflug nach Hamburg begangen wird. Und er erzählt von Junge selbst: Der Filmemacher ordnet die Bilder in den zeitgeschichtlichen Kontext ein, stellt die Wiedervereinigung als scharfen Einschnitt, als buchstäbliche Wende für alle voran. Zum einen gilt dies natürlich für die Protagonist*innen, die nun in einem für sie fremden Land ein neues Leben beginnen, wie kurz darauf deutlich wird, als der Film sie als suchende Schlenderer inszeniert, das vorsichtige, ja schüchterne Erkundungsverhalten von ‚Ossis‘, wie Junge sie demonstrativ nennt, im Westen zeigt, im bunten Licht der Reeperbahn mit ihren blinkenden Spielautomaten, Sex-Shows und anderen neonbeleuchteten Attraktionen. Zum anderen für das Filmprojekt, das sich völlig neuen Gegebenheiten anpassen und an veränderten Alltagsrealitäten ausrichten muss. Und schließlich für Junge selbst, der seine eigene Position als Filmemacher, sein Verhältnis zum Projekt, seine Beziehung zu den Gefilmten, aber auch zu seinem bisherigen Arbeitgeber kritisch zu befragen beginnt: der DEFA, die von der Treuhandanstalt im Juli 1990 privatisiert und in der Folge zerschlagen wurde.6 Direkter als zuvor schreibt sich der Filmemacher selbst als historisches Subjekt ein in die Chronik. So verbindet er das Feuerwerk zur Feier der Wiedervereinigung mit eigenen Kindheitserinnerungen an die Bombardierung Berlins im Zweiten Weltkrieg: das Feuerwerk als Kriegsgewitter, wahrgenommen als aggressive Geste, als Triumph der Sieger der Geschichte. Dass Junge sich als unterlegen begreift und sich in dieser Enttäuschung eins wähnt mit seinen Adressaten, den Zuschauern aus der DDR, deren Ende hier gefeiert wird, verhehlt er jedenfalls nicht. Etwas später tritt er dann selbst in Erscheinung, als er sich im Sandkasten des Golzower Kindergartens, wo 1961 alles begann, der eigenen Kamera aussetzt (wir kommen darauf zurück).

6 Auswertung und Verleih des Filmbestands der DEFA gehen an die Progress Film Verleih GmbH über; im Januar 1999 wird die DEFA-Stiftung gegründet (vgl. Hecht 2000).

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An das beobachtend-forschende Interesse schließt mit dem Mauerfall eine (selbst-)reflexive, auch performative Auseinandersetzung mit dem eigenen Projekt an. Der ethnografische Modus wird partiell abgelöst durch den historiografischen, der die Bedeutung der Chronik zu thematisieren beginnt, ebenso wie die der sozialen Akteur*innen, die als historische Subjekte daran teilhaben und sich dieser Rolle gleichfalls bewusst sind. DREHBUCH: DIE ZEITEN lässt sich so als eine filmische Zäsur verstehen; für die Chronik ist dieser Film Ende und Neubeginn gleichermaßen. Ein „Film über einen Film“, wie es im Titel heißt, aber auch über das ‚Geschichte-Schreiben‘ dort, wo Zeitgeschichte sich gerade jetzt ereignet, und dabei fragen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, wie es war in der DDR und wie es nun ist und sein wird, in der neuen Bundesrepublik. Bevor wir auf die Wahrnehmung der ‚Wende‘ durch die am Film Beteiligten eingehen, die das Projekt von diesem Punkt an bestimmt, richten wir den Blick zurück und legen dar, wie die Chronik sich als Studie des Lebens in der DDR verstand und wie DREHBUCH: DIE ZEITEN sich zu diesem Auftrag verhält.

In neuem Licht – das Alltagsleben in der DDR DIE KINDER VON GOLZOW wurde als aufwändiges Langzeitprojekt über viele Jahre hinweg von der DEFA finanziert. Als Produktionsstudio formte sie die unter ihrer Aufsicht entstehenden Filme mit, zentrierte als staatlich kontrollierte Institution den Produktionsprozess an einem Ort und stellte die Aufsicht über Filmstoffe und ihre Realisation sicher. Viele Filme entstanden hier als Auftragsarbeiten unter Aufsicht des Kultusministeriums, hatten Auflagen zu befolgen und waren Gegenstand der die Produktion begleitenden wie nachträglichen Zensur.7 Gleichzeitig begünstigten die Strukturen der DEFA durch die Festanstellung von Filmemachern und Technikern die Langzeitigkeit vieler Projekte und sorgten für eine gewisse Tradition solcher Filmreihen in der DDR.8 Aufgabe der dokumentarischen Arbeiten war vor allem in den frühen Jahren die Vermittlung der Ziele des Sozialismus. So sollten auch die Langzeitprojekte ihren Fokus auf exemplarische Ortschaften oder Musterbetriebe richten, 7 Zur Spannung zwischen künstlerischem Anspruch und politischem Auftrag innerhalb des DEFA-Dokumentarfilmstudios vgl. die Selbstauskünfte der Filmemacher*innen im Sammelband von Poss et al. 2012. 8 Neben der GOLZOW-Reihe entstanden der WITTSTOCK-Zyklus (1975–1997, Volker Koepp) über eine Gruppe von Arbeiterinnen in einem Textilkombinat und der MAXHÜTTE-Zyklus über eine junge Arbeiterin im Stahl- und Walzwerk Unterwellenborn (1986–1997, Joachim Tschirner); vgl. Wilke 2012.

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die als Mikrokosmen für ihre Umsetzung standen und im Kleinen den Erfolg des großen Projekts unter Beweis zu stellen hatten. Der Einblick in das Arbeitsleben und den sozialistischen Alltag sollte durch betonte Wirklichkeitsnähe geprägt sein, also möglichst Ästhetisierung und Abstraktion vermeiden – so zumindest die offizielle Vorgabe, die jedoch flexibel ausgelegt werden konnte. DIE KINDER VON GOLZOW entstand 1961 als ein solches Prestigeprojekt, dessen Ziel eine umfassende Chronik über das Leben im sich entwickelnden Sozialismus war, der alle Bereiche durchdringt. In der oben zitierten Ursprungsidee von Karl Gass ist die Langzeitigkeit als Vision mitgedacht: „Schule, Lehrer, Lehre, Studium, Beruf, Partnerwahl, Kinder, wieder Schule“, hieß es dort, womit ein Generationen übergreifender Zeithorizont abgesteckt ist: Bis die Kinder selbst Kinder haben, so lange sollte die Chronik mindestens fortgeführt werden. Die Erwartungen der kulturpolitischen Führung gingen wiederum über Gass’ Konzept hinaus. Ihr Interesse war es, am Beispiel einer ‚goldenen‘, in Friedenszeiten heranwachsenden Generation den Erfolg des Sozialismus zu demonstrieren. Ein Vorhaben, das mit der Idee der Filmemacher, durch den Blick auf das Alltagsleben eine genaue Beobachtung der Verhältnisse zu ermöglichen, kollidieren musste und das Loblied auf den Sozialismus gefährdete. „Filmemachen in der DDR“, konstatiert Wilhelm Roth, „war immer ein Balanceakt zwischen staatlichem Anspruch und künstlerischer Intention“ (Roth 2000, 145). DIE KINDER VON GOLZOW zeugt von eben diesem Balanceakt: als ein Filmprojekt, das bis zum Ende der DDR im Spannungsfeld zwischen diesen Kräften stand und es implizit auch zu einem Dokument über Einflussnahme und Zensur, über Affirmation, aber auch Widerstand der Beteiligten ob der Einwirkung ‚von oben‘ macht. Wertvoll in dieser Hinsicht ist die Chronik vor allem, weil sich in dem gewünschten ‚offiziellen‘ Bild hier und da Risse auftun (vgl. Alter 2002, 206), die den Blick auf eine dahinter verborgene Alltagsrealität der DDR ermöglichen, eine Realität, die etwa in den Bildern des DDR-Fernsehens unsichtbar blieb (vgl. Kilborn 2009, 236). Vorhanden sind diese Diskrepanzen schon in den ersten Filmen des Golzow-Projekts; sichtbar gemacht werden sie aber vor allem durch Revision und Neubewertung nach ‚Mauerfall‘ und Ende der DEFA.

Wiederholung, Revision, Reflexion Ein Beispiel, in dem die Risse gerade aus heutiger Perspektive umso deutlicher hervortreten, bietet eine Passage aus dem vierten Film der Chronik WENN MAN VIERZEHN IST von 1969. Der Film begleitet die nunmehr achte Klasse bei Ausflügen

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nach Weimar ins Goethe-Haus und zur Gedenkstätte des Konzentrationslagers Sachsenhausen in Oranienburg nahe Berlin. Ein Film, der anlässlich des 20. Jahrestags der DDR entstanden und damit schon in seiner Grundanordnung ideologisch aufgeladen ist, wie Junge in einem Interview lange nach der ‚Wende‘ zu bedenken gibt und den staatlichen Einfluss auf das Projekt im Allgemeinen und auf den Filmkommentar im Speziellen offenlegt: „Wenn das, was die Bilder zeigen, schon Sozialismus sei, wäre es gut, das auch zu sagen. Wenn nicht, kann man es im Text immer noch dazu erklären“ (Junge 2004, S. 44). Der Auftrag ideologischer Vermittlung schlägt sich über den Ton deutlich nieder: Die Stimme (die hier nicht die von Junge ist, sondern die eines Sprechers) prägt und strukturiert die Bilder, dramatisierende Musik gibt die Emotionen vor, etwa durch dräuende Klänge während des Besuchs der Gedenkstätte. Die Klasse wiederum erscheint als Kollektiv, sie wird als staunende und aufmerksam zuhörende Gruppe inszeniert und fungiert – wenn die Schüler überhaupt etwas sagen dürfen – als Sprachrohr der Staatsdoktrin. Entsprechend unwohl scheint sich Bernd, eins der Kinder, zu fühlen, als er im Nachgang des Ausflugs auf die Frage Junges, warum er Offizier werden wolle, pflichtbewusst, aber sichtlich angespannt zu Protokoll gibt: „Na, noch ist ja nicht in der ganzen Welt Frieden und Sozialismus“ (TC 0:24:45–0:24:50).9 Was er danach werden wolle, wird er weiter gefragt. „Vielleicht Förster“, schiebt er mit zusammengepressten Lippen nach (TC 0:25:34–0:25:36). Hier ist es der Kontrast zwischen dem vorgetragenen Pflichtbewusstsein und der monotonen Stimme sowie dem ausweichenden Blick, dem offensichtlichen Unwohlsein ob der Vereinnahmung, der die Brüche im beabsichtigten ‚offiziellen‘ Bild andeutet. Vielsagend ist die Sequenz auch, weil sie die Deutungshoheit über deutsche Geschichte so offensiv vertritt. So konstatiert die Off-Stimme zum Besuch des Konzentrationslagers: „Erst mit den Jahren werden sie [die Kinder] ganz begreifen, worin Größe und Niedrigkeit des Menschen bestehen“ (TC 0:24:18– 0:24:24). Eine Antwort oder Reflexion darüber, was damit gemeint sein könnte, überlässt der Film dann nur vordergründig den Kindern, wenn wiederum Bernd stellvertretend für alle im Off-Ton seine Eindrücke von der Gedenkstätte schildern darf. Denn über die Montage gibt der Film die historische Lehre vor, verbindet die kulturellen Errungenschaften, für die das Goethe-Haus steht, über den Schnitt mit den Gräueln der Nazizeit, um im Anschluss ikonische Bilder der heroischen sozialistischen Arbeiterschaft und schließlich eines Offiziers der NVA beim Spaziergang mit den Golzower Jungen zwischen Kornfeld und

9 TC: Zeitangaben nach der DVD: Absolut Medien 2010 (DIE KINDER VON GOLZOW. Alle Filme von 1961–2007, Gesamtausgabe auf 18 DVDs, hier DVD Nr. 1: WENN MAN VIERZEHN IST).

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Kampfflugzeug folgen zu lassen. Der Ausflug der Schulklasse wird so zum Anlass für die ‚angemessene‘ Vermittlung deutscher Geschichte. Das durch die insistierende Montage konstruierte Geschichtsverständnis wird mittels des ideologisch aufgeladenen Kommentars fixiert und verstärkt; so konstatiert auch Junge im Rückblick auf WENN MAN VIERZEHN IST: Und der Kommentar, der zu einem besseren Zweck gedacht war, aber seine kritische Funktion nicht wahrnehmen konnte oder wenigstens Problembewusstsein hätte erkennen lassen können, reduzierte sich bei seinen Verallgemeinerungen darauf, die echten wie die behaupteten Errungenschaften der verdämmernden Ära Ulbricht zum 20. Jahrestag der DDR schönzureden. (Junge 2004, S. 42)

Für den rekapitulierenden Meta-Film DREHBUCH: DIE ZEITEN kehrt Junge noch einmal zurück zum Material. DREHBUCH: DIE ZEITEN, aufgeteilt in Kapitel, führt die Passage zu den Aufnahmen von 1969 mit dem Zwischentitel „Die Vierzehnjährigen und Schwierigkeiten mit einem Text“ ein (TC 1:36:16) – Hinweis auf den Versuch einer kritischen Auseinandersetzung, aus dem auch Empathie für die Kinder von damals mitschwingt, die sich dem Druck ausgesetzt sahen, ‚das Richtige‘ (auf-) sagen zu müssen. Die Sequenz, eine Verknüpfung von bereits bekanntem, aber auch seinerzeit nicht verwendetem Filmmaterial, zeigt die angespannten Gesichter der Jugendlichen in der Schule, während ihrer Jugendweihe und beim Einstudieren der Nationalhymne („Auferstanden aus Ruinen . . . “), die dann als Off-Ton über der Kranzniederlegung am Mahnmal des Konzentrationslagers ertönt. Dieses Material wird in der Montage mit Aufnahmen der Klasse vor dem Goethe-SchillerDenkmal in Weimar verwoben, bevor erneut der Besuch eines sozialistischen Industriebetriebs gezeigt wird, der bereits aus dem Film von 1969 bekannt ist. Frappierend, wie anders sich diese Sequenz vor dem Hintergrund des veränderten historischen Kontexts bewerten lässt, obwohl sie nach wie vor der Montagelogik von WENN MAN VIERZEHN IST verpflichtet ist. Denn anders als noch 1969 dient sie im Jahr 1992 nicht mehr der offensiven Konstruktion und Vermittlung deutscher Geschichte im Sinne des sozialistischen Staates. Nunmehr offenbart die filmische Wiederholung – in der Neumontage alten Materials mehr als 30 Jahre später – die Konstruktion; die Montage wird analytisch-aufdeckend genutzt. Entsprechend schließt Junge in einem neuen, ironischen Kommentar, den er nun selbst einspricht, die Sequenz – auf der Bildebene erst glückliche Feldarbeiter, sodann der emsig arbeitende Jürgen als Stellvertreter seiner ‚Klasse‘ bei der Metallbearbeitung: „Die Musik als Bindemittel nutzend und den Hammer nicht weniger schwingend als er, schob der Filmkommentar damals noch einiges nach“ (TC 1:38:46– 1:38:55), um dann den Originalkommentar von 1969 folgen zu lassen – eine bemerkenswerte Wiederbegegnung mit dem Film, in der Junge seinem Werk kritisch-revisionistisch begegnet, die ideologische Indienstnahme seiner Aufnahmen aber

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vor allem dem Originalkommentar von 1969 zuschreibt, den er als fremdbestimmt markiert. Die filmische Revision zielt entsprechend auf die ideologischen, aber auch identitätsstiftenden Grundfesten des sich auflösenden Staates ab, deren Wegfall für die Chronik, die Gefilmten und die Filmemacher eine Leerstelle hinterlässt. Und sie eröffnet gleichzeitig einen neuen Raum für Reflexion, dem sich der Film nun zuwendet: Wie weiter mit der neuen Identität als ‚Ostdeutsche‘ im ‚wiedervereinigten‘ Deutschland?

Historische und biografische Krisenerfahrung Der dokumentarische Wert der Langzeitprojekte aus der DDR erweist sich, wir haben bereits darauf hingewiesen, erst so richtig mit der ‚Wende‘ und dem Ende des sozialistischen deutschen Staats als Schlüsselereignis und Krisenmoment deutscher Geschichte. Mit dem „grundsätzliche[n] Umbruch der gesamten gesellschaftlichen Lebensverhältnisse“ (Richter 1994, S. 20), der sich in die individuellen Biografien der Gefilmten wie der Filmemacher machtvoll einschreibt, erfuhr die Chronik der KINDER VON GOLZOW einen neuen Sinn und historische Bedeutung als Filmdokument einer tiefgreifenden Krisenerfahrung (vgl. Voss 1993, S. 13; Kilborn 2010, S. 159).10 Mit einem Mal stellt sich die Frage nach individueller wie kollektiver Identität, nach Richtung und Sinngebung des eigenen Lebens für alle Beteiligten vehement. Der Zusammenbruch der DDR und der euphemistisch ‚Wiedervereinigung‘ bezeichnete Prozess des Übertritts des DDR-Gebiets in die Bundesrepublik Deutschland, in ein demokratisches Staatswesen und zugleich in ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, bedeutete nicht allein Aufbruch in die erkämpfte ‚Freiheit‘, sondern auch Abschied von manch inneren Freiheiten, vor allem aber von den vormaligen Gewiss- und Sicherheiten: den Verlust der, so Junge, Identität als „wie man so sagte – gelernte DDR-Bürger“ (Junge/Junge 1993, S. 3). Konkret

10 Das gilt vergleichbar für Volker Koepps Filmreihe über DIE MÄDCHEN VON WITTSTOCK wie für Joachim Tschirners weniger bekannte Filme über die Maxhütte Unterwellenborn (vgl. Reinecke 1993; Rentemeister 2009; Petraitis 2016), die wie die GOLZOW-Chronik über das Ende der DDR hinaus weitergeführt werden konnten, weil Interesse der Filmförderung und Verleiher aufgrund ihrer Bedeutung als Dokumente des historischen Umbruchs bestand. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf eine Langzeitstudie, die erst nach der ‚Wende‘, im Jahr 1990 einsetzt und eine Familie aus Zschopau begleitet, die ihr ‚Konsum‘-Geschäft in die Marktwirtschaft führen will: In vier Filmen und über 20 Jahre hinweg zeichnet der Münchner Filmemacher Wolfgang Ettlich den Kampf der Schützes nach; der letzte Film, DIE SCHÜTZES – LEBEN NACH DER WENDE 1990–2010 (D 2011), fasst diesen Weg zusammen.

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führte die Eingliederung der Ostbetriebe in den kapitalistischen Markt, vor allem aber ihre Abwicklung durch die Treuhandanstalt,11 zu Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern und in der Folge zum Verlust der Heimat – nicht allein im ideellen Sinne wie oben geschildert, sondern auch ganz buchstäblich, weil ein Exodus von Arbeitssuchenden in den Westen einsetzte und insbesondere die Jungen und Hochqualifizierten ihrer Heimat den Rücken kehrten.12 Aus heutiger Sicht, 30 Jahre danach, können wir daran teilhaben, wie die Golzower (stellvertretend für die Bürger der DDR) dieser Krise begegnet sind, wie sie sich den Herausforderungen gestellt oder sie trotzig abgewehrt haben, wie sie gestrauchelt sind, sich wieder aufgerappelt und weitergemacht haben. Ihre Nachwende-Biografien werden zu modellhaften Geschichten einer erfolgreichen oder gescheiterten Anpassungsleistung. Aus den heranwachsenden Modellbürgern des sozialistischen Staates zu Beginn der Langzeitstudie werden nunmehr Beispiele sich mehr oder weniger erfolgreich neuorientierender Bundesbürger. Grundsätzlich wären dokumentarische Langzeitstudien zu befragen: Was sind die Parameter erfolgreicher, ge- oder auch missglückter biografischer Verläufe? Welche Maßstäbe werden angelegt? Wer spricht hier das Urteil? Beziehen die Akteure selbst ihr Leben auf soziale Zusammenhänge, übernehmen die Filmemacher diese Aufgabe, oder ist dies dem Zuschauer überantwortet? Sind es tatsächlich „die Zeiten“, die das Drehbuch schreiben, wie es in diesem Falle der Filmtitel vorgibt, oder wird die Erzählung des ‚Lebens der Anderen‘ nicht bestimmten sozialen wie narrativen Mustern und dramaturgischen Anforderungen unterworfen (vgl. Rothwell 2016)? Diese Fragen nach den Deutungsrahmen und der Deutungshoheit seien hier nur aufgeworfen. Wir wollen unsere Überlegungen mit der etwas enger gestellten Frage weiterführen, wie die Krisenerfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs in DREHBUCH: DIE ZEITEN zum Ausdruck gebracht wird, wie sich dadurch nicht allein der Modus des Films verändert, sondern auch die Beziehungen zwischen den Akteuren vor und hinter der Kamera. Nach den Ereignissen in Leipzig und Berlin, die mit dem Fall der Mauer keinen reformierten sozialistischen Staat, sondern das Ende der DDR absehbar werden ließen, und nachdem er seine, wie er ehrlich einräumt, resignative Blockade zu überwinden vermochte, indem er sich an die „Chronistenpflicht“ (Junge/ Junge/Richter 1993, S. 7) gemahnte, suchte Junge mit seinem Filmteam die Golzower auf, in einigen Fällen wissend, in anderen wohl eher unterstellend, dass sie sich ihm und der Kamera mitteilen wollten (vgl. ebd.). 11 Die historische Aufarbeitung der Entscheidungen der Treuhandanstalt beginnt gerade erst; vgl. Böick 2018. 12 Einen Einblick in diese Prozesse liefern z. B. Engler/Hensel 2019. Ostdeutschland wurde, in der Sprache der Soziologie, zu einer „Teil- und Übergangsgesellschaft“ (Kollmorgen 2005).

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Direkt nach dem oben erwähnten Auftakt des Films mit dem Feuerwerk im Hamburger Hafen und im Anschluss an den langen Rolltitel, der die Geschichte des Projekts für das Westpublikum erklärt (und die ‚Kinder‘ erstmals mit Vor- und Nachnamen und damit als erwachsene Menschen und Akteur*innen ihres Lebens vorstellt), geht DREHBUCH: DIE ZEITEN zurück und setzt neu ein mit der Zeit unmittelbar nach Öffnung der Grenze. Die Montage fügt Szenen zusammen, in denen Junge die Golzower im Gespräch um ihre Einschätzung der Lage und ihre Erwartungen für die Zukunft bittet. Die Sequenz sei hier etwas ausführlicher geschildert, weil sie den Grundstein legt für das Interesse der Chronik am Weg der Golzower von diesem Punkt an und ihn zugleich als historische und biografische Zäsur markiert. Den Anfang macht Winfried, Ingenieur für Informationstechnik und Kampfgruppenkommandeur seines Betriebs, mit dem Junge den ersten Besuch ‚drüben‘ re-inszeniert, weil er ihn seinerzeit verpasst hat (wie bereits früher manches, bei dem er gerne dabei gewesen wäre). Kurz nach Grenzöffnung erfordert das noch eine Personenkontrolle an eilig aufgestellten Grenzhäuschen und einen Stempel auf dem Besuchsdokument. Außer Winfried war in dieser Stunde noch der Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika am Schauplatz von Geschichte. Und wäre es nicht so aufhaltsam gewesen, Winfrieds Grenzgang zu filmen, hätte unser Mann den anderen noch zu sehen bekommen. Golzow grüßt den Rest der Welt. (TC 0:07:45–0:08:05)

Solcherart gerahmt von Junges ironisch-süffisantem Kommentar, mit dem er die ‚kleine‘ Geschichte mit der ‚großen‘ zu verschränken weiß und den Film als Geschichtsdokument ausweist, erfolgt Winfrieds Einschätzung vor dem Hintergrund der Mauer. Der DDR räumt er zu diesem Zeitpunkt nurmehr bedingt eine Zukunft ein. Es folgt eine längere Sequenz mit zehn weiteren Golzowern, die Junge auf dem Arbeitsplatz oder, so sie bereits arbeitslos geworden sind, daheim besucht. Unterschnitten sind die Szenen mit Schwarzweißbildern aus der Schulzeit, welche die zeitliche Dimension der Chronik anzeigen und die Kinder von damals in Erinnerung rufen. In der Zusammenschau ergibt sich ein breites Spektrum an Haltungen und Emotionen zwischen Zukunftsangst und vorsichtigem Optimismus, zwischen Enttäuschung und Genugtuung, Lethargie und Befreiung; aber auch eine generelle Staats- und Politikverdrossenheit und die Selbstwahrnehmung als Opfer unabänderlicher Machtverhältnisse wird offenbar. So reagiert etwa Jochen auf die Frage nach ersten Westbesuchen abwehrend, die Gier nach dem Begrüßungsgeld erscheint ihm unwürdig: „Da haste den DDR-Bürger zum Viech werden sehen“ (TC 0:10:00–0:10:04). Besonders hart hat die Zeitenwende Gudrun getroffen. Das Filmteam muss die gelernte Köchin, studierte Staatswissenschaftlerin, Parteigenossin

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und Bürgermeisterin der kleinen Gemeinde Genschmar im Oderbruch zu Hause aufsuchen. Sie hat ihre Stellung verloren, steht vor den Trümmern ihrer Existenz; von den Anfeindungen im Dorf spricht sie nur andeutungsweise. Gudrun zeigt sich „sehr enttäuscht“ über den Lauf der Ereignisse: „An irgendwas glauben kann ich nicht mehr“ (TC 0:12:16–0:12:19). Der Blick richtet sich auf ‚die da oben‘, welche ‚die da unten‘ verraten hätten. Dagegen zeigt sich Bernhard, Chemiefacharbeiter in Schwedt, der Zukunft zugewandt. Im Kreis der Kolleg*innen geht er mit der DDR hart ins Gericht und formuliert den Anspruch an sich selbst, die Kinder „auf Selbständigkeit“ zu erziehen, „dass sie selbstkritisch lernen, Sachen einzuschätzen“ (TC 0:15:53–0:15:58). Die Landmaschinenschlosser Bernhard und Eckhard fürchten um ihren Arbeitsplatz bei der LPG, die Angst vor der Auflösung der Genossenschaft lastet auf ihnen: „Solange wir noch Arbeit haben . . . , aber wenn ditte erst der Fall isʼ, dass wir arbeitslos werden, na denn jute Fuhre“ (TC 0:13:48–0:13:56). Auch die Bauzeichnerin Elke ahnt den Verlust des Arbeitsplatzes. Als alleinerziehende Mutter sind ihre Chancen schlechter als in der DDR. Dass sie alleinstehend ist, begreift sie als ihr Problem und nicht als das eines Kollektivs oder der Gesellschaft – ihre erste Lektion in freier Marktwirtschaft hat sie schnell gelernt. Wenn die Filmemacher die Golzower für diese Interviews bevorzugt am Arbeitsplatz und in ihren Kollektiven aufsuchen, dann liegt in dieser Betonung der Arbeit und der Kollektivität als Grundmodell der sozialistischen Gesellschaft das Wissen um ihr Ende. Im Kapitalismus, dafür steht die Szene mit Elke als vielsagender Abschluss, muss jede*r für sich allein kämpfen. In einer späteren Szene, die Währungsunion ist inzwischen vollzogen, besucht das Filmteam Jürgen bei der Gemüseernte: ein wiederkehrendes Motiv bereits in früheren Filmen. Zeigte sich Junge sonst besorgt ob der zusätzlichen Arbeit nach der Lohnarbeit im Baukollektiv und Jürgen stolz auf seine Leistung und erfreut über den zusätzlichen Verdienst, so entgleist diese Situation nun in einem verzweifelten Wutausbruch darüber, dass die Nachbarn dem holländischen Turbogemüse im Supermarkt den Vorzug vor seinen Gurken und Tomaten geben. Auch Margit Voss verweist auf diese eindrückliche Szene, als Jürgen „seine Enttäuschung über eine Ernte, die keiner mehr wollte, in die Kamera hineingeschrien hat“ (Voss 1993, S. 16). Ungebremst offenbart sich in dieser Situation nicht allein dessen Wut auf das neue System und auf jede Form von Politik, sondern auch eine neue Offenheit, mit der er sagt, was er zu sagen hat und nun auch darf. Der Ausbruch verstört, weil er nicht in das vertraute Bild des wortkargen, kontrollierten Mannes passt; er verblüfft aber auch deshalb, weil Jürgen die Kamera nunmehr selbstbewusst nutzt, um seine Ansichten zu äußern. Diese neue Direktheit und emotionale Unverstelltheit einiger Golzower zeichnen

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die Filme nach dem Umbruch ebenso aus wie das Schweigen, die Resignation, auch die emotionale Abkühlung und Abwehr bei anderen. Auch hier tun sich Risse auf.

„Ästhetik des Vertrauens“ Junge hat seinen dokumentarischen Ansatz wiederholt als „Ästhetik des Vertrauens“ (Junge 1995) bezeichnet; man kann dies auch beschreiben als ethische Selbstverpflichtung und (unausgesprochene) kommunikative Vereinbarung unter Partnern im dokumentarfilmischen Prozess.13 Ohne eine solche Vertrauensbasis ist eine Zusammenarbeit, zumal von solcher Dauer, nicht denkbar, will der Filmemacher nicht den Ausstieg Einzelner und damit die Erosion des Projekts insgesamt riskieren (vgl. Panse 2008, S. 77–79).14 Im Falle der Chronik dürften die Gefilmten gewusst haben, dass sie Junge grundsätzlich vertrauen können, dass er sie schützen und von der Veröffentlichung von kritischen Aussagen absehen werde, die ihnen zum Nachteil gereichen könnten; dass er nicht etwa beabsichtige, ihre Lebensgeschichte der Kritik der Zuschauer auszuliefern (auch wenn sich manche Kinder zurückgesetzt gefühlt haben und Junge nicht verhindern konnte, dass Missgunst gegenüber den vermeintlich begünstigten ,DEFA-Stars‘ im Dorf aufkam). Desungeachtet wirken ihre Äußerungen vor der Kamera immer kontrolliert, und man sieht ihnen an, wie unbehaglich sie sich fühlen, auch (oder gerade) wenn Junge vorgibt, sie quasi privat zu besuchen (anders als die Frauen aus Wittstock bei Volker Koepp, die weitaus forscher auftreten, vgl. Reinecke 1993; Petraitis 2016). In Junges Arbeiten ist die Sympathie für sein Gegenüber stets spürbar, aber auch, dass eben nicht alles gesagt werden konnte trotz der über die Jahre gewachsenen Vertrautheit. Mit zunehmendem Alter dürfte den Heranwachsenden bewusst gewesen sein, dass sie auch als Vehikel einer Staatsideologie dienen sollen, worauf einige mit Verweigerung und beredtem Schweigen reagiert haben. Aufgrund dieser verordneten ideologischen Rolle wird ihnen wie ihrem Chronisten nach der Wende mit Misstrauen begegnet oder doch zumindest eine Stellungnahme erwartet.

13 Vgl. den Themenschwerpunkt „Dokumentarische Ethik“ in Montage AV 25 (2016), Heft 1, insbesondere die Beiträge Selck 2016 und Sanders 2016. 14 Tatsächlich ist gerade das passiert: So hat sich Petra als Zwanzigjährige geweigert, sich weiter filmen zu lassen. Auch Ilona löste sich noch zu DDR-Zeiten vom Projekt, Elke wollte sich nach der Wende erst einmal nicht mehr filmen lassen, Jochen stieg 1998 aus.

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Die Beziehung zwischen Filmern und Gefilmten und die Form und Dynamik ihrer Gespräche verändern sich auch, weil Winfried Junge in DREHBUCH: DIE ZEITEN selbst häufiger vor die Kamera tritt und damit das Gefälle kommunikativer Macht zu mildern sucht. Mit dem Hinweis auf den Verlust auch seines Arbeitsplatzes bei der DEFA reiht er sich ein in ihre Probleme und teilt offen ihre Enttäuschung, Verunsicherung und Sorgen um die Zukunft (vgl. Kilborn 2010, S. 161).15 Unter diesem Eindruck geteilter Erfahrungen wandelt sich das Verhältnis: „Da ist etwas zwischen Filmemacher und Porträtierten entstanden, was nicht so leicht zu definieren ist: Eine verschworene Gemeinschaft vielleicht“, beschreibt es Voss (1993, S. 17). Mit einigen kommt es zu einem Schulterschluss: eine Behauptung von DDR-Identität gegen die Mächte von außen, die diese zu entwerten drohen. Wenn Junge von „Ossis“ spricht, dann formt er trotzig eine Gruppenidentität mit dieser den ‚(Besser-)Wessis‘ entwendeten abschätzigen Etikettierung. Man könnte behaupten: Mit dem Untergang der DDR formt sich eine neue vereinigende DDR-Identität über die zuvor bestehenden politischen, regionalen und (sub-)kulturellen Binnendifferenzierungen hinweg. Beschreiben lässt sich Junges Umgang mit ‚seinen Golzowern‘ auch als Strategie, Nähe herzustellen zum ehemaligen Kollektiv der Schulklasse und um neu zu schenkendes Vertrauen zu werben: Trat Junge in früheren Filmen, bedingt auch durch den Altersunterschied und seinen mitunter aufdringlichen Fragegestus, wie ein ‚Onkel aus der Stadt‘ auf, dann wird er mit zunehmendem Alter der Akteure, vor allem aber mit der Auflösung der DDR zu ‚einem von ihnen‘. Die Solidarisierung innerhalb der Gruppe setzt dem Dokumentaristen Grenzen, wo die „Chronistenpflicht“ ein Weiterfragen geboten hätte, und führt zu einem Schweigekartell. Junges Fragen gerieren sich weniger insistierend, politisch Heikles bleibt ausgespart oder wird umschifft, wie eine Szene vom Juli 1991 exemplarisch zeigen kann, die einen Ausflug Jochens mit der Familie nach Berlin einfängt. Nachdem eine klammernde Montage Stationen aus Jochens Leben versammelt, darunter Aufnahmen aus seiner Dienstzeit als sehr junger Grenzsoldat – Jochen referiert wenig engagiert und stockend vor anderen Jungsoldaten die Geschichte eines Genossen, der sein Leben heldisch für andere hingegeben hat –, wird von diesen Schwarzweiß-Aufnahmen von 1975 zu Jochen in Farbe und im

15 Silke Panse weist darauf hin, dass Junge den für DREHBUCH: DIE ZEITEN gewählten reflexiven Zugang mit dem ursprünglichen Konzept der Chronik ausbalancieren muss, damit sich seine Person und die Auseinandersetzung mit dem Projekt, die ja einen wichtigen Erzählstrang bildet, nicht vor das Porträt der Gruppe und die Biografien der Golzower schieben. Der Film fängt das Leben der Gruppe und die Beziehung zwischen Filmemacher und Gefilmten als einen Teil davon ein (vgl. Panse 2008, S. 80).

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Hier und Heute geschnitten: Im Sonnenschein vor dem Berliner Reichstagsgebäude stehend, erinnert er sich an den holprigen Auftritt, zu dem er vom „Politoffizier“ genötigt wurde. Der wollte sich die Chance, die Filmaufnahmen für propagandistische Zwecke zu nutzen, wohl nicht entgehen lassen. Während die Kamera zunächst eher beiläufig die Kreuze zum Gedenken an die Maueropfer einfängt, steuern Junges Fragen aus dem Off vorsichtig auf das Thema Schießbefehl am „antifaschistischen Schutzwall“ zu, am „Kanten“, wie Jochen den Slang unter den Soldaten erinnert (TC 0:38:12–0:38:22). Er selbst habe nie von der Schusswaffe Gebrauch machen müssen, behauptet er in jovialem Ton gegenüber der Kamera, verwehrt sich aber vehement („finde ich absoluten Mist“) gegen die Strafverfolgung von Grenzsoldaten, die auf Flüchtende geschossen haben. Mit den Worten: „Auf die Kleinen wird es jetzt abgewälzt“, während „die Großen“ nicht belangt würden, bedient er sich eines ähnlichen Opfer-Narrativs wie zuvor Gudrun (TC 0:38:45–0:39:10). Die Montage begegnet dieser Haltung mit Bildern von Menschen, unter ihnen auch Jochen, die auf den Kreuzen die Namen der Mauertoten lesen, und konstruiert damit ein Gegengewicht, eine offene Frage. „Er musste also nie schießen“, beschließt Junges Kommentar die Sequenz, und weiter: „Ich glaube dir, Jochen. Aber du hättest ja wohl gemusst, wenn . . . und hättest du dann . . . ? Ich war nicht Soldat, brauchte es nicht zu werden. Darf nicht urteilen über Konflikte deiner Generation in schwieriger Zeit“, schneidet er dann den angesprochenen Konflikt ab (TC 0:39:11–0:39:28). Die im Raum schwebende Frage schützt Jochen, aber auch den Filmemacher, der Nachdenklichkeit demonstrieren kann, ohne Jochens Biografie zu beschädigen. Die „Ästhetik des Vertrauens“ steht der selbst verordneten Reflexion entgegen. Ähnlich zurückhaltend geht Junge mit sich selbst ins Gericht: Wohl legt er in dieser „unterhaltsamen Werkstattbetrachtung“ (Junge/Junge 1993) über den Werdegang der Chronik die Schwierigkeiten offen, mit denen er und sein Team vor Ort und bei der DEFA zu kämpfen hatten. Er weist hin auf Versuche der Einflussoder Indienstnahme und die zähneknirschend eingegangenen Kompromisse – nimmt dabei aber sich und seine Rolle in dem Projekt, das verschiedenen Herren gehorchen musste, weitgehend aus der historisch-kritischen Untersuchung aus.16 Junge geht es hier um künstlerische Selbstbehauptung und um Rettung

16 Man mag hier zu anderen Bewertungen kommen. Heidemarie Hecht sieht gerade Junge als Gegenbeispiel zur fehlenden Selbstkritik vieler DEFA-Regisseure und ihre Einnahme der Opferrolle: „Die große Ausnahme: Winfried Junge und sein Kameramann Hans-Eberhard Leupold. In ihrem bisher gewaltigsten Golzow-Film DREHBUCH: DIE ZEITEN [. . .] ziehen sie nicht nur Bilanz in Golzow. Sie verstecken ihren Orden nicht und reden nicht von ihrer Akte. Eine sympathische Geste, eine Größe, die beiden nicht leicht gefallen ist“ (2000, S. 243).

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der eigenen Rolle in der Geschichte. Auch die Suche der historischen Subjekte nach ihrer Position in einer neuen Erzählung deutscher Geschichte macht die Chronik zu einem historischen Dokument.

Zurück in den Sandkasten Zum 30. Jahrestag der Chronik, am 28. August 1991, kehrt Junge zurück zum Sandkasten des Kindergartens, wo im Sommer 1961 alles begann – eine Schlüsselszene relativ zu Beginn von DREHBUCH: DIE ZEITEN (Abb. 14.1). Sie etabliert Interesse, Form und Tonlage des Films. Eine neue Generation von Golzower Kindern ist hier ins Spiel vertieft, ein Ball mit dem Aufdruck „DDR“ rollt wie von ungefähr ins Bild, und der Filmemacher entdeckt Ähnlichkeiten zu ‚seinen‘ Kindern, die er hier zum ersten Mal getroffen hatte.

Abb. 14.1: Der Filmemacher am Sandkasten: „Schwierigkeiten mit Gesicht und Gesäß“.

Die Szene ist Signal des ‚Zurück auf Anfang‘ und Beginn der kritischen Rückschau auf das eigene Werk: „Für diesen Film zieht es mich wieder an den Tatort

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zurück und vor die Kamera. Ich weiß, ich werde nun gefilmt. Eine verabredete Beobachtung. Schwierigkeiten mit Gesicht und Gesäß“ (TC 0:24:43–0:24:57), fasst Junges Kommentar mit entwaffnender Ehrlichkeit seine Unbehaglichkeit angesichts seines Vorhabens, nunmehr Zeugnis abzulegen über das, was er seit 30 Jahren in Golzow macht. Er stellt nicht allein den dokumentarischen Ansatz wie nebenher provokativ zur Diskussion („verabredete Beobachtung“, ein Reizwort), sondern eröffnet den kritischen Einblick in die Produktionsgeschichte, der DREHBUCH: DIE ZEITEN durchzieht. Die Rückkehr in den Sandkasten betont aber vor allem den Kreislauf des Lebens im Sinne der Gass’schen Ursprungsidee: „Schule [. . .], wieder Schule“. Die Alternationsmontage der Einschulung von Jürgen im Jahr 1961 und seines Sohnes Matthias, die Junge 1985 gefilmt hatte, erschließt der Kommentar mit „Film ist immer Gegenwart. Diese Gegenwart ist längst auch Vergangenheit“ (TC 0:28:44–0:28:50). Er greift mit diesen poetischen Worten die Klangfarbe der von einer wehmütigen Oboe getragenen Filmmusik auf, welche den Film insgesamt prägt: Kommentar und Musik sorgen für einen melancholischen Grundton angesichts des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit. In einer Besprechung zum Erscheinen der DVD-Edition der Golzow-Filme liest sich das so: „Man muss der Vergänglichkeit ganz tief in den Schlund blicken, dabei erschrocken zuschauen, wie sie Zeit schluckt, Lebenszeit einfach aufisst“ (Hünniger 2010).17 Der Sandkasten wird zugleich zum Symbol eines Identitätsverlustes und empfundener Abwertung: Aus den Bürgern der DDR sind mit dem Einigungsvertrag Bundesbürger geworden, Identitätspolitik qua Gesetz. Von nun an werden sie adressiert als ‚Bürger der ehemaligen DDR‘, als ‚Ostdeutsche‘ oder einfach als ‚Ossis‘, deren Ausbildung und Zeugnisse nicht immer anerkannt werden und die nochmals die Schulbank drücken müssen, um sich auf einem hochkompetitiven Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Ihre Biografien werden einer Revision unterzogen, von anderen mit anderen Maßstäben neu bewertet. Auch viele der Golzower trifft das Filmteam später wieder auf Arbeitsämtern, bei Fortbildungen, Nachschulungen und ABM-Maßnahmen. Die Chronik lässt uns teilhaben an ihren Versuchen, den Kopf oben zu behalten, sie vermittelt einen Eindruck, wie es sich anfühlen mag, wenn die große Geschichte machtvoll in die eigene Lebensgeschichte eindringt und sie auf den Prüfstand stellt.

17 An diesem Universalismus-Anspruch hat Barton Byg (2001) Kritik geübt: Die Betonung des Allgemein-Menschlichen mutet ihm ähnlich ideologisch an wie der humanistische Appell der berühmten „Family of Man“-Fotoausstellung, die Edward Streichen 1951 für das Museum of Modern Art kuratiert hatte und die, so Byg, kulturelle, politische und ökonomische Bedingtheiten vergleichbar einebne.

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Mit „Katastrophenglück“ umreißt Heinz Klunker (1993, S. 26) die Grenzöffnung im Jahr 1989 und die Ereignisse danach, und tatsächlich fasst dieses Oxymoron die ungeheure Ambivalenz, mit der ‚Mauerfall‘ und ‚Wende‘ erlebt und erfahren wurden. Mit Blick auf DREHBUCH: DIE ZEITEN schreibt er weiter: Die DDR versank im Orkus der Geschichte, aber die in der DDR lebten, können sich von ihrer Lebensgeschichte nicht einfach dispensieren. [. . .] Die Golzow-Chronik wäre dazu angetan, die innere Vereinigung einsichtig zu befördern. Es könnte sein, daß sie in der neuen Lage für den westlichen, alten Teil der Bundesrepublik wichtiger wird, als sie für den östlichen, neuen, als er noch DDR hieß, je war. (Ebd.)

30 Jahre nach dem Mauerfall möchte man dieser Einschätzung umso mehr beipflichten. Der Abstand zu den historischen Ereignissen vergrößert nicht allein den Wert der Chronik als Geschichte vom Aufwachsen in der DDR und des gesellschaftlichen Umbruchs als ‚Geschichte von unten‘ und ‚von innen‘. Ihr Wert liegt in der Vermittlung dieser Erfahrung und dem empathischen Nachvollzug. Den Zuschauer*innen aus den ‚alten‘ Bundesländern kann die Geschichte der KINDER VON GOLZOW helfen, die Menschen aus den ‚neuen‘ zu verstehen (vgl. Wunnicke 2017), in deren Biografien sich das Aufwachsen in der DDR nachdrücklich und nicht ausradierbar eingeschrieben hat.

Filmverzeichnis DER AFFENSCHRECK (DDR 1961), Regie und Drehbuch: Winfried Junge. DREHBUCH: DIE ZEITEN. DREI JAHRZEHNTE MIT DEN KINDERN VON GOLZOW UND DER DEFA – EIN FILM ÜBER EINEN FILM (D 1993), Regie: Winfried Junge und Barbara Junge, Mitarbeit: Hans-Eberhard Leupold, Uwe Kant. DIE SCHÜTZES – LEBEN NACH DER WENDE 1990–2010 (D 2011), Regie und Drehbuch (Konzept): Wolfgang Ettlich. WENN ICH ERST ZUR SCHULE GEHʼ . . . (DDR 1961), Regie und Drehbuch (Konzept): Winfried Junge. WENN MAN VIERZEHN IST (DDR 1969), Regie: Winfried Junge, Drehbuch (Konzept): Winfried Junge und Hans-Eberhard Leupold.

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Dominik Orth

Kulisse DDR: Spitzel, Spione und andere Stereotype in der Serie DEUTSCHLAND 83 (2015) „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ – mit diesem Honecker-‚Bonmot‘ versuchte der Sender RTL im Herbst 2015 Zuschauer*innen für das „Serien-Event“ DEUTSCHLAND 83 zu gewinnen.1 Offensichtlich war dies wenig erfolgreich: „Mäßige Quoten trotz Hype“ titelte Spiegel Online zum Auftakt der Serie (Anonymus 2015). Dabei hatte der Mehrteiler zuvor durchaus für Aufsehen gesorgt. Nach erfolgreicher Premiere auf der Berlinale 2015 konnten die acht Folgen – als „erstes deutsches Serienformat überhaupt“, wie die Produktionsfirma UFA Fiction voller Stolz vermeldete2 – in die USA verkauft werden, wo DEUTSCHLAND 83 noch vor dem Start im deutschen Privatfernsehen über die Bildschirme flimmerte. Dort wurde sie gar von Hollywood-Star Tom Hanks entdeckt, der – ohne darum gebeten worden zu sein, im Zuge eines Interviews zu seinem thematisch verwandten Spionagefilm BRIDGE OF SPIES – einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung zu dieser Serie befragte. Der Schauspieler selbst war offensichtlich begeistert, wie seine sprachlich und gestisch artikulierte Meinung zur Güte der Agentenserie zum Ausdruck bringt: „‚Die ist fan-tas-tisch!‘ (Hanks sucht mit den Armen in der Luft rudernd nach adäquaten Worten für seine Begeisterung.)“ (Richter 2015) Auch die Filmkritik jenseits des Atlantiks ließ sich beeindrucken, sogar die New York Times befand, die Serie sei „fresh and enjoyable“ (Genzlinger 2015). Tatsächlich konnte die Produktion 2016 zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen für sich entscheiden: die Goldene Kamera, den Grimme-Preis, den Peabody Award und den International Emmy Award.3 Ebenfalls für den internationalen Erfolg spricht, dass DEUTSCHLAND 83 inzwischen bei Amazon Prime online abrufbar ist, die 2. Staffel unter dem Titel DEUTSCHLAND 86 hatte gar ihre Premiere auf dieser internationalen Streaming-Plattform. Die Serie handelt vom NVA-Soldaten Martin Rauch, der als Offizier Moritz Stamm in die Bundeswehr eingeschleust wird, um die ‚Machenschaften‘ des Westens auszuspionieren, da die DDR einen Atomangriff befürchtet. Im

1 Der Trailer ist abrufbar unter https://bit.ly/2ZoJFf0. Weitere Trailer sind im offiziellen YouTube-Kanal der Produktionsfirma UFA Fiction veröffentlicht worden, dort findet sich auch die Zuschreibung als „Serien-Event“: https://bit.ly/2TZyjsL. 2 https://www.ufa.de/produktionen/deutschland83. 3 Vgl. ebd. https://doi.org/10.1515/9783110629408-016

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Rahmen dieses Settings innerhalb des Kalten Krieges wird „mit Freude am pointierten Klischee vom Leben auf beiden Seiten der Mauer erzählt“ (Voigt 2015), von familiären Intrigen und Tragödien, von Ost-West-Spannungen im Allgemeinen und deutsch-deutschen Konflikten im Besonderen. Dabei entsteht ein fiktionales Konstrukt der Deutschen Demokratischen Republik, das nicht nur von Klischees, sondern ebenso von Stereotypen geprägt ist. Im Folgenden wird es darum gehen, diese in DEUTSCHLAND 83 entworfene DDR aufzuzeigen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Authentizitätsstrategien der Serie und auf der Beantwortung der Frage, welches Funktionspotenzial die überwiegend schematischen Bilder des inzwischen verschwundenen Staates aufweisen. Dabei wird deutlich, dass es in der Serie weniger um den ‚anderen‘ deutschen Staat als vielmehr um das Jahrzehnt geht, in dem die DDR ihrem Ende entgegenging.

Klischees Die DDR war rücksichtlos, technisch rückständig und brachte ihre Bevölkerung um den Genuss von Südfrüchten – unter anderem diese drei Klischees greift DEUTSCHLAND 83 durch tragische sowie komödiantische Elemente auf und tradiert somit tendenziell typische Vorstellungen ‚des Westens‘ über das Leben ‚drüben‘. Die Rücksichtslosigkeit als Handlungsmaxime wird insbesondere an der Figur Lenora Rauch deutlich. Sie ist Martins Tante und bringt ihren Neffen überhaupt erst ins Spiel, als es darum geht, dass ein Bundeswehrsoldat durch eine Marionette der DDR ersetzt werden soll, um die BRD und die Nato auszuspionieren. Martins Vater, HVA-Generalmajor Walter Schweppenstette, von dem Martin nicht weiß, dass es sich um seinen Erzeuger handelt, ist zunächst skeptisch, lässt sich von Lenora aber dennoch überzeugen. Ebenso wie sie stellt also auch er den Staat über die Familie. Schweppenstette bricht seinem Sohn sogar die Finger, damit nicht auffällt, dass Martin – im Gegensatz zum eigentlichen Soldaten Moritz Stamm, den er ja ersetzen soll – gar nicht in der Lage ist, Klavier zu spielen. Lenora geht überdies so weit, ihren Neffen auf und hinter dem Rücken ihrer eigenen, nierenkranken Schwester zu erpressen: Damit Martin weiterhin im Westen als Undercoveragent tätig bleibt, stellt sie ihm ihn Aussicht, seiner Mutter einen Platz auf der Spenderliste der Charité zu verschaffen. Auf seine Frage, was denn passiere, wenn er sich weigern würde, weiterhin zu spionieren, antwortet sie: „Dann bin ich nicht sicher, ob ich deiner Mutter

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helfen kann.“ (Episode 1, TC 0:45:26–0:45:31).4 Sie rechtfertigt sich dabei mit dem Wohl der DDR-Bevölkerung, das über dem Wohl eines Familienmitglieds stünde: „Ich rede davon, dass das Leben von Millionen von DDR-Bürgern bedroht ist. Nicht nur eins.“ (Episode 1, TC 0:45:35–0:45:39) Als tragisches und handlungstragendes Element wird die komplizierte Familienkonstellation innerhalb der Serie genutzt, um die menschenverachtende Rücksichtslosigkeit der agierenden DDR-Verantwortlichen zum Ausdruck zu bringen. Die technische Rückständigkeit hingegen wird in einigen humoristisch anmutenden Szenen dargestellt. Durch ihre Abschottung und das Ost-Embargo ist die DDR nicht in der Lage, technisch mit dem Stand des Westens mitzuhalten; so vermittelt es die serielle Erzählung. In einer entscheidenden Szene, in der es Moritz alias Martin gelingt, einen Safe zu knacken, der wertvolle Informationen enthält, ist der Spion mit einer (damals im Westen handelsüblichen) 5¼-ZollDiskette konfrontiert. Er weiß nichts mit dem „viereckigen Plastikteil mit Loch in der Mitte“ anzufangen, „Floppy Disk“ entziffert er als Aufschrift, spricht das ‚O‘ dabei besonders lang aus (Episode 2, TC 0:35:07–0:35:11), womit auf satirische Weise zusätzlich darauf verwiesen wird, dass Menschen aus der DDR in den 80er Jahren mit den technischen Errungenschaften des Westens offensichtlich heillos überfordert sind. Als die Diskette den Osten erreicht, spitzt die Inszenierung die Unbeholfenheit der Verantwortlichen im Umgang mit dieser Technologie gnadenlos zu. Nicht weniger als 9 Personen umringen und beäugen das harmlose Speichermedium kritisch, offensichtlich unwissend, was nun zu tun sei. Schweppenstette bringt seine Ahnungslosigkeit äußerst plump zum Ausdruck, wodurch die komödiantische Distanz der Serie deutlich wird: „Na was mach’ ich jetzt damit? Soll ich’s mir in den Arsch stecken, oder wie?“ (Episode 3, TC 0:02:20–0:02:24) Ein eigens angeschaffter Computer ist dann nicht einmal in der Lage, das Format der Diskette zu lesen, das Speichermedium passt gar nicht in das Laufwerk; kein Wunder, schließlich handelt es sich nicht um einen IBM-, sondern um einen Robotron-Rechner, der nun einmal nicht in der Lage ist, die standardisierten Datenträger von Personal-Computern des Westens zu lesen. Erst als es Schweppenstettes Handlanger Fritz Hartmann gelingt, einen US-Computer zu beschaffen, ist die Maschine in der Lage, die Diskette überhaupt zu verarbeiten. Erneut wird die Ost-West-Gegenüberstellung humoristisch überspitzt, diesmal auf Dialogebene. Hartmann bringt seine Begeisterung für den technischen Fortschritt des Westens unvermittelt, doch sprachlich angepasst – er verwendet Anglizismen – zum Ausdruck, was sein

4 DEUTSCHLAND 83 (D 2015 ff.), Idee: Anna Winger, Jörg Winger. TC: Zeitangaben nach der Bluray: Universum Film 2015. Disc 1: Episoden 1–3; Disc 2: Episoden 4–6; Disc 3: Episoden 7, 8.

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Vorgesetzter Schweppenstette, als ergebener DDR-Staatsdiener, nicht dulden kann: Auf Hartmanns „Hab’ ich ja jesagt. IBM 5-67. Das is’ echt cool“ folgt ein kurzer Wortwechsel: „Sagen Sie nicht ‚cool‘.“ „Okay.“ „Sagen Sie auch nich’ ‚okay‘.“ (Episode 3, TC 0:28:48–0:28:57) Die Vorenthaltung von Südfrüchten, wie etwa Bananen, darf in dieser klischeeorientierten Produktion naturgemäß nicht fehlen. Wer kennt sie nicht, die „Zonen-Gaby (17) im Glück“, die auf dem Cover der Satirezeitschrift Titanic stolz ihre „erste Banane“, eine wie die Tropenfrucht geschälte Gurke, den Betrachtenden entgegenstreckt.5 In DEUTSCHLAND 83 wird Martin nicht nur mit einer, sondern sehr vielen Bananen und weiteren Südfrüchten konfrontiert. Als er sich auf der Flucht vor der Polizei in einen Supermarkt verirrt, betrachtet er, „völlig schwerelos“, wie passenderweise Peter Schilling mit seinem NDW-Song „Major Tom“ aus den Lautsprechern des Supermarktes das Geschehen gewissermaßen kommentiert (Episode 1, TC 0:17:28–0:18:01), nicht nur die für ihn offensichtlich beeindruckende Fülle an Waren, sondern insbesondere die äußerst umfangreiche Obstabteilung.

Stereotype Figuren und ein klassischer Held Neben solchen Klischees ist die Serie zudem geprägt von zahlreichen äußerst starren und stereotypen Figuren. Diese lassen sich in zwei Gruppen aufteilen, durch die der Ost-/West-Gegensatz zusätzlich verdeutlich wird: Staatsdiener auf der Seite des Ostens und Staatsgegner, die am Westen orientiert sind. Lenora Rauch und Walter Schweppenstette sind, wie bereits aufgezeigt, bereit, ihre eigenen Familienangehörigen für den eigenen Staat zu ‚opfern‘. Schweppenstette verkörpert als stereotyper ‚Stasi-Mann‘ die Machenschaften der Staatssicherheit. Sein Gehilfe Fritz Hartmann ist der typische Befehlsausführer, der Anweisungen nicht hinterfragt und sich seinem Chef unterordnet. Selbstverständlich gibt es auch Personen mit der Lizenz zum Töten, etwa Nina, die ‚Frau fürs Grobe‘, die den eigentlichen Moritz Stamm eiskalt per Kopfschuss im Bahnabteil liquidiert – schließlich muss dieser aus dem Weg geräumt werden, damit Martin seine Rolle einnehmen kann – und häufig dann unvermittelt auftaucht, wenn Gewalt ins Spiel kommt. Weitere Undercover-Agenten haben die Bundesrepublik unterwandert, etwa Oberstleutnant Karl Kramer, der sich das Vertrauen des Vorgesetzten von Martin bei der Bundeswehr erschlichen hat,

5 Das gesamte Heft 11/1989 der Zeitschrift mit besagtem Titelbild ist inzwischen im Netz verfügbar unter https://bit.ly/2Nvwpz3.

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oder auch Tobias Tischbier, der als Zivilist die Universität Bonn infiltriert hat. Schließlich und wenig überraschend gibt es auch eine ‚Inoffizielle Mitarbeiterin‘ der Stasi, die derart überzeugt ist von dem Staat, in dem sie lebt, dass sie bereit ist, freiwillig Geheimnisse ihrer nächsten Mitmenschen auszuplaudern: Annett Schneider, Martins Freundin, wendet sich gegen ihre ‚Schwiegermutter in spe‘, als sie zufällig entdeckt, dass Ingrid Rauch verbotene West-Literatur (mit Orwells 1984 gewissermaßen ebenfalls ein Klischee-Buch der Unterdrückung) liest und gar eine ganze Bibliothek verbotener Werke in ihrem Haus beherbergt. Martins Mutter wiederum fungiert als stereotype Version einer Staatsgegnerin, ebenso der in Annett verliebte Thomas Posimski, der eine „mobile Bibliothek“ mit dem klarem Ziel betreibt, sich gegen den Staat zu wenden, in dem er lebt: „Die Bürger in diesem Land haben das Recht, großartige Bücher zu lesen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Regierung versucht, unsere Vorstellungskraft zu zensieren.“ (Episode 5, TC 0:35:52–0:36:08) Anders als diese starren Figuren agiert Martin/Moritz im Verlauf der Serie; bei ihm handelt es sich um eine dynamische Figur. Zu Beginn wird er noch als strammer und überzeugter Grenzsoldat in die Erzählung eingeführt, dem es Spaß bereitet, Westler zu drangsalieren. Zwei Studenten, die Bücher schmuggeln wollten, hält er eine Predigt, in der seine Überzeugung zum Ausdruck kommt: Das große Privileg des Sozialismus ist die Freiheit, die Freiheit von der Geldgier, die Sie zwei dazu bringt, wegen besserer Geschäfte unsere Gesetze zu brechen. [. . .] Wenn Sie das nächste Mal entscheiden, die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik in die eigenen Hände zu nehmen, dann fragen Sie sich doch mal, wer wird wohl am Ende gewinnen? Ihr geld- und konsumgierigen Kapitalisten oder wir Sozialisten, die an einem Strang ziehen, damit es allen Menschen besser geht. (Episode 1, TC 0:01:49–0:02:28)

Am Ende jedoch wendet er sich gegen die DDR, zumindest gegen deren Annahme, dass die NATO einen atomaren Erstschlag plane. Er hat in seiner Zeit im Westen herausgefunden, dass dieser gar nicht so ‚böse‘ ist, wie es die Stasi gerne hätte. Aus dem uniformierten DDR-Bürger wird am Ende ein mit ‚I love NY‘-T-Shirt bekleideter, vom Westen ‚geläuterter‘ Mensch, dem es schließlich gelingt, einen Atomkrieg zu verhindern. Die Kleidung ist hier Programm und verdeutlicht – New York als zentrales Symbol des Westens – die Wandlung, die Martin als Figur durchlebt hat. Vom Osten bricht er in den Westen auf, verändert dort seine durch Indoktrination verinnerlichte Haltung zur Bundesrepublik, bricht so mit dem Stereotyp des Staatsdieners, das er zu Beginn der Serie verkörpert, passt sich an den Westen an und kehrt als ‚geläuterter‘ Held zurück, um die Katastrophe zu verhindern: eine im Sinne der Dramaturgie klassische Heldenreise. Doch dadurch führt der Bruch mit der stereotypen Figur zu einem

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weiteren Stereotyp: Martin kann als klassischer filmischer Held gelten, den insbesondere das Hollywood-, also das West-Kino, hervorgebracht hat (vgl. Krützen 2017); ein Stereotyp wird durch ein anderes ersetzt. Dieser Wandel wird bereits früh angedeutet. Als der zukünftige Spion eine Party seiner Mutter besucht, auf der auch seine Freundin Annett anwesend ist, setzt er ihr seine Uniform-Mütze auf und überträgt somit symbolisch die Staatsdiener-Funktion auf die spätere IM.

Authentizitätsstrategien In der Serie zielen zahlreiche Darstellungsstrategien auf eine Erhöhung der Authentizität des fiktiven Geschehens. So wird beispielsweise immer wieder dokumentarisches Material, insbesondere Auszüge aus der Tagesschau, in das Seriengeschehen integriert. Oftmals läuft ein Fernseher, in dem Personen der Zeitgeschichte zu sehen sind. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan, sein Verteidigungsminister Caspar Weinberger, selbstverständlich auch Erich Honecker und andere Politiker werden somit zum Teil der Diegese, wodurch eine potenzielle ‚Echtheit‘ des fiktiven Geschehens suggeriert wird. Zudem werden zahlreiche reale politische Ereignisse des Jahres 1983 erwähnt, wodurch ebenfalls eine möglichst große Anbindung an die historische Realität evoziert wird: der Anschlag auf das ‚Maison de France‘ in Berlin etwa, der Abschuss des Korean-Air-Lines-Fluges 007 durch die Sowjetunion oder auch die NATO-Übung ‚Able Archer‘, die zu einem der zentralen Handlungselemente wird, da Martin unmittelbar an den Vorbereitungen beteiligt ist und in Erfahrung bringen kann, dass es sich dabei eben nicht um die Vorbereitungen zu einem Atomkrieg, sondern um eine, wenn auch äußerst aufwändige, Übung handelt. Das Geschehen der Serie ist dadurch explizit an die Realität gekoppelt: Der Plot in DEUTSCHLAND 83 weist zahlreiche Bezüge zur Bundesrepublik, zur DDR, zu den USA und zur NATO auf und situiert sich somit in der Zeitgeschichte. Dazu tragen außerdem sehr viele Bezüge zu weiteren Ereignissen der Zeit bei. Nicht nur die Politik, auch gesellschaftliche und kulturelle Begebenheiten und Phänomene bilden den Rahmen des Geschehens und werden immer wieder in Szene gesetzt. Die Friedensdemonstrationen der Zeit etwa werden mehrfach erwähnt oder in die Handlung integriert. Der Undercoverspion Tischbein beispielsweise ist massiv in die westliche Protestkultur involviert; die Demonstration im Bonner Hofgarten 1983 findet in der Serie ebenso Erwähnung wie ein Pershing-Protest in Mutlangen. Tischbein ist zudem als Homosexueller mit AIDS konfrontiert: Sein Partner hat sich infiziert. DEUTSCHLAND 83 greift am

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Rande die Berichterstattung und die Gerüchte um die Krankheit auf; in einer Schublade liegt eine Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, die es so tatsächlich gegeben hat.6 Darüber hinaus versucht die Serie auch weitere historische Vorkommnisse zu integrieren. So gerät etwa Yvonne, die Tochter des Generalmajors Edel, in die Fänge der Bhagwan-Bewegung. Zentrales Mittel ist außerdem die Musik. Zahlreiche nationale wie internationale Hits der Zeit dienen zur Untermalung. Auffällig ist dabei, dass die Songs oftmals in der Diegese ihren Ursprung haben, gar mit dokumentarischen Materialien integriert werden. So ist auf der bereits erwähnten Party von Martins Mutter Nenas Friedenssong „99 Luftballons“ zu hören und zusätzlich im Fernsehen im Rahmen der TV-Sendung „Rockpalast“ zu sehen. Weitere Songs der Neuen Deutschen Welle, wie das bereits genannte Lied „Major Tom“ oder auch „Keine Heimat“ der Berliner Combo Ideal – mit der zur Serie passenden Zeile „Wer schützt mich vor Amerika?“ –, dienen zur musikalischen Untermalung. Darüber hinaus ist weitere typische Popmusik der 80er Jahre integriert, etwa die britische Band Duran Duran, deren Titel „Hungry Like the Wolf“ als Liebeslied von Martin und der NATO-Sekretärin Linda Seiler fungiert. Die junge Frau wird vom Spion benutzt, um an brisante Informationen zu gelangen und muss nach seiner Enttarnung sterben. „Blue Monday“ der Gruppe New Order wiederum wurde gar zum Titelsong der Serie gekürt. Die Musik ist demnach ein entscheidendes Element von DEUTSCHLAND 83, um den Handlungszeitraum auch auf akustischer Ebene zu beglaubigen.

DEUTSCHLAND 83 und die 80er Die Häufung dieser Strategien führt zu der Frage, worauf sich die geradezu aufdrängende Authentizität bezieht. Dienen diese Signale einer möglichst realistischen Darstellung der DDR, die aber doch – wie dargelegt – äußerst klischeehaft und mit stereotypen Figuren bevölkert zur Darstellung gelangt? Dies lässt sich wohl nicht ernsthaft behaupten, schließlich kann die Handlung, darin ist dem Politikwissenschaftler Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin zuzustimmen, als nicht sehr glaubwürdig gelten: „‚Der Plot der Serie ist natürlich Quatsch‘, resümiert Staadt.“ (Posener 2015) Vielmehr vermischt DEUTSCHLAND 83 typische dramaturgische Muster mit für Agenten- und Spionagethriller genretypischen Elementen und mixt daraus ein Unterhaltungsformat, das zumindest international zu überzeugen wusste. Selbst die lose

6 Es handelt sich um Heft 23 des Jahres 1983 vom 6. Juni mit dem Titel: „Tödliche Seuche AIDS. Die rätselhafte Krankheit“. Vgl. https://bit.ly/2ZffTta.

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Anlehnung an den historisch verbürgten Spion Rainer Rupp alias ‚Topas‘, der wohl Pate für Martin Rauch alias ‚Kolibri‘ (so sein Deckname in der Serie) stand (vgl. Posener 2015; Voigt 2015; auch Pötzl 2008), reicht nicht aus, um dem AchtTeiler den Status eines quasi-dokumentarischen Formats zuzuschreiben. Die DDR, so scheint es, fungiert lediglich als historische Kulisse. Eine kleine, mit gleich zwei Filmfehlern behaftete Szene vermag dies zu verdeutlichen. Während einer längeren Autofahrt mit seinem Bundeswehr-Vorgesetzten Edel hält Moritz an einer Tankstelle an, wo es zu einem kurzen Treffen mit Lenora kommt, während der Generalmajor die Toilette aufsucht. Gerade noch rechtzeitig gelangt Moritz zurück zum Auto, der Zapfhahn steckt noch in der Tanköffnung des Autos, doch wie durch ein Wunder kann das Fahrzeug starten, ohne dass es zu einem kleinen Benzinunglück kommt. In der Totale ist zu sehen, wie der Mercedes wegfährt. In den Blick gerät dabei eine elektronische Preisanzeigentafel, wie sie inzwischen üblich ist, wie es sie zu Zeiten von manuellen Preismasten Anfang der 80er jedoch wohl noch nicht gegeben hat. Diese nur wenige Sekunden dauernde Sequenz entlarvt das Artifizielle der Produktion: So wie die Tankstelle nur – ganz offensichtlich, darauf verweisen die kleinen Fehler – eine Kulisse darstellt, so dienen auch die politischen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bezüge nur als Hintergrund für eine im Grunde genommen austauschbare Spionagestory, die in erster Linie die 80er Jahre repräsentiert, zu der – aus deutscher Perspektive – die DDR nun einmal dazugehört. Mit einem abschließenden Blick auf die Titelsequenz der Serie lässt sich diese These von der DDR als Kulisse untermauern. Zentrales Stilelement ist die Figur Martin/Moritz, die mit nacktem Oberkörper zu sehen ist und mehrfach und in unterschiedlichen Einstellungsgrößen von der Kamera umkreist wird. Auf visueller Ebene werden zahlreiche Bilder auf den Körper projiziert. Beginnend mit dem Brandenburger Tor – dem Symbol der deutschen Teilung – folgen Ronald Reagan, Helmut Kohl gemeinsam mit Erich Honecker, ein Panzer, ein Militärflugzeug, Bilder von Friedensdemonstrationen und Explosionen. Nahezu die gesamte Bandbreite der Authentizitätsstrategien wird hier vereint, zumal dieser auch mit Verzerrungen arbeitende Bilderreigen, wie bereits erwähnt, auf auditiver Ebene von einem der größten Hits der 80er Jahre, nämlich „Blue Monday“, ergänzt wird. Zudem tragen diverse Original-Tonaufnahmen aus der Zeit, wie Wortbeiträge, Nachrichtenbeiträge etc., zur zeitlichen Situierung bei, kulminierend in dem Schriftzug der Serie, die eben nicht zufällig eine Jahreszahl im Titel trägt, welche die Handlungszeit explizit benennt. Die Titelsequenz enthält damit in nuce die zentralen Darstellungsstrategien der gesamten Serie und verdeutlicht, dass es in erster Linie nicht um eine historisch möglichst glaubhafte Darstellung der DDR als verschwundenen Staat geht, sondern dass die DDR nun einmal Teil des Lebensgefühls der 80er Jahre war. Ebenso wie der Körper der Hauptfigur in

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der Titelsequenz, so dient auch die DDR lediglich als Projektionsfläche für die serielle Wiederauferstehung eines Jahrzehnts, das zwar erst 30 Jahre zurückliegt, an das aber aufgrund des umfassenden Wandels in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht qua filmischem Format erinnert wird. Die Serie reiht sich damit ein in zahlreiche Versuche, die 80er Jahre medial ins Gedächtnis zu rufen (vgl. Schmidt 2019). „Man kann das abgedroschen finden“, so die Journalistin Claudia Voigt, „doch für alle, die damals jung waren, die Generation der Babyboomer, ist die Serie eine Zeitreise in die eigenen Erinnerungen.“ (Voigt 2015) Die DDR ist demnach nicht der eigentliche Fokus des Mehrteilers: „Die deutsch-deutsche Vergangenheit wird in dieser Serie nicht als ewig währender Geschichtsunterricht begriffen, sie bildet nur den Ausgangspunkt für die rasante Rahmenhandlung.“ (Ebd.) Im Gegensatz zu den mitunter verklärenden Ostalgie-Erzählungen (vgl. bspw. Grabbe 2014; Ahbe 2016), wie in SONNENALLEE oder GOOD BYE, LENIN!, im Unterschied auch zur Thematisierung des Unrechtsstaates, wie in DAS LEBEN DER ANDEREN, hat sich die Funktion der fiktionalen Darstellung der Deutschen Demokratischen Republik offensichtlich gewandelt. Der verschwundene Staat trägt dazu bei, das Lebensgefühl einer Zeit zu evozieren, die ebenso nicht mehr existiert. Er dient lediglich noch als Kulisse für den Versuch der authentischen Darstellung eines Zeitgeistes. DEUTSCHLAND 83 fungiert nicht als DDR-Ostalgie, sondern als 80er-Jahre-Nostalgie.

Film- und Serienverzeichnis BRIDGE OF SPIES (D/IND/USA 2015, BRIDGE OF SPIES: DER UNTERHÄNDLER), Regie: Steven Spielberg, Drehbuch: Matt Charman, Ethan Coen, Joel Coen. DEUTSCHLAND 83 (D 2015), Idee: Anna Winger, Jörg Winger. DEUTSCHLAND 86 (D 2018), Idee: Anna Winger, Jörg Winger. GOOD BYE, LENIN! (D 2003), Regie: Wolfgang Becker, Drehbuch: Bernd Lichtenberg, Wolfgang Becker. DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie und Drehbuch: Florian Henckel von Donnersmarck. SONNENALLEE (D 1999), Regie: Leander Haußmann, Drehbuch: Thomas Brussig, Detlev Buck, Leander Haußmann.

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Literaturverzeichnis Ahbe, Thomas (2016): Ostalgie. Zu ostdeutschen Erfahrungen und Reaktionen nach dem Umbruch. Berlin: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Anonymus (2015): „Mäßige Quoten trotz Hype“. In: Spiegel Online vom 27.11.2015. https://bit. ly/33MdKoh, letzter Zugriff: 31.07.2019. Genzlinger, Neil (2015): „Review: DEUTSCHLAND 83 Focuses on a Reluctant Cold War Spy“. In: The New York Times vom 15.06.2015. https://nyti.ms/1JTM2qz, letzter Zugriff: 31.07.2019. Grabbe, Katharina (2014): Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin/Boston, MA: De Gruyter. Krützen, Michaela (2017): „Filmdramaturgie. Charlies Reise: Die Dramaturgie des Spielfilms CITIZEN KANE“. In: Tanja Prokíc/Oliver Jahraus (Hg.): Orson Welles’ CITIZEN KANE und die Filmtheorie. Stuttgart: Reclam, S. 142–166. Pötzl, Norbert F. (2008): „Der heiße Draht zum Nato-Rat“. In: Spiegel Online vom 30.07.2008. https://bit.ly/2Zn9RCG, letzter Zugriff: 31.07.2019. Posener, Alan (2015): „Von jetzt an geht Fernsehunterhaltung anders“. In: Welt.de vom 25. 11.2015. https://bit.ly/30BZFaI, letzter Zugriff: 31.07.2019. Richter, Peter (2015): „Mut zur Brücke“. In: Süddeutsche Zeitung.de vom 24.11.2015. https:// sz.de/1.2751940, letzter Zugriff: 31.07.2019. Schmidt, Oliver (2019): „Editorial: Die 80er – Das lange Jahrzehnt“. In: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung (11), S. 1–8. https://bit.ly/2MwbbkM, letzter Zugriff: 31.07.2019. Voigt, Claudia (2015): „Völlig losgelöst“. In: Der Spiegel vom 19.11.2015, S. 152.

Die Autorinnen und Autoren Anne Barnert, Dr., *1974, Freie Mitarbeit Hannah-Arendt-Institut Dresden. anne.barnert@gmail. com. Arbeitsgebiete: DDR-Film, Untergrundkultur, Archivtheorie und- geschichte. Publikationen u. a.: Mit Behutsamkeit. Hans Wintgens Filmbeobachtungen der DDR. Berlin: Verbrecher 2018; Filme für die Zukunft. Die Staatliche Filmdokumentation am Filmarchiv der DDR. Berlin: Neofelis 2015; Die Antifaschismus-Thematik der DEFA. Eine kultur- und filmhistorische Analyse. Marburg: Schüren 2008. Stephen Brockmann, Professor of German, Carnegie Mellon University, Pittsburgh PA 15213, USA. [email protected]. Arbeitsgebiete: Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts. Publikationen u. a.: The Writers’ State: Constructing East German Literature, 1945–1959. Rochester, NY: Camden House 2015; A Critical History of German Film. Rochester, NY: Camden House 2010 [neue, erweiterte Ausgabe 2020]; Nuremberg: The Imaginary Capital Rochester, NY: Camden House 2006. Stephan Brössel, PD Dr., *1981, Germanistisches Institut, Schlossplatz 34, 48143 Münster. [email protected]. Arbeitsgebiete: (Film-)Narratologie, Literatur-, Kultur- und Filmsemiotik, Literaturanthropologie, Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Publikationen: Echtzeit im Film. Konzepte – Wirkungen – Kontexte. Paderborn: Fink 2020 (Hg. zus. mit Susanne Kaul); Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin/Boston, MA: De Gruyter 2014 u. 2017; „Narrative Empuzzlement in Lepageʼs POSSIBLE WORLDS (2000)“. In: Sabine Schlickers/Vera Toro (Hg.): Perturbatory Narration. Narratological Studies on Deception, Paradox and Empuzzlement. Berlin/Boston, MA: De Gruyter 2018, S. 73−90. Walter Erhart, Prof. Dr., *1959, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. [email protected]. Arbeitsgebiete: Deutsche Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Literaturtheorie, Wissenschaftsgeschichte, Reiseliteratur, Gender Studies. Publikationen u. a.: Wolfgang Koeppen. Das Scheitern moderner Literatur. Konstanz: Konstanz University Press 2012; Neil Young. Stuttgart: Reclam 2015; (Hg.): Phantastik und Skepsis. Adelbert von Chamissos Lebens- und Schreibwelten (Chamisso-Studien I). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. Matteo Galli, Prof. Dr., *1960. Ord. Prof. für Neuere Deutsche Literatur in Ferrara/Italien. [email protected]. Zahlreiche Publikationen über deutsche Literatur (18. bis. 21. Jahrhundert) und über Film (zwei Monografien über Edgar Reitz [2006] und über Wim Wenders [2015]). Neuere Publikation: A morte Venezia e altri saggi sul cinema. Milano-Udine: Mimesis 2018. Britta Hartmann, Prof. Dr., *1966, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Abteilung Medienwissenschaft, Lennéstr. 1, 53113 Bonn. [email protected]. Arbeitsgebiete: Geschichte, Theorie und Ästhetik des Films, dokumentarische Formen, Langzeitdokumentarfilm, Videoaktivismus. Publikationen u. a.: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Marburg: Schüren 2009; zus. mit Christine N. Brinckmann und Ludger Kaczmarek (Hg.): Motive des Films. Ein kasuistischer Fischzug. Marburg: Schüren 2012; zus. mit Jens Eder und Chris Tedjasukmana: Bewegungsbilder. Politische Videos im Social Web. Berlin: Bertz + Fischer 2020 (in Vorb.). https://doi.org/10.1515/9783110629408-017

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Die Autorinnen und Autoren

Ingo Irsigler, Dr., *1976, Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstraße 8, 24118 Kiel. [email protected]. Arbeitsgebiete: Zeitgeschichte in Literatur und Film, Gegenwartsliteratur und Literaturbetrieb, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in Literatur und Film. Publikationen u. a.: Überformte Realität: Konstruktionen von Geschichte und Person im westdeutschen Roman der 1950er Jahre. Heidelberg: Winter 2009; Spiel, Satz und Sieg: Zehn Jahre Deutscher Buchpreis (Hg. mit Gerrit Lembke). Berlin: Berlin University Press 2014. Uwe Koreik, Prof. Dr., *1957, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Deutsch als Fremdsprache, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld. [email protected]. Arbeitsgebiete: Landeskunde/Kulturstudien im Fach DaF/DaZ, Testvergleiche, Sprachen- und Fachpolitik, Fachsprachen. Publikationen u. a.: Deutschlandstudien und deutsche Geschichte. Die deutsche Geschichte im Rahmen des Landeskundeunterrichts für Deutsch als Fremdsprache, Baltmannsweiler: Schneider 1995; als Hg.: DSH und TestDaF – eine Vergleichsstudie, Baltmannsweiler: Schneider 2005; „Die Sprachenfrage in internationalen Studiengängen“. In: Stephan Jolie (Hg.): Internationale Studiengänge in den Geistes- und Kulturwissenschaften: Chancen, Perspektiven, Herausforderungen. Bielefeld: Universitätsverlag Webler 2018, S. 95–107. Sabine Moller, Dr., *1971, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. [email protected]. Arbeitsgebiete: Zeit- und Mediengeschichte, Geschichtsdidaktik, Erinnerungs-, Tradierungs- und Rezeptionsforschung. Publikationen u. a.: Zeitgeschichte sehen. Die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer. Berlin: Bertz + Fischer 2018; „Experiencing History in Film. An Empirical Study of the Link between Film Perception and Historical Consciousness“. In: Research in Film and History, Issue 1, 2018 (Online-Journal: https://film-history.org/issues/text/experiencing-history-film); „Entre science historique, critique de la mondalisation et paranoia: lectures transnationales de GOOD BYE, LENIN! et LA VIE DES AUTRES“. In: Hélène Camarade et al. (Hg.): La RDA et la société postsocialiste dans le cinéma allemand après 1989. Lille: Presses universitaires du Septentrion 2018, S. 107–120. Martin Nies, Prof. Dr., *1969, Institut für Sprache, Literatur und Medien, Europa-Universität Flensburg, Auf dem Campus 1, 24943 Flensburg. [email protected]. Webseite: http://www.kultursemiotik.com. Arbeitsgebiete: Kultur- und Mediensemiotik, Raumsemiotik, Narratologie, Intermedialität. Publikationen u. a.: Deutsche Selbstbilder in den Medien, 2 Bde. (Hg.). Marburg: Schüren 2007 u. 2018; Short Cuts: Ein Verfahren zwischen Roman, Film und Serie (Hg. zus. mit Moritz Baßler). Marburg: Schüren 2018; Venedig als Zeichen: Literarische und mediale Bilder der „unwahrscheinlichsten der Städte“ 1787–2013. Marburg: Schüren 2014. Dominik Orth, Dr., *1974, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Fachgruppe Germanistik, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal. [email protected]. Arbeitsgebiete: Literatur- und Filmwissenschaft, Geschichtsreflexionen in Literatur und Film, Erzählforschung. Publikationen u. a.: Einführung in die Literatur der Wiener Moderne (zus. mit Ingo Irsigler). Darmstadt: WBG 2015; Narrative Wirklichkeiten. Eine Typologie pluraler Realitäten in Literatur und Film. Marburg: Schüren 2013; Nach-Wende-Narrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film (Hg. zus. mit Gerhard Jens Lüdeker). Göttingen: V&R Unipress 2010.

Die Autorinnen und Autoren

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Marian Petraitis, M. A., *1987, Seminar für Filmwissenschaft – Universität Zürich, Affolternstrasse 56, CH-8050 Zürich. [email protected]. Arbeitsgebiete: Dokumentarfilmtheorie und -geschichte, Film als Zugang zu Erinnerung und Geschichte, Langzeitdokumentarfilm und neue dokumentarische Formen. Publikationen u. a.: „Modelle filmischen Erinnerns – am Beispiel von Filmen Volker Koepps“. Hannover: Ibidem 2018 (Reihe Film- und Medienwissenschaft); „Am Rande der Geschichte, wie man so sagt“ – Fragmente aus dem wiedervereinigten Deutschland in den Langzeitdokumentarfilmen NEUES IN WITTSTOCK, KATRINS HÜTTE und STAU – JETZT GEHT’S LOS“. In: Montage AV 25 (2016), Heft 2, S. 23–36; „Be Part of History – Documentary Film and Mass Participation in the Age of YouTube“. In: Research in Film and History Nr. 2 (2019), S. 1–26. Sven Pötting, M. A., *1978, Filminitiative Dresden e. V., Böhmische Straße 30, 01099 Dresden, [email protected]. Arbeitsgebiete: Lateinamerikanisches Kino, Kino der „Berliner Schule“, nationaler und internationaler Kurzfilm. Aktuelle Publikation: „Die verborgene Filmgeschichte Argentiniens“. In: Shortfilm.de. Juni 2019. Heinz-Peter Preußer, Prof. Dr., *1962, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld. [email protected]. Lehrt zu Theorie und Geschichte der Medien, Gegenwartsliteratur. Arbeitsgebiete: allgemeine Ästhetik, Inter- und Transmedialität, Medienästhetik, Filmwirkungstheorien, Literatur und Politik. Zuletzt wurden folgende Monografien vorgelegt: Transmediale Texturen. Lektüren zum Film und angrenzenden Künsten. Marburg: Schüren 2013; Pathische Ästhetik. Ludwig Klages und die Urgeschichte der Postmoderne. Heidelberg: Winter 2015; Gender│Mythos. Antike und Gegenwart der Geschlechterverhältnisse. Würzburg: Königshausen & Neumann 2020. Alexandra Tacke, Dr., war von 2005 bis 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie 2010 mit einer kulturwissenschaftlichen Arbeit zu Rebecca Horn. Künstlerische Selbstpositionierungen im kulturellen Raum (Köln [u. a.]: Böhlau 2011) promoviert worden ist. Seit Januar 2019 ist sie Referentin für Literatur, Filmkunst, Regional- und Minderheitensprachen und Öffentliche Bibliotheken beim Senator für Kultur in der Hansestadt Bremen. [email protected]. Ihre letzte Monografie trägt den Titel Schnitzlers „Fräulein Else“ und die Nackte Wahrheit. Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen. Köln [u. a.]: Böhlau 2016. Henning Wrage, Associate Professor of German Studies, Gettysburg College, 300 N Washington St, Gettysburg, PA-17325, USA. [email protected]. Arbeitsgebiete: DDR-Literatur und Medien, Nachkriegskultur und die Kulturgeschichte der Interaktivität. Publikationen u. a.: Die Zeit der Kunst. Heidelberg: Winter 2009; mit Marc Silberman (Hg.): DEFA at the Crossroads of East German and International Film Culture. Berlin/Boston, MA: De Gruyter 2014; „Powerless Heroines: Gender and Agency in DEFA Films of the 1960s and 1970s“. In: Kyle Frackmann/Faye Stewart (Hg.): Gender and Sexuality in East German Film. Rochester, NY: Camden House 2018, S. 42–61.

Abbildungsnachweise Sofern nicht anders angegeben, wurden alle Screenshots von den AutorInnen selbst erstellt. Abb. 1.1–1.3, 1.10–1.16: DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (D 1946), Regie: Wolfgang Staudte. DVD Icestorm Entertainment 2002. Abb. 1.4, 1.5: DER SCHIMMELREITER (D 1933/34), Regie: Hans Deppe, Curt Oertel. DVD Universum Film GmbH 2009. Abb. 1.6–1.9: DIE GEIERWALLY (D 1940), Regie: Hans Steinhoff. DVD Koch Media 2005. Abb. 2.1–2.6: BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER … (DDR 1957), Regie: Gerhard Klein. DVD Icestorm Entertainment 2005. Abb. 2.7: THE WILD ONE (USA 1953, DER WILDE), Regie: László Benedek. DVD Sony Pictures Home Entertainment 2013. Abb. 4.1–4.4, 4.6, 4.19: ONE, TWO, THREE (USA 1961, EINS, ZWEI, DREI), Regie: Billy Wilder. DVD Studiocanal 2012. Abb. 4.5: https://bit.ly/2Ogt1qj. Abb. 4.7: https://bit.ly/2OgLiDP. Abb. 4.8, 4.11, 4.12: SPUR DER STEINE (DDR 1966), Regie: Frank Beyer. DVD Icestorm Entertainment 2002. Abb. 4.9: https://bit.ly/33TPNuE. Abb. 4.10: https://bit.ly/2q72cwZ. Abb. 4.13, 4.15–4.18, 4.21: WIR KÖNNEN AUCH ANDERS (D 1993), Regie: Detlev Buck. DVD Cine Plus Entertainment 2001. Abb. 4.14: https://bit.ly/32Ve6Y9. Abb. 4.20: https://bit.ly/2NMRSD4. Abb. 5.1: DER MOMENT, DER IST [1990]. In: DOKUMENTARISCH ARBEITEN 1. WILDENHAHN/BÖTTCHER/ NESTLER/KOEPP, Regie: Christoph Hübner. DVD Goethe-Institut, Filmmuseum München (Edition Filmmuseum 17) 2008. Abb. 5.2–5.6: JAHRGANG 45 (DDR 1965/66, 1990), Regie: Jürgen Böttcher. DVD Icestorm Entertainment 2015. Abb. 5.7–5.12: DIE MAUER (DDR 1990), Regie: Jürgen Böttcher. DVD Icestorm Entertainment 2006. Abb. 6.1, 6.2: Eigene Grafiken. Abb. 6.3–6.6: DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (DDR 1973), Regie: Heiner Carow. DVD Kinowelt 2009. Abb. 7.1: SOLO SUNNY (DDR 1980), Regie: Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase. DVD Icestorm Entertainment 2015. Abb. 8.1: Filmplakat ENGEL AUS EISEN, © Joachim von Vietinghoff. Abb. 8.2–8.10: ENGEL AUS EISEN (D 1981), Regie: Thomas Brasch. DVD Filmedition Suhrkamp 2010. Abb. 11.1–11.7: CYCLING THE FRAME (D 1988), Regie: Cynthia Beatt. DVD Filmgalerie 451 2009. Abb. 11.8–11.11: CYCLING THE INVISIBLE FRAME (D 2009), Regie: Cynthia Beatt. DVD Filmgalerie 451 2009. Abb. 11.12: Albrecht Dürer: Feldhase (1502). Aquarell, Deckfarben, weiß gehöht, 25,1 × 22,6 cm, © Albertina, Wien.

https://doi.org/10.1515/9783110629408-018

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Abbildungsnachweise

Abb. 11.13: Joseph Beuys: Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt am 26. November 1965. Aktion in der Galerie Schmela (Düsseldorf), © bpk/Walter Vogel. Abb. 11.14–11.17: MAUERHASE (D/PL 2009, KRÓLIK PO BERLIŃSKU), Regie: Bartek Konopka. Abb. 13.1: Originalscan Zeugniskommentar zu Michael Heinze, Klassenstufe 4, Schuljahr 1982/83. Zur Verfügung gestellt von Michael Wilding. Abb. 13.2: DAS LEBEN DER ANDEREN (D 2006), Regie: Florian Henckel von Donnersmarck. DVD Buena Vista Home Entertainment 2008. Abb. 14.1: DREHBUCH: DIE ZEITEN. DREI JAHRZEHNTE MIT DEN KINDERN VON GOLZOW UND DER DEFA – EIN FILM ÜBER EINEN FILM (D 1993), Regie: Winfried Junge und Barbara Junge. DVD Absolut Medien 2010 (DIE KINDER VON GOLZOW. Alle Filme von 1961–2007, Gesamtausgabe auf 18 DVDs, hier DVD Nr. 5: DREHBUCH: DIE ZEITEN, 1. Teil).