Die DDR - Analysen eines aufgegebenen Staates [1 ed.] 9783428504169, 9783428104161

Auf deutschem Boden befand sich für mehr als 40 Jahre nicht nur die Nahtstelle zwischen Ost und West, sondern auch das S

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German Pages 861 Year 2001

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Die DDR - Analysen eines aufgegebenen Staates [1 ed.]
 9783428504169, 9783428104161

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HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)

Die DDR- Analysen eines aufgegebenen Staates

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 92

Die DDR- Analysen eines aufgegebenen Staates

Herausgegeben von

Heiner Timmermann

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, und der ASKO-Europa-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Die DDR- Analysen eines aufgegebenen Staates I Hrsg.: Heiner Timmermann. - Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 92) ISBN 3-428-10416-1

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany JSSN 0944-7431 ISBN 3-428-10416-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die DDR-Forschertagungen, die das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen seit 1986 gemeinsam mit der UnionStiftung Saarbrücken und seit 1993 zusätzlich in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung durchführen, hat die wissenschaftliche nationale und internationale Kommunität interdisziplinär zusammengeführt. Der vorliegende Band ging aus der November-Tagung 1998 hervor. Die gehaltenen und angebotenen Beiträge wurden für die Publikation auf den neuesten Stand gebracht und überarbeitet. Sie wurden wie folgt strukturiert: - Die DDR in der deutschen Geschichte - Schwerpunkt Wirtschaft - Alltag I Gesellschaft - DDR-Frühgeschichte I Herrschaft - Kultur - Außenbeziehungen - Die Sowjetunion - Europa - Deutschland - Konzeptionen von Diktaturen in Deutschland und Diskussionen über Diktaturen in Deutschland Überschneidungen waren nicht zu vermeiden.

Heiner Timmennonn

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung Heiner Timmermann Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

15

II. Die DDR in der deutschen Geschichte-

Schwerpunkt Wirtschaft

Gerhard Schürer Statement: Erfahrungen als Leiter der Staatlichen Plankommission. Wirtschaftliche und politische Verflechtungen von Akteuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Claus Krömke Das Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung in der DDR. Subjektives Versagen oder Reformunfähigkeit des Systems? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Hannsjörg F. Buck Kommentar zu den Artikeln von Gerhard Schürer: .,Statement: Erfahrungen als Leiter der Staatlichen Plankommission. Wirtschaftliche und politische Verflechtungen von Akteuren" und Claus Krömke: ..Das Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung in der DDR. Subjektives Versagen oder Reformunfähigkeit des Systems?" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Erhard Crome Die DDR in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

01. Alltag/Gesellschaft

Annette Kaminsky Alltagsrelevante Utopievorstellungen in der DDR in den fünfziger Jahren . . . . . . . . . . . 119

::ir"f!gfried Grundmann Der DDR-Alltag im Jahre 1987. Dargestellt auf Grundlage der soziologischen Untersuchung ,Sozialstruktur und Lebensweise in Städten und Dörfern' aus dem Jahre 1987 . . . . ......................... . ...................... . . . . ...... . .. . . .. ... . ....... 131

8

Inhaltsverzeichnis

Jonathan Grix Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens im Alltag der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Thomas Großbölting Diktatorische Gesellschaftskonstruktion und soziale Autonomie. Bürgertum und Bürgerlichkeit im (werdenden) Arbeiter- und Bauernstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Francesca Weil Betrachtungen zum Frauenalltag in der DDR. Untersuchungen an zwei sächsischen Frauenbetrieben während der Honecker-Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Patrick Major Abwanderung, Widerspruch und Loyalität: Die DDR und die offene Grenze vor dem Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Bernd Schäfer Staat und katholische Kirche in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Karin Urich Die Besonderheiten der Bürgerbewegung in Dresden 1989/90. Dargestellt am Beispiel der ,.Gruppe der 20" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

IV. DDR-Frühgeschichte I Herrschaft Andreas Malycha SED und Besatzungsmacht. Diskussionen um Reparationen und Übergriffe der Besatzungstruppen in den Landesverbänden der SED 1946/47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Michael Henns Zur sowjetischen Einflußnahme auf die "Westarbeit" der FDJ 1947 - 1949 . . . . . . . . . . . 255 Hans-Perer Schäfer Die Berufsausbildung in der Sowjetischen Besatzungszone aus historischer und vergleichender Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lothar Mertens Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen: Die Neulehrer in den Ländern der SBZ 1945- 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Wemer Arnold Professoren der ehemaligen DDR und ihr Verhältnis zur Regierung der DDR und zur SED .. .. .. . .. . . . .. .. . . . .. .. . . .... .. . . . . .. . ... .... .. .. . .. . . . .. ... ... . ......... .. . . . .. 297

Inhaltsverzeichnis

9

Armin Owzar

Nicht ohne Zwang, nicht ohne Bereitschaft. Anmerkungen zur (Zwangs-)Vereinigung von SPD und KPD am Beispiel Thüringens ( 1945 /46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Tobias Wunschik

"Überall wird der Stalinismus beseitigt, nur in unserer Dienststelle nicht!" Das autokratische Regime des Leiters der Haftanstalt Brandenburg-Görden Fritz Ackerman . . 321 Stefan Winckler

Ein Markgraf als williger Vollstrecker des Totalitarismus. Die Biographie des deutschen Berufssoldaten Paul H. Markgraf (SED) unter besonderer Berücksichtigung seiner Amtszeit als Berliner Polizeipräsident 1945 - 48/49 ................... . . .. ... 343

V. Kultur Thomas Schaarschmidt

Der Kulturbund als Heimatverein? Anmerkungen zu Anspruch und Realität des Kulturbunds in den vierzigerund fünfziger Jahren aus regionalhistorischer Sicht 357 Dagmar Buchbinder

Kunst-Administration nach sowjetischem Vorbild: Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 lngeborg Cleve

Weimarer Klassik in der DDR. Ein Forschungsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Fritz Reinert

Versuche geistiger Erneuerung im Vorfeld der DDR. Notizen zu zwei Potsdamer Schriftstellern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Rüdiger Thomas

Sonderbare Begegnungen - Gespräch zwischen ost- und westdeutschen Autoren 1961 - 1964 . . ................ .... . . ....... . ........ . .... .. .. .................. . .. . .. 439 Michael Rauhut

Rockmusik in der DDR zwischen 1973 und 1982. Politik und Alltag .. ....... . ... . . . 455 Daniel Zur Weihen

Biographie und Situation- Komponieren in der DDR bis 1961. Untersuchungen zum Verhältnis künstlerischer Entwicklung und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen am Beispiel der ersten Komponistengeneration der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Hannelore Offner

Überwachung, Kontrolle, Manipulation. Das MfS und eine Verflechtung mit Kunstund Kulturinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

10

Inhaltsverzeichnis

Ursula Hahlweg-Elchlepp

Ein Gesetz, das nicht in Kraft trat. Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR ............... . ................ . .. . .. . ······ . .. ····· . .. .. . .. . . 509 1950/51 .... . . ······· Axel Große

Die Gegenkultur in der DDR: ,Alternativer Underground', ,Treibhausanarchie', Boheme oder Opposition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Robert Grünbaum

Zensur in der DDR: Restriktion und Emanzipation der Schriftsteller im literarischen Schaffensprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

VI. Außenbeziehungen Beate lhme-Tuehel

"Manche haben vom Polyzentrismus geträumt". Die Reaktion der SED auf die polnische Krise von 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Georg W. Strobel

Die Beziehungen DDR- Polen in den achtziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Michael Lemke

Wandlungsprozesse in den Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion als Grundlage der Entwicklung von äußeren Handlungsspielräumen für die SED von 1955/56 bis zum Beginn der sechziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 Ulrich Pfeil

Zentralisierung und Instrumentalisierung der auswärtigen Kulturpolitik der DDR. Ein anderer Aspekt der Frankreichpolitik der DDR 1949- 1973 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 lstwi n Nemeth und Andrds Kocsis

Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64~

Detlef Nakath

Die Häher-Gespräche. Zur Herstellung der Kontakte des SED-Deutschlandpolitikers Herbert Häber zu Regierungs- und Oppositionskreisen der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65: Krzysztof Ruchniewicz

Reaktionen der DDR auf die Oktober-Ereignisse in Polen im Jahre 1956 . . . . . . . . . . . . . 661 Hans Misse/witz

Die 2+4-Verhandlungen aus der Sicht eines Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69' lstvdn Horvath

Die 2+4-Verhandlungen - eine ungarische Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 .

Inhaltsverzeichnis

11

VII. Die Sowjetunion- Europa-Deutschland lörg Morri

Die Parteischulung der KPD in der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 Fred Oldenburg

Die Rekonstruktion sowjetischer Deutschlandpolitik 1988-1991 . ...... . ..... .. . . .. . 745 Wjatscheslaw Daschitschew

Die Sowjetunion und Ostmitteleuropa - aus der Geschichte eines messianischen Hegemonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Jerzy Holzer

Die Refonnpolitik Gorbatschows und der Umbruch in Mittelosteuropa 1989 I 90 aus polnischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 Istvon Horvath

Die Sowjetunion und der Ostblock in den achtziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809 Gerhard Wettig

Der Einfluß der UdSSR auf die mitteleuropäischen Entwicklungen in den ausgehenden achtziger Jahren ........... . .. . ................. .. . . . .. . . ............ . ... . .. . .. . 815

VIII. Konzeptionen von Diktaturen in Deutschland und Diskussionen über Diktaturen in Deutschland Sigrid Meuschel

Totalitarismustheorie und moderne Diktaturen. Versuch einer Annäherung . . . . . . . . . . . 823 Günther Heydemann

Integraler und sektoraler Vergleich. Zur Methodologie der empirischen Diktaturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 Wolfgang Schuller

Deutscher Diktaturenvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859

I. Einleitung

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR Von Heiner Timmermann

Dieser Sammelband setzt sich in seinem ersten Hauptkapitel mit Fragen der Wirtschaft der DDR auseinander aus der Sicht des langjährigen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, eines wissenschaftlichen Mitarbeiters des SED-Wirtschaftsfunktionärs Mittag sowie eines Wirtschaftswissenschaftlers des damaligen Gesamtdeutschen Instituts. Daher scheinen dem Herausgeber einige einleitende Bemerkungen grundsätzlicher Art zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR für angebracht.

I. Zur Wirtschaftsordnung Das politische Zusammenleben der Menschen ist ohne Regelung nicht möglich. Auch das gesamtwirtschaftliche Geschehen in einem Staat, in einer Volkswirtschaft unterliegt bestimmten Ordnungsformen. Dabei beruht die Ordnung des Wirtschaftslebens ebenfalls wie die politische Ordnung auf Entscheidungen grundsätzlicher Art. Die mit der Staatsordnung eng verbundene Wirtschaftsordnung umschreibt die wechselseitigen Beziehungen zwischen Produzenten, Verbrauchern und Staat. Die Wirtschaftsordnung soll die in einem Gesellschaftssystem gesetzten politischen Ziele verwirklichen und darf nicht in Widerspruch treten zum Wirtschaftssystem, das sich vor allem durch die Eigentumsverfassung umschreiben läßt. Man konnte bis zum Systemwechsel von 1989 I 90 in Europa im allgemeinen zwei wirtschaftliche Ordnungssysteme theoretisch und praktisch unterscheiden: In der zentralen Planwirtschaft wurde die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit durch den Staat reguliert. Er verfügte über die Produktionsmittel, und alles Wirtschaften war Gestalten des öffentlichen Lebens und wurde in eine staatliche Planung einbezogen. Somit entschied der Staat darüber, wer am wirtschaftlichen Leben teilnehmen durfte. In der freien Marktwirtschaft werden Produktion, Kreislauf der Wirtschaft und Konsum durch eine große Zahl von Betrieben und Käufern gesteuert. Der Staat kann über Produktionsmittel verfügen. Grundsätzlich befinden sich diese in Privateigentum. Wirtschaftliche Freiheit und Eigentum werden durch den Staat garantiert.

16

Heiner Timmerrnann

In der SBZ bzw. DDR wurde eine als sozialistische Planwirtschaft bezeichnete Wirtschaftsordnung eingeführt, die sich im wesentlichen am Modell zentraler Wirtschaftsplanung orientierte. Diese wies folgende Merkmale auf: (1) Zentrale Leitung, Planung und Kontrolle des Wirtschaftsgeschehens - Weit-

gehende Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln,

(2) Staatseigentum der Produktionsmittel, (3) Verstaatlichung der Banken und Versicherungen, (4) Geld- und Kreditversorgung erfolgte zentral durch den Staat, (5) Staatliche Preispolitik für Arbeit, Güter, Dienstleistungen und Zinsen, (6) Ziel des wirtschaftlichen Handeins war die Planerfüllung, (7) Enge Verknüpfung zwischen Politik und Wirtschaft.

Theoretischer Ausgangspunkt der sozialistischen Planwirtschaft war der Marxismus-Leninismus. 1. Grundzüge der sozialistischen Planwirtschaft

Die Grundlagen der sozialistischen Planwirtschaft für die SBZ/DDR wurden in den Jahren 1955- 1948 gelegt. Die Eingliederung in den östlichen Wirtschaftsraum bedeutete, daß zum ersten Male ein Teil einer hochindustrialisierten Volkswirtschaft dem sowjetischen Modell eines Zentralverwaltungswirtschaftssystems unterworfen wurde. Zu den Problemen der Spaltung eines ehemals geschlossenen Wirtschaftsraumes kamen Demontagen, Reparationen, Besatzungskosten, Enteignung. Sowjetisierung großer Unternehmen, Flucht wichtiger Arbeitskräfte hinzu, so daß die wirtschaftlichen Startbedingungen für die am 7. Oktober 1949 zur Regierung der DDR umgewandelte Deutsche Wirtschaftskommission weitaus ungünstiger waren als die für die Westzonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Ferner fehlten wirtschaftlich und technisch gleichwertige Partner und eine für den Marshall-Plan vergleichbare Kapitalhilfe. Entscheidend aber für die wirtschaftliche Rückständigkeit der Volkswirtschaft der DDR gegenüber der Bundesrepublik blieb, daß Bewirtschaftsvorschriften nicht aufgehoben wurden und daß an Stelle der zentralverwaltungswirtschaftlichen Kriegswirtschaft und des Zuteilungssystems nach dem Kriege eine politische und wirtschaftliche Ordnung trat, die Leistungswillen und Kapazität nicht freisetzte, sondern hemmte. Sozialistische Planwirtschaft und sozialistisches Eigentum waren gern. Art. 9 der DDR-Verfassung Hauptmerkmale der Wirtschaftsordnung. Der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung lag eine geschlossene Theorie, die Theorie des Marxismus-Leninismus, zugrunde, bei der die Produktionsverhältnisse für die Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen und der politischen macht von wesentlicher Bedeutung waren. Daher waren folgende, mit der Errichtung der sozialistischen

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

17

Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verbundenen Aspekte von großer Wichtigkeit: (1) Aufhebung des Privateigentums am Produktionskapital, welche in mehreren

Stufen durchgeführt wurde. Dafür: Vergesellschaftung, d. h. staatliches Eigentum an den Produktionsmitteln, über die fast ausnahmslos Staat und Partei verfügten,

(2) Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft, verbunden mit der Beseitigung von Konfliktmöglichkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern - vertreten durch Partei und Staat - mit der Folge des Verbots jeglicher Arbeitskampfmittel, (3) Zentrale Leitung, Planung und Kontrolle der Produktion und Verteilung, (4) Einschränkung der individuellen Freiheit zugunsten des Gemeinwohls und der Solidarität, (5) Teilweise Autonomie der Betriebe und Haushalte, begrenzte Aktionsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Organisationen und der nachgeordneten Verwaltungseinheiten. Die sozialistische Planwirtschaft verstand sich als endgültige historische Überwindung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und zählte demzufolge zu den "unantastbaren Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung" (Art. 2.2 DDRVerfassung). Sei fußte auf der "bewußten Ausnutzung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus und hat das Ziel, die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen immer besser zu befriedigen" 1.Sie war damit ein entscheidendes Merkmal des Marxismus-Leninismus. Das Instrumentarium zur Verwirklichung wurde mittels der ,.Leitung und Planung der Volkswirtschaft sowie aller anderen gesellschaftlichen Bereiche" in Art. 9.3. DDR-Verfassung) und des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in Art. 24.3. DDR-Verfassung festgelegt. Die Wirtschaft beruhte auf dem Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus. Es wurden einheitliche Volkswirtschaftspläne entwickelt, die den Interessen der gesamten Gesellschaft entsprachen. Die sich verändernden Bedingungen und der ständigen Weiterentwicklung der sozialistischen Planwirtschaft widmete die DDR ihre besondere Aufmerksamkeit, wobei "sie sich auf die Erfahrungen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Länder" stützte2 • Höhere Anforderungen wurden an die sozialistische Planwirtschaft insbesondere durch das Komplexprogramm des RGW gestellt. Es sollte ein ausgewogenes zwischen der zentralen staatlichen Leitung und Planung und der Entwicklung der Eigenverantwortung der sozialistischen Betriebe, die dem Grundzug des demokratischen des demokratischen Zentralismus entsprach.

I

2

Kleines politisches Wörterbuch, Berlin (Ost), 1988, S. 787. Ebenda.

2 Timmermann

18

Heiner Timmerrnann

2. Etappen der Wirtschaftspolitik

Die Etappen der Wirtschaftspolitik können mit Wirtschaftsplänen und I oder mit Phasen zum Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft beschrieben werden. Bei der ersten Variante wären zu nennen: Zweijahresplan 1949- 1950; zwei Fünfjahrpläne 1951 - 1955, 1956- 1960 (1959 abgebrochen); ein Siebenjahrplan (19591965; fünf weitere Vierjahrpläne. Sicherlich wurde die Funktionsweise der DDRWirtschaft entscheidend durch die staatliche Wirtschaftsplanung bestimmt. Bei der Wirtschaftspolitik hatten sich innerhalb der Jahrpläne aber bedeutendere Abschnitte auf dem Wege zu sozialistischen Planwirtschaft ergeben, so daß die Phasen der Wirtschaftspolitik mit den Jahrplänen nicht identisch waren .. Eine erste Phase - Voretappe - von 1945- 1948 I 49 war charakteristisch durch die Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die SED nannte sie die Etappe der "Eroberung der politischen und wirtschaftlichen Kommandohöhen". Sie war ferner gekennzeichnet durch Wiederaufbau, Demontagen und Raparationen 3 . Die zweite Phase (1949-1962) galt der Entwicklung der sozialistischen Produktionsweise, dem Aufbau von Grundstoffindustrien, der Fortschreibung der Sozialisierung und einer entsprechenden Organisation des Partei- und Staatsapparates. Der Wirtschaftsplan wurde das Instrument der Wirtschaftslenkung, wobei marktwirtschaftliche Elemente völlig ausgeschaltet wurden. Begleitet wurde diese Phase mit einem von der SED verschärften "Klassenkampf nach innen", der Zwangskollektivierung der Bauern und einer großen Flucht- und Absatzbewegung zum Westen und dem Bau der Bauer (13. August 1961). Eine intensive Wirtschaftsverflechtung mit den Ostblockstaaten begann durch die 1950 erfolgte Aufnahme in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Da die Produktionsmöglichkeiten für ein geplantes Expansionstempo zur Angleichung an das westdeutsche Versorgungsniveau - die ökonomische Hauptaufgabe des Siebenjahresplans - nicht ausreichten, konnte der Rückstand nicht aufgeholt werden. Auf die krisenhafte Zuspitzung in den Jahren 1960- 1962 wurde der Plan 1961 I 62 abgebrochen, und die Partei- und Staatsführung reagierte mit einem Wirtschaftsprogramm. Auf dem VI. Parteitag der SED im Jahre 1963 erläuterte der Erste Sekretär des ZK, Ulbricht, die Grundsätze des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL). ..Das ,Neue Ökonomische System' und die es begleitenden SED-internen Umorganisationen und gesamtwirtschaftlichen Umorientierungen - Maßnahmen, wie sie in keinem anderen Staat im sowjetischen Einflußbereich zu beobachten waren - stellen die einschneidendste Zäsur dar, die in der Geschichte der DDR bisher zu verzeichnen ist"4 • 3 Vgl. Kurt Sontheimer/Wilhelm Bleek. Die DDR. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft. Harnburg, 5. Aufl .• 1979, S. 295 ff.; lörg Roesler. Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Berlin (Ost), passim. 4 Peter Christian Ludz. Die DDR zwischen Ost und West. Von 1961 bis 1976, München 1977, S. 69. Zu diesem Komplex siehe besonders die nächsten drei Beiträge in diesem Sammelband.

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

19

"Der Kern des Neuen Ökoornisehen Systems ist darin zu sehen, daß die zentrale staatliche Planungsmaschinerie sich auf die Formulierung langfristiger wirtshcaftspolitischer Ziele (Perspektivpläne) beschränkt und den Betriebseinheiten eine größere Eigenverantwortlichkeil, orientiert an ökonomischen Prinzipien der Rentalbilität und Effizienz gewährt"s.

Noch zu Ulbrichts Zeiten wurde dieses System abgewandelt und 1967 umbenannt in das "Ökonomische System des Sozialismus, die vierte Phase also, deren Grundidee in Art. 9.3 Der DDR-Verfassung von 1968 einfloß: "Das ökonomische System des Sozialismus verbindet die staatliche zentrale Planung und Leitung der Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung mit der Eigenverantwortung der sozialistischen Warenproduzenten und der örtlichen Staatsorgane". Ein 1970 beginnender Kurswechsel bedeutete in entscheidenden Fragen eine Rückkehr zur zentralen Wirtschaftssteuerung, die ihren verbindlichen Ausdruck in den auf dem Vlll: Parteitag, 1971, der SED formulierten "Hauptaufgaben" fand. Der Entscheidungsspielraum der Betriebe und Vereinigung der volkseigenen Betriebe wurde eingeschränkt zugunsten der direkten staatlichen Leitung, was auch seinen Niederschlag in der Verfassungsrevision von 1974 fand, wo in Art. 9.3. der Grundsatz von ,,Leitung und Planung" (vorher ,,Planung und Leitung") der Volkswirtschaft eingegangen war. Als wirtschaftspolitische Leitlinie wurde Steigerung des Wirtschaftswachstums und private Einkommensbildung als Wechselverhältnis deklariert. Diese Phasen lassen darauf schließen, daß weder eine endgültige Wirtschaftspolitik noch eine endgültige Organisationsform zur Durchführung dieser Politik bis zum Schluß der DDR gefunden wurde. 3. Das Leitungssystem der DDR-Wirtschaft "Die Leitung der Produktion ist Bestandteil der einheitlichen und umfassenden Leitung gesellschaftlicher Prozesse in der sozialistischen Gesellschaft durch den sozialistischen Staat. Die Grundaufgabe der sozialistischen Leitung besteht darin, die objektiven Anforderungen der ökonomischen Gesetze des Sozialismus in bewußtes Handeln des Menschen umzusetzen"6 .

Das Leitungs- und Planungssystem war ein grundlegendes Strukturelement der DDR-Wirtschaft. Neben dem demokratischen Zentralismus standen als Leitungsprinzipien: - Einzelleitung und persönliche Verantwortung, - Kontrolle der Durchführung festgelegter Maßnahmen mit ökonomischen und administrativen Mitteln, - das Produktionsprinzip in Verbindung mit dem Territorialprinzip als Leitungsgliederung der Industrie, s Sontheimerl Bleek (Anm. 3), S. 207. Kleines PolitischesWörterbuch (Anm. 1), S. 496.

6

2*

20

Heiner Timmerrnann

- wirtschaftliche Rechnungsführung,

=

- Einheit von Politik, Ökonomie und Technik Ausrichtung der Wirtschaft an den Erfordernissen des wissenschaftlichtechnischen Höchststandes. Nach Art. 76.2. der DDR-Verfassung leitete der Ministerrat die DDR-Wirtschaft. Er setzte die wirtschaftspolitischen Ziele, die vom Parteiapparat gegeben wurden, um in Handlungsanweisungen für die Wirtschaft. Dabei arbeitete er eng zusammen mit dem Staatsrat und der Volkskammer, Zur Durchführung stand ihm ein Instrumentarium von Institutionen zur Verfügung: (1) Organe, denen produktive Wirtschaftsbereiche zugeordnet waren, die zehn

Industrieministerien, das Ministerium für Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie, das Ministerium für Landwirtschaft-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, die Ministerien für Bauwesen, Verkehrswesen, Postund Fernmeldewesen, Handel und Versorgung, Umweltschutz und Wasserwirtschaft.

(2) Organe mit koordinierenden und indirekt regelnden Funktionen: Die Staatliche Planungskommission, die Ministerien für Wissenshaft und Technik sowie Finanzen, besondere Staatssekretariate und Staatliche Ämter für Arbeit, Löhne und Preise, die Staatsbank. (3) Organe mit Kontrollaufgaben: Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, das Amt für Standardisierung, Meßwesen und Warenprüfung, das Staatliche Vertragsgericht. Etwa drei Viertel der Industrieproduktion der DDR wurde zentral gelenkt, der Rest fiel in den Kompetenzbereich der bezirksgleiteten Inudstrie. Auf der Bezirksebene wurden infrastrukturelle Maßnahmen geleitet und geplant. Standortfragen der Industrie, Bereitstellung von Arbeitskräften und Dienstleistungen für zentral geleitete Betriebe gehörten ebenfalls zum Aufgabenbereich der Bezirke. Die untere Leitungsebene war der Rat der Kreise, Städte und Gemeinden. Auch hier kann gesagt werden, daß die verschiedenen Phasen der Wirtschaftspolitik deutlich gemacht haben, daß die DDR stets auf der Suche nach einem besseren System der Leitung und Planung war. 4. Eigentumsverfassung

Wie eingangs gesagt, hatte der Stellenwert der Eigentumsverhältnisse in der sozialistischen Gesellschaftstheorie eine überragende Bedeutung. Die Eigentumsordnung der DDR beruhte auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen dem Eigentum an Produktionsmitteln und dem Eigentum an Konsumgütern. Das war in den Art. 9, 10 und II der DDR-Verfassung geregelt. Das Eigentum an Produktionsmitteln war in verschiedenen Eigentumsformen augespalten:

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

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(1) Volkseigene Betriebe und Unternehmen= Staatseigentum,

(2) Genossenschaftliche Betriebe (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, Produktionsgenossenschaften des Handwerks); Genossenschaftseigentum, in der Praxis weitgehend staatlichem Einfluß unterworfen, (3) Eigentum gesellschaftlicher Organisationen. Das noch private Eigentum an Produktionsmitteln war vorwiegend vorhanden in folgenden Bereichen: Einzelhandel, Gaststättengewerbe und Handwerk. Eine modifizierte Regelung existierte in der Verbindung von privatem und sozialistischem Eigentum und durch Kommissionsverträge. Dieser Bereich hatte seit der letzten Sozialisierungswelle von 1972 stark an Bedeutung verloren. Nach der Theorie des Marxismus-Leninismus ist die Stellung des Menschen in der Gesellschaft durch die Eigentumsordnung bestimmt. Die Existenz des Privateigentums an Produktionsmitteln ist die unmittelbare Ursache für die für die Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen, für Ausbeutung, Unterdrückung, Arbeitslosigkeit, Krisen, Krieg. Sozialistisches Eigentum an Produktionsmitteln schließt Ausbeutung mit negativen Folgen aus. Es ist die Grundlage, auf der sich die Vorzüge des Sozialismus entfalten und mit den Eigenschaften von Wissenschaft und Technik entfalten können7 . 5. Außenwirtschaft ,,Zur sozialistischen Außenwirtschaft gehören Außenhandel mit Waren, Patenten und Lizenzen, die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik, die internationale Plankoordinierung, Spezialisierung und Kooperation, der Austausch von kommerziellen und nichtkommerziellen Dienstleistungen (Transport, Touristik usw), die akti· ven und passiven Kreditbeziehungen, die Beteiligung an Investitionen, der Geld- und Wertpapierhandel, die Markterschließung, -pflege und -erhaltung, der internationale Kaderaustausch .. ." 8.

Die Außenwirtschaft der DDR erforderte die zentrale staatliche Leitung und Planung. Sei beruhte auf dem Außenhandels- und Valutenmonopol des Staates, wie es in der Verfassung festgeschrieben war: Die Außenwirtschaft einschließlich des Außenhandels und der Valuta ist staatliches Monopol (Art. 9.5.). Das Ministerium für Außenhandel leitete, plante, organisierte und kontrollierte den Export und Import auf der Grundlage der Beschlüsse von Partei und Regierung und bediente sich hierzu einer Reihe von Organisationen und Institutionen, u. a. von Handelsvertretungen und handelspolitischen Abteilungen der DDR in anderen Ländern, von Außenhandelsbetrieben, der Kammer für Außenhandel, der Zivilverwaltung, dem Amt für Außenwirtschaft, dem Forschungsinstitut beim Ministerium Ebenda, S. 178 f., S. 282 f. s Ebenda, S. 88.

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für Außenhandel. Das bilaterale System des Ostblocks, die Verflechtung im Warschauer Pakt und die Einbindung in den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe hatten zur Folge, daß rund 70% des Außenhandels mit sozialistischen Ländern abgewickelt wurde. 6. Resümee

Mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung der DDR wurden ordnungspolitische Weichenstellungen verfassungsrechtlich legalisiert. Die Wirtschaftsordnungen existierten innerhalb von Wirtschaftssystemen, in denen nicht die der Theorie entwickelte Modelle, sondern Mischformen sich entwickelten. In der DDR war die Wirtschaftsverfassung Bestandteil der staatlichen Ordnung. In der Bundesrepublik hat der Staat für die Wirtschaftsverfassung lediglich die Rolle einer ordnenden und lenkenden Funktion übernommen und durch Normen einen Ordnungsrahmen geschaffen. Die Funktionsmechanismen beider Wirtschaftssysteme spielten beim Vergleich einen wichtigen Part. Hier stehen die Koordination durch Märkte und Preise, dort standen die Koordination durch Planung und Bilanzierung, hier stehen Anreize und Kontrollen durch Wettbewerb, dort standen Anreize und Kontrollen durch ökonomische Hebel und unterschiedliche Prinzipien der Einkommensverteilung gegenüber. Beide Staaten waren gleichermaßen wirtschaftlich leistungsorientiert. Vergleicht man die Ergebnisse der jeweiligen Wirtschaftsprozesse, so waren Arbeitsproduktivität, Sozialprodukt und Lebensstandard in der DDR etwa zwei Drittel dessen des Bundesrepublik Deutschland. Diese Unterschiede konnten am Ende DDR nicht mehr aus der günstigen bzw. wenigen günstigen Ausgangslage gedeutet werden. Infolge der Eigentumsverfassung der DDR fehlte die Motivation der in ihrem Betrieb selbständigen Handels- und Gewerbetreibenden und der kleineren Handwerksbetriebe. Für die Großbetriebe galt dies insofern nicht für einen Vergleich, da in Großbetrieben der Bundesrepublik das Managerturn bzw. die Betriebsleitung mit der Eigentümerstellung so gut wie nicht zusammenfällt, so daß höhere Effektivität nicht mit dem Fehlen des Privateigentums begründet werden konnte. Als wesentlicher Grund blieb die zentrale Leitung und Planung, die zu hemmender Einsatzbereitschaft, nangelndem Interesse an Verantwortung und Ergebnis der Arbeit und Beschneidung der freien Entfaltung der Gestaltung wirtschaftlicher Prozesse führte.

II. Sozialordnung Die Sozialordnung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR hatten in Bismarcks Sozialpolitik einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Diese beschränkte

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

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sich auf den Schutz gegenüber den Risiken der Krankheit, des Alters, der Invalidität und des Unfalls. Gruppenmäßig war sie zunächst beschränkt auf Industriearbeiter. Im Laufe der Jahrzehnte erfolgte eine Ausweitung und Entwicklung des Schutzes auf weitere Bevölkerungskreise und Risikentatbestände (Arbeitslosenversicherung, Mutterschutz). Die Finanzierung wurde aufgebracht durch Pflichtbeiträge von Versicherten und Arbeitgebern. Zur Entwicklung ist ein sozialpolitisches Handeln in einem bestimmten Rahmen erforderlich. Der hierfür gebräuchliche Begriff der Sozialordnung umfaßt sämtliche Normen und Institutionen, die der Regelung der ökonomisch bedingten sozialen Position von Individuen und Gruppen dienen sowie die ökonomisch bedingter sozialer Beziehungen zwischen den Individuen und Gruppen selbst. Die Sozialordnung ist daher eng verbunden mit der Gesamtordnung des Staates ihrer wirtschaftlichen Effektivität. Beratungen im Alliierten Kontrollrat führten 1946 zu keiner Einigung zur Reorganisation des Sozialversicherungssystems in allen Zonen, so daß die Sowjetische Militäradministration Anfang 1947 die Einführung eines einheitlichen Sozialversicherungssystems in ihrer Zone anordnete. Damit war, wie in anderen Bereichen, auch in einem wichtigen Bereich der Sozialordnung bereits vor Gründung der DDR die Entscheidung über die künftige Entwicklung gefallen. "Die sozialistische Sozialpolitik als fester Bestandteil sozialistischer Politik ist darauf gerichtet, den werktätigen aller sozialen Gruppen entsprechend ihren unterschiedlichen Bedingungen immer besserer Voraussetzungen für ihre Entwicklung zu sozialistischen Persönlichkeiten zu garantieren. Durch eine planmäßige Wirtschaftspolitik werden dafilr die Voraussetzungen geschaffen"9 . Alle sozialpolitischen Maßnahmen wurden u. a. gemessen an der vorrangigen Befriedung von Bedürfnissen, die den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprachen, in der Erhöhung des Entwicklungstempos der Produktion, der Effektivität und Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie der Minderung sozialer Unterschiede und der Beseitigung noch vorhandener sozialer Widersprüche. Nicht die individuellen Bedürfnisse der Menschen standen im Vordergrund, sondern "die Entwicklung und Befriedung ihrer Bedürfnisse und Interessen nach Maßstab des gesellschaftlichen Gesamtinteresses'"0

Die im Programm (Abschnitt I. A.) der SED von 1976 festgestellte ,,Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" bedeutete, daß die Ziele und Gestaltungsformen der Sozialordnung durch die Wirtschaftsordnung vorgeformt wurden. Aus Art. 9.2. und 3 der DDR-Verfassung sowie aus § 4 Abs. 3 des "Gesetzbuches der Arbeit" ging deutlich hervor, daß auch für die Sozialordnung der demokratische Zentralismus das leitende Organisationsprinzip war. Bei der Wahrnehmung der sozialpolitischen Aufgaben gingen die dafür zuständigen Organe des weiteren von dem von der SED entworfenen Leitbild einer sozialistischen Gesellschaft aus. 9

Ebenda, S. 866.

Hannelore Harne/ (Hg.), BRD- DDR. Die Wirtschaftssysteme. Soziale Marktwirtschaft und sozialistische Planwirtschaft im Vergleich, 3. Aufl., München 1981, S. 290. 10

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Die praktische Ausgestaltung der Sozialordnung wurde schwerpunktmäßig entwickelt: Behebung der Kriegsfolgen und Umordnung der Sozialleistungsorganisation, gesundheits- und beschäftigungspolitische Akzente. Intensivierung und Rationalisierung, bevölkerungspolitische Maßnahmen. 1. Arbeitspolitik

Arbeitsrecht und Arbeitspolitik waren wichtige Instrumente der SED zur Realisierung ihrer Gesamtinnenpolitik. Der Staat war Arbeitgeber von rund 93% aller Arbeitnehmer. Ein neues, von der Volkskammer 1977 verabschiedetes Gesetz trat am 1. Januar 1978 in Kraft, das eine weitere Vervollkommnung der sozialistischen Gesellschaftsordnung bringen sollte. Es enthielt Grundsätze des Arbeitsrechts, Bestimmungen über die Leitung von Betrieben sowie Mitbestimmung und Mitwirkung der Werktätigen, Abschluß, Änderung, und Auflösung des Arbeitsvertrages, Arbeitsorganisation und Arbeitsdisziplin, Lohn und Prämien, Berufsausbildung, Aus- und Weiterbildung, Arbeitszeit, Urlaub, Gesundheits- und Arbeitsschutz, geistig-kulturelles Leben, Betriebssport und soziale Betreuung, besondere Rechte der Frau und Mutter, arbeitsrechtliche Verantwortung der Werktätigen, Schadenersatzleistungen der Betriebe, Sozialversicherung, Kontrolle der Einhaltung des Arbeitsrechts und Arbeitsstreitfälle und Streitfälle in Sozialversicherungsfragen. Von besonderer Bedeutung für die Gestaltung des Arbeitsleben war die Funktion der Betriebsgewerkschaftsleitungen, deren Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrecht im Katalog des Arbeitsgesetzbuches festgehalten war. (u. a. Mitwirkung bei der Planaufstellung, bei der Intensivierung der Arbeit, Mitbestimmung bei der konkreten Festlegung von Lohnbedingungen (Eingruppierungen), bei der Verwendung der Prämien-, Kultur- und Sozialfonds des Betriebes und bei der Auszeichnung der Werktätigen., bei der Arbeitszeit und Urlaubsplanung, in Personalangelegenheiten (Einstellung, Entlassung, Beurteilung). Von der sachlich-fachlichen Seite betrachtet, hatte das neue Arbeitsgesetzbuch für die Menschen in der DDR Verbesserungen gebracht. "Politisch wird dem neuen Gesetz von der SED- und DDR-Staatsführung zweifellos das Ziel verfolgt, die Machtverhältnisse in der DDR zu stabilisieren" 11 . 2. Lohnpolitik und Einkommensgestaltung

Die Gewerkschaften waren insofern an der Lohngestaltung beteiligt, als daß der Ministerrat die Grundlinien für die Lohn- und Einkommenspolitik mit dem Vorstand des FDGB festlegte. Die Durchsetzung von Lohnforderungen nötigenfalls mit Hilfe von Streik war nicht möglich. Nach Ansicht der Staats- und Parteiführung war durch die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln auch der Klassen- und damit der Verteilungskampf beseitigt worden. II

Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Honeckers neues Arbeitsgesetzbuch, Sonn 1977, S. 74.

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

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Grundsätzliche Fragen des Lohn- und Tarifvertragssystems wurden vom Ministerrat in Übereinstimmung mit dem FDGB geregelt. Rahmenkollektivverträge, die zwischen den wirtschaftlichen Organisationen und den zuständigen Gewerkschaften (FDGB = 16 Einzelgewerkschaften) ftir den staatlichen Sektor abgeschlossen wurden, waren bindend ftir die Tarife des privaten Bereichs (abgeschlossen zwischen Gewerkschaft und Industrie- und Handelskammer Das fünfte Kapitel des Arbeitsgesetzbuches "Lohn und Prämie" stellte eine Rahmenrichtlinie für die Lohnpolitik dar. Ministerrat und FDGB-Vorstand waren bei den einvernehmlich zu gestaltenden Lohntarifen an Planungsvorgaben gebunden, die Steigerungsraten für den Planungszeitraum begrenzten. Von wirklichen Tarifverhandlungen konnte daher nicht die Rede sein. Im Gesetzestext kam dieses Wort auch nicht vor, sonder eine Ersetzung mit dem Wort "Tariffestsetzung". Dennoch gab es in den unteren Lohngruppen Spielräume durch Von-Bis-Spannen. Das Arbeitseinkommen setzte sich aus einem System verschiedener Lohnformen und Prämien zusammen. Nur die Einkommen der Selbständigen und freiberuflich Tätigen entzogen sich weitgehend der staatlichen Planung.

3. Das Sozialleistungssystem

Die Art. 35, 36 und 38 der DDR-Verfassung garantierten die Fürsorge der Gesellschaft bei Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter sowie die spezielle medizinische Betreuung und finanzielle Unterstützung bei Geburten und Gewährung von Kindergeld. Ergänzende Regelungen sicherten Sozialfürsorge und andere soziale Leistungen. Die als Sozialversicherung bezeichnete Einheitsversicherung stützte sich organisatorisch auf zwei Träger: (1) Die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten beim FDGB und

(2) die Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung. Die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten gliederte sich in Verwaltungen der Zentrale des FDGB und die Bezirks-, Kreis und Stadtvorstände. Die Betreuung und Leistungsgewährung erfolgte über die Betriebe. Die nicht in Betrieben tätigen Versicherten wurden von FDGB-Verwaltungsstellen betreut. Bei der Staatlichen Versicherung - u. a. auch alleiniger Träger der Sach- und (privaten) Personenversicherung -waren Genossenschaftsmitglieder, Selbständige, freiberuflich Tätige versichert. Leistungen erfolgten durch die Genossenschaften und Kreisstellen. Eine der in der Bundesrepublik vorhandenen,vergleichbaren Form der Selbstverwaltung gab es nicht, ebenso keine Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit Bei Streitfällen konnten betriebliche Konfliktkommissionen oder Kommissionen für Sozialversicherung tätig werden.

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Heiner Timmermann

Der umfassende Umfang der Versicherungspflicht sorgte auch für eine dominierende Rolle der Sozialversicherung. 85% der Bevölkerung waren beider Sozialversicherung des FDGB, 14% bei der Sozialversicherung der Staatlichen Versicherung versichert. Der Haushalt der Sozialversicherung war Teil des Staatshaushalts, doch bildeten die Träger der Sozialversicherung zweckgebundene Fonds. Die Versicherten und Betriebe zahlten in diese Fonds Beiträge. Die einer Versicherung entsprechende Orientierung der Beiträge an den Leistungen (Versicherungsprinzip) gab es nicht. Da der Staat die Garantie für die Leistungen übernommen hatte, bedurfte es keiner langfristigen Reservebildung zur Kapitaldeckung künftiger Leistungen. An die Stelle des Versicherungsprinzips (Deckung der Ausgaben durch Beiträge) war bei der Finanzierung sozialer Leistungen in zunehmenden Maße das Versorgungsprinzip getreten. Sach-, Bar- und Dienstleistungen wurden bei Krankheit, Unfall, Alter, Erwerbsunfähigkeit, Tod des Ernährers, Mutterschaft, Hilfsbedürftigkeit gewährt. Arbeitslosigkeit war seit 1978 kein Zweig der Sozialversicherung mehr. Konjunkturelle Arbeitslosigkeit war systembedingt ausgeschlossen. Bei fluktuations- und strukturbedingter Arbeitslosigkeit mußten die Betriebe die Betroffenen selbst absichern. Das Netz der sozialen Sicherung war eng auf niedrigem Niveau.

4. Resümee

In beiden Teilen Deutschlands wurden durch die Sozialordnung ähnliche Felder abgedeckt, im Kernbereich der sozialen Sicherung sogar annähernd deckungsgleiche Bereiche. Sozialpolitische Aktivitäten erstreckten sich auch noch auf andere, hier nicht genannte Bereiche, wie Versorgung der Staatsbediensteten bei Erwerbsunfähigkeit und im Alter, Jugendhilfe, Gesundheitspolitik, Wohnungsbauund Steuerwesen, Kriegsopferversorgung. Lastenausgleich und Eigentumspolitik gab es in der DDR nicht. In der Bundesrepublik Deutschland dient die Sozialordnung als Rahmen der Sozialpolitik hauptsächlich als Korrektiv der sich durch den Markt ergebenden Einkommensverteilung (Vermögensverteilung). In der DDR richtete sich diese Politik gleichfalls auf die Korrektur der zentral geplanten Einkommensverteilung. Entscheidende Unterschiede bestanden u. a. in folgendem: Bundesrepublik

DDR

Konkurrierende Anwendung von Individual- und Sozialstaatsprinzip als Ausdruck pluralistischen und föderativen Verständnisses von Gesellschaftsordnung und Staatsaufbau

Prinzip kollektiver Gebundenheit. Individuelle Bedürfnisse sind gesellschaftlicht verptlichtenden und egalisierenden Kriterien untergeordnet.

Zur Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR

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Dezentralisierung der staatlichen sozialpolitischen Aktivitäten.

Zentralisierung aJler sozialpolitischen Aktivitäten durch den Staat.

Möglichkeit zu privater sozialer Sicherung, Wettbewerbsprinzip unter verschiedenen Versicherungsträgern.

Einheitsversicherung mit zwei staatlichen Trägem.

Finanzierung durch das Versicherungsprinzip von Leistung und Gegenleistung.

Finanzierung durch den Staatshaushalt und teilweise durch Beiträge der Versicherten.

Sozialpolitisches Instrumentarium ist ausgerichtet auf die erbrachten Vorleistungen und die leistungsauslösenden Gründe (KausalPrinzip).

Sozialpolitisches Instrumentarium war ausgerichtet auf die angestrebten Ziele (Finalprinzip).

Literatur Mayde/1, Bernd von u. a.: Die Umwandlung der Arbeits- und Sozialordnung. Opladen 1996. 1immermann, Heiner (Hg.): DDR-Forschung. Bilanz und Perspektiven. Berlin 1995, S. 119157. - (Hg.): Die DDR- Politik und Ideologie als Instrument. Berlin 199, S. 213-329.

II. Die DDR in der deutschen GeschichteSchwerpunkt Wirtschaft

Statement: Erfahrungen als Leiter der Staatlichen Plankommission Wirtschaftliche und politische Verflechtungen von Akteuren Von Gerhard Schürer

Zu Beginn möchte ich betonen, daß ich nicht als Betrachter schreibe, sondern als einer der Verantwortlichen dieser Zeit, der sich sets zu seiner Vergangenheit bekannt hat und es auch zukünftig tun wird. Ich möchte meine Erfahrungen aus 38 Jahren Planungstätigkeit in 9 Punkte zusammenfassen.

I.

Das System der zentralen Planung und Wirtschaftslenkung der DDR ist in der Zeit der SBZ in Anlehnung an das sowjetische Modell entstanden. Offiziere der Besatzungsmacht und später leitende Mitarbeiter der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland haben gemeinsam mit deutschen Politikern und Fachleuten dieses System ausgearbeitet und 1948 an einem Halbjahresplan erprobt. Das Gesamtkonzept orientierte sich am Reproduktionschema von Marx und war zunächst stark von den Interessen des militärisch-industriellen Komplexes der UdSSR geprägt. Dessen Vertreter hatten in dieser Zeit das Sagen und regierten mit Militärgesetzen und Befehlen. Seit 1947 arbeitete ich als Planer in der Landesregierung Sachsen und unterstand nicht nur Ministerpräsident Seydewitz, sondern auch Frau Oberst Dolgopolowa von der Sowjetischen Militäradministration in Dresden. Mit Hilfe von "Produktionsbefehlen" und später "Staatlichen Planauflagen" wurden die wichtigsten Aufgaben dieser Zeit abgesichert, wobei die materiellen Ziele sehr detailliert vorgegeben wurden, während die finanzielle Planung unterentwickelt war. Die sowjetische Seite hatte zentral die Anwendung von Stop-Preisen des Jahres 1944 angeordnet, um u. a. zu gewährleisten, daß für eine Mark möglichst viel Produkt in den Reparationsfonds floß. Der Kurs des Rubels zur Mark war damals etwa I zu 20. Die volkswirtschaftlichen Bilanzen und Schemata der Planung in ihrer Verflechtung waren der sowjetischen Methodik ähnlich. Im Unterschied zur Sowjetunion, die im Bereich des Staatlichen Plankomitees ständig ca. 3000 Positionen bilanzierte und in der Staatlichen Materialversorgung weitere 20 000 bis 30 000 Positionen, arbeiteten die Länder der SBZ und später die DDR jedoch mit nur 500- 800 Positionen in der staatlichen Planung und ca. 1000- 1500 Positionen

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Gerhard Schürer

in der Materialversorgung bzw. später in den Ministerien. Auch das war ein hoher Grad der Zentralisierung, aber die Planung war in dieser Zeit durchaus geeignet, die Ziele der Nachkriegsperiode zu gewährleisten, die darin bestanden: 1. die Menschen zur Überwindung der Kriegsfolgen zu mobilisieren und ihnen zu helfen, auf der Basis einer strenger Rationierung zu überleben; 2. die gegenüber der Bundesrepublik um das 25 fach höheren Reparationen der DDR sowie die Demontagen von 1/3 der Vorkriegskapazitäten zu gewährleisten; 3. die ökonomische Kraft im wachsenden Maße auf den Aufbau einer eigenen Schwerindustrie zu konzentrieren. Mit 14 Mrd. $Reparationen (in der Bundesrepublik waren es 517 Mio. $)plus der Demontagen von 30% der Kapazität des Jahres 1944 (in der Bundesrepublik waren es 3%) waren die Gründerjahre der DDR mit einem Aderlaß verbunden, der unsere Startbedingungen drastisch erschwerte. Als Staat DDR starteten wir 1949 mit einer Investitionsrate von 7% in die Nachkriegszeit, während es in der Bundesrepublik 20% waren. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 zeigten dann auf dramatische Weise die Grenzen der Belastbarkeit der Menschen und die Notwendigkeit politischer Veränderungen, die nach dem Tod Stalins, wenn auch halbherzig, in Angriff genommen wurden. Wenn man das Jahr 1950 als Index gleich 100 nimmt, stieg die Produktion bis 1955 auf 190 und bis 1960 auf 294, wurde also in 10 Jahren fast verdreifacht. Wir neiden es unseren Mitbürgern des Westens nicht, daß sie an der Seite der wohlhabenden USA mit dem Marshallplan wesentlich bessere Bedingungen hatten als die DDR an der Seite der schwer kriegszerstörten Sowjetunion. Aber man sollte verstehen, daß die These, die SED habe die DDR über 40 Jahre ruiniert und das Land heruntergewirtschaftet, im Osten auf Widerspruch stößt, weil sie die historischen Tatsachen außer acht läßt und die Leistungen der Bürger missachtet. Auf einer Tagung des Rings Christlich-Demokratischer-Studenten im Sommer 1997 in Schloß Wendgräbe bei Magdeburg erhielt Zustimmung von den Teilnehmern, als ich der Meinung von Generalsekretär Hinze widersprach, der in seinem einleitenden Referat gesagt hatte, daß es von der DDR absolut nichts, nämlich "Null" Übernehmenswertes gebe. Inzwischen hat man wohl anerkennen müssen, daß mit Kampagnen von "Roten Socken" und "Roten Händen" dem Streben der Menschen nach vollständiger staatlicher und geistig sozialer Einheit Deutschlands nicht gerecht werden kann.

II.

Politisch wurde nach dem schrecklichen Hitlerkrieg auch in Westdeutschland vom Sozialismus gesprochen. Kurt Schumacher schrieb 1947 in seiner Arbeit "Konsequenzen deutscher Politik", daß "der Kapitalismus als System zusammen-

Erfahrungen als Leiter der Staatlichen Plankommission

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gebrochen" sei und "der Sozialismus auf der Tagesordnung" stünde. Führende Kreise der CDU sprachen von einem "christlichen Sozialismus" bzw. von einem "Sozialismus aus christlicher Verantwortung." Im Ahlener Programm vom Februar 1947 formulierten die Mitglieder des CDU-Zonenausschusses: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ... ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen nicht gerecht geworden", und weiter, es müsse deshalb "eine Neuordnung von Grunde auf erfolgen" deren Inhalt und Ziel "nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben", sondern das "Wohlergehen unseres Volkes" sein müsse. Als dann aber im Westteil die kapitalistische Gesellschaft restauriert und im Ostteil die Nazi- und Kriegsverbrecher enteignet und als Ziel verkündete wurde, zum Aufbau einer sozialistische Gesellschaftsordnungen überzugehen, schieden sich die Wege.

III.

Spätestens anfangs der 60er Jahre wurde deutlich sichtbar, daß die DDR zu neuen Methoden der Planung und Wirtschaftslenkung übergehen muß, wenn sie im Ringen um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht weiter zurückbleiben wollte. Politisch hatte der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreicht und drohte zu einem heißen Krieg zu eskalieren. Die 1961 auf einer Tagung des Warschauer Paktes beschlossene Schließung der Staatsgrenze zur Bundesrepublik und nach Westberlin, brachte Tragik und Leid für Menschen in beiden Teilen Deutschlands, verhinderte aber sicherlich damals ein Ausbluten der DDR und dessen schlimme Folgen. Ökonomisch ermöglichte dieser Beschluß, daß die DDR besser vorausschauen und solider planen konnte. Über das System der Planung und Leitung wurde kritisch nachgedacht. Mein Vorgänger als Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, Dr. Erich Apel, hatte mit Wissenschaftlern und Praktikern das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, kurz "NÖS" oder im Westen ,,NÖSPUL" genannt, ausgearbeitet und Walter Ulbricht stellte sich 1963 - für manchen überraschend -demonstrativ als Schirmherr an die Spitze der Reformer. Ziel des NÖS war - ich zitiere hier Professor Herbert Wolf, einen der geistigen Vater des neuen Systems - "das vorher vorwiegend administrative System in ein vorwiegend ökonomisches, markt- und rentabilitätsorientiertes System mit Ieistungsbegründeier materieller Interessiertheit umzuwandeln". Zunächst gab es viel Lob und auch Erfolge für das NÖS. Viele staunten über den Spielraum für Reformen, den man den Ökonomen einräumte. Aber der Reform-Ansatz hatte auch starke Gegner, darunter im Politbüro der SED selbst. Politbüromitglieder wie Alfred Neumann und der Leipziger Bezirkssekretär Paul Fröhlich machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Auch Erich Honecker gehörte zu den Skeptikern, obwohl er sich als der von Ulbricht ausgewählte Kroprinz damals zurückhielt. Die zum NÖS als elementarer Bestandteil gehörenden Vorschläge für ein "Preisregelsystem", wurden vom Politbüro nicht beschlossen. Nur die Industriepreise durften in drei Etappen reformiert werden. Auch alle weiteren Versuche, das System der Preis3 Timmcrmann

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bildung zu dezentralisieren und die Subventionen zu reduzieren, schlugen fehl. Der Gewinn konnte damit objektiv nicht zur entscheidenden Kennziffer des NÖS werden. Traditionell dachten die orthodoxen Kräfte in der politischen Führung -wie sich Professor Claus Krömke erinnert -etwa so: "Der Gewinn der volkseigenen Betriebe gehört dem Volke und muß deshalb im Staatshaushalt konzentriert und von dort aus neu verteilt werden." Dieses Denken hemmte die Entwicklung eines betriebswirtschaftliehen Systems der Reproduktion. Mein Vorgänger, Dr. Erich Apel, den man im Politbüro damals auch noch für die ungenügenden Zusagen von Rohstofflieferungen der Sowjetunion an die DDR verantwortlich machte, wurde scharf angegriffen. Wenige Tage vor der am 15. Dezember 1965 vorgesehenen Tagung des Zentralkommitees der Partei, am 3. Dezember vormittags, erschoss sich Erich Apel in seinem Arbeitszimmer. Besonders enttäuscht war er darüber, daß sich sein engster Weggefährte, Wirtschaftssekretär Günter Mittag, bei einer dramatischen Auseinandersetzung unter der Leitung von Walter Ulbricht auf der Ostsee-Insel Vilm auf die Seite der Kritiker geschlagen hatte. Das NÖS war durch den Verlust seines Chefkonstrukteurs sicher angeschlagen, aber es wurde nicht aufgegeben. Nach längerer Diskussion in der politischen Führung wurde ich am 21. Dezember 1965 offiziell als Nachfolger Erich Apels eingesetzt und war bis Januar 1990, d. h. fast ein viertel Jahrhundert, in dieser Funktion tätig. Die Kugel aus Apels Dienstpistole in der holzgetäfelten Wand des Arbeitszimmers wurde damals schnell entfernt und durch eine kleine Intarsie ersetzt. Immer, wenn ich in den folgenden Jahren persönliche Krisen über mein Schicksal auf diesem Schleudersitz der Nation durchmachte, schaute ich auf diesen Fleck im Holz und schwor mir, diesen Weg der Selbstaufgabe niemals zu gehen. Am Neuen Ökonomischen System wurde, wie schon gesagt, auch nach dem Tod Apels auf Druck Ulbrichts festgehalten. Die Verantwortung für das NÖS wurde auf den Leiter des Preisamtes der DDR, Minister Walter Halbritter, übertragen, der von Anfang an zu den konstruktiven Kräften des Systems gehörte und wenig später auch als Kandidat ins Politbüros berufen wurde. Die Zahl der zentralgeplanten Positionen wurde schrittweise wieder erhöht. Dem Gewinn wurden weitere Kennziffern als entscheidend hinzugefügt, wie die industrielle Warenproduktion und der Export. Stabile wirtschaftliche Wachstumsraten kennzeichneten die Entwicklung der DDR dieser Jahre.

IV. Mitte der 60er Jahre beschloß die Parteiführung unter Walter Ulbricht, das Land "bedingungslos auf die Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen Revolution einzustellen" und "eine moderne Produktionsstruktur zu entwickeln". Ulbricht verlangte, für entscheidende Gebiete Prognosen bis 1990 bzw. bis 2000 auszuarbeiten und auf dieser Basis die Investitionsmittel auf die - wie man damals sagte -

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"Lokomotiven der wissenschaftlich-technischen Revolution" zu konzentrieren. Dem technischen Fortschritt der kapitalistischen Länder solle man nicht länger hinterherlaufen, sondern völlig neue Erzeugnisse, Technologien und Wirkprinzipien mit höherer Arbeitsproduktivität erfinden, um die Weltspitze mitbestimmen zu können. Die DDR förderte die Produktion solcher Zweige wie der Elektronik bzw. später der Mikroelektronik, der Veredelungsmetallurgie, der Glas- und keramischen Industrie, der Automatisierungs- und Steuertechnik, der Erdölchemie u. a. und sie erreichte etwa bis 1967 eine bedeutende Dynamik in der Arbeitsproduktivität. Mit fortschreitendem Alter begann Walter Ulbricht jedoch vieles zu überziehen. Alle wurden aufgefordert, "kybernetisch zu denken", "Heuristik zu studieren", den "Westen zu überholen ohne ihn einzuholen" und die Wachstumsraten der Pläne nicht aus dem Erreichten abzuleiten, sondern aus den Prognosen zurückrechnend mit Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität bis zu 12% jährlich zu bestimmen. Die Bilanzen müsse man "brechen", d .h sie sollten rechnerisch in Aufkommen und Verteilung nicht mehr in sich stimmig sein, sondern Raum lassen für neue Ideen und Initiativen. Das klang fortschrittlich, öffnete jedoch für Subjektivismus und Illusionen Tür und Tor . Es ist nicht erst heute meine feste Überzeugung, daß unreale, unerfüllbare Pläne der staatlichen Planwirtschaft mehr als alles andere geschadet haben und sie hatten ihre Ursachen in der Geschichte der DDR fast ausschließlich im Primat der Politik über die Wirtschaft, oder deutlicher gesagt im politischen Diktat über den ökonomischen Verstand. Daß es Mängel in der Planung selbst sowie im Wahrheitsgehalt der Meldungen über die Planerfüllung gab, möchte ich nicht bestreiten, aber die politischen Aufschläge auf die bilanzierten Pläne haben das Ansehen der Planwirtschaft eindeutig am meisten diskreditiert. Die Tragik dieser Periode Ulbrichts besteht darin, daß die Partei, nach vielen Fehlern und Experimenten, endlich zu einer modernen Wirtschaftspolitik mit dem Ziel gefunden hatte, die Arbeitsproduktivität durch wissenschaftlich-technische und arbeitsorganisatorische Maßnahmen zu erhöhen und Reformen in der Planung und Wirtschaftsleitung anzupacken, sich aber nun durch Halbwissen, Inkonsequenz, Übertreibungen und Schaumschlägerei hausgemachte Probleme schuf, die zum Hemmnis wurden. Das trug dazu bei, daß Ulbricht als Generalsekretär scheiterte. In der DDR formierte sich der Widerstand gegen ihn und Moskau ließ ihn fallen . Von seinem Nachfolger, Erich Honeck:er, der nie ein Anhänger der Reformen war, wurde das NÖS 1971 ohne jede Analyse seiner Vor- und Nachteile in aller Stille ad akta gelegt.

V. Die Produktionsstruktur der DDR wurde in den 60er und 70er Jahren entscheidend davon bestimmt, welche Waren die Sowjetunion zur Bezahlung ihrer um-

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fangreichen Rohstofflieferungen verlangte. Unser Gesamtimport aus der UdSSR bestand zu mehr als 70% aus Rohstoffen, besonders Erdöl, Erdgas, Walzstahl, Roheisen, Ferrolegierungen sowie große Mengen an Buntmetallen, Holz, Zellstoff, Papier, Baumwolle u. a. Als Gegenleistung mußte die DDR ihr Produktionsprofil auf den massenhaften Export von Chemieanlagen, Hochsee- und Binnenschiffen, Reisezug- und Kühlwaggons, Landmaschinen, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinen, Erzeugnisse der Elektrotechnik-Elektronik und auch auf bedeutende Lieferungen von Konsumgütern aller Art einstellen. Für den Zeitraum des letzten 5-Jahrplanes 1986- 1990 betrug das vereinbarte Volumen des gegenseitigen Warenaustausches rd. 360 Milliarden Mark, bei einem Kurs, der mit 1 Rubel 4,67 Mark über Jahrzehnte stabil blieb. Die Termsoftrades waren dabei langfristig gesehen im wesentlichen ausgeglichen. Diese sich nicht selten qualitativ verändernden Exporte ständig zu gewährleisten, kostete die DDR den Einsatz bedeutender Investitionsmittel. Außerdem mußten wir uns im wachsenden Maße mit Krediten an der Erschließung neuer Rohstoffvorkommen in der UdSSR beteiligen, um die vereinbarten Importe langfristig zu sichern. Diese Kredite wurden mit 1-2% leider nur sehr niedrig verzinst.

=

Ihren Außenhandel insgesamt hat die DDR über viele Jahre zu 60 - 65% mit den sozialistischen Ländern, 25- 30% mit den kapitalistischen Industrieländern und 5% mit den Entwicklungsländern abgewickelt. Die tiefgreifende Verflechtung der DDR mit der UdSSR und den anderen Ländern des RGW trug wesentlich dazu bei, daß sich in unserem Land eine zum Weltmarkt ungünstige und z.T. rückständige Grundstruktur der Wirtschaft herausbildete und auch das System der Planung und Leitung starre Grundzüge behielt, da es vor allem darauf ankam, mit den Plänen und Bilanzen die vereinbarten gegenseitigen Lieferungen zu gewährleisten.

VI. Nachdem im Jahre 1971 Erich Honecker I. Sekretär der Partei geworden war, wehte zunächst ein frischer Wind, der Mut machte. Reale Wachstumsraten von 4% jährlich galten als hohe Zielstellung für die Pläne. Die einseitige Konzentration auf "führende Zweige" wurde korrigiert und der Entwicklung der Produktion von Konsumgütern wurde grünes Licht gegeben. Alle Arbeitsgruppen, die den VIII. Parteitag vorbereiteten, erhielten als wichtigste Arbeitsthese, daß "der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stehen hat." Das klang gut. Der im Juni 1971 stattfindende VIII. Parteitag beschloß die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" und gab neue Hoffnungen. Doch bereits 1972, als dem Politbüro der Entwurf des Sozialpolitischen Programms vorgelegt wurde, war sichtbar, daß sich an den unrealen Forderungen der Partei wenig geändert hatte. Neu war nur, daß Honecker bei realer Planung des Wachstums der Produktion mehr verteilen wollte, als objektiv erwirtschaftet werden konnte. Im Endeffekt war das schlimmer als Ulbrichts überzogene Leistungsforderungen. Als ich im Polit-

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büro -dem ich damals noch nicht angehörte - anmahnte, diesem Sozialpolitischen Programm so nicht zuzustimmen, da seine Maßnahmen und Termine den Plan sprengten, also aus den eigenen Leistungen der DDR nicht finanzierbar waren und damit unvermeidlich zur Verschuldung der DDR oder zur Vernachlässigung der Investitionen - oder zu beiden - führen wird, wurde ich mit scharfen Worten des Generalsekretärs prinzipiell zurückgewiesen. Honecker sagte wörtlich, daß Schürer "die Beschlüsse das VIII Parteitages und damit den Kurs der Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik sabotieren wolle." Pathetisch stellte er noch eine große Initiative des Volkes in Aussicht, mit der die fehlenden Mittel im Verlauf der Plandurchführung beschafft und Kleindenker überzeugt werden sollen. Ich muß zugeben, daß mich die einheitliche Empörung gegen meine Warnung damals in Selbstzweifel brachte, denn die politische These von der Partei, die immer recht hat, war tief in uns, so auch in mir, verankert. Gern hätte ich unrecht behalten. Aber leider irrte die Partei! Die weitere Entwicklung schien allerdings zunächst den Standpunkt Boneckers zu bestätigen, denn zu Beginn dieses verhängnisvollen Weges wurden nur die angenehmen Seiten der wachsenden Schulden sichtbar. Wir importierten 1972-78 jährlich für mehrere Milliarden Valutamark modernste Technik aus den westlichen Industrieländern und bauten zahlreiche Betriebe neu auf oder rekonstruierten sie. Die Produktion und das Warenangebot wurden vielseitiger. Mit Hilfe von "Gestattungsproduktionen" kamen einige "Westwaren" in die Geschäfte. Niedrige Löhne und Renten wurden angehoben, Kinder und Familien mit mehreren Kindem wurden gefördert. Junge Ehepaare erhielten zinsgünstige Kredite, die mit wachsender Zahl der Kinder schrittweise erlassen wurden. Mütter erhielten mehr Freizeit zur Betreuung ihrer Kinder, der Wohnungsbau wurde forciert und die gewünschten Rückwirkungen auf die Leistungserhöhung wurden positiv spürbar. Insgesamt importierte die DDR im Zeitraum 1972- 1978 rd. 20 Milliarden Valutamark mehr aus den westlichen Ländern, als sie dorthin exportierte und hatte dabei nur 40% ihrer Kredite produktionsswirksam angelegt. Damit fehlte für 60% der Anleihen die Basis zur Refinanzierung. Dieses zwang uns, Ende der 70er Jahre, verstärkt Exporte aus den Konsumgüterzweigen zu ziehen, die dem Binnenmarkt fehlten und darüber hinaus nur mit ungenügender Rentabilität als "Billigware" exportiert werden konnten. Die Schulden der DDR in freien Devisen wuchsen von 2 Mrd. VM 1971 auf 11 Mrd. VM 1977 und 28 Mrd. VM 1980. Der Richtungskoeffizient zum Ausgleich der sich verschlechtemden Exportrentabilität erhöhte sich bei Exporten in die Bundesrepublik von 0,9 1971 auf 3,4 1987- 89. Von dieser Zeit an wurde die Notwendigkeit, die Zahlungsfähigkeit in freien Devisen zu gewährleisten, zum bestimmenden Element unserer Wirtschaftstätigkeit und je schwieriger dies wurde, um so größer wurde die Tendenz, im System der Planung und Leitung zu administrieren. Ergänzend zur Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz des Politbüros unter Leitung von Günter Mittag, die immer seltener tagte, je höher die Schulden stiegen, wurde zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit und mit

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dem Ziel, die Verantwortung - wenn es schief geht - auf den Ministerrat abwälzen zu können, eine Arbeitsgruppe mit gleichem Namen bei der Regierung unter meiner Leitung gebildet. Obwohl ich den fatalen Hintergedanken ahnte, nahm ich diesen Auftrag gern an, weil ich dadurch wöchentlich einmal die für die Devisenwirtschaft des Staates verantwortlichen Personen an meinen Tisch bekam und notwendige Maßnahmen schneller entscheiden konnte. Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren der Außenhandelsminister Gerhard Beil, der Leiter des Bereiches Kommerzielle Koordinierung Alexander Schalck-Golodkowski, der Präsident der Außenhandelsbank Werner Polze und die für Devisenwirtschaft zuständige Stellvertreterin des Finanzministers, Hertha König. Etwa zur gleichen Zeit riß die Wirtschaftskommission des Politbüros verstärkt direkt Aufgaben der Regierung an sich, indem sie zum Beispiel Rapporte der Generaldirektoren zur Exportplanerfüllung in freien Devisen vor dem Sekretär für Wirtschaft organisierte und überhaupt als Partei bis ins unerträgliche direkt in die Wirtschaft hineinadministrierte. Die Minister und Generaldirektoren mußten z. B. die Quartalspläne auf Monate aufteilen und später sogar die Tagesproduktion der Partei melden. Die monatliche Berichterstattung der Statistik wurde vor der Veröffentlichung im Parteiapparat von allen negativen Ergebnissen bereinigt und die Schönfärberei wurde nun zu einem festen Bestandteil der Leistungsbilanz der DDR. Das zentrale System der Planung und Leitung wurde in der zweiten Hälfte der 80er Jahre endgültig diskreditiert. Im Mai 1988 unternahm ich einen verzweifelten Alleingang. Am allmächtigen Wirtschaftssekretär Mittag vorbei schickte ich auf 13 Seiten an Honecker persönlich ein Reform-Papier, das ich vorsichtig "Überlegungen" nannte, da viele der Vorschläge den beschlossenen Thesen der Parteitage widersprachen, und bat den Generalsekretär um ein Gespräch unter vier Augen. Ich schlug Honecker u. a. vor: - weitere Investitionen für die Microelektronik zu stoppen und diese auf den Verarbeitungsmaschinenhau zu lenken, da wir im Export von Polygraphischen-, Textil- sowie Nahrungs- und Genussmittelmaschinen rentablen Absatz und traditionell bedeutende Marktchancen im Westen hatten; - die Investitionen der Zulieferindustie zu Lasten der Finalproduktion erhöhen, um entstandene Disproportionen zu beseitigen; - stark besiedelte Gebiete von der Überbaggerung durch die Braunkohleindustrie zu verschonen; Energie einzusparen statt extensiv zu erweitern und das vorgesehene Pumpspeicherwerk in Goidistal nicht zu bauen; - die in Berlin an zentralen Bauten eingesetzten 20 000 Bauarbeiter aus der Republik in die Bezirke zurückzuführen und dort für dringende Reparaturen der verfallenden Wohnungssubstanz einsetzen; - der Armee, Staatssicherheit, Polizei und den Parteien jeden Zuwachs von Mitteln zu sperren;

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- die wachsenden Guthaben der DDR in der UdSSR in Exporte nach dem Westen umzuwandeln; - die Subventionen bei Mieten, Energie, und bei Waren auf sozial begründete reduzieren; - Einfamilienhäuser und Villen an private Personen zu verkaufen. Honecker gewährte mir das Gespräch unter vier Augen nicht, gab das Material an Mittag, der dem Politbüro eine Gegenvorlage von 30 Seiten voller Entstellungen, Halbwahrheiten, Lügen und Verleumdungen vorlegte, die als Höhepunkt den Satz enthielt: "Diesen Überlegungen des Genossen Schürer zu folgen würde bedeuten, in einem umfassenden Maße Beschlüsse des VIII. und des IX. Parteitages der SED und somit die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in Frage zu stellen. Dr. Hans Herrmann Haertle von der Freien Universität Berlin hat diesen Streit nach der Wende als die "Schürer I Mittag Kontroverse" dokumentiert. Nach diesem Beschluß des Politbüros gegen meine Vorschläge nicht aufgegeben zu haben, war sicher mein größter persönliche Fehler. Zwar hätte sich an der Politik nichts geändert, denn zu tief war die Führung von ihrem Kurs überzeugt, aber Aufmerksamkeit im In- und Ausland hätte ein solcher Schritt doch gefunden.

VII. Insgesamt wurde in dieser Zeit immer deutlicher, daß die DDR mit der ungenügenden Effektivität ihres Systems, ihrer einseitigen Bindung an den Ostmarkt sowie durch das Embargo der westlichen Allianz nicht die Produktivität der HighTechnologien erreichen konnte. Die Sowjetunion als unser Hauptpartner hatte sich zwar eine leistungsfähige Forschungsbasis geschaffen, verbrauchte jedoch ihre Kräfte im Rüstungswettlauf mit den USA und der NATO. Solange die Bedingungen existierten, in die unser Land eingebunden war, der Warschauer Pakt, der RGW, das sozialistische Lager. die Sowjetunion, der innere Markt, konnte sich die DDR entwickeln. Wirtschaftlich erreichte sie 1950 das Vorkriegsniveau und übertraf im letzten Jahr ihrer Existenz den Vorkriegsstand von 1936 13-fach. Obwohl die DDR in allen Jahren im RGW das Land mit der höchsten Arbeitsproduktivität war, blieb sie gegenüber den westlichen Industrieländern weit zurück. Als die Bedingungen ihres Umfeldes 1989 I 90 wegbrachen, konnte die DDR als selbständiger Staat nicht weiter existieren, wobei nicht vergessen werden sollte, daß die Menschen, die sich 1945 ihre Besatzungsmacht nicht aussuchen konnten, im Ramen der ihnen im existierenden System gegebenen Möglichkeiten viel geleistet haben.

VIII. Persönlich möchte ich mich als langjähriger Planungschef der DDR um die Erkenntnis nicht herumdrücken, daß eine überzentralisierte oder gar totale Planung

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der ungeheuren Vielfalt der Bedürfnisse einer Volkswirtschaft und der Bevölkerung auch bei bester Computertechnik weder sinnvoll noch planerisch und verwaltungstechnisch beherrschbar ist. Die soziale Marktwirtschaft hat sich geschichtlich in ihrer Innovationskraft der von uns praktizierten Art der zentralen Planwirtschaft überlegen erwiesen. Durch das Gewinnstreben ist ihr a priori gegeben, was die Planwirtschaft trotz großer gesellschaftlicher Aktivitäten im sozialistischen Wettbewerb, in Aktivisten-Bestarbeiter- und Neuererbewegungen nicht ausgleichen konnte. Die für die Menschen anonym bleibenden Formen des staatlichen Eigentums und die ungenügende demokratische Legitimation der Machtorgane schafften nicht die günstigsten Voraussetzungen für die Entfaltung aller innovativen Kräfte. Der Gedanke, daß alle in einen großen Topf wirtschaften, aus dem dann neu verteilt wird, überzeugte nicht, täglich das Beste zu geben und materieller Anreiz ersetzte nicht das massenhafte kreative Streben nach höchstem Gewinn bei eigenem Risiko. Wahr ist aber auch, daß die Marktwirtschaft, selbst wenn sie weiterhin anstrebt, eine soziale zu sein, alle Dinge immer und ausschließlich unter dem Blickwinkel des Profites sehen wird und es ist zu befürchten, daß die anstehenden globalen Probleme in Deutschland und in der Welt mit marktwirtschaftliehen Instrumenten allein nicht gelöst werden, daß sie sogar größer werden können. So sehen es auch viele Wissenschaftler in der ganzen Welt. Wenn man in den letzten Jahren beobachten konnte, wie die wohlhabende Bundesrepublik kurzfristig von einem Haushaltsloch in das andere fiel, sollte die Idee, etwas vorausschauender zu planen, gar nicht so abwegig sein. Besonders eine weltweite strategische Planung der rationellen und umweltschonenden Energie- und Rohstoffnutzung würde ich für wichtig halten. Bei Würdigung all der großen Erfolge der Marktwirtschaft und demokratischer Strukturen der Gesellschaft, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeil in der Bundesrepublik ist die Polarisierung von Reichtum und Armut Bestandteil des Systems und schreitet weiter fort. Große Kapitalfonds werden offensichtlich auch weiterhin in die Billiglohnländer abfließen. Es besteht die Gefahr, daß uns trotz aller guten Programme und Erklärungen hohe Arbeitslosigkeit sowie soziale Belastungen weiter begleiten werden. Umverteilung "von Oben nach unten" ist jetzt angesagt und klingt gut für die unten, aber die oben und in der Mitte sollen Arbeitsplätze schaffen und das kostet Geld. Andere Länder forcieren jene High-Technologien, aus denen man in Deutschland nun aussteigen will. Für deutsche Erfindungen kann der Siegeszug in die Welt wegen leerer Staatskassen steiniger werden, obwohl gerade die hohe Innovationskraft unseres Landes ein Trumpf der sozialen Marktwirtschaft in der Zeit der Globalisierung ist, den man nicht aus der Hand geben sollte. Unbestritten muß dem Gewinn durch ständigen Druck auf die Kostensenkung auch in Zukunft die entscheidende Stelle in jeder wirtschaftlichen Tätigkeit eingeräumt werden, denn aus dieser Quelle fließen nicht nur die Steuern für den Staat und die Kommunen, sondern letztlich alle Mittel, sowohl für die unabdingbaren

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Investitionen, um Spitzenpositionen in der Welt zu behaupten, als auch zur Sicherung des sozialen Friedens und des gesellschaftlichen Fortschritts. Der Versuch, die Kosten vorrangig durch Sozialabbau zu senken, ist ein zweischneidiges Schwert, da er die Konflikte mit den Menschen verschärft, deren Arbeit letztlich alles trägt und der dem inneren Markt Kaufkraft entzieht, wovon erneut Arbeitsplätze bedroht sind. Außerdem sollten die Politiker trotz ihrer soliden Einkommen und Diäten niemals vergessen, daß allein durch die Stimmen der Reichen die von ihnen gewünschten parlamentarischen Mehrheiten nicht zu sichern sind, wenn sie fortwährend versuchen, notwendige Reformen vor allem durch weitere Belastung der unteren Einkommen zu finanzieren.

IX. Was die .,Zwischenbilanz Aufbau Ost" nach der Wende betrifft, möchte ich offen gestehen, daß es nach meinem, als älterer Mann vielleicht schon etwas starrsinnigem Denken, für beide Teile Deutschlands besser gewesen wäre, wenn die zunächst auch in der Bundesrepublik Deutschland ausgearbeiteten Konzepte zur schrittweisen Annäherung beider Staaten der Leitfaden geworden wären. Das waren z. B. die Gutachten des wissenschaftlichen Beirates beim Ministerium für Wirtschaft sowie des .,Krombacher Kreises". Noch am 5. Februar 1990 waren der Präsident der Deutschen Bundesbank Pöhl und sein Vizechef Schlesinger nach Ostberlin geflogen, um mit dem damaligen Präsidenten der Staatsbank der DDR, Horst Kaminski, über Wege des stufenweise Herangehens zu beraten. Doch schon am folgenden Tag wurden sie von dem beschlossenen beschleunigten Weg der Bundesregierung zur Einheit überrascht. In der Tat war die öffentliche Stimmung in der Bevölkerung der DDR in Richtung der Einheit und vor allem einer sofortigen Währungsunion sehr stark. Wenn Helmut Kohl recht hat, daß auf Grund dieser Lage so und nicht anders entschieden werden konnte, sollte man aber die Folgen daraus gerechterweise nicht auch noch den gewiß nicht geringen Altlasten der DDR hinzurechnen. Das Volksvermögen der DDR innerhalb von 3 Jahren in der Zeit einer Rezession zu niedrigsten Verkehrswerten vermarktet zu haben und dabei ständig zu verkünden, daß man nur marodes Zeug zu verkaufen hat, was da feilgeboten wird, war - glaube ich - weder politisch noch kaufmännisch ausreichend durchdacht. Es ist aber heute Geschichte, zu der fast alle Messen gesungen sind: - Volkseigentum der DDR-Bürger ist zu 85% in die Hände westdeutscher Eigentümer, zu 9% an Ausländer und nur zu 6% an Ostdeutsche gegangen; - die Industriekapazitäten der DDR waren auf 20%, die Pflanzenproduktion auf 80% und die Tierproduktion auf 50% geschrumpft, und neue Kapazitäten konnten nur Schritt für Schritt geschaffen werden; - die Altschulden des mit I - 1,5% niedrig verzinsten Kreditanteils eines jeden Betriebes der DDR, mit denen er systembedingt zu ca. 1 I 3 seiner Fonds nach

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Gewinnabführung an den Staat arbeiten mußte, um die Kontrolle des Staates über das Volkseigentum zu sichern, wurden mit einem Kurs von 2 : I in harte DM-Schulden umgewandelt und mit hohen, marktüblichen Zinsen belegt, was viele in den Ruin trieb bzw. heute noch stark belastet. Obwohl ich zu denen gehöre, die um die großen Anstrengungen einer Reihe von Mitarbeitern der Treuhand wissen, bei der Privatisierung optimale Lösungen zu finden, wie z. B. jene, die mit Unterstützung von Staatssekretär Ludewig vom Bundesministerium für Wirtschaft, Ministerpräsident Stolpe von Brandenburg, der Europäischen Union und besonders des belgischen Konzerns Cockerill Sambre, alles erdenkliche getan haben, um die Kapazitäten des EKO in Eisenhüttenstadt zu retten und zu modernisieren, bleiben mir die drastischen Worte von Professor Wilhelm Hanke) von der Goethe Universität Frankfurt am Main in guter Erinnerung, der 1994 schrieb, daß die Treuhand "ein falsches Konzept verkörpert" und "ein Riesenvermögen weit unter Preis verschleudert hat". Im Herbst 1998 hatte Günter Grass in Festsaal des ehemaligen Hauses der Treuhand, dem heutigen Finanzministrium gesagt, ich zitiere: "Jeder, der da einmal einzieht, besonders ein SPD Finanzminister, sollte sich in diesem Gebäude als erstes darum kümmern, wie es geschehen konnte, daß da von der Treuhand Milliardensummen ohne parlamentarische Kontrolle versenkt und verschoben worden sind." So mischen sich heute in den neuen Bundesländern Stimmungen verschiedener Art, von Enttäuschung über die Deindustrialisierung und über nicht eingelöste Versprechen bis zu Hoffnungen auf einen neuen Aufbruch in das neue Jahrtausend. Niemand, der mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer geht, kann übersehen, daß seit 1990 große Anstrengungen gemacht werden, um modernes, was es in der DDR doch auch gab, wie z. B die leistungsfähige Fabrik für die Produktion von Polyurethan in Schwarzheide oder die Kapazitäten der Microelektronik in Dresden zu erhalten und ständig zu modernisieren. Wir müssen sicher auch begreifen, daß wirklich marodes der DDR, wie z. B. die veralteten Kapazitäten der Kohle-Karbid-Chemie, die Schwelereien und Teerfabriken, die alten Hütten der Buntmetallurgie u. a. stillgelegt werden mußten, um die Umwelt zu entlasten. Darüber hinaus wurde manch Neues geschaffen, wie die modernen Autowerke Opel in Eisenach und Volkswagen in Mosel, oder leistungsstarke und umweltschonende Kraftwerke in Jänschwalde, Schwarze Pumpe und Berlin Mitte. Durch den Bau einer Warmbandstraße im EKO wurde 1997 der metallurgische Zyklus geschlossen und der viele Jahre anhaltende Verlust von Energie durch das Um walzen der Brammen in Salzgitter vermieden, was die Arbeiter des Betriebes damals als "Stahltourismus" bezeichneten. Lt. "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1997" wurden seit 1991 in den neucn Bundesländern 5000 km Schienenwege modernisiert und mit modernsten Zügen ergänzt. 11000 km Straßen wurden rekonstruiert bzw. neu- und ausgebaut. Allein für das Autobahnnetz wurden in 6 Jahren mehr Mittel eingesetzt, als es uns in der DDR in 40 Jahren möglich war. 500 000 Tele-

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fonanschlüsse im 5-Jahresplan 1986- 1990 zu schaffen, hieß das Ziel des letzten 5-Jahrplanes der DDR. Das 10 fache, also 5 Millionen Anschlüsse, schaffte die Telecom in 6 Jahren. Das ehrgeizige Ziel der DDR, im Zeitraum 1971- 1990 3 Millionen Wohnen neu zu bauen bzw. zu modernisieren, erreichten wir mit sehr viel Mühen, doch selbst dieses für unsere DDR-Bedingungen riesige Ziel wurde in 6 Jahren nach der Wende mit 4,2 Millionen in hoher Qualität neu gebauten bzw. modernisierten und inslandgesetzten Wohnungen in den neuen Bundesländern überboten. Übersehen sollte man dabei nicht, daß all dieses nicht nur den Menschen des Ostens, sondern allen Deutschen und Ihren Gästen dient und man fragt sich, warum das, was früher innerhalb der alten Bundesländern selbstverständlich war, plötzlich innerhalb Deutschlands, nur weil es den Osten betrifft, als "Transfer" von West nach Ost gerechnet wird. Schließlich ermöglichen all diese Maßnahmen doch auch der deutschen Großindustrie- und dem Mittelstand aus dem Verkauf von Autos, Telefonen und Gesprächsgebühren, Bahnreisen und Tourismus, aus dem Bau von Hotels und Tankstellen umfangreiche Gewinne zu realisieren, die zum überwiegenden Teil auf Grund der Eigentumsverhältnisse logisch wieder im Westteil des Landes ankommen. Die Transferleistungen von West nach Ost sollen - nach Aussagen von Theo Waigel -von 1991 bis 1998 kumulativ eine Billion DM erreicht haben. Diese gewaltige Zahl wurde im Wahlkampf ständig wiederholt, um zu beweisen, was der Westen alles für den Osten getan hat. Man zeigte sich teilweise sogar über die Undankbarkeit der Ossis enttäuscht, weil sie die POS wählen. Aber warum ist diese riesige Summe von einer Billion nicht für alle Deutschen in Ost und West durchschaubar gemacht worden? In der Zahl von einer Billion DM Transfer sind nämlich bei weitem nicht nur Förderleistungen für die neuen Bundesländer aufgelistet worden. Gemessen an dem im Jahr 1996 mit 140 Mrd. DM bisher höchsten jährlichen Transferleistungen im Rahmen dieser einen Billion sind im obengenannten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit auf Seite 80 allein 26 Mrd. DM als Anteil für die Bundesanstalt für Arbeit und damit zur Finanzierung der hohen Arbeitslosigkeit der Menschen im Osten ausgewiesen, die ihr Geld sicher viel lieber durch Arbeit verdient hätten. Weitere 19 Mrd. DM dienten der Rentenversicherung und der Finanzierung des Vorruhestandes. Auch das Kinder- und Wohngeld, das doch allen Menschen in Ost und West unter bestimmten Bedingungen zusteht, ist in der Transfersumme von West nach Ost enthalten. Man kann es kaum glauben, aber sogar die Kosten für die Stationierung der Streitkräfte der Bundeswehr im Osten und die Baumaßnahmen der Bundesregierung für ihren Umzug im Ostteil Berlins sind als Transfer im Rahmen dieser Billion registriert. Wenn man nun noch bedenkt, daß die Aufträge aus diesen transferierten Geldern fast vollständig an Konzerne und Unternehmen der Bundesrepublik vergehen werden und die erzielten Gewinne damit an die Eigentümer aus dem Westen zurück-

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fließen, muß man die Richtigkeit dieser Art der Berechnung von Transfermitteln prinzipiell anzweifeln dürfen. Meines Erachtens ist es an der Zeit, diese Berechnung zu überprüfen, denn eine solch gewaltige globale Zahl ohne Erläuterung der Faktoren ihrer Berechnung kann die Menschen im Osten demütigen, weil sie wie undankbare Raffer erscheinen, und die Menschen im Westen verbittern, weil sie so hohe Beträge für die Einheit bezahlen sollen. Es wäre im Interesse der geistigen und sozialen Einheit sehr wichtig, die gewiß nicht kleinen tatsächlichen Förderleistungen des Westens für den Aufbau Ost zu berechnen, für die ihnen der aufrichtige Dank sicherlich nicht verwehrt würde. Vor allem aber können all die bisher als Transfer von West nach Ost berechneten Leistungen nicht die Behauptung stützen, daß die Altlasten der DDR eben höher waren, als man eingeschätzt habe und dieses die Hauptursache der Deindustrialisierung und der katastrophal hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern sei. Gewiß, die DDR vererbte den alten Bundesländern Rückstände in Technik und Produktivität, Veraltetes in der Infrastruktur, Devisenschulden und Umweltlasten, Marodes in veralteten Betrieben, Städten und Gemeinden. Auf jeden Fall hinterließ die DDR aber nicht nur Schulden und Ruinen, und sie erbte vom Westen auch nicht nur Gutes, denn ihre Bürger erbten auch ihren Anteil aus der hohen Inlandsverschuldung des westlichen Teils Deutschlands. Sie verloren Eigentum aus der Vermarktung ihres Volksvermögens und ermöglichten den potenten Konzernen im Westen, bedeutende Vereinigungsgewinne zu realisieren. Die DDR hatte am Ende ihrer Existenz hohe Guhaben in den sozialistischen und Entwicklungsländern, sie zahlte fast vollständig die Reparationen des Hitlerkrieges ganz Deutschlands. Das veranlasste Herrn Professor Arno Peters zur Zeit der Wende mit weiteren Professoren der Bundesrepublik einen Appell an die Bundesregierung mit der Aufforderung zu unterzeichnen, einen "Reparationsausgleichfonds" von 727,1 Mrd. DM zu schaffen. Zu berücksichtigen ist auch, daß die DDR 1990 mit ihrem kostbaren Humankapital an gut ausgebildeten Menschen durch eigene politische Entscheidung ihrer Bürger freiwillig in die Einheit Deutschlands kam, und das nicht etwa vordergründig deshalb, weil die DDR gegenüber dem Westen verschuldet war. Zur Verschuldung der DDR in freien Devisen abschließend nur noch wenige Bemerkungen. Während wir im Oktober 1989 im Auftrag von Generalsekretär Egon Krenz, der endlich mit der Schönfärberei Honeckers brechen wollte, in einer Vorlage zur "ungeschminkten Darlegung der ökonomischen Lage der DDR" von einer Devisenverschuldung von 49 Mrd. VM berichteten, was von der Bundesregierung als Eingeständnis der Pleite betrachtet wurde, haben wir diese Summe schon wenige Tage später gegenüber der Volkskammer zu recht auf 38 Mrd. VM korrigiert, was nach damaligem Kurs 20,6 Mrd $. waren. Der Grund war, daß vorher mehr als 10 Mrd. VM Kredite des Bereiches Kommerzielle Koordinierung als Devisenschulden der DDR im Ausland aufgenommen werden mußten, weil dieser Bereich durch einen Beschluß des Politbüros als "Devisenausländer" zu behandeln war, denn nur so konnte er seine Aufgabe lösen, freie Devisen über den Plan hinaus zu erwirtschaften. Tatsache ist, daß die DDR bis zum Ende ihrer Existenz alle Rech-

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nungen bezahlt und alle fälligen Kredite pünktlich bedient hat. Obwohl inzwischen die Deutsche Bundesbank zum Stichtag der Wahrungsunion im Juli 1990 die Devisenschulden der DDR noch niedriger, nämlich mit 14,8 Mrd. $ angab, weil inzwischen weitere Aktiva der DDR einbezogen wurden, werden nach wie vor die im sogenannten "Schürer-Papier" ausgewiesenen 49 Mrd. VM. als Eingeständnis des obersten Planers der DDR betrachtet, daß die DDR 1989 Pleite war. Ich will hier nichts schön reden, denn auch 14,8 Mrd. $ waren eine hohe Schuld, die ohne eine drastische Senkung des Lebensstandards, für die wir keine Möglichkeit sahen, in absehbarer Zeit nicht auszugleichen gewesen wäre. Es ist anzuerkennen, daß diese Schulden durch Leistungen der Bundesrepublik kurzfristig getilgt wurden. Ich komme zum Schluß: Vieles mußte ich nach der Wende lernen und versuche, es zu begreifen. Ich halte die auf friedlichem Wege erreichte Einheit Deutschlands für die größte Errungenschaft, und ich glaube, daß die Chancen des Zusammenwachsens der Menschen in Ost und West noch besser genutzt werden können. Auch in Zukunft werde ich mich über jeden Fortschritt in Deutschland, in Europa und in der Welt freuen und optimistisch in das neue Jahrtausend schauen. Am schwersten Hillt es mir zu verstehen, daß im wohlhabenden Deutschland nicht wenigstens Anstrengungen sichtbar werden, die Armut in Grenzen zu halten, sondern oft das Gegenteil geschieht. Es tröstet mich allerdings zu wissen, daß ich in dieser Frage mit den Kirchen in einem Boot sitze. Auf Grund meiner Verantwortung für die untergegangene DDR liegt es mir fern, Ratschläge zu geben, aber eine Exportoffensive mit langem Atem in die östlichen und fernöstlichen Märkte, eine bessere Nutzung der hohen Außenhandelsguthaben zur Belebung der inneren Konjunktur und eine bedeutende Erweiterung aller Arten von Dienstleistungen im Lande und international könnten neue Schubkräfte freilegen, um die Arbeitslosigkeit zu dämpfen sowie beim erforderlichen Umbau sozialer Systeme Rezessionen, zumindest in den unteren Einkommensbereichen, zu vermeiden. Was die DDR betrifft, so hieß die zentrale Losung viele Jahre: "Von der Sowjetunion lernen, heiß siegen lernen" . Gelernt haben wir, aber gesiegt haben wir beide nicht.

Das Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung in der DDR Subjektives Versagen oder Reformunfahigkeit des Systems? Von Claus Krömke

I. Was sollte mit dem NÖS erreicht werden? Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft", im folgenden kurz NÖS genannt, war ein Versuch, das rein administrativ aufgebaute System der Planwirtschaft in ein Wirtschaftssystem zu überführen, das neben der starren Festlegung von Produktionsauflagen auf der Förderung und Ausnutzung echter ökonomischer Interessen der Betriebe beruht. Das setzte die Anerkennung der Existenz von solchen ökonomischen Kategorien wie Kosten, Preise, Geld, Gewinn und Rentabilität voraus, allerdings nicht nur als formale Plankennziffern, sondern als Ausdrucksformen ökonomischer Interessen. Sie sollten ausgenutzt werden, damit die Betriebe und deren Kollektive und auch die Einzelpersonen aus eigenen ökonomischen Interessen heraus Leistungen vollbringen. Das implizierte die Anerkennung dessen, daß mit Plan-Befehlen allein und auch nicht nur mit Hilfe des politischen Bewußtseins die Leistungsbereitschaft der Menschen entwickelt werden konnte. Was für die Volkswirtschaft vorteilhaft war, sollte auch für den Betrieb und den Einzelnen vorteilhaft sein. Dieser unter Chruschtschow in der Sowjetunion formulierte Grundsatz gab den Anstoß für neue Überlegungen in der DDR dahingehend, von der rein administrativen Planung wegzukommen und ökonomische Anreize zu nutzen. Wie in Deutschland üblich, entschloß man sich, nachdem die Grundidee akzeptiert worden war, das Bestehende nicht einfach durch einige neue Elemente zu bereichern, sondern ein ganz neues System zu gestalten. So zumindestens war die Absicht, heraus kam allerdings nicht mehr als eine Anreicherung der bisherigen Planung um einige neue Elemente und Bestandteile, die allesamt der direkten Planung unterlagen. Eine echte ökonomische Selbständigkeit der Betriebe kam nie zustande. Allerdings, das muß der Gerechtigkeit halber festgehalten werden, waren die Betriebe der DDR immer wesentlich mehr als reine Produktionsstätten, sie waren soziale und ökonomische Organismen, die sich als wirtschaftende Einheiten verstanden und auch so behandelt wurden. Das wurde mit dem NÖS ganz deutlich, und das blieb auch so, nachdem der Reformansatz gescheitert war. Das NÖS wurde in seiner Ursprungsfassung definiert als "die organische Verbindung

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- der wissenschaftlich fundierten Führungstätigkeit in der Wirtschaft und - der wissenschaftlich begründeten, auf die Perspektive orientierten zentralen staatlichen Planung - mit der umfassenden Anwendung der materiellen Interessiertheit in Gestalt des in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel." 1 Folgendes war neu: I. Eine gewisse Relativierung der staatlichen Planung, indem sie an die zweite Stelle rückte und als Perspektivplanung definiert wurde. 2. Die erstmals gestellte Forderung nach einer "wissenschaftlichen Führungstätigkeit". 3. Die Forderung, daß es eines "in sich geschlossenen Systems ökonomischer Hebel" bedürfe. Eine Bemerkung zur "wissenschaftlichen Führungstätigkeit": Sie wurde damals an erster Stelle genannt. Diese Hervorhebung der Notwendigkeit einer "wissenschaftlichen Führungstätigkeit" ist bemerkenswert. Es genügte also nicht mehr eine Planaufgabe zu haben, sondern die Betriebe sollten nach wissenschaftlichen Kriterien geführt werden. Fleißig wurde die Managementliteratur studiert. In Rahnsdorf wurde zur Ausbildung von Führungskadern das "Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung" (ZSW) gegründet, das von Professor Helmut Koziolek geleitet wurde. Dahinter stand die Einsicht in die Realität der trotz Sozialismus gegebenen Fortexistenz des Kapitalismus, mit Erfolgen in der Innovation und einer effizienten Produktion, der gegenüber die sozialistischen Betriebe einen eindeutigen Rückstand aufwiesen. Deshalb müsse man diesen Rückstand kennen, um ihn zu verändern. Wenn es gelänge, diese modernen Führungsmethoden der kapitalistischen Konzerne mit der Planung zu verbinden, dann könne der Rückstand überwunden werden? Das NÖS wurde 1963 mit einer "Richtlinie" in die Form eines staatlichen Konzepts gegossen. Diese "Richtlinie" nahm Bezug auf den VI. Parteitag der SED und ein weiteres Referat von Walter Ulbricht auf einer Wirtschaftskonferenz des ZK der SED und des Ministerrates der DDR am 24. Juni 1963. Sie stellte ein Grundsatzdokument dar. Es ging um nicht mehr und um nicht weniger, als mit dem NÖS ein "sozialistisches System der Volkswirtschaft" zu schaffen. 3 Es sollte die "schöpferische Initiative der werktätigen Massen entwickeln", den "höchsten gesellschaftlichen Nutzen gewährleisten" und die "Vorzüge der sozialistischen Ordnung" voll entfalten helfen. I "Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft", Beschluß des Präsidiums des Ministerrates vom II. Juli 1963, veröffentlicht in "Neues Deutschland" vom 16. Juli 1963, Sonderbeilage Seite 4 . 2 Der Autor dieses Beitrags besuchte beispielsweise die Buchmesse in Leipzig und fertigte eine Liste von Management-Literatur an, die dann beschafft wurde, natürlich streng intern. J Ebd., S. I.

Das Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems

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Damit beinhaltete die NÖS-Konzeption eine Kampfansage an das Bestehende. Bewußt wurde auf Vokabeln wie "Vervollkommnung" und "Weiterführung" verzichtet, sondern auf eine neue Qualität gesetzt. Die Beifügung "neues" ökonomisches System sollte das signalisieren. Dem ging eine Einschätzung der Wirkung der bisherigen Art und Weise der Planung und Leitung voraus. Diese wurde als durch die politische und ökonomische Entwicklung "überholt" bezeichnet. Sie "bremste" das "Tempo unserer ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung".4 Das war bereits eine massive Kritik an dem bisher gültigen, von der Sowjetunion übernommenen, Planungsmodell und der geübten Leitungspraxis, insbesondere was die Rolle der Betriebe betraf. Aber der eigentliche Kern bestand in der Orientierung auf die Schaffung eines ganzen Systems, also nicht nur auf einzelne Maßnahmen zur Korrektur des Bestehenden. Ulbricht vertrat die Konzeption, daß der Sozialismus auf seiner eigenen Grundlage entwicklungs- und ausbaufähig sei. Er könne und müsse sogar über das bestehende Modell hinaus neu gestaltet werden. Diese These wurde später von seinen Gegnern als fundamentaler theoretischer Fehler verworfen. Das NÖS war ein solcher Versuch der Neugestaltung. Der "Richtlinie" war als Anlage eine "Kritische Einschätzung der bisherigen Praxis der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" beigefügt, unterzeichnet mit "Regierung der Deutschen Demokratischen Republik - Volkswirtschaftsrat -". 5 Sie gipfelte in der Feststellung, daß die "bezeichneten Schwächen des bisherigen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft zu einem fehlerhaften Kreislauf (führten)". Dabei wurden insbesondere die nahezu ausschließliche Orientierung der Planungsmethoden auf die Jahresplanung und deren Übererfüllung, das Fehlen von ausreichenden ökonomischen Anreizen für die Betriebe zur besten Nutzung der Fonds, die eingeschränkte Rolle des Gewinns, der nur neben einer Vielzahl anderer Kennziffern existierte, und das Prinzip starrer, nicht zu verändernder Preise genannt. 25 Jahre später, nämlich im Jahre 1986, beauftragte mich Günter Miuag in Zusammenhang mit der Vorbereitung des wirtschaftspolitischen Teiles des Rechenschaftsberichtes des ZK an den XI. Parteitag der SED, eine Formulierung über die Anwendung der Kategorien Preis, Geld, Gewinn, Kredit und Zins vorzuschlagen und unter allen Umständen dafür zu sorgen, daß gerade diese Formulierung in der Endredaktion nicht verloren geht. Von den etwa 60 Seiten, die wir insgesamt ablieferten, war ihm dieser eine Satz der wichtigste. Hoffte er in Vorbereitung auf den nächsten Parteitag auf eine Renaissance der Ideen des NÖS? Im Dezember 1988 wurde für ein Grundsatzreferat Honeckers ein Ansatz für weitere Schritte dahingehend formuliert, " ... daß die sozialistische Produktion Warenproduktion ist. In ihr existieren objektiv Wertkategorien wie Preis, Gewinn, Kosten, Kredit und Zins, und es gilt dies planmäßig im gesellschaftlichen Gesamtinteresse zu nutzen. Dasselbe ist über die Tatsache zu sagen, daß sich der Aus4 5

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tausch von Produkten als Warenaustausch vollzieht. Demzufolge stellen der Markt und die ihm gerecht werdenden vertraglichen ökonomischen Beziehungen eine objektive Kategorie in unserer sozialistischen Planwirtschaft dar."6 In einer weiteren Passage wurde auf den Gewinn als Quelle für die Akkumulation verwiesen. Diese Formulierungen, die an den Beginn des NÖS erinnern, dokumentieren zwar eine Denkrichtung, aber ihre Verwirklichung mußte aus heutiger Sicht ein irrealer Wunsch bleiben, weil sich eine zentrale staatliche Verfügung über die Fonds der Betriebe und ein echter Markt einander ausschließen. Dieses Geschehen zeigt recht deutlich, was aus dem NÖS geworden war. Nach 25 Jahren war der Stand in vieler Hinsicht der gleiche, wie zu Zeiten des ersten Entwurfs 1963, in mancher Hinsicht vielleicht noch unvollkommener. Die damalige Kritik an der Praxis hätte man getrost noch einmal aufschreiben können. Nach wie vor dominierte der Jahresplan, waren die Preise unbeweglich (damals wurde auch nicht von Industrie- und Verbraucherpreisen getrennt gesprochen), hatte der Gewinn zwar eine etwas größere, aber keine ausschlaggebende Rolle für die Arbeit der Betriebe. Während die NÖS-Konzeption 1963 noch mit einer Kritik des bisherigen Systems verbunden war, kamen später kritische Einschätzungen bisheriger Entwicklungen unter Honecker völlig aus der Mode. Selbst als die weitere Arbeit an der NÖS-Konzeption mit einem Beschluß des Politbüros vom 8. September 1970 eingestellt wurde und eine grundsätzliche Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik erfolgte, gab es keine öffentliche Kritik am NÖS. Im Gegenteil, es gelang noch, in der Rede Honeckers auf dem VIII. Parteitag 1971 eine Formulierung unterzubringen, daß sich das NÖS- damals wurde vom "ökonomischen System des Sozialismus" gesprochen - bewährt habe, allerdings könne es nicht allzuviele "außerplanmäßige Wunder" verkraften. 7 Wir hielten uns naiver Weise an der positiven Aussage noch aufrecht, obwohl die neue Führung nicht im Geringsten daran dachte, das NÖS irgendwie am Leben zu erhalten. Aber bezeichnend ist, daß eine prinzipielle Kritik des NÖS, um daraus etwas Neues und Besseres zu entwickeln, eben nicht erfolgte! Es gab ja auch keine brauchbare Antwort auf die Frage, was an die Stelle des NÖS treten sollte, denn hinter dem NÖS steckte schließlich die Anerkennung eigenständiger ökonomischer Interessen. Das war schon viel, gegenüber den weit verbreiteten Vorstellungen von der Rolle des politischen Bewußtseins als der eigentlichen Quelle der Leistungsmotivation. Deshalb bestand der entscheidende und revolutionäre Schritt der NÖS-Konzeption darin, das damals so formulierte "Prinzip der materiellen Interessiertheit" zu einem Grundpfeiler des wirtschaft6 Erich Honecker: "Mit dem Blick auf den XII. Parteitag die Aufgaben der Gegenwart lösen." Aus dem Bericht des Politbüros an die 7. Tagung des Zentralkomitees der SED. "Neues Deutschland" vom 2. Dezember 1988, S. 7. 7 Das war eine Anspielung auf die Wirtschaftspolitik Ulbrichts, durch forcierte Entwicklung der "führenden Zweige" gegenüber ursprünglichen Planansätzen Leistungsreserven zu erschließen, was andererseits zu Störungen in der Volkswirtschaft führte.

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Iichen Handeins zu machen. Nicht etwa, daß dieses Prinzip vor dem Beginn der eigentlichen NÖS-Reform völlig unbekannt war. Es sollte aber aus dem Dasein eines Aschenputtels im Sozialismus zu einer tragenden Säule des Systems und seines Funktionierens werden. Allerdings nicht zur alleinigen Säule, sondern zusätzlich zur politischen Bewußtheit, zusätzlich zur Plandisziplin und nicht so ganz richtig gleichberechtigt. Die Dogmatik charakterisierte die materielle Interessiertheit als "Muttermal der alten Gesellschaft", das nur zeitweilige und begrenzte Existenzberechtigung haben sollte. Im Hinterkopf war, daß materielle Interessiertheit als Motiv und Anreiz, um Leistungen zu erbringen, nur eine Umschreibung von Gewinnstreben darstellen würde. Das NÖS nun ging den kühnen Schritt, die materielle Interessiertheit nicht nur als Grundprinzip für die Motivation des einzelnen Werktätigen festzuschreiben, sondern es auf die Tätigkeit der Betriebe auszudehnen. Die Ausdehnung der materiellen Interessiertheit über die von Einzelpersonen hinaus auf die Betriebe bildete den harten Kern des NÖS. Damit war die Frage des sozialistischen staatlich geleiteten Betriebes als ökonomisches Subjekt, als Wirtschaftsunternehmen und damit auch die der juristischen und ökonomischen Selbständigkeit der Betriebe in den Raum gestellt. Es mußte anerkannt werden, daß der Betrieb eigene Interessen hat, einen Gewinn erwirtschaftet, an dem er auch Anteil haben sollte. Das mußte insbesondere sein Interesse an der eigenen Reproduktion betreffen, also an der Reinvestition der Gewinne in den eigenen Betrieb, aber auch an dessen Verwendung für soziale und kulturelle Zwecke im Betrieb. Gerade diese Frage wurde niemals auch nur annähernd befriedigend gelöst. Aber sie wurde zumindestens gestellt, und das war viel, für manche schon zuviel. Es wurde anerkannt, daß staatlicher Plan und Interessen der Betriebe auseinander driften können. In der Tat war die NÖS-Konzeption ein ernsthafter und dringend notwendiger Versuch, das starre Korsett einer administrativen Planung abzustreifen, die vor allem der Verteilung knapper Ressourcen auf einfachste Weise, nämlich auf dem Wege einer direkten Zuteilung, diente. Es war nur logisch, daß dementsprechend auch die finanziellen Mittel zugeteilt wurden. Diese "Zuteilungswirtschaft"8 machte eine echte Ökonomie unmöglich. Sie wurde allerdings nie abgeschafft und bildete als sogenannte Bilanzierung immer das Kernstück der Planung. Auch mit dem NÖS sollte die staatliche Fondszuteilung beibehalten werden, allerdings in etwas abgeschwächter Form. Auch diese Inkonsequenz enthielt bereits den Keim des späteren Scheiteros des NÖS, weil dessen eigentliche Antriebskräfte durch das Primat des Staatsplanes und seiner strikten Handhabung bis in jedes Detail gar nicht erst zur Entfaltung kommen konnten. Das vorherrschende und nie überwundene sowjetische Planungsmodell war demgegenüber aus seiner politischen Zielsetzung heraus darauf gerichtet, mit aller 8 "Zuteilungswirtschaft" scheint im übrigen ein geeigneterer Begriff zur Charakterisierung des Systems als "Mangelwirtschaft" zu sein, da die Knappheit von Gütern ein Axiom jeder Wirtschaftstätigkeit darstellt.

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Kraft und koste es was es wolle, ökonomische Autarkie als Mittel zum politischen Überleben in einer feindlichen Umwelt zu gewährleisten. Es war auf Menge und nicht auf Qualität, auf Produktion um jeden Preis und nicht auf Rentabilität orientiert. Es lebte von der bedingungslosen Konzentration der Kräfte auf Produktionsziele, und jede Diversifikation war ihm entgegengesetzt. Es förderte Starrheit und nicht Innovation. Es war geprägt von zentralistischen Herrschaftsstrukturen, die denen des Feudalismus nahe kamen. Ulbricht, indem er sich hinter das NÖS stellte, hatte das sowjetische Modell der rein administrativen und operativen Planung, ohne es so auszusprechen, für die Entwicklungsbedingungen der DDR de facto als untauglich erklärt. Das hat man in Moskau Ulbricht niemals verziehen. Das NÖS war also von vomherein ein Wagnis und Ulbricht hat u. a. auch dafür, wegen seiner ..gewisse(n) Überheblichkeit" in Fragen der Leitung gegenüber den Erfahrungen der Bruderländer, bezahlen müssen. Das, so Breshnew gegenüber Honecker, ..muß man ändern, ... , das mußt du ändem". 9 Die sowjetische Führung konnte aus machtpolitischer Logik heraus auch kaum anders handeln, denn in der Durchsetzung des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells der Bündnisvormacht wurde nicht zu Unrecht eine Grundvoraussetzung für die Beherrschung der dem Bündnis zugehörigen Staaten gesehen. Alle politischen Konflikte, die die Sowjetunion mit anderen Staaten innerhalb ihres Einflußbereiches hatte, wurden in ihrem Kern als Konflikte über die Abweichung vom sowjetischen Gesellschaftsmodell geführt. Wie aber war die Situation zu Beginn der 60er Jahre? Es war ausgerechnet die Entscheidung zum Bau der Mauer 1961, die von der Sowjetunion aus strategischen Interessen der Sicherung ihres Herrschaftsgebietes getragen wurde, die die SEDFührung zu bestimmten Reformschritten veranlaßte. Während einerseits der Mauerbau politisch die DDR noch enger an die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag band, wurde andererseits alsbald auf ökonomischem Gebiet klar, daß sich die DDR noch stärker als je zuvor auf die eigene Kraft besinnen müsse. Spätestens um 1965 war der Traum von unerschöpflich fließenden Rohstoff- und Nahrungsmittelsträmen aus der Sowjetunion abrupt ausgeträumt. Aus Moskau kamen massive Botschaften über die Kürzung von zugesagten Lieferungen und auch die Stornierung von Aufträgen für die DDR-Industrie. Ein ..Preis" für die durch die Mauer zeitweilig geschaffene politische Stabilität bestand eben darin, daß die Sowjetunion die DDR als normalen Bestandteil ihres Herrschaftssystems betrachtete und immer weniger für zusätzliche ökonomische Unterstützung bereit war, wie sie zuvor wegen der offenen Grenze zu Westdeutschland unabdingbar schien. Die Mauer wurde errichtet, aber Westdeutschland blieb bestehen und entwickelte sich gerade in den 60er Jahren in besonderem Maße dynamisch weiter. Die Frage des ökonomischen Wettbewerbs stellte sich nach 1961 für die DDR somit in noch größerer Schärfe als je zuvor. Ulbricht erkannte als einer der wenigen innerhalb der SED9 P. Przybylski, ..Tatort Politbüro", Berlin 1991, S. 284. (Protokoll einer Unterredung zwischen L. I. Breschnew und Erich Honecker am 28. Juli 1970.)

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Führung dieses Problem in seiner gravierenden Bedeutung und votierte damals schon mit Nachdruck auf die Überwindung des Rückstandes in der Arbeitsproduktivität der DDR gegenüber dem Westen. Die Produktion der Betriebe sollte sich am "Weltniveau" ausrichten. Dazu wurde die Schaffung eines effektiveren Wirtschaftssystems als Schlüsselaufgabe angesehen. Dafür gab es aus der Tradition heraus gute Voraussetzungen, denn die übergroße Mehrzahl der damals existierenden Betriebe in der DDR handelten schon in der Zeit vor 1945 als wirtschaftende Einheiten. Da eine sehr große Zahl der Betriebe, insbesondere auch der verarbeitenden Industrie, traditionell exportierte, zum großen Teil über den innerdeutschen Handel an ihre Stammkunden in Westdeutschland bzw. andere sich auf den Weltmarkt vortasteten, waren für sie Begriffe wie ,,Markt", Bedarfsorientierung", "Umsatz" und "Rentabilität" normale Bestandteile ihrer Arbeit. Diese Erfahrungswelt geriet aber in Widerspruch zu der Art und Weise, wie diese Betriebe durch die staatlich-administrative Planung behandelt wurden. Hier galten andere Maßstäbe, vor allem die der quantitativen Erfüllung des Plansolls, das an Mengenkennziffern wie der "Bruttoproduktion" bzw. "Warenproduktion", orientiert war. Je materialintensiver, desto leichter ließen sich diese Kennziffern erfüllen, Qualitätsproduktion störte. Jede Innovation kostete Zeit kurz, es gab einen großen Widerspruch zwischen den Erfordernissen einer bedarfsund qualitätsgerechten effektiven Wirtschaftstätigkeit und dem auf Mengenerfüllung orientierten Plan als dem faktisch einzigen Leistungsmaßstab. Die Leute in den Betrieben waren mit den Problemen einer hocharbeitsteilig organisierten, vielfaltig durch unzählige Positionen miteinander verflochtenen, industriellen Betriebsweise vertraut. Betriebs- und VVB-Direktoren wollten besser wirtschaften, sie kannten die Reserven. Sie bewegte nach der Überwindung der "Trümmerphase" vor allem das Problem der Kapitalreproduktion. Die Zeit für ein neues System war längst reif. Auch subjektive Voraussetzungen waren gegeben. Es schien also nur noch des richtigen Signals und der Personen zu bedürfen, die für die neue große Idee einzutreten bereit waren. Ulbricht, der persönlichen Kontakt mit angesehenen Wissenschaftlern aus der früheren Zeit hielt, hörte auf deren Einschätzungen. Wir jungen, aufgeschlossenen Ökonomen der DDR wollten ebenfalls richtige Ökonomie und keine schlichte Naturalwirtschaft. Allerdings durfte die Einführung des NÖS niemals als Reform bezeichnet werden, denn der Begriff "Reform" galt immer als Synonym für die Restauration des Kapitalismus. Es galt sehr aufzupassen, keine schlafenden Hunde zu wecken, aber die schliefen ohnehin nicht. Das NÖS tastete zudem auch das Tabu der Nichtexistenz einer Warenproduktion im Sozialismus an. 10 Die Tragik der Geschichte 1o Eine meiner ersten Aufgaben als wissenschaftlicher Mitarbeiter Mittags bestand damals darin, für die von ihm mit Erich Apel gemeinsam verfaßte Broschüre eine Argumentation zu formulieren, die sich von den ursprünglichen Sialinsehen Thesen über das Wertgesetz und die Warenproduktion abgrenzte. "Das Wertgesetz wirkt im Sozialismus im Gegensatz zu den von J. W. Stalin vertretenen Thesen, gerade und in immer stärkerem Maße in der sozialistischen Produktion", hieß es in einer der Broschüren, die Kampfschriften für das NÖS darstell-

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des NÖS besteht darin, daß seine eigentlichen Ideenspender, Fritz Bebrens und Ame Benary, zuvor wegen Revisionismus scharf kritisiert und ins Abseits gestellt wurden. Sie hatten die Refonnidee konsequenter zu Ende gedacht als die späteren Schöpfer des NÖS, die damals noch glaubten, die Macht der Partei mit einer marktorientierten Umgestaltung der Ökonomie vereinen zu können. In der Tat war Walter Ulbricht innerhalb der Führung die Schlüsselfigur der NÖS-Refonn. Ohne daß die Ideen junger, aufgeschlossener Ökonomen um Wolfgang Berger, Herbert Wolf, Helmut Koziolek und vieler anderer sein Interesse fanden und er sich deren Konzeption zu eigen machte, hätte dieser Reformversuch von vomherein keine Chance auf Erfolg gehabt. Norbert Podewin hat in seiner Biographie über Walter Ulbricht dessen Rolle bei der Gestaltung des NÖS sehr eindruckvoll dargelegt. 11 Dies entspricht auch meinen Erfahrungen aus meiner damaligen Tätigkeit im Apparat des ZK. 12 Warum wird ausgerechnet Walter Ulbricht als Protagonist einer Reform bezeichnet, galt und gilt er doch als bedingungsloser Stalinist und Verfechter dogmatischer Auffassungen und Vertreter einer unbeweglichen Politik. Sicher hat er als ausgesprochener Machtpolitiker, als Funktionär, der es mit allen Mitteln verstand, seine Positionen zu festigen und Rivalen auszuschalten, als ausgesprochener "Hardliner" in vielen gesellschaftlich relevanten Fragen, so auch auf dem Gebiet der Kultur, und auch mit der steifen Art und Weise seines öffentlichen Auftretens selbst in kräftigen Farben sein für ihn unvorteilhaftes Bild gemalt. Aber hinter diesem Bild stand auch ein nicht unbeträchtliches Maß an Intelligenz und ein Interesse an Bildung und Wissenschaft. Eine Grundlage dafür wurde in seinen jungen Jahren gelegt, während der Blütezeit der deutschen Sozialdemokratie. Nachdem er zunächst nur als bedingungsloser Nachbeter der von Stalin geprägten KPdSU-Linie erten. Es wurde betont, daß die Anerkennung des Wertgesetzes, d. h. von durch Ware-Geld-Kategorien bestimmten Wirtschaftsprozessen, eine "wesentliche Grundidee für die Ausarbeitung des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" darstelle. Dogmatische Auffassungen, nach denen es, wie von Stalin vertreten, erforderlich sei, den Wirkungsbereich der Warenproduktion einzuengen, seien für die Praxis schädlich. 11 Vgl. Norbert Podewin, "Waller Ulbricht", Dietz-Verlag Berlin, 1995. 12 Der Autor war damals, d. h. 1962, als junger Wirtschaftswissenschaftler, Dr.oec. habil, mit einer schon genehmigten Berufung als außerordentlicher Professor im Alter von 32 Jahren einem Angebot zur Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Günter Mittag gefolgt, nach ein paar Tagen Bedenkzeit, was dieser wohl schon beinahe unerhört fand. Es war damals die Zeit des Aufschwungs der Ökonomie in der Parteipolitik und der Vorbereitung des NÖS. All das gab den Ausschlag für mein Engagement. Die damit verbundenen Hoffnungen ließen mich auch dann nicht los, als vom NÖS oder vom "ökonomischen System" nicht mehr gesprochen werden durfte. Aber mit Günter Mittag sprach ich darüber, auch nach dem VIII. Parteitag, immer. Man könnte sagen, "na und", was heißt das schon. Aber in Bezug auf Günter Mittag hieß das sehr viel, denn er hatte auch die Gabe, Diskussionen zu Themen, die ihm aus politisch-taktischen Gründen als nicht opportun erschienen, ein für allemal abzustellen. Ich wäre in dieser komplizierten Arbeit möglicherweise in die Resignation eines formalen Erfüllers von Aufgaben verfallen, wenn ich zu irgendeinem Zeitpunkt die Hoffnung auf eine Reform in Richtung auf die NÖS-Ideen hätte aufgeben müssen.

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schien, wollte er nach 1945, auf deutschem Boden agierend, mehr sein als nur ein Statthalter. So besann er sich auf einige der früheren Traditionen, wollte er selbständiger handeln, ohne je auf die enge Anhindung an die Sowjetunion verzichten zu wollen und zu können. Ulbricht erkannte in der Entwicklung der Wirtschaft eine Notwendigkeit und zugleich auch ein weites Feld zur politischen Profilierung. Und er begriff auch, daß das Eintreten für die neuen Reformideen einen machtpolitischen Nebeneffekt hatten. Er konnte auf diese Weise auch manch einen seiner alten, unbeweglich gebliebenen Widersacher in die Schranken weisen. Dies tat er allerdings zuweilen in übergroßer Deutlichkeit, verletzte einige seiner alten Kampfgefahrten, vor allem auch die, die nicht in der sowjetischen Emigration waren und machte sich zusätzlich Feinde. Das vor allem, indem er die nationale Komponente ins Spiel brachte. Ulbricht sprach Anfang der 60er Jahre programmatisch von der Schaffung einer "nationalen Wirtschaft", was ein eindeutiger Affront gegen die immerwährenden sowjetischen Bestrebungen war, die Volkswirtschaft der DDR in ein von ihr geführtes internationales Wirtschaftssystem ganz eng einzugliedern. Außerdem ahnte er wohl recht frühzeitig, daß ökonomisches Zurückbleiben den politischen Tod bedeuten würde, daß Reformen unausweichlich sind, und in dieser Erkenntnis schlußfolgerte er wohl, es sei besser, sich selbst an die Spitze eines solchen Prozesses zu setzen und ihn so kontrollieren zu können. Wenn auch dieses ,,Neue ökonomische System der Planung und Leitung" niemals vollständig verwirklicht worden ist, so hat bereits die Diskussion um das NÖS wie auch die Propagierung seiner Ideen sehr viel dazu beigetragen, das Denken und Handeln vieler Verantwortlicher wie ganzer Belegschaften in Richtung auf ein Handeln nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit zu bewegen, auch wenn es sich in konkreten Zahlen nicht ausdrücken läßt. Auch für die Zeit nach seinem Abbruch waren die Einflüsse dieses Denkgebäudes immer spürbar und gab es wenigstens partiell Wiederbelebungsversuche. Gegenüber der Dominanz eines faktisch naturalwirtschaftlich geprägten Planungssystems und einer Bewertung von Wirtschaftsleistung nur nach dem mengenmäßigen Produktionsergebnis bedeutete die NÖS-Konzeption einen Fortschritt. Sie zielte auf einen Weg, der im Grunde zur Anerkennung ökonomischer Interessen der Wirtschaftssubjekte und zum Markt führte. Indem dieser Weg sich als nicht gangbar erwies, wurde andererseits aber auch deutlich, daß es kein echtes ökonomisches System innerhalb der damals gesetzten politischen Rahmenbedingungen, in denen allein die Politik die Ökonomie bestimmte, geben konnte. Ein wirklich ökonomisches System hätte bedeutet, der Wirtschaft eine originäre und selbständige Rolle gegenüber der Politik einzuräumen. Aber das "Primat der Politik" wurde in seiner eindimensionalen Ausrichtung nie aufgegeben. Die NÖS-Konzeption nahm wegen der Brisanz aller Versuche, das Primat der Politik anzutasten, Zuflucht zu einer Hilfskonstruktion. Es wurde die Existenz sogenannter "ökonomischer Gesetze" postuliert, die objektive und damit unabdingbare ökonomische Zusammenhänge zum Ausdruck bringen sollten, die zu beachten waren.

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Aber daran, daß die Widersprüche zwischen dem im Primat der Politik zum Ausdruck gebrachten Machtanspruch der Partei und den ökonomischen Zwängen unlösbar waren, daran eben dachte damals keiner der Reformer. Sie glaubten fest daran, daß diese sozialistische Gesellschaft so stark sei, daß sie Anleihen an das kapitalistische marktwirtschaftliche System nicht zu fürchten brauche, wenn man nur alles fest unter Kontrolle der Partei haben würde. Und genau diese Grundannahme war der Strick, mit dem sich letztlich das NÖS selbst abwürgte. Solche Bedenken gar nicht aufkommen zu lassen, sondern sie für falsch zu erklären, machten sich die Reformer mit Feuereifer an die Arbeit. Ich erlebte das unmittelbar in vielen Beratungen und Formulierungsrunden im Kreis von Erich Apel und Günter Mittag, allerdings auch die bitteren Jahren später. Damals, in den 60em, fühlten wir uns unserer Sache sicher und im Denken waren die Tabugrenzen weit gesteckt. Es gab viel Initiativen. Alles Mögliche wurde diskutiert. Die NÖSReformer glaubten, die Welt stehe ihnen offen, aber ihr Vorhaben scheiterte, bevor es richtig begonnen wurde.

II. Faktoren, die zu einem Scheitern führten I. Der Widerstand gegen das NÖS innerhalb der Führungsschicht

Der Widerstand gegen das NÖS war in seiner Genesis angelegt. Die Dogmatiker witterten wegen seiner im Grunde antisowjetischen Linie von vomherein Unrat. Den Kampfgefahrten aus der alten KPD waren solche Vokabeln wie "Gewinn" als deutsches Wort für den verhaßten "Profit" echte Reizworte; war es denn nicht darum gegangen, gerade den Profit als Symbol des Kapitalismus, den man überwunden glaubte, endgültig abzuschaffen? Sie sagten sich überdies: In der Sowjetunion gab und gibt es einen gigantischen Aufschwung. Auch Ulbricht und die Führung unterlagen einer Überbewertung damaliger großer Erfolge in der Atom- und Raketentechnik. Genügt es nicht, die bewährten Erfahrungen eines Systems, das solche Fortschritte zustande brachte, als beispielhaft zu übernehmen? Es wurde damals in weiten Kreisen verkannt, daß das sowjetische Modell ein Modell nachholender Industrialisierung in einem zuvor rückständigem Land war, das nicht auf Deutschland übertragbar war. Entscheidend schien nur die Frage des Eigentums und die der politischen Macht. Die Kraft der materiellen Verhältnisse wurde von nicht wenigen unterschätzt. Viele altbewährte Kader aus der früheren KPD insbesondere, die nicht wenig für Wiederaufbau und Schaffung von industriellen Grundlagen geleistet hatten, verhielten sich reserviert, distanziert bis feindselig gegenüber dem neuen Projekt "NÖS". Wäre es nicht "Walter" als ihnen vertrauter Berufsrevolutionär gewesen, ein anderer wäre mit einem derart suspekten Reformvorhaben sofort gescheitert. So beugte man sich zunächst seinem Einfluß. Vor einem solchen Hintergrund war die Auswahl der Führungspersonen, die die NÖS-Konzeption durchsetzen sollten, keineswegs zufällig. Benötigt wurden Per-

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sonen, die von den Erfahrungen des Klassenkampfes alten Stils "Proletariat kontra Kapitalisten" unbelastetet waren. Da waren beispielsweise Erich Apel, Günter Mittag und andere, wie auch Gerhard Schürer, gerade recht. Die Vertreter der alten Garde, wie Fritz Selbmann, Willi Rumpf und auch Alfred Neumann und andere, fühlten sich ihrerseits an die Seite gestellt. Sie verbanden die NÖS-Reform mit dem Verlust ihres politischen Einflusses. Rumpf, als Finanzminister, ließ sich einzig und allein von den Interessen des Staatshaushalts leiten und wollte den Betrieben zur eigenen Verfügung am liebsten nicht eine Mark lassen. Die Finanzierung der Betriebe betrachtete er als Kameralistik. Er trat in eine Art Bummelstreik bei der Durchführung der als Voraussetzung für das NÖS unerläßlichen lndustriepreisreform. Alfred Neumann neigte eher einer an den Erfahrungen der Kriegswirtschaft orientierten organisatorischen Lösung von Zulieferproblernen durch "Arbeits- und Kooperationskreise", denn dem Aufbau echter ökonomischer Beziehungen zwischen den Betrieben zu. In dieser schwierigen Periode sollte Mittag die offene Flanke des NÖS gegenüber der eigenen Partei absichern helfen. Mittag engagierte sich mit all seiner Energie, half Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ermutigte den damaligen Brain-Trust Koziolek, Wolf, Berger u. a. von den neuen Ideen begeisterte Ökonomen. Wir finden Mittag an der Seite der Reformer, als der damals erste Mann, Walter Ulbricht, die Aufträge zur Ausarbeitung des NÖS erteilte. Mittag war in dieser Zeit auch nicht etwa übervorsichtig. Im Gegenteil, er ging massiv zum Angriff gegen die Widersacher des NÖS über. Rumpf wurde alsbald als Finanzminister durch Siegfried Böhm abgelöst, der zuvor Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK der SED war und in die Arbeiten zur weiteren Ausarbeitung des NÖS engagiert eingeschaltet war. In seiner forschen Art machte sich Mittag aber damals schon Feinde. Für Mittag änderte sich die Situation, als Ulbricht begann, die weitere Arbeit am NÖS staatlich zu institutionalisieren. Es wurde eine Kommission des Ministerrats gebildet, die von Walter Halbritter, der aktiv an der NÖS-Konzeption gearbeitet hatte, als Stellvertreter eines Vorsitzenden des Ministerrates geleitet wurde. Das Ziel war, sämtliche Regelungen in der Volkswirtschaft auf das NÖS umzustellen. Das NÖS kam von der konzeptionellen Phase in die der Realisierung. Das schien alles logisch zu sein, aber irgendwie nahm der Schwung ab. Das NÖS drohte einerseits in einer Vielzahl von Einzelregelungen zu ersticken, während auf der anderen Seite grundsätzliche Probleme nicht gelöst waren. Die Hauptursache für diese zögerliche Haltung lag vor allem in dem offiziell unausgesprochenem Stigma des NÖS als einer Abweichung vom sowjetischen StandardmodelL Der Sturz Dubceks in der CSSR zeigte, welche Folgen es hatte, wenn die konkrete Ausgestaltung des Wirtschaftssystems vom sowjetischen Modell abwich. Obwohl die Vorstellungen Ota Siks und anderer Reformer zum Teil nicht allzu weit über das NÖS hinausgingen, waren sie aus der Sicht Moskaus eben Abweichungen. Und darum vor allem ging es, um die Tatsache einer Abweichung, die politisch gewollt war. Das war es, was nicht sein durfte.

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Diese Entwicklungen dämpften auch das ursprüngliche Engagement Ulbrichts. Spätestens 1968 wurde Ulbrichts Abwendung vom Ziel, ein neues Wirtschaftssystem zu schaffen, ziemlich deutlich. Obwohl von einer wirklich durchgreifenden Einführung des NÖS keine Rede sein konnte, geriet im Ergebnis subjektiver Widerstände im SED-Funktionärkorps (dazu gehörte u. a. auch der Kader der Parteihochschule), auch vor dem Hintergrund des Einflusses der Führung in Moskau, der politische Stellenwert des NÖS ins Hintertreffen. Ulbricht setzte neue, politisch aber unverdächtige Schwerpunkte, wie Kybernetik, Heuristik, Organisationswissenschaft Aber diese ganzen subjektiven Widerstände gegen das NÖS waren in Wirklichkeit nur die Widerspiegelung systemimmanenter Widersprüche. 2. Die Inkonsequenz bei den "Reformern" selbst

Auch die "Reformer" unterwarfen sich selbst gesetzter Tabus. Im Grunde kalkulierten sie die Grenzen der Reform von vomherein in ihre Überlegungen ein. Alle waren sich im Grunde darüber einig: • Die Kontrolle der Partei über die gesellschaftlichen und insbesondere die ökonomischen Prozesse durfte niemals in Frage gestellt werden. • Deshalb wurde der "Reformprozeß" von vomherein von oben durchgeführt. Er mußte das Werk der Partei sein, ohne daß die Partei sich in ihrer Auffassung von der Machtausübung selbst in Frage stellt. • Der Plan war und blieb das Hauptinstrument der Durchsetzung der Macht der Partei. • Die Zuteilung der Fonds sollte unter allen Umständen in der Hand des Staates bleiben, gleich, in welchen Formen dies immer auch erfolgen sollte. Zu irgendeinem Zeitpunkt mußten sich diese verdrängten Widersprüche in der NÖS-Konzeption offenbaren. Dies war 1970, als weitere vorwärtsweisende Schritte auf dem mit dem NÖS ursprünglich gewiesenen Weg reif, besser gesagt schon überreif waren. Es war der Punkt, an dem es hieß: "Hic rhodos, hic salta". Aber die Absprungbasis war schon unterhöhlt, es war zu spät, die NÖS-Idee war bereits politisch tot. Von diesem Geschehen zeugt Mittags heimliche Niederlage auf dem I 3. Plenum des Zentralkomitees I 970. Als Berichterstatter für den Bericht des Politbüros bestand für ihn die Gelegenheit, grundlegende Vorschläge zur weiteren Verwirklichung des NÖS darzulegen und den Wirtschaftsreformen einen neuen Impuls zu geben. Dieser Bericht wurde nach Angaben von Mittag mit Waller Ulbricht zuvor gründlich besprochen. Er wurde auch auf dem Plenum bestätigt, und, wie er mir später sagte, nach seiner Kenntnis auch nicht aufgehoben. Der politische Stellenwert eines solchen Referates als Tagesordnungspunkt vor dem Plenum des ZK war nicht gering. Es war im Normalfall die verbindliche Handlungsrichtlinie für die Partei und in ihrer Durchführung auch für die staatliche Tätigkeit.

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Der Teil, der sich mit dem NÖS befaßte - zu jener Zeit wurde es bereits mit dem Begriff "Ökonomisches System des Sozialismus" umschrieben - wurde aber erst gar nicht veröffentlicht, auch nicht auszugsweise. 13 Das warf schon damals Fragen auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Mittags Vorstoß auf der 13. Tagung lief ins Leere. Es wurde bereits anderswo daran gearbeitet, die Ideen der NÖS-Reform zu Fall zu bringen und dessen Einführung in die Praxis zu stoppen und in ihr Gegenteil umzukehren. Die gesamte Diktion war schon von der Vorahnung grundsätzlicher politischer Veränderungen geprägt. Mittag war in dieser Zeit bereits unentschlossen, wirkte fahrig und ließ seine gewohnte Hartnäckigkeit vermissen. Es war zu spüren, wie von dritter Seite am Konzept gestrichen wurde. Es wäre um ernsthafte Schritte zur weiteren Verwirklichung der ursprünglich unter dem Zeichen des NÖS begonnenen Reformvorhaben gegangen. Welche Aussagen wurden von Mittag im Sinne der Weiterführung des NÖS getroffen? • Von der partiellen Durchführung des NÖS in der "Sphäre der Produktion" sollte zur Anwendung auf den ganzen Reproduktionsprozeß, also auf weitere Bereiche der Volkswirtschaft, übergegangen werden. • Erstmalig wurden Schritte vorgeschlagen, die den Abbau von Subventionen für Preise von Waren des Bevölkerungsbedarfs vorsahen. Das betraf zunächst den Bereich der Kinderbekleidung. Ausgerechnet damit sollte begonnen werden? Die Argumentation Mittags lautete: "Gegenwärtig werden aus sozialpolitischen Gründen die Einzelhandelsverkaufspreise einer Reihe dieser Erzeugnisse subventioniert. Damit werden ökonomische Wirkungen ausgelöst, die nicht zu einer Verbesserung der Versorgung auf diesem Gebiet führen. Die Betriebe haben wenig Interesse, die Produktion solcher Waren zu erhöhen, wenn sie dafür einen Preis erhalten, der nicht einmal die Selbstkosten deckt, und deshalb noch vorn Staat Subventionen beziehen. Die Folge ist, daß die Produktion nicht mit den wachsenden Anforderungen Schritt hält und die Werktätigen mit Recht Kritik an Sortimentslücken üben. ( ... ) Die Subventionierung der Kinderbekleidung hat auch noch eine ernst zu nehmende sozialpolitische Seite. Es gibt zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung, daß die staatlichen Preisstützungen in vielen Fällen nicht denen zugute kommen, für die sie bestimmt waren." Deshalb, so heißt es dann weiter, "wird vorgesehen, die bisherigen Subventionen für Kinderbekleidung zu beseitigen und dafür das Kindergeld zu erhöhen." 14

In diesen wenigen Sätzen ist der Kernpunkt der NÖS-Reformen zusammengefaßt. Es wird davon ausgegangen, daß die Betriebe auch in einer "sozialistischen Volkswirtschaft" eigene ökonomische Interessen haben, Gewinn erwirtschaften wollen, und daß diese Interessen über die Preise beeinflußt werden, bis hin zum Endverbraucher. Nur indem diese Interessen der Produzenten anerkannt werden, ist eine bessere Versorgung der Konsumenten zu erreichen. Durch flankierende 13 Eine erstmalige Veröffentlichung dieses Abschnittes erfolgte in: Gerhard Naumann, Eckhard Trümpler, "Von Ulbricht zu Honecker", 1990. t4 Ebd .• S. 75

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Maßnahmen, wie beispielsweise erhöhtes Kindergeld, können negative soziale Wirkungen gezielt auf bestimmte soziale Gruppen weitgehend ausgeschaltet werden . Natürlich war ein Ausgleich für die Betroffenen vorgesehen. Die Kinderbekleidung war nur als Ausgangspunkt für weitere Schritte auf dem Gebiet der organischen Verbindung der Verbraucherpreise mit den ökonomischen Interessen der Betriebe gedacht. Eine weitere Gruppe von Vorschlägen bezog sich darauf, .. auf einigen Gebieten die Verbraucherpreise entsprechend den Kosten und den erhöhten Gebrauchswerteigenschaften stärker zu differenzieren". Unter Hinweis auf qualitätsbedingte Preiszuschläge auf hochwertige importierte Konsumgüter wird eine .,ökonomisch richtige Differenzierung" dieser Preise zu den Inlandserzeugnissen gefordert. Diese Vorschläge hatten trotz ihrer Lücken insgesamt programmatische Bedeutung. Ihre Verwirklichung hätte das NÖS aus seiner immer noch vorbereitenden und eingeengten Phase in eine größere gesellschaftliche Wirksamkeit übergeführt. Das waren die beiden wichtigsten Punkte, die von Mittags ursprünglichem Entwurf noch übriggeblieben waren. Zur .,konsequenteren Anwendung des Prinzips der Eigenerwirtschaftung der Mittel für die erweiterte Reproduktion" wurde nur wenig gesagt, obwohl es gerade darum hätte gehen müssen. Aber weitere Überlegungen dazu, die durchaus vorhanden waren, blieben damals schon außen vor. Kurz vor der Tagung wurde die ganze Diktion des Abschnitts über das ökonomische System im Referatentwurf verändert. An die Spitze rückte plötzlich die "Klassen frage", das Verhältnis der Einkommen der Arbeiter zu dem von Betriebsinhabern (damals gab es noch private und halbstaatliche Betriebe). Substantiell blieb nur die Aussage über die Ablösung der Preissubventionen übrig, immerhin noch eine Aussage von Gewicht. Es hat offensichtlich im Vorfeld der ZK-Tagung keine Einmütigkeit in der Führung zu der gesamten von Mittag vorgesehenen Konzeption gegeben. Vermutlich wurde das im Sekretariat des ZK deutlich. Das wurde damals schon faktisch von Honecker und nicht satzungsgemäß von Ulbricht geleitet. Deshalb hat Mittag wohl, um überhaupt diesen Abschnitt über die Weiterführung der NÖS-Refonn zu erhalten, auf die direkte Nennung noch weitgehenderer Maßnahmen verzichtet. Es gab schon in bestimmten Kreisen der Partei außerhalb des Wirtschaftsbereiches eine spürbare Strömung gegen das NÖS. Damit war der Spielraum für den erforderlichen Konsens für durchgreifende Maßnahmen auf diesem Gebiet enger geworden. So wurden bereits im Referat wichtige Fragen nur unvollständig angesprochen. Die Inkonsequenz bei der NÖS-Reform auch bei ihren Protagonisten innerhalb der Führung rührte auch aus einer gewissen Vorahnung, das NÖS könne das gesamte politische System sprengen! Das hat damals niemand so ausgesprochen, vielleicht nicht einmal so gedacht. Aber es war der Punkt erreicht, wo das NÖS die Fessel des direktiven Plansystems hätte sprengen müssen . Und genau davor wurde zurückgewichen. Deshalb wurde den Versuchen seiner Abschwächung von vom-

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herein zu wenig Paroli geboten. Ulbricht als politische Hauptstütze des NÖS war zu diesem Zeitpunkt bereits angeschlagen. Seine Autorität war im Schwinden. Diejenigen, die gute Drähte nach Moskau hatten, erfuhren von der heimlichen Kritik an seiner Überheblichkeit in Fragen der Leitung. Honecker hatte längst die Führung der Partei in die Hand genommen und Mittag orientierte sich bereits unter dem zunehmenden Druck der Kritik an Ulbrichts Wirtschaftspolitik, die er selbst aktiv mit vertrat und durchsetzen half, an den sich neu herausbildenden Kräfteverhältnissen. Die NÖS-Konzeption war an ihre Grenzen gestoßen. Das NÖS und überhaupt die Wirtschaftspolitik Ulbrichts wurde in einem Machtkampf zum Sturz Ulbrichts durch Honecker 1970/71 instrumentalisiert, und der Reformansatz fiel deshalb auch mit seinen Protagonisten. Die politischen Vertreter des NÖS in den Machtgremien verhielten sich machtkonform. So auch Mittag, der, als Parteigänger Ulbrichts schwer angeschlagen, sich 1971 von den damaligen Konzeptionen Ulbrichts distanzierte. Mit dem VIII. Parteitag wurde eine neue Linie kreiert. Von der Weiterführung des NÖS war damals keine Rede mehr. Die Arbeiten wurden eingestellt, Kommissionen und Institutionen aufgelöst. Auf theoretischem Gebiet wurde der Versuch einer wissenschaftlichen Verallgemeinerung des NÖS, das Buch "Politische Ökonomie ... " ins Gedächtnisloch versenkt, einfach, indem es nicht mehr zitiert wurde. Die neuen Beschlüsse waren sakrosankt, und alle unterwarfen sich, wie gewohnt, der Parteidisziplin. In der Regierungserklärung von Stoph am 29. November 1971 wurde das NÖS nicht mit einem Wort mehr erwähnt. 15 Das betraf nicht nur den Begriff, sondern vor allem auch seine inhaltlichen Leitideen. Sie wurden völlig auf den Kopf gestellt. Damit wurde nach dem VIII. Parteitag deutlich, was von Honecker aus Gründen politischer Rücksichtnahme noch nicht so klar ausgesprochen wurde. Hier wird die endgülige Absage an das NÖS zur Staatspolitik erhoben. Dem Preis wurde jegliche eigenständige ökonomische Rolle genommen. Es wurde die Aufgabe gestellt, "die Verbraucherpreise stabil zu halten", womit ein Anschwellen der Subventionen vorprogrammiert war. Damit es keine Mißverständnisse gab, wurde betont, " ... daß es niemandem gestattet ist, die Preise für im Angebot befindliche Waren und Leistungen zu verändern". 16 Von den "ökonomischen Hebeln" und gar von der Eigenerwirtschaftung war längst nicht mehr die Rede. Statt dessen sollte zur Sicherung der Stabilität der Preise bei Konsumgütern eine Konzeption für die weitere Entwicklung der Planung, Bildung, Bestätigung, Kontrolle und statistische Abrechnung der Preise vorgelegt werden. Dies war bereits im September 1970 beschlossen worden. 17 Der 15 Regierungserklärung des Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, vor der Volkskammer am 29. November 1971 in: Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 6. Wahlperiode, Staatsverlag, Berlin 1972, S. 64 ff. 16 Ebd., S. 80. 17 Es handelt sich hier um den "Beschluß des Politbüros des ZK der SED zur Analyse über die Plandurchführung im I. Halbjahr 1970 vom 8. September 1970." Später bezeichnete ihn

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entscheidende Begriff ist hier .,Stabilität". Damit ist jegliches Wirken des Preises als Kreuzungspunkt der ökonomischen Interessen von Produzenten und Verbrauchern von vomherein ausgeschaltet. Der Preis wird zu einer reinen Rechengröße reduziert. Seine endgültige Bestimmung erfolgt von Staats wegen durch Bestätigung. Alle Versuche, über den Preis auch ökonomisches Interesse zu artikulieren, und den Preis zu einem beweglichen Regelungsfaktor in der Planwirtschaft zu entwickeln und über den Preis Marktelemente, auch kontrolliert, zur Wirkung zu bringen, waren damit gescheitert. Es muß hinzugefügt werden, ..ein für alle mal", denn es wurde bis zuletzt am Tabu der "stabilen Verbraucherpreise" nicht gerüttelt. Nun wurde auf andere Weise dem Subjektivismus, der angeblich bekämpft werden sollte, ein nahezu unbegrenztes Feld eröffnet, was sich dann in steigenden Preissubventionen ausdrückte. Dem Preis wurden die ihm eigenen Möglichkeiten bei der Regulierung von Angebot und Nachfrage, von Kaufkraft und Warenangebot völlig genommen. Gleichzeitig wurde ein Anspruchsdenken erzeugt, das dann später jeglichen Bewegungsspielraum in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verhinderte. Gemessen an den vorherigen Auffassungen über das, was ein sozialistisches Wirtschaftssystem sein könnte, war das NÖS in der Tat ein Tabubruch. Aus dieser Sicht war es viel, was seine Protagonisten gewagt hatten. Die Abrechnung kam dann ja auch 1971 alsbald, für einige von ihnen, wie für Wolfgang Berger und Herber! Wolf, mit bedauerlichen persönlichen Konsequenzen. Eine generelle große Abrechnung jedoch unterblieb, aus gutem Grund. Hatte doch eine Kommission des Politbüros, an der auch Erich Honecker, Willi Stoph, Paul Vemer und andere heimliche Widersacher des Ulbricht'schen Kurses beteiligt waren, das Buch .,Politische Ökonomie und ihre Anwendung in der DDR" noch ein Jahr zuvor offiziell bestätigt. 18 Dieses Buch war als die theoretische Verallgemeinerung des NÖS gedacht. Gemessen an dem, was eigentlich erforderlich war, konnte es die Prüfung durch die Geschichte nicht bestehen. Mittag selbst versuchte erst dann wieder einige Elemente des NÖS zu beleben, als es ihm gelungen war, beim neuen Generalsekretär politisch Schritt für Schritt wieder Fuß zu fassen. Honecker hat es ihm vermutlich auch gedankt, daß Mittag in realer Einschätzung des Kräfteverhältnisses darauf verzichtet hatte, einen Aufstand für die Weiterführung des NÖS in der Wirtschaft zu organisieren, sondern sich unterwarf. Mittags Position wurde auch infolge seiner Intelligenz, seines vom Ehrgeiz getriebenen Arbeitseifers, aber auch von deutlichen konzeptionellen Schwächen seiner Gegner, wie Krolikowski, Stoph, Alfred Neumann, Paul Vemer und anderen, wieder gefestigt. Aber bei all diesen Versuchen, bis hin zur Wiedereinführung des Prinzips der Eigenerwirtschaftung auf Initiative des damaligen Mittag als grundsätzliche Korrektur des NÖS. Ebenfalls veröffentlicht bei Gerhard Naumann, Eckhard Trümpler, "Von Ulbricht zu Honecker", Berlin 1990, S. n. 96 ff. 18 Autorenkollektiv, "Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR", Berlin-Ost, 1969.

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Leiters der Abteilung Planung und Finanzen des ZK, Günter Ehrensperger, wurde nicht etwa der Systemgedanke des NÖS oder gar ein Primat der Ökonomie formuliert. Alles folgende blieb immer nur Stückwerk. Honecker. der sich jedem Versuch zur Änderung beispielsweise der Preispolitik beharrlich widersetzte, wollte und konnte sich nicht mit den komplizierten Fragen einer echten Umgestaltung der Ökonomie befassen. Er setzte auf das schlichte Menschenbild eines soziale Wohltaten dankbar durch Leistung honorierenden Menschen. Die NÖS-Konzeption ist immer nur ein Ansatz für eine Reform geblieben, und es wurde auch zu keinem späteren Zeitpunkt über diesen Ansatz hinaus gegangen. Schon die Frage der Eigenerwirtschaftung der Mittel wurde nie in ihrer ganzen Konsequenz gestellt. Das hätte Aussagen dazu beinhalten müssen, inwieweit die Betriebe in Abhängigkeit von ihrer Gewinnerwirtschaftung nach bestimmten Normativen nicht nur selbst Mittel für Investitionen bilden, sondern auch hätten tatsächlich realisieren können. Weiter zu klären war auch, nach welchen Kriterien diese Normative gebildet und differenziert werden. Vor allem blieb der Preis immer nur eine Plangröße unter anderen, und es war auch nicht vorgesehen, das substantiell zu ändern. So waren diese Preise keine echte, vom Markt gebildete Kategorie. Es waren künstliche Preise. Die Rentabilität der Betriebe spiegelte somit nicht die ihr eigentlich zukommende Rolle in der Wirtschaftsdynamik wider. Folglich mußten die Finanzmittel in derselben Weise verteilt werden, mit der der Plan auch die Produktionsaufgaben festsetzte. Die Rentabilität der Betriebe war keine eigenständige Größe bei den Planentscheidungen. Deshalb blieb auch die Eigenerwirtschaftung der Mittel immer nur eine planmethodische Frage. Sie wurde nie zu einer echten ökonomischen Größe, weil die Normative, also die Prozentsätze einer vorgegebenen Gewinnerwirtschaftung, immer einen festen Bezug zu Plangrößen hatten, wie Umsatz und Investitionen. Ob diese Mittel nun im absoluten Wertausdruck oder als normierter, d. h. geplanter, für Investitionen verwendbarer Gewinnprozentsatz ausgewiesen wurde, blieb im Endeffekt eine Frage der Optik. Das Normativ war genauso eine staatliche Plangröße wie jede andere im absoluten Wertausdruck. Niemand dachte auch nur im Traum daran, den Betrieben tatsächlich eine echte Verfügungsgewalt über Fonds zu übertragen. Die "Eigenerwirtschaftung" klammerte ausdrücklich die freie Verwendung der Mittel für Investitionen aus. Jedes nennenswerte Investitionsvorhaben blieb Bestandteil des staatlichen Planes und unterlag der Bilanzierung der dafür nötigen finanziellen und materiellen Mittel. Aus Gründen der Bilanzierung durch den Plan, die unter allen Umständen gesichert bleiben müsse, lehnten die Staatliche Plankommission, die zuständige Abteilung im ZK und auch der zuständige Sekretär des ZK, Mittag, solche Gedanken strikt und einhellig ab. Dahinter aber stand nicht ein möglicherweise verfahrenstechnischer Vorteil zur Gewährleistung einer möglichst rationalen Verteilung der knappen Mittel. Dahinter stand die Angst, daß mit der nahezu absoluten Verfügungsgewalt der Fonds durch den Staat und damit die Partei das wichtigste ökonomische Mittel zur Wahrung politischer Macht aus den Händen gegeben würde.

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Kaum fonnuliert wurden deshalb eigenständige Interessen des Betriebes. Eigene Reproduktion vielleicht? Das hätte Eigenverwendung des Gewinns und tatsächliche Verfügung über Fonds vorausgesetzt. Es wurde zwar von "Eigenerwirtschaftung" gesprochen - schon dieser Begriff erschien suspekt, aber "Eigenverwendung" als Grundprinzip betrieblichen Handeins durfte nicht sein. Der Betrieb war immer nur Teil einer hierarchisch aufgebauten Gesamtheit. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus war das Tabu. Lassen wir die Beifügung "demokratisch" weg, bleibt das Hauptwort "Zentralismus". An dieser Grundposition durfte auch das NÖS nicht das Geringste ändern. Ignoriert wurde, daß die Verteilungskonflikte nicht aus der Welt geschafft worden waren. Die Ausarbeitung des Planes stellte sich immer als ein einziger großer Verteilungskonflikt dar. Jeder Bereich, jeder Minister beharrte auf seinen Ansprüchen. Der Vorwurf, bei Mittag angefangen, fortgesetzt von der Staatlichen Plankommission (SPK) gegenüber den Ministerien und von denen wiederum gegenüber den Kombinaten war: "Ihr stellt nur Forderungen." Die interne Diskussion im ZKApparat war, wie kann es gelingen, die Bereiche und Kombinate von ihren Forderungen abzubringen, so daß sie aus eigenem Antrieb heraus diese optimieren. Der Schlüssel dafür wurde nie gefunden, denn niemand konnte die Frage beantworten, nach welchen Kriterien die ökonomische Berechtigung der Inanspruchnahme von Investitionsmitteln zu messen sei. Die Entscheidung fiel nach subjektiver Gesamteinschätzung, fiel danach, wer sich auf entsprechende politische Orientierungen, wie "führender Zweig", "Schlüsselindustrie" usw. berufen konnte, wer innerhalb der Machtstrukturen die besten Beziehungen zu den einflußreichsten Leuten herstellen konnte. Die NÖS-Reform blieb immer im Rahmen des Planungssystems stecken und stellte sich wesentliche Fragen von vornherein erst gar nicht als Aufgabe. Sie setzte sich einen zu engen Rahmen. Wichtige Themen blieben ausgeklammert. Dazu hätten gehört: • Eine umfassende Eigenkapitalausstattung für die Betriebe und die Herstellung eines Verfügungsrechtes über dieses Eigenkapital. • Die Herstellung einer echten Eigenverantwortung der Betriebe für die eigene Reproduktion. • Die Möglichkeit eines Konkurses für einen volkseigenen Betrieb mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. • Bestimmung der Rentabilität als Kapitalrentabilität als echter Maßgröße für die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens. • Die Preisbildung vom Markt her nach Angebot und Nachfrage. • Eine bedingungslose Durchsetzung des Leistungsprinzips. Der Tenor liegt auf "bedingungslos". Dies würde bedeuten, die Arbeit nur unter Kostengesichtspunkten zu organisieren, d. h. Verlust von Arbeitsplätzen einzu-

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planen. Nach 1990 wurde in den Betrieben der früheren DDR, die ohne Wenn und Aber den Sprung ins kalte Wasser der Marktwirtschaft tun mußten, den Belegschaften in schöner Offenheit die nackte Wahrheit erklärt: "Nur ein profitabler Arbeitsplatz ist ein sicherer Arbeitsplatz." Das ist die Logik des freien Wettbewerbs, also des Existenzkampfes der Unternehmen auf Leben und Tod, wenn es denn einen Markt gibt. Auch das NÖS klammerte in Worten die Existenz eines Marktes zwar nicht mehr aus, aber niemals hätte es eine NÖS-Reform mit einer solchen Konsequenz geben können, daß der Arbeitsplatz eines Werktätigen im volkseigenen Betrieb nur dann sicher ist, wenn dieser Betrieb profitabel ist. Dann wäre die Grenze zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem überschritten worden. Jeglicher politische Grund für ein anderes Wirtschaftssystem wäre entfallen. Wozu also das Ganze überhaupt? 3. Die .,äußeren" Rahmenbedingungen

Alle Überlegungen zur NÖS-Reform standen von Beginn an im Schatten eines Mangels an Ressourcen. Den Betrieben fehlte es an allen Ecken und Enden an Material, Zulieferungen und vor allem Investitionsmitteln, d. h. Ausrüstungen und Baukapazitäten. Deshalb wurden alle Überlegungen zur Eigenausstattung der Betriebe mit Fonds immer wieder von einem objektiv bedingten "Bilanzierungsvorbehalt" des Staates konterkariert. Es war der ständige Einwurf der Planer, "dies ist nicht zu bilanzieren". Dies betraf insbesondere auch die Investitionen. Die Fonds dafür waren immer schon über das Maß des Vorhandenen weit hinausgehend verplant. Und nun sollte noch die Eigenerwirtschaftung kommen, die eine, wenn auch von vomherein sehr begrenzte, Eigenverwendung vorsah. Da schrillten alle Alarmglocken. Es ist deshalb nicht zufällig, wenn unter Hinweis auf Störungen im Reproduktionsprozeß im Beschluß des Politbüros vom 8. September 1970 die Wiederherstellung und Bekräftigung der zentralen staatlichen Bilanzierung das Kernstück bildete und gleichzeitig die NÖS-Reformen beendet wurden, ohne diesen Fakt so zu benennen! 9 Eine Reform ohne Reserven geht im Grunde nicht. Die Reformideen entstehen aber oft nicht zu dem Zeitpunkt, wo es genügend Überschüsse und Reserven gibt, sondern immer nur dann, wenn die Not am größten ist. Es muß aber zumindestens ein noch nicht genutztes Potential vorhanden sein, das mit einer Reform erschließbar wird. Aber genau diese Substanz fehlte, und das machte sich in den 60er Jahren bereits stark bemerkbar. Schließlich hatte der Osten Deutschlands seit 1945 nicht eine einzige Kapitalspritze erhalten, im Gegenteil, er verlor durch die Reparationsleistungen in bedeutendem Maße an ökonomischer Substanz. Im Statement meines 19 Zu weiteren Aussagen über dieses Geschehen siehe auch: Claus Krömke, ,.Das ,Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft' und die Wandlungen des Günter Mittag", hefte zur ddr-geschichte 37, Forscher und Diskussionskreis DDRGeschichte, Berlin 1996.

5 Timmcrmann

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Vorredners Gerhard Schürer wurde diese Ausgangslage sehr deutlich geschildert. Es gab keine echte Chance zur Entwicklung einer ökonomischen Basis in der DDR, die auch nur annähernd eine solche Produktivität und Weltmarktfähigkeit gewährleistet hätte, um die Ansprüche an einen solchen Lebensstandard zu sichern, der eine Grundlage für dauerhafte politische Stabilität hätte sein können. Eine DDR ohne jeglichen Zufluß von Kapital von außen - vom Abfluß von Kapital durch die Reparationen gar nicht zu reden - war angesichts einer Dynamik der Weltwirtschaft und eines sich geradezu überschlagenden Innovationsprozesses von vornherein in einer aussichtslosen Position. Man kann es auch so sehen: Die Schulden, die nach 1971 verstärkt aufgenommen wurden und die sich in den 80er Jahren erheblich vergrößerten, waren nur ein Versuch, diesem Kapitalbedarf nachholend Rechnung zu tragen - allerdings zu spät, zu teuer und nicht ausreichend, auch weil ein bedeutender Teil in den Konsum floß. Wie groß der Kapitalbedarf für die Sanierung der DDR wirklich war, ist zumindestens von der Dimension her an den dreisteiligen Milliardensummen zu erkennen, die nach 1990 in das Gebiet der ehemaligen DDR geflossen sind und weiter fließen. Demgegenüber war die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik eine Reform gegenüber der zuvor herrschenden Zwangswirtschaft als Kriegsfolge. Aber es ist unbestritten, daß der Erfolg dieser Reform von der Leistungsbereitschaft der Bevölkerung und dem Kapitalzufluß im Ergebnis des Marshallplanes und des später einsetzenden Kapitalstromes aus den USA bestimmt war. Beides garantierte den Erfolg. Es war eine Reform auf der Grundlage von Substanz durch Kapitalzufluß. Wegen der fehlenden Substanz gab es für die DDR auch keine echte Chance, zu bestimmten Zeitpunkten, z. B. bei der Erdölpreiserhöhung, solche Entscheidungen zu treffen, die gegen den Konsum und für die Akkumulation, d. h. das Sparen, gewirkt hätten. Abstriche am Wohnungsbauprogramm? Es wartrotz seiner Dimension mit 2 Millionen Wohnungen, auch wegen des parallel laufenden Verfalls des vorhandenen Wohnungsbestandes, zu gering, um das Wohnungsproblem befriedigend lösen zu können. Nicht zu bestreiten ist andererseits, daß in der DDR gegenüber den Kriegsfolgen 1945 in nicht unbeträchtlichem Umfang Anlagevermögen in allen Bereichen der Wirtschaft wie insgesamt in der Gesellschaft geschaffen worden ist. Die Summe dessen übersteigt den Anfangsbestand um ein Mehrfaches. Das Problem liegt also nicht darin, daß in 40 Jahren etwas Vorhandenes "verwirtschaftet" wurde, sondern es liegt in etwas anderem. Obwohl im wahrsten Sinne des Wortes aus eigener Kraft ökonomische Substanz geschaffen wurde, erreichte sie niemals die ausreichende Dimension jener kritischen Masse, von der aus eine sich selbst tragende Reproduktion der DDR-Wirtschaft in Gang kommen konnte. Die Ursachen dafür sind bei weitem nicht aus der Art und Weise, wie in der DDR gewirtschaftet wurde, zu erklären. Da wurde, mit dem Wenigen, was zur Verfügung stand, sowohl mit dem System als auch trotz des Systems erstaunlich viel erreicht und das auch für eine erstaunlich lange Zeit. In Betracht zu ziehen sind für eine solche Ursachenfor-

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schung sowohl die äußeren Rahmenbedingungen, die Zugehörigkeit zu einem vom Weltmarkt weitgehend abgeschotteten Macht- und Wirtschaftsblock, aber auch als Gegenkraft die immer vorhandene Verflechtung mit der Bundesrepublik, die in ihrer Wirkung nicht außer Acht gelassen werden sollte. Bei all den Überlegungen zur Ursachenerforschung über das Mißverhältnis zwischen Sparen (Akkumulation) und Konsum wegen der Honecker'schen Überbetonung der Sozialpolitik auf Kosten der Wirtschaft, sollte niemals eine Tatsache außer Acht gelassen werden: Das innere Geschehen in der DDR vollzog sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und wurde direkt vom Kalten Krieg geprägt. Das in einem Maße, wie es verständlicherweise heutzutage schwerfallt, es sich vorzustellen. Es ist noch viel zu wenig erforscht, und es wird auch viel zu wenig in das öffentliche Bewußtsein gerückt, in welchem Ausmaß das Geschehen im Kalten Krieg politische und auch ökonomische Prozesse deformiert hat! Was eigentlich war in dieser Zeit normal? Vergessen wir nicht, daß es damals auch nicht um Reformen oder Nicht-Reform, sondern schlicht und einfach um Sieg oder Niederlage des einen Systems über das andere ging- und dieses Denken war für alle Entscheidungen genauso bestimmend, wie dieser Kalte Krieg für beide Seiten die Realität der Politik war. Die Grundfrage damals war Stabilität zur Abwendung eines Nuklearkrieges. Danach haben sich alle am Konflikt Beteiligten, jeweils auf ihre Weise und ohne Abstimmung mit dem Gegner, gerichtet. Die Sicherung von Stabilität war eine von beiden Seiten gleichermaßen anerkannte Grundprämisse ihres politischen Handelns. Deshalb hat, wie beispielsweise die Geschehnisse um den •.Milliardenkredit" 1983/84 zur Zeit der Raketenkrise unterstreichen, die Bundesregierung damals eine drohende Instabilität in der DDR mit verhindert, und deshalb haben Honecker und letztlich das ganze Politbüro sich nicht für einen radikalen Kurs im Sinne einer von oben verordneten Verschlechterung des Lebensstandards entschieden. Der spätere Zusammenbruch bereitete sich im Hintergrund ohnehin durch die innere Erosion vor.

111. Das Scheitern des NÖS belegt die Reformunfähigkeit des Systems Das NÖS scheiterte an der Frage der politischen Macht. Die Ausübung der Macht wurde per Selbstdefinition als Diktatur des Proletariats verstanden. Dies schloß strikten Dirigismus, vor allem auch auf dem Feld der Wirtschaft, ein. Ausdruck dessen war das Prinzip des "Demokratischen Zentralismus", wobei der Begriff "demokratisch" nur als Beifügung zum Hauptwort ,,Zentralismus" zu verstehen ist. Verwirklicht wurde es mit Hilfe des von oben nach unten aufgestellten Planes. Der Plan war weitaus mehr als ein Instrument zur Koordinierung arbeitsteiliger Verflechtungen in der Wirtschaft - das ist ihm ohnehin nur mehr schlecht als recht gelungen. Er war Instrument zur Durchsetzung politischen Willens und

s•

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zur Demonstration von Macht. Die Erfüllung der Planaufgabe war politische Pflicht. Deshalb durfte der Plan nicht in Frage gestellt werden, auch nicht in seinen kleinsten Einzelheiten. Es wäre ein Systembruch gewesen. In der Tat brach die Sowjetunion zusammen, als die Betriebe nicht mehr verpflichtet waren, die Planaufgaben strikt zu erfüllen. Dabei wurde ideologisch die zentralisierte Verfügungsgewalt des Staates über die wirtschaftlichen Potenzen mit deren effektivsten Einsatz gleichgesetzt. Das Maß der Zentralisierung wurde zu einem Maß für die wirtschaftliche und darüber hinaus auch soziale Effektivität erhoben. Nur wenn man als Eigentümer - gemeint war der Staat, der seinerseits durch die Partei kontrolliert wurde - tatsächlich über die Mittel verfügt, könne deren optimaler Einsatz im Interesse der Gesellschaft gewährleistet werden - so war die gängige Auffassung. Das war die Antithese zum zersplitterten, miteinander konkurrierenden Privateigentum und dem dadurch hervorgerufenen wirtschaftlichen und sozialen Chaos. Diese Ideen bestimmten bereits die Zentralisierungskonzeption Lenins. Die kapitalistische Konzentration der Produktion in Gestalt der großen Konzerne schien doch den Weg zu zeigen. Größe bestimmt die wirtschaftliche und damit auch politische Macht. Also schien es logisch, nach der Revolution gleich das ganz große Supennonopal durch den Staat zu schaffen. Das sowjetische Planwirtschaftsmodell war ein reines ZweckmodelL Lenin beobachtete und bewunderte zugleich die Präzision der deutschen Wirtschaftsmaschinerie, wie sie in ihrer Vorbereitung auf die deutsche Vorherrschaft in Europa sich entwickelte. Kann ein solcher Mechanismus nicht auch im Interesse für die Stärkung Rußlands, für die Überwindung seiner Rückständigkeit, für die Verbesserung des Lebens des Volkes genutzt werden? Zweifellos beschäftigten ihn diese Fragen.Was die kaiserliche WUMBA (Waffen- und Munitionsbeschaffungsanstalt) kann, kann die Sowjetmacht doch auch und vielleicht viel besser. Die selbst gestellte Falle wurde jedoch nicht erkannt, denn dieses Denken war rein quantitativ orientiert. Ohne Zweifel verführte die Herausbildung der großen Monopole durch Zentralisierung zu solchen mechanistischen Vorstellungen und deren Übertragung auf einen ganzen Staat. Ich glaube, diese mechanistischen Vorstellungen waren noch in den 80er Jahren intakt, indem in Zusammenhang mit Reformen in der Sowjetunion immer von einem Wirtschaftsmechanismus gesprochen wurde. So wenig wie es möglich war, einen Wirtschaftsmechanismus zu konstruieren bzw. ihn funktionieren zu lassen, so wenig war es auch möglich, ihm einen neuen Anzug zu schneidern. Und das NÖS sollte ein solch neuer Anzug sein. Hier liegt die Wurzel in der Überschätzung der Eigentumsfrage. Das Staatseigentum erschien als eine wunderbare große Möglichkeit, die Volkswirtschaft so zu gestalten und zu organisieren, daß diese auf ein optimales Modell hinauslief. Das NÖS scheiterte am Tabu des zentralisierten Staatseigentums. Es wollte Spielräume nur innerhalb dieses Rahmens eröffnen. Aber die Schaffung des zentralisierten Eigentums zerstörte das Organische im Wirtschaftsleben. Es reduzierte die Gestaltung der Wirtschaft auf eine reine Koordinierungsaufgabe.

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So sollte auch mit dem NÖS die staatliche Verfügungsgewalt über die Produktionsfonds letztendlich nicht angetastet werden, weil dies das Tabu und im Grunde auch die Substanz der Macht berührt hätte. Das Scheitern des NÖS belegt deshalb auch die prinzipielle Reformunfähigkeit dieses Systems, charakterisiert als das sowjetische Modell zentralisierter Planwirtschaft, aus seinen eigenen Grundlagen heraus. Es war wegen der in seiner Anlage bedingten Starrheit, als Folge eines hierarchisch aufgebauten Systems, zu Reformen aus der eigenen Substanz heraus nicht imstande. Die sowohl dem planwirtschaftliehen Modell als auch dem NÖS-Reformversuch zugrunde liegende Starrheit stand jener objektiv gegebenen Grundtatsache gegenüber -, und das hatten wir damals nicht erkannt und wollten es vielleicht auch nicht erkennen - daß sich eine Gesellschaft als ein lebendiger Organismus verhält und entwickelt. Deshalb ist es nicht möglich, sie nach einem vorgegebenen Modell zu formen und zu konstruieren, in etwa so, wie man ein Haus baut. Ein so konstruiertes und gebautes Haus steht lange Zeit fest, scheint stabil, aber es f 2000 Mark B = HH-Netto-Einkommen 1000 < 2000 Mark C = HH-Netto-Einkommen < 1000 Mark

c

35,5

!52

Siegfried Grundmann Diagramm I Anzahl der Probanden in den Gruppen mit unterschiedlichem Niveau objektiver Lebensbedingungen Anzahl der Probanden kumulativ

Anzahl der Probanden in der Gruppe

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300

3000

250

2500

200 2000 150

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---- kumulativ: Anzahl der Probanden in den Gruppen: -13, -12 usw.

~ Anzahl der Probanden in der Gruppe

(- 13 bis - 1 =objektiv schlechte Lebensbedingungen, +I bis +14 =objektiv gute Lebensbedingungen) (-13 = objektiv schlechteste Lebensbedingungen, +14 = objektiv beste Lebensbedingungen) Datenbasis: SD87

!53

Der DDR-Alltag im Jahre 1987 Diagramm 2 "In welchem Maße treffen folgende Merkmale auf Ihre Arbeitstätigkeit zu? ..." Mittelwerte für Qualifikationsgruppen und Geschlechter Mittelwert

( 1 =gar nicht

2 =kaum

3 = in miWerem Maße

4 =in hohem Maße)

4~------~--~----~--------------------.-------Un· und Angelamte männlich --weiblich

2

7

8

10

11

Merkmale der Arbeit I "Die körperlichen Belastungen sind hoch" 2 "Die nervlichen Belastungen sind hoch" 3 ,.Die geistigen Anforderungen sind hoch" 4 .,Ich muß viel schöpferische Arbeit leisten" 5 "Meine Arbeit bringt Gefahren für die Gesundheit mit sich" 6 ,.Meine Arbeit ist sehr vielseitig" 7 "Ich benötige die erworbene Qualifikation unbedingt für meine Arbeitstätigkeit" 8 "Ich leiste wissenschaftliche Forschungsarbeit" 9 ,.Ich arbeite mit modernsten Arbeitsmitteln" 10 .,Ich leiste viele Überstunden" II ,.Ich habe eine Arbeit mit viel eigener Entscheidungsbefugnis" 12 "Ich habe eine sehr unregelmäßige Arbeitszeit" Datenbasis: SD87

12

Siegfried Grundmann

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Diagramm 3 In welchem Maße sind Sie an der Verrichtung folgender Tätigkelten im Haushalt

beteiligt? - Mittelwerte (bei Ausklammerung der Antwort "trlm nicht zu") ( 1 = gar nicht

Mittelwert

2 = kaum

3 = in mittlerem Maße

4 = in hohem Maße)

4~. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .~

2

3

4

Männer unter 35

Männer über 35

Frauen unter 35

Frauen über 35

5

6

7

8

9

10

Variable I 2 3 4

5

6 7 8 9 10 II 12 13 14 15

Gartenarbeit Errichten bzw. Inslandhalten von Baulichkeiten Reparaturen im Haushalt Individuelle Hauswirtschaft (bei Genossenschaftsbauern) Kleintierhaltung Fahrzeugpflege Beheizung der Wohnung (einschließlich Kohletragen) Einkaufen (täglicher Bedarf) Mahlzeiten zubrereiten Geschirr spülen Wäsche waschen, bügeln Wohnung aufräumen, säubern Kinder zur Krippe I Kindergarten bringen Spielen mit den Kindern Kontrolle der Hausaufgaben der Kinder, Hilfe beim Lernen

Datenbasis =SD87

11

12

13

14

15

Der DDR-Alltag im Jahre 1987

155

Diagramm 4 Anteil der Bürger mit einer Wegezeit von unter 15 Minuten zu Infrastruktureinrichtungen in Siedlungen unterschiedlichen Typs im Jahre 1987 sortiert nach dem Durchschnittswert flir alle Siedlungen Prozent 100 90

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- - alle Siedlungskategorien zus. Bezirksstadte -- Kreisstadte -- -- andere Stadte - ·- IndustriedOrfer - - Dörfer (Hauptorte) -Dörfer (Ortsteile)

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V81 V93 V95 V78 V79 V88 V91 V77 V80 V82 V83 V86 V87 V90 V89 V84 V94 V85 V92

Variable VBJ V93 V95 V78 V79 V88 V91 V77 VBO V82 V83 V86 V87 V90 V89 V84 V94 V85 V92

Verlwufsstelle für Waren des täglichen Bedarfs Öffentlicher Fernsprecher S-Bahn, Bus-, Straßenbahnhaltestelle Kindergarten Polyrechnische Oberschule Gaststätte Postamt, Poststelle Kinderkrippe Arztpraxis I Gemeindeschwesternstation o.ä. Bäcker Fleischer Annahmestelle für Dienstleistungen Friseur Apotheke Kino Verkaufsstelle für "I 000 kleine Dinge" Eisenbahnhaltestelle Kaufhaus Theater. Oper u.ä.

Datenbasis = SD87

Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens im Alltag der DDR Von Jonathan Grix I. Einführung

Der folgende Beitrag ist Teil einer größeren Studie, die die Faktoren des Zusammenbruchs der DDR behandelt. 1 Darin wird aus dem Blickwinkel eines außenstehenden Beobachters widerständiges Verhalten untersucht. Damit soll ein Aspekt der DDR-Geschichte aufgegriffen werden, in dem es noch größere Forschungsdefizite gibt. Das Thema wird an einem regionalen Beispiel aus dem Bezirk Schwerin der späten achtziger Jahren erläutert. Die vorliegende Analyse stützt sich auf Quellenmaterial aus unveröffentlichten Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit, vor allem auf Stimmungsberichte von LPGs und städtischen Betrieben sowie auf Unterlagen aus dem SEDBezirksparteiarchiv, ergänzt durch zahlreiche Interviews. Nach einer kurzen Begriffserklärung wird die vom Autor entwickelte These der ..bedingten Loyalität" vorgestellt, auf die sich die folgende Analyse stützt. Danach werden zwei Beispiele angeführt, die für das Anwachsen der Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens von Bedeutung waren. Erstens wird die Streichung des Sputniks von der Liste des Postzeitungsvertriebs im November 1988 als Katalysator von widerständigem Verhalten diskutiert. Zweitens werden die Aktivitäten von Ausreisewilligen und deren Beitrag zu widerständigem Verhalten und dem Zerfall des Staates dargestellt. Das Fazit faßt die Bedeutung der gegebenen Beispiele für den Zusammenbruch der DDR zusammen. II. Begriffserklärung

Zunächst soll kurz erklärt werden, wie der Begriff des ..widerständigen Verhaltens" hier verwendet wird: Das Interesse dieser Analyse gilt dem nicht-konformen Verhalten der Massen, das bis jetzt nur auf wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gestoßen ist. Das Verhalten der Massen unterscheidet sich von dem der sogenannten Opposition um und in der Kirche. Die Literatur über Opposition in • Des Verfassers Doktorarbeit behandelt das Thema: Innere Faktoren hinter dem Zusammenbruch der DDR, Institut für Deutschlandstudien, Birmingham 1998.

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der DDR wird in ihrer Fülle nur von der Literatur übertroffen, die sich mit den außenpolitischen Faktoren des Zerfalls der DDR befassen. Obwohl die Kontakte und Verbindungen der diversen Gruppen den Verlauf der friedlichen Revolution und die Mobilisierung der Massen vereinfachte, waren die Gruppen selbst jedoch nicht die treibende Kraft, die zum Kollaps des Systems führte. Die Opposition wirkte bezüglich der Protestbewegung vor allem als identitätsstiftend, integrativ und disziplinierend gegenüber dem Staat -besonders in bezug auf die Gewaltlosigkeit der Demonstrationen2 . Sie sprach die tiefe, latente Unzufriedenheit der Massen an, die sich in alltäglichen gesellschaftlichen Verweigerungen und non-konformen Handlungen zeigte. III. These Die These, auf der dieser Beitrag basiert, lautet: Die Mehrheit der Bevölkerung in der DDR stand zu keiner Zeit hinter der Politik der SED-Führung. Daraus folgt, daß es eine Entfremdung zwischen den Massen und der Elite gab, die sowohl von ostdeutschen Intellektuellen als auch von Beobachtern aus dem Westen zu einem großen Teil verkannt wurde. Diese Entfremdung wurde durch bestimmte Bedingungen scheinbar kompensiert, das heißt, die Unzufriedenheit der Massen wurde durch einen unausgesprochenen Sozialvertrag unterdrückt. Für seine "bedingte Loyalität" gegenüber dem Staat erhielt das Volk gesicherte Sozialleistungen, ein erträgliches Konsumniveau und eine unpolitische Privatsphäre. Mit dieser "bedingten Loyalität" läßt sich die intensive Integration der Bevölkerung in das tägliche Leben des SED-Staates erklären. Sie spielte eine wichtige Rolle für die Stabilität und Erhaltung des Systems. Die Integration der Mehrheit in etliche Funktionen und Strukturen der Gesellschaft, z. B. in Massenorganisationen3 , trug deutlich zur Stabilität des Regimes bei, denn wer als gesellschaftlich integriert galt, ließ sich recht einfach überwachen und nicht so schnell für "feindlichnegative" Aktivitäten anwerben. Es ist gerade diese Integration der Mehrheit in Form dieser mit Bedingungen verbundenen Loyalität, die einer der vernachlässigten Bereiche in der DDR-Forschung ist. Ohne die Frage nach den Gründen für die Dauerhaftigkeit der DDR zufriedenstellend zu beantworten, läßt sich die noch wichtigere Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs schwer erklären. Die Legitimationsdefizite der Parteiherrschaft wurden teilweise durch die großzügige Sozial- und Wirtschaftspolitik der SED wettgemacht. Detlef Pollack formulierte treffend: "Die Stabilität des Systems lag also in dem wechselseitigen Austausch von Anpassung und Versorgung. Um versorgt zu werden, machte man mit; und man wurde nur versorgt, wenn man mitmachte". 4 2 Enquete-Kommission, VII, 2. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Baden-Baden 1995, S. 1989. 3 M. Fulbrook, Anatomy of "Dictatorship". London 1996, S. 84- 86. 4 Graber, Heinze und Pollack, Leipzig im Oktober. Ber1in 1994, S. 15.

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Insofern gab es eine Art "Sozialvertrag" zwischen Herrschenden und Untertanen, wobei gewisse soziale Sicherheiten - Arbeit, Wohnung, Grundbedürfnisse etc. - gegen Konfonnität, Unterwerfung und bedingte Loyalität der Mehrheit eingetauscht wurden. Sobald sich jedoch die Bedingungen, auf denen diese Politik beruhte, zu verändern begannen, kam auch die latente Unzufriedenheit der Massen ans Licht, oder anders fonnuliert: Man machte nicht mehr mit. Der langfristige Prozeß des Zusammenbruchs der DDR wurde von einer wachsenden Bereitschaft der Bevölkerung, sich öffentlich über den Staat zu äußern, wesentlich mitgetragen. An Hand der folgenden beiden Beispiele sollen die Motivationen und direkten Ursachen kurz erläutert werden, die hinter dieser Bereitschaft standen, sowie die von der Bevölkerung ausgewählten Artikulationsformen und Kanäle der Unzufriedenheit. Das erste Beispiel ist das Verbot der deutschsprachigen Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" im November 1988 und die darauffolgenden Reaktionen der Bevölkerung. Das zweite Beispiel untersucht das Verhalten von Ausreisewilligen und dessen Bedeutung für den Zerfall des Systems.

IV. Das Sputnik-Verbot Der "Sputnik" war für seine populäre Themenwahl gerade seit dem Beginn von "Glasnost" und "Perestroika" unter Ostdeutschen sehr beliebt. Laut einer von zwei Politikwissenschaftlern aus Potsdam durchgeführten Studie löste das Sputnik-Verbot eine Protestwelle in der DDR-Gesellschaft aus, die aber nach einigen Wochen wieder verebbt sei. Dieser Feststellung muß jedoch entschieden widersprochen werden. Zumindest zeigen die Forschungsergebnisse aus dem Bezirk Schwerin, daß das Sputnik-Verbot viel tiefere und langfristigere Auswirkungen auf die Meinung und Stimmungen breiter Schichten der Bevölkerung hatte. 5 Die Reaktionen der Bevölkerung im Bezirk Schwerin auf das Nichterscheinen des Sputnik waren von Unverständnis für diese Maßnahme gekennzeichnet. Wie die Staatssicherheit meldete, kam es zu spontanen und heftigen Diskussionen im gesamten Bezirk. Das Verbot, zusammen mit den Refonnprozessen in der Sowjetunion und in anderen sozialistischen Ländern seit 1985, hatte erhebliche Auswirkungen auf die gesamte DDR-Bevölkerung, und zwar weit über den engeren Leserkreis der Zeitschrift hinaus (im Bezirk Schwerin hatte der "Sputnik" 5.300 Abonennten und 1.500 gelegentliche Käufer). Seit 1985 war die Zeitschrift in der DDR sehr beliebt und wurde, zum Teil in Abschriften, selten auch als Fotokopie (Kopiergeräte waren den meisten Bürgern nicht zugänglich!) von Hand zu Hand weitergereicht Während die Staatssicherheit auf Republik-Ebene bei Aussagen zum Thema Sputnik nicht mehr zwischen Parteimitgliedern und Nicht-Mitgliedern zu unterscheiden vermochte, entstanden in Schwerin auf Bezirksebene noch sehr genau s J. Grix ( Anm. I), passim.

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differenzierte Berichte über eine Vielzahl von Reaktionen aus der Bevölkerung. Die Schweriner SED-Bezirksleitung erreichten über 600 Eingaben, die direkt auf das Verbot eingingen. Gleichzeitig schickte die Volkspolizei einen Bericht an die Bezirksleitung, in dem sie von dem wachsenden Interesse der Bevölkerung an Reformen und an den anhaltenden Diskussionen darüber am Arbeitsplatz berichtete. Und zur gleichen Zeit teilte die Leitung des PMS (Plastmaschinenwerk Schwerin) der SED-Bezirksleitung mit, daß die Gründe für das Sputnik-Verbot von den Werktätigen nicht akzeptiert würden. Die Wörter "unmündig" und "Unmündigkeit" tauchen häufig in den Berichten über die Reaktionen der Bevölkerung zum Sputnik-Verbot auf. Aus dem Bezirkskrankenhaus, damals einer der größten Arbeitgeber in der Region, wurde berichtet, die Mitarbeiter fühlten sich "bevormundet und sind z. T. nicht einverstanden damit, daß ihnen nicht die Gelegenheit gegeben wird, bestimmte Artikel selbst zu beurteilen."6 Die Staatssicherheit im Bezirk meldete im Zusammenhang mit der Streichung des Sputniks "demonstrativprovokative Handlungen". Ein Lehrer aus Schwerin lieferte ein typisches Beispiel: er richtete eine "Trauerecke" für die "tote" Zeitschrift im Lehrerzimmer ein. Laut Stasibericht stellte er einen schwarzen Bilderrahmen im Format A3 mit einer Titelseite des Sputniks auf. Darunter brachte er einen handgeschriebenen Nachruf an: "Sputnik als einzige Zeitschrift, die die Wahrheit des Lebens im Sozialismus aufzeigt, die zum Diskutieren anregte, ist damit verboten. Sputnik ist tot."7 Eine weitere Reaktion war der Austritt einer Vielzahl von Mitgliedern aus der DSF (Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft) und selbst aus der SED. Diese Tat bedeutete eine politische Aktion in einer allumfassenden Gesellschaft, eine Aktion, die Karrierebrüche oder die Verhinderung des weiteren Fortkoromens usw. mit sich bringen konnte. Unter Bezugnahme auf das Sputnik-Verbot entschlossen sich zehn Arbeiter aus der Elektromontage des VEB PMS, ab Januar 1989 keine Beiträge mehr für ihre Mitgliedschaft in der DSF zu entrichten. 8 Zu einer spontanen Unterschriftensammlung kam es an der Ingenieurschule für Maschinenbau in Schwerin, als ein Arbeiter an seinem Arbeitsplatz eine Wandzeitung unter dem Titel "Wie eine Herde Schafe" erstellte. Er verfaßte einen Artikel, in dem er sein Unverständnis für das Sputnik-Verbot und für das Verbot von fünf sowjetischen Filmen erklärte, die nicht mehr in der DDR gezeigt werden durften. Weiterhin wurden als Reaktion auf den Versuch der SED, das Volk der DDR derart zu bevormunden, republikweit über 200.000 Eingaben an staatliche Stellen geschickt. Schließlich nannten Bürger das Verbot eine politische "Fehlentscheidung", für die sich Erich Honecker persönlich zu verantworten habe. Weiterhin wurden 6 Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, Schwerin: Bezirkskrankenhaus-Akte: SED-Bezirks-Parteiarchiv, Schwerin, IV 7/230/024, S. 2; 29. II. 1988. 7 Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Außenstelle Schwerin, AKG 175/88, 25. II. 1988, S. 58. s Ebenda, AKG 189/88, 30. 12. 1988, S. 121.

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Stimmen laut, die forderten: "Es ist Zeit, daß ein Nachfolger kommt". Dieses Zitat stellt für eine Provinzstadt wie Schwerin eine überraschende Entdeckung dar, weil Wissenschaftler, die die Stasiakten analysierten, behaupteten: "So taucht z. B. die Forderung, daß Honecker als SED-Generalsekretär endlich zurücktreten sollte, vor seinem Sturz nie aur'.9 Die Auswirkungen dieses Verbots für den Abbau der "bedingten Loyalität" der Massen darf nicht unterschätzt werden. Dieses Beispiel aus dem Jahr 1988 gab dem schon begonnenen Prozeß des Loyalitätsverfalls einen Schub. Widerständiges Verhalten wurde in unterschiedlichsten Erscheinungformen öffentlich gemacht, zum Beispiel in Form von handgeschriebenen Zetteln, Transparenten, Schmierereien, anonymen Anrufen und Wandzeitungen. Zusammengenommen bilden diese Beispiele von verstreuten, individuellen Handlungen doch eine einheitliche Bewegung, die ihr gemeinsames Ziel in der Suche nach einer Ersatzöffentlichkeit fand. Die oben angeführten Beispiele bedeuteten alle eine Abweichung von der gewohnten Anpassung. Diese Verhaltens formen, die alle auf eine Verweigerung des totalitären Anspruchs des Staates hinweisen, stiegen in den späten achtziger Jahren rapide an.

V. Ausreisewillige und ihr Beitrag zum widerständigen Verhalten und Zerfall des Regimes Ausreisewillige spielten eine entscheidende Rolle beim Zusammenbruch des SED-Staates. Hier soll jedoch nicht auf die Massenausreisewelle im Sommer und Herbst 1989 eingegangen werden, deren Beitrag zum Kollaps der DDR unumstritten sein dürfte. Vielmehr soll an dieser Stelle anband regionaler Beispiele aus dem Bezirk Schwerin herausgestellt werden, welchen Wandel die Ausreisewilligen in ihrem Handeln vollzogen. Nach der spektakulären Luxemburg-LiebknechtDemonstration von 17. Januar 1988, an der Ausreisewillige teilnahmen und danach zum Teil abgeschoben wurden, änderte sich das Verhalten derer, die die Ausreise suchten. Die oben genannte Demonstration löste eine Flut von Reaktionen in allen Bevölkerungskreisen aus. Vor allem waren die Ausreisewilligen "ermuntert durch die bekanntgewordenen kurzfristig realisierten Übersiedlungen in der Folge offener Provokationen mit zunehmendem Forderungscharakter". Dies führte dazu, daß viele sogenannte "Übersiedlungsersuchende" ihr bislang ruhiges Verhalten und Festhalten an den Gesetzen aufgaben, und daß sie nun "öffentlichkeitswirksame Provokationen" zu organisieren versuchten. 10 Das heißt, die von der Stasi zuvor als "lose" bezeichneten Gruppierungen Ausreisewilliger suchten nun Kontakte zu und Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten. Diese Gruppen existierten im Bezirk 9 Eberhard Kuhrt (Hg.), Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch. Berlin 1996, S. 253. 10 BStU, Außenstelle Schwerin, AKG 21/88,5. 2. 1988, S. 78179.

II Timmcrmann

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Schwerin viel länger als die, die sich der unabhängigen Friedensbewegung zugehörig fühlten. 11 Genau wie mit dem Wachsen des Unmuts und dessen Artikulationsformen, die oben kurz angedeutet wurden, wuchs die Aktivität derjenigen, die in den Westen wollten. Diese Gruppierungen sind als eine Bewegung zu betrachten, und sie sahen sich selbst als eine Solidargemeinschaft Gleichgesinnter. Der Wandel vom individuellen und privaten zum kollektiven und öffentlichen Handeln markierte eine Wende im Verhalten der Ausreisewilligen. Darüber hinaus trug dieser Wandel maßgeblich zu der inneren Erosion des Staates bei. Zuerst waren die Aktivitäten isoliert, obwohl schon weit verbreitet. In Schwerin hängten beispielsweise einige Personen ein von ihnen unterschriebenes Transparent vor ihren Balkon. Darauf stand: "Antrag 2 Jahre, wie lange noch?" Diese öffentlichkeitswirksame Aktion wurde bestraft, indem die Täter sofort festgenommen wurden. Zur selben Zeit brachte eine Frau insgesamt elf "Inserate" an Kaufhallen der Stadt Schwerin an, "in denen das Buch des Genossen Honecker ,Aus meinem Leben' gegen das Buch ,Perestroika' des Genossen Gorbatschow zum Tausch angeboten wurde". Außerdem schickten Ausreisewillige sehr kritische Eingaben an die Bezirkszeitung und die SED-Bezirksleitung. Diese unveröffentlichen Briefe, die sich im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv in Schwerin befinden, bieten dem heutigen Leser eine spannende Lektüre und vermitteln dem Wissenschaftler ein Gefühl von den Stimmungen und Meinungen derer, die nicht ausreisen durften. Im Rahmen dieses Aufsatzes können nur einige wenige Beispiele aus einer Reihe von sich anhäufenden Aktivitäten des individuellen Handeins vorgestellt werden. Nach und nach kam es unter den Ausreisewilligen dann zu Versuchen der Zusammenarbeit. Sie trafen sich in privaten Wohnungen, in Cafes und in anderen öffentlichen Einrichtungen. Das wöchentliche Friedensgebet in Schwerin bot den losen Gruppierungen von Ausreisewilligen seit 1988 einen regelmäßigen Treffpunkt im Zentrum der Stadt, wo sie über die Probleme der Gesellschaft diskutieren konnten. Diese Gelegenheit des Zusammenkoromens nutzten die Ausreisewilligen, um weitere Aktionen zu planen. Außerdem begannen sie, sich vor dem Friedensgebet jede Woche zu treffen. Auf einem Treffen bildeten sie vor dem Schweriner Dom demonstrativ eine Menschenkette in Form des Buchstabens ,A' für Ausreise und trugen Kerzen. Die Ausreisewilligen machten circa 70% bis 80% der Anwesenden bei den Friedensgebeten aus. Der Einfluß der Ausreisewilligen auf die Politisierung des Friedensgebets und auf ähnliche Treffen gehört mit den kurz angeführten Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens zu den von der Wissenschaft bisher vernachlässigten Gegenständen. Die auf Zusammenarbeit ausgerichteten Aktivitäten der Ausreisewilligen in Schwerin und republikweit, hinter denen nicht nur materielle Gründe steckten, sondern auch das Grundrecht der Bewegungs- und Redefreiheit, prägten die Entwicklung im Lande. 11

Ebenda, AKG 38/88,2. 3. 1988, S. 84/85.

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VI. Fazit In diesem Aufsatz sollte ein Zugang zum Thema "Widerständiges Verhalten im Alltag der DDR" aufgezeigt werden. Dabei wurde auf die gängige Literatur zur Opposition und zu außenpolitischen Faktoren des Zusammenbruchs der DDR aufmerksam gemacht, die die Zusammenbruchs-Forschungen bestimmen. Vor allem aber wurde darauf hingewiesen, daß das Verhalten der Massen unter den Bedingungen der Diktatur der weiteren Forschung bedarf. Mit der These von der "bedingten Loyalität" der Mehrheit, die in diesem Aufsatz entwickelt und vorgestellt wurde, sollte ein Weg aufgezeigt werden, mit dem sowohl die Stabilität des Systems - durch die gesellschaftliche Integration einer Mehrheit - als auch der innere Zusammenbruch erklärbar sind. Die hier vorgestellten Beispiele, das Sputnik-Verbot und der Beitrag der Ausreisewilligen, verdeutlichen die weniger bekannten Formen widerständigen Verhaltens in der DDR-Bevölkerung. Dieses Verhalten reichte von kritischen Eingaben und Leserbriefen über handgeschriebene Zettel und Schmierereien bis zu Wandzeitungen, anonymen Anrufen, Austritten aus Massenorganisationen und demonstrativen Aktionen (wie auf dem Schweriner Markt). Diese Erscheinungsformen widerständigen Verhaltens waren bis zu einem gewissen Grad in jedem Bezirk zu finden. Sie signalisierten die Bereitschaft vieler, aus der gewohnten Anpassung auszubrechen - zuerst vereinzelt und später kollektiv. Es ist dieses Phänomen, zusammen mit den gestellten und erlaubten Ausreiseanträgen, das in den letzten Jahren der DDR rapide anstieg und den Mentalitätsumschwung vorbereitete, der nötig war, um das abgeschottete System aufzubrechen. Dieser evolutionäre Prozeß des Loyalitätsverfalls der Massen fand republikweit statt und nicht nur im Süden des Landes, wie die Literatur uns zu glauben gibt. Das Ansteigen der verschiedenen Formen des widerständigen Verhaltens bildete somit eine Gemeinschaft des individuellen Handelns, die den Übergang zum kollektiven Protest ermöglichte.

II*

Diktatorische Gesellschaftskonstruktion und soziale Autonomie Bürgertum und Bürgerlichkeit im (werdenden) Arbeiter- und Bauernstaat Von Thomas Großbölting

Mit einem Gleichnis suchte der Redakteur der Wirtschaftszeitung, Dr. Leonhardt, den gesellschaftlichen und politischen Vorgängen der Jahre 1918 und 1919, wie er sie in seiner Heimatstadt Magdeburg beobachtet hatte, zu erfassen und seinen Lesern die verhängnisvolle Tendenz der Entwicklung darzustellen: "In Rom war einmal ein großer Aufstand. Die armen Bürger hatten sich aufgelehnt gegen die Reichen, sie wollten nicht mehr für die Wohlhabenden arbeiten und waren voller Zorn und Eifer weggezogen aus Rom, um eine neue Stadt zu gründen. Da ging zu ihnen hinaus Menenius Agrippa und erzählte ihnen folgendes Gleichnis: Die Glieder des menschlichen Leibes empörten sich einst wider den Magen. Sie meinten[,] sie wären nur da zum Arbeiten, der Magen nur zum Genießen und kündigten das nach ihrer Ansicht unerträgliche Verhältnis auf." 1 Das happy-ending, die Einsicht der Glieder in ihre- so der Autor- "Torheit", wurde laut Erzählung eingeleitet durch den Kollaps des Gesamtorganismus. "Sie kehrten zurück, denn sie hatten erkannt, daß jedes Glied seinen eigenen Wert besitzt, und keines das andere entbehren kann, daß alle ihr Erdenpensum erfüllen müssen." Der Autor wollte mittels seiner Interpretation der Geschehnisse die Wahrung des ökonomischen Status-Quo gegen alle Widrigkeiten der Zeit, gegen militärische Niederlage, Abdankung des Kaisers und vor allem gegen die Räterepublik für alle Zukunft festschreiben ,,Dein Erdenpensum, o Mensch erfülle. Gestern - heute - morgen" 2 , so der programmatische Titel. Er steht damit stellvertretend für ein recht ungebrochenes Selbstbewußtsein von Besitzstand, Kleinunternehmern und Handel. Hatte der Erste Weltkrieg und die Abdankung der Monarchie zwar die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht verändert3 , so war doch die objektiv zu beobachtende und die subjektiv I Leonhardt: Dein Erdenpensum, o Mensch erfülle. Gestern - heute - morgen, in: Wirtschaftszeitung. Zeitschrift der Industrie- und Handelskammer Magdeburg und Halberstadt Nr. 16 (1919) vom I. Juni 1919, S. I. 2 Ebd. J Vgl. zu den sozialen Umbrüchen infolge des Ersten Weltkrieges lürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg, Göttingen 1973.

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empfundene Gesellschaftssegmentierung4 vor allem in lokalen Einheiten weiterhin existent, zum Teil sogar verstärkt worden 5 , so daß .,revolutionäre Energien wiegegenrevolutionäre Strömungen, die sich in [den örtlichen, T.G.] Spannungen widerspiegelten, [ ... ] Rückhalt in gewachsenen gesellschaftlichen Teilkulturen [fanden], die relativ konstant blieben und die sie kennzeichnende Kongruenz von Interessenlage, Mentalität und politischen Gesinnungen über den Friedensschluß hinaus wahrten." 6 Gänzlich verschieden anikulierte sich das lokale Bürgertum im Frühjahr 1945: "Es wird anders werden"7 - in dieser anläßlich einer Versammlung von Industriellen getätigten vagen Prognose eines Magdeburger Kleinunternehmers offenbarte sich die Unsicherheit des Bürgertums, das beklommen, mit angehaltenem Atem der Dinge harne, die da jetzt zu kommen drohten. Der Wunsch des von den Amerikanern auf den Schild gehobenen, eher rechten SPD-Oberbürgermeisters Baer, die Verwaltung solle sich jeder politischen Tendenz enthalten und ebenso solle der Wiederaufbau der Wirtschaft nach rein ökonomischen Maximen erfolgen8 , sind ebenso wie die ersten behutsamen, fast verschämten Initiativen des Industrieausschusses, in dem sich Werksbesitzer und -direktoren Magdeburgs um die Umstellung der Produktion von Kriegsmaterial auf Gebrauchsgüter des täglichen Lebens mühten, 9 Indizien für die gewandelte Mentalität einer sich ihrer unsicheren Stellung im gesellschaftlichen Gesamtgefüge bewußt gewordenen Sozialgruppe. Und auch die Abendredegesellschaft Vespertina, der "inner circle" des Magdeburger Besitz- und Bildungsbürgertum, wo man(n) ,.unter sich" war, stanet nach einer mehrwöchigen Pause nach dem Luftangriff auf Magdeburg mit einer Reihe von historischen und literarischen Themen, die mehr als je der Erhebung über die Niederungen des Alltags dienen, aber auch erste Ansätze zur Selbstvergewisserung in Tradition und Kunst aufwiesen: ,.Wesen und Form des Sonetts", ,.Schauen bei Goethe", aber auch: "Das Dämonische im Egmont" oder ,.Die Deutschheil 4 Zur Begriffsklärung und zum Analysezugang mittels der Theorie Bourdieus siehe die Ausführungen in Abschnitt 2. 5 In diese Richtung argumentiert Tenfelde mit Blick auf das sozialdemokratische und das katholische Milieu, die den höchsten Grad ihrer institutionellen Verfestigung in der Weimarer Republik erreicht hätten. Vgl. Klaus Tenfelde: 1914-1990 - Einheit der Epoche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 ( 1991 ), S. 3- II. 6 Everhard Holtmann: Politik und Nichtpolitik. Lokale Erscheinungformen politischer Kultur im frühen Nachkriegsdeutschland, Opladen 1994. S. 131. Für die politische Ebene vgl. Heinrich-August Wink/er: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, MUnchen 1993, S. 17 f.; eine empirisch fundierte Analyse der lokalen Auswirkung der ,Revolution' von 1918/19 Hans-Joachim Bieber: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918- 1920, Harnburg 1992. 7 Landesarchiv Magdeburg, IHK zu Magdeburg Nr. 124,26. 8 Vgl. Amtliches Mitteilungsblatt des Militär-Gouverneurs Nr. 5 vom 23. Mai 1945: ,.Nur an eines dürfe gedacht werden: an den Wiederaufbau der Stadt und des gesamten Gemeinwesens. Politik dürfe in den Dienststellen auf keinen Fall getrieben werden." 9 Das Wirken der Industriekommission ist belegt in Landesarchiv Magdeburg, IHK zu Magdeburg Nr. 103.

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Friedrichs des Großen und die Berechtigung seines Beinamens" beschäftigten die Honoratioren der Stadt. Warum dieser Streifzug durch das Nachkriegs-Magdeburg des Jahres 1945? Ein knapper Blick auf die Summe bisheriger und projektierter SBZ- und DDR-Forschung geschichts-, sozial- und politikwissenschaftlicher Provenienz soll dies begründen. "Gut vorangekommen" sei die Geschichtsschreibung seit Öffnung der Archive 1989/90, so resümierte Hermann Weber Anfang 1998 die Forschungsbemühungen zur zweiten Diktatur in Deutschland. Tatsächlich belegt eine große Zahl von Forschungsprojekten die immensen Anstrengungen, unterschiedliche Segmente der DDR-Geschichte zu durchleuchten. Dennoch lassen die sich abzeichnenden Ergebnisse kein ausgewogenes historiographisches Bild vom untergegangenem Staat erwarten. Stattdessen weisen sowohl die bereits vorhandene einschlägige Literatur als auch das Forschungsinteresse nach Meinung von Kennern spezifische "Lücken" auf: Bislang werde zu sehr die Intention der Herrschenden geprüft, hingegen die Umsetzung der Politik und ihre "realen Auswirkungen" zu wenig beachtet, so Hermann Weber. 10 Nicht die Politikgeschichte, sondern vielmehr "die historische Erforschung der tatsächlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der SBZ/DDR stelle zur Zeit das "größere Defizit" dar, so Günter Heydemann, hier stellvertretend zitiert für eine große Zahl von gleichlautenden Einschätzungen 11 : Diese Klagen sind wohl nicht zuletzt Resultat eines aktuellen tagespolitischen Orientierungsbedarfs, reichen doch weder für die diese Zwecke noch aus der wissenschaftlichen Perspektive "einfache Konzepte [aus], die nur den repressiven Charakter des SED-Regimes hervorheben, um Aufbau, die Stabilität und den Untergang der DDR zu erklären." Vom Methodenrepertoire des Faches her argumentiert weist insbesondere das Vorbild der Historiographie zum Nationalsozialismus, welche sich von einer stark personalistisch gefärbten Politik- und Institutionengeschichte zu einer "Sozialgeschichte von diktatorischer Herrschaft"12 erweiterte, den Weg dazu, über die bisherigen Forschungen hinaus "das sich wandelnde Wechselwirkungsverhältnis zwischen der diktatorischen Herrschaft und den vielfältigen Weisen zu erforschen, in denen die Menschen mit ihr umgingen". 13 10 Hermann Weber: ,,Zum Stand der DDR-Forschung über die DDR-Geschichte", in: DeutschlandArchiv 2 (1998). S. 249-257, 254. II Günther Heydemann: "Stand und Perspektiven der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung. Versuch eines Überblicks". in: Jürgen Frölich: Bürgerliche" Parteien in der SBZ/ DDR. Zur Geschichte von CDU, LDP(D), DBD und NDPD 1945 bis 1953", Köln 1995, S. II- 25, 24. 12 Vgl. Rudolf Sch/ög/, Michael Schwartz. Hans-Ulrich Thamer: Konsens, Konflikt und Repression: Zur Sozialgeschichte des politischen Verhaltens in der NS-Zeit, in: Rudolf Schlögl, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Zwischen Loyalität und Resistenz. Soziale Konflikte Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Widerstand in Westfalen, Münster 1996, S. 9- 30, 13, 29f. 13 Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547-553,553.

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Im folgenden wird ein an den skizzierten Forschungsfragen und -Vorbildern orientierter Analysezugang entwickelt. Anhand der Fragestellung nach Bürgertum und Bürgerlichkeit in der SBZ und frühen DDR sollen methodische Prämissen, die empirischen Möglichkeiten und Grenzen sowie der zu erzielende Erkenntnisfortschritt in einer Skizze demonstriert werden.

I. Diktaturanalyse als Sozialgeschichte von Herrschaft: Fragestellung und Erkenntnisinteresse Das Gerüst der Untersuchung bilden die Oppositionsbegriffe "Diktatorische Gesellschaftskonstruktion" und "soziale Autonomie". Mit dem Terminus "Diktatorische Gesellschaftskonstruktion" wird über die Analyse von Form und Ausmaß staatlicher Gewalt zur Durchsetzung von Herrschaft hinaus nach Konsensstrategien in der auf die Schaffung einer "sozialistischen Menschengemeinschaft" zielenden "Erziehungsdiktatur" gefragt. Der Blick auf Phänomene jenseits von staatlichem Terror und Unterdrückung trägt dem Umstand Rechnung, daß nicht zuletzt in den ideologischen Vorgaben der SED nicht der geduckt passivfügsame Untertan, sondern der loyale, aufbauwillige,der gemeinsamen Sache innerlich verpflichtete "neue Mensch" der Prototyp des Staatsbürgers war. 14 Der Oppositionsbegriff "soziale Autonomie" umfaßt neben Formen der Abwehr der intendierten Gesellschaftskonstruktion vor allem die vielfältigen Arten des Sich-Verhaltens gegenüber den diktatorischen Zwängen und bündnispolitischen Angeboten des SED-Staates. Dabei wird in Anlehnung an erste SBZ- und DDR-Studien, aber auch im Rekurs auf Ergebnisse der sozial- und politikwissenschaftlichen Transformationsforschung unterstellt 15 , daß neben anderen Vergesellschaftungsformen insbesondere das über das Ende der Weimarer Republik hinaus in vielen Bereichen politisch, ökonomisch und kulturell hegemoniale Bürgertum 16 auf Grund seines umfassenden gesell14 Vgl. Sirnone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: "Die DDR - eine verhinderte Literaturgesellschaft"?, in: Jürgen Kocka, Martin Sabrow: Die DDR als Geschichte. Fragen- Hypothesen- Perspektiven, Berlin 1994, S. 153-158, 153. 13 Vgl. Christoph Kleßmann: "Die Beharrung traditioneller Milieus in der DDR", in: Manfred Hettling, Claudia Huerkamp, Paul Nolte, Waller Schmuhl (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 146-154; ders.: "Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR", in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 254 - 270; ders.: "Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR", in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 29 53. Zu der in diesem Zusammenhang relevanten Transformationsforschung vgl. exemplarisch llja Srubar: "Der Zerfall des realen Sozialismus in Mitteleuropa - Folgen, Gemeinsamkeiten und Differenzen. Eine vergleichende Betrachtung des Transformations-Prozesses in Polen, Ungarn, CSSR und DDR/ Beitrittsgebiet", in: Lothar Bertels (Hg.): Gesellschaft, Stadt und Lebensverläufe im Umbruch, Hagen 1993, S. 8-36. 16 Die Diskussion um die Analysekraft des Begriffs ,Bürgertum' für die Zeit auch nach 1945 führt umfassend Hannes Siegrist: Ende der Bürgerlichkeit? Die Kategorien "Bürgertum" und "Bürgerlichkeit" in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft

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schaftlichen, vor allem lokalen und regionalen Gestaltungs- und Herrschaftsanspruchs in spezifischer Weise in Konflikt geriet mit den Durchherrschungsbemühungen der an die Macht gekommenen Kommunisten und späteren Einheitssozialisten. Die daraus resultierende Auseinandersetzung um Macht und Deutungsmacht prägte, so die These, Politik und Gesellschaft der frühen DDR nachhaltig und verweist die Forschung darauf, mindestens bis zum Mauerbau die DDR nicht ausschließlich unter einem modifizierten totalitarismustheoretischem Verdikt als "stillgelegte" (Meuschel), "durchherrschte" (Kocka) oder "verstaatlichte" Gesellschaft (Offe) zu beschreiben. Wie in der NS-Historiographie ist es so auch bezüglich der historischen DDR-Forschung ratsam, eine relative Autonomie der sozialen Dimension zu unterstellen und "Zugangswege zur Geschichte der Gesellschaft in der SED-Diktatur zu sondieren, die - um den bekannten Satz von Habermas zu variieren - eben nicht in dem aufgingen, was Diktatoren einseitig intendierten." 17 Methodisch positioniert sich ein solcher Zugang zwischen der Sozial- und Politikgeschichte einerseits und der Alltagsgeschichte andererseits, sucht er doch strukturgeschichtliche Fragestellungen mit einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive zu verknüpfen in der Überzeugung, daß sich erst in dieser methodischen Synthese die intendierte Sozialgeschichte von Herrschaft realisieren läßt. 18

11. Bürgertum in der SBZ/DDR: Problemaufriß und empirische Posilionierung Ein erster, der Gesellschafts- und Konflikttheorie Bourdieus verpflichteter Problemaufriß verdeutlicht das empirisch auszulotende Spannungsfeld 19: Die unmittelbaren Nachkriegsjahre der SBZ bis zur Staatsgründung waren von einem tiefgreifenden Wandel in der politischen, ökonomischen und sozialen Struktur gekennzeichnet, die primär betrieben wurde durch politische Maßnahmen wie die Entnader Nachkriegsperiode, in: Geschichte und Gesellschaft (1994), S. 549 - 583; vgl. auch Klaus Tenfelde: "Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert", in: ders., Hans-Ulrich Weh/er (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums. Vierzehn Beiträge, Göttingen 1994, S. 317-353. 17 Ralph ]essen: "Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR", in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96-110, 110. 18 Vgl. Jürgen Kocka, "Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte", in: Wolfgang Schieder, Vollcer Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland Bd. I, Göttingen 1986, S. 67 - 88. 19 Die folgende Problemskizze rekurriert auf das "theoretische Werkzeug" der Gesellschaftstheorie Bourdieus. Exemplarisch sei hier zitiert ders.: Raum und ,Klassen' , Frankfurt a.M. 1985. Dabei folge ich in Absetzung von der meist rein kultursoziologisch verengten Rezeption Bourdieus der Interpretation von Markus Schwingel: Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus, Harnburg 1993. Zu ersten Versuchen, die DDR mit der Bourdieu'schen Theorie zu beschreiben vgl. Peter Alheit: "Strukturelle Hintergründe kollektiver "Verlaufskurven" der deutschen Wiedervereinigung", in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 17 (1994), S. 9-37.

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zifizierung, die Bodenreform oder die Enteignung von Privatbetrieben und die Schaffung des volkseigenen Sektors in der Industrie. In diesem Prozeß wurden die Koordinaten des "sozialen Raumes" grundlegend verändert: Die sich als Vertreter der ,Arbeiterklasse' definierenden neuen Machthaber verschafften sich den problemlosen Zugang zur wichtigsten Kapitalart, dem politischen Kapital, und werteten die als ihre spezifische Klientel verstandene Arbeiterschaft öffentlich auf. Die ,alten' bürgerlichen Schichten wurden hingegen von den entscheidenden Zugängen zur politischen Macht tendenziell abgeschnitten. Damit verloren sie freilich das angestammte kulturelle, soziale und (nur noch unterschwellig) vorhandene symbolische Kapital ebensowenig wie sich die neuen, zum Teil noch zu konstituierenden sozialistischen Dienstklassen der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz es sich problemlos aneignen konnte. So waren die neuen Machthaber auf die Mitarbeit des .Klassenfeindes' angewiesen, sollte denn der immer wieder propagierte "rasche Neuaufbau" nicht nur propagandistische Ankündigung bleiben. In diesem Spannungsfeld von taktisch motivierter Rücksichtnahme und ideologisch begründeter Gegnerschaft sind der diktatorische Versuch der Konstruktion der Gesellschaft, die zeitgleich betriebene Bündnispolitik und die Hebarrungskraft der traditionellen Kapitalverteilung zu untersuchen. Die skizzierten Oppositionen bündeln sich semantisch-plakativ in der Frage nach der Stellung des Bürgertums im, so die Selbstetikettierung der Mächtigen, (werdenden) Arbeiter- und Bauernstaat. Zugleich verdeutlicht die theoretische Beschreibung, daß die Vorbedingungen aus der Weimarer Republik, der NS-Zeit und aus der Zusammenbruchgesellschaft des Zweiten Weltkrieges bei den unternommenen Fallstudien in Rechnung zu stellen sind. Die auf den Vergleich zielende Frage nach Gleichförmigkeit oder Unterschied in der Organisations- und Artikulationsmöglichkeit bürgerlicher Gesellschaftsformen in den beiden Diktaturen in Deutschland ist dem Gegenstand immanent. 20 Der einem solchen Zugang zu Grunde zu legende "soziale Raum" ist das Lokale, welches für die historische Analyse zunächst Begrenzung, aber auch eine besondere Chance bedeutet. Das städtische und dörfliche Milieu waren nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches "Ankerplatz" für Daseinssicherung und Krisenbewältigung, "erster und vorrangiger Bezugspunkt für politische Aktivitäten, Emotionen und Identifikationsbezüge, [ ... ] Bezugsfeld inmitten einer ungeheuren sozialen Mobilität; Chance, sich sozial zurechtzufinden und sich neu oder erneut einzurichten"21 Zudem war insbesondere die Stadtkultur selber in vielen ihrer Elemente tief geprägt vom Entwurf einer bürgerlichen Gesellschaft22 - ein Aspekt, der bei ersten, zumeist auf die Profession 20 Vgl. Günther Heydemann, Christoph Beckmann: ..Zwei Diktaturen in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs", in: Deutschland-Archiv 1-2 (1997), S. 12 - 40. 21 Hans-Ulrich Thamer: "Lokalgeschichte und Zeitgeschichte", in: Ernst Baier (Hg.): Debatten um die lokale Zeitgeschichte. Methoden, Träger, Themen, Formen, Bergisch-Gladbach 1990, S. 9 - 20.18.

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konzentrierten Ansätzen zu einer Erforschung der DDR-Geschichte mittels des Bürgertums-Interpretaments bisher noch nicht berücksichtigt wurde.23 Anhand einer Analyse der Konturen der städtischen bürgerlichen Gesellschaft, in diesem Fall der provinz-sächsischen Städte Halle und Magdeburg24 , in Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus läßt sich ein Set von Möglichkeiten der bürgerlichen Vergesellschaftung innerhalb dieses Raums aufzeigen und als Folie für eine Analyse seiner erneuten Realisierung oder Defonnierung in der SBZ/DDR nutzen. Die Neuverteilung der ,Kapitalien', sprich: der Einfluß- und Machtkomponenten, in der städtischen Selbstverwaltung, der politischen Administration und den ,bürgerlichen' Parteien vor Ort, im lokalen Wirtschaftsleben und dessen Vertretungsinstanzen, dem nach 1945 radikal durch neue Organisationsformen ersetzten Vereinswesen sowie der lokalen Zeitungslandschaft, der (gymnasialen) Schulkultur und der im Rahmen der Stadt gepflegten Hochkultur in Theater und Museen zeigen den Wandel der Stadt von der bürgerlichen zur sozialistischen Prägung. Dabei lassen die Verhältnisse vor Ort, wie sie für Halle und Magdeburg zwischen 1930 und 1960 beobachtet wurden, keinen Zweifel an der diktatorischen Umverteilung von Macht und Herrschaft nach 1945. Dabei ist aber - so in Absetzung zu anderen Forschungsergebnissen - kein Automatismus von zentraler Anordnung, lokaler Umsetzung und damit erfolgter ,Gleichschaltung' zu unterstellen, sondern lokale Spezifika, überkommene Loyalitäten und Abhängigkeiten sowie örtlich ausgeprägte Politikmuster beeinflußten die Umsetzung der neuen Herrschaftsform entscheidend. Besonders das politische und gesellschaftliche Leben der unmittelbaren Nachkriegsjahre bis 1947 ist von zwei konkurrierenden Mustern geprägt: Die von bürgerlichen und sozialdemokratischen Eliten betriebene Restituierung der Zivilgesellschaft lehnte sich an das Weimarer Vorbild an. Die zu beobachtende (wenn auch von Beginn an begrenzte) Artikulation pluralistischer Interessen kollidierte rasch mit der zeitgleich erfolgenden Einbindung der wiederentstehenden Vielfalt in neue totalitäre Strukturen. Ein entscheidender Schritt bei der Verfesti22 Vgl. Jürgen Reulecke: "Bildungsbürgertum und Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert", in: Jürgen Kocka (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 122-145, insbes. S. 122f. 23 Vgl. dazu Anna Sabine Ernst: "Von der bürgerlichen zur sozialistischen Profession? Ärzte in der DDR", 1945-1961, in: Richard Bessel, Ralph }essen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 25-48; Dolores LAu· gustine: "Frustrierte Technokraten. Zur Sozialgeschichte des Ingenieurberufs in der Ulbricht· Ära", in: ebd., S. 49 - 78; Ralph }essen: "Vom Ordinarius zum sozialistischen Professor. Die Neukonstruktion des Hochschullehrerberufs in der SBZ/ DDR" 1945- 1969", in: ebd., S. 76-107. 24 Für eine umfassende Dokumentation, falls nicht anderweitig nachgewiesen, vgl. Tho· mas Großbölting: Diktatorische Gesellschaftskonstruktion und soziale Autonomie: Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Halle und Magdeburg 1930-1960, Dissenation Münster 1998. Die Dissertation entstand im Rahmen des von Prof. Hans-Ulrich Thamer und Prof. Jochen-Christoph Kaiser betreuten VW-Projektes "Transformationsgesellschaft und Stalinisierung in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945 - 1948/49: Politische und soziostrukturelle Transformationsprozesse zwischen zwei Diktaturen".

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gung der Diktatur vor Ort waren die SED-Bemühungen zur Ausrichtung der eigenen Organisation und Mitgliedschaft auf die ,Partei neuen Typs' sowie die zeitlich parallel betriebene Zentralisierung von Verwaltung und Wirtschaft: Zwar war die antikommunistische Fundamentalopposition, zu der sich beispielsweise Vertreter des Wirtschaftsbürgertums Sachsen-Anhalts innerhalb des LDP-Wirtschaftsausschusses organisierten, zu diesem Zeitpunkt unterbunden. Es verblieben aber doch sowohl in den bürgerlichen Parteien als auch in der SED Basiskräfte, die sich vor allem in direkt die individuelle Lebenswelt tangierende Fragen gegen die zentralen Anordnungen stellten, ohne damit aber prinzipiell herrschaftsgefährdend zu sein. Gegen einen Automatismus bei der Umsetzung einheitssozialistischer Zentralisierungsmaßnahmen in Machtkompetenz vor Ort spricht auch der Neubeginn der Selbstverwaltung in den sachsen-anhaltischen Städten: Einige der früheren Verwaltungsexperten wahrten nicht nur ihre Stellung, sondern auch eine, allerdings immer schmaler werdende Einflußsphäre über die Staatsgründung hinaus. Beim Versuch, den Vorstellungen der lokalen Autonomie organisatorisch Form zu geben, standen neben bürgerlichen Politikern vor allem kommunalpolitisch erfahrene Sozialdemokraten in der ersten Reihe. Die solchermaßen über ihre eigentliche Trägerschicht hinaus akzeptierten Konzepte der bürgerlichen Gesellschaft, wie die kommunale Selbstverwaltung oder Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, wurden von breiten Bevölkerungsschichten getragen, bis zentrale Reformen die vorhandenen Elemente der kommunalen Selbstverwaltung aushebelten. 25 Der politischen und institutionellen Verfestigung der Diktatur infolge von institutioneller und gesellschaftlicher Entdifferenzierung entsprach die Einebnung der sozialen Basis für gesellschaftlichen lnteressenpluralismus, wie sie anband des Kriteriums der sozialen Stellung im Beruf der Bevölkerung Halles und Magdeburgs abzulesen ist. Die Nivellierung der Stratifikation der Gesellschaft war Produkt und Promotor des skizzierten (sozio)ökonomischen Wandels. Die mittels politischer Setzungen angestoßene Änderung der Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Städte begann mit den "heißen" und ,,kalten" Enteignungen der Jahre vor der Staatsgründung, gewann aber danach wesentlich an Intensität. Sozialstatistisch schlug diese Entwicklung am Anfang der fünfziger Jahre verstärkt zu Buche. Dieser Zeitraum kann damit als ,point of no return' auf dem Weg zu einer veränderten städtischen Sozialtopographie gelten. Einzig die Analyse der Kapital(um)verteilung in den Bereichen des kulturellen und symbolischen Kapitals zeigt in wenigen Sektoren Ansätze bürgerlicher Traditionsüberhänge. Der Gymnasialprofessor an der traditionsreichen Domschule, der altgediente Verwaltungsbeamte in der Zwischenbehörde oder der Repräsentant der provinzsächsischen Landeskirche waren dabei zwar Sand im Getriebe der einheitssozialistischen Transformation, konnten aber deren Geschwindigkeit und Richtung 2s Den Verwaltungsumbau schildert aus der Perspektive der SED-Zentrale Henning Mielke: Die Auflösung der Länder in der SBZ/DDR 1945-1952, Stuttgart 1995, S. 56-64; vgl. auch Sieghard Necke/: "Das lokale Staatsorgan. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR", in: Zeitschrift für Soziologie 21 (1992), S. 252 - 286.

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kaum beeinflussen. Die Auseinandersetzung um das symbolische Kapital und um die Tradierung bürgerlicher, oder generell: der einheitssozialistischen Gesellschaftskonzeption opponierenden Weltanschauungen konnte in immer weniger Sektoren des öffentlichen Lebens geführt werden, bis sie ganz in die private Sphäre gedrängt wurde.

111. Diktaturgeschichte als Rezeptionsgeschichte: Lokale bürgerliche Institutionen und Vergesellschaftungskerne in Reaktion auf die SED-Diktatur Die Gesellschaft der DDR ging in dem seit Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre skizziertem streng SED-dominierten Politsystem nicht auf. Die real-sozialistisch überformte, ehemals ,bürgerliche' Stadt bot den (wenn auch schwankenden) Boden für verschiedene Formen und später Relikte der bildungs- und besitzbürgerliehen Vergesellschaftung. Während die politischen Strukturen, die Verhältnisse von Produktion und Handel oder die Bereiche städtischer Verwaltung dem kommunistischen Transformationswillen eine breite Angriffsfläche boten, markieren die aus der gesellschaftlichen Schichtung erwachsenen privaten oder institutionell abgestützten Assoziationen den "Schnittbereich von Konstruktion und Autonomie"26, in welchem der SBZ/DDR-Gesellschaft auf die Spur zu kommen ist. Die archivalische Hinterlassenschaft bürgerlicher Vereinigungen und Institutionen bietet den Zugriff, mittels dessen über die von der politischen Geschichte gesetzten Epochengrenzen 1933 und 1945 hinweg intern ausgebildete Weltdeutungsmuster, Ordnungsvorstellungen und Mentalitäten untersucht und damit die bürgerliche Reaktion auf die unterschiedlichen politischen Systeme sowie ihre jeweilige Bedeutung für die lokale politische Kultur ausgelotet werden. Auf bildungsbürgerlicher Seite sind die jeweils in Magdeburg bzw. Halle beheimateten Zusammenschlüsse Abendsprache und Spirituskreis zu nennen.27 Beide Assoziationen sind als private, nicht-öffentliche Kreise zu charakterisieren, wobei der Professorenzirkel eher auf dem wissenschaftlichen Austausch basierte, der Magdeburger Zusammenschluß darüber hinaus sich auch über die Pflege einer gruppenspezifischen Geselligkeit definierte. Die Aufzeichnungen ermöglichen eine dichte und detaillierte Beschreibung der ,geistigen Welt' des Bildungsbürgertums und offenbaren den Wandel der geistigen Bezugspunkte in Abhängigkeit vom jeweiligen politischen System. Zwar blieb ein beträchtlicher Teil des Themenkanons über den Herrschaftswechsel hinweg konstant, doch wurde der Rahmen für 26 Ralph }essen: "Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR", in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96-110, 110. 27 Diese Zusammenschlüsse sind in ihrer Struktur und in ihrem ,Funktionieren' der ungleich prominenter besetzteren, in Berlin ansässigen Mittwochsgesellschaft vergleichbar. Vgl. Klaus Scholder: Die Mittwochsgesellschaft Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944, Berlin 1982.

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das bildungsbürgerliche Gespräch und das Agieren der in diesen Kreisen versammelten Bürger durch die auch von den wechselnden Regimen beeinflußten kulturellen Zeitströmungen bestimmt. Zusammenfassend läßt sich für die NS-Zeit eine inhaltliche Kontinuität der Kreise sowie eine Affinität des bürgerlich-nationalen Selbstverständnisses zum Ideologieangebot des Nationalsozialismus konstatieren, während sich die Funktion der bürgerlichen Zusammenschlüsse in der SBZ/DDR in Richtung auf intellektuelle Selbstbehauptung und Widersetzlichkeit änderte. Die rekonstruierten Biographien der zusammengeschlossenen Bürger weisen diese als Mitglieder der Funktionseliten, aber auch als Entscheidungs- bzw. Würdenträger in der lokalen Politik, der protestantischen Kirche, der Wirtschaft und der Universität aus. Die angestammten und meist über den Nationalsozialismus hinaus eingenommenen Positionen galt es, in der SBZ/DDR gegen den Veränderungswillen der neuen Akteure zu behaupten. Das Wirkungsfeld der Magdeburger ,Abendsprecher' war die Lokalpolitik und -Wirtschaft sowie die Leitung der Provinzkirche, der Spirituskreis agierte in Forschung, Lehre und Verwaltung der Universität. Beiden zu eigen war eine starke Bindung an die protestantische Kirche, was sich nicht zuletzt in der Mitgliedschaft von prominenten Kirchenoberen und zahlreichen Universitätstheologen zeigt. Das Agieren in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und die dabei erfolgten Auseinandersetzungen schlugen sich im geistigen Diskurs der Bildungsbürger nieder, genauso, wie die geistigen Grundlagen Hintergrund und Antrieb des Handeins nach außen waren. Die erhobenen Daten lassen es zudem zu, Brüche und Kontinuitäten in den Biographien der Sachsen-anhaltischen Bildungsbürger zu beschreiben, so daß Ablehnung und Loyalität auch hinsichtlich ihrer lebensgeschichtlichen Ursachen und Folgen beschrieben werden kann. Die für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR in Rechnung zu stellende Konsequenz des zu beobachtenden allmählichen Abschmelzens bzw. der Zerschlagung der bildungsbürgerlichen Kreise mittels Polizei und Staatssicherheit liegt weniger in der quantitativen Reduzierung der Sozialformation Bürgertum, als vielmehr in der Modifikation und dem Verlust der auch für die anderen bürgerlichen Gesellschaftsgruppen und weit darüber hinaus prägenden Orientierungsfunktion des Bildungswissens. Während der von der SED betriebenen ,Revolution von oben' ein "fester Stand" mangelte, sobald es um die bürgerliche Gesellschaft als Kultur- und Lebensform ging, so ließ sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung und das an die Marktprinzipien gebundene Wirtschaftsbürgertum am archimedischen Punkt des Privateigentums und dem damit verbundenen Status der Selbständigkeit aus den Angeln heben.28 Die keineswegs aus dem marxistischleninistischen ,Transformationsprogramm • direkt abzuleitende, sondern von einer Mesalliance aus Pragmatik und 28 Vgl. Ralph }essen: .,Vom Ordinarius zum sozialistischen Professor. Die Neukonstruktion des Hochschullehrerberufs in der SBZ/ DDR, 1945- 1969", in: Richard Bessel, Ralph Jessen: Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 76-107,78.

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Ideologie bestimmte sachsen-anhaltische Wirtschaftspolitik schwankte zwischen den Zielvorgaben der für die Akzeptanz des neuen Systems so entscheidenden Versorgung der Bevölkerung einerseits und aus der möglichst raschen Schaffung eines dominierenden sozialistischen Wirtschaftssektors andererseits. Den untersuchten bildungsbürgerlichen informellen und vorinstitutionellen Vergesellschaftungen steht auf seiten des Wirtschaftsbürgertums das von dieser Gruppe ausgebildete Kammerwesen, in diesem Fall die Industrie- und Handelskammern (IHK), gegenüber, welches in dem neu entstehenden Institutionengeflecht zunächst noch als berufsständisches Selbstverwaltungsorgan und Instrument der Interessenvertretung fungierte. Die Kammern von Industrie und Handel sind ein nahezu ideales Exempel für die den intermediären Institutionen zugeschriebene "organisatorische Umsetzung bestimmter Leitideen und Wertorientierungen" 29, die - so Lepsius - als zentrale Rahmenbedingung der DDRGesellschaft zu werten sind30: Die Geschichte der Kammer ist von Beginn an von ihrer Zwitterstellung zwischen Instanz der staatlichen Verwaltung und Selbstverwaltungsorgan der hier vertretenen Professionen gezeichnet. Auf der einen Seite fungierte sie als verlängerter Arm der Verwaltung, welcher dem realsozialistischen Staat, aber auch dessen Vorgängern zur Durchsetzung der jeweilig opportunen Wirtschaftsordnung diente, auf der anderen Seite blieb sie "fortwährendes Rückgrat der Vergesellschaftung" 31 des Wirtschaftsbürgertums (Tenfelde), welches über die Institution sowohl ihre eigenen politischen Interessen artikulierte und gesellschaftliche Präsenz demonstrierte als auch den eigenen ökonomischen Vorstellungen wie den Eigengesetzlichkeilen einer kapitalistischen Wirtschaft Geltung verschaffen wollte. Die Analyse des Kammerwesens in Weimarer Republik und Nationalsozialismus zeigt die Spezifika der in ihren Gremien und unter den ihnen angeschlossenen Unternehmern ausgebildeten Strategien der Interessendurchsetzung und deren Reaktionsweise auf die NSDiktatur wie die auf Betriebsebene zu nennende charakteristische "Flucht in den Betrieb"32 oder der auf den politischen Bereich zielende Verweis auf die zur Normalmoral hochstilisierten Miuelstandstugenden? 3 Der Nationalsozialismus 29 Rainer Weinert: "Intermediäre Institutionen oder Die Konstruktion des ,Einen'", in: Birgitta Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 237 -253, 241. 30 Vgl. Rainer M. Lepsius: "Die Institutionenordnung als Rahmenbedinung der Sozialgeschichte der DDR", in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 17-30, 18; ders.: ,.Sozialhistorische Probleme der Diktaturforschung (Kommentar)", in: Jürgen Kocka, Martin Sabrow (Hg.): Die DDR als Geschichte. Fragen- Hypothesen- Perspektiven, Berlin 1994, S. 97 -I 00, 98. 31 Klaus Tenfelde: "Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert", in: ders., Hans-Uirich Wehler (Hg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums. Vierzehn Beiträge, Göttingen 1994, S. 317353, 337. 32 Vgl. das Forschungsresümee von Henry A. Turner: "Unternehmen unter dem Hakenkreuz", in: Lothar Gall, Manfred Pohl (Hg.): Unternehmen im Nationalsozialismus, München 1997,5.17-23,18. 33 Vgl. Everhard Holtmann: Politik und Nichtpolitik. Lokale Erscheinungsformen politischer Kultur im frühen Nachkriegsdeutschland. Das Beispiel Unna und Kamen, Opladen 1989, S. 19 - 35.

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hatte während des Krieges die IHK zumindest formell abgeschafft und organisatorisch anderen Institutionen zugeordnet. Die de facto weiter bestehenden, nur umbenannten Dienststellen konnten ihren Personalstamm und ihren Kontakt zu den angeschlossenen Finnen in großen Teilen aufrecht erhalten. Die organisatorische Überformung der Kammern von seiten der Nationalsozialisten hatte somit nicht zur Durchdringung dieser institutionell gestützten Vergesellschaftung oder gar zur Ablösung der dort vertretenen Wirtschaftsauffassung geführt, sondern diese "nur in sich aufgesogen und durch ihre Politisierung verformt". 34 Nach 1945 boten sich auf Grund der mentalen und organisatorischen Kontinuitäten sowie der starken regionalen Aufgliederung der provinzsächsischen Kammern besondere Möglichkeiten für eine "eigensinnige" (Lüdtke) Interessenpolitik der IHK. Zunächst nutzten die lokalen bürgerlichen Eliten, zum Teil Hand in Hand mit den unteren Chargen der provinzsächsischen SED, die in den Kammern vereinigte Kompetenz und Erfahrung zur Reorganisation der regionalen Wirtschaft und hatten so erste Pflöcke zur Markierung ihrer Vorstellungen der weiteren Entwicklung gesteckt. Für den Wiederaufbau und die aus machtpolitisch-legitimatorischen so drängend notwendige Besserung der Versorgungslage der Bevölkerung war man auch von seilen der SED in den Monaten nach dem Kriegsende auf die IHK als eine der wenigen funktionierenden Wirtschaftsorgane angewiesen. Somit empfahl sich aus Sicht der Einheitssozialisten eine doppelte Strategie gegenüber den Selbständigen und der einzigen ihnen verbliebenen Institutionen: eine äußere Beibehaltung der Organisation unter gleichem Label einerseits, eine aktive Kaderpolitik und die institutionelle Einbindung des FDGB andererseits. Das Auswechseln der Kammerspitzen wurde rasch vollzogen, funktionierte aber als Element der Gleichschaltung in dem eigentümlich dezentralisierten Kammerwesen der Provinz Sachsen I Sachsen-Anhalts nur bedingt: Sowohl in den Bezirkskammern als auch in den unterhalb der IHK selbst angesiedelten Organisationen wie den Fachausschüssen und -abteilungen formierten sich Angehörige von Industrie und Handel und versuchten, ihren Interessen Geltung zu verschaffen. Die nur partiell gleichgeschalteten Kammern wurden so zum Brennpunkt wirtschaftspolitischer Zielkonflikte, den es erst auf längere Sicht durch neue Funktionssetzungen von innen und Kompetenzbeschneidungen von außen zu einem Transmissionsriemen der SED-(Wirtschafts-)Politik umzugestalten gelang. Den Funktionswandel der Kammern registrierten die ihr angeschlossenen Unternehmer sensibel: Die IHK als Instanz der Interessenvertretung wurde von seilen ihrer Mitglieder immer weniger nachgefragt, sondern statt dessen wegen ihres Funktionsverlusts scharfer Kritik unterzogen. Dem "Kümmerdasein" der Selbständigen im ökonomischen Bereich entsprach die fortschreitende innere Entdifferen34 Zur Formulierung vgl. Rudolf Schlögl, Michael Schwartz. Hans-Ulrich Thamer: .,Konsens, Konflikt und Repression: Zur Sozialgeschichte des politischen Verhaltens in der NSZeit", in: Rudolf Schlögl, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Zwischen Loyalität und Resistenz. Soziale Konflikte Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Widerstand in Westfalen, Münster 1996, S. II f.

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zierung und der partielle Funktionsverlust der Institution: Nicht mehr die ökonomischen Eigengesetzlichkeilen oder die Interessen von Industrie und Handel, sondern der seinerseits immer weiter zentralisierte Wille der Partei waren Agens der KarnmerarbeiL Nur in wenigen Sektoren und auch dort nur in sehr beschränktem Sinne konnte die gewandelte Kammer noch als "letzter Hort der Privatwirtschaft"35 gelten. IV. Resümee Zu resümieren ist, daß eine wie auch immer geartete Integration der bürgerlichen Gesellschaftsschichten in den Staat und das Politsystem der DDR weder auf der Untersuchungsebene Stadt noch in den auf dieser Ebene nach 1945 neu ins Leben gerufenen Vergesellschaftungsformen und Organisationen festzustellen ist: Weder Nationale Front, Kulturbund, die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft noch die gewandelte IHK oder die im Block neutralisierten bürgerlichen Parteien vermochten diese Schicht (dauerhaft) anzusprechen und im Sinne des Aufbaus eines "neuen Deutschlands" zu motivieren. Man wanderte ab oder arrangierte sich nach außen hin. Die Weitergabe ökonomischen oder kulturellen Kapitals in Form des Vererbens des Betriebs oder der Tradierung von Fach- oder Bildungswissen fand nicht mehr statt. Im Bereich des Wirtschaftsbürgertums brach die wesentliche Form der Kapitalweitergabe mit dem Übergang des Betriebs in staatliches Eigentum ab. Im Bereich des Bildungsbürgertum war die Aktualisierung und Tradierung des Vergesellschaftungskonstitutivums Bildungswissen streng auf die private Sphäre beschränkt. Das Herrschaftssystem der SBZ I DDR und dessen politische Praxis waren auf der Mikro- und Mesoebene davon geprägt, daß zwei völlig unterschiedliche Gesellschaftskonzepte aufeinander prallten und eine vermeintliche, von seiten der Hegemonialpartei intendierte Bündnispolitik an einem politischen, aber auch semiotischen Dauerkonflikt um Macht und Deutungsmacht zerbrach. Beim Aufbau der SED-Diktatur ging das Gesetz des Handeins dabei keineswegs allein von der Kaderpartei und den von ihr dominierten staatlichen Behörden und Massenorganisationen aus, sondern der Aufbau des Herrschaftssystems hatte zunächst durchaus auch anschlußfähig zu sein an bestehende bürgerliche, also weit über das sozialgeschichtlich faßbare Segment des Bürgertums hinaus wirkmächtige Kommunikations- und Politikformen. Allerdings erlebten die untersuchten Fallbeispiele bürgerlicher Vergesellschaftung spätestens in den frühen 1950er Jahren einen klaren Funktionswandel, nämlich vom Substrat der Selbsterziehung und -bildung bzw. halbautonomen Organ der Interessenartikulation zum Ort der intellektuellen Selbstbehauptung und des intellektuellen Widerstands bzw. zum staatlich gesteuerten und von der Partei dominierten Organ der Lenkung des privaten Wirtschaftssektors. JS Vgl. zur Formulierung /rmtraud Dalchow: Die Industrie- und Handelskammer HalleDessau. 150 Jahre Kammergeschichte in Mitteldeutschland 1844- 1994, Halle 1995, S. 289.

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Diese Entwicklung stand dem SED-Anspruch der Politisierung und der Heranziehung eines ,neuen Menschen' entgegen und förderte tendenziell den Rückzug ins Private einerseits, die Abwanderung in die Westzonen andererseits. Die Führung der DDR blockierte entscheidende Bevölkerungsgruppen, bei denen sie von Beginn an weder Loyalität noch Legitimationsglaube erreichen konnte. Die personelle Gleichschaltung der bürgerlichen Institutionen, die Veränderung der Sozialstruktur der (städtischen) Gesellschaft, das Zurückdrängen selbständiger Erwerbspersonen und der damit einhergehende Verlust von Berufs- und Leitbildern sowie die allmählich greifende ideologische Ausrichtung der staatlichen Sozialisationsinstanzen wie Schule und Hochschule waren Symptome einer umfassenden Entdifferenzierung, in deren Gefolge nicht nur Systemautonomie und öffentlich gemachter Interessenpluralismus angegriffen und beseitigt, sondern auch die traditionelle soziale Hierarchie und die gesellschaftlichen Wertmuster verändert wurden. Einzig im kulturellen Bereich blieben bürgerlich geprägte Umgangsformen und Verhaltensweisen prägende Leitbilder36 , ohne aber ihre vormals innegehabte, Exklusivität verbürgende Distinktionsfunktion beizubehalten. Theoretisch gewendet bedeutet dies, daß alle analytisch differenzierten ,Kapitalmärkte' von Entbürgerlichungs- und Entdifferenzierungsphänomenen betroffen waren. Diese wurden aber nicht dem realsozialistischen Ideal angepaßt, sondern es entstand eine Gemengelage alter und neuer Elemente, aus der im Laufe der Geschichte der DDR neue Milieus und Vergesellschaftungen entstanden. 37 Mittels Rückgriff auf die Gesellschafts- und Konflikttheorie Bourdieus läßt sich der Spagat zwischen einer totalitarismustheoretisch inspirierten und der nicht theoriegestützten alltagsgeschichtlichen Analyse leisten. Indem Makro- und Mikroebene in ihren Wechselbeziehungen untersucht werden, kommt die "Gesellschaft im Staatssozialismus" (Jessen) in den Blick. Erst in dieser umfassenden Perspektive lassen sich beispielsweise der Prozeß der Entbürgerlichung, aber auch andere Facetten des sozialen Wandels dingfest machen, um somit Etablierung, Stabilität, Erosion der SED-Diktatur und nicht zuletzt auch die weiterhin zu beobachtenden Schwierigkeiten der so ungleich gewordenen deutschdeutschen Geschwister zu erklären.

36 Vgl. dazu die Untersuchung von ,sozialistischen' Benimm-Ratgebern von Anna-Sabine Ernst: ,,Erbe und Hypothek. (Alltags-)Kulturelle Leitbilder in der SBZ/ DDR 1945- 1961", in: Kultur und Kulturträger in der DDR. Analysen, hg. von der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Berlin 1993, S. 9 ff. 37 Michael Vester. Michael Hofmann, lrene Zierke (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1994.

Betrachtungen zum Frauenalltag in der DDR Untersuchungen an zwei sächsischen Frauenbetrieben während der Donecker-Ära Von Francesca Weil I. Staatliche Frauenpolitik und soziologische Forschung in der DDR

Die SED-Führung gab stets vor, daß sie die Frauenpolitik als unverzichtbaren Bestandteil ihrer gesamten Gesellschaftsstrategie betrachtete. Ihr wäre es dabei nicht nur darum gegangen, die Gleichberechtigung der Frauen in der DDR gesetzlich zu verankern, sondern diese vor allem im Leben, im Alltag durchzusetzen. Auf der Grundlage des mit dem Vlll. Parteitag der SED 1971 eingeschlagenen Kurses, die Hauptaufgabe mittels Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu lösen, sollten auch schrittweise jene Probleme bewältigt werden, von denen es abhing, daß die Frauen ihre gleichen Rechte voll in Anspruch nehmen könnten. Aber selbst lnge Lange, Kandidatin des Politbüros und ZK-Sekretärin für das Ressort .,Frauenfragen" der SED, mußte 1980 rückblickend zugeben, daß die seit 1972 durchgesetzen sozialpolitischen Maßnahmen (auch) getroffen wurden, um die Ende der 60er Jahre zu verzeichnende rückläufige Geburtenentwicklung und zunehmende Teilzeitarbeit von Frauen abzufangen 1• Der frauenpolitische Kurs wurde demnach vor allem von demographischen und arbeitskräftepolitischen Notwendigkeiten diktiert, die Ideolgie zur Erklärung angepaßt. Und das nicht nur zur Erläuterung, sondern auch mit politischem (Nach-)Druck: ,,Der andauernde Verzicht auf Kinder, auch die gewollte Beschränkung auf ein Kind ist moralischin der Regel nicht gerechtfertigt und allzuoft Ausdruck einer kleinbürgerlichen Haltung."2 I Vgl. Lange, lnge, Die aktive Teilnahme der Frauen an der allseitigen Stärkung des Sozialismus. Aus der Rede auf einem Lehrgang mit leitenden Partei- und Wirtschaftsfunktionären am Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED am 16. I. 1980, in: Lange, /nge, Die Frauen - aktive Mitgestalterinnen des Sozialismus. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin (Ost) 1987, S. 268-278, hier S. 273. 2 A. Grandke, S. 316, zit. in: Helwig, Gisela/Nickel, Hildegard Maria (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945-1992, Bonn 1993. S. 16. Gisela Helwig zählt in der Einleitung zur o.g. Literatur die wesentlichen sozialpolitischen Maßnahmen für berufstätige Frauen und Mütter in der DDR der 70er und 80er Jahre auf. Vgl. ebd., S. 15- 18. Tabellarisch aufgelistet und verglichen mit den in der BRD und im wiedervereinigten Deutschland getroffenen Maßnahmen zu finden in: Trappe, Heike, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995, S. 40 - 46.

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1980 konnte die SED-Führung auf Erfolge, die (angeblich) auf ihrer Strategie beruhten, zurückblicken: der Anteil der Frauen, die berufstätig waren, war gestiegen3 und die Geburtenzahl wies gleichzeitig eine beachtliche Höhe auf. Der eingeschlagene (frauen-)politische Kurs hatte sich damit für die Parteispitze als richtig erwiesen und wurde in den 80er Jahren fortgesetzt. Dabei stand aber nicht nur die Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen auch für berufstätige Mütter auf tönernen Füßen und entbehrte jeglicher wirtschaftlicher Grundlage. Auch fast alle Maßnahmen orientierten lediglich darauf, daß Frauen und Mütter - nicht Eltern berufliche und familiäre Pflichten besser miteinander vereinbaren konnten bzw. sollten. Das insistierte - unabhängig davon, ob bewußt oder unbewußt - auf die Beibehaltung einer tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Gesellschaft und Familie und konservierte Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen bzw. erneuerte sie. Am Ende der 80er Jahre waren 78,1% aller Frauen im erwerbfahigen Alter in der DDR berufstätig. Davon besaßen 87% eine abgeschlossene Berufsausbildung4. Neben diesen die Unabhängigkeit, das Selbstbewußtsein und damit auch die (größtenteils unbewußte) Emanzipation von DDR-Frauen fördernden Tendenzen zeigten sich nach wie vor Benachteiligungen von Frauen im Berufsleben. So beschränkte sich die Wahl der Berufe häufig noch auf die traditionellen Frauenberufe. Betriebe und Kombinate hatten über die Jahre hinweg versucht, ..... den Anteil weiblicher Berufseinsteiger in zukunftsträchtige technische Berufe zu reduzieren und statt dessen mehr Jungen einzustellen."5 Hinzu kam, daß "Frauen überdurchschnittlich in solchen Wirtschaftszweigen und Berufsgruppen beschäftigt [waren - F. W.], die unterdurchschnittlich an der Einkommensentwicklung partizipierten." 6 Berücksichtigt werden sollte allerdings auch, daß viele Frauen in der DDR einer Arbeit nachgehen mußten, um einen dringend benötigten Anteil am Familieneinkommen zu sichern. Eine breite öffentliche Diskussion über die zentralistische, paternalistische, erwerbszentrierte und pronatalistische Frauen- und Familienpolitik der SED hatte in der DDR zwar nicht stattgefunden. Aber in Gruppen der nicht-staatlichen Frauenbewegung7, unter Akademikerinnen8 , die sich mit Frauenforschung beschäftigten, 3 .,Der Rückblick auf die Entwicklung des Zusammenwirkens von Frauenerwerbstätigkeit und Familienpolitik hat gezeigt, daß die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit der Schaffung entsprechender Voraussetzungen für die Verbindung von Familien- und Berufsarbeit zeitlich vorausging. Diese ungleichzeitige Entwicklung von Arbeitskräfterekrutierung und sozialpolitischer Unterstützung ist ein deutlicher Beleg für den korrektiven Charakter der auf Frauen bezogenen Sozialpolitik." Ebd., S. 119 f. 4 Vgl. Nickel, Hildegard Maria, ,,Mitgestalterinnen des Sozialismus"- Frauenarbeit in der DDR, in: G. Helwig I H. M. Nickel, Frauen in Deutschland 1945- 1992, S. 233-256, hier S. 237. 5 Ebd., S. 241. 6 Ebd., S. 244.

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und nicht zuletzt in soziologischen Arbeiten wurde darüber durchaus konstruktivkritisch diskutiert. Letztere konnten sogar als Schlußfolgerung von empirischen Untersuchungen zur "Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Aufgaben bei jungen Werktätigen" ziehen, daß dieses so brisante und viele Menschen betreffende Thema öffentlich und häufiger besprochen werden sollte. "Für viele Frauen und Männer wäre das sehr wichtig, [ ... ], Gleichgesinnte außerhalb des persönlichen Verwandten- und Bekanntenkreis zu treffen, in einen Erfahrungsaustausch zu kommen usw."9 Die Partei- und Staatsführung der DDR vertrat in den 70er, aber vor allem in den 80er Jahren die Auffassung, daß das Vereinbarkeilsproblem real (noch) bestehe und sukzessive gelöst werden solle 10. Der o.g. quantitativ repräsentative Forschungsbericht von 1987 bestätigte diese Tatsache einmal mehr sowohl in Hinblick auf den politischen Anspruch als auch anband der aufgeführten Erkenntnisse. Er beinhaltete folgende Hauptergebnisse: 1. Frauen in der DDR, zunehmend auch Männer, haben hohe berufliche Verpflichtungen mit einem größeren Spektrum familiär-häuslicher Aufgaben zu vereinbaren. 2. Das zeitliche Nebeneinander beruflicher Entwicklung und familiärer Veränderungen hat noch niemals vor einer so großen Masse von Werktätigen gestanden. Das war daher gekommen, daß Berufstätigkeit von Frauen quantitativ und qualitativ angestiegen war, die Gesellschaft stellte immer höhere Anforderungen an Arbeitsleistungen, Kindererziehung und sozialistische Lebensweise11. Gleichzeitig waren aber auch die Ansprüche der Werktätigen, vor allem der Frauen, an die Gestaltung ihrer Lebensweise gestiegen. 3. Untersuchungen zu Lebenszielen besagten, daß Frauen in diesem Kontext familiären Zielen den höchsten, beruflichen den darauffolgenden Stellenwert beigemessen haben. Männer beiden etwa den gleichen. 4. Für sehr berufsengagierte Frauen hatten zwar berufliche Arbeit und hohe Leistungen mehr Bedeutung als für wenig berufsengagierte. Die familiären Wertorientierungen waren aber etwa gleich hoch. 7 Über die nichtstaatliche Frauenbewegung und ihre Gruppierungen: Kenawi, Samirah (Hrsg.), Frauengruppen in der DDR. Eine Dokumentation, Berlin 1995. 8 Vgl. Helwig, Gisela/Nickel, Hildegard Maria (Anm. 2), S. 17. 9 Bertram, Barbara, Probleme der Vereinbarkeil beruflicher und familiärer Aufgaben bei jungen Werktätigen. Forschungsbericht zur Studie: Leistung und Lebensweise junger Frauen in der DDR, F 87/11, Leipzig 1987, BI. 14. 10 Das Vereinbarkeilsproblem wurde in der DDR der 70er /80er Jahre- auch offiziell bzw. staatlicherseits- nicht als gelöst betrachtet, wie z. B. von H. Trappe (Anm. 2, S. 212) behauptet. Das widerlegen Zeitdokumente wie u. a. die Reden und Aufsätze von lnge Lange und zahlreiche Forschungsarbeiten einschließlich deren Ergebnisse (z. B. hier B. Bertram). n Definition der offiziellen, politisch-ideologischen Version von "sozialistischer Lebensweise"- Vgl. Schütz, Gertrud u. a. (Hrsg.), Kleines politisches Wörterbuch, 6. Auflage, Berlin 1986, S. 562.

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5. Ergebnisse einer Intervallstudie hatten ergeben, daß es etwa 90% der Frauen gelingen würde, Beruf und Familie zu vereinbaren. Mit steigender Kinderzahl und höherer beruflicher Qualifikation, verbunden mit starken Anforderungen, glückte es allerdings nicht mehr völlig zufriedenstellend. 80% aller Akademikerinnen machten Einschränkungen. Die Frauenforschung zeigte, daß es gerade beruflich stark belastete jüngere weibliche Akademiker waren, die in ständigen Gewissenskonflikten lebten, durch den Beruf ihre Kinder zu vernachlässigen. Rückblickend gaben viele ältere Frauen zu, wenn sie noch einmal etwas in ihrem Leben anders machen könnten, hätten sie zugunsten des Berufes auf mehrere Kinder verzichten. 6. Je besser Familie und Beruf in Einklang gebracht wurden, desto höher war die Lebenszufriedenheit der Frauen. 7. Fast alle Frauen und Männer wünschten sich mehr Zeit für häuslich-familiäre Aufgaben oder Freizeit. Junge Frauen vor allem, um sich um ihre Kinder kümmern zu können, junge Männer, um Hobbys zu pflegen. 8. Etwa ein Drittel der Frauen und Männer hatte schon einmal vor einer Situation gestanden, in der sich Beruf und Kindererziehung I-betreuung nicht mehr vereinbaren ließen. 90% (etwas weniger Frauen als Männer) betonten, daß die Lösung zwar von beiden Partner gefunden worden ist. Meist übernahm aber die Frau Teilzeitarbeit! Auch andere Lösungen gingen häufig auf Kosten des Berufsengagements der Frau: längere Arbeitsunterbrechungen, Verzicht auf Leitungsfunktionen oder Qualifizierung, Fernbleiben vom Arbeitsplatz bei Krankheit des Kindes. 9. Teilzeitarbeit wünschten sich eigentlich viele Frauen aufgrund der hohen täglichen Belastung durch lange Verkehrswege und Einkaufszeiten, Mängel im System der Dienst- und Handwerksleistungen, gehäufte Ausfaiie von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen. Nicht wenigen war eine ungefci.hrliche Kindeserkrankung willkommen gewesen, um wieder einmal die Wohnung in Ordnung zu bringen, Zeit für die Kinder, für Näh- und Handarbeiten oder zum Ausschlafen zu haben usw. 10. Frauen an Arbeitsplätzen, wo jeder Ausfall die kontinuierliche Leistungshöhe oder Entwicklung störte, wie Schichtarbeiterinnen. Meisterinnen, Akademikerinnen wünschten sich im Hinblick auf die Vereinbarung eher, daß sich ihre Partner mehr einschalteten, und versuchten dies auch zu praktizieren. II. Im Gegensatz zu Ergebnissen z. B. aus einer Studie von 1984, in der die befragten Frauen solange verkürzt arbeiten woiiten, wie die Kinder klein waren, äußerte hier ein Viertel der jungen Frauen, daß sie gerne über einen längeren Zeitraum ihres Lebens Hausfrau sein wollten. Das betraf vor allem überbelastete Frauen oder die mit uninteressanter Arbeit bzw. ohne Qualifikation, kaum Akademikerinnen.

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12. Nicht wenige der Befragten äußerten sich in Hinblick auf das "Babyjahr", daß bei zwei Kindemjeder Elternteil ein Jahr in Anspruch nehmen sollte. Hier war vieles im Umdenken begriffen! 13. Trotzdem wurde festgestellt, daß sich Leitbilder wenig verändert haben: Frauen sollten sich zwar genauso im Beruf engagieren wie Männer, aber immer noch die Hauptverantwortung für den Haushalt tragen, während Männer das "Oberhaupt" und den "Ernährer" der Familie darstellten. 12 Das Interessante an diesen Forschungsergebnissen aus dem Jahre 1987 ist, daß sie deutlich hervorheben, wie sehr zwar die Bedeutung einer beruflichen Tätigkeit im Leben von Frauen in der DDR in den 70er und 80er Jahren zugenommen hatte. Dennoch hatte sich am partnerschaftliehen Rollenverständnis wenig verändert. Außerdem nahm ähnlich wie Ende der 60er I Anfang der 70er Jahre die ,,Neigung" der Frauen zu Teilzeitarbeit und einer kleineren Familie wieder zu. Das widersprach nicht nur den Vorstellungen von Partei und Staat und ihrem o. g. Kurs in der Honecker-Ära, sondern erklärte die dem Staat teuer zustehen kommende Sozialpolitik in ihrer demographischen und arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung für weitgehend nichtig. Unschwer zu erkennen ist ebenfalls, daß nicht nur die einseitige Anpassung durch die Frauen an die beruflichen, vor allem aber auch familiären Gegebenheiten, sondern auch die Mehrfachbelastung der Frauen eine "Verhärtung der Geschlechtsspezifik von Lebensläufen" 13 in der DDR förderte. Frauen hatten letzendlich nicht die gleichen Chancen wie ihre Partner oder männlichen Kollegen ftir ihre berufliche Entwicklung. Entscheidend jedoch ist auch, daß Frauen aufgrund ihrer Berufstätigkeit Lebensstil und Mentalität in der DDR wesentlich mitgeprägt haben 14. Das traf auch und vor allem für die Arbeitswelt zu, um so mehr in sog. Frauenbetrieben. II. Betriebliche Frauenpolitik

Das seit Beginn der 70er Jahre schrittweise durchgesetzte Vereinbarungskonzept baute einerseits darauf auf, daß Betriebe ihrer Verantwortung in diesem Bereich mittels betrieblicher Sozialpolitik gerecht wurden. Andererseits waren es gerade die Arbeitsstätten berufstätiger Mütter, die mit den Auswirkungen der staatlichen Sozialpolitik zu kämpfen hatten 15 . Vgl. B. Bertram (Anm. 9), BI. 6-15. Sorensen, Annemette, Unterschiede im Lebenslauf von Frauen und Männern, in: K. U. Mayer (Hrsg.). Lebensverläufe und sozialer Wandel, Sonderheft 31 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1990, S. 304- 321, hier S. 310. 14 Vgl. Merke/, lna. "Leitbilder und Lebensweisen von Frauen in der DDR", in: Kaelble, Harrmut I Kocka, Jürgen/Zwahr, Hartmut (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994. S. 359-382. hier S. 359. IS Vgl. Trappe, Heike (Anm. 2), S. 76. 12 13

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Frauenförderung auf betrieblicher Ebene sollte Maßnahmen zur allseitigen gleichberechtigten Entwicklung der Frauen zum Inhalt haben. Im § 3 des Arbeitgesetzbuches (AGB) der DDR und in seinem 12. Kapitel wurden die besonderen Rechte der werktätigen Frau und Mutter festgeschrieben. Dabei ging es im einzelnen wieder darum, die Möglichkeiten für Frauen, Beruf und Familie zu vereinbaren, zu verbessern bzw. zu erweitern, ihre Aus- und Weiterbildung zu unterstützen und der werktätigen Frau im Interesse der Mutterschaft besonderen Schutz zu gewähren 16• Dadurch wurden die Betriebe verpflichtet, werktätigen Frauen mit Kindem durch die planmäßige Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen immer günstigere Voraussetzungen zu schaffen, ihre berufliche Tätigkeit und Entwicklung mit ihren Aufgaben als Mutter und in der Familie zu vereinbaren. Diese gesetzliche Verpflichtung war bei allen entsprechenden Entscheidungen und Maßnahmen zu beachten. Das galt für die Ausarbeitung des Betriebskollektivvertrages (BKV) und dabei speziell des Frauenförderungsplanes genauso wie für die Gestaltung der Arbeitszeit oder die Schaffung sozialer Einrichtungen. In diesem Zusammenhang kam der Aus- und Weiterbildung der Frau eine besondere Bedeutung zu, da sie als wichtige Voraussetzung angesehen wurde, um die Gleichberechtigung der Frauen zu verwirklichen und den " ... Anteil der Frauen am Gesamtergebnis der gesellschaftlichen Arbeit zu erhöhen." 17

111. Die Frauenkommissionen Frauenkommissionen sollten seit 1965 von den weiblichen Mitgliedern des FDGB in Grundorganisationen mit mehr als 30 Frauen in einer Frauenvollversammlung in offener Abstimmung gewählte Organe der BGL sein, deren Vorsitzende Mitglied derselben waren. Die Frauenkommissionen sollten sich aktiv an der Verwirklichung des Frauenförderungsplanes beteiligen, die schöpferischen Initiativen der Frauen im sozialistischen Wettbewerb unterstützen und Einfluß nehmen auf die Lösung der Probleme bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung insbesondere berufstätiger Mütter, auf den planmäßigen Einsatz weiblicher Fach- und Hochschulkader entsprechend ihrer Ausbildung. Sie hatten das Recht, Vorschläge zur inhaltlichen Gestaltung des Betriebskollektivvertrages, speziell des Frauenförderungsplanes zu unterbreiten, die Einhaltung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen zu kontrollieren sowie darüber Rechenschaft vom staatlichen Leiter zu fordem 18 • In beiden untersuchten Betrieben existierten Frauenkommissionen. 55,6% der Befragten hielten die Frauenkommission für einen wesentlichen Bestandteil be16 Vgl. AGB, § 3, §§ 240-250, in: Kobert, Reinhard, Arbeitsgesetzbuch und andere ausgewählte Rechtsvorschriften. Berlin (0) 1983, S. 12, S. 64 f. 17 Kunz, Frithjof u. a., Lexikon des Arbeitsrechts der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1972, S. 217. 18 V gl. Schütz. Gertrud (Anm. 11 ), S. 266.

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trieblieber Frauenpolitik 19• Fragte man jedoch danach, wo und wie betriebliche Frauenpolitik für die Kolleginnen spürbar war, so gaben mit 37,5% die meisten weiblichen Beschäftigten an, daß sie diese durch die Frauenkommissionen selten erlebten. Dagegen war Frauenpolitik im Betrieb häufig zu gesellschaftlichen Anlässen (meist in Verbindung mit dem Frauentag und mit Auszeichnungen) spürbar. Das sagten 41,7% der weiblichen Befragten20. Daß man die Frauenkommission und deren Arbeit wahrnahm, traf vor allem für das Leipziger Arzneimittelwerk zu, wo sich sowohl in den 70er als auch in den 80er Jahren einzelne Frauen in der Kommission sehr stark engagierten. Bezeichnenderweise nannte sich die Frauenvertretung des LAW noch in den 70er Jahren Frauenausschuß, wurde aber von der BGL kontrolliert. Das geht aus den Arbeitsplänen des Frauenausschusses hervor, die immer damit abschlossen, daß die BGL ihn bestätigt hätte21 . Unter Leitung einiger engagierter Kolleginnen knüpfte der Frauenausschuß des LAW an die bemerkenswerte Tätigkeit von Frauenausschüssen der 50er I 60er Jahre an22 und leistete eigenständig vielfältige Arbeit. Zweimal jährlich wurden Frauenforen u. a. zu sozialpolitischen oder familienrechtlichen Themen abgehalten, wie z. B. 1972 zur Information von betroffenen Frauen über neue sozialpolitische Regelungen, wenngleich auch der anwesende Betriebsparteisekretär in Begleitung des Betriebsdirektors und eines Vertreters der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-NO die Gelegenheit nutzte, ebenfalls andere politische Themen anzusprechen. 23 Der sich einmal monatlich treffende Frauenausschuß organisierte außerdem Vorträge zum Neuererwesen oder zur medizinischen Beratung24 , sorgte sich sowohl um den Zustand der Frauenruheräume und der Sanitäranlagen in den einzelnen Werken als auch um Dienstleistungen vor Ort Vgl. Fragebogenauswertung, Tab. 100, S. 4. Vgl. Fragebogenauswertung, Tab 101.1-101.4, S. 2-3. 21 Vgl. Arbeitsplan des Frauenausschusses des LAW für 1972. Schreiben vom 16. 3. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. 2. 22 Die seit 1952 existierenden Frauenausschüsse, die eigenständige Vertretungsorgane von Frauen in Betrieben darstellten, wurden 1965 in Kommissionen der BGL, also in eine betriebliche Organisationseinheit des FDGB umgewandelt. Mit der Einordnung in diese Hierarchie war die "außerreguläre Delegation von Kompetenz und Autorität" an Frauen beendet. Diese Ausschüsse waren nicht nur unter Kritik geraten, weil es Kompetenzstreitigkeiten mit der BGL gab, sondern weil die Frauen dort weitgehend unabhängig, unbürokratisch und parteilich nicht gebunden arbeiteten. Seit 1965 war die betriebliche Frauenarbeit in den Kommissionen somit vonseilen der Gewerkschaft und der SED einfacher beherrschbar und stärker kontrollierbar. Hinzu kam, daß die Frauenvertretungen seither weniger Verhandlungsmacht hatten. Vgl. Hampele, Anne, "Arbeite mit, plane mit, regiere mit" - Zur politischen Partizipation von Frauen in der DDR, in: G. Helwig!H. M. Nickel, (Anm. 2), S. 281 - 320, hier s. 292ff. 23 Vgl. Protokoll über das am 13. 6. 1972 durchgeführte Frauenforum. Niederschrift vom 28. 6. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I. 24 Vgl. Arbeitsplan des Frauenausschusses des LAW für 1972. Schreiben vom 16. 3. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I. 19

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für weibliche Beschäftigte25 . Er organisierte ebenfalls die Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag oder Veranstaltungen anderer Art wie die DDRweit üblichen Verkaufsmodenschauen 26• Was Dienstleistungen anging, so wurde in den 70er Jahren vor allem der "Laufmaschendienst" fortgeführt und erweitert27 . Dieser sammelte zu reparierende Strümpfe und Strumpfhosen von Kolleginnen, brachte sie zur Reparatur und holte sie wieder ab. Von männlichen Kollegen belächelt oder im Nachhinein als "primitiv" bewertet28 , hatte das für die Frauen in der damaligen Zeit schon eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, wenn überhaupt eine und noch dazu preiswerte Möglichkeit der Reparatur der für DDR-Verhältnisse teuren Wasche gefunden wurde. Die Frauen ersparten sich letztendlich Geld, Zeit und Ärger. In den 80er Jahren wurde diese Art der Betreuung für Frauen fortgesetzt, nur daß es in diesem Zeitraum Friseur- und Kosmetikleistungen waren, die die Frauen - auch während der Arbeitszeit - wahrnehmen konnten. Das fand großen Anklang unter den Frauen, die Termine waren schon im Voraus ständig ausgebucht29 . Um den Frauen praktische Aufgaben zu erleichtern, wurde außerdem der Verkauf von Dingen des täglichen Bedarfs, die zur Mangelware in den Geschäften zählten, häufig zu Betriebspreisen im Betrieb organisiert. 30 Diese Angebote nahmen die Frauen gerne und häufig an. 31 In den 80er Jahren war es die neue BGL-Vorsitzende selbst, die sich im Interesse der Frauen dafür einsetzte, z. B. Südfrüchte im Betrieb zu verkaufen, und nutzte dafür eigene persönliche "Beziehungen" zur Großmarktkaufhalle Leipzig.32 Letztendlich hing es auch immer wieder vom Entscheidungswillen, dem Verantwortungsbewußtsein und der Handlungsbereitschaft einzelner ab. So bemühte sich neben dem Frauenausschuß und der BGL-Vorsitzenden auch der Leiter der Arbeiterversorgung des LAW im Rahmen seiner Möglichkeiten um soziale Belange der Beschäftigten, wie die Pausenversorgung und die Instandsetzung und -haltung der 23

Vgl. ebd., BI. 2.

Der hierfür geschlossene Vertrag birgt auch ein weiteres typisches DDR-Merkmal. Wie der Betriebsdirekor des VEB Goldring Markkleeberg für die gewaltigen Betriebsfeste in den großen Hotels der Leipzigs mußte auch der Frauenausschuß des VEB LAW Veranstaltungen langfristig planen und Verträge frühzeitig, wie in diesem Fall ein Jahr im voraus, abschließen. Vgl. Vereinbarung über eine Modenschau zwischen dem VEB LAW und dem MannequinKollektiv Bienert aus Berlin über eine Verkausmodenschau im Werk III am 19. 10. 1972. Schreiben vom 21. 10. 1971, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I. 27 Vgl. Bericht über die Arbeit mit den Frauen. Schreiben vom 25. 5. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. 2. 28 Vgl. Interview D, Kollege D., S. 22. 26

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Vgl.lnterview C, Kollege G., S. 34/Vgl.lnterview H, Kollegin Z., S. 17. Vgl.lnterview H, Kollegin Z., S. 17. Vgl. Interview B, Kollege H., S. 22. Vgl. ebenda. Vgl.lnterview R, Kollegin W., S. 19.

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Frauenruheräume. Er kritisierte nicht nur die Zustände, sondern unterbreitete ebenfalls konstruktive Vorschläge zu deren Veränderung und setzte sie größtenteils in Eigenverantwortung und -regie um33 . Im VEB Goldring bereitete die Frauenkommission ausschließlich die Frauentagsfeier vor. Die Vorbereitungen dominierte jedoch der Betriebsdirektor, welcher sich mit der Frauenkommission (nur) in Vorbereitung des Frauentages zu detaillierten Absprachen traf34 . Deshalb haben die weiblichen Beschäftigten dieses Betriebes die Frauentagsfeier und ihre Ausstattung eher dem Betriebsdirektor statt der Frauenvertretung als Verdienst zugeschrieben. Denn er war es, der für die Frauen Präsente und Blumen organisierte, wobei ihm seine "Beziehungen" behilflich waren. Die mangelhafte Versorgungslage nutzend erfüllte der Betriebsleiter seinen Anteil am "Abkommen unter der Hand". Er war in der Lage, die ausgefallensten Geschenke, die man jahrelang nicht mehr in den hiesigen Geschäften gesehen hatte, und jedes Jahr frische Blumen für die weiblichen Beschäftigten zum Frauentag auf den Arbeitsplatz zu "zaubern". 35 Wahrend es für die im VEB Goldring Markkleeberg beschäftigten Frauen vor allem die "extravaganten" Geschenke waren, an die man sich im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten anläßlich des Frauentages gerne zurückerinnerte, waren es für einige weibliche Betriebsangehörige des LAW hauptsächlich die individuellen, von den männlichen Kollegen ausgestatteten Feiern im kleinen Brigade-Rahmen, welche die Frauen für einen Tag genossen. Manche Frau wünscht sich diese ganz persönliche Anerkennung für einen Tag auch heute wieder zurück. 36 Wie in anderen Betrieben auch hing der Erfolg der Frauenvertretungen im VEB Goldring, aber um so mehr im von wirtschaftlich immer weniger lösbaren Problemen behafteten VEB LAW vom Engagement und der Konfliktbereitschaft einzelner dort arbeitender Frauen ab. Hinzu kam aber, daß der Frauenausschuß des LAW der Stadtbezirksleitung der SED rechenschaftpflichtig war, insbesondere wenn es um die Umsetzung der 33 Vgl. Hausmitteilung an den Betriebsdirektor. Maßnahmeplan der Arbeiterversorgung. Schreiben vom 9. 7. 1975, StAL, VEB LAW, Akte 339, BI. 1-2. 34 V gl. Niederschrift über eine Beratung mit dem Frauenausschuß am 24. I. 1974 zur Vorbereitung des "Internationalen Frauentages 1974", Schreiben vom 24. I. 1974, BA VEB Goldring Markkleeberg, Akte 1974, BI. 1-3. 35 Jährlich erneuerte der BD die vertragliche Blumenbestellung. Detailliert aufgeschlüsselt bestellte er im November die benötigten Blumen filr das nächste Jahr. Vgl. Schreiben des BD an die Zwischenbetriebliche Einrichtung "Leipziger Blumen". Blumenbestellung für das Jahr 1986. Bestellung von 119 Blumensträußen, 159 Topfpflanzen und I Blumenschale zu genau bestimmten Terminen. Schreiben vom 13. II. 1985, BA VEB Goldring, Akte 1985, BI. 1-2. Er "organisierte" z. B. Lauschaer Glas oder Colditzer Porzellan, was zu den Raritäten der heimischen Produktion in der DDR zählte, für seine weiblichen Beschäftigten. Vgl. Schreiben des BD an den Direktor des VEB Porzellan-Kombinat Colditz. Porzellan-Bestellung. Schreiben vom 29. 7. 1980, BA VEB Goldring, Akte 1980, BI. I. 36 Vgl. Interview M, Kollegin F., S. 3.

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sozialpolitischen Maßnahmen ging37 . Wie andernorts auch wurde als Ursache für betriebliche, Frauen betreffende Mißstände häufig schlechte Leitungstätigkeit gesehen, statt der gesamtgesellschaftliche Kontext der Schwierigkeiten erkannt38 • Das geht auch aus einer Vorlage des Frauenausschusses für den Direktor des LAW aus dem Jahre 1972 hervor. 39 Die Frauenkommissionen sollten ebenfalls dazu beitragen und kontrollieren, daß der Betriebskollektivvertrag (BKV) laut Arbeitsgesetzbuch (AGB) der DDR Frauenförderungspläne beinhaltete und diese im Betriebsalltag ihre Verwirklichung fanden 40 • Aus den Unterlagen des VEB Goldring Markkleeberg geht hervor, daß es hier wiederum der Betriebsdirektor war, der sich weitgehend allein, allerdings mit Zustimmung von BGL und BPO, um die Frauenförderungspläne, ihre Fixierung im BKV und ihre Realisierung bemühte41 • So haben sich viele Frauen des Betriebes qualifiziert, vor allem jüngeren und alleinstehenden Frauen wurde es vom Betrieb aus angetragen. Die Frauen entschieden letzendlich selbst darüber, ob sie es wollten und konnten42 . Der Betriebsdirektor schränkte nur wie folgt ein: Qualifizierung war nur insofern doktrinär, daß wir nur die auf Lehrgang geschickt haben, wo wir wußten, daß wir sie auch später einsetzen konnten. Insofern wurde die Auswahl getroffen. Man konnte eben nur einen auf Meisterlehrgang schicken, wenn wir eine dementsprechende Planstelle hatten. So war es eingeengt. Man wurde ausgewählt und konnte dann frei entscheiden. 43 Im VEB LAW unterbreitete der Frauenausschuß Vorschläge zur Erarbeitung des Frauenförderungsplanes44• Diese fanden dann auch ihren Niederschlag im BKV, so z. B. 1971 als letzte, 8. Anlage des Vertrages. Noch vor den zu erfüllenden betrieblichen Verpflichtungen in Hinsicht auf die berufliche Weiterbildung und medizinische Betreuung der beschäftigten Frauen stand die politische Qualifikation von 37 V gl. Schreiben des Frauenausschusses des LAW an die Stadtbezirksleitung der SED Nordost vom 13. 9. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I. 38 V gl. M. Stolzenburg, Erfahrungen mit der Interessenvertretung von Frauen in betrieblichen Unternehmen, in: Zentrum interdisziplinäre Frauenforschung, Humboldtuniversität und Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung, Freie Universität Berlin (Hrsg.), Materialien der Fachtagung zum Thema Gleichstellungspolitik in der DDR und BRD, Berlin 1990, S. 137. Zitiert in A. Hampele, (Anm. 22), hier S. 296. 39 Vorlage an den Direktor des VEB LAW, Schreiben des Frauenausschusses vom 25. 5. 1972, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I. 40 Vgl. Kobert, Reinhard (Anm. 16), S. 19 f. 4 1 Beispiel für Delegation einer Kollegin zum Frauensonderstudium. Vgl. Schreiben des Betriebsdirektors Frauensonderstudium Ing.-Ökonom ab September 1974 betreffend. Schreiben an Ingenieurschule für Schwermaschinenbau Roßwein vom 8l.l974, BA VEB Goldring Markkleeberg, Akte 1974, BI. I. 42 Vgl. Interview 2, Kollegin S., S. 24. 43 Interview I, Kollege St., S. 24. 44 V gl. Vorschläge zur Erarbeitung des Frauenförderplanes 1976 des Frauenausschusses an den Betriebsparteisekretär. Schreiben vom 17. II. 1975, StAL, VEB LAW, Akte 326, BI. I.

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Kolleginnen an Gewerkschafts- und Parteischulen45 . Politischer Eintluß im Rahmen der Frauenförderung läßt sich also nicht leugnen. Im Entwurf des immerhin noch erstellten und vom Kombinat bestätigten Betriebskollektivvertrages für 1990 vom 24. 11 . 1989 war von politischen Schulungen keine Rede mehr. Der unter 7. (von 8 Unterpunkten) abgehandelte Frauenförderungsplan beinhaltete ausschließlich Maßnahmen zur Qualifikation, zur sozialen Betreuung vor allem der berufstätigen Mütter, zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum Frauentag. Die Vorsitzende der Frauenkommission sollte nun an den Dienstberatungen des Betriebsdirektors persönlich teilnehmen, in welcher über den Stand der Realisierung des Frauenförderungsplanes beraten wurde46. "Die Frauenkommissionen blieben zuständig für betriebliche Sozialpolitik im Sinne der Vereinbarkeil von Mutterschaft und Beruf, auch wo die Aktivistinnen die Bindung der Regelungen an die Frauen als ,(einen) wesentlichen Fehler auch unserer gewerkschaftlichen Frauenpolitik' beurteilten."47 Das zeigt auch einmal mehr ein Beispiel aus dem VEB Goldring Markkleeberg aus dem Jahre 1989, als es tatsächlich darum ging, die Interessen einer Frau im Betrieb zu vertreten. Sie erinnerte sich: Ich habe im August 1989 bei Goldring aufgehört, weil die Möglichkeit der Teilzeitarbeit nicht mehr bestand. Es wurde mir damals wörtlich von der damaligen Betriebsleitung gesagt: ,Na, die Zeit kßnnste ja auch noch absitzen. ' Das war sehr unerquicklich. Da habe ich dann aufgehört zu arbeiten dort. Da ging es nicht um persönliche Belange, sondern um Kennziffemabrechnung. Es mußten eben soundsoviel Vollbeschäftigteneinheiten abgerechnet werden. Da habe ich dann gesagt: ,Na, da macht doch eure Sache al/eine. ' Ich habe meine ganzen Programme gelöscht. Ich bin am letzten Tag, weil niemand mehr mit mir zu tun haben wollte, zur Frauenkommission gegangen, dort hat mich niemand unterstützt. 48 Die Frauenkommissionen existierten bis zum Ende der DDR. Bei Neuwahlen in der Wendezeit konnten sie nicht mehr eingerichtet werden. Das hing zum einem mit der Verzweiflung und I oder Enttäuschung ehemaliger Mitglieder 'der Frauenkommissionen über den Mißbrauch ihres Engagements zusammen. Zum anderen " ... waren viele Betriebsleiter sehr interessiert, Frauen als soziale Risiko- und Kostenfaktoren abbauen zu können. Damit gingen auch Instrumente der Interessenvertretung von Frauen gerade zu einem Zeitpunkt verloren, als ihre soziale Lage härter zu werden begann."49 Das trifft insofern für das LAW nicht zu, da in dieser Firma bis zum heutigen Tag dem hohen Frauenanteil und Frauenproblemen allein durch den von Frauen (zahlenmäßig) dominierten Betriebsrat Rechnung 4S Vgl. BKV 1971 des LAW im Kombinat VEB Arzneimittelwerk Dresden, StAL, VEB LAW, Akte 321, S. 50. 46 V gl. Entwurf des Betriebskollektivvertrages 1990 des VEB LAW vorn 24. II. 1989, BA LAW, BI. 15f. 4 7 A. Hampele (Anm. 22), S. 294 ff., hier S. 296. 48 Interview 3, Kollegin F., S. 9 f. 49 Ebd., S. 296.

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getragen wurde und wird. Das stellt bundesweit gegenwärtig - wie R. Hürtgen beschreibt50 - eine Ausnahme dar.

IV. Berufstätigkeit von Frauen - Chancen und Benachteiligung In beiden Betrieben arbeiteten viele un- und angelernte weibliche Beschäftigte. Im LAW wurde von den Frauen (und Männern), die direkt in der Arzneimittelherstellung tätig waren, allerdings ein Facharbeiterabschluß gefordert. Nur wenige Frauen waren in Leitungsaufgaben eingebunden oder hatten Anteil an wichtigen betrieblichen Entscheidungen, was aber von den meisten Interviewpartnern nicht als Mangel angesprochen wurde. Die meisten Frauen der beiden Untersuchungsbetriebe berichteten in den Interviews, daß sie arbeiteten, um zum Familieneinkommen beizutragen, um eine Aufgabe und (vielfältige) soziale Kontakte im Leben zu haben, weil sie sich nicht nur auf Haushalt und Kinder konzentrieren wollten. Dabei wurden z. T. nur einzelne dieser Gründe, aber auch viele bzw. alle als Begründung für eine Berufstätigkeit aufgezählt5 1• Es war demnach auch in diesen beiden Betrieben eine Tatsache, daß die meisten Frauen arbeiteten, weil sie es zwar aus finanziellen Gründen mußten, aber auch wollten, um ihren Ansprüchen in Hinblick auf soziale Kontakte und Selbstverwirklichung zu genügen. Nur ein Drittel aller weiblichen Befragten hatte Benachteiligungen von Frauen im Betrieb z. B. im Hinblick auf Qualifikation, Arbeitsbedingungen oder Bezahlung erkannt, aber wiederum nur ein Drittel von denen hat sich dagegen aufgelehnt, indem sie spontan aufbegehrten oder Widerspruch anmeldeten. Die anderen hat es nicht interessiert, es war ihnen gleichgültig oder sie haben dazu geschwiegen52. Schätzt man die Berufstätigkeit von Frauen in der DDR ein, sollte auch Berücksichtigung finden, daß es für viele vor allem Arbeiterinnen z.T. in Schichten, an Fließbändern unter dem ständigen Druck, die Norm zu erfüllen, und im Zusammenhang mit den temporalen Diskontinuitäten, die sich aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten ergaben, ein körperlich nicht zu unterschätzender Tagesrhythmus war, den sie bewältigen mußten. Das galt auch für die beiden Untersuchungsbetriebe53. so Renate Hürtgen, FrauenWende - WendeFrauen. Frauen in den ersten betrieblichen Interessenvertretungen der neuen Bundesländer, Münster 1997, S. 114 ff. 51 Vgl. Interview N, Kollegin Y, S. 18f. Vgl. Interview M, Kollegin M., S. 10. 52 Vgl. Fragebogenauswertung Tabelle 106, S. 6. Vgl. Interview 3, Kollegin F., S. 4 f. Vgl. Interview Q, Kollegin B., S. 9. 53 Ebd., S. 5.

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Trotz dieser strukturellen und finanziellen Benachteiligungen, die sich aus der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ergaben und zudem flächendeckend in der DDR zu beobachten waren, die die Frauen bewußt oder unbewußt erfuhren, sowie trotz der z.T. körperlich und nervlich aufreibenden beruflichen Tätigkeit gingen viele Frauen der DDR gerne einer beruflichen Tätigkeit nach und wählten dabei die verschiedensten Strategien zur Vereinbarung von Berufstätigkeil, Mutterpflichten, Haushaltsbewältigung und der Lösung zunehmender Versorgungsprobleme. Folgende Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Studie stehen im Einklang mit anderen Forschungen in dieser Hinsicht. Sie verdeutlichen aber auch Unterschiede und belegen damit, daß eine weitere Differenzierung von Handlungsstrategien weiblicher Berufstätiger in der DDR in der Forschung erforderlich ist. In den 60er Jahren hatte sich Entwicklung von angelernter Erwerbsarbeit zu qualifizierter Berufsarbeit von Frauen vollzogen. Vor allem seit den 70er und 80er Jahren ist " ... der entscheidende qualitative Wandel des Charakters der Frauenarbeit in der DDR ..." zu registrieren. Frauen übten nicht mehr eine diskontiniuierliche Erwerbsarbeit aus, sondern eine stabile und qualifizierte Berufsarbeit54. So haben auch ältere Kolleginnen des VEB Goldring Markkleeberg in den 60er Jahren nach der Geburt der Kinder eher aus pragmatischen Gründen eine vorübergehende Beschäftigung angestrebt, blieben dann als angelernte bzw. ungelernte Arbeiterin zwar vorwiegend im Handarbeit- und Montagebereich aus sozialen Gründen z.T. bis zum Rentenalter oder darüber hinaus im Betrieb5 5 . Jüngere Kolleginnen, die erst seit den 70er Jahren im Berufsleben standen, hatten häufig eine Berufsausbildung. Aber vor allem unter Arbeiterinnen, die - wie auch im VEB LAW und im VEB Goldring verbreitet- eine ohne Ausbildung und Berufsabschluß mögliche, einfache Montage- oder Konfektionstätigkeit ausübten, war es üblich, die Arbeit nicht an den Beruf, sondern an günstige Arbeits- und Wegebedingungen zu binden. Gab es vor 1970 im Leben der Frauen noch Phasen mit unterschiedlicher Konzentration auf Beruf oder Familie, so war für die Frauen in den 70er /80er Jahren die synchrone Verbindung von Beruf und Familie kennzeichnend 56 . Aber auch hier gab es noch weitere Möglichkeiten. So hat eine Kollegin noch in den 70er Jahren ihre Berufstätigkeit für 8 Jahre unterbrochen, währenddessen Heimarbeit gemacht. Erst als die Kinder in die Schule kamen, ist sie als vollbeschäftigte Arbeiterin wieder in einen Betrieb gegangen 57 . Wenn dieser Zeitraum für DDR-Verhältnisse auch sehr lang anmutet, so muß dennoch festgehalten werden, daß fast jede befragte Frau entweder über einen Zeitraum von meist bis zu drei Jahren die Berufstätigkeit Vgl. H. Trappe (Anm. 2), S. 208. ss Vgl. Interview 2, Kollegin S., S. 19. S6 Vgl. H. Trappe (Anm. 2), S. 208. s1 Vgl. Interview N, Kollegin Y, S. 19.

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unterbrochen hatte, um das Kind zu betreuen, bzw. vorübergehend teilzeitbeschäftigt war. Zu dieser Feststellung gelangten auch andere Untersuchungen 58 • Frauen, die in der DDR geboren wurden, nutzten Strategien der Verbindung von Beruf und Familie. Die meisten unterbrachen ihre Berufstätigkeit nach der Geburt des Kindes, nahmen sie aber vergleichsweise (z. B. zur Bundesrepublik Deutschland) schnell wieder auf. "Das routinierte Hin- und Herpendeln zwischen Familien- und Berufsarbeit implizierte instabile Beschäftigungsperioden in der Lebensphase mit kleinen Kindern. Diese waren durch häufige, aber kurze Erwerbsunterbrechungen sowie mitunter auch Teilzeitphasen und familienbezogenen Tätigkeitswechsel gekennzeichnet." 59 Auch im LAW arbeiteten beispielsweise gelernte Verkäuferinnen oder Kürschnerinnen in der Konfektionierung, im Goldring eine Gärtnerin in der Montage. Sie hatten dadurch günstigere Arbeitszeiten bzw. familienfreundlichere Wege, da der Arbeitsweg kurz war und im besten Falle der Kindergarten auf halber Strecke gekreuzt wurde. Anpassungsleistungen durch Karriereverzicht, Veränderung des Tätigkeitsfeldes bzw. körperliche und psychische Überforderungen wurden weitestgehend nur von Frauen getragen. "Es ist nicht übertrieben, für diese jüngeren Frauen von einer hochgradig sozialpolitischen Steuerung ihrer Lebensgestaltung zu sprechen. Frauen neigten nicht dazu, individuelle Gegenstrategien zu entwickeln, sondern viel eher dazu, die institutionellen Regelsysteme strategisch und pragmatisch zu nutzen." 60 Wie einige wenige Beispiele zeigen, nutzten diese Frauen sozial- bzw. arbeitspolitische Vergünstigungen nicht nur, um ihre Kinder bestens zu versorgen, sondern auch für sich und ihre eigene Freizeit und deren Gestaltung61 . Auch anhand von Beispielen aus den beiden untersuchten Betrieben ist demnach deutlich zu erkennen, daß es vor allem in den 80er Jahren auch Frauen gab, die schon damals unter den schwierigen Bedingungen Anspruch auf Zeit für sich persönlich erhoben. Für diese Frauen war klar, daß sie zugunsten eines Zeitbudget für Kinder und interessante Freizeitgestaltung auf weitere Qualifikationen bzw. I und eine berufliche Karriere verzichten mußten. Aus den Interviewaussagen ging aber auch eindeutig hervor, daß sie darauf nicht (mehr, u. a. aus Resignation gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen) orientierten. Seit der Sozialpolitik der 70er /80er Jahre war die " ... individualisierte [und von mehreren Alternativen gekennzeichnete - F. W.] Verknüpfung von Familienund Berufsarbeit einem weitgehend institutionalisierten Konzept [ welches man aber auch pragmatisch nutzen konnte, - F. W.] gewichen. [ . . . ] Die vom Staat geschaffenen Rahmenbedingungen und die mit ihnen verbundenen normativen Vorgaben wurden aufgrund ihres paternalistischen Entstehungszusammenhangs 58 V gl. G. Szepansky, Die stille Emanzipation. Frauen in der DDR. Frankfurt I Main 1995, S. II. 59 H. Trappe (Anm. 2), S. 210. 60 Ebd. 61

Vgl. Interview 3, Kollegin F., S . 19. Vgl. Interview M, Kollegin F., S. 12.

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von den Frauen und deren Partnern weniger in ihren einengenden als vielmehr in ihren entlastenden Wirkungen wahrgenommen." 62 Das geht auch aus fast allen Interviewaussagen zu dieser Thematik in der vorliegenden Studie hervor. Sieht man von dem tatsächlich vollen Tagesprogramm berufstätiger Mütter einmal ab, offerierte die Mehrfachbelastung den Frauen ihnen aber auch die Möglichkeit, sich bei politischen und anderen unliebsamen Veranstaltungen zu entschuldigen. Meist hatten die Leitungen ein Einsehen, da sie um die Situation berufstätiger Mütter nur zu gut aus eigenen familiären Erfahrungen wußten. Im Laufe der Jahre wurde es nicht mehr nur schweigend akzeptiert, sondern letztendlich respektiert 63 .

V. Betriebliche Fürsorge für Frauen - Gebrauch und Mißbrauch Den sozialen Belangen der weiblichen Beschäftigten Aufmerksamkeit zu schenken und sie einer Lösung zuzuführen, war formal gesehen weitestgehend die Aufgabe der Frauenkommissionen, aber auch der Betriebsleitungen und der BGL. Da in beiden Betrieben überwiegend Frauen arbeiteten, gehörte es dazu, daß sich der Betrieb für die Kolleginnen einsetzte, wenn sie einen Krippen- oder Kindergartenplatz benötigten. Das ging auf scheinbar formalem Wege, z. B. wenn sich der Direktor des Goldrings in einer solchen Angelegenheit an den Bürgermeister wandte, aber auch über informelle Beziehungen, wie eine Arbeiterin des LAW zu berichten wußte64 . Da man auf Arbeitskräfte und ihre jahrelangen Erfahrungen nicht verzichten konnte und wollte, aber auch, weil man um familiäre Probleme und die immmer komplizierter werdende Versorgungslage wußte, mußte es die Betriebsleitung dulden, daß Frauen sozialpolitische Maßnahmen "ausnutzten" sowie während der Pausen, aber auch Arbeitszeiten Arzttermine wahrnahmen oder einkaufen gingen. Viele berufstätige Mütter wären, wenn sie keine Lust zum Arbeiten oder kleinste Krankheitsanzeichen verspürt hätten, zum Kinderarzt gegangen, um sich zur Pflege des kranken Kindes krankschreiben zu lassen. Mit diesen Kolleginnen wäre aber auch ein "ernstes Wort" gesprochen worden65 . Das war aber nicht nur unter Arbeiterinnen gang und gäbe, sondern auch unter Angestellten. 66 Während die damit verbundene Wertung im Gesprächsrückblick häufig kritisch ausfiel, wurde die Tatsache, daß man während der Arbeitszeit einkaufen gegangen war, meistens positiv und als Kollektivleistung bewertet67 . 62

63

H. Trappe (Anm. 2), S. 211 f . Ygl. Interview D, Kollege D ., S. 22.

Vgl. InterviewE, Kollegin N., S. 7. V gl.lnterview 9, Kollege S., S. II. 66 Vgl Interview 3, Kollegin F., S. II. Das war in anderen (Frauen-)Betrieben ähnlich. Vgl. H. Trappe, S. 201. 67 Vgl. Interview 4, Kollegin B .• S. 13. 64

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Aus der Erinnerung heraus sagte ein Angestellter, daß die Betriebsleitung das Einkaufen während der Arbeitszeit "bewußt übersehen" hat68 , ein anderer bewertete das gegenseitige Einvernehmen zwischen Arbeitern I Arbeiterinnen bzw. Angestellten und Leitung als "Abkommen"69. Um diese Erscheinungen etwas zu reduzieren, aber auch um den Frauen zu helfen und sie für die Arbeit im Betrieb zu motivieren, organisierte die Gewerkschaftsleitung die schon erwähnten Verkäufe von Mangelwaren und bedienten sich dabei- vor allem in den 80er Jahren- eigener persönlicher "Beziehungen". Frauen nutzten bzw. entwickelten selbständig rein infonnelle Strategien. Z. B. versorgten sie sich gegenseitig mit Mangelware bzw. mit Infonnationen darüber. Sie verschränkten aber auch fonnale Strukturen und infonnelle Netzwerke miteinander, wie die Bemühungen der BGL-Vorsitzenden beweisen. Diese Beispiele widerlegen zumindestens für diese beiden Betriebe die These, daß Frauen informelle Beziehungen am Arbeitsplatz kaum so gepflegt hätten wie Männer70. Die familiären und häuslichen Belastungen behinderten nicht, sondern förderten, daß Frauen infonnelle Netzwerke - auch am Arbeitsplatz - überwiegend zur gegenseitigen Versorgung mit Mangelwaren und Dienstleistungen nutzten. Daß in Frauenbetrieben die immer schlechter werdende Versorgungslage im Land ständig "Thema Nr. I" war71 , belegt somit nicht nur das DDR-typische befreiende Diskustieren (bzw. "Meckern") über unlösbare Probleme, sondern auch und vor allem die gegenseitige und betriebliche Hilfe und das Funktionieren informeller Netzwerke unter Frauen. Bei den Dienstleistungen handelte es sich um solche, deren gemeinsame Nutzung lukrativer erschien (z. B. Laufmaschendienst), mittels derer sie Zeit für sich und die Familie gewannen (gemeinsames bzw. organisiertes Einkaufen während der Arbeitszeit) und die sie zuletzt ausschließlich für sich persönlich nutzten (Kosmetik). Damit halfen sowohl der Betrieb als auch die Frauen sich untereinander mit Dienstleistungen, die die Frauen von ihrer Mehrfachbelastung teilweise befreiten. Hier entwickelten gerade Frauen diese schon von Leonore Ansorg registrierte "besondere kollektive Solidarität". Obgleich man nicht genehmigte und zahlreicher werdende Arbeitszeitunterbrechungen sowie Demonstrationzügen ähnelnde Märsche von Frauen zur Betriebsverkaufsstelle, wenn es mal wieder Mangelware gab, nicht als Verweigerung im Arbeitsalltag interpretieren sollte. Tatsache war jedoch, daß "immer wenn die Reproduktionsinteressen ihrer Familien berührt wurden, [ ... ) sich Frauen offenbar zu resolutem Handeln veranlaßt [fühlten- F. W.) . Vgl. Interview 8, Kollege E., S. 5. Vgl. Interview 9, Kollege S., S. 13. 70 Vgl. Mayer, Karl Ulrich, "Kollektiv oder Eigensinn? Der Beitrag der Lebensverlaufsforschung zur theoretischen Deutung der DDR-Gesellschaft", in: Johannes Huinink, Kar/ Ulrich Mayer u. a., Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, S. 349-373, hier S. 367. 71 Vgl. Interview R, Kollegin W., S. 19. Vgl. Interview F, Kollege F., S. 31. 68

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Hierin liegt eine wesentliche Differenz zu Männerbetrieben, in denen wesentlich andere Konflikte ausgetragen wurden."72 VI. Zur Bedeutung eines Frauenbetriebes Nach Hildegard Maria Nickel würden Frauen ihre Arbeitszufriedenheit vor allem von sozialen Aspekten wie Kommunikationsmöglichkeiten, Betriebsklima, unmittelbare persönliche Anerkennung bestimmen lassen. So auch weibliche Beschäftigte in der DDR73 . In der Befragung zur vorliegenden Studie sprachen über die Hälfte der Frauen dem Betriebsklima (nur) einen Wert zu, wesentlich weniger einen großen Wert. Bei den männlichen Beschäftigten überwog dagegen der hohe Stellenwert des Betriebsklimas74 . Berücksichtigt man, daß Männer häufiger Leitungstätigkeiten in Frauenbetrieben ausübten, so müssen andere Schlußfolgerungen gezogen werden als die von Nickel. Wahrscheinlich waren es eher die Beschäftigten - unabhängig vom Geschlecht-, die häufig(er) mit den schier unlösbaren und ständig zunehmenden wirtschaftlichen Problemen des Betriebes konfrontiert worden sind, die um so mehr einen sehr großen Wert auf das Betriebsklima legten. Dennoch mußte auch für Frauen das Betriebsklima "stimmig" sein, um u. a. die wirtschaftlichen Probleme der Betriebe, die im Arbeitsalltag tagtäglich erlebt wurden, zu kompensieren75 . Dem hohen Frauenanteil haben knapp zwei Drittel der. Beschäftigten in den beiden Untersuchungsbetrieben keinen Einfluß auf das Betriebsklimas zugesprochen. Ein Drittel hielt ihn dagegen für förderlich 76 . Vergleicht man in dieser Hinsicht die beiden Betriebe miteinander, so stellt man fest, daß vor allem die Beschäftigten des VEB LAW dem hohen Frauenanteil keinen Einfluß auf das Betriebsklima beimaßen. Dagegen überwogen im VEB Goldring diejenigen, die die große Anzahl von Frauen als förderlich für das Betriebsklima hielten77 . Hierbei sollte aber nicht nur berücksichtigt werden, daß sich viele Frauen wenig für Politie8 , eingeschlossen aktiver Frauenpolitik - aus welchen Gründen auch 72 Leonore Ansorg, ,.Der Fortschritt kommt aufs Land. Weibliche Erwerbsarbeit in der Prignitz", in: Gunilla-Friederi~ Budde (Hrsg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 78-99, hier S. 93. Die Belieferung der betriebseigenen Verkausstelle mit Mangelwaren in ihrem Untersuchungsbetrieb und die damit verbundene massenhafte Arbeitsunterbrechung von Frauen interpretiert L. Ansorg als tatsächliche Verweigerung der Frauen im Arbeitsalltag. 73 Vgl. H. M. Nickel ( Anm. 2), S. 246 f. 74 V gl. Fragebogenauswertung S. 26. 1s Vgl. Interview 11, Kollegin B., S. 8. 76 Vgl. Fragebogenauswertung S. 76. 77 Vgl. Interview 1, Kollege S., S. 14. 78 Vgl. Interview 6, Kollege K., S. 31.

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immer - interessierten, sondern daß sie es vor allem aufgrund der enonnen Mehrfachbelastung gar nicht konnten 79. Das hätte man akzeptieren müssen, bestätigte eine leitende Angestellte des VEB LAW80• Dabei kommt aber auch zum Ausdruck, daß sowohl aus persönlicher Sicht als auch unter dem Blickwinkel betrieblicher bzw. politischer Interessen nicht am tradierten Rollenverständnis der Geschlechter gerüttelt wurde. Man akzeptierte es, aber wohl auch vorrangig im Interesse der Frauen, die diese Haltung auch ausnutzten, um sich vor unliebsamen politschen und anderen Veranstaltungen zu drücken. Allerdings gab auch nur ein leitender Angestellter im Rückblick zu, daß ein Frauenbetrieb unter einem Aspekt gesehen auch schwieriger zu leiten war als ein Männerbetrieb: Frauen haben ja mehr Probleme mit dem Haushalt, Kinder sind sehr oft krank gewesen. Solche Dinge mußte man dann halt verkraften.81 Andere thematisierten das auch, benannten es jedoch nicht als erschwerendes Moment für die Leitung eines Frauenbetriebes oder sahen eher die o. g. "Vorzüge".

VII. Frauenemanzipation in der DDR Berufstätige Frauen traten aufgrund ihrer ökonomischen Unabhängigkeit und ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Arbeitsalltag fast durchweg selbstbewußt auf. 72,9% der befragten Männer und Frauen hielten Frauen in der DDR für real gleichberechtigt. 25,0% waren davon weniger überzeugt, während 2,1% die Auffassung vertraten, daß die Frauen nicht gleichberechtigt waren.82 Die zeitliche Parallelität von Beruf und Familie und die dadurch gewährleistete relative ökonomische Unabhängigkeit vom Partner wurden zu Bestandteilen der Identität von Frauen in der DDR und zum eigenen Bewertungsmaßstab ihrer Emanzipation 83 . Diese Aussage einer repräsentativen Untersuchung findet sich auch in den Ergebnissen der vorliegenden Studie wieder. So erlebten immerhin 79,2% aller Befragten weibliches Selbstbewußtsein im Arbeitsalltag. Die Frauen erfuhren es hauptsächlich infolge der Bewältigungall ihrer Pflichten (89,7%), aufgeund ihrer finanziellen Unabhängigkeit (74,4%) sowie durch ihre hohe Qualifikation und ihres Interesses an sozialen Kontakten (je 46,2%)84 • Frauen erinnerten sich in den Interviews bewußt ihrer "Identität und ihrer Integration in die DDR-Gesellschaft" mit allem Für und Wider. Sie entsannen sich, daß man nicht ständig die eigene Emanzipation - der Begriff ist in der Reflexion Vgl.lnterview 0, Kollege 0., S. 22. so Vgl. Interview R, Kollegin W., S. 24. 81 Interview 13, Kollege 1., S. 13. 82 Vgl. Fragebogenauswertung, Tabelle 97, S. 75. 83 Vgl. H. Trappe (Anm. 2), S. 216. 84 Vgl. Fragebogenauswertung, S. 10.

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nach wie vor überwiegend negativ besetzt - betont bzw. überhaupt an sie gedacht hätte, sondern .. .damals relativ normal damit umgegangen ... ss wäre. Frauen in der DDR hatten - sicherlich weitgehend vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Konditionen, auch die Möglichkeit, ihre Vereinbarungsstrategie, die so wichtig für die Bewältigung ihres Alltags und für ihr weibliches Selbstbewußtsein war, zu wählen. Die von der SED-Politik festgelegten sozial- und arbeitspolitischen Grenzen wurden von den meisten nicht überschritten. Spielräume dagegen wurden - wie beschrieben - von vielen entdeckt, von den meisten genutzt und z. T. mißbraucht. Von widerständigem Verhalten im Alltag kann in den beschriebenen Zusammenhängen jedoch keine Rede sein, aber von Verweigerung in Einzelfällen, von Anpassung weitestgehend. Eines haben alle gemeinsam: Primär bestimmten pragmatische Überlegungen und Handlungsweisen den Alltag von Frauen in der DDR. Die Alltagsbewältigung war in den 70er und 80er Jahren zwar begrenzt durch die Maßnahmen der Staatsmacht Sie differenzierte sich jedoch aus im Laufe der Jahre auch wiederum aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen und Versorgungsprobleme im Land, denn individuelle Lösungsstrategien waren angesichts der Ohnmacht des Systems gefragter denn je. Damit wird einmal mehr deutlich, daß Frauenleben in der DDR nicht nur fremd-, sondern auch und zunehmend selbstbestimmt war, was der "stillen Emanzipation" 86 von DDR-Frauen sowohl entsprach als auch förderlich war.

ss Interview R, Kollegin W., S. 23. Vgl. Interview H, Kollegin Z., S. 28. 86 Gerda Szepansky spricht von der sog. stillen Emanzipation in ihrem gleichnamigen Buch: "Gesellschaftlicher Fortschritt flir Frauen wurde von Männem definiert und gesetzlich von oben bestimmt. Darüber gab es keine kritische Auseinandersetzung, darum mußte nicht gekämpft werden. Gleichberechtigung war vorhanden und wurde nicht weiter thematisiert. So hat sich für DDR-Frauen die Emanzipation, die so zwar nicht benannt wurde, anders als im Westen vollzogen, stiller, viel persönlicher und weniger bemerkbar. Um Vorstellungen und Konzepte, die speziell von Frauen entwickelt und gelebt werden, stand es schlecht." G. Szepansky (Anm. 58), S. 13.

A bwanderung, Widerspruch und Loyalität: Die DDR und die offene Grenze vor dem Mauerbau Von Patrick Major

In einem 1970 erschienenen Buch stellte der amerikanische Ökonom Albert 0. Hirschman 1 sein inzwischen berühmt gewordenes Modell von Abwanderung und Widerspruch (.,exit" und .,voice") vor? In Firmen, Organisationen und sogar Staaten gebe es für Unzufriedene zwei grundlegende Entscheidungsmöglichkeiten: sie können vor einem Problem entweder weglaufen (Abwanderung) oder sich dem Problem stellen und dagegen protestieren (Widerspruch). Laut Hirschmans Konzeption sind die beiden Grundmöglichkeiten einander aber diametral entgegengesetzt, etwa wie die Enden einer Wippe. Sollte die Abwanderungsmöglichkeit steigen, so würde man ein Sinken des Widerspruchs feststellen. Ware anderseits der Ausgang verschlossen, so dürfte man ein Ansteigen der Proteststimmen erwarten. Dazwischen gebe es natürlich eine breite Palette anderer Varianten. Der Wunsch nach Reform könnte bei einigen sogar eine gewisse Loyalität dem System gegenüber hervorrufen. Etwa zwei Jahrzehnte später wandte Hirschman das exit/voice-Modell auf das Schicksal der soeben untergegangenen DDR an. 3 Warum hatte sich die DDR als so relativ stabil im Vergleich mit den Nachbarstaaten im Ostblock erwiesen? Laut Hirschman lag die Lösung in der offenen Grenze der DDR zum zweiten deutschen Staat, der Bundesrepublik. Er wies darauf hin, daß selbst nach dem Mauerbau die Möglichkeit der legalen Ausreise sowie der Abschiebung bzw. des ,,Freikaufs" Oppositioneller bestand. Dieses Sicherheitsventil schaffte eine Opposition innerhalb der DDR ab, und damit blieb vor der .,Wende" eine ernsthafte Reformführung im Ausmaß der polnischen Solidarität aus. Hirschman sah aber auch die Notwendigkeit der Differenzierung des Wippe-Modells: wie die Ereignisse des Jahres 1989 gezeigt hatten, können Abwanderung und Widerspruch zusammenwirken. Der Bevölkerungsschwund hatte offenbar eine große Mißstimmung unter den Zurückgebliebenen verursacht, die manchen bisher Unpolitischen auf die Straßen I Albert 0. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty: Responses to Decline in Finns, Organizations and States, Cambridge, Mass. 1970. 2 Ebd. 3 Albert 0. Hirschman, Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik: Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte, in: Leviathan, 20 (1992), s. 330-58.

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trieb. Das Zusammenspiel der beiden Faktoren im Herbst 1989 erwies sich als tödlich für die DDR. Hirschmans Modell ist wegen seiner Einfachheit sehr attraktiv, aber dabei auch problematisch. Es geht nur oberflächlich auf die Lage vor 1989 ein. Insbesondere die Situation vor dem Mauerbau, als die DDR mit einer offenen Grenze zum Westen zu kämpfen hatte, wird vernachlässigt. Es ist mein Anliegen, jetzt eben diese frühen Jahre anband neuer DDR-Statistiken über "Republikflucht" und Erkenntnisse über Entscheidungsfindungen innerhalb der SED, die seit dem Zusammenbruch der DDR zugänglich geworden sind, zu untersuchen. Bestätigen die empirischen Daten Hirschmans Voraussagen? Inwieweit schränkte die offene Grenze das Handlungspotential der SED ein, und inwieweit war sich die SED dieser Einschränkung bewußt? Umgekehrt: nutzten DDR-Bürger dieses Schlupfloch in der Staatsherrschaft bewußt aus? Gab es eine moralische Erpressung der SEDInstanzen, das Land zu verlassen? Wie wichtig waren offene und geschlossene Grenzen für das Funktionieren der SED-Herrschaft? Abschließend stelle ich einige historische Überlegungen zu Hirschmans weiteren Begriffen, Widerspruch und Loyalität, vor. I. Abwanderung

Wenn man die längerfristige Entwicklung der Republikfluchten betrachtet, erkennt man ein eindeutiges Auf und Ab der Abwanderungszahlen. Einen ersten Höhepunkt stellt das Krisenjahr 1953 dar, als der Juni-Aufstand in der DDR ausbrach. Danach beruhigte sich die innere Lage etwas. Aber nur vorübergehend, bis die Zahlen Mitte der Fünfziger wieder einen hohen Stand erreichten. Erst gegen Ende des Jahrzehnts gingen die Statistiken langsam nach unten, um Anfang der Sechziger erneut anzusteigen. Neben diesen mehrjährigen Schwankungen weisen die Zahlen auf einen inneren jährlichen Rhythmus hin: Im Winter sinken sie, zu Ostern und im Sommer steigen sie wieder an, was auf einen Einfluß des Arbeitsmarkts bzw. der Ferien hindeutet. (Im Sommer gab es in Westdeutschland mehr Gelegenheitsarbeit für Saisonarbeiter; in der Ferienzeit konnte man als "Urlauber" unauffällig viel Gepäck mit sich tragen.) Die großen mehrjährigen Fluktuationen lassen hingegen auf Faktoren der großen Politik schließen. Ohne Frage haben politische Kampagnen, die sich gegen sozioökonomische Zielgruppen richteten, dabei eine Rolle gespielt. Als bestimmte Gruppen anvisiert wurden, registrierte man ein verstärktes Verlassen der DDR von Angehörigen genau dieser Schichten. Während der Werbung für die DDR-Streitkräfte Mitte der Fünfziger findet man z. B. immer mehr männliche Jugendliche unter den Flüchtigen. 1955 berichtete die Volkspolizei folgendennaßen über die unbeabsichtigte Politisierung dieser Zielgruppe von oben: "Während es bis zur Werbung zur K[asernierten) V[olks-)P[olizei) fast ausschließlich durch Schundliteratur, Hetzschriften und Verwandte verblendete Menschen waren und zum Teil offene negative Einstellung zu unserer Arbeiter-und-Bauemmacht zum Ausdruck kam, ist es jetzt ein Personenkreis, der manchmal als fleißige und disziplinierte Menschen

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geschildert wird. In vielen Fällen handelt es sich um Mitglieder der FDJ, ja sogar um junge Mitglieder unserer Partei."4

Ebenso trifft es zu, daß I 960, als die Kollektivierung der Landwirtschaft begann, die Bauern in verstärktem Maße in den Westen gingen. Nehmen wir auch das Jahr 1953 - das Paradebeispiel eines "politischen" Jahres, das auch als schlimmstes Fluchtjahr überhaupt galt. Hirschman nahm an, daß die Fluchtwelle erst nach dem gescheiterten Aufstand begann. Anband der Monatszahlen wird aber deutlich, daß die Fluchten der Unzufriedenheit Schritt hielten, die mit dem 1952 verkündeten Aufbau des Sozialismus einhergingen. Die meisten Fluchten geschahen also vor dem Aufstand. Laut einem damaligen Volkspolizeibericht hieß es: "Seit der II. Parteikonferenz der Sozialitischen Einheitspartei Deutschlands, auf der beschlossen wurde, die Grundlagen zum Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen, ist durch die Verschärfung des Klassenkampfes die Republikflucht erheblich angestiegen und zu einem Schwerpunkt in der volkspolizeiliehen Tätigkeit geworden." In der amtlichen Berichterstattung wiederholten sich immer wieder vier Hauptgründe, die zu Republikflucht führten, nämlich: I. Gegnerische Beeinflussung (Gerüchtemacherei, Rias [Rundfunk im amerikanischen Sektor], Drohungen durch Briefe und Telefongespräche). 2. Falsches Verhalten von Verwaltungsstellen. 3. Flucht nach Begehung von strafbaren Handlungen. 4. Familiäre persönliche Motive. 5 In einem weiteren Bericht erkennt man die genauere Dynamik der Fluchten von 1953: "In den ersten Tagen nach der Veröffentlichung des Komrnuniques des Zentralkomitees der SED vom 9. 6. 1953 und den entsprechenden Beschlüssen des Ministerrates, die den neuen Kurs einleiteten, ging die Zahl der Republikflüchtigen schlagartig auf etwa 1/5 zurück. Auf Grund der durch die faschistische Provokation zunächst notwendig werdenden Massnahmen (Sperrung der Übergänge nach Westberlin und Westdeutschland) hörte die Bevölkerungsbewegung nahezu ganz auf. Nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes stieg die Zahl der Republikflüchtigen wieder an, was sich z. T. daraus ergibt, dass an der Provokation Beteiligte aus Furcht vor Strafe unsere Republik verliessen." 6

Was man aber auch erkennen muß, ist die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge nicht aus unmittelbar politischen Gründen geflohen ist. Sogar 4 ,Bericht über die Republikfluchten aus der Deutschen Demokratischen Republik für die Zeit vom I. I. 1954 bis 31. 12. 1955', o.D., Bundesarchiv Berlin (BAB), 00-1/111963, BI. 100-29. 5 Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei, ,Analyse über die Motive der Republikflucht', 1953, BAB, D0-1/11/962, BI. 67-80. 6 ,Kurzbericht über die Entwicklung der Bevölkerungsbewegung (Republikflucht nach dem 17. Juni 1953)', 26. 10. 1953, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BA), DY 30/IV 2/13/394.

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die westdeutschen Aufnahmeausschüsse haben nie mehr als 20% der Bewerber als "politisch" eingestuft. 7 Dazu muß man auch die Abertausende von Wirtschaftsflüchtlingen zählen. Spätere Volkspolizeiberichte Ende der Fünfziger betonten die Mißstände in den Betrieben. Es sei kein normaler Arbeitsablauf mehr möglich, nachdem fehlende Lieferungen zu wiederholten Stillständen in der Produktion führten. Angehörige der Intelligenz waren auch unzufrieden. Die alte Intelligenz aus der Zeit vor 1945 fühlte sich politisch diskriminiert; die neue Intelligenz aus dem Hochschulnachwuchs beruflich blockiert. Mit sovielen offenen Stellen in der Bundesrepublik Ende der Fünfziger war der ökonomische Sog aus dem Westen fast unwiderstehlich. Was man am zweiten Schaubild erkennen kann, ist die zusätzliche regionale Verteilung der Republikfluchten. In den Anfangsjahren war die Flucht ein ausgesprochen nördliches Phänomen. Wenn man die ländlichen Gebiete betrachtet, häuften sich die Fluchten in den Gegenden mit einem hohen OstvertriebenenanteiL Man könnte sogar daher mutmaßen, daß "Neubürger" mit einer geringen Bodenständigkeit für eine Flucht wesentlich anfälliger als Eingesessene waren. Der Aufenthalt in der DDR wurde von vielen Vertriebenen als Absprungbrett für einen Weiterzug nach Westen genutzt. Republikflucht muß also nach den Ausgangsbedingungen in bestimmten sozialen Schichten differenziert werden. Ob man z. B. Verwandte im Westen hatte, Eigentum im Osten besaß, oder zu einer sozialen Schicht gehörte, in der die gesellschaftlichen Aufstiegschancen eher gering erschienen, waren wichtige Indizien für die individuelle Fluchtbereitschaft Darüber hinaus übten die Gegenmaßnahmen der SED vor und während der Berlinkrise einen unmittelbaren Einfluß auf die Geographie der Fluchten aus. Zunächst schlug die Parteiführung eine konfrontative Linie ein. 1953 startete das Politbüro sogar eine geheime Gegenabwerbungskampagne in der BRD, die längerfristig doch ohne Erfolg blieb. Nach der Entstalinisierungswelle 1956 probierte sie eine andere Taktik aus: Liberalisierungsmaßnahmen und Straffreiheit für Rückkehrer. Gleichzeitig wurden immer mehr Reisevisen für die Bundesrepublik ausgehändigt, was laut Innenministerium "wesentlich zur Beruhigung der Lage in der Bevölkerung geführt" habe. 8 Diese Lockerung des innerdeutschen Reiseverkehrs wurde aber von vielen für eine Republikflucht ausgenutzt ( 1957 erfolgten 56,3% aller Republikfluchten mit Reisevisum). Die Verteilung der Fluchten in der DDR war zu dieser Zeit also regional relativ gleichmäßig, aber mit Schwerpunkten in den Westbezirken, wo verwandtschaftliche Beziehungen beiderseits der innerdeutschen Grenze vermutlich eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig hielten Mitte der Fünfziger die hohen zahlenmäßigen Werte der Fluchten an. 7 Helge Heidemeyer. Aucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949-1961. Die AUchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, DUsseldorf 1994, S. 55. H HVDVP(Hauptabt. PM), ,Vermerk', 13. 3. 1957, BAB, D0-1/11/964, BI. 93 - 8.

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Deshalb kehrte das Innenministerium Ende 1957 zu einer harten Linie zurück. Die Ausgabe der Visen wurde drastisch reduziert und das Fluchtmuster änderte sich sofort. Ab 1958 verlagerten sich die Schwerpunkte der Republikflucht in die Umgebung Berlins. Die Republikflucht wurde also zunehmend zum Gelegenheitsverbrechen in Ostberlin und Brandenburg. Schritt für Schritt wurde Berlin durch Verkehrskontrollen und "Zugbegleitkommandos" immer weiter vom DDR-Hinterland abgeschirmt. Die logische Konsequenz dieser Maßnahmen wäre aber eine völlige Abriegelung Westberlins gewesen. Das Chruschtschow-Ultimatum vom November 1958 mit seiner Drohung, die Kontrollrechte über den Transitverkehr an die DDR-Behörden zu übergeben, implizierte genau eine solche Verschärfung des Grenzregimes. Viele Ostdeutsche erkannten sofort, was eine Internationalisierung Westberlins bedeuten würde. Gerüchte begleiteten den Ablauf jeder neuen Frist, daß jetzt alles "dichtgemacht" werde. Wie ich an anderer Stelle bereits argumentiert habe, verursachten die Gegenmaßnahmen der SED und ihre Berlinpolitik eine regelrechte Torschlußpanik in den letzten Monaten vor dem Mauerbau, die eine völlige Grenzschließung nur noch wahrscheinlicher machte. 9 Der Mauerbau war demnach eine sich selbsterfüllende Prophezeiung des gescheiterten Chruschtschow-Uitimatums. Auch vor der zweiten Berlinkrise hatten die beiden Taktiken von Liberalisierung und Einschränkung des Reiseverkehrs den Flüchtlingsstrom anscheinend nur noch vergrößert. Der Kampf gegen Republikflucht war dementsprechend eine "nowin solution". Das Verlassen der DDR mußte aber kein irreversibler Schritt sein. Von etwa drei Millionen Republikflüchtigen kehrte jeder Zehnte in die DDR zurück. Gewiß waren diese "Rückkehrer" eher bereit, nochmals "abzuhauen" - in Extremfällen redeten die Behörden von "Wanderern zwischen den Welten". Diese waren aber nicht immer willkommen. 1960 wurden über 20% aller Rückkehrer und Zuziehenden an der westlichen Staatsgrenze zurückgewiesen. Selbst erfolgreiche Rückkehrer wurden jahrelang von den DDR-Sicherheitsorganen unter Aufsicht gestellt und galten immer als Träger einer westlichen Ideologie, die andere in der DDR leicht anstecken könnte. Ein Dauerproblem der offenen Grenze war auch das Grenzgängerturn über die Sektorengrenze in Berlin. Bis 1961 wohnten knapp 60.000 Grenzgänger im Ostteil der Stadt oder in ihrer Umgebung, pendelten aber täglich nach Westberlin, wo sie einen Teil ihres Lohns in D-Mark erhielten (das waren etwa 20% der arbeitsfähigen Bevölkerung Ostberlins!). Die Versuche der DDR-Behörden, mit diesem Problem fertig zu werden, schlugen aber immer fehl. Weder Ermahnungen seitens der Volkspolizei, noch öffentliche Tadel bei Hausversammlungen reichten aus, um Grenzgänger auf Linie zu bringen. Sie bedeuteten immer ein Unsicherheitsfaktor für die SED, wie folgender Bericht zeigt: .,Allgemein zeigt sich, daß die Grenzgänger sich kaum am gesellschaftlichen Leben beteiligen und versuchen, sich im Wohngebiet so unauffällig wie möglich zu bewegen. Auf der 9 Vg1. meinen Beitrag in: Burghard Cieslak/Michael l..emke/Thomos Lindenherger (Hrsg.), Berliner Krisen 1948: 1958, Berlin 1999.

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anderen Seite treten sie - wie bereits geschildert - als Abwerber von Arbeitskräften in Erscheinung bzw. versuchen sogar, unsere Arbeiter aufzuwiegeln. So hat der frühere Gütekontrolleur T. aus dem VEB Bergmann-Borsig, jetzt Dreher in den Borsigwerken in Tegel, Arbeiter des genannten VEB versucht, dahingehend zu beeinflussen, Lohnforderungen zu stellen. Kurze Zeit danach sind 10 Kollegen aus dem Betrieb ausgeschieden und arbeiten aller Wahrscheinlichkeit nach in Westberlin. Außerdem zeigt sich, daß die Grenzgänger in großem Umfang Westliteratur einführen. So wurde im Kreis Fürstenwalde in großen Mengen derartige ,,Literatur" bei Haussuchungen gefunden." 10

Mit sovielen unterschiedlichen Komponenten stellte der Bevölkerungsschwund eine Art Naturereignis dar, das mit konventionellen politischen Mitteln nicht zu bekämpfen war. Insbesondere Angehörige der Intelligenz drohten damit, eventuell das Land zu verlassen. Bei der Anforderung von Materialien konnten Ingenieure z. B. unmißverständliche Andeutungen in Richtung Republikflucht machen. Auch Parteimitglieder waren nicht immun gegen solches Verhalten. Ein Funktionär z. B. "äußerte gegenüber anderen Genossen und Parteilosen im betrunkenen Zustand, nachdem ihm die Fahrerlaubnis wegen Verkehrswidrigkeiten abgenommen wurde, daß er, falls man ihn noch mehr ärgern wolle, sein Parteidokument auf den Tisch legen wird oder vielleicht auch dort hingehen werde, wo die Sonne untergeht." 11 Mitglieder des Staatsapparats, v.a. in den Wohnungs- und Volkspolizeikreisämtern, wurden immer wieder mit solchen Drohungen konfrontiert, was zu einer verständlichen Frustration geführt haben muß. Dies ging so weit, daß einige Angestellte gerügt werden mußten, weil sie "schwierigen" Fällen vorgeschlagen hatten, das Land doch zu verlassen, nach dem Motto: wenn es Ihnen hier nicht gefällt, dann gehen Sie nach drüben. Ein solches "sektiererisches" Verhalten wurde von der Parteiführung aber stets verurteilt. Diese schwierige Lage der ostdeutschen Machthaber führte zwangsläufig zu einer Konzessionspolitik der Intelligenz gegenüber. Prominente Fälle wurden mit Autos, Wohnungen und Reisevisen regelrecht bestochen. 1958 wurde Ärzten das Recht auf die Fortführung einer Privatpraxis eingeräumt. Im November 1960, als Ulbricht im Moskau weilte, um die UdSSR um mehr Wirtschaftshilfe zu bitten, tagte das Politbüro in Ostberlin, um die neuste Runde von "Erleichterungen" an die Intelligenz zu erörtern. Eine erneute Erteilung von Konzessionen wurde beschlossen, um die Abwanderungstendenz ansatzweise umzupolen. 12 Eine typische Mischung aus Gehaltserhöhungen und öffentlichen Würdigungen sollte schwankende Ärzte, Ingenieure und Lehrer vorübergehend an die DDR binden, bis sie im Laufe der Zeit von der Überlegenheit des Sozialismus überzeugt wurden. IO Ministerium des Innem, ,Einschätzung des Grenzgängerproblems im demokratischen Berlin und in den Randgebieten', 10. I. 1961, SAPMO-BA, DY 30/IV 2/13/366, BI. 85-9. II SED-ZK (Abt. Leitende Parteiorgane), ,lnformationsbericht', 2. 7. 1960, SAPMO-BA, DY 30/IV 2/5/293, BI. 14-31. 12 Kurt Hager, ,Entwurf einer Vorlage an das Politbüro beim Zentralkomitee der SED', I. II. 1960, SAPMO-BA, DY 30/IV 2/9.05/143, BI. 198-220.

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Da die UdSSR auf Dauer nicht bereit war, die DDR mit Rohstoffen zu subventionieren, als gleichzeitig Humankapital zusehends verlorenging, fiel im Juli 1961 die drastische Entscheidung für eine völlige Grenzabriegelung. 13 Der Mauerbau war in vielen Hinsichten eine Kompromißlösung, zu der die SED nur notgedrungen griff. In einem Schreiben an Chruschtschow wenige Wochen danach rechtfertigte Ulbricht diesen radikalen Schritt: "Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen, dass es nicht möglich ist, dass ein sozialistisches Land wie die DDR einen friedlichen Wettbewerb mit einem imperialistischen Land wie Westdeutschland bei offener Grenze durchführen kann." Nach einer Erläuterung der wirtschaftlichen Probleme, die durch diesen Tatbestand hervorgerufen worden waren, ging Ulbricht auf die "polit-moralische" Bedeutung der Grenzschließung ein, aus der er offenbar eine Tugend machen wollte. "Die Autorität der Staatsmacht der Deutschen Demokratischen Republik, die durch die Duldsamkeit gegenüber den Zersetzungsmassnahmen von Westberlin aus geschwächt war, wurde gestärkt und es wurde ein Umschwung im Denken der Bevölkerung in der Hauptstadt und in der Deutschen Demokratischen Republik erreicht." Darüber hinaus: "Nicht nur breite Kreise der Industriearbeiter sondern aber auch der Genossenschaftsbauern arbeiteten besser als vorher. Im Grund genommen ging die grosse Diskussion in schwankenden Schichten, insbesondere in Teilen der Intelligenz, um die Perspektive. Viele Leute sprachen datiiber, dass sie mit ihrem Onkel und ihrer Tante nun nicht mehr regelmässig verkehren können, aber in Wirklichkeit meinten sie, dass nun die Westorientierung zerschlagen ist und es keinen anderen Weg mehr gibt, als sich auf die Arbeiter-undBauernmacht der DDR und auf das sozialistische Lager zu orientieren. Jene Bürger der Republik, die auf eine Wiedervereinigung Deutschlands durch ein[en} unerklärliche[n) Kompromiss zwischen den vier Mächten oder überhaupt durch irgendwelche "Konzessionen von beiden Seiten" gehofft hatten, waren jetzt gezwungen, die Fragen bis zu Ende zu denken." 14

II. Widerspruch Wenn die offene Grenze den Garaus der SED-Herrschaft tatsächlich ausgemacht hätte, so hätte man einen solchen plötzlichen Wandel innerhalb der DDR erwartet. Kurzfristig war dies anscheinend auch der Fall. Es wurde mit Genugtuung berichtet, daß die ehemals anspruchsvollen Bürger im Landkreis Schmalkaiden ihre Anträge an den Staatsapparat jetzt "höflich und sachlich" herantrugen. 15 Nur Tage nach dem Mauerbau verstärkte die SED die Werbung für die NVA. In den Betrieben 13 Vgl. Andre Steiner. Politische Vorstellungen und ökonomische Probleme im Vorfeld der Errichtung der Berliner Mauer. Briefe Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow, in: Hartmut Mehringer (Hrsg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssytem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, München 1995, S. 233-68. 14 Ulbricht an Chruschtschow, 15. 9. 1961, SAPMO-BA, DY 30/J IV 2/2021130. 1s SED-Sekretariat, ,Information der Abteilung Agitation des ZK über die Lage und Stimmung im Kreis Schmalkalden', 27. 9. 1961, SAPMO-BA, DY 30/J IV 2/31766, BI. 35-50.

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wurde ein Produktionsaufgebot gestartet. Das sensationellste Beispiel dieser harten Linie war die Aktion Ochsenkopf, bei der Westfernsehantennen abmontiert, in Extremfällen sogar abgesägt wurden. 16 Anfang 1962 mußte jedoch die Wehrpflicht eingeführt werden, da die DDR-Jugend nicht allein durch erziehungspolitische Appelle an ihr Pflichtbewußtsein zu gewinnen war. Das Arbeitstempo der Arbeiter während des Produktionsaufgebots ließ bald wieder nach. Hinter verschlossenen Gardinen wurde weiter "west"gesehen. Ein nationales Umdenken fand nach dem Mauerbau also nicht über Nacht statt; eher eine Anpassung an bestehende Strukturen und die Aufgabe bestimmter Hoffnungen. Neben den großen Umstellungen, die mit der Grenzschließung einhergingen, muß man erkennen, welche Kontinuitäten und Widerspruchsmöglichkeiten vor und nach dem 13. August bestanden. Beim Phänomen "Widerspruch" möchte ich zunächst für eine breite Auslegung dieses Begriffs plädieren. Öffentlicher Protest auf den Straßen, wie am 17. Juni 1953, war eher die Ausnahme und erfaßte auch 1953 nur eine Minderheit der Bevölkerung. Man sollte aber auch andere Protestformen in Erwägung ziehen, die "sotto voce" stattfanden. Diese sind m. E. nicht nur wichtig an sich, sondern auch weil sie möglicherweise ein Ventil für den Volksfrust geschaffen haben. Nach Hirschman wirkt die Möglichkeit des Widerspruchs bremsend auf die Abwanderung. Es werden an anderer Stelle in diesem Band die Alltagsmöglichkeiten von Dissidenz und Dissonanz in der DDR besprochen. Ich möchte aber hierzu ein spezifisches Beispiel geben: nämlich das der Eingaben der Bevölkerung ans Staatsoberhaupt. Dies war natürlich ein amtlich anerkannter Beschwerdeweg, der von den Behörden bewußt eingeleitet wurde, um Mißstimmung zu kanalisieren. 1961 erreichten die Eingaben jedoch einen Höchststand von über 100.000 zu solchen Themen wie Versorgung, Volksbildung und Wohnungsfragen. Diese Volkskritik wurde von der Parteiführung als legitim akzeptiert, wie Ulbricht selber erklärte: "Immer mehr nehmen die Eingaben zu, in denen die Probleme des sozialistischen Aufbaus behandelt und ich sage, komplizierte Probleme behandelt werden. Es ist selbstverständlich, daß in der Bevölkerung solche Probleme diskutiert werden und viele dieser Probleme erst im weiteren Aufbau des Sozialismus gelöst werden können." Der Erste SED-Sekretär machte aber eine wichtige Ausnahme: "Ich sehe dabei ab von solchen Eingaben über die Reise nach Westdeutschland." 17 Betrachtet man die Entwicklung der Reiseeingaben, erkennt man sofort, welche wichtige Rolle der innerdeutsche Reiseverkehr in den Köpfen der DDR-Bevölkerung gespielt haben muß. Waren es Anfang 1956 11% aller Eingaben, so erreichte dieser Anteil im Juli 1961 33%, genauso hoch wie fürs DDR-Dauerproblem, nämlich Wohnungsfragen:S Erst 1968/69 erreichten die Reiseeingaben den niedrigen 16 Vgl. Jochen Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960-1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993, S. 52-66. 17 ,Ausfuhrungen des Genossen Ulbricht zu dem Jahresbericht über die Bearbeitung der Eingaben', o.D., BAB, DA-5/167, BI. 221-4. 18 Gemeint sind nur Eingaben an den Staatspräsidenten bzw. nach Piecks Tod im September 1960 an den Staatsrat. Vgl. SAPMO-BA, DY 30/IV 2/5/252 bzw. BAB, DA-5/5999.

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Stand vom 1956 wieder. Der Mauerbau erwirkte also keine plötzliche Negierung der Reiselust der DDR-Bevölkerung. Wichtig ist aber auch, daß die vielen Beschwerden wegen mangelnden Wohnraums, die in diesem Zeitraum durchschnittlich 40% der Eingaben ausmachten, auch eine Indiz für die Verankerung der restlichen Bevölkerung waren. Viele wollten einfach normal wohnen können. Sie blieben der Heimat, der Stadt, der Familie treu, wenn auch nicht dem Regime als solchem. Es gab aber auch nichtsanktionierte Protestfonnen für DDR-Bürger, die dem Staat widersprechen wollten, ohne ihm den Rücken zu kehren. Am Arbeitsplatz waren Alkoholmißbrauch, "Sabotage" und gelegentlich sogar Arbeitsniederlegungen in den fünfziger Jahren Gang und Gebe. Von der NS-Forschung wissen wir schon, wie vorsichtig die Interessenartikulierung in einem Staat mit totalitärem Anspruch sein mußte. 19 Typisch für solche Staaten war aber auch die Tendenz, solche an sich harmlosen Aktionen von oben zu politisieren. Krankfeiern z. B. wurde von der SED bald als ideologisches Problem aufgefaßt. Im Ausland dauerte die Durchschnittserkältung Ende der fünfziger Jahre 11 Tage; in der DDR doch 15 Tage. Laut dem Zentralkomitee waren die "rückständigen Auffassungen unter den Werktätigen, die jährlich 6 Wochen oder wiederholt zu bestimmten Zeiten "Krank" feiern" nur "durch klassenmäßige Auseinandersetzungen zu überwinden." 20 Dieser Kleinkrieg hörte mit dem Mauerbau nicht auf. Die Sicherheitsbehörden klagten weiter über die ständigen Schmierereien auf Straßenwänden oder über Jugendliche, die nicht davor schreckten, Volkspolizisten und FDJ' ler auf dem Heimweg zu überfallen. Kurz gesagt, gab es eine breite Palette von Alternativen zur Republikflucht, und obwohl die Flucht als eine der spektakulärsten Handlungen gilt, muß sie stets im jeweiligen Kontext gesehen werden.

III. Loyalität Ich möchte noch abschließend Hirschmans dritte Möglichkeit anführen: Loyalität. Treue in einer Diktatur ist natürlich nicht unproblematisch. Sogar in einer Demokratie ist die Beziehung des Bürgers zum Staat nicht immer eindeutig. Hirschman weist darauf hin, daß gerade die Widersprecher einem System gegenüber oft am loyalsten sind. Was sie kritisieren, ist eher schlechtes Management als fundamentale Strukturen. In der DDR stand an oberster Stelle die institutionelle Loyalität. Die SED-Herrschaft basierte auf der gewollten oder ungewollten Kooperation einer wichtigen Schicht von Funktionären und Angestellten. Ohne sie hätte das System nicht überleben können. An vorderster Front gab es bewußte Regimeträger im Partei- und Staatsapparat. Die offene Grenze hatte diese Menschen vor schwierige politische Probleme gestellt. Da die antiwestliche Propaganda der Aus19 Tim Mason, Social Policy in the Third Reich. The Working Class and the ,National Community', Providence/Oxford 1993, S. 266-74. zo Ohne Titel, SAPMO-BA, DY 30/IV 2/6.11/53, BI. 400-6.

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reisewelle keinen Einhalt gebieten konnte, wurde die Autorität der SED ständig unterminiert. Die Berichte über die Stimmung im Parteiapparat am Vorabend des Mauerbaus sind voller Resignationserscheinungen; nach dem Mauerbau findet man eine verständliche Schadenfreude bei gerade diesen bedrängten Funktionären. Gleichzeitig waren die Aufstiegschancen bei der offenen Grenze entsprechend groß. Wenn man Karriere in der DDR machen wollte, wurden bis Anfang der Sechziger viele Stellen frei. Die DDR-Staatsmacht hatte bereits vor 1961 jedoch eine gewisse, wenn auch begrenzte Akzeptanz unter der nichtkommunistischen Bevölkerung erlangt. Diese entstand z.T. aus autoritärer Gewöhnung. In der Gemeinde Oberbeinsdorf im Kreis Reichenbach z. B. erklärte ein Gemeindevertreter in der Rechenschaftslegung, "daß es früher geheißen hat, Kaiser befiehl, wir folgen, später Führer befiehl, wir folgen, und jetzt könnte man sagen, Rat des Kreises befiehl, wir folgen." 21 Obwohl er dies zweifellos als Kritik gemeint hat, haben viele diese Mentalität unbewußt aus früheren Zeiten fortgeführt. Der historische Pate der DDR war nicht unbedingt die Weimarer Demokratie, sondern in vielen Fällen der kaiserliche oder nationalsozialistische Obrigkeitsstaat. Dem Staat wurde sogar mit der Grenzschließung ein bestimmtes Selbstverteidigungsrecht eingeräumt. Darüberhinaus gab es bekanntlich eine Reihe von sozialen Einrichtungen wie Polikliniken und Betriebsausflügen, die die DDR allmählich legitimierten. Dies kann man beispielsweise an Äußerungen von Flüchtlingen feststellen, die in den Westen kamen, und die eine bedingte Anerkennung für die fürsorglichen Erfolge der DDR der fünfziger Jahre zum Ausdruck brachten. 22 Diese rein materielle Orientierung an den Staat wurde von der SED jedoch als erziehungspolitisches Versagen betrachtet. Man sollte sich aus ideologischer Überzeugung mit dem Sozialismus identifizieren, nicht aus Egoismus. Ein Beobachter im Transformatorenwerk "Karl Liebknecht" in BerlinKöpenick faßte diese funktionelle Loyalität der Arbeiter folgendermaßen zusammen: "Für die DDR sind sie in dem Sinne, daß sie keine Konzernherren, Faschisten und Militaristen wieder wünschen. Bewußt für die Macht der Arbeiter und Bauern sind noch nicht alle. Ihre Einstellung zur DDR verbindet sich immer wieder mit der Frage und Antwort nach ihrem persönlichen Leben, wobei sie hohe Ansprüche stellen und sie befriedigt sehen möchten." 23 Gesinnungsloyalität ist aber nicht aus unserer Analyse völlig auszuschließen. Ein nicht zu quantifizierender Teil der DDR-Bevölkerung- vielleicht die Mehrheit - war 1945 I 49 für einen radikalen Neubeginn. Viele dieser Menschen identifizierten offenbar mit dem Antifaschismus der SED, aber auch mit ihrem antikapitalistischen Programm. Die Volksentscheide 1946 für die Sozialisierung der Industrie in 21 ,Beispiele über Nichtbeantwortung bzw. ungenügende Beantwortung von Fragen und Kritiken der Bevölkerung', o.D. [1965], SAPMO-BA, DY 30/IV A-2/9.02175. 22 Infratest (Hrsg.), Die ökonomischen Einflüsse auf das Alltagsleben in der SBZ, München 1958. 23 SED-GO VEB TRO, ,Einschätzung', I. 7. 1958, Landesarchiv Berlin, BPA SED Berlin, IV 7/23/19.

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Sachsen sind ein oft zitierter Beweis dafür. Der Sozialismus war für sie ein selbstverständliches Ziel, das in Westdeutschland anscheinend blockiert wurde. Unter diesen waren zweifelsohne viele Romantiker, aber auch Taktiker aus der ehemaligen SPD, die in der SED das kleinere Übel sehen wollten. Im Laufe der fünfziger Jahre verspielte die SED diesen guten Willen zum großen Teil, aber die bindende Kraft von Loyalitätsgefühlen darf nicht unterschätzt werden, auch wenn sie im nachhinein naiv erscheinen mag. Als abschließendes Beispiel zitiere ich den Abschiedsbrief eines geflüchteten Arztes, der sich keineswegs als Regimegegner bezeichnen wollte, aber stellvertretend für viele enttäuschte Weggefährte der SED steht: ,.Ich wäre einen Weg mitgegangen, wenn er genügend breit gewesen wäre für die Möglichkeit seine Richtung zum Wohle derer, die ihn beschreiten, mitzubestimmen, manches zu nuancieren und vor allem, ohne gegen besseres Wissen handeln zu müssen. Der Weg wurde aber immer enger, führte zum Widersinn und wurde, zumindest durch seine Auswüchse, verbrecherisch im biologisch und psychologisch umfassenden Bereich."24

24

Hans T.-N. an Dr. Sch., 17. 3. 1958, SAPMO-BA, DY 30/IV 2119/55.

14 Timmermann

Staat und katholische Kirche in der DDR Von Bernd Schäfer

In einem Zeitraum von fast 45 Jahren entwickelten sich zwischen Staat und katholischer Kirche in der DDR Beziehungen, die beide Seiten prägten. 1 Die intensivere Form der Prägung erfuhr dabei im Vergleich zum normsetzenden Subjekt des diktatorischen Staates naturgemäß das Objekt. Die bewußtseinsbestimmende Annahme, daß die DDR von Dauer sei, ftihrte zu Verhaltensweisen in der katholischen Kirche, die nicht nur ihren institutionsimmanenten Strukturen entsprangen. Das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche blieb zwar von gegenseitiger Distanz geprägt, war aber eben auch eine Gemengelage von Konflikten und pragmatischer Kooperation, von Unvereinbarkeilen und Konvergenzen. Zwischen den scheinbar völlig gegensätzlichen Antipoden entstanden im Verlauf der Geschichte der DDR Wechselwirkungen, die schließlich zu einer gewissen Routine führen konnten. Die SED fand nur sehr langsam zu einem sachlicheren Umgang mit den Kirchen, wobei die konkrete Kirchenpolitik immer einem taktischen Kalkül unterworfen blieb. Die Kirche galt als potentieller Feind, der stets mißtrauisch zu überwachen war. Da Religion und Kirche ohnehin nur eine Form des "institutionalisierten Aberglaubens" seien, glaubte man lange Zeit, daß beide im Zuge des sozialistischen Aufbaus allmählich aussterben würden. Von dieser Erwartung mußte die SED Abstand nehmen, weil die faktische Entwicklung nicht den deterministischen Vorgaben des "wissenschaftlichen Atheismus" entsprach. Als dieser in den sechziger Jahren mit prognostischen Methoden arbeitete, hatte er sich bald zu korrigieren. Die Kirchen schrumpften demnach zwar unter dem Druck eines feindlichen Umfeldes auf einen harten Kern. Dieser blieb aber langfristig stabil, so daß die kirchliche Reproduktionsfähigkeit auf unabsehbare Zeit gesichert schien. Mit erheblicher Verspätung konzedierte die SED ab Ende der siebziger Jahre diesen unfreiwilligen "Lernprozeß" auch öffentlich. Auf den internationalen KSZE-Nachfolgekonferenzen in den achtziger Jahren präsentierte sie die Existenz der Kirchen sogar als Toleranzbeweis für die Behauptung, in der DDR herrsche Religionsfreiheit. Im Vergleichsmaßstab des "sozialistischen Lagers" ist für die DDR eine eher gemäßigt repressive Kirchenpolitik festzustellen. Nach bisherigem Forschungst Vgl. Bernd Schäfer. Staat und katholische Kirche in der DDR, Weimar I Köln I Wien 1998 (Schriften des Hannah-Arendt-lnstituts für Totalitarismusforschung, Band 8).

14•

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stand verlor kein katholischer Priester oder Laie in der DDR durch politische Verfolgung aufgrund seiner kirchlicher Funktion oder religiösen Überzeugung sein Leben. Zwischen 1945 und 1961 waren nicht mehr als insgesamt 15 katholische Priester aufgrund politischer "Straftaten" inhaftiert. Zumeist wurden sie vorübergehend verhaftet oder nach kirchlichen Interventionen noch vor Ablauf der Haftzeit entlassen, es gab aber auch einige drakonische Ausnahmen. Der fehlende nationalstaatliche Charakter der DDR und ihr Sonderverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland bewahrte die Kirche in den späten vierziger bzw. in den fünfziger Jahren vor dem Ausmaß und der brutalen Härte stalinistischer Repression nach sowjetischem oder ostmitteleuropäischem Muster.

I. Stabilisierung Daß sich die SED schließlich mit der Existenz der Kirchen abfand und sie grundsätzlich nicht mehr in Frage stellte, war eine Folge des Mauerbaus von 1961. Ohne die innere Stabilisierung der DDR und die ein Jahrzehnt später erfolgende internationale diplomatische Anerkennung hätte die SED-Führung wohl kaum zu einer pragmatischeren Kirchenpolitik gefunden. Es schien ihr nach 1961 oft zu genügen, politisch relevante Aktivitäten mit verdeckter Repression oder über Hinweise an kirchliche Gesprächspartner der Staatsorgane einzudämmen. Zwischen September 1961 und Dezember 1989 wurde kein einziger katholischer Priester oder hauptamtlicher kirchlicher Mitarbeiter aus politischen Gründen verhaftet, einzelne Katholiken ohne kirchliches Amt dagegen in Einzelfällen sehr wohl. In dieser Zeit erkannte die "herrschende Partei" allmählich die ökonomische und außenpolitische Nutzbarkeit auch der katholischen Kirche. Obwohl alle rechtlichen gesamtdeutschen Kirchenzusammenhänge unterbunden werden sollten, wurde angesichts des steigenden Devisenbedarfs der SED-Führung die Finanzierung und Ausstattung der Kirchen mit westdeutschen Geldem und Materialien gebilligt, schließlich sogar gefördert. Die ehrgeizige Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch der aufwendige Sicherheitsapparat mußten finanziert werden, da soziale Stabilität sowie "Ordnung und Sicherheit" aus Sicht der SED unabdingbare Garanten ihres Herrschaftsmonopols darstellten. Für die seit 1966 planmäßig betriebene "Kommerzielle Koordinierung" zur Erwirtschaftung von Devisen waren die Kirchen ein "gutes Geschäft", das durch die Erhöhung der westlichen Transferleistungen und das "Valuta-Sonderbauprogramm" seit Mitte der siebziger Jahre noch ausbaufähig sein sollte. Zugleich war aber die westliche Finanzhilfe ftir die katholische Kirche in der DDR so essentiell, daß sie einem Absterben der Kirche mehr als nur vorbeugte. Schließlich trug auch die Vatikanpolitik der SED-Führung, welche die katholische Kirche in der internationalen Souveränitätskampagne der sechziger und den diplomatischen Aufwertungsbestrebungen der siebziger und achtziger Jahre zu nutzen suchte, zu einer Stabilisierung kirchlicher Existenz und Betätigungsmög-

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liehkeilen bei. Der Vatikan wurde von der DDR-Führung dabei weniger als kirchliche Einrichtung wahrgenommen. Vielmehr war er als Staat für die SED von besonderem diplomatischem Interesse, was selbst den Austausch von Botschaftern und damit auch einen päpstlichen Nuntius in Ostberlin nicht ausschloß. Ein mit Staatsoberhäuptern aus aller Welt kommunizierender Papst ließ sich als weltpolitischer Faktor zum Nachweis internationaler Gleichberechtigung potentiell nutzen. Die im Vergleich zu den sozialistischen Staaten Osteuropas relativ großen Freiräume der katholischen Kirche in der DDR wurden deshalb staatlicherseits respektiert und vorsichtig erweitert. Kirchlicherseils konnten sie immer wieder zugunsten der Katholiken in den anderen sozialistischen Ländern genutzt werden durch private Besuche und offizielle Bischofsreisen, durch diskret organisierte Literatur- und Materialhilfe sowie im Falle der CSSR auch durch zahlreiche geheime Priesterweihen auf dem Gebiet der DDR. Der Vatikan bediente sich in seiner Ostpolitik gezielt dieser Sonderstellung einer "Ortskirche" im sozialistischen Lager und hoffte, sie für seine ambitionierte Diplomatie in Ost- und Mitteleuropa nutzen zu können. Daß die BOK/BBK diese römische Ostpolitik unter Papst Paul VI. aus kirchenpolitischen wie gesamtdeutschen Überlegungen eher kritisch sehen mußte, steht nicht im Widerspruch zur Feststellung vom vergleichsweise günstigen "status quo" der katholischen Kirche in der DDR. Ende der achtziger Jahre ermöglichte er schließlich die Vorbereitung des für 1991 vorgesehenen Besuches von Papst Johannes Paulll. in der DDR. II. Neutralisierung

Zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft ging die kalkulierende Toleranz der SED so weit, daß sie dem im Osten residierenden Berliner Bischof regelmäßigen Zugang in den Westteil der Stadt gewährte. Für das diktatorische Regime war dazu die Neutralisierung des innenpolitischen Störpotentials der Kirche unbedingte Voraussetzung jener informellen "Geschäftsgrundlage", die im August 1961 über das MfS mit der DDR-Regierung ausgehandelt und von der katholischen Kirche fortan als "modus vivendi" bezeichnet wurde. Der Weg zu diesem "modus vivendi" war lang. Der Konflikt im katholischen Episkopat zwischen Westberlin und der ,,Zone" im Jahre 1950 über die Frage der Existenzmöglichkeit einer katholischen Kirche in der DDR verlief noch ohne Beobachtung oder Einflußnahme durch Staats- oder Parteiorgane. In dieser strategischen Grundsatzfrage setzten sich die auf dem Gebiet der SBZ/DDR tätigen Ordinarien mit ihrer Orientierung an der ,,Zonenwirklichkeit" durch. Mit Wilhelm Weskamm wurde 1951 der Protagonist dieser Linie neuer Bischof in Berlin. Obgleich er sich für ein eigenes Kirchenbewußtsein der Katholiken in der DDR einsetzte, durchkreuzte die repressive Kirchenpolitik in den Jahren 1952 I 53 und die Einführung der Jugendweihe ab 1955 die Hoffnungen auf einen geregelten .,modus vivendi" mit dem Staat. 1956, im letzten Jahr der Amtszeit des bereits schwer erkrankten Weskamm, bemühte sich der neue starke Mann im ostdeutschen Epi-

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skopat, der Meißener Bischof Otto Spülbeck, um einen solchen "modus vivendi", zu dem er sich auch durch Papst Pius XII. ermuntert fühlte. Seine ungewollt undiplomatische Predigt beim Kölner Katholikentag im September 1956, vor allem aber die verschärfte Repression im sozialistischen Lager nach der blutigen Niederschlagung des Ungamaufstandes, machte jedoch einen Ausgleich unmöglich. Vielmehr setzten die zentralisierten politischen Apparate der DDR, insbesondere das MfS, ab 1957 mit Überwachung und administrativen Maßnahmen der Kirche immer deutlichere Grenzen ihrer öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten. Die Staatssicherheit konnte durch massiven Einsatz von Abhörtechnik in kirchlichen Einrichtungen und Bischofssitzen in den Jahren 1958 I 59 umfangreiche Interna in Erfahrung bringen und zur Einschüchterung benutzen. Bis etwa 1963 wurde in der DDR intensiv öffentliche atheistische Propaganda betrieben, um die "Überlegenheit" des "dialektischen Materialismus" gegenüber dem ,,religiösen Aberglauben" zu "beweisen". In derselben Periode wurde die umfassende sozialistische Ausrichtung des gesamten Bildungswesens durchgesetzt, die Kirche aus den Schulen verdrängt. Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Bischof Julius Döpfner, der seit Mai 1958 sein Bistum und die DDR außerhalb der Stadt Berlin nicht mehr betreten konnte, sowie der zunehmende staatliche Druck auf die in der DDR residierenden katholischen Ordinarien ließen diese seit März 1960 von gemeinsamen öffentlichen Stellungnahmen absehen. Der offensive politische Kurs des in seinem Westberliner Horizont agierenden Bischofs Döpfner beruhte auf einer Überschätzung des Potentials der katholischen Kirche vor Ort in der DDR. Angesichts der realen Machtverhältnisse führte dieser Kurs in eine kirchenpolitische Sackgasse und schließlich im Juli 1961 zur Versetzung Döpfners nach München durch den Vatikan. Der neue Berliner Bischof Alfred Bengsch mit Wohnsitz in Ostberlin, der bereits zwei Wochen vor dem Mauerbau durch das Dornkapitel gewählt worden war, vollzog den bereits faktisch seit März 1960 eingeleiteten kirchenpolitischen Paradigmenwechsel durch ein Spitzengespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Willi Stoph am 2. November 1961. Zuvor hatte Prälat Johannes Zinke seine seit 1958 aufgebauten Verhandlungskontakte zum MfS in mindestens drei Gesprächen in der zweiten Augusthälfte 1961 zu einer zentralen und langfristig wirksamen Vereinbarung genutzt: ,,Loyalität" der katholischen Kirche zum Staat der DDR in Form öffentlicher "politischer Abstinenz" als Preis für die "Einheit des Bistums Berlin" durch den Zugang des im Ostteil residierenden Bischofs zum Westteil der Stadt. Erstmals war damit trotz seines informellen und keineswegs garantierten Charakters der angestrebte "modus vivendi" zwischen katholischer Kirche und Staat ausgehandelt. Eine strikte politische Abstinenz der katholischen Kirche zur Politik der SED wurde von Bischof Alfred Bengsch seit August 1961 den staatlichen Stellen wiederholt signalisiert und in der Regel auch eingehalten. Für den Staat war diese still-

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haltende Abstinenz gleichbedeutend mit der ,,Loyalität" der katholischen Kirche zum Staat der DDR. Auch führende katholische Kirchenverleier benutzten den Begriff "Loyalität" gegenüber den staatlichen Stellen zur Kennzeichnung ihrer Position. Bis in die siebziger Jahre hinein wollten die Staatsorgane die politische Abstinenz der Kirche allerdings nur einseitig verstanden wissen, weil für sie "Loyalität" zugleich die öffentliche Affirmation im politisch gewünschten Sinne einschloß. Diesem Ansinnen verweigerten sich allerdings die katholischen Bischöfe mit dem Hinweis auf eine strikte Abstinenz jeglicher öffentlicher Äußerungen, nicht nur in zustimmender, sondern auch in kritischer Form. Als die staatlichen Organe die grundsätzliche Aussichtslosigkeit erkannten, von der katholischen Kirche "positive" Stellungnahmen zu erhalten, realisierten sie den Vorteil, daß immerhin solche "negativer" Art unterblieben. Die "politische Abstinenz" der katholischen Kirche avancierte im Vergleich zum breiten und unberechenbaren Spektrum in den evangelischen Kirchen zum "kleineren Übel" und einer bevorzugten Variante kirchlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit. Diesen Bedeutungswandel der "politischen Abstinenz" hin zu einer dem Staat genehmen Haltung haben anscheinend jedoch einige katholische Kirchenpolitiker nicht erkannt, vielleicht auch nicht wahrnehmen wollen. Statt dessen erhoben sie in Antizipation staatlicher Erwartungen "Berechenbarkeit" zum Maßstab kirchlichen Handelns. Auf die "politische Abstinenz" der katholischen Kirche konnten sich die staatlichen Organe jedoch nicht durchweg verlassen. In seltenen Fällen durchbrachen die Bischöfe selbst diese Zurückhaltung durch öffentlich verlesene Hirtenbriefe (Januar 1972 zur Abtreibungsgesetzgebung, November 1974 zum sozialistischen Bildungssystem, März 1981 zur Jugendweihe). Allerdings äußerten sie sich nur dann so deutlich, wenn sie sich aus theologischen Gründen dazu gedrängt fühlten (Abtreibungsmoral der Bevölkerung, Bedrohung des christlichen Glaubens durch die Schulerziehung, Versuch der Ersetzung kirchlicher Riten). Die staatlichen Stellen wurden davon aufgrund der vorzeitigen kirchlichen Übergabe der jeweiligen Texte an das MfS informiert, ohne daß sie jedoch auf den Inhalt Einfluß nehmen konnten. Deshalb untersagten förmliche Erklärungen des Staatssekretärs für K.irchenfragen sowohl im November 1974 als auch im März 1981 die Verlesung der Hirtenbriefe und drohten bei Nichtbefolgung mit Sanktionen. Das Risiko für die "Geschäftsgrundlage", deren Positiva für die Kirche im bischöflichen Zugang nach Westberlin, den materiellen und finanziellen Westtransfers sowie in den kirchlichen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten zur Bundesrepublik und zum Vatikan bestanden, lag jedoch aus Sicht der Kirchenpolitiker in Staat und Kirche weniger in solchen Erklärungen. Sie sahen sie vielmehr gefahrdet durch "undiplomatische" Aktionen einzelner Bischöfe nach dem Tode von Kardinal Bengsch, vor allem aber durch das "Unruhepotential" einzelner katholischer Kleriker und Laien in den sechziger und wiederum in den späten achtziger Jahren. Dieses Potential entfaltete sich vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nach dem li. Vatikanischen Konzil als Folge eines stellenweise aufbrechenden antiautoritären und pluralistischen Verständnisses von Kirche. Es kamen For-

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derungen auf nach einem kritischen Dialog mit dem theoretischem Marxismus und der praktischen Lebenswelt in der DDR, um durch persönliches "Engagement" die Gesellschaft zu verändern. Für die SED waren solche Anspruche ,,Diversion" und "Untenninierung" des Sozialismus. Das MfS schritt im Verbund mit anderen Staatsorganen zu verstärkter Überwachung und gezielter "Zersetzung" solcher katholischer Gruppen und Personen. Aufgrund des Bemühens um internationale Anerkennung ihres Staates ging die SED dazu über, ihre Herrschaft weniger mit offener denn mit "verdeckter" Repression durchzusetzen. Dem MfS kam dabei die Aufgabe der "vorbeugenden Verhinderung" und ,,Zersetzung" zu. Die Entwicklungen zur ,,kritischen Bejahung des Sozialismus" im kirchlichen Raum, die für den Staat mit einer ,,Modernisierung" und damit größerer ,,Massenwirksamkeit" der Kirche einhergingen, ließen sich jedoch nicht differenzierungspolitisch durch gelenkte Vorfeldorganisationen wie die CDU oder die "Berliner Konferenz" ausnutzen. Staats- und Parteiorgane mußten vielmehr versuchen, sich konspirativ in die innerhalb der Kirche ausgefochtenen Konflikte einzuschalten. Die katholische Kirchenleitung in Berlin empfand, nicht anders als viele ihrer weltweiten Parallelstrukturen, kirchlichen Pluralismus aus theologischem Selbstverständnis als schädlich. Sie argumentierte aber innerkirchlich fast ausschließlich politisch, wonach er vor allem in der DDR schädlich sei, weil er dem Staat Ansatzmöglichkeiten zur Differenzierung bieten würde. Die kirchenleitende Forderung nach "Geschlossenheit" wurde deshalb in der Kirche stellenweise als Konvergenz mit dem staatlichen Umfeld interpretiert. So fonnulierte beispielsweise am 1. November 1967 der Magdeburger Pfarrer Claus Herold, damals Leiter der Arbeitsgemeinschaft der Jugendseelsorger in der DDR, in seinem Jahresbericht für die Bischöfe pointiert: "Das Einheitsdenken dieser Kirche ist die ebenso totalitäre Antwort einer ins Ghetto gedrängten und sich hinter der Mauer noch selbst verschanzenden Minderheit auf das totalitäre System des staatlichen Machtapparates und seiner erdruckenden Massenorganisationen".2 Erfolge staatlicher Differenzierungspolitik resultierten letztlich kaum aus dem innerkatholischen Pluralismus nach dem II. Vatikanischen Konzil, sondern beruhten in viel höherem Maße auf den Ergebnissen kirchenleitender Versuche, diesen Pluralismus in den eigenen Reihen zu unterbinden. Mit anderen Worten: Die in ihrer Kirche fest beheimateten "Dissidenten" ließen sich von der SED nur sehr selten gegen ihre Kirchenleitungen nutzen, einige Vertreter der Kirchenleitungen dagegen durchaus zur Neutralisierung ihrer eigenen "Dissidenten". 111. Schnittstellen Um zu solchen Effekten der Stabilisierung und Neutralisierung zu gelangen, bot sich den Staatsorganen das kirchenpolitische Instrument der geheim-diplomatischen Verhandlungskanäle. Dabei wurden die katholischen Geistlichen angespro2

Regionalarchiv: Ordinarien Ost im Bistumsarchiv Erfurt (ROO), A li 22.

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chen, die im Auftrag von Bischöfen entsprechende Kontakte zu halten hatten. Der Kirche selbst schienen solche Gespräche im letztendlich von Willkür geprägten Raum der staatlichen Kirchenpolitik ein geeignetes Mittel zu sein, um über informelle Absprachen kirchliche Wirkungsmöglichkeiten auszuhandeln und zu bewahren. Die Erfolge der geheimen Gesprächsdiplomatie, die nicht zuletzt schon 1961 zur Aushandlung der "Geschäftsgrundlage" geführt hatte, besaßen jedoch für die Kirche auch einen Preis. Seine Höhe war von der persönlichen Integrität der jeweiligen kirchlichen Unterhändler abhängig. Wenn diese ihre unter den Bedingungen der DDR produzierte innerkirchliche Macht zur Durchsetzung eigener Vorstellungen in der Kirche zu nutzen versuchten, kam es zu wechselseitig kommunizierenden bis hin zu kooperierenden Staat-Kirche-Kanälen. Auf diese Weise forderten das MfS und die Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen aufgrund ihrer Vorstellungen von "Sicherheitspolitik" gegenüber ihren kirchlichen Gesprächspartnern die Disziplinierung "störenden" kritischen Potentials ein. Wenn staatliche Stellen dabei auf K.irchenmänner stießen, die aus anderen Motiven, und seien es rein persönliche, Handlungen und Denkweisen von bestimmten Gruppen und Personen in der katholischen Kirche ablehnten, entstanden oft faktische Konvergenzen, die zur Annäherung staatlicher und kirchenleitender Interessen führten. Die offiziellen Verhandlungskontakte einiger bischöflicher Beauftragter zum MfS und zur Dienststelle des Staatssekretär für Kirchenfragen sowie zu Räten der Bezirke wurden im Verlaufe der innerkirchlichen Konflikte der sechziger und frühen siebziger Jahre pragmatischer und enger. Nach außen konnte der Staat zwar keine Differenzierungspolitik mit der katholischen Kirche betreiben, aber hinter verschlossenen Türen geriet "Berechenbarkeit" und eine vermeintlich gemeinsame Verantwortung zu ihrer Bewahrung zur dadurch erweiterten "Geschäftsgrundlage" der Beziehungen. Innerhalb der katholischen Kirche in der DDR, selbst innerhalb der BOK I BBK oder sogar zwischen einzelnen Beauftragten und ihrem vorgesetzten Bischof,3 gab es insgesamt ein geringes Maß an Transparenz über die tatsächlichen Inhalte der Geheimdiplomatie. Gegenüber kritischen Anfragen aus den Reihen der Kirche wurde von leitender Seite auf die erforderliche "Diskretion" hingewiesen und eine "Grundlage des Vertrauens der Gläubigen zur kirchlichen Leitung" erwartet. 4 Als Ergebnis heutiger Forschung muß aber festgehalten werden, daß weder alle Bischöfe untereinander noch einzelne Bischöfe gegenüber einzelnen kirchenpolitischen Unterhändlern dieses Vertrauen berechtigterweise hegen konnten. Die innerkirchlichen Verwerfungen waren oft kurios und von rein persönlicher Abneigung oder besonderem Profilierungsdrang geprägt. Sie blieben den staatlichen Stellen nicht zuletzt durch manchen erzählfreudigen hochrangigen kirchlichen Gesprächspartner auf Dauer nicht verborgen. Im Raum der Kirche waren sie nur einigen Diese Feststellung gilt nicht für das Bistum Dresden-Meißen. So der Berliner Kardinal Alfred Bengsch im Februar 1969 als Antwort auf den Vorwurf mangelnder innerkirchlicher Transparenz: ROO, A li 9. 3

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wenigen kirchenleitenden Geistlichen überhaupt bewußt, aber auch dann oft nicht in ihrem tatsächlichen Ausmaß. Der Kenntnisstand der Staatsorgane zu innerkirchlichen Vorgängen speiste sich jedoch nicht nur aus diesen Kontakten. Vor allem das MfS erhielt durch "operative Technik" (Telefonüberwachung, Abhörvorrichtungen) und konspirative IM aus allen Teilen der DDR über die Jahrzehnte eine exorbitante Fülle von Informationen. Auf den Ebenen des Klerus, kirchlicher Gruppen sowie einzelner Laien konnte das MfS diesen Wissensstand gezielt zu Zersetzungsmaßnahmen nutzen. Hier wurde nicht nur Vertrauen und Solidarität zerstört, sondern auch immer wieder in menschliche Biographien eingegriffen. Ohne die oft bedenkenlos gegebenen Auskünfte von Gesprächspartnern aus den Kirchen und die seiner vielen Helfer aus dem nicht-christlichen Teil der DDR-Gesellschaft hätte das MfS diese Möglichkeiten nicht gehabt, wobei es den Großteil seiner Informationen durch freiwillige Auskünfte ohne vorausgegangenen Erpressungsdruck erhielt. Eine Steuerungsfähigkeit der gesamten katholischen Kirche besaß aber die Staatssicherheit und damit die SED-Führung zu keinem Zeitpunkt der Geschichte in der DDR. Wie wenig sich ein hoher geheimpolizeilicher Informationsstand in Krisensituationen politisch umsetzen läßt, demonstrierte dann der Herbst 1989 nicht nur am Beispiel der katholischen Kirche. Die eingespielten kirchenpolitischen Mechanismen hatten ohnehin schon zwei Jahre zuvor zu versagen begonnen. Die intransigente Haltung der SED-Führung in den achtziger Jahren und die noch mit Stolz öffentlich zur Schau getragene Dialogverweigerung mit den Kirchen in den Jahren 1988 und 1989 konnte durch das MfS in keiner Weise ausgeglichen werden. IV. Katholische Kirche in der DDR Es läßt sich festhalten, daß das katholische kirchliche Leben im totalitären Umfeld der DDR und ihrer kalkulierenden Kirchenpolitik zwei besonders charakteristische, geradezu gegensätzliche und doch immer parallele Spezifika entwickelte: Es produzierte und bewahrte vielerorts Räume menschlicher Freiheiten, die von Personen innerhalb und außerhalb der Kirchen als "Ersatzöffentlichkeit" genutzt und als sehr wertvoll empfunden wurden, um das Leben in der monotonen sozialistischen Gesellschaft zu bewältigen. Um als Kirche zu einem solchen Freiraum zu werden, waren der innerkirchliche Aufbruch nach dem II. Vatikanischen Konzil sowie die Diskussionen in Studentengemeinden, Akademikerkreisen und während der Synoden in Dresden besonders förderlich. Dieser Freiraum wurde wie selbstverständlich beansprucht und behauptet, nicht jedoch erst durch die Gesprächsdiplomatie ermöglicht. Gelegentlich sicherte diese Diplomatie Freiräume auch ab, aber immer nur dann, wenn sich der konkrete kirchliche Unterhändler auch dafür einsetzen wollte. Im Unterschied zum Freiheits- und Menschenrechtsverständnis mancher leitender kirchlicher Amtsträger, das sich auf die Freiheit der Religions-

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ausübung und die Gewissensfreiheit zu einem Leben im katholischen Glauben beschränkte, konnte katholische Bildungs- und Gemeindearbeit sowie kirchliche Gruppendiskussion vielerorts einige der in der DDR verweigerten fundamentalen Menschenrechte zur Sprache bringen, einüben und einfordern. Das Katholikentreffen in Dresden 1987 und die katholische Teilnahme an der "Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" in den Jahren 1988 und 1989 in Dresden und Magdeburg belebten erneut die innerkirchlichen Bedürfnisse nach Diskussion und kritischer öffentlicher Auseinandersetzung mit der sozialistischen Gesellschaft. Gleichzeitig sahen aber auch einige Geistliche, aus theologischen oder persönlichen Motiven, partiell diktatorische Rahmenbedingungen als Möglichkeit zur Bewahrung oder Durchsetzung hierarchischer Praktiken und zentralistischer Interessen im eigenen Binnenraum an. Zudem entstand parallel zur wachsenden Ausreisebewegung in der Kirche auch ein zunehmendes Heimat- und Identitätsgefühl, zwar nicht in Bezug auf die sozialistische DDR, aber doch gegenüber "diesem Land" oder auch "unserem Land". Dem damit gleichzeitig einhergehenden Wunsch nach dem Hinwirken auf Veränderungen wurde von kirchenleitender Seite nur sehr zaghaft entsprochen. Kirchesein in der DDR konnte, ähnlich wie in den anderen Staaten Ost- und Mitteleuropas, auch theologisiert werden: Nach einem Diktum von Kardinal Joachim Meisner hatten die Katholiken in der DDR im Vergleich zu denen des Westens "weniger Gelegenheit zum Sündigen":5 Mauer und innerdeutsche Grenze bewahrten eben aus dieser Perspektive auch weitgehend vor "Permissivität" und konsum-orientiertem "praktischen Materialismus", der zum "Glaubensabfall" führen konnte. In der DDR erhöhte so die strikte Trennung von Staat und Kirche wie die Stigmatisierung von Religion und Glauben ungewollt den Zusammenhalt und damit die Überlebensfähigkeit eines kleinen, aber stabilen katholischen Milieus.

s Vgl. verschiedene Zeitungsinterviews von Kardinal Meisner nach seinem Wechsel von Berlin nach Köln, z. B. im "Rheinischen Merkur" vom 14. Aprill989.

Die Besonderheiten der Bürgerbewegung in Dresden 1989/90 Dargestellt am Beispiel der "Gruppe der 20" Von Karin Urich I. Zum Forschungsstand

Obwohl die Ereignisse des Umbruchs 1989 in der DDR inzwischen relativ gut erforscht sind, ist auf dem Gebiet der Regionalstudien noch einiges zu leisten. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Stadt Dresden, die im Herbst 1989 eine Sonderstellung eingenommen hat. Der Forschungsstand zum Umbruch in Dresden ist bisher außerordentlich dürftig. Die vorliegenden Arbeiten in der Mehrzahl Chroniken oder Selbstzeugnisse von Akteuren. 1 Zudem wurde die Entwicklung in Dresden in verschiedenen Ausstellungen thematisiert. 2 ' Vgl. dazu u. a. Schnauze! Gedächtnisprotokolle 7. und 8. Oktober 1989. Berlin, Leipzig, Dresden. Berlin 1990; Liebsch, Heilce: Dresdner Stundenbuch. Protokolle einer Beteiligten im Herbst 1989. Wuppertal 1991 ; Bahr. Eckhard: 7 Tage im Oktober. Aufbruch in Dresden. Leipzig 1990; Wagner. Herbert: Die Novemberrevolution 1989 in Dresden. Ein Erlebnisbericht. In: Löw, Konrad: Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989. Berlin 1993. S. 9-15; ders. : Gruppe der 20 vertritt Interessen der Dresdner Bürger. In: Bürgerbewegungen für Demokratie in den Kommunen. Berlin/Ost 1990. S. 13-21; Ziemer. Christo/" Man ging einfach nicht den Weg aller mit. In: Richter. Manfred/Zylw, Elsbeth: Mit Pflugscharen gegen Schwerter. Bremen 1991. S. 234.244. ders.: Wachen und Beten für die Stadt. Christen- und Bürgergemeinde arn Beispiel Dresdens. In: Hildebrandt, Jörg/Thomas, Gerhard: Unser Glaube mischt sich ein. Berlin I Ost 1990. S. 100- 110. Kau/fuß, Werner I Schulz, Johannes: Dresdener Lebensläufe. Zeitzeugen berichten vorn Leben und vorn Umbruch im Bezirk Dresden. Schkeuditz 1993. Die Presseberichterstattung der Tageszeitung "DIE UNION", die in Dresden eine besondere Rolle spielte, fassen folgende Dokumentationen zusammen: Kromer. Hans. Dresden. Die friedliche Revolution. Oktober 1989 bis Mai 1990. Böblingen 1990; Masberg. Elke u. a. (Hg.): Wendezeiten. Vorn 09. 10. 1989 ,,Jeder hat in der DDR seinen Platz" bis 24. 03. 1990 "Vierzig Jahre Schlaf, vier Monate Traum und ein böses Erwachen". Bericht, Ausrufe, Stellungnahmen, Offene Briefe aus der DDR-Zeitung DIE UNION. o. 0. 1990. 2 Zu nennen ist hier die Ausstellung des Hauses der Geschichte, Projektgruppe Herbst '89 in Leipzig, deren Katalog erschienen ist unter: Lindner. Bernd (Hg.): Für ein offenes Land mit freien Menschen. Leipzig 1994; oder die Ausstellung des Bundesministeriums für Justiz "Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED", deren gleichnamiger Katalog mit einem Quellen- und einem wissenschaftlichen Begleitband ebenfalls 1994 im Forum-Verlag erschienen sind.

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Die wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema stecken jedoch noch in den Kinderschuhen. Es liegen lediglich einige Diplom- und Magisterarbeiten sowie einige wenige Aufsätze zur Dresdner Thematik vor. Dies wird sich in den Jahren 1999 und 2000, in denen sich die Ereignisse zum zehnten Mal jähren, ändern. Zum Doppeljubiläum sind verschiedene Publikationen in Vorbereitung, unter anderem ein Quellenband zur "Gruppe der 20" unter der Herausgabe von Dr. Michael Richter und Dr. Erich Sobeslavky aus dem HannahArendt-lnstitut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Die folgenden Ausführungen stellen zugleich eine Zwischenbilanz zum Promotionsvorhaben der Autoein über die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90 dar, das ebenfalls am Hannah-Arendt-Institut betreut und im Sommer 2000 abgeschlossen wird. Der Analyse liegt zum einen eine breite Arbeit mit Zeitzeugen und dem bei ihnen zu findenden Material zu Grunde. Zum anderen wurden aber auch die Bestände des Stadtarchivs Dresden, des Bezirksparteiarchives der SED im Sächsischen Hauptstaatsarchiv und der BStU-Außenstelle Dresden ausgewertet.

II. Die Ausschreitungen am Hauptbahnhof am 3. und 4. Oktober Am 6. Oktober 1989 um drei Uhr früh berichtete der Radiosender I 00,6: "Die Lage in Ost-Berlin und der DDR spitzt sich immer weiter zu. Gestern Abend (05. 10. 89) kam es zu schweren Ausschreitungen in Dresden. Vor dem Bahnhof der Innenstadt hatten sich mehrere hundert DDR-Bewohner versammelt. Aus Dresden Christoph Lemmer: Die Polizei ging teilweise mit massiven Schlagstockeinsätzen gegen die Jugendlichen vor. Soldaten hatten den Leninplatz abgeriegelt, verhielten sich aber ansonsten eher zurückhaltend. Zivile Greiftrupps des Staatssicherheitsdienstes stürmten immer wieder in Gruppen herumstehender Jugendlicher und nahmen willkürlich Menschen fest. Die meisten, die gestern unterwegs waren, hatten sich bereits am Vorabend (04. 10. 89) vor dem Bahnhof versammelt. Augenzeugen bestätigen Meldungen von schweren Zusammenstößen in der Nacht zum Mittwoch. Weit über 10000 Menschen seien zusammengekommen. Dutzende seien nach Schlagstockeinsätzen blutend, teilweise schwer verletzt, im Krankenwagen abtransportiert worden. Ein junger Mann sei ums Leben gekommen. Ein anderer, der sich mit anderen Ausreisewilligen auf die Eisenbahnschienen gelegt habe, sei von einem Zug überrollt worden, wobei ihm beide Beine abgetrennt wurden. Augenzeugen berichteten übereinstimmend, daß auch in der Nacht zum Mittwoch Armee-Einheiten eingesetzt waren. Zudem sollen hinter dem Bahnhof und in umliegenden Seitenstraßen sowjetische Soldaten postiert gewesen sein, ohne aktiv einzugreifen. Sprechchöre richteten sich vor allem gegen die eingesetzten Vopos wie ,,Nazis raus" oder "China ist hier". Nach den ersten Schlagstockeinsätzen antworteten die Demonstranten in Dresden mit Steinwürfen und steckten Polizeiautos in Brand. In der vergangeneo Nacht drohten einige lautstark "Heute brennt die Luft in Dresden", andere mahnten dagegen zur Besonnenheit." 3

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Tote hatte es entgegen dieser Radiomeldung in der Zeit vom 3. bis 5. Oktober 1989 in Dresden nicht gegeben. Doch der Hauptbahnhof wurde in diesen Tagen zum Brennpunkt der Ausreiseproblematik, die sich seit der Massenflucht über Ungarn und den Botschaftsbesetzungen in Prag, Warschau und Ost-Berlin dramatisch verschärft hatte. Honecker selbst stellte am 29. September 1989 das Politbüro vor vollendete Tatsachen und unterrichtete es darüber, daß die Züge mit den aus der Prager Botschaft kommenden Flüchtlingen über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik fahren und dabei den Dresdner Bahnhof passieren sollten. Begründet wurde das mit der Notwendigkeit, gewisse Formalitäten wie das Einsammeln der Pässe auf dem Territorium der DDR erledigen zu müssen.4 Die ersten sechs Züge fuhren in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober 1989 in die Bundesrepublik. In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1989 wurden drei weitere Züge erwartet. Der Dresdner Hauptbahnhof stellte auf der Route einen besonders sensiblen Punkt dar, da er aufgrund der baulichen Gegebenheiten nur langsam passiert werden konnte. So bot sich den Menschen die Gelegenheit, auf die Züge aufzuspringen. Verschärft wurde die Situation dadurch, daß zum 3. Oktober 1989 der visafreie Verkehr in die CSSR ausgesetzt wurde und somit unmittelbar vor den Herbstferien die letzte Reisemöglichkeit für DDR-Bürger verbaut war. 5 Die Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs ging mit der Anordnung der Staatssicherheit einher, alle "Personen, die kein konkretes Reiseziel angeben, insbesondere Jungerwachsene, Ehepaare mit schulpflichtigen Kinder und Ehepaare mit Kleinstkindern" am Bahnhof Bad Schandau auszusetzen, dort ihre Personalien aufzunehmen und sie in Sonderzügen und Bussen nach Dresden zurückzuschicken. 6 Sie trafen am Dresdner Hauptbahnhof auf Ausreisewillige aus der ganzen DDR, die auf die Züge aufspringen wollten. Die Stimmung wurde immer gereizter, weil die Züge auf sich warten ließen. Mit der Zahl der Menschen stieg auch die Zahl der Polizisten am Bahnhof. Am späten Abend des 4. Oktober begannen die Polizeikräfte, den Bahnhof zu räumen. Dabei kam es zu den in der obigen Rundfunk3 Fernschreiben des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung an das MfS Berlin, ZAIG /1, Leiter des Bereichs 1, Taube, Oberst,. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. l. Stellvertreter des Leiters. Band I : 216 f. 4 Protokoll der Sitzung des Politbüros vom 29. 9.1989. SAPMO BArch SED, ZK, J IV 2/ 2A, 3243. Vgl. dazu außerdem Schabowski, Günter: Das Politbüro: 69 und ders.: Der Absturz: 234 ff. s Meldung der Nachrichtenagentur ADN vom 3. Oktober 1989. Zitiert nach: Bahr; Eckhard: Sieben Tage im Oktober. Aufbruch in Dresden.Leipzig 1990. 6 Notiz von Oberst Anders zu einer Beratung mit Oberstleutnant Höhnisch, dem Leiter der Abteilung VI, seinem Stellvertreter Oberstleutnant Blankenhorn, Major Reutler, dem Referatsleiter Fahndung in der Abteilung VI, Oberstleutnant Schreiber, dem Leiter der PKE Bad Schandau, Oberstleutnant Schicrack als stellvertretender Leiter der BKG, Major Steidel als Stellvertreter der Abteilung VII und der Offizier für Grenzfragen der Abteilung VII vom 3. Oktober 1989. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 178 f.

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meldung erwähnten Ausschreitungen und Übergriffen? Die Situation eskalierte soweit, daß der SED-Bezirkssekretär Modrow auf Vorschlag des Leiters der MfSBezirksverwaltung Generalmajor Böhm8 zur Unterstützung 420 Mann der NVA und 320 der Kampfgruppen zur Unterstützung an. 9 Die Züge fuhren gegen 0.30 Uhr früh unbemerkt über ein Nebengleis in Richtung Bundesrepublik. 10 Auch in den folgenden Tagen sammelten sich Schaulustige und betroffene Dresdner Bürger am Hauptbahnhof, um sich ein Bild davon zu machen, was dort passiert war. Die Polizeikräfte waren angewiesen, rücksichtslos gegen jede Art von Versammlung vorzugehen.'' Die große Zahl der Inhaftierten ("Zugeführten") seit dem 3. Oktober sprengte die Kapazitäten der Volkspolizei, die die Aufgabe hatte, in sogenannten Zentralen Zuführungspunkten die Personalien aiier Verhafteten aufzunehmen und zu prüfen, ob eine Straftat vorliegt. Am 7. Oktober vermerkte Oberst Anders, der Stellvertreter des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung: "Auf Grund der Überlastung des Filtrierpunktes 8. VP-Bereitschaft wurde nach Abstimmung mit dem Leiter Strafvonzug des Mdi, Genossen Generalmajor Lustig, entschieden, daß weitere Zuführungen in der Haftanstalt Bautzen eingeliefert und vernehmungsmäßig bearbeitet werden. Es ist vorgesehen, die Zuführungen aus dem Stadtgebiet zur 8. VP-Bereitschaft zu bringen, dort zu erfassen und die körperliche Durchsuchung vorzunehmen und sie anschließend sofort mit einem Großmannschaftstransportwagen nach Bautzen zu transportieren." 12 Mit dieser Entscheidung waren die chaotischen Verhältnisse für die Inhaftierten vorprogrammiert. Zunächst wurden sie in den völlig überfüllten Zentralen Zuführungspunkt in der Dr. KurtFischer-Allee gebracht, wo sie Stunden zubrachten bis zur Aufnahme der Personalien. Dann wurden sie weitertransportiert nach Bautzen, wo die Kapazitäten ebenfalls ausgereizt waren. Hygienische Bedingungen sowie regelmäßige Malzeiten waren unter diesen Voraussetzungen kaum zu gewährleisten. Die Angehörigen der Inhaftierten wurden nicht informiert, so daß sie teilweise tagelang nicht wußten, wo ihre Eltern oder Kinder sich aufhielten. Darum wurde von der Kirche eine 7 Vgl. hierzu Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden an das MfS Berlin, Mielke, Mittig, Neiber, lrmler, Niebling, Sommer, (Dresden, 5. Oktober) BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band 1: 4-8. 8 Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden an das MfS Berlin, Mielke •. (Dresden, 5. Oktober) BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 8. 9 Vgl. auch Telegramm der BDVP an das Md!, . 05. 10. 89. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band 1: 215. w Vgl. Fernschreiben des Chefs der BDVP, Nyffenegger an den Minister des Inneren und Chef der DVP, Dickel. vom 05. 10. 89. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band 1:221. II MfS, ZAIG, B-217: Hinweise zur Aktion .Jubiläum 40", Berlin, 3. 10. 1989. In: Mitter, Armin/Wolle, Stefan (Hg.): .,Ich liebe euch doch alle ..." Befehle und Lageberichte des MfS. Januar- November 1989. Berlin 19903: 187 - 189. 12 Aktenvermerk I. Stellvertreter des Leiters der MfS-Bezirksverwaltung. (Dresden, 7. Oktober 1989). BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 24.

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Anlaufstelle eingerichtet, wo man seine Angehörigen melden konnte. Später wurden dort auch Erinnerungsberichte über die Übergriffe gesammelt, die dann bei der Untersuchung der Ereignisse am Hauptbahnhof eine wichtige Rolle spielten. 13 Am Abend des 7. Oktober hatten sich wiederum rund 3000 Menschen vor dem Hauptbahnhof versammelt. Die Polizei riegelte das Gelände ab. Doch diesmal formierte sich spontan ein Demonstrationszug. Die Menschen liefen los, erste Sprechchöre erklangen wie "Wir bleiben hier" und "Keine Gewalt". Damit grenzten sich die Demonstrierenden klar von den Ereignissen der letzten Tage ab. 14 111. Die Entstehung der "Gruppe der 20" Am Abend des 8. Oktober kam es im Anschluß an eine Demonstration wieder zu einer Einkesselung auf der Prager Straße. Im Kessel saßen die beiden Kapläne Frank Richter und Andreas Leuschner, die die Gelegenheit ergriffen, um mit den Polizeikräften ins Gespräch zu kommen. Sie wollten einen Weg finden, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen und baten deshalb um ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister der Stadt Dresden. 15 Zeitgleich verhandelten im Rathaus Ziemer, der Superintendent der Kreuzkirche, Bischof Hempel und Oberlandeskirchenrat Fritz mit Berghofer, um eine friedliche Auflösung der Demonstration auf der Prager Straße zu erreichen. Deshalb schickte er Christof Ziemer in seinem Dienstwagen auf die Prager Straße, um seine Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Als Ziemer auf der Prager Straße eintraf, um die Nachricht zu überbringen, hatte sich dort bereits eine Gruppe von 20 zufällig aus der Menge herausgetretenen Demonstranten gebildet, die die Forderungen der anderen für ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister sammelte. 16 Dieses Gespräch fand am nächsten Morgen im Rathaus statt. Damit war Dresden die erste Stadt in der DDR, wo das Volk mit der Staatsführung in Dialog getreten war. 13 MfS Bezirksverwaltung Dresden: Information über die Informationsveranstaltungen in den Dresdner Kirchen Kreuzkirche, Christuskirche, Versöhnungskirche und Kathedrale am 9. 10. 89. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band 1: 120f. Vgl. auch Ref. 6, 41 , 43, 40, 42: Beobachtungsbericht Versöhnungskirche. Vom 9. 10. 89 BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 167 f. 14 Lagebericht Nyffeneggers an das Mdl Berlin vom 8. 10. 89. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band 1: 90 - 92. Vgl. dazu auch die Beobachtungen von Andreas Horn in: Bahr, Eckhard 1990: 91,96-98. 1s Vgl. auch Bahr, Eckhard 1990: 125. Lagebericht des Chefs der BDVP, Nyffenegger, an das Mdl Berlin vom 8. 10. 89, BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 87. 16 Aktennotiz des Stellvertreter Inneres des Oberbürgermeisters, Jörke vom 8. 10. 89. SächHsta Dresden. BPA SED. Sekretariat I. Sekretär des Bezirks. Einschätzungen Lage und Ereignisse Okt. 1989. Signatur 13218.

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IV. Entscheidungsprozesse auf staatlicher Ebene Strittig ist, ob am Abend des 8. Oktober Wolfgang Berghofer allein entschieden hat, daß er sich auf ein Gespräch mit der "Gruppe der" 20 einläßt, oder ob Modrow direkt eingeschaltet wurde. Jörke, der Stellvertreter Inneres im Rathaus, unterstellte in seiner Aktennotiz einen direkten Kontakt zwischen Modrow und Berghofer.17 Auch Willi Nyffenegger, der Chef der BDVP, betonte in seinem Lagebericht an das Mdl in Berlin, daß die Entscheidung, in das Gespräch einzutreten, "in Konsultation und mit Zustimmung der zuständigen Bezirksorgane" erfolgte. 18 Aus den Telefonaten, die in der MfS-Bezirksverwaltung eingingen, stellt sich der Abend folgendennaßen dar: Um 21.05 Uhr erging eine Anfrage an den Chef BDVP, wer entschieden hat, "daß ein Mann der Kirche mit Megaphon der DVP zu den Versammelten sprechen konnte". Um 21.39 Uhr berichtete Neiber:" Genosse Modrow befindet sich im Dienstzimmer des Chefs der BDVP. DVP hat Ansammlung 3 x mittels Lautsprecher zum Verlassen der Prager Str. aufgefordert, keine Reaktion. 20 Personen aus der Ansammlung, darunter 2 katholische Kapläne begaben sich zum Einsatzleiter der VP OSL Prager und forderten ein Gespräch am nächsten Tag beim OB, dann werden sie dafür sorgen, daß die Ansammlung sich auflöst. Einsatzleiter VP hat Vorgesetzten (BDVP) informiert. 1. Sekretär SED-BL hat entschieden, OB soll auf Forderung eingehen." Um 22.01 Uhr wurde Modrow der Ablauf im Detail geschildert. Um 22.10 Uhr vermeldet Neiber: "Geno. Modrow habe diese diese Entscheidung politisch so getroffen und trage die Verantwortung [ . .. ]Op. Nachsicherung wird organisiert." 19 Sowohl Modrow, der von sich sagt, er sei in der Oper gewesen, als auch Berghofer bestreiten, miteinander telefoniert zu haben. Ein Kontakt fand erst in der späten Nacht statt, als sich die Versammlung in der Prager Straße bereits aufgelöst hatte.2° In den Tagen vom 3. bis zum 8. Oktober 1989 kristallisierte sich die Bildung zweier Lager heraus: Auf der einen Seite stand die Staatssicherheit mit Generalmajor Böhm an der Spitze, die einen harten Kurs gegen die Demonstranten und Ausreisewilligen fahren wollte und deshalb massive Kritik an der Vorgehensweise der Volkspolizei übte, die in ihren Augen nicht konsequent genug gegen die Demonstranten vorgegangen war. 21 Auf der anderen Seite stand Modrow als l . Sekre17 Aktennotiz des Stellvertreter Inneres des Oberbürgermeisters, Jörke vom 8. 10. 89. SächHsta Dresden. BPA SED. Sekretariat I. Sekretär des Bezirks. Einschätzungen Lage und EreignisseOkt. 1989. Signatur 13218. 18 Lagebericht des Chefs der BDVP, Nyffenegger, an das Mdl Berlin vom 8. 10. 89, BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 88. 19 Zitiert nach Privatbestand Frank Richter im Bestand der Autorin: 8 - I 0. 20 Vgl. die Abschriften des Interviews der Autorin mit Dr. Hans Modrow am 7. September 1996, S. 14f., und mit Wolfgang Berghofer am 8. September 1998, S. 21 f. 21 Vgl. dazu beispielsweise MfS BV Dresden, Abteilung VII: Information zu Stimmungen und Reaktionen der Angehörigen der 8. VPB Dresden im Zusammenhang mit den durchgeführten Ordnungseinsätzen am 04. und 05. 10. 1989 in der Stadt Dresden. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I : 218. Vgl. auch Tagesbericht des

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tär des Bezirks und Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung, der von den Anordnungen aus Berlin überfahren wurde und auf Deeskalation setzte, indem er die Einsätze am Hauptbahnhof und bei den Demonstrationen der folgenden Tage in den Händen der Volkspolizei ließ und nicht dem MfS übertrug. Dadurch kam es zu Rivalitäten zwischen Volkspolizei und Staatssicherheit. Im Rathaus kristallisierten sich im Bezug auf die "Gruppe der 20" ebenfalls Rivalitäten dieser Art heraus zwischen Berghofer, der den Dialog zuließ und seinem Stellvertreter Inneres, Jörke, der zu den Hardlinern im Rathaus zählte. Die Differenzen zwischen Modrow und Berghofer auf der einen Seite und der Berliner Parteiführung auf der anderen Seite wurden ebenfalls deutlich an der Frage der Freilassung der Inhaftierten. Aus dem Innenministerium kam die klare Weisung, alle diejenigen zu verurteilen, die an ,,Zusammenrottungen" beteiligt gewesen waren. Diese Entscheidung war mit Mielke abgestimmt, stand jedoch im Gegensatz zum Versprechen der Dresdner, alle freizulassen, die nicht an den Ausschreitungen beteiligt waren. 22

V. Selbstverständnis und Legitimation der "Gruppe der 20" Die "Gruppe der 20", wie sich die Gesprächsgruppe später nannte, sah sich nicht als Oppositionsgruppe, sondern als Vermittler zwischen der Dresdner Bevölkerung und der staatlichen Führung.23 Dieser Rolle wollte sie nur so lange gerecht werden, bis freie Wahlen für die Stadtverordnetenversammlung abgehalten worden seien. Legitimiert sah sie sich durch die zufällige Zusammensetzung. Die beiden Kapläne hatten bei der Auswahl der Mitglieder auf einen Querschnitt im Bezug auf Alter, Geschlecht und Beruf geachtet. Richter und Leuschner bewiesen bei ihrer Auswahl auch in anderer Hinsicht ein glückliches Händchen, denn sie nahmen keinen Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit mit auf. Umso heftiger waren dafür im Nachhinein die Bemühungen der Staatssicherheit, Mitarbeiter und Informalen in die Gruppe einzuschleusen und Einfluß auf die Mitglieder der "Gruppe der 20" zu nehmen?4 Leiters der MfS-BV Dresden zur Aktion ,,Jubiläum 40" vom 6. 10. 1989. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. I. Stellvertreter des Leiters. Band I: 27 f. 22 Bericht über die durchgeführte Beratung Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden und BDVP Dresden am 12. 10. 1989, 13.30 bis 15.00 Uhr. Verfaßt von Oberst Anders am 13. Oktober 1989. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. Leiter der BV Nr. 10003-2: 48 f. 23 V gl. hierzu die Erklärung zum Selbstverständnis der Gruppe aus der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober im Privatbestand Brandes im Bestand der Autorin: 1 f. Vgl. dazu auch die Presseerklärung der Gruppe der 20 vom 15. 10. 89, in der die wesentlichen Bestandteile dieser Erklärung aufgegriffen werden (Bst. Brandes: 7). 24 Vgl. hierzu Information über die personelle Zusammensetzung der Personengruppe, die sich zum .,Sprecher" der Teilnehmer an der Zusammenrottung des 8. I 0. 1989 machten. Dresden, 10. 10. 89. BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden Abt. XX- 9195: 168-172 und Bezirksverwaltung für Staatssicherheit. Abteilung XX. Lagegruppe: Übersicht über den Stand

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Ganz bewußt wollte man nicht als kirchliche Gruppe auftreten, um den öffentlichen Charakter des entstandenen Gesprächs zu dokumentieren. 25 Dies war wichtig für die Durchsetzung der später wöchentlich stattfindenden Demonstrationen und Kundgebungen. Eine öffentliche Anerkennung der Gruppe war außerdem Voraussetzung dafür, Arbeitsräume und einen Telefonanschluß zu bekommen. Anfangs versuchte Oberbürgermeister Berghofer, die Gruppe unter das Dach der Kirche abzudrängen, wobei er hier auch klare Vorgaben von Hans Mordow hatte, die Gruppe nicht öffentlich anzuerkennen. 26 Er gestattete keine öffentlichen Informationen über die Rathausgespräche, sondern verlangte, daß diese weiterhin in den Kirchen stattfinden. Dagegen wehrte sich die "Gruppe der 20". An dieser Frage drohte der Dialog während des zweiten Rathausgesprächs zu scheitern. An diesem 16. Oktober lenkte die "Gruppe der 20" noch einmal ein, betrieb aber weiter mit Nachdruck ihre Anerkennung.27 Dies gelang schließlich durch die I-Mark-Aktion, die Friedrich Boltz zunächst gegen den Widerstand der "Gruppe der 20" ins Leben rief. Bei dieser Aktion ging es darum, daß jeder Dresdener, der die Gruppe als Sprecher anerkannte, eine Mark auf ein Postscheckkonto einzahlte. Damit umging man einerseits das Verbot, Unterschriften zu sammeln. Andererseits hatte man ein Startkapital für die politische Arbeit zusammen. Innerhalb kürzester Zeit gingen 100 000 Mark auf dem Konto ein. Nach Auflösung der Gruppe wurde das verbleibende Geld einem Altersheim gestiftet. 28 Mit der Anerkennung als Interessenvertretung der Dresdner Bürger gelang der "Gruppe der 20" der Sprung aus dem kirchlichen in den öffentlichen Raum. Wurde über die ersten beiden Rathausgespräche nur in den Kirchen informiert, so durfte am 6. November I 989 die erste genehmigte Montagsdemonstration stattfinden, die der inoffiziellen Durchdringung erkannter oppositioneller Gruppierungen (Dresden, den 26. 10. 89) BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. Abt. XX-9180: 159. 2~ Vgl. dazu die Abschriften des Interviews der Autorin mit Frank Richter, geführt am 18. August 1994: II, 13. Vgl. dazu auch Christo/Ziemer in Rein, Gerhard (Hg.) Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen neuen Sozialismus. Berlin 1989: 193. 26 Das Redekonzept, das Modrow flir das erste Rathausgespräch ausarbeiten ließ, findet sich in den Unterlagen der Staatssicherheit (BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. Leiter der BV Nr. 10003-3: 107 -109). 27 Zum Verlauf des 2. Rathausgesprächs vgt. Abteilung Parteiorgane. Sektor Paneinformation. Fernschreiben an das ZK der SED, Abteilung Parteiorgane. Sektor Parteiinformation (Dresden, 17. 10. 89)Aktuelle Information über die internationale Lage und das Stimmungsbild im Bezirk am 16. 10. 89. SächHsta Dresden. BPA SED. Sekretariat I. Sekretär des Bezirks. Einschätzungen Lage und Ereignisse Okt. 1989. Signatur 13218. Vgl. auch Lagemeldung im Verantwortungsbereich des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden an den 1. Sekretär der Bezirksleitung, Genosse Modrow vom 16. 10. 89. Rat des Bezirks, Abteilung Sicherheitsfragen: Oktobertage 1989. (Zeitraum Oktober I November 1989). SächHsta Dresden BPA SED. A 13156. 28 Zur I-Mark-Aktion vgl. Abschrift des Interviews der Autorin mit Friedrich Boltz am 15. August 1994: 6f., 10. Vgl. auch den Abschlußbericht des Thaysen-Projekts "Demokratiefindung in der DDR" im Privatbestand Herben Wagner im Bestand der Autorin: 3.

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zunächst die Stadt und die "Gruppe der 20" veranstalteten. Da diese jedoch wie die nachfolgende Kundgebung massiv durch die Staatssicherheit gestört wurde29, übernahm dann die Bürgerbewegung die Organisation in eigener Regie. 30 Unter Federführung von Neuern Forum und "Gruppe der 20" wurden die Demonstrationen in einem Koordinierungsausschuß, in dem die neuen Gruppierungen vertreten waren, vorbereitet. 31

VI. Arbeitsformen innerhalb der "Gruppe der 20" Die Forderungen, die die Gruppe im ersten Rathausgespräch vertrat, waren per Zuruf gesammelt worden und bildeten neben dem Wunsch nach Beendigung der Gewalt das Programm der ersten Stunde. Hier wurden die sachliche Darstellung der Ereignisse am Hauptbahnhof, die Klärung der Probleme mit den Inhaftierten, die objektive Berichterstattung in den Medien, die Zulassung des Neuen Forums, Reisefreiheit, freie Wahlen, die Einführung eines Zivildienstes für Wehrdienstverweigerer, Demonstrationsfreiheit und die Fortsetzung des gewaltfreien Dialogs gefordert. 32 Viele dieser Forderungen hatten sehr allgemeinen Charakter, so daß sie in der Folgezeit präzisiert werden mußten und kommunalpolitischen Zuschnitt erhielten. Die Vielzahl der anstehenden Themen konnte nicht mehr allein durch die "Gruppe der 20" bearbeitet werden, so daß man sich Berater in die Gruppe holte. 33 Im zweiten Rathausgespräch wurde die Bildung von Arbeitsgruppen beschlossen, die paritätisch mit neuen Kräften und Vertretern der Stadtverwaltung besetzt wurden. 34 Dieses strenge Profil löste sich jedoch im Laufe der Arbeit auf. Die Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit Wirtschaftsentwicklung, Tourismus und Reisen, Umweltschutz, Bürgerverantwortung, Medien und Kultur, Bildung und Erziehung, Gesundheit, Sozialer Fürsorge, Rehabilitation und Stadtentwicklung. Hier wurden wichtige Grundlagen für die Kommunalpolitik nach 1989 gelegt. 35 Den kommunalpolitischen Horizont sprengte die Arbeitsgruppe Verfassung, die Vgl. Hinweise des IMS Lindner, BStU Ast Dresden Xll682179, 2047/91 , Bd.II 445 f. UNION vom 10. 11. 89: Erklärung der "Gruppe der 20". 31 Vgl. dazu: Flach, Helmut: Die Gruppe der 20 oder: Der Dresdner Weg. Eine Chronologie. März 1994: 17. Vgl. auch Abschrift des Interviews der Autorin mit Dieter Reinfried, geführt am 17. August 1994: 3, 9, 11. 32 Vgl. Bahr, Echkhard 1990: 142. 33 Vgl. die Hinweise des IMS Lindner. BStU Ast Dresden XII 682179, 2047/91, Bd.II: 366, 369 und die Aussagen von Dieter Brandes (lnt. Brandes: 41) und Steifen Heitmann (Interview mit der Autorin vom 11 . August 1994: l - 3). 34 Abschrift zum Gespräch am 16. 10. 1989. BStU Ast Dresden MfS BV Dresden Abt. XX -9195: 123 f. Vgl. auch Beschluß der Stadtverordnetenversammlung Dresden zur Bildung zeitweiliger Arbeitsgruppen der Stadtverordnetenversammlung für die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Weiterentwicklung und Erneuerung des Sozialismus. In: Stadtarchiv Dresden. Unterlagen zur 3. SVV, 26. 10. 1989. Mappe 153. 3S Zur Arbeit in den Arbeitsgruppen vgl. die dort entstandenen Papiere, gesammelt im Bst.Wagner: 81 - 166. 29

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sich bereits im November mit der Wiedereinführung der Länder und einer Verfassung für Sachsen beschäftigte. Die Mitglieder der Untergruppe Verfassungsrecht kamen im Laufe ihrer Arbeit immer mehr zu dem Eindruck, daß eine Neufassung der DDR-Verfassung nicht mehr nötig sein würde. Für die Gruppenmitglieder zeichnete sich die Deutsche Einheit ab, auch wenn sie nicht so schnell erwartet wurde. Das Grundgesetz erschien ihnen auch für ein vereinigtes Deutschland als geeignet. 36 So beschäftigte man sich schließlich mit einem Entwurf für eine sächsische Landesverfassung. Anfang des Jahres 1990 begannen die Vorbereitungen des Rates des Bezirkes, rasch einen Vorschlag in die Diskussion zu bringen. Daran waren jedoch viele ehemalige SED-Mitglieder beteiligt, die einen Entwurf in ihrem Sinn ausgearbeitet hatten und diesen als ersten präsentieren wollten. Ihnen kam Amold Vaatz aus der Zeitweiligen Arbeitsgruppe Recht zuvor, der vor dem Hintergrund der Arbeit in der Gruppe innerhalb von zwei Nächten einen Verfassungsentwurf auf die Beine stellte, der im Namen der "Gruppe der 20" Ende März in der UNION veröffentlicht wurde. 37 Daraufhin wurde die Veranstaltung des Rates des Bezirkes abgesagt und die Verfassungsdiskussion verlagerte sich in Richtung der neuen politischen Kräfte? 8 Der von Amold Vaatz vorgestellte Entwurf basiert vor allem auf dem Grundgesetz und den Verfassungen von BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen. Mitglieder der ZAG Recht und Verfassung arbeiteten auch in einer paritätisch besetzten Arbeitsgruppe zwischen Sachsen und Baden-Württemberg mit, die sich ebenfalls mit einer sächsischen Verfassung beschäftigte. In diesem Kreis entstand der Gohrischer Entwurf, mit dem der Grundstein für die heutige Verfassung Sachsens gelegt wurde.39 Eine noch engere Anhindung an die Stadtverordnetenversammlung gelang durch die Einrichtung einer Basisdemokratischen Fraktion, die im vierten Rathausgespräch vereinbart wurde.40 Durch sie waren die neuen Parteien und Gruppierungen mit 30 Abgeordneten in der Stadtverordnetenversammlung vertreten, die Sitzund Rederecht bekamen. Auf das Stimmrecht wurde bewußt verzichtet, weil man sich nicht als voll demokratisch legitimiert ansah. 41 Die Basisdemokratische Frak36 Vgl. UNION vom 23. 3. 90 ,,Zur Verfassungsdiskussion im Rahmen des deutschen Einigungsprozeßes". 37 Der Textentwurf vom 13. März 1990, der den Mitgliedern der Gruppe der 20 zuging, befindet sich im Privatbestand Klaus-Dieter Scholz im Bestand der Autorin: 28-49. Der veröffentlichte Text findet sich in der UNION vom 29.3 und 30. 3. 1990. 38 V gl. dazu die Abschrift des Interviews der Autorio mit Dr. Walter Siegemund, geführt am 22. August 1994: Sf. und lnt. Heitmann: 8- 10. 39 V gl. hierzu den Abschlußbericht der Arbeitsgruppe Recht und Verfassung im Privatbestand Heilmann im Bestand der Autorin: 16 - 24 sowie die Einführung zur ,.Verfassung des Freistaates Sachsen" im Nomos Verlag 1993: 6-12. 40 Der Entwurf des Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung zur Bildung der Fraktion befindet sich im Bst. Wagner: 60 f. Vgl. außerdem UNION vom 21. 11. 89: ,,Fair im Umgang, hart in der Sache". 41 Vgl. hierzu Beschluß 63/90 Antrag der CDU bei SSV am 5. 2 auf Stimmrecht der Basis-demokratischen Fraktion (Stadtarchiv Dresden, 6. Tagung der SSV am 25. 1. 90,

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tion ersetzte in Dresden den Runden Tisch. Durch sie hatte man auf der parlamentarischen Ebene ein Mitspracherecht, während die Runden Tische auf der exekutiven Ebene, also der der Regierungen ansetzten. Es wurde ein Wirtschafts und Finanzausschuß gebildet, durch den finanzpolitische Entscheidungen des Oberbürgermeisters bewilligt werden mußten. 42 Die Arbeitsgruppen übernahmen zugleich die Funktion von Ausschüssen, denn sie mußten zu wichtigen Entscheidungen gehört werden und arbeiteten der Stadtverordnetenversammlung zu.43 Damit verfügte die Stadt Dresden während des Umbruchs über eine Art Parallelbürokratie, die das Funktionieren der Stadtverwaltung garantierte und dennoch neue demokratische Elemente beinhaltete.

VII. Die Bedeutung der Gruppe für die Bürgerbewegung insgesamt Dresden erlebte mit der Entstehung der "Gruppe der 20", in der sich wirkliche Laien auf dem politischen Parkett befanden, eine Besonderheit gegenüber anderen Städten in der DDR, wo sich die Bürgerbewegung hauptsächlich aus dem Potential kirchlicher Oppositionsgruppen speiste. Die Mitglieder der Bürgerbewegung in Dresden wurden durch die Gründung der "Gruppe der 20" überrascht. Auch aus den Berichten der Staatssicherheit geht hervor, daß die Mitglieder sich nicht kannten und zuvor keine Verbindung zu den kirchlichen Basisgruppen beziehungsweise dem Neuen Forum hatten. Jedoch bemühten sich diese Kreise sofort nach der Gründung, als Berater in Erscheinung zu treten und eine "zweite Reihe" hinter der "Gruppe der 20" aufzubauen.44 Auch in Dresden waren im Neuen Forum, der mit Abstand stärksten Bewegung des Herbstes, dem Demokratischen Aufbruch und der SDP Menschen aktiv, die bereits zuvor in kirchlichen Oppositionsgruppen waren. Qualitative Unterschiede zur Bewegung vor dem Herbst 1989 waren hier das Nachlassen der Angst vor Repression, das Heraustreten der Opposition aus dem Schutz der Kirche und das Verallgemeinem des zentralen Ziels der Demokratisierung der GesellMappe 157.) Maria Jacobi brachte dazu einen Antrag in der Fraktionssitzung ein, das Stimmrecht annehmen, wenn es zu einer grundlegenden Umgestaltung der Stadtverordnetenversammlung käme. Dazu schlägt sie die Einsetzung einer geschäftsführenden Versammlung vor, in der 80 Mitglieder, zur Hälfte aus den Blockparteien, zur Hälfte aus den Oppositionsgruppen, bis zu Neuwahlen die Arbeit weiterführen sollen. (Privatbestand Sobeslavsky im Bestand der Autorin: 42) Dr. Herbert Wagner griff diesen Vorschlag in einer Beschlußvorlage am 16. 2. 90 auf (Bst. Scholz: 27) Dieser Vorschlag scheiterte am Widerstand der Tagesleitung (vgl. Diskussionsbeitrag zur letzten Stadtverordnetenversammlung im Privatbestand. Ulbricht-Förtsch im Bestand der Autorin). 42 Beschluß 66/90 der SVV, Stadtarchiv Dresden, Mappe 163 (Beschlüsse der 6. Tagung der SVV 25.1./5.2. 1990). 43 Vgl. den Änderungsantrag der Fraktion bezüglich der Informationspflicht der Arbeitsgruppen vom 19. 1. 90 im Privatbestand Klaus Gaber im Bestand der Autorin: 33f. 44 BStU Ast Dresden. MfS BV Dresden. Abt. XX-9180: I.

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schaft. 45 Die drei oben genannten Bewegungen gehören der "ersten Gründungswelle" in Dresden an, die vor allem der Konsens, Gewalt zu beenden und im Land etwas zu ändern. Dies sollten vordergründig nicht die Gruppen bewirken. Sie sahen sich vielmehr als Mittler zwischen Staat und Volk. Die Bürger selbst sollten aktiv werden und die Umgestaltung ihres Landes in die Hand nehmen. In einer zweiten Gründungswelle von November 1989 bis Januar 1990 entstanden dann die Grüne Partei, die Grüne Liga, die DSU und die Dresdner Vereinigte Linke, die sich DDRweit schon im Oktober fonniert hatte. Die Bürgerbewegungen dieser zweiten Phase verstanden sich bereits als kritische Reaktionen auf Entwicklungen innerhalb der schon vorhandenen Bürgerbewegungen. In Dresden machte sich dies fest an einem "Rechtsruck" im Neuen Forum. Wesentliche Protagonisten wie beispielsweise Arno1d Vaatz vertraten hier schon zur Jahreswende Forderungen nach der Einführung der Marktwirtschaft und der Deutschen Einheit und traten schon im Januar 1990 in die CDU ein. Diese Bewegungen hatten bereits klare inhaltliche Vorstellungen und damit auch größere Chancen, sich im Wahlkampf als Parteien zu profilieren.

VIII. Außösung der "Gruppe der 20" im Frühjahr 1990 und Wirkung Mit dem einsetzenden Wahlkampf kam es auch in der "Gruppe der 20" und ihren Gremien zu Differenzen und Auseinandersetzungen, so daß es nur folgerichtig war, sich nach den Wahlen aufzulösen. Streit gab es hier um das Statut der "Gruppe der 20" vom Januar 1990, in dem die Deutsche Einheit und die Marktwirtschaft als Ziele festgeschrieben wurden und das zugleich auch als Grundlage des Statuts der Basisdemokratischen Fraktion diente. 46 Wirbel entstand auch nach den CDU-Beitritten von Vaatz, Wagner und Neubert, da manche Mitglieder in der Parteimitgliedschaft einen Widerspruch sahen zum Auftrag der "Gruppe der 20", als Mittler aufzutreten und eben nicht Partei zu ergreifen. 47 Die "Gruppe der 20" bot besondere Möglichkeiten in der Zeit des Umbruchs, weil man sich auf die Kommune konzentrierte und sich mit konkreten Problemen auseinandersetzte. Andererseits zeigte die heterogene Struktur auch die Grenzen ihrer Möglichkeiten auf. Ein Teil der Mitglieder schloß sich der CDU an, ein ande4S Bruckmeier. Kar/: Die Bürgerbewegungen in der DDR im Herbst 1989. In: In: Haufe, Gerda/ Bruckmeier. Kar/ (Hg.): Die Bürgerbewegung in der DDR und in den ostdeutschen Ländern. Opladen 1993: 35f. 46 Das Statut der Gruppe der 20 vom 24. I. 90 befindet sich im Bst. Brandes: 43 f., das der Basisdemokratischen Fraktion im Privatbestand Sobeslavsky im Bestand der Autorin: I 7 f. 47 Zu den Auseinandersetzungen vgl. Austrittserklärung Dieter Brandes (Bst. Brandes 66), vgl. außerdem die Aufzeichnungen Sobeslavskys von der Fraktionssitzung vom 8. 3. 90. (Bst. Sobeslavsky: 47) sowie den Schriftwechsel zwischen Vaatz und Jacobi und eine nicht veröffentlichte Presseerklärung der Gruppe zu den Übertritten (Bst. Förtsch-Ulbricht: IOf.).

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rer engagierte sich in der durch ein Mitglied initiierten Freien Wählervereinigung, andere gründeten Verbände und Vereine, halfen, die Verwaltung in Stadt und Land mit aufzubauen. Auch heute noch sind viele Akteure des Herbstes 1989 auf diesen Ebenen tätig.48

48 Zum Werdegang der Bürgerbewegten vgl. Verzeichnis der Gesprächspartner und privaten Bestände, in: Karin Urich: Der Umbruch in Dresden (Herbst 1989-Frühjahr 1990). Magisterarbeit, vorgelegt an der Universität Mannheim im Juni 1995: 105-110.

IV. DDR-Frühgeschichte/Herrschaft

SED und Besatzungsmacht Diskussionen um Reparationen und Übergriffe der Besatzungstruppen in den Landesverbänden der SED 1946/47 Von Andreas Malycha

I. Das Image als "Russenpartei" Seit Griindung der SED im April 1946 gab es im Verhältnis zur Besatzungsmacht wesentliche Probleme, die für die Akzeptanz der Einheitspartei in der Bevölkerung wesentlich waren und die deshalb von Sozialdemokraten wie von Kommunisten in der SED gleichermaßen als belastend angesehen wurden. Die enge Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht, die die SED in entscheidende Machtpositionen gebracht hatte, war in der Öffentlichkeit durch Ergebenheit und Kritiklosigkeit gegenüber der sowjetischen Besatzungspraxis gekennzeichnet. Intern betrachtete man das Image als "Russenpartei" durchaus als hinderlich, vor allem im Hinblick auf die Wahlen im Herbst 1946. Auch in Moskau wurde mit Unbehagen gesehen, daß die SED in der sowjetischen Zone als ,,russische Agentur" galt. 1 Die regionalen Führungsgremien der Partei bildeten in der Frühphase jene Foren, in denen ein Großteil der Probleme auf den Tisch kam, die für die örtlichen SED-Funktionäre seit Gründung der Partei immer bedrückender wurden: die druckende Last der Reparationen und die noch immer laufenden Demontagen, die nicht aufhörenden Übergriffe von Angehörigen der sowjetischen Besatzungsarmee gegenüber der deutschen Bevölkerung, die äußerst angespannte soziale Lage der Arbeiter in den Betrieben und der Bevölkerung in der sowjetischen Zone insgesamt und vor allem der Ruf der SED als "Russenpartei", womit das Verhältnis der SED zur Besatzungsmacht im allgemeinen thematisiert wurde? Im Mai und Juni 1946 wurden diese heiklen Themen auf zwei Sitzungen des zentralen Parteivorstandes angesprochen. 3 Die Meinungsäußerungen bezogen sich t Vgl. Bernd Bonwetsch/Geru:ulij Bordjugov/Nornwn Nainwrk (Hrsg.), Sowjetische Politik in der SBZ 1945- 1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (lnformationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjul'panov, Sonn 1998, S. Lff. z Vgl. Norman M. Nainwrk, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. [Aus dem Amerikanischen von Hans-Uirich Seebohm und Hans-Joachim Maass]. Berlin 1997. J Vgl. Harold Hurwitz, Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946-1949, Opladen 1997, S. 44f.

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auch auf die Regelung der Kriegsgefangenenproblematik und den Verbleib der 1945 I 46 Verhafteten. Ebenso artikulierten sich im Parteivorstand Hoffnungen, daß die Einheitspartei dank ihrer privilegierten Stellung in der Lage sein würde, die Besatzungsmacht dahingehend beeinflussen zu können, Heimatvertriebene besser zu behandeln und Deutschlands Interessen bei der Grenzziehung im Osten zu berücksichtigen. Waren Sozialdemokraten und Kommunisten im zentralen Parteivorstand um Zurückhaltung in ihren Äußerungen über die Besatzungsmacht bemüht4 , so gaben sich insbesondere frühere Sozialdemokraten in den Landes- und Kreisvorständen weniger zimperlich, wenn es galt, die Probleme der Demontagen und Vergewaltigungen zu thematisieren. Die Auswirkungen der Demontagen waren 1946 I 47 Gegenstand zahlreicher Erörterungen. Schon während der ersten Sitzung des Provinzialvorstandes der SED Sachsen-Anhalt am 26. April 1946 beklagte das Landessekretariatsmitglied Arno Striebe, vormals SPD, die unnötigen Härten im Zuge der Demontagearbeiten. 5 Das betraf sowohl die überdurchschnittlich schlechten Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung der in der Demontage eingesetzten Arbeiter als auch die willkürliche Auswahl der dafür vorgesehenen Personen. Vormalige Kommunisten konterten in der für die nächsten Jahre typischen Form. Ludwig Einicke, ebenfalls Mitglied des Landessekretariats, erklärte, daß in Bezug auf die Demontage "von uns immer wieder unsere geschichtliche Schuld dargelegt werden" müsse.6 Das Problem der Vergewaltigung deutscher Frauen stellte für die Landesvorstände ein äußerst sensibles Thema dar und belastete die Glaubwürdigkeit der SED als selbst eingesetzte Interessenvertreterio der deutschen Bevölkerung gegenüber der Besatzungsmacht existentiell. Die überlieferten Dokumente über Vergewaltigungen deutscher Frauen sowie über Plünderungen während des Krieges und in der Besatzungszeit danach sind viel zu zahlreich, als daß man sie als isolierte Vorfalle betrachten könnte. Die parteiinternen Berichte über Überfalle, Raub und über Deutsche, die von sowjetischen Soldaten und Offizieren begangenen Gewaltverbrechen zum Opfer fielen, sind zahlreich dokumentiert. Sachsen-Anhalt, insbesondere der Raum in der und um die Stadt Halle sowie Mecklenburg-Vorpommern waren in starkem Maße betroffen. 7 So heißt es in einem KPD-Bericht aus dem 4 Naimark stellt fest, daß im allgemeinen die "kommunistischen Aktivisten dem Vergewaltigungsproblem den Rücken" zuwandten: Naimark, Die Russen in Deutschland, S. 152 f. Die Überlieferungen der ehemaligen Bezirksarchive der SED stehen dieser Feststellung entgegen. In den Aktenbeständen der KPD und später der SED finden sich zahlreiche Berichte über Übergriffe von Sowjetsoldaten, in denen um Hilfe bei übergeordneten Parteieinheiten und Dienststellen der SMA gebeten wurde. s Vgl. Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, VI/L-211/1. 6 Ebenda. 7 Für Sachsen-Anhalt liegen im Landesarchiv Merseburg viele Augenzeugenberichte und andere Aufzeichnungen über die Übergriffe auf die deutsche Bevölkerung vor: Mappe "Berichte über sowjetische Besatzung Januar 1946 bis 1948"; 175 Blatt; SED-BPA Halle, IV I L-2/55/12.

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Kreis Salzwedel vom Januar 1946: "In den letzten vier Wochen machte sich unter der Bevölkerung eine schlechtere Stimmung gegenüber den Besatzungstruppen bemerkbar. Die Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee in der Stadt, vor allem in den Randgebieten, nehmen stark zu. Im Alkoholrausch werden ungeheure Übergriffe begangen. Frauen und junge Mädchen werden vergewaltigt. In den Wohnungen werden Einbrüche verübt und viele Dinge entwendet. Diese Dinge tragen natürlich nicht dazu bei, die Stimmung günstig zu beeinflussen ... Die vielen Verhaftungen tragen auch eine gewisse Unruhe in die Bevölkerung und bestärken sie in ihrer Angst vor der Roten Armee. Das alles wird automatisch auf unsere Partei übertragen. Es wirkt sich auch demgemäß aus. Es hemmt und lähmt unsere Propaganda."8 Örtliche SED-Gruppen versuchten durch Stimmungsberichte an die übergeordneten Leitungen eine Besserung der Zustände zu erreichen, da die Übergriffe speziell in Sachsen-Anhalt im Frühjahr und Sommer 1946 ein Stadium erreicht hatten, in dem kaum mehr politische Arbeit vor Ort möglich war. So übermittelte die SED-Ortsgruppe Radefeld der Arbeitsgebietsleitung Radefeld am 31 . Mai 1946 folgenden Stimmungsbericht "lnfolge verschiedener Vorkommnisse.9 besteht in unserem Arbeitsgebiet eine ungünstige Stimmung zu unserer Partei und zur Besatzungsmacht. All diese untenstehenden Vorfalle machen unsere politische Arbeit von Monaten mit einem Schlag zunichte und entziehen für die kommenden Monate uns das Vertrauen der Bevölkerung und selbst der Parteigenossen." 10 Am 20. Juli 1946 schrieb der Landesvorstand Sachsen-Anhalt an die SMA in Halle: "Der größte Teil der Informationsberichte nehmen noch immer die Übergriffe von Personen in russischer Uniform ein, die zu 90% von der Landbevölkerung kommen ... In der Anlage übermitteln wir Ihnen einige Durchschriften von Berichten über Übergriffe, Diebstähle, Plünderungen und dergl. aus den Kreisen Gardelegen und Wittenberg. Wir bitten zu erwägen, was seitens der sowjetischen Militärbehörden getan werden könnte, um die Übelstände zu beseitigen. Für die Hebung der Wahlstimmung zugunsten der SED sehr bedeutsam!" 11 Im Sommer 1946 wandte sich der sächsische Organisationssekretär Fritz Große mit einem Lagebericht direkt an die sowjetische Führung.'2 Sein "Bericht über die Lage in Sachsen" vom 7. August 1946 liest sich wie ein Versuch, über die Moskauer Zentrale eine Korrektur der Besatzungsherrschaft zu erreichen. Große beobachtete als Kommunist mit wachsender Sorge, daß sich die negative Wahrnehmung der sowjetischen Besatzungspraxis auch in Unmut der Bevölkerung über die SEDs Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, IV /L-2155/12. 9 Konkret war damit Diebstähle und Straßenraub durch Sowjetsoldaten gemeint. 1o Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, IV /L-2155/2 a. II Ebenda, IV /L-2/55/2 b. 12 Das sehr aufschlußreiche Dokument über die innerparteiliche Lage drei Monate nach SED-Gründung ist vollständig abgedruckt in: Ulrich Mählert, ,.Im Interesse unserer Sache würde ich empfehlen ... ". Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946, in: Jahrbuch für Kommunismusforschung, 1996, S. 215-245.

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Politik niederschlug. Die nicht enden wollenden Gewalttätigkeiten von Angehörigen der Besatzungsmacht würden auch auf die SED zurückfallen. Die Lage hätte sich zwar einigermaßen normalisiert, aber: "Was jetzt passiert, kann uns aber viele Jahre Schaden bringen." 13 Der erlebbare Besatzungsalltag könnte zum Russenhaß führen. "Wir haben den maßgebenden Offizieren oft erklärt, es gab und gibt in Deutschland Polenhaß, aber einen Russenhaß hat es in Deutschland nie gegeben." Große berichtete weiter, daß die SED-Funktionäre wiederholt aufgefordert wurden, die Namen der Übeltäter zu nennen, was jedoch niemand könne. Anderseits hätten sich örtliche Parteivertreter bei der Kommandantur verdächtig gemacht. "Es gab Offiziere, die unsere Genossen verdächtigten, sie sammelten Material gegen die Rote Armee, wenn sie jede Woche zum Bericht auf die Kommandantur gingen und alles meldeten ... Unsere Genossen stehen eben auch in vielen Dingen vor den Sowjetischen Militärischen Behörden stramm und möchten nicht unliebsam auffallen, weil sie mit ihnen täglich arbeiten müssen." Der Lagebericht Großes führte anschaulich vor Augen, daß die Etikettierung der SED in der Bevölkerung als "Russenpartei" vor allem auf den konkreten Besatzungserfahrungen fußte. Im Hinblick auf die für September 1946 angesetzten Gemeindewahlen in der sowjetischen Besatzungszone war den örtlichen SED-Leitungen daran gelegen, bei den Kommandanturen und den SMA der Länder darauf hinzuwirken, die allgemeine Sicherheitslage der deutschen Bevölkerung zu verbessern, was sich für die Wahlpropaganda gezielt einsetzen ließe. 14 Doch die Appelle an die Besatzungsmacht blieben weitgehend wirkungslos und in die Vorstände zog Ratlosigkeit ein. Mitunter griffen die örtlichen SED-Gruppen zur Selbsthilfe. Über einen solchen Fall berichtete der Vorsitzende des Leipziger Bezirksvorstandes Stanislaw Trabalski auf einer Vorstandssitzung des sächsischen Landesvorstandes am 19. August 1946: "Wir hatten in Oschatz Schwierigkeiten mit der Roten Armee. Es fand eine Versammlung statt, in der der Kreisvorsitzende sprach. Dort kamen die Rotarmisten in betrunkenem Zustand, sie wollten ein Auto wegnehmen und es kam zu einem Konflikt. Das Auto wegzunehmen wurde vermieden. Die Rotarmisten gingen in die Häuser, traten die Türen ein und schlugen die Leute. Mitten in die Versammlung in Oschatz kamen die Hilferufe. Die Männer bewaffneten sich mit Latten und Stangen und gingen auf die Rotarmisten los. Die Rotarmisten wurden schwer geschlagen, zwei waren kampfunfähig, wurden ins Spritzenhaus geschafft und eingesperrt." 15 Trotz dieser Selbsthilfe-Aktionen wirken sich den Angaben Trabalskis zufolge die in vielen Kreisen des Bezirkes Leipzig vorkommenden "sexualen Morde und Vergewaltigungen" gegen die Partei aus. "Es hieß, wir seien für die Zustände verantwortlich. Wo sich jemand von uns sehen ließ, wurden wir mit diesen Dingen in Zusammenhang gebracht . . . Die Genossen sagten, wir müsl3

SAPMOBArch, DY 3011V 21111129.

•• Vgl. Stefan Creuzberger. Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ. Schriften des Hannah-Arendt-lnstituts für Totalitarismusforschung, Weimar I Köln I Wien 1996. Js Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-BPA Dresden, A/754.

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sen unsere Arbeit einstellen, denn die Bevölkerung nimmt gegen uns Stellung." Ein Vertreter aus dem Kreis Oschatz bestätigte die Wahrnehmungen von Trabalski und fragte sichtlich ratlos: "Warum werden die anderen Parteien nicht ebenfalls verantwortlich gemacht? Wir kennen die Problematik der Masse, sie bewirft diejenigen mit Dreck, die gerade am nächsten sind und wenn es die eigenen Genossen sind." 16 Der Landesvorsitzende Wilhelm Koenen antwortete auf die während der Tagung am 19. August 1946 vorgetragenen Berichte aus den Leipziger Kreisen auf eine Art, die auch in den andern Ländern praktiziert wurde. Koenen verlangte konkrete Details, damit den Dingen nachgegangen werden könne. "Wir sind nicht gewillt, zu schweigen und wurden deshalb auch wieder vorstellig. Die Situation ist sehr schlecht. Alle Einzelheiten müssen in Zukunft klar übermittelt werden, damit es uns nicht so geht, daß, wenn die SMA Nachforschungen treffen will, der Bürgermeister usw. gar nicht mehr zu seinem Material steht . . . Also die Tatsachen konkret und pünktlich, das brauchen wir, um sicher durchgreifen zu können. Helfen kann man nur, indem man die Einzelheiten uns mitteilt, damit die Untersuchung dann konsequent durchgeführt werden kann." 17 An konkretem Material mangelte es indes nicht und Hilfe brachte die Übermittlung von Details nur in ganz wenigen Fällen. Ein Vertreter aus dem Kreis Löbau schilderte den Vorstandsmitgliedern am 19. August, wie erfolglos die bisherigen Klagen bei der Kreiskommandantur gewesen seien. Ja selbst eine vom SED-Kreisvorstand initiierte Frauenkommission wurde zwar vom Kreiskommandanaten angehört, doch leitete dieser lediglich den Vorgang an die jeweilige Ortskommandantur weiter. Das gegenseitige Zuschieben von Zuständigkeiten wirkte sich in diesem Bereich besonders verhängnisvoll aus. In den Vorständen wurde angesichts der nicht mehr leugbaren Vorgänge über den innerparteilichen Umgang mit diesem Problem debattiert. Bruno Böttge vermittelte auf der Landesvorstandstagung am 22. Juni 1946 ein Erklärungsmuster, das aus dem Dilemma zwischen Unterordnungspflicht und selbstbestimmten Handeln herausführen sollte: ,.Das Verhältnis der Besatzung zur Bevölkerung wird stimmungsmäßig eine große Rolle spielen. Übergriffe werden wir nicht vermeiden können, wir müssen uns aber davor hüten, sie zu übertreiben. Wir werden, und darüber sind wir uns mit der SMA vollkommen einig, diese Übergriffe nicht verteidigen, wir werden sie verurteilen. Aber Genossen, wir müssen uns auch davor hüten, sie zu übertreiben ... Derartige Übergriffe werden von der SMA nicht gewünscht, sie werden von ihr schärfstens verurteilt .. . Klar und deutlich haben wir hier herauszustellen, daß - so bedauerlich diese Übergriffe auch sind - sie im Verhältnis zu dem, was wir als Deutsche alles den Sowjets zu danken haben, wirklich verblassen. Wir müssen der Bevölkerung erklären, daß wir den Russen viel zu verdanken haben. Aufbau und Demokratie sind ein Geschenk des sowjetischen Volkes." 18 16

11 18

Ebenda. Ebenda. Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, Vl/L-2/1/1.

16 Timmermann

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Der Verweis auf die sowjetische Prägung des seit 1945 installierten politischen Systems in der sowjetischen Zone eignete sich indes kaum dazu, breite Wahlerschichten für die SED zu mobilisieren. Der ehemalige Sozialdemokrat Carl Moltmann, gemeinsam mit dem Altkommunisten Kurt Bürger an der Spitze des Landesvorstandes Mecklenburg-Vorpommern, erläuterte am 20. September 1946 dem mecklenburgischen Landesvorstand das aus seiner Sicht erwünschte Verhalten während des Wahlkampfes: "Die Frage der Besatzungsmacht muß angeschnitten werden. Mancher umgeht diese Frage, weil er Angst hat, es kommen Dinge zur Sprache, die ihm Schwierigkeiten machen werden. Ich weiß, daß eine Besatzungsmacht uns wirtschaftlich und politisch kontrolliert und daß ich nicht Dinge reden kann, die eine Besatzungsmacht übel nehmen kann. " 19 Da sich auch in Mecklenburg-Vorpommern die Berichte über Überfalle von Angehörigen der Roten Armee häuften und auch in SED-Versammlungen diese Mißstände angeschnitten wurden, arbeitete Maltmann folgende Argumentation für die Außendarstellung der Partei heraus: "Ich stelle immer heraus, daß die SMA unbedingte Sauberkeit und Reinheit ihrer Soldaten will und Übergriffe strengstens bestraft. Es ist doch aber so, daß bei uns im eigenen Volk noch so viel schlechte Menschen sind und all das, was durch unsere eigenen Leute passiert - teils in russischer Uniform - bekommt die Besatzungsmacht aufgehalst. Man muß den Leuten klar machen, daß oftmals ganz üble Elemente von uns dahinter stecken." Die Äußerungen Maltmanns machen den Erklärungsnotstand der SEDFunktionäre deutlich, vor dem sie in der Öffentlichkeit standen, denn für eine öffentliche Distanzierung von der Besatzungsmacht standen keine Freiräume zur Verfügung. So behalfen sich die führenden Vertreter der Partei in den Landesverbänden mit Selbstbetrug und Legendenbildung. Die Argumentation Maltmanns half jedoch keineswegs dabei, den Ruf der SED als "Russenpartei" loszuwerden, was im Hinblick auf die Wahlen vom Herbst 1946 als notwendig erkannt wurde. Der Wahlsieg der SED bei den Gemeindewahlen vom September konnte mit Hilfe der SMAD und durch die Behinderungen der Konkurrenten CDU und LDP gesichert werden. Für die Landtagswahlen am 20. Oktober 1946 jedoch gelang es nicht, die Aufstellung von Kandidatenlisten der CDU und LDP wie kurz zuvor zu verhindern. Der Rostocker Oberbürgermeister Albert Schulz, wie Maltmann aus der SPD kommend, schlug deshalb auf der Tagung des Landesvorstandes am 20. September 1946 vor, die Unterstützung der SED durch die Besatzungsmacht nicht mehr für jedermann erkennbar werden zu lassen. "Denn es ist doch so, daß durch zahllose Taten, die durch Angehörige der Besatzungsmacht erfolgen, ein Großteil der Bevölkerung gegen die Besatzungsmacht eingestellt ist. Es wird also gut sein, daß die Offiziere sich eine Zurückhaltung auferlegen, damit man nicht immer wieder sagen kann, wir sind eine Russenpartei."20 19

2o

Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, SED-BPA Schwerin, IV I 21 I I II. Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, VI/L-2/1/1.

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Im Rahmen der Wahlpropaganda der SED wurde darauf Wert gelegt zu betonen, daß es Unterschiede zwischen SED und Besatzungsmacht gebe. Der Altkommunist Bemhard Koenen konstatierte auf der Sitzung des erweiterten Sekretariats am 27. September 1946 Meinungsverschiedenheiten und gab den Rat, sich in der Wahlpropaganda unabhängig zu geben: "Es gibt unterschiedliche Meinungen zwischen uns und der Besatzungsmacht. Die SED soll der Besatzungsmacht immer wieder die Meinung sagen. Es werden Dinge durchgeführt werden müssen, mit denen wir als Partei nicht einverstanden sind. Unsere Partei wird wirklich selbständig als Partei auftreten müssen und können, während die Genossen, die in der Verwaltung sitzen, nicht immer frei sind." 21 Daß die Landes- und Kreisfunktionäre sich gegenseitig dazu aufriefen, Zivilcourage zu beweisen, blieb ebenso charakteristisch wie die Verweise auf die eigentliche Machtlosigkeit der SED, die Zustände einer Besserung zuzuführen. Der Sozialdemokrat Julius Bredenbeck wollte auf der Sitzung des Kreisvorstandes Magdeburg am 12. September 1946 vor allem in der Presse die ,,Begrenzung unserer politischen Macht" hervorgehoben wissen. "Wir haben unsere politische Handlungsfreiheit weitgehendst verloren . .. Wir müssen den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen. Unsere Partei als die größte, als eine Partei die weitgehend mit der Besatzungsmacht übereinstimmt, muß den Mut aufbringen, über diese Dinge zu sprechen. Es ist einfach unmöglich, daß wir uns diese komisch-geistige politische Autarkie nicht mehr gestatten können. " 22 Und auf der erweiterten Sitzung des Landesvorstandes der SED Sachsen rief der Leipziger Sozialdemokrat Curt Kaulfuß am 4. September 1946 dazu auf, den Mut zu haben, den Kommandanturen reinen Wein einzuschenken. "Die Genossen, die in den Kommandanturen sitzen, sind doch unsere Genossen aus Rußland und wir haben den Kommandanturen demnach auch zu erzählen, wie die Leiden und Freuden der deutschen Arbeiterschaft aussehen. Wir wissen sehr genau, daß wir wieder gutmachen müssen, aber wir müssen auch diesen Genossen sagen, wäre nicht für Manches was geschieht eine gewisse Abänderung notwendig? ... Wir dürfen vor diesen Dingen nicht ausweichen, wir müssen ihnen sagen, daß auch heute die deutsche Arbeiterschaft sich in großer Not befindet." 23 Diese Forderungen hielten die Kommunisten dagegen für einen Angriff des "Klassenfeindes" in den eigenen Reihen. So entgegnete Walter Weidauer im sächsischen Landesvorstand: "Was Gen. Kaulfuß sagt, ist eine Forderung, die Genossen der Roten Armee sollten mehr Rücksicht auf uns nehmen, sie sollten uns nicht so stark drücken und pressen ... So liefert man Wasser auf die Mühlen für die, die in unseren eigenen Reihen ein bestimmtes Interesse daran haben, eine Westorientierung herbeizuführen. Das auf keinen Fall. Im Gegenteil." 24 Und der Landesvorsit21 22 23 24

16°

Ebenda, IV I L-2/3/1. Landesarchiv Magdeburg- Landeshauptarchiv -, SED-BPA Magdeburg, IV /5/1/12. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-BPA Dresden, Al755. Ebenda.

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zende Wilhelm Koenen wies Kaulfuß zurecht, indem er darauf hinwies, daß es die SED der Besatzungsmacht verdankte, führende Machtpositionen in Wirtschaft und Verwaltung auszuüben. ,,Ich bedauere nur, daß es Genossen gibt, die sich hier herstellen und noch einige Bemerkungen machen über die SMA. Sie haben durchaus nicht verstanden, daß wir dadurch in die Lage gekommen sind, diesen Erfolg heute in Sachsen zu erringen." Es war eben das Sonderverhältnis der SED zur Besatzungsmacht selbst, das in der sowjetischen Zone dafür sorgte, daß der Anspruch der SED auf Einfluß einerseits und auf Unabhängigkeit andererseits täglich auf den Prüfstand kam. 25 Trotz der Bemühungen, couragiertes Auftreten wenigstens zu demonstrieren, blieb die besondere Stellung der SED zur Besatzungsmacht für die Partei eine gravierende Belastung, weil die alten Beschwerden blieben und neue hinzugekommen waren. Die SED wurde den Ruf nicht los, "Handlanger der Besatzungsmacht" zu sein. Die Landesvorstandssitzung in Sachsen am 4. und 5. September 1946 kann auch in anderer Hinsicht als beispielhaft gelten. Der Leipziger Sozialdemokrat Ernst Schönfeld hatte die aus der KPD kommenden Vorstandsmitglieder mit einem Zitat aus den "Grundsätzen und Zielen" der SED vom April 1946 provoziert, in dem es um die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Partei ging. Schönfeld fügte hinzu: "Wir als Marxisten vertreten die Auffassung, daß wir Errungenschaften eines Landes nicht automatisch auf ein anderes Land übertragen." Schönfeld reflektierte damit auf den Ruf der SED als "Russenpartei". Sofort beschuldigte man ihn der "Sowjethetze", eine Methode, die zwei Jahre später nicht nur in Sachsen zum Standard für jegliche Kritik an der Sowjetunion gehören sollte. Der Landesvorsitzende Wilhelm Koenen umriß in Reaktion auf die Offenheit einiger aus der SPD kommender Leipziger Vorstandsmitglieder die zu diesem Zeitpunkt bereits eng gezogenen Grenzen der Diskussionsfreiheit und stellte klar, daß der Versuch einer Distanzierung von der Sowjetunion und Besatzungsmacht in den Augen der Kommunisten lediglich in das feindliche Lager führen würde und ein Auswuchs der feindlichen Ideologie darstelle. "Es ist so, daß es auch einem bestimmten Teil gelungen ist, teilweise diese reaktionäre Ideologie in unsere Partei hineinzutragen ... Ihr meine lieben Leipziger Genossen Schönfeld, Kaulfuß und auch Genosse Meisner, eure Argumente sind in der Wortform etwas anders. Aber seht ihr nicht, wohin ihr treibt? Ihr könnt mit diesen Argumenten in Zusammenhang mit Schumacher und den Imperialismus kommen." 26 Die Konstruktion eines geistigen Zusammenhangs mit der SPD in den Westzonen reichte schon im Herbst 1946 aus, um auf die Anklagebank der ideologischen Wächter der Partei zu geraten. Dies erfolgte zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als im zentralen Parteivorstand. Der Trennungsstrich wurde zunächst noch durch Funktionsentzug für die Betroffenen gezogen. Ab 1948 folgte auf den Funktionsentzug der Parteiausschluß und die strafrechtliche Verfolgung. Mit dem 25 26

Vgl. Hurwitz. Die Stalinisierung der SED. S. 69. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-BPA Dresden, A/755.

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Signum "Schumacher-Agent" und dem Stempel der "Antisowjethetze" blieb für viele dann nur noch die Flucht in den Westen.

II. Der Streit um die Wahlergebnisse und anhaltende Imagesorgen Die Landtagswahlen am 20. Oktober 1946, bei denen die SED in keinem Land die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhielt,27 bildeten einen schwerwiegenden Anlaß für innerparteiliche Auseinandersetzungen. Auf die SED kamen zwar überall die meisten Stimmen, doch intern war in den Landesverbänden ein Streit darüber entbrannt, ob es sich nun um einen Wahlerfolg oder um eine Niederlage handele. Nicht wenige SED-Funktionäre bewerteten die Wahlergebnisse vor allem in den großen Städten als Niederlage. Insgeheim hatte man in den Reihen der SED offenbar mit absoluten Mehrheiten in den Landtagen gerechnet. Viele der aus der SPD stammenden Funktionäre in den Landesverbänden erklärten die Wahlergebnisse mit dem Ruf der SED als "Russenpartei". Tatsächlich wurden die Demontagen und Reparationen allein von der SED öffentlich verteidigt. Nach den Vorstellungen nicht weniger SED-Funktionäre sozialdemokratischer Herkunft sollte sich das nach den Wahlen grundsätzlich ändern. Derartige Stimmungen waren während der Beratungen des zentralen Parteivorstandes am 24. und 25. Oktober 1946 spürbar. 28 Hinter den in allen Landesverbänden angesprochenen Sorgen und Belastungen stand die Vorstellung, daß die SED überall mit absoluten Mehrheiten in die im Oktober gewählten Landtage eingezogen wäre, wenn nicht so viele Menschen sie für einen "Handlanger" der Besatzungsmacht, für eine privilegierte "Russenpartei" gehalten hätten. Beispielhaft für die im Herbst geführte Diskussion ist eine Sitzung des Landesvorstandes der SED Sachsen-Anhalt vom 29. Oktober 1946 über die Ergebnisse der Wahlen. Der Landesvorsitzende Bruno Böttge stellte das Verhältnis der SED zur SMAD und den Maßnahmen der Besatzungsmacht in den Mittelpunkt seiner Wahlanalyse: "Es liegt in der Natur der Dinge, daß eine jede Besatzung Dinge durchzuführen hat, die den Interessen der Bevölkerung des okkupierten Gebietes entgegenlaufen. Machen wir uns hier als Partei zu Befürwortern solcher Maßnahmen, so bleibt es nicht aus, daß ein solches Verhältnis zur SMA uns die Feindseligkeit der Massen einbringt." 29 Die SED dürfe, so Böttge, nach innen und nach außen nie den Eindruck erwecken, daß sie vorbehaltlos alle Maßnahmen der Besatzungsmacht zu decken suche. Dazu gehöre, daß über die Angst vor Überfallen und über die allgemeine Unsicherheit offen gesprochen werden müsse. Die Partei habe 27 Zu den Ergebnissen der Wahlen vgl. Günter Braun, .,Wahlen und Abstimmungen", in: Martin Broszat/ Hermann Weber (Hrsg.), SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945- 1949, München 1990, S. 397. 28 Ausführlich dazu: Hurwitz, Die Stalinisierung der SED, S. 71 ff. 29 Landesarchiv Merseburg des Landes Sachsen-Anhalt, SED-BPA Halle, IV I L-2/1/1.

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es andererseits nicht nötig, sich "wegen unseres Zusammenarbeitens mit den Russen zu entschuldigen". Es komme darauf an, "der Masse verständlich zu machen, daß es im Interesse des deutschen Volkes liegt, wenn wir zu Rußland freundschaftlich-nachbarliche Beziehungen unterhalten .. . Gelingt es uns weiter, unsere Bevölkerung klar zu machen, daß wir ja keine eigene Regierung haben, sondern daß die russische Besatzung die Regierung darstellt und wir wohl bestrebt sind, auftretende Härten auszugleichen, dann wird der Vorwurf, daß wir eine Russenpartei sind oder daß wir vorbehaltlos alle Maßnahmen der Besatzungsmacht decken, allmählich verstummen. " 30 Im Hinblick auf die sowjetische Demontagepraxis fand die SED nur schwer eine Argumentationsbasis. Böttge bezeichnete auf der Vorstandssitzung am 29. Oktober 1946 das Reparationsproblem als "ein Stein des Anstoßes", weiltrotz einer Ankündigung Marshall Sokolovskis im Mai 1946, die Demontagen zu beenden, die Demontageaktionen aufnahezu alle Bereiche der Wirtschaft ausgedehnt wurden. 31 Böttge stellte klar, daß Reparationen gezahlt werden müssen, "aber wir haben alle Ursache, unsere russischen Freunde zu bitten, das Tempo der Reparations-Einbringung zu verringern . .. Wenn man aber der Arbeiterschaft immer nur zumutet, wochentags wie sonntags zu arbeiten und zu produzieren, und wenn dieselbe Arbeiterschaft auf der anderen Seite sieht, daß ihr nichts verbleibt, dann muß sich das lähmend auf die Stimmung auswirken. Also muß man die Reparations-Quote herabsetzen, um für den zivilen Bedarf mehr frei zubekommen." 32 Paul Wessel, ebenfalls aus der SPD kommend, erklärte am 29. Oktober 1946 das schlechte Abschneiden bei den Landtagswahlen mit nicht eingelösten Wahlversprechen, was wiederum durch das blinde Vertrauen in die Besatzungsmacht verursacht worden wäre. In allen Wahlversammlungen habe man das sowjetische Versprechen propagiert, daß nach dem 1. Mai 1946 keine Demontagen mehr erfolgen . .,Wir sind in den Ruf gekommen, die Leute nur zu beschwichtigen und sind nur die Wortführer der Besatzungsmacht ... so haben wir das Wort verpfandet in der Provinz, deshalb ist der gute Name der Partei in Verruf gekommen." 33 Ferner, so meinte Wessel, dürfe die SED .,nicht widerspruchslos alles hinnehmen, was bei uns gemacht wird. Wir müssen uns distanzieren von den russischnationalen Dingen . . . Wir sind Deutsche und wir bleiben Deutsche mit dem Gesicht nach Osten gewandt." Für Paul Wessei schien die Stimmung insgesamt ein Protest gegen die Besatzungsmacht zu sein. "Wir haben uns als Partei zu eng mit der Besatzungsmacht liiert und dafür haben wir die Quittung bekommen. " 34 Ebenda. Vgl. Rainer Karlsch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 19451953, Berlin 1993, S. 75. 32 Landesarchiv Merseburg des Landes Sachsen-Anhalt, SED-BPA Halle, IV I L-2/1/1. 33 Ebenda. 34 Das erklärte Wessei wenige Tage zuvor auf der Sitzung des Sekretariats des Provinzialvorstandes am 23. Oktober 1946, in: ebenda, IV I L-2/3/1. 30 31

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Die Mehrzahl der aus der KPD stammenden Landesfunktionäre suchten die Gründe für die Wahlergebnisse keineswegs in der Besatzungssituation. In den Erklärungsansätzen spiegelte sich die unterschiedliche parteipolitische Herkunft wider. Während die Sozialdemokraten zu ergründen suchten, wie die Politik von SED und SMA seit Frühjahr l 945 auf die Einstellungen und Haltungen in der Bevölkerung gewirkt hatten, schoben die ehemaligen Kommunisten alles auf das ihrer Meinung nach verschüttete Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft im Ergebnis von 12 Jahren Naziherrschaft Die Kommunisten in den Landesvorständen warnten davor, sich in Schuldzuweisungen an die SMAD festzubeißen, was für die Partei insgesamt gefährlich werden könne. Nach den Wahlen zeigte sich eine unveränderte Problemlage. Der Informationsdienst des Landesvorstandes Sachsen-Anhaltvermerkteam l. November 1946 mit einer gewissen Resignation: "Immer wieder werden Übergriffe der Angehörigen der Besatzungsmacht im Kreise Haldensieben gemeldet. Es sind dies für die SED bedauernswerte Erscheinungen, und es wird besonders darum gebeten, daß man hier um einen Schlüssel sucht, der die Gefahr ausschaltet, daß durch die Übergriffe der Russen unsere Partei nicht mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Vielleicht besteht doch eine Möglichkeit, daß durch unser Ersuchen von seiten der Bezirkskommandantur hier durchgegriffen wird."35 Im Januar 1947 sendete der Kreis Weißenfels einen Hilferuf an den Landesvorstand. "Da wir alle Möglichkeiten erschöpft haben, die zu einer Beseitigung dieser Unsicherheit hätten führen können, erwarten wir nunmehr von Euch, daß Ihr mit den zuständigen Stellen der Bezirksbzw. Provinzadministration in Verbindung tretet, um unsere politische Arbeit nicht noch ganz zu zerschlagen." 36 Solcherart Hilferufe wurden zwar vom Landesvorstand registriert und an die SMA in Halle weitergeleitet, doch an den Zuständen änderte sich kaum etwas. Angesichts der Tatenlosigkeit der Kommandanturen und der Hilflosigkeit örtlicher SED-Gruppen bei den zahlreich gemeldeten Vorfallen mußten bizarre Erklärungen herhalten, um den Unmut vieler Vorstandsmitglieder zu dämpfen. Auf der Vorstandssitzung am 2./3. November 1946 verwies der Landesvorsitzende Carl Moltmann auf die "eigenen Menschen", die "Träger der Überfalle in der Nacht" seien, allerdings "zusammen mit vereinzelten Soldaten der Besatzungsmacht, die noch nicht den Gedanken der Sowjetarmee in sich aufgenommen haben". 37 Er sei sicher, "daß die Überfalle in den Nächten in der Mehrzahl durchgeführt werden von Deutschen in russischer Uniform, aber wenn ein Deutscher in russischer Uniform herumläuft, schädigt er das Ansehen der russischen Armee." Moltmann wollte "der Besatzungsmacht ehrlich und gerade gegenüber treten" und Fehler, die "von uns nicht gebilligt werden können", an die "zuständige Stelle herantragen und kämpfen um diese Dinge mit unserer ganzen Persönlichkeit. Wir sind deutsche Landesarchiv Merseburg des Landes Sachsen-Anhalt, SED-BPA Halle, IV I L-2/55/12. Ebenda. 37 Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, SED-BPA Schwerin, IV /2/1/13.

JS

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Menschen und nicht die Handlanger oder Quislinge der russischen Besatzungsmacht, wir fühlen uns frei." 38 Mit diesen Formulierungen knüpfte Moltmann an Äußerungen von Otto Grotewohl auf der zentralen Parteivorstandstagung am 24. Oktober 1946 an, als dieser erklärte, daß die SED im Kampf um ihr Ansehen als deutsche Partei nicht den Eindruck vermitteln dürfe, daß deren Mitglieder "Quislinge" seien. 39 Auch der thüringische Landesvorsitzende Heinrich Hoffmann griff während einer Vorstandstagung am 28. Oktober 1946 bezüglich des Verhältnisses der SED zur Besatzungsmacht auf diesen Ausspruch zurück: "Wir sind keine Quislinge! Wir sind Freunde, aber nicht servile Knechte." 40 In Thüringen hatten die Mißstände ein solches Maß erreicht, das die beiden SED-Landesvorsitzenden Wemer Eggerath und Heinrich Hoffmann dazu veranlaßte, in einem Schreiben vom 6. Januar 1947 an den Chef der zivilen Verwaltung der SMA Thüringen, General Kolesnitschenko, die Situation "vollkommen freimütig und offen darzustellen". 41 Sie konstatierten eine merkliche ,,Abkühlung in dem Verhältnis zwischen der Besatzungsmacht und der deutschen Bevölkerung", die ihrer Meinungen in folgenden Punkten begründete liege: "1. Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee. 2. Übereifrige Bevormundung unserer Parteifunktionäre. 3. Zu scharfe Ausübung der Befehlsgewalt der Offiziere gegenüber der zivilen Verwaltung des Landes, der Kreise und Gemeinden. 4. Eingriffe und sich widersprechende oder überschneidende Anordnungen von Offizieren in die Wirtschaft. 5. Zunehmende Not in der Bevölkerung; wachsender Mangeln an Nahrungsmitteln, Kleidung, Schuhwerk, Feuerung bzw. Heizmaterial, Wohnraum und Verkehrsmitteln."42 In ihrem Brief beklagten die beiden Vorsitzenden die überhandnehmenden "Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee", die dazu führten, daß selbst Bildungsabende und sonstige Veranstaltungen der Partei "wegen der zunehmenden Unsicherheit kaum noch durchgeführt werden" könnten. In Jena, Weimar und Erfurt schlössen "die wenigen Besucher unserer Parteiveranstaltungen sich aus Gründen der persönlichen Sicherheit zu regelrechten Geleitzügen zusammen, um dadurch einen psychologischen Rückhalt zu haben". Als Beispiel für die "übereifrige Bevormundung unserer Parteifunktionäre" führten die Briefschreiber konkrete Beispiele aus den Kreisen an, bei denen es zur ungerechtfertigten Absetzungen von Funktionsträgem der Partei, ja sogar zu satzungswidrigen Ausschlüssen durch Betreiben einiger Kreiskommandanten gekommen war. Der Mangel an den dringendsten Gegenständen des tägliche Lebens wurde vor allem deshalb als gefährlich eingestuft, weil Menschen, die Mangel am Nötigsten leiden, sich in einer "nervösgereizten Stimmung" befänden und daher "empfänglicher als andere für gehäs38

Ebenda.

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SAPMO BArch. DY 30/IV 2/1/10. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, SED-BPA Erfurt, A IV /2/3-88. SAPMO BArch, Nachlaß Otto Grotewohl, NY 4090/314. Ebenda.

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sige Parolen" seien, die sich gegen die Besatzungsmacht richten. Um die Mißstände zu bessern, schlugen Eggerath und Hoffmann u. a. vor, die Übergriffe und Überfalle einzudämmen, die Bevormundung der unteren Gliederungen der Partei abzustellen, das Wirrwarr der Befehlsgewalten zu beseitigen und einen höheren Anteil aus der Gesamtproduktion für den zivilen Sektor zu gewähren. Schließlich baten die beiden Landesvorsitzenden angesichts der Notlage der Bevölkerung und der katastrophalen Zustände in den SAG-Betrieben um pünktliche Auszahlung der Arbeitslöhne, Anerkennung der gewerkschaftlichen Lohntarife sowie der gültigen deutschen Sozialgesetze und um "menschenwürdige Behandlung" der Arbeiter in den SAG-Betrieben. Der Forderungskatalog der thüringischen Landesvorsitzenden, der ohne Wissen der übrigen Mitglieder des Landessekretariats weitergegeben wurde, erwuchs nicht nur aus der Wahrnehmung, daß die Ernährungskrise und die Belastungen der Besatzung die Geduld der Menschen über Gebühr strapazierten. Die SEDFunktionäre konnten nicht mehr die Augen davor verschließen, daß ihre Bemühungen um Respekt und Sympathie der Bevölkerung angesichts ihres Sonderverhältnisses zur Besatzungsmacht erfolglos geblieben waren. In jedem Fall waren Erfolgsmeldungen nötig, um das Argument, die deutschen Interessen gegenüber der Besatzungsmacht am besten vertreten zu können, irgendwie zu rechtfertigen. Doch Erfolgsmeldungen blieben aus. Am 13. Januar 1947 teilte Heinrich Hoffmann den Mitgliedern des Landessekretariats mit, "daß der General die in dem Schreiben aufgezeigten Schwierigkeiten mit größtem Interesse gelesen hat und die Beseitigung derselben anstrebt". 43 Doch Monate später sprach Hoffmann auf einer Sitzung des Landessekretariats noch immer von beklagenswerten Vorkommnissen, die sich auch in den anderen Ländern der sowjetischen Zone ereignen würden. 44 Daß die sowjetische Besatzungsmacht in der Bevölkerung unbeliebt war und den Menschen immer noch Angst machte, stellte für die SED-Funktionäre eine dauerhafte Belastung dar. So konnte auch nicht überraschen, daß seit Herbst 1946, als die Landtagswahlen nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, die Sekretariate und Vorstände der SED sich immer wieder mit diesem Problem befassen mußten. In den Landesvorständen versuchten zumeist die aus der SPD stammenden Landesvorsitzenden die Kritik an der Besatzungsmacht aus den Reihen der ehemaligen Sozialdemokraten zu dämpfen oder zumindest in die "richtige Richtung" zu lenken. Auf diese Weise wurde eine zu offensichtliche Frontstellung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in den Vorständen vermieden und nahm voraussehbaren Attacken der Altkommunisten die Spitze, wie auch ein Eingreifen der aus der KPD stammenden Landesvorsitzenden auf diese Weise vermieden wurde. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, SED-BPA Erfurt, IV I L/213- 031. Protokoll der Sitzung des Sekretariats der SED Thüringen am 30. April 1947, in: ebenda, IV /L/2/3-031. 43

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Auf der Sitzung des sächsischen Landesvorstandesam 6. und 7. Juni 1947 gab der Landesvorsitzende Otto Buchwitz zu, daß er eine militärische Besetzung für nicht "angenehm" hielt und es eine "Frontstellung in der Partei gegen die Besatzung" gebe. Mit der Besatzungsmacht hätte man aber noch Glück gehabt, denn: "Es muß uns doch lieber sein, daß sie aus einem sozialistischem Lande kommen, als aus einem mit imperialistischen Waffen kämpfenden."45 Buchwitz konnte die in der Partei weit verbreitete Meinung, daß man mehr Kritik an der Besatzungsmacht üben müsse, schwerlich verstehen. Am 21. Oktober 1947 erklärte er im sächsischen Landesvorstand. "Üben wir keine Kritik an der Besatzungsmacht? Wir schreien sie bloß nicht in die Versammlungen hinaus und stellen uns wie Schumacher auf den Marktplatz. Aber wir haben doch hunderte von Verhandlungen, wo wir ihnen sagen, das und das möchten wir nicht. Aber wir kommen dabei auch nicht immer zum Ziel. Ich meine, ein Unterschied ist wohl in der Fragestellung zur Besatzungsmacht, und zwar ein Unterschied zwischen hüben und drüben."46 Die angeblichen und tatsächlichen Vorteile einer sowjetischen Besatzung vermochte indes nur ein Teil der örtlichen Funktionäre zu erkennen. Die mit der Besatzungsmacht ins Land gekommene Elemente einer Willkürherrschaft überlagerten die sozialen und revolutionären Komponenten der 1945 in Gang gesetzten gesellschaftspolitischen Umbrüche. Daß die massiven Vorfälle zur Grundlage für die Bewertung nicht nur der unmittelbaren Besatzungspraxis, sondern der sowjetischen Gesellschaft insgesamt genutzt wurden, kann nicht überraschen. So begründete ein SED-Ortsgruppenvorsitzender dem Landesvorstand Sachsen-Anhalt in einem Schreiben vom 20. November 1947 seine Absage, aus Anlaß des Jahrestages der Oktoberrevolution eine Revolutionsfeier im Ort abzuhalten, wie folgt: "Kein Mensch kennt die so sehr herausgestellten Segnungen der russischen Oktoberrevolution, und was die Haltung und der Anschauungsunterricht, den uns ein großer Teil der von dieser Revolution Beglückten erteilt, anbetrifft, so ist das wahrlich nicht dazu angetan, Propaganda für eine solche Feier zu machen. Ich erinnere nur an die täglichen Überfälle . . . Zugegeben, wir Sozialisten wissen, daß nichts vollkommen ist, noch dazu in einer Zeit der revolutionären Umwandlungen unserer Zeitgeschichte. Aber sollen wir etwas verherrlichen, was uns bis jetzt nur schlechten Anschauungsunterricht gegeben hat? Hätten wir nicht alles für unsere Ideale und unsere Partei begeistert, wenn uns die Abgesandten aus dem sozialistischen Staate der Welt, die ja 30 Jahre lang bereits durch die sozialistische Schule gegangen sind, auch nur einen Hauch ihres Glückes mitgebracht hätten?"47 Der "schlechte Anschauungsunterricht" zeitigte in der SED-Mitgliedschaft und selbst bei den Landesfunktionären Wirkung. So mußte immer wieder vermittelt werden, daß die Besatzungspraxis und der Gesellschaftscharakter der Sowjetunion zweierlei Dinge sein. Hermann Matern drängte im Auftrag des Zentralsekretariats 45 46 47

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-BPA Dresden, A/758. Ebenda, A/759/1. Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, IV I L-2/5517.

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die Landesvorstandsmitglieder von Mecklenburg-Vorpommern während einer Sitzung am 5./6. Juli 1947, die Maßnahmen der Militärverwaltungen in der richtigen Perspektive zu sehen: "Wir machen hier manchmal einen Fehler. Wir verwechseln die objektive Rolle der SU mit Fehlern, die einzelne Besatzungsorgane machen ... Bekanntlich bestehen die Besatzungsbehörden auch aus Menschen mit Auffassungen, die ihnen aufgedrängt werden, durch ihre Aufgaben, die sie hier zu erfüllen haben. Sie haben auch Aufgaben zu erfüllen und sie wollen diese Aufgaben gut erfüllen und hauen manchmal daneben. Wir sollen diese Dinge nicht einfach verteidigen, sondern sie als eine Maßnahme der Besatzungsbehörde, als das, was sie sind, charakterisieren."48 Zwischen Besatzungsalltag und dem gesellschaftlichen Charakter der Sowjetunion wollte Matern einen grundsätzlichen Unterschied sehen. Während Kritik am Besatzungsalltag durchaus zulässig sei, so wären aber laut Matern Rückschlüsse auf die sowjetische Gesellschaft mit Antisowjetismus gleichzusetzen. "Aber Antibolschewismus ist etwas anderes, d. h. die Sowjetunion zu einem Land verunglimpfen, zu einer Macht, die den Interessen des deutschen Volkes zuwiderläuft. Darin müssen wir richtig unterscheiden und wir sollen in dieser Richtung gar nicht kleinlich sein." Nur ein halbes Jahr später wurde dann auch jegliche Kritik an Maßnahmen der Besatzungsmacht in die Kategorie "Antisowjetismus" eingestuft. Die seit Herbst 1947 in den Landesvorständen geführten Debatten vermittelten aufschlußreiche Einblicke in das von orthodoxen Kommunisten in der SED praktizierte Erklärungsmuster für die angestaute Problemlast Die Suche nach inneren und äußeren Feinden führte immer recht schnell zum "Klassengegner", der für die Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden konnte, ohne eine selbstkritische Bestandsanalyse vornehmen zu müssen. Unbequeme Mahner wie Rothe wurden in das Lager des "Klassenfeindes" verbannt, wenn sich argumentative Schwierigkeiten zeigten und der Erklärungsnotstand drohte. Mit dem Stempel des ,,Klassengegners" versehen war es kaum noch möglich, weiter innerparteilich zu agieren. Mit ähnliche Argumenten wurde in Sachsen-Anhalt auf die Probleme im Verhalten zur Besatzungsmacht reagiert, als dort seit Herbst 1947 eine neue Welle von Übergriffen auf die deutsche Bevölkerung anschwoll. Es war der Kreisvorsitzende von Eisleben, Otto Gotsche, der die Schwierigkeiten auf der Tagung des Landesvorstandes am 17. und 18. November 1947 zur Sprache brachte. Gotsche, seit 1919 Mitglied der KPD, machte seinem Ärger über das Dilemma Luft, das sowohl Sozialdemokraten als auch Kommunisten in der SED auf lokaler Ebene enorm belastete und was zuvor nur von ehemaligen SPD-Mitgliedern in derartiger Weise in den Vorständen nach den Landtagswahlen worden war, seitdem jedoch nicht mehr thematisiert wurde. Gotsche führte aus: "Ich habe das niederdrückende Gefühl, als wenn ein Großteil der Genossen nicht ausspricht, was er denkt. Ich möchte zu einem Problem Stellung nehmen, das die Öffentlichkeit im großen Ausmaße beschäftigt, die öffentliche Sicherheit. In unserem Gebiet ist das 48

Mecklenburgisches Landeshauptarchiv, SED-BPA Schwerin,IV /211/19.

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die Frage der Auswirkung des Vorhandenseins der Besatzungsmacht. Ich habe festgestellt, daß im allgerneinen die öffentliche Sicherheit vor die Hunde gegangen ist. Wenn man in der Straßenbahn, Eisenbahn, in öffentlichen Diskussionen vor Lokalen und Läden zuhört, ist immer wieder ein roter Faden festzustellen, daß sich ein, ich möchte fast sagen unmenschlicher Haß breitrnacht, der sich gegen die Besatzungsmächte richtet. Ich muß das aussprechen, weil das Tatsache ist. Ähnlich sind die Auswirkungen bei unseren eigenen Parteiveranstaltungen. Sie werden zum teil nicht besucht, weil sich die Teilnehmer dann nicht nach Hause getrauen. In Halle ist es jetzt so, daß ganze Stadtteile um Böllberg menschenleer sind. Ich muß das aussprechen, weil das Fragen sind, die uns in unserer politischen Kleinarbeit auf das stärkste belasten. Die Regierungsstellen haben sich bei den zuständigen Stellen der SMA bemüht und sich dafür eingesetzt, daß die Sicherheit gewährleistet wird. Es ist nicht gelungen, [dies] zu erreichen. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen, möchte aber die Frage aufwerfen, ob es nicht möglich ist für den Landesvorstand, über die Berliner Zentralstellen bis zu den höchsten russischen Dienststellen und wenn es sein muß, in Moskau vorstellig zu werden, um eine Lösung herbeizuführen. So würde ein Großteil der Problerne gelöst, mit denen wir uns abmühen. Daran krankt auch unsere Parteiarbeit. (Gen. Koenen macht hier den Zwischenruf, daß beim General schon entsprechende Schritte unternommen wurden.) Wenn die Auswirkungen der Arbeit immer nur darin bestehen, daß wir die Nackenschläge von anderen erfahren, ist die Arbeit überflüssig"49

Der Altkommunist Ludwig Einicke führte in seiner Entgegnung auf die gleichen Art und Weise wie Lohagen in Leipzig vor, mit welchen geistigen Konstruktionen stalinistisch geschulte Landesfunktionäre mit derartigen Problemen umzugehen gedachten und auf welche Ebene sie Kritik an der Besatzungsmacht ansiedelten. Einicke attackierte Gotsche auf der Landesvorstandssitzung am 17. November 1947 in - für diese Zeit - ungewöhnlich scharfer Form, indem er die ganzen Vorgänge dem politischen Gegner zuschrieb: "In diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung zum Genossen Gotsche. Genau wie andere Parteigenossen ist er ein Opfer der Reaktion und ihrer Propaganda geworden .. . Gen. Gotsche hat festgestellt, daß unter dem Eindruck der gegenwärtigen Vorgänge die Partei nicht die Kraft hatte, Agitation zu betreiben (Gen. Gotsche: Das habe ich nicht gesagt). Das bedeutet einen direkten Angriff auf die Besatzungsmacht. " 50 Die geschilderten parteiinternen Debatten lassen folgende Schlußfolgerung zu, auch wenn der Überlieferungsgrad der Vorstandsprotokolle für die einzelnen Länder sich sehr unterschiedlich darstellt. Kurz nach der Gründung der SED gab es eine erste, kurze Phase einer gewagten Offenheit, in der die Selbstdarstellung der SED belastende Probleme benannt wurden. Sie wurden in den Landesvorständen, aber auch in den Kreisvorständen der SED unmittelbar nach dessen Konstituierung angesprochen, als Sozialdemokraten den Anspruch auf innerparteiliche Demokratie und Diskusssionsfreiheit einzulösen versuchten. Dies betraf die extremen Auswirkungen, die eine militärische Besetzung durch die Sowjetunion mit sich brachten, insbesondere die Demontagen, Reparationen, Wohnungsrequirierungen 49 Landesarchiv Merseburg, SED-BPA Halle, IV I L-211/2. so Ebenda.

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und die täglichen Übergriffe durch Angehörige der Roten Armee. Im allgemeinen prallten hierbei die Auffassungen zwischen ehemaligen Kommunisten und Sozialdemokraten in mitunter drastischer Form aufeinander. Aber nicht nur Sozialdemokraten, auch Kommunisten waren in den Vorständen deutlich bemüht, ihren Ruf als der "Russenpartei" abzuschütteln und als von sowjetischer Steuerung unabhängig in Erscheinung zu treten. Ein Handlungszwang bestand insofern, als es in Teilen der Bevölkerung die Hoffnung gab, daß die SED dank ihrer privilegierten Stellung die sowjetische Besatzungsmacht dahingehend beeinflussen könnte, daß eine deutliche Milderung der Belastungen eintreten möge, eine Hoffnung, die durch die SED im Wahlkampf 1946 besonders genährt wurde. Eine Besserung der allgemein beklagten Situation trat partiell ein, wenn in Verbindung mit der örtlichen Kommandantur konkrete Fälle besprochen wurden. Die Meldungen an übergeordnete Parteigliedererungen und Dienststellen der Besatzungsmacht zeigte hingegen kaum Wirkung. Eine deutliche Zäsur in der parteiinternen Diskussion bildeten die Wahlen im Herbst 1946, als die Kommunisten zur "Einheit und Geschlossenheit" in der SED aufriefen. Doch die Diskussionen über die Besatzungsmacht brachen danach nicht völlig ab. Erst nach den Wahlen aller Vorstände von den Ortsgruppen bis hinauf zum Parteivorstand im August/ September 1947 wurde das Verhältnis zur Besatzungsmacht nur noch in wenigen Ausnahmefällen thematisiert, weil die hauptsächlichsten Diskutanten in den Vorständen nicht mehr vertreten waren. Ab 1948 standen dann sämtliche Erörterungen zu diesem Thema unter dem Verdikt "Antisowjetismus". Eine Aussprache über die Besatzungspolitik war dann in den Vorständen nicht mehr möglich, es wurden dann lediglich Huldigungen an die Vorbildrolle der Sowjetunion und der Kampf gegen jegliche Formen der "antisowjetischen Propaganda" rituell praktiziert. Die Probleme mit der Besatzungsmacht allerdings blieben, wie sich auch der Ruf der SED als ,,Russenpartei" noch verstärkte. Will man die innerparteilichen Debatten unter dem hier ausgewählten Gesichtspunkt zusammenfassend betrachten, so wird augenscheinlich, daß sich insbesondere in den geschilderten Kontroversen der schier unlösbaren Widerspruch zeigte, in dem sich die SED in ihrer öffentlichen Argumentation verfangen hatte. Das politischweltanschaulich begründete Sonderverhältnis zur Besatzungsmacht sollte die SED allein in die Lage versetzen, die deutschen Interessen am besten vertreten zu können. Während der Wahlen im Herbst 1946 und der anschließenden Ernährungskrise hatte sich aber herausgestellt, daß alle Bemühungen erfolglos geblieben waren, um Erleichterungen bzw. Besserungen in der Demontagepraxis, in der Reparationsfrage, in der Frage der Ostgrenzen sowie bei der Kriegsgefangenproblematik und nicht zuletzt eine Verbesserung der Lebenslage der Menschen zu erreichen. Dieses Dilemma der SED war zu einem Dauerzustand geworden, aus dem nur zwei Wege herauszuführen schienen. Entweder gab die SED zu, daß ihr Einfluß auf die Besatzungsmacht nicht ausreichen würde, um all die an die Partei herangetragenen Forderungen zu erfüllen, oder sie stellte sich bedingungslos auf die Seite

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der Besatzungsmacht, rechtfertigte alle durch Befehlsgewalt angeordneten Maßnahmen und legte ideologische Bekenntnisse zur Sowjetunion ab. Letztere Alternative würde allerdings noch mehr Ansehen in der Bevölkerung kosten und die Partei vollends zum Handlanger der Besatzungsmacht stempeln. Die offensichtliche Klarheit in der Führung der Partei darüber, sich keiner Überprüfung durch demokratische Wahlen mehr zu stellen, erleichterte die Entscheidung für den zweiten Weg. Seit Gründung der SED gelang es der Führung insgesamt nicht, die Hervorkehrung der guten Beziehungen zur Besatzungsmacht mit dem Anspruch einer von Moskau unabhängigen Partei in Einklang zu bringen.

Zur sowjetischen Einflußnahme auf die "Westarbeit" der FDJ 1947 -1949 Von Michael Henns

In diesem Beitrag geht es um jenen Teil deutschlandpolitischer Vorgaben der Sowjetunion, der mittels der FDJ-"Westarbeit" in die westdeutsche FDJ getragen wurde. Zwischen dem II. und III. FDJ-Kongreß vollzog sich danach eine organisatorische Zusammenfassung und eine Politisierung lokaler und überparteilicher FDJ-Gruppen in den Westzonen, verbunden mit einer Aufgabe ihrer Überparteilichkeit und einem offenkundigen Engagement für die Politik des "demokratischen Lagers". 1 Über den Einfluß der SMAD auf die Jugendabteilung des ZK der KPD (bzw. das Jugendsekretariat der SED) und den FDJ-Zentralrat (ZR) im Gründungsprozeß der FDJ liegen einige neuere Forschungen vor? Daher sei hier einführend nur knapp darauf verwiesen. Einer der maßgeblichen SMAD-Offiziere in diesem Prozeß war Oberst Sergej Tjulpanow. Ihm oblag die Anleitung und Kontrolle der Parteien und Organisationen. Eine spezielle Abteilung für Jugendarbeit leitete von April 1946 bis zu Beginn des Jahres 1947 Major Iwan Bejdin, danach Wladimir Stepanow. 3 Diese Offiziere spielten auf zentraler Ebene eine wichtige Rolle im Umwandlungsprozeß der Jugendausschüsse in eine "einheitliche Jugendorganisation". 4 • Die Erkenntnisse sind Teil eines von der VW-Stiftung geförderten Forschungsprojekts mit dem Ziel einer Dissertation zum Thema "Die Westarbeit der FDJ 1945 bis 1956". 2 Erwähnt seien u. a.: Hermann Weber: Freie Deutsche Jugend (FDJ). In: Martin Broszatl Hennann Weber (Hrsg.): SBZ-Handbuch. München 1990, S. 665ff. Ulrich Mählert: Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949. Von den "Antifaschistischen Jugendausschüssen" zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone. Paderborn 1995, S. 40ff. Auf einer Konferenz des IzJ am 10. /ll. Mai 1996 wurden zum Thema folgende Beiträge gehalten: Katharina Lange: Sowjetische Einflüsse auf die Gründung der FDJ. Jan Foitzik: Zur Jugendpolitik der SMAD und Elke Scherstjanoi: Die Jugendpolitik der SMAD 1945746. Thesen und Hypothesen. Vgl. Helga Gotschlich/ Katharina Lange I Edeltraud Schulze (Hrsg.): Aber nicht im Gleichschritt. Zur Entstehung der Freien Deutschen Jugend. Berlin 1997. 3 Vgl. Iwan A. Bejdin: ,,Erinnerungen an die Arbeit der sowjetischen Kontrollorgane in Deutschland. Die Jugend-, Bildungs- und Parteienpolitik der SMAD in der Sowjetischen Besatzungszone", in: Bildung und Erziehung, Heft4/1992, S. 417 bis 432.

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Einen Schritt, den Tjulpanow als "das entscheidende politische Problem" bezeichnete, dem die SMAD "große Bedeutung" beimaß und für den sie, durchaus eine gesamtdeutsche Dimension vor Augen, die Zustimmung des Alliierten Kontrollrates für alle vier Zonen erwirken wollte. 5 Daher bettelte beispielsweise Tjulpanow in seine Grußansprache an das I. Parlament die Bedeutung einer "einheitlichen politischen Jugendorganisation" in die Zielsetzung eines einheitlichen, entnazifizierten Deutschlands ein. 6 Mit diesem Diktum wandte er sich auch gegen das verbreitete Sektierertum unter jungen westdeutschen Kommunisten. Rückblickend erwähnte er sein "Interesse [an der] Entwicklung in den Westzonen und in den Westsektoren Berlins" und ein Gespräch mit westdeutschen Parlamentsdelegierten aus Frankfurt/Main, Düsseldorf und Westfalen. 7 Es dürfte nicht das einzige zwischen FDJ-Vertretern aus den Westzonen und der SMAD gewesen sein, zeigte sich diese an originären Berichten stets interessiert. 8 Ein wesentliches Element des II. Parlaments, Pfingsten 1947 in Meißen, bestand in dem von der SMAD zur nationalen Hauptaufgabe erklärten "Kampf um die Einheit Deutschlands". Honeckers Referat war diesbezüglich "von der SMAD gesondert überprüft und maßgeblich ergänzt" und bis in die Tagung hinein sowjetischerseits noch mit Wünschen angereichert worden.9 Vom Ausgang der Moskauer Außenministertagung enttäuscht, hoffte die Sowjetunion, doch noch zu deutschen Zentralverwaltungen zu kommen. Der FDJ-Kongreß sollte das Streben der Jugend nach einem einheitlichen deutschen Vaterland öffentlich zum Ausdruck bringen. Nach Grotewohls Stellungnahme gegen separatistische und föderalistische Tendenzen Stellung, drückte Honecker die Hoffnung aus, daß sich die Meinungsverschiedenheiten der Siegermächte von Paris beheben lassen könnten. Er spannte einen Bogen vom Potsdamer Abkommen bis zu aktuellen sowjetischen Vorstellungen der deutschen Wirtschaftseinheit, einschließlich der Zugehörigkeit des Ruhr- und des Saargebiets zu Deutschland. Durch die sowjetische "Mitwirkung" an seiner 4 Analoge Bemühungen von SMA-Jugendoffizieren gab es in den einzelnen Ländern. Der FDJ-Vorsitzende von Mecklenburg schilderte das so: ,.Die Genossen in den Administrationen und Kommandanturen unterstützen unsere Arbeit und helfen uns so stark, daß man manchmal den Eindruck gewinnt, als ob nur sie allein uns in der Jugendarbeit vorwäns helfen." SAPMO-BArch DY 30/IV 2/16/197, BI. 107. s Vgl. Sergej Tjulpanow: Deutschland nach dem Kriege (1945- 1949). Erinnerungen. Berlin (Ost) 1987. 6 Vgl. I. Parlament der Freien Deutschen Jugend vom 8. bis 10. Juni 1946 in Brandenburg an der Havel. Berlin 1946, S. 16ff. 7 V gl. Tjulpanow: Erinnerungen, S. 206 und 219 f. R Schersrjanoj schreibt zum Informationshunger der SKK (Nachfolgeeinrichtung der SMAD ab Ende 1949) dazu: ,,Eine besondere Bedeutung hatten Berichte und Lagemeldungen von Westdeutschen beziehungsweise Reiseberichte von ostdeutschen Politikern, die sich in Westdeutschland aufgehalten hatten. Offensichtlich waren für KPD- und FDJ-Funktionäre aus Westdeutschland, die die DDR bereisten, Besuche in Karlshorst so gut wie obligatorisch." Elke Scherstjanoij (Hrsg.): Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953. Eine Dokumentation. München 1998, S. 76. 9 Vgl. Heinz Lippmann: Honecker. Ponrät eines Nachfolgers. Köln 1971, S. 90.

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Rede, vermochte er sogar im Voraus, gegen das angloamerikanische Vorhaben der Schaffung eines Bizonen-Wirtschaftsrates zu polemisieren. 10

I. Moskauer Instruktionen für die "Westarbeit", Sommer 1947- Ein politischer Spagat Vom 19. Juli bis zum 5. August 1947 besuchte eine Delegation des FDJ-Zentralrats die Sowjetunion. Die Visite fand vor dem Hintergrund sich zuspitzender Diskrepanzen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten statt. Mit dem Marshall-Plan geriet "das Deutschlandproblem definitiv in den Sog der Ost-WestAuseinandersetzungen" und die sowjetische Politik wechselte von bis dato demonstrierter Konzessionswilligkeit zu einer Konfrontationsbereitschaft 11 Dieser Politikwechsel drückte den politischen Gesprächen der FDJ-Abordnung 12 in Moskau einen unverkennbaren Stempel auf. Erstmals erhielt Honecker Instruktionen direkt in einer Moskauer Führungszentrale. In einem internen, mehrstündigen Gespräch entwickelte der Komsomolvorsitzende Nikolai Michailow gegenüber Honecker und Baumann folgende Grundzüge hinsichtlich des "Vordringens des Verbandes in die Zonen Westdeutschlands": - die Bildung einer speziellen Westabteilung im Zentralrat unter Leitung Hermann Axens; - die Entsendung einer Gruppe von Ost-Funktionären für die Arbeit in den Westzonen; - die systematische Übersiedlung aktiver Funktionäre nach Westdeutschland; - die dortige Verbreitung der FDJ-Zeitung ,)unge Welt" und die Zusammenfassung der lokalen Gruppen und Bezirke zu einem Verband ,Freie deutsche Jugend' . 13 Ost und West betreffend forderte er die ,,Festigung der Organisation". Einer entsprechenden Vorinformation zufolge, sah Michai1ow die FDJ als zu "apolitisch". Scharf kritisierte er die Berichterstattung der ,)ungen Welt" zum Marshall-Plan. Zudem monierte er, die FDJ beschäftige sich hauptsächlich mit der Organisation Ebenda, S. 91. Vgl. Wilfried Loth: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte. München 1996, S. 91 f. 12 Zu ihr gehörten neben dem Vorsitzenden Honecker, die Generalsekretärin Edith Baumann, der designierte Berliner Vorsitzende Heinz Keßler, der Landesleiter von Sachsen-Anhalt Robert Menzel, sowie das Zentralratsmitglied Herbert Geister, Jugendreferent im LDPVorstand. Die Gäste erlebten ein Moskauer Sportfest, besichtigten das zerstörte StaUngrad und besuchten Leningrad. Zur Begleitung gehörte auch SMAD-Jugendoffizier Stepanow. 13 Zentrum zur Aufbewahrung der Dokumente der Jugendorganisationen (ZCHDMO): Fonds 4, Bestand I, Mappe 575, BI. 12 ff. Für diesen Quellenhinweis danke ich Herrn Ulrich Mählert. 10 II

17 Timmermann

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von Amusements und leiste eine äußerst unzureichende Erziehungsarbeit 14 Was Honecker in seiner Autobiographie "Aus meinem Leben" schlicht mit "Vermittlung wichtiger Erfahrungen des Komsomol" umschrieb, war nichts anderes, als Michailows Aufforderung, die FDJ organisatorisch zu straffen und sie für den politischen Kampf mobil zu machen. Honeckers internem Gesprächsbericht zufolge gab Michailow aus " ... prinzipiellen Erwägungen zu überlegen, ob es nicht zweckmäßig wäre, die politische Tatigkeit der Organisation zu verstärken. Diese Tatigkeit muß dahin gehen, der deutschen Jugend zu zeigen, welches der bessere Weg ist, um ein einheitliches demokratisches Deutschland zu erzielen. Außerdem muß Ihr Verband dreist und politisch genügend scharf sein, ebenso in den inneren wie in den äußeren Angelegenheiten. Ihr Verband darf keine einzige Maßnahme der imperialistischen Welt, sei sie amerikanischer oder englischer Herkunft, zur Spaltung Deutschlands ungerügt Jassen." 15 Der FDJ-Vorsitzende nahm Michailows Hinweise sehr ernst und sah in ihnen ein politisches Aktionsprogramm. Für eine entsprechende Weichenstellung in den Westzonen machte er noch im August Organisationssekretär Hermann Axen verantwortlich. Dieser vereinbarte im Verlauf einer Visite in der britischen Zone mit Leitungen von FDJ und KPD Maßnahmen zur organisatorischen Festigung und Zentralisierung der bislang nur locker zusammengefügten FDJ-Giiederungen. 16 Dazu griff er in die Personalpolitik ein, setzte Funktionäre ab und schlug neue Kandidaten vor. Natürlich diente das alles nicht dem Selbstzweck, sondern als Grundlage für die Politisierung, wofür Axen folgende Hauptaufgaben übermittelte: den Kampf gegen den Marshall-Plan, Forderungen nach Bodenreform, einem staatlich geförderten Jugendhilfswerk sowie die Bildung von FDJ-Betriebsgruppen. 17 Seine Reise demonstrierte nachhaltig die faktische Weisungskraft Moskauer ,,Empfehlungen" für die FDJ. Postwendend übermittelte der Zentralrat der westdeutschen FDJ die Moskauer Instruktionen quasi als Aktionsprogramm. Sie bestätigte den Ostberliner Führungsanspruch gegenüber der West-FDJ und dessen Akzeptanz selbst durch KPD-Funktionäre. Obgleich Axen 1947 keine Parteifunktion innehatte, verfügte er als Vertreter einer zentralen politischen Instanz offenbar gegenüber der westdeutschen KPD über Weisungsbefugnis. Nicht alles, was er seinen westdeutschen Genossen mit auf den Weg gab, war realisierbar, die wichtigsten "Aufgaben" aber wurden in den nächsten Wochen und Monaten umgesetzt. Axens Weichenstellungen stellte die West-FDJ in einen unlösbaren Spagat. Wie sollte es angesichts der vom Zentralrat insistierten Überparteilichkeit möglich sein, Vgl. ebenda. Bemerkungen des Vorsitzenden des Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes N. Michailow in der Unterredung mit den Genossen Honecker und Baumann, 6. August 1947. In: SAPMO-BArch, DY 24/3.25, o. BI. 16 Vgl. Bericht über die Reise in die britische Zone, 5. September 1947. SAPMO-BArch, DY 24/11.816, o. BI. 17 Vgl. ebenda. 14

1S

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im Westen politische Positionen für die Sowjetunion und die SED zu beziehen? Dieser Spagat wurde erst 1949/50 im Zuge der Stalinisierung .,praktisch" gelöst. 18

11. Der Übergang ins "demokratische Lager" und der Einstieg in die Deutschlandpolitik Ihrer Ablehnung des Marshall-Plans ließ die sowjetische Führung Ende September 1947 den Übergang zur Konfrontationsbereitschaft folgen. Die auf der Gründungskonferenz der Kominform entwickelte ,,Zweilagertheorie" schuf, unter explizitem sowjetischem Führungsanspruch, Grundlagen für die Blockbildung und deren konfrontative Systemauseinandersetzung der nächsten Jahre. Obgleich die SED zu dieser Konferenz nicht eingeladen worden war, wurde sie als Bestandteil des .,demokratischen Lagers" fest in die Block-Konfrontation eingebunden und übernahm deren Lesart. 19 Davon blieb die "Westarbeit" der FDJ nicht unberührt. SED-Jugendsekretär Verner verknüpfte am 21. Oktober 1947 die Auswertung des ll. SED-Parteitags vor ost- und westdeutschen Jugendfunktionären mit der ,,Zweilagertheorie.20 Auch auf dem Gebiet der Jugendpolitik sei der .,Kampf um die Einheit Deutschlands" die entscheidende Frage. Dieser müsse gepaart werden mit einem "Kampf gegen den Antisowjetismus", wofür der 30. Jahrestag der Oktoberrevolution einen guten Anlaß biete. Die von Vemer bekräftigte Forderung nach Politisierung der Verbandstätigkeit in Ost- und Westdeutschland zugunsten des "demokratischen Lagers" vertiefte für die FDJ den mit Michailows West-Instruktionen eingeleiteten Spagat zwischen überparteilichem Anspruch und politischer Positionierung. Westzonale Jugendsekretäre befürchteten daher eine weitere Isolation der FDJ. 21 Daß die Jugendkommission beim SED-Parteivorstand schließlich beschloß, den "Kampf gegen den Marshall-Plan" zugunsten der "Einheit der Jugend" zurückzustellen 22, bedeutete keine Zurücknahme der Forderung nach Politisierung, sondern beruhte vielmehr auf einem taktischen Kalkül im Zusammenhang mit einem für Anfang November 1947 vereinbartes gesamtdeutsches Jugendführertreffen am Sitz der Zentrale der Katholischen Jugend in Haus Altenberg bei Köln? 3 Vgl. dazu Michael Henns: Heinz Lippmann. Porträt eines Stellvertreters. Ber1in 1996. Vgl. Hermann Weber: Kleine Geschichte der DDR. Köln 1980, S. 39. 2o Konferenz von Jugendfunktionären der SED, 21. Oktober 1947. In: SAPMO-BArch, DY 24/11.910. 21 Ebenda. 22 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, 2/16/1, BI. 216. 23 Zum "Altenberger Gespräch" existiert eine Fülle von Darstellungen. Erwähnt seien u. a. die Erinnerungen von E. Honecker, H. Westphal und J. Rommerskirchen, in dem vom Bundesjugendring herausgegebenen Band "Vierzig Jahre- kein Alter zum Ausruhen", DUsseldorf 1989; die Erinnerungen Heinz Westphals: ,,Jugend braucht Demokratie- Demokratie braucht Jugend", Rostock 1994. Das Gesprächsprotokoll der FDJ findet sich mit Anmerkungen bei Michael Herms!Karla Popp: Westarbeit der FDJ 1945/46 bis 1989. Ber1in 1997, S. 45 ff. 18

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Diese Begegnung war für Honecker von immenser politischer Bedeutung. Er bezweckte damit einen Beitrag für die von der SED erstrebten gesamtdeutschen Gremien und zur Unterstützung der sowjetischen Position auf der bevorstehenden Londoner Konferenz der Außenminister, auf der es noch einmal um die Frage der deutschen Einheit gehen sollte. In Vorbereitung des Altenherger Treffens hatte die Jugendkommission beim SED-Parteivorstand drei Dokumentenentwürfe beschlossen, die Honecker den Jugendsekretären am 21. Oktober vorstellte: Ein Statut für einen Deutschen Jugendring, eine Erklärung im Hinblick auf die Londoner Konferenz sowie einen Brief an den Alliierten Kontrollrat mit der Bitte nach Zulassung freier Betätigung der demokratischen Jugendorganisationen in ganz Deutschland. 24 In Altenberg müsse "unter allen Umständen" versucht werden, eine ,,Einigung der deutschen Jugendverbände zur Herstellung der Einheit Deutschlands" zu erreichen. Zugleich "muß man aber auch mit großen Auseinandersetzungen rechnen"25 . Mit realistischem Blick verwies Honecker darauf, die Beratung werde die Aufgabe des Monopols der FDJ und Zulassung anderer Jugendorganisationen in der SBZ verlangen. Mit diesen Vorstellungen traf die FDJ in Haus Altenberg auf Gesprächspartner, deren unverkennbare Skepsis in vielen Ursachen wurzelte. Die Verhaftung des katholischen Zentralratsmitglieds Manfred Klein 26, das unübersehbare Einschwenken der FDJ auf die "Zweilagertheorie" sowie die immer offenkundigere Abhängigkeit von der SED ließen die Vertreter der westzonalen Verbände an der demokratischen Grundsubstanz der FDJ zweifeln und verliehen dem Gesprächsverlauf eine härtere Gangart als erwartet. Der Vorsitzende der Katholischen Jugend, Josef Rommeeskirchen und die Falkenführer Heinz Westphal und Erich Lindstedt, brachten massive Vorbehalte gegenüber der Monopolstellung der FDJ in der SBZ zum Ausdruck, verwiesen auf Defizite an politischer Freiheit und das enge Verhältnis der FDJ zur SED. Sie wollten die Verabschiedung einer gemeinsamen Erklärung zur Londoner Konferenz vermeiden, da die britische Militärregierung sie im Vorfeld des Treffens auf die Einhaltung seines informellen Charakters hingewiesen hatte. Schließlich einigten sich die Gesprächsteilnehmer auf ein knappes Pressekommunique, das den "Wunsch der deutschen Jugend zur Schaffung eines einheitlichen und unabhängigen Deutschlands" mit der "grundlegenden Bereitschaft zur Zusammenarbeit" zum Ausdruck brachte sowie über eine Gesprächsfortsetzung Anfang 1948?7 Trotz aller Querelen - das Treffen stellte für Honecker einen wichtigen politischen Erfolg gegenüber der SED-Führung und der SMAD dar. Er hatte seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, die FDJ auf den von Michailow vorgezeichneten politischen Kurs zu bringen. 24 2~

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 24711.910, BI. 73. Ebenda, BI. 71.

Vgl. Manfred Klein: Jugend zwischen den Diktaturen. Mainz 1967. Vgl. FDJ-Protokoll über das Gespräch. In: SAPMO-BArch, DY 24/2312, o. BI.

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111. Marshallplan und Volkskongreß - Politisierung der FDJ und Zerfall der Überparteilichkeit Nach dem Scheitern der Londoner Konferenz schlußfolgerte Stalin, der Westen würde sich Westdeutschland zu eigen und die Sowjetunion aus der SBZ ihren eigenen Staat machen. Das für sie unbefriedigende Ergebnis von London und die Vereinbarungen der britischen und amerikanischen Militärgouverneure mit den westdeutschen Ministerpräsidenten im Januar 1948 veranlaßten die SED zu einer Verstärkung der im Dezember 1947 auf sowjetisches Geheiß eingeleiteten Volkskongreßbewegung durch ein Volksbegehren über die Einheit Deutschlands. Sie verband diese Kampagne mit offenen Attacken auf die Westmächte, denen sie die "Zerreißung Deutschlands", ja sogar eine "koloniale Versklavung" des deutschen Volkes vorwarf. 28 Die SED rief die ,,Massenorganisationen" zu einem verstärkten Engagement für die Volksabstimmung auf. Der Zentralrat reagierte Ende Januar 1948. Seine 11. Tagung, die wohl zu recht als ein, wenn nicht als der Wendepunkt in der Geschichte der FDJ betrachtet werden muß, faßte erstmals einen Beschluß zur Politisierung der VerbandstätigkeiL Nach heftiger Debatte verließen vier Mitglieder der "bürgerlichen" Parteien den Zentralrat mit der Begründung, die FDJ habe durch dieses einseitige politische Engagement ihren überparteilichen Charakter verloren und sich als kommunistische Hilfsorganisation entlarvt. 29 Honecker nahm diesen Schritt der "Bürgerlichen" in Kauf. Schließlich handelte es sich bei der Politisierung um einen Kernpunkt von Michailows strategischer Aufgabenstellung. Im Duktus der SED hieß es im FDJ-Beschluß: "Marshallplan und Einheit Deutschlands sind unvereinbar miteinander. denn die Unterwerfung unter ausländische Monopole bedeutet die Aufgabe wirtschaftlicher Selbständigkeit, der die politische Abhängigkeit auf dem Fuße folgt. Die Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit Deutschlands befindet sich daher heute mehr denn je in Gefahr ... Die Frankfurter Verhandlungen vom Januar 1948 sind ein entscheidender Schritt zur Zerreißung Deutschlands ... Die junge Generation hat sich in ihrem bewußten Teil entschieden. Sie steht im Lager der Demokratie. Vom Standpunkt der gesamtdeutschen Entwicklung ist die Lage der Jugend in den Westzonen eine ernste Gefahr für die demokratische Erziehung und die Zukunft der jungen Generation. Der verstärkte Kampf für die Schaffung einer einheitlichen deutschen demokratischen Republik, für den Abschluß eines gerechten Friedensvertrages mit Deutschland ist die grundlegende Aufgabe der Freien Deutschen Jugend und aller anderen fortschrittlichen Kräfte. Deshalb gebührt der Entfaltung der Volksbewegung für Einheit und gerechten Frieden die größte Unterstützung durch die junge Gene28 Vgl. Entschließung des SED-Parteivorstandes vom 15. Januar 1948. Dokumente der SED, Bd. 1, Ber1in (Ost) 1952, S. 271-272. 29 Vgl. Gert Noack: Die Führung der Freien Deutschen Jugend im Jahr 1948. In: Helga Goischlich (Hrsg.): IzJ - Jahresbericht 1993. Berlin 1994, S. 57 ff.

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ration ..." 30 Es folgte eine kompakte politische Aufgabenstellung, die wenig später von seiten der westdeutschen FDJ begrüßt so wurde: ,,Im Kampf dieser Auseinandersetzungen könne es keine sogenannte ,dritte Kraft' geben. Diese sei vielmehr die Haltung des feigen Schwankens, ein Zwischendie Stühle-Setzen oder einen Zermalmtwerden." 31 Diese unverkennbare Positionierung zugunsten der SED und des "demokratischen Lagers" vertiefte die Skepsis der westlichen Militärregierungen gegenüber der FDJ. Im Alliierten Kontrollrat lehnten ihre Vertreter im März 1948 deren gesamtdeutsche Zulassung ab. 32 Die westdeutschen Jugendverbände reagierten mit einer Absage der vereinbarten Fortsetzung der Gespräche über einen gesamtdeutschen Jugendring. Um diesem Ziel doch noch näher zu kommen, suchte die FDJ nach neuen Wegen. Das entsprach den Zielsetzungen des II. Deutschen Volkskongresses vom 17./18. März 1948, an dem die FDJ mit 86 Vertretern aus allen vier Zonen beteiligt und auf der Honecker ins Präsidium des "Deutschen Volksrates" gewählt worden war.33 Allerdings folgten seiner Einladung zu einer Konsultation über eine weitere gesamtdeutsche Konferenz am 20. April 1948 lediglich noch Vertreter der Bündischen Jugend und einiger kleinerer Jugendstrukturen. Neben der Volkskongreßbewegung orientierte die 11. ZR-Tagung auf die ,,Mobilisierung der Arbeiterjugend". Auch dafür stand eine sowjetische Vorgabe Pate. Auf Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 234 vom 9. Oktober 1947 wurde vor dem Hintergrund der beabsichtigten Einführung der Planwirtschaft und mit dem Ziel einer erhöhten Arbeitsproduktivität in Betrieben der SBZ der Leistungslohn und der Wettbewerb eingeführt. Für Jugendliche sah der Befehl u. a. einen Ausbau des Arbeitsschutzes und der Berufsschulen vor. Zwei Wochen nach Bekanntgabe dieses Befehls empfahl Axen den KPD-Jugendsekretären, die FDJ müsse auch im Westen für solche Maßnahmen kämpfen. Sie seien ein Mittel, um die FDJ in eine führende Position innerhalb der Jugendbewegung zu bringen.34 Der am I 0./ll. April 1948 in Zeitz tagende "Kongreß der Jungaktivisten" stellte für die "Mobilisierung der Arbeiterjugend" mit Auftritten von Grotewohl, Ulbricht und Oberst Tjulpanow einen öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt dar. Vornehmlich an die jungen Arbeiter in der SBZ addressiert, beinhaltete er zugleich neue Aufgaben für die "Westarbeit". Bislang war die westzonale FDJ mit nur 30 Entschließung des Zentralrates der FDJ, II. Tagung am 29. Januar 1948. In: Dokumente zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Bd. I, Berlin (Ost) 1960, S. 126 ff. 3t SAPMO-BArch, DY 24/13.343, o. BI. 32 Vgl. Marschall Sokolowski vor dem Alliierten Kontrollrat für die Zulassung der FDJ in Gesamtdeutschland, 10. März 1948. In: Herms/Popp: Dokumentation Westarbeit, S. 67f. 33 Der II. Volkskongreß wählte von der FDJ u. a. Verner, Axen, E. Baumann sowie den FDJ-Vorsitzenden von NRW, Heinz Cramer, zu Mitgliedern des Volksrates. 34 Vgl. SAPMO-BArch, DY 24111.910, BI. 77.

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mäßigem Erfolg für ein ,)ugendhilfswerk" eingetreten. 35 Nun sollte sie sich mit populären Beispielen als soziale Interessenvertretung der Jugend profilieren und an Entwürfen für neue Jugendarbeitsschutzgesetze der Länder mitwirken. Ende März 1948 hofften SED-Führer bei einem Besuch in Moskau vergebens auf grünes Licht für den Aufbau eines eigenen Ostzonenstaates. Stalin riet ihnen vielmehr, sich mit der Volkskongreßbewegung als Partei der nationalen Einheit weiter zu profilieren. Die Bedingungen dafür waren nicht gerade rosig: Im Westen hatte die KPD den Zenit ihres Einflusses bereits überschritten, die .,Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft KPD/ SED" war von den Militärregierungen nicht anerkannt, andere Bündnispartner von marginaler Bedeutung. Pieck reklamierte die Notwendigkeit einer westdeutschen Parteizentrale, die in engem Kontakt zur SED stehen sollte. Stalin befürwortete diesen Vorschlag und wies eine Umbenennung der KPD in .,Sozialistische Volkspartei" an. Dabei stützte er sich auf Hoffnungen, an breitere Bevölkerungsschichten und möglicherweise durch Umbenennung auch der SED in SVP doch noch zu einer gesamtdeutschen Einheitspartei zu kommen. Nach Rückkehr Piecks und Gratewohls beschloß das SED-Zentralsekretariat die Einrichtung einer KPD-Zentrale in Frankfurt/Main. Am 27./28. April 1948 erfolgte auf der Hemer Konferenz die Konstituierung eines Parteivorstandes, in dem auch eine Jugendabteilung eingerichtet wurde?6 Hatte eine ,)ugendresolution" des II. SED-Parteitags noch der Überparteilichkeit das Wort geredet, unterschied sich eine von der 9. Tagung des Parteivorstandes am 15./16. April 1948 verabschiedete Entschließung ,,Zur Jugendarbeit der Partei" davon deutlich durch den darin verankerten Führungsanspruch der SED gegenüber der FDJ. Ausgerüstet damit und den Stalinischen Weisungen nach forcierten Bemühungen der Volkskongreßbewegung, reisten führende Funktionäre zur westdeutschen FDJ, um sie .,politisch auf Vordermann" zu bringen. Den Auftakt machte Honecker. Am 17.118. April besuchte er die Hamburger FDJ-Landesdelegiertenkonferenz. Er wußte um die Ablehnung der Politisierung durch einen Teil der Funktionäre. Im Vorfeld der Konferenz war es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Frage eines politischen Engagements der FDJ gegen den Marshall-Plan und für ein Volksbegehren gekommen. Nachdem zwei Hamburger FDJ-Delegierte zum II. Volkskongreß die Meinung vertreten hatten, die Volkskongreßbewegung 3~ In NRW z. B. legte die FDJ einen Entwurf für ein ,,Jugendhilfswerk" nach Diskussionen mit Jugendbelegschaften und Jugendringen über die KPD dem Landtag vor. Das Parlament verwies ihn zur Beratung in den Sozialausschuß, zu einer Annahme kam es nicht. Vgl. Politischer Bericht der FDJ-Landesleitung Nordrhein-Westfalen, Februar 1948. In: Herms/Popp: Dokumentation Westarbeit, S. 74. Auch in Bremen forderte die FDJ ein solches Gesetz. In Niedersachsen wurde 1947 ein "Gesetz zur Errichtung des Jugendhilfwerkes" angenommen. Vgl. Mitteilungsblatt der FDJ Land Niedersachsen. August 1947. 36 Auf der Konferenz erfolgte bei einigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen auch die Umbennung der KPD in Sozialistische Volkspartei (SVP). Tatsächlich nannte sich die Partei bis in den Sommer SVP. Allerdings versagten die Alliierten der neuen Bezeichnung die Zustimmung. Vgl. Protokoll der I. PV-Tagung am 28. Aprill948 in Herne. In. SAPMOBArch, BY 1/425, BI. 2.

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sei "wohl keine kommunistische, aber doch eine absolut östlich tendierende Angelegenheit", erklärten einige Freunde, die "durch ihren Intellekt einen gewissen Einfluß haben, aus politischen Gründen ihren Austritt" 37 . Honecker stellte in seinem Referat ,,Junge Generation im Kampf um die Einheit Deutschlands" die gesellschaftliche Entwicklung der Ostzone den Westzonen gegenüber, wo mit Hilfe ausländischen Kapitals "die alte Welt" wieder aufgebaut werde. Er erinnerte an den Young-Plan und zog Vergleiche zum Marshall-Plan, der Deutschland spalten werde. In der Aussprache kam es zu der erwarteten Auseinandersetzung. Nach mehrheitlicher Zustimmung zu einer "Politischen Resolution" 38 , zeigten sich weitere Funktionäre zum Austritt entschlossen. Die destabilisierende Wirkung auf den überparteilichen Rest des Verbandsgefüges war unverkennbar. Bis zum Jahresende finden sich in den Monatsberichten des Landesvorstandes Klagen über weitere Austritte, jedesmal allerdings mit einer "positiven" Bewertung, wie im November 1948: "Der Mitgliederstand ist seit April dieses Jahres um 25% bei der Jugend zurückgegangen. Der Rückgang ist auf die stärkere politische Aktivität der Jugendgruppen zurückzuführen. Bis zur Delegiertenkonferenz fanden sich viele Jugendliche in unseren Reihen, die den Charakter unserer Organisation nicht richtig erfaßt hatten. Diese Freunde, stark durch die öffentliche Meinung beeinflußt, haben unsere Organisation verlassen und unsere Kampfkraft vergrößert." 39 Insgesamt sank die Mitgliederzahl der westdeutschen FDJ von rd. 50000 Mitte 1947 auf 13 000 im Frühjahr 1949.40 Ähnlich wie Honecker in Harnburg nahmen SED-Jugendsekretär Vemer in Niedersachsen, die Generalsekretärin Baumann in Südbaden und nochmals Honecker in Stuttgart persönlichen Einfluß auf die Politisierung von Landesverbänden. Die 13. Zentralratstagung vom 20./21. Mai 1948 zog in Anwesenheit westdeutscher Landesleiter zugleich eine Zwischenbilanz der Umsetzung der Moskauer Instruktionen vom Sommer 1947. Hermann Axen stellte in seinem Schlußwort das Volksbegehren nochmals als "zentrale Aufgabe der FDJ in Ost und West" heraus und resümierte: "Wenn wir die ... Diskussion zusammenfassen, kann man feststellen: ohne Zweifel ist mit der Verschärfung des Kampfes gegen die demokratischen Kräfte im Westen unsere FDJ nicht etwa in einer Höhle geblieben, ist nicht etwa in dem früheren Zustand zurückgeblieben. Wir müssen jene Wendung des Verbandes feststellen, von der ich im Sekretariatsbericht gesprochen habe und die fortgesetzt und entwickelt werden muß. Jene Wendung des Verbandes bahnt sich auch in den Westzonen in allen unseren Landesorganisationen trotz größter Schwierigkeiten und Belastungen an. Wir stellen eine politische und organisatorische Festigung 37 Landesvorstand Hamburg: Monatsbericht März 1948, 2. April 1948. In: SAPMOBArch, DY 24/ 10.233, o. BI. 38 Vgl. SAPMO·BArch, DY 24/2.112, o. BI. 39 Ergänzung zum Monatsbericht Oktober, 12. November 1948. In: SAPMO-BArch, DY 24/10.233, o. BI. 40 Eigene Berechnungen des Vf. nach einer Vielzahl statistischer Quellen der West-FDJ.

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aller unserer Verbände fest. Es genügt nicht, nur die politische und organisatorische Festigung unseres Verbandes durchzuführen, noch viel wichtiger ist es, daß unsere Verbände im Westen sich auf die Auswirkungen des Marshallplanes orientieren."41

IV. Die Zentralisierung der FDJ in den Westzonen 1948 Zur Vermittlung einer neuen strategischen Grundorientierung machte Oberst Tjulpanow die SED Anfang Mai 1948 darauf aufmerksam: "Faktisch ist eine Aufteilung Deutschlands in zwei Teile, welche sich nach verschiedenen Grundsätzen entwicklen, zustande gekommen ... Die Sozialistische Einheitspartei befindet sich an der Grenze zweier Welten, dort, wo die Welt des Kapitalismus auf die Welt des Sozialismus trifft ... "42 Worte, die Pieck auf der I 0. Parteivorstandstagung am 12. Mai 1948 fast wörtlich wiederholte.43 Analog zu dem sich in Frankfurt/Main etablierenden KPD-Parteivorstand und samt zentralen Apparat, beantragte Honecker im Mai 1948 im SED-Zentralsekretariat die Zustimmung zur Bildung einer "Arbeitsgemeinschaft der FDJ in den Westzonen" gleichfalls mit Sitz in Frankfurt.44 Anfang Juni reiste er mit Vemer, Axen und Edith Baumann zu einer Zusammenkunft der KPD-Jugendsekretäre und FDJLandesvorsitzenden im nordbadischen Wiesloch. Vemer, der die Auswertung ihrer Moskau-Reise durch Pieck und Grotewohl im Zentralsekretariat miterlebt hatte, warf einen vereinfachten Blick auf den Hintergrund der Zentralisierung und in die politische Zukunft: "Jetzt werdet ihr ,Sozialistische Volkspartei', und dann dauert es nicht mehr lange, dann wird auch die SED zu einer SVD, und wir haben für Deutschland eine Partei gleichen Namens.'.45 Honecker erläuterte den Vorschlag zur Bildung der "Arbeitsgemeinschaft der FDJ in den Westzonen" mit einem "Verbindungssekretariat".46 Am 18. Juni erklärte vor ostzonalen Landesvorsitzenden: ,.Bisher arbeiteten die Landesverbände in den Westzonen mehr nebeneinander als miteinander, daher entschloß man sich, zur Zentralisierung und Vereinheitlichung der Arbeit eine Arbeitsgemeinschaft der Westzonen-Landesverbände zu schaffen. Sie soll geleitet werden von einem dreiköpfigen Sekretariat. Dafür werden vorgeschlagen: Helmut Heins und Herbert Koch und als Hauptverantwortlicher Hermann Axen. Mit Rücksicht auf die Militärregierung wurde die lose Form der Arbeitsgemeinschaft gewählt, die inhaltlich aber dem Wesen eines regulären Vorstandes entspricht. Ihr Hauptaugenmerk wird die Arbeitsgemeinschaft auf die 41 Protokoll der 13. ZR-Tagung vom 20./21. Mai 1948. In: SAPMO-BArch, DY 24/ 2.112, o. BI. 42 Schriftliche Fassung eines Vortrages von Tjulpanow, 8. Mai 1948. In: Badstübner I Loth. Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953. Berlin 1994, S. 217. 43 Vgl. Loth: Stalin, S. 136. 44 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/2/2.1-202. 4S Herbert Crüger: Verschwiegene Zeiten. Berlin 1990, S. 135. 46 Vgl. SAPMO-BArch, BY 1/645, o. BI.

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Aktivierung der Arbeiterjugend richten. Daher soll am 23. und 24. Oktober d. J. ein Kongreß der jungen Arbeiter stattfinden"47 In Erinnerung an sein Gespräch mit Michailow war Honecker offenbar tatsächlich entschlossen, Axen die Führung des Westverbandes zu übertragen. Das dieser Fall schließlich nicht eintrat, lag entweder an einem Veto der Frankfurter KPD-Zentrale und I oder an der seitens der SED gedachten "Kaderperspektive" für Axen im zentralen Parteiapparat der SED.48 Zudem hätte die Besetzung der Führungsposition der West-FDJ mit einem Ostberliner Spitzenfunktionär die mit der Hemer Konferenz deklarierte "Eigenständigkeit" der KPD auf drastische Weise konterkariert. Als im Zirkel der Robert Menzel, (FDJ-Vorsitzender von Sachsen-Anhalt) bezüglich des geplanten "Kaderexports" von Axen den Einwand erhob, die "Ostzone nicht zu sehr von guten Funktionären zu entblößen", begegnete ihm Vemer: "So schmerzlich es auch für uns ist, gute Funktionäre abgeben zu müssen, haben wir doch ganz andere Möglichkeiten, Ersatz zu schaffen und neue Funktionäre zu entwickeln als unsere Organisation im Westen. Es ist daher durchaus wichtig, daß wir gute Funktionäre von uns nach dort abgeben, denn wir können zwei Drittel Deutschlands nicht kampflos aufgeben." 49 Diese Auffassung entsprach der Orientierung zum "Kampf um die politische Eroberung ganz Deutschlands", die Pieck, nach einer Vorlage von Tjulpanow, am 12. Mai im SED-Parteivorstand dargelegt hatte. Das Verbindungssekretariat, schließlich unter Leitung des Hamburger FDJFunktionärs Helmut Heins gestellt, sollte die Tatigkeit der Landesverbände koordinieren, schlagkräftige Landesleitungen aufbauen und dem Zentralrat als feste Anlaufstelle für die Abwicklung wichtiger Finanz- und organisatorischer Fragen dienen. 50 Eine große Selbständigkeit billigte der Zentralrat ihm nicht zu. Die Gründung der Westzonen-AG stand unter keinem guten Stern. Nur wenige Tage später kam es zur separaten Währungsreform, zur Spaltung der Berliner Stadtverordnetenversammlung, zur Blockade des Westteils durch die Sowjets und zur Luftbrücke. Der Kalte Krieg erreichte einen Höhepunkt und verschärfte den Antikommunismus. Das Verhältnis der FDJ zu anderen Jugendverbänden verschlechterte sich spürbar.

47 Vgl. Besprechung mit den FDJ-Landesvorsitzenden,l8. Juni 1948. In: SAPMO-BArch, DY 24/3.822, o. BI.

Axen wurde im Aprill949 Leiter der Abteilung Agitation im Parteivorstand der SED. Besprechung mit den Landesvorsitzenden der FDJ. 18. Juni 1948. In: SAPMO-BArch. DY 24/3.822, o. BI. so Vgl. SAPMO-BArch, BY 1/645, o. BI. 48 49

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V. Stagnation der "Westarbeit" im Herbst 1948 Im Herbst 1948 verfiel die "Westarbeit" der FDJ in eine mehrmonatige Stagnation. Ehrgeizige Pläne, vor allem der geplante "Kongreß der arbeitenden Jugend", der mit der gebündelten Kraft von FDJ der KPD vorbereitet werden und eine jugendpolitische Offensive der West-FDJ einleiten sollte, blieben unerfüllt. Daß die West-FDJ dies einem Verbot der britischen Militärregierung zuschrieb, war noch nicht einmal die halbe Wahrheit: Zum einen hatte niemand von den Organisatoren daran gedacht, den Kongreß anzumelden, wie die KPD später selbst zugab51 , zum anderen meldeten westdeutsche FDJ-Funktionäre im Vorfeld Bedenken an, ob es klug sei, einen solchen Kongreß in Konkurrenz zu den Gewerkschaften zu organisieren. Die Tatsache, daß eine solch zentrale Aufgabenstellung von Honecker unerfüllt blieb, hätte "normalerweise" Sofortmaßnahmen der "Westarbeit" ausgelöst. In diesem Fall aber blieben unmittelbare Reaktionen des Zentralrats aus. Die FDJ-Führung war mit ihren Instrumenten der "Westarbeit" nicht in der Lage, einzugreifen, lag sie doch selbst in Agonie. Die durch die Währungsreform verursachte finanzielle Misere, die Zuspitzung der politischen Krise und interne Probleme der ostzonalen FDJ beanspruchten ihre volle politische Aufmerksamkeit. Der erhoffte Aufschwung der politischen Tätigkeit der West-FDJ durch die Schaffung der Arbeitsgemeinschaft verlief zunächst im Sande. Vor dem Hintergrund ihrer Lähmung blieben im zweiten Halbjahr 1948 die Ende November telegrafisch durchgegebenen Umbenennungen des Bundes ,,Junge Schwaben" (Württemberg-Hohenzollem) und der "Freien Jugendgemeinschaft" (Württemberg-Baden) die einzigen "highlights" der "Westarbeit".

VI. Im Kurs auf eine "Nationale Front" Erst im Frühjahr 1949 setzte diese wieder ein. Nachdem die SED-Führung mit ihren Plänen für einen Ost-Staat im Dezember 1948 bei Stalin auf Ablehnung gestoßen und zu einer Intensivierung der Volkskongreßbewegung aufgefordert worden war, hatte sie auf ihrer I. Parteikonferenz im Januar 1949 den "Kampf um die Einheit Deutschlands" erneut zur wichtigsten politischen Aufgabe erklärt. Zu einem eigenen Beitrag für die Volkskongreßbewegung aufgefordert, folgte die FDJ im April 1949 einer Einladung von Rüdiger Mathy (Deutsche Partei) zu einem gesamtdeutschen Jugendgespräch. Mathy stand Prof. Ulrich Noack nahe, dem Leiter des "Nauheimer Kreises", dessen neutral-nationalistischer Lösungsansatz für die deutsche Frage der aktuellen Stalinschen Position nahekam. Am II. März 1949 hatte die "Tägliche Rundschau" einem Aufruf des ,,Nauheimer 31 So der schleswig-holsteinische KPD-Vorsitzende Stobwasser auf einer Jugendkonferenz im März 1946.

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Kreises" zur Neutralisierung Deutschlands zugestimmt. Das war der entscheidende Impuls für die FDJ mit seinen Anhängern ein politisches "Bündnis" zu schmieden. Am 23./24. April 1949 kam es in Braunschweig zu dem von Mathy initiierten Gespräch. Aufgrund des vereinbarten offenen Charakters nahmen Vertreter des Zentralrats und der West-FDJ, FOGS-Jugendsekretär Werner Heilemann (Mitglied des Deutschen Volksrates) sowie drei KPD-Jugendsekretäre teil. Von ihren Gesprächspartnern gehörten drei der Deutschen Partei, drei den Jungdemokraten, einer dem "Bund junger Deutscher", einer den Falken und fünf der CDU an. Drei oder vier waren parteilos. Nach langen Diskussionen kam man überein, eine "Aktionsgemeinschaft der Jugend für ein einheitliches Deutschland" mit Sitz in Braunschweig zu bilden und Mitte Mai eine weitere Tagung in Berlin durchzuführen. Überall sollte für die Aktionsgemeinschaft Werbung betrieben, lokale Zusammenschlüsse gebildet und Tagungen organisiert werden. 52 Einen Monat später überschlugen sich die politischen Ereignisse. Kurz nach den in der SBZ abgehaltenen Wahlen zum 3. Volkskongreß trat am 23. Mai das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Zugleich begann in Paris eine Außenministertagung der Siegerrnächte, von der Stalin -der gerade unter Vermittlung der UNO die Berlin-Blockade aufgehoben hatte - hoffte, doch noch einen wirksamen "Schlag gegen die Spalter", die Verhinderung der Spaltung und die Bereitschaft, zu einem Friedensvertrag mit einer einheitlichen deutschen Regierung zu kommen. Er beauftragte Wladimir Semjonow, den Politischen Berater der SMAD, die SED zu veranlassen, einen Schritt weiter als mit der bisherigen Volkskongreßbewegung zu gehen und zwecks Mobilisierung deutschen Öffentlichkeit eine ,,Nationale Front für die Einheit" zu schaffen. Darin seien auch ehemalige Nazis und Militärs einzubeziehen. 53 Diesen Vorschlag würde die FDJ im Zuge der Erweiterung der Aktionsgemeinschaft bald aufgreifen. Noch aber beschränkte sie sich auf das Spektrum der demokratischen Jugendverbände. Mitte Mai übermittelte der Zentralrat diesen telegrafisch einen Aufruf des Volksrates zur Teilnahme an einer "gemeinsamen Beratung aller national gesinnten Kreise" im Interesse einer "einheitlichen Willensbildung".54 Unter Zurückstellung aller Fragen, die dieser Willensbildung entgegenstünden, sei die FDJ bereit, daran mitzuwirken und rufe die Jugendverbände auf, ihre "Vertreter zur gesamtdeutschen Beratung zu entsenden". Gemeint war der 3. Volkskongreß. Quasi als Vorstufe fand am 28./29. Mai die "zweite gesamtdeutsche Jugendkonferenz" der Aktionsgemeinschaft in Ostberlin statt. Dazu waren die westdeutschen FDJ-Leitungen aufgefordert worden, möglichst viele Mitglieder anderer Organisationen zu gewinnen. Die Anreise von lediglich 72 Vertretern westdeutscher Parteien und Verbände war enttäuschend. So forderten sie eine gesamtdeutsche Verfassung unter Einschluß der "Grundrechte s2 s3 S4

Vgl. SAPMO-BArch. DY 24/3825, o. BI. Eine Idee, die er erstmals 1948 geäußert hatte. Vgl. Lorh: Stalin, S. 153. Vgl. Junge Welt, 18. Mai 1949 und Dokumente zur Geschichte der FDJ. Bd. I, S. 227.

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der jungen Generation" 55 , den Abzug der Besatzungstruppen und den Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland. Viele Konferenzbesucher nahmen an den beiden Folgetagen am 3. Deutschen Volkskongreß teil, der den Verfassungsentwurf des Volksrates bestätigte und von den Alliierten den Einsatz einer gesamtdeutschen Regierung, den Abschluß eines Friedensvertrag und den Abzug der Besatzungstruppen aus allen Zonen forderte. Er griff dazu den Gedanken einer ,,Nationalen Front" auf.

VII. Fazit Parallel zur Umwandlung der SED zur ,.Partei neuen Typs" sorgte die "Westarbeit" der FDJ im Zusammenwirken mit dem Jugendsekretariat der SED zwischen 1947 und 1949 für eine Zentralisierung und Politisierung der West-FDJ. Für diesen Prozeß sind die umgehende Aufnahme sowjetischer Impulse für die Deutschlandpo1itik durch die Westarbeit der FDJ und ihre Widerspiegelung in der WestFDJ klar nachweisbar. Im Ergebnis verlor die West-FDJ ihren überparteilichen Charakter und verzeichnete einen zwischen Mitte 1947 und Mitte 1949 einen Mitgliederrückgang von 50 000 auf 13 000. Im Spektrum der westdeutschen Jugendverbände geriet sie in eine Isolation.

55 Auf dem I. Parlament der FDJ, Pfingsten 1946, proklamierter, umfangreicher Komplex sozialpolitischer, bildungs- und ausbildungspolitischer sowie kulturpolitischer Forderungen für die Jugend.

Die Berufsausbildung in der Sowjetischen Besatzungszone aus historischer und vergleichender Sicht Von Hans-Peter Schäfer I. Einleitung

Die Berufsausbildung stellt eines der wichtigsten und interessantesten gesellschaftlichen Teilgebiete der ehemaligen SBZ/DDR dar. Dessen Bedeutung ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß rd. 80 Prozent eines Altersjahrgangs im Anschluß an die allgemeinbildende Schule eine Berufsausbildung absolvierten. Mit der Berufsausbildung und der in der Regel erfolgreichen beruflichen Sozialisation war auch eine gesellschaftliche Integration und politische Sozialisation verbunden. Aus pädagogischer Sicht bildete die Berufsbildung im anderen Teil Deutschlands ein Experimentierfeld, in dem wiederholt neue Konzepte und Modelle zur Diskussion standen und in der Praxis erprobt wurden. Sie hatten teilweise durchaus Vorbildcharakterfür die Berufsausbildung in der Bundesrepublik, wie z. B. die sogenannten "Grundberufe" für die Entwicklung der Stufenausbildung. Eine in pädagogischer Hinsicht besonders fruchtbare Phase bildeten die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, genau genommen die Jahre 1945 bis 1948. Diese Phase des Wiederbeginns bzw. Neuaufbaus der Berufsausbildung hielt noch vielerlei Optionen offen, und es war noch keineswegs vorbestimmt, wohin die Reise gehen und an welche Traditionslinien man anknüpfen sollte. Vielmehr vollzog sich damals eine breite und höchst kontroverse Diskussion, wie sie in den nächsten vier Jahrzehnten nicht mehr zu beobachten war. Drei gewichtige Fragen standen damals im Mittelpunkt der Diskussion, die bis heute zentrale Fragen der Berufspädagogik im In- und Ausland geblieben sind: - die Gleichwertigkeit von Allgemeinbildung und Berufsbildung, - die Verbindung von berufstheoretischem und berufspraktischem Unterricht, - der Ausgleich zwischen den pädagogischen Zielsetzungen und ökonomischen Erfordernissen. In einem reziproken Verhältnis zur politischen und erziehungswissenschaftliehen Relevanz der Berufsausbildung in der SBZ steht deren Aufarbeitung in der wissenschaftlichen Forschung. Zwar bildet sie keineswegs mehr einen "weißen Aeck" in der Forschungslandschaft, wie Horst Biermann1 noch 1990 meinte festt

Biermann. Horst: Berufsausbildung in der DDR. Opladen 1990, S. 13.

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stellen zu müssen. Immerhin widmen sich fünf Dissertationen speziell der Berufsausbildung in der SBZ, wenngleich vier aus DDR-Sicht? Ferner ist auf die umfassenden Arbeiten zur DDR-Schul- und -bildungsgeschichte von Günther/Uhlig3 und Waterkamp4 hinzuweisen sowie nicht zuletzt auf einen Forschungsbericht von Kuhnert5 (1980), den dieser auf einer früheren DDR-Forscher-Tagung gegeben hat Frank Ohlmeyer6 hat im Rahmen einer an der Universität Harnburg angefertigten und vom Verfasser betreuten Dissertation erstmals im großen Umfang bisher nicht zugängliche Akten der SED, der Gewerkschaften und FDJ sowie der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung und anderer staatlicher Organe ausgewertet. Die Ergebnisse dieser Untersuchung führen nicht zu völlig neuen Erkenntnissen, doch widerlegen sie einige gängige Vorstellungen über die Frühzeit der DDRBerufsausbildung, wie z. B. über die sogenannte "freundschaftliche Hilfe" der Sowjetunion beim Aufbau des Bildungswesens in der SBZ/DDR? Allen genannten Arbeiten ist gemeinsam, daß sie die Entwicklung der Berufsausbildung im anderen Teil Deutschlands als einen SBZ- bzw. DDR-spezifischen Vorgang ansehen, d. h. ihn ausschließlich im Kontext der Entwicklung der SBZ/DDR oder, wie bei Waterkamp und Ohlmeyer, bestenfalls im weiteren historischen Rahmen der deutschen Bildungsgeschichte interpretieren. Demgegenüber soll hier ein anderer Zugang gewählt werden. Den Ausgangspunkt bilden systematische Fragestellungen der deutschen und international-vergleichenden Berufspädagogik. Die SBZ wird somit zu einem Untersuchungsfeld wie andere Länder auch, in dem Antworten auf generelle pädagogische Fragen gesucht werden. Dabei werden nicht Antworten im Sinne übertragbarer Rezept oder Modelle erwartet, wohl aber im heuristischen Sinne eines vertieften Verständnisses der Problemsituation, ihrer Komplexität und möglicher Kausalitäten sowie der Ambivalenz einzelner Maßnahmen. 2 Schwarze, Rudolf: Der Aufbau einer neuen Berufsausbildung im Lande Brandenburg während der Errichtung und Festigung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung. Diss. DPZI 1965; Gibowski, Georg: Zur Entwicklung der Berufsausbildung auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik 1948 bis 1956. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig 1971; Püffeld, Gerhard: Probleme und schulpolitische Auseinandersetzungen beim Aufbau des Berufsschulwesens in der Periode der Errichtung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung auf dem Gebiet der DDR. Diss. TU Dresden 1971; Biber, Angelika: Zur Überwindung reformpädagogischer Auffassungen in der Berufsausbildung im Prozeß der antifaschistisch-demokratischen Schulreform auf dem Gebiet der DDR Diss. TU Dresden 1985. J Günther, Karl-Heinz; Uhlig, Gottfried: Geschichte der Schule in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1968. Berlin 1969. 4 Waterkamp, Dietmar: Das Einheitsprinzip im Bildungswesen der DDR. Köln/Wien 1985. s Kuhnert, Jan: Berufliche Bildung als Prüfstein der Bildungspolitik in der SBZ. In: Deutschland-Archiv, 3 (1980) 7, S. 736-749. 6 Ohlmeyer, Frank: Die Entwicklung der Berufsausbildung in der sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1949. Diss. phil. Univ. Harnburg 1999. 7 Vgl. Gläser, Lothar: Die Rolle der sowjetischen Pädagogik beim Aufbau der deutschen demokratischen Schule und bei der Entwicklung der pädagogischen Wissenschaft auf dem Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik (1945 bis 1949). In: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte. Berlin 1970, S. 180ff.

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Gerade in diesem Sinne vermittelt die Beschäftigung mit der Berufsausbildung in der SBZ - das ist die Ausgangshypothese - wie kaum ein anderes Feld vertiefte Einsichten und Erkenntnisse. Um diesen Erkenntniszusammenhang herzustellen, ist es notwendig, regional und historisch weiter auszugreifen, was angesichts des vorgegebene Rahmens nicht unproblematisch ist. Einige Probleme können daher leider nur angerissen und einige Aspekte nur verkürzt dargestellt werden.

II. Gleichwertigkeit von Allgemeinbildung und Berufsbildung Von Erich Frister, ehemals GEW-Vorsitzender, stammt der Ausspruch: "Allgemeine Bildung ist berufliche Bildung für die Herrschenden, berufliche Bildung ist allgemeine Bildung für die Beherrschten"8 . Über dieses Diktum kann man lange streiten. Es verweist jedoch auf die Tatsache, daß Allgemeinbildung und Berufsbildung noch heute unterschiedlich bewertet werden, daß sie unterschiedliche Bildungswege, Bildungschancen und Lebenschancen eröffnen. Nach wie vor gilt die Berufsausbildung als weniger prestigereich und karriereförderlich. Faktisch führt sie häufig in eine Sackgasse. Der Zugang zu den höheren Formen der Bildung ist nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich, die Durchlässigkeit im Bildungswesen in der Regel nur in Richtung der Berufsbildung gegeben. Trotz Bildungsexpansion und Verbreiterung der Zugangswege ist es nicht gelungen, der Berufsbildung einen gegenüber der gymnasialen Bildung gleichwertigen Platz im Bildungsystem zu sichern. Um die Berufsausbildung aus der Sackgasse heraufzuführen und ihre funktionale Gleichwertigkeit mit der allgemeinen gymnasialen Bildung zu unterstreichen, hat das Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) in Berlin vor einiger Zeit den Vorschlag9 unterbreitet, die Berufsausbildung zu einem zweiten gleichwertigen Bildungsweg neben dem traditionellen Bildungsweg des Gymnasiums auszubauen, d. h. den Übergang von der beruflichen Erstausbildung über einen Aufbau- bzw. Fortbildungsberuf zur Fachhochschule und von dort zur Universität zu ermöglichen. Ziel dieses Vorschlags ist es, durch die Aufwertung der Berufsausbildung deren Attraktivität zu steigern und damit nicht zuletzt die Bildungschancen für Kinder aus bildungsfernen Schichten zu erhöhen. In unseren Nachbarländern, insbesondere in Schweden und den Phare-Ländem Polen, Tschechien und Ungarn, vollzieht sich zur Zeit eine eher gegenläufige Entwicklung: die Entprofessionalisierung der Berufsausbildung durch Ausweitung des 8 Frister; Erich: Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung in der Sekundarstufe des Bildungswesens. In: Berufliche Bildung, (1970)12, S. 275. 9 Dybowski, G. u. a.: ,,Ein Weg aus der Sackgasse - Plädoyer für ein eigenständiges und gleichwertiges Berufsbildungssystem", In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis, 23 (1994) 6, s. 3-13. 18 Timmermann

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allgemeinbildenden Unterrichts zu Lasten der beruflichen Bildung. 10 Die Berufsausbildung soll auf eine breite berufliche Grundlagenbildung reduziert werden, die den Grundstock für eine spätere berufliche Spezialisierung in einem oder in mehreren Betrieben bildet. Zugleich wird den Absolventen dieser berufslyzealen Ausbildungsgänge auch die formale Hochschulreife zuerkannt. Man rechnet mit 70 bis 80 Prozent eines Altersjahrgangs, die die Hochschulreife im Rahmen allgemeinbildender oder berufsbildender Sekundarschulen erwerben werden. Freilich geht man davon aus, daß der größte Teil der Absolventen des berufslyzealen Bildungsgangs die Ausbildung unterhalb der Hochschule, z. B. in Betrieben oder postlyzealen Lehranstalten, fortsetzt. 11 Auch in diesen Ländern bildet die Verbesserung der Chancengleichheit ein zentrales Motiv der Bildungsreform, daneben jedoch die optimale Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Vor dem Hintergrund dieser gegenläufigen Tendenzen - Ausbau und Vertiefung der beruflichen Bildung einerseits und Verallgemeinerung und Entspezialisierung der Berufsausbildung andererseits - gewinnt die Diskussion um die Neuorientierung der Berufsausbildung in der SBZ nach dem Zweiten Weltkrieg und die Frage nach der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung erneute Aktualität. Bereits während des Zweiten Weltkrieges und noch vor Errichtung der SBZ bestand unter Exilkommunisten und Sozialdemokraten weitgehend Konsens darin, daß die Berufsausbildung künftig ein größeres Maß an staatlicher Aufsicht bedürfe und daß der pädagogischen Betreuung der auszubildenden Jugendlichen größere Aufmerksamkeit zu schenken sei. Als eine der ersten administrativen Maßnahmen wurde im Mai 1946 das "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone erlassen. Im Mittelpunkt des Gesetzes stand die Forderung einer "demokratischen Einheitsschule". Mit diesem Begriff war nicht nur eine neue Schulform gemeint, d. h. die für alle Kinder künftig obligatorische 8jährige Grundschule als Einheitsschule, sondern der Aufbau eines neuen Schulsystems beabsichtigt. Parallel zur gymnasiale Oberschule, die auf vier Jahre reduziert wurde, sollte als eine gleichberechtigte, im Gesetz sogar an erster Stelle genannte Sekundarschule, die Berufsschule treten. Der Einbau der Berufsschule in das Einheitsschulsystem bildete den eigentlichen Kern der Reform. Die 3jährige obligatorische Berufsschule und die sich anschließende 2jährige Fachschule sollten ebenfalls zur Hochschule führen und gegenüber dem traditionellen gymnasialen Bildungsweg eine neue und attraktive Alternative bilden. Von vielen wurde dieser Weg sogar als der künftige Hauptweg zur Universität angesehen. 10 Vgl. Schiifer; Hans-Peter: "Wege in die Zukunft? Entwicklungstendenzen der Berufsausbildung in Deutschland, Schweden und in der Tschechischen Republik" In: Bandau, S. et. al. (Hrsg.): Schule und Erziehungswissenschaft im Umbruch. Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung. Bd. 69. Köln. Weimar, Wien,l996, S. 220-236. II Vgl. Schiifer; Hans-Peter: "Bildung zwischen Aufbruch und Resignation. Eindrücke von einer Vortragsreise nach Polen". in: Deutsche Studien, 35(1999) H. 2, S. 211 -216.

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Der Berufsschule kam nach dem Schulgesetz somit eine Doppelfunktion zu: Sie sollte a) die auf der Grundschule erworbene Allgemeinbildung erweitern und gegebenenfalls auf ein Hochschulstudium vorbereiten; und sie hatte b) die notwendigen berufstheoretischen Kenntnisse für den zu erlernenden Beruf zu vermitteln. Die gesetzliche Regelung beließ es bei dieser bildungspoltischen Zielsetzung. Im Vordergrund stand die .,Überwindung des Bildungsprivilegs der herrschenden Klasse", d. h. die Realisierung der Chancengleichheit sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher durch Erhöhung der Durchlässigkeit im Bildungswesen. Eine pädagogisch-didaktische Konzeption war damit noch nicht verbunden. Unklar blieb vorerst, wie das Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung zu gestalten sei und ob sich der Anspruch des Schulgesetzes überhaupt realisieren ließ. Auf den Pädagogischen Kongressen der folgenden Jahre und dem l. Berufspädgogischen Kongreß in Halle (Dezember 1946) wurde über die pädagogischdidaktische Konzeption der künftigen Einheitsschule hart und kontrovers gerungen. Dabei war der Widerspruch zwischen der nominellen Bedeutung, die der Berufsschule im Gesetz und den offiziellen Verlautbarungen zuerkannt wurde, und der faktischen Bedeutung, die sie in den pädagogischen Diskussionen und in der Planung und Gestaltung des Schulwesens spielte, kaum zu übersehen. Die Einheitsschuldiskussion verkürzte sich sehr schnell auf die allgemeinbildende Schule und insbesondere auf die nunmehr vierjährige Oberschule. Der Berufsschule wurde allenfalls auf den Berufspädagogischen Kongressen stärkere Aufmerksamkeit zuteil. Die Reformvorschläge zur didaktischen Neubestimmung der Berufsschule entstammten überwiegend der berufspädagogischen Tradition der Reformpädagogik und waren durch die wegweisenden Gedanken von Georg Kerschensteiner, dem .,Vater" der deutschen Berufsschule, sowie durch Eduard Spranger geprägt. Einerseits wurde die Ausweitung des allgemeinbildenden Unterrichts als vorrangige Aufgabe angesehen, nicht zuletzt um den Zugangsweg zur Hochschule zu sichern. Andererseits wurde jedoch auch vor einer .,Verschulung" der Berufsschule und vor einem Rückfall in die .,Allgemeine Fortbildungsschule" der Kaiserzeit gewarnt. Befürchtet wurde eine Entberuflichung der Berufsschule durch Übernahme allgemeinbildender Inhalte der Oberschule und eine weitgehende Anpassung an gymnasiale Bildungsgänge (z. B. Litt, Schwarzlose, Fuchs). Demgegenüber wurde argumentiert, daß sich die Fächer der Berufsschule aus der Tradition der Berufsschule und nicht aus der Systematik der Grund- und Oberschulen ergeben müßten. Eine gewisse Skepsis gegenüber einer einseitig wissenschaftsorientierten bzw. wissenschafts-propädeutischen Bildung spielte dabei eine nicht unwichtige Rolle. Gefordert wurde daher eine Synthese zwischen berufskundlieber Durchdringung und allgemeinbildender Systematik. Eine Reform der Berufsschule allein von der allgemeinbildenden Schule her wurde von der Berufspädagogen zurückgewiesen und stattdessen ein eigenständiger berufspädagogischer Ansatz bzw. eine genuine Bildungskonzeption gesucht. 18*

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Der im Jahre 1946 beschrittene Versuch, einen alternativen Bildungsgang über die Berufsausbildung zur Hochschule auf der Basis einer eigenständigen berufspädagogischen Bildungskonzeption zu entwickeln, ist jedoch relativ früh gescheitert: auf bildungspolitischer und konzeptioneller Ebene, weil die Vertreter dieses Ansatzes sich nicht gegenüber den Forderungen der Vertreter der gymnasialen Bildungskonzeption und der SMAD durchsetzen konnten. Diese bestanden darauf, daß sich der Unterricht auf allen Stufen des Bildungswesens an den didaktischen Prinzipien der Wissenschaftlichkeit und der Systematik des Unterrichts zu orientieren habe. Ein eigenständiger didaktischer Ansatz der Berufsschule, der von den berufsfachlichen Grundkenntnissen und berufspraktischen Erfahrungen der Jugendlichen ausging, hatte damit wenig Aussicht, als gleichwertig gegenüber der traditionellen gymnasialen, wissenschaftspropädeutischen Bildungskonzeption anerkannt zu werden. Zum und anderen war es auch nicht gelungen, trotz Ausweitung des allgemeinbildenden Unterrichts an der Berufsschule und der Einführung eines zusätzlichen fakultativen Unterrichts, der u. a. auf den Übergangs zur Hochschule vorbereiten sollte, einen nennenswerten Anteil der Berufsschüler für diesen Bildungsgang zu gewinnen. Statt der im Jahre 1948 vorgesehenen 15% hatten lediglich 4% aller Berufsschüler am fakultativen Unterricht teilgenommen. Im Zuge einer erneuten Lehrplanrevision von 1948 wurde der fakultative Unterricht zwar für obligatorisch erklärt, andererseits einseitig auf berufliche Spezialisierungen ausgerichtet. Das Ziel der Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung mit der Oberschulbildung war offensichtlich nicht erreicht und deshalb aufgegeben worden. Die Integration der Berufsschule in die Einheitsschule war auf diesem Wege somit faktisch gescheitert. 111. Überwindung des Dualismus von Lernen und Arbeiten Ein zweites Grundproblem der Berufsbildung bildet die Verbindung von berufstheoretischem und berufspraktischem Unterricht. In Deutschland tritt dieses Problem noch verschärft durch die institutionelle Trennung der beiden Lernorte Berufsschule (Theorie) und Betrieb (Praxis) hervor, die es in dieser Form nur in wenigen, zumeist deutschsprachigen Ländern gibt. Seit den fünfziger Jahren wird dieses Modell in Deutschland auch als "duales System" bezeichnet. Einen Ansatz zu Überwindung des Dualismus von theoretischem und praktischem Lernen bildet die Lehrwerkstatt. Sie beruht auf dem Prinzip des sequentiellen Lernens 12 • Die ihr zugrunde liegende didaktische Konzeption geht zurück auf den Direktor der Kaiserlich Technischen Schule Moskau, Viktor della VOS, und auf die von ihm entwickelte Methode des Lehrgangs. Später hat man diese 12 Vgl. Wiemann, Günter: ,.Didaktischer Begründungszusammenhang in der Auswahl von Unterrichtsmodellen im internationalen Kontext", in: Biermann, H/Linke, H./Wiemann, G. (Hrsg.): Didaktische Systeme in der beruflichen Bildung. Ein Ost-West-Vergleich. Alsbach 1990, S. 9-58.

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Methode auch die "Russische Methode" genannt. Nachdem er sie auf mehreren Weltausstellung (Wien 1873, Philadelphia 1876, Paris 1878) vorgeführt hatte, begann sie sich in den USA und vielen europäischen Industriestaaten durchzusetzen. Der Grundgedanke besteht darin, komplexe Lern- und Arbeitssituationen in einzelne Lernschritte aufzulösen und nach bewährten didaktischen Prinzipien zu strukturieren (z. B. vom Einfachen zum Schwierigen etc.). Als ein typisches Beispiel galt lange Zeit der Grundlehrgang Metall. Die traditionelle Handwerkslehre des Mit-Tuns und Nachmachen ("En-passant-Lehre") wurde damit durch ein höheres Maß an Systematik und Theorie wirkungsvoll ergänzt. Didaktisch gesehen bedeuten Lehrwerkstatt und Lehrgangsmethode die Einbeziehung schulischer Elemente in die berufspraktische Ausbildung. Die Einrichtung und Verbreitung der Lehrwerkstätten erfolgte im 19. Jahrhundert zunächst in der Großindustrie, bezeichnenderweise in den Eisenbahnwerkstätten als den damals technologisch fortgeschrittensten Betrieben. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, daß die von den Lehrlingen zu erlernenden Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht mehr im laufenden Arbeitsprozeß vermittelt werden konnten und das Lernen am Arbeitsplatz nur noch begrenzt möglich war. Die erhöhten Qualifikationsanforderungen in der industriellen Produktion erforderten zusätzliche theoretische und praktische Kenntnisse sowie einen den Arbeitsprozeß ergänzenden, von diesem separierten Unterricht. Während das Konzept der Lehrwerkstatt in der Weimarer Republik auf Seiten der Industrie zunehmend Anerkennung und Verbreitung fand, stieß es bei den Gewerkschaften auf teilweise scharfe Ablehnung. Die Gewerkschaften und die Linksparteien sahen in der Lehrwerkstatt einen "Angriff auf den Klassencharakter der Arbeiterschaft" bzw. ein "Zersetzungselement der Arbeiterklasse" (XI. Parteitag der KPD 1927). Im NS-Staat wurden die Lehrwerkstätten zielstrebig ausgebaut, gleichzeitig aber auch ideologisch vereinnahmt.. Mit der ideologischen Überhöhung des Betriebes zu einer Lebens- und Erziehungsgemeinschaft wurde auch die Lehrwerkstatt zu einem wichtigen Erziehungsfaktor hochstilisiert, der neben berufsfachlichen Qualifikationen auch Sekundärtugenden wie Disziplin, Ausdauer, Gehorsam etc. einüben sollte ("Holz formt", ,,Eisen erzieht"). Im Zuge der Kriegswirtschaft, wo es vor allem auf eine rationelle und effektive Produktion ankam, wurde die Berufsausbildung schließlich verstärkt aus der Berufsschule in den Betrieb und die Lehrwerkstatt verlegt. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß im ersten Jahr der SBZ die Auffassungen der wichtigsten politischen Kräfte zur Errichtung von Lehrwerkstätten durchaus kontrovers waren. Von vielen wurde die Lehrwerkstatt als sogenannte "nationalsozialistische " Einrichtung aus primär politischen Gründen abgelehnt. Der Industrie galt sie lange Zeit als zu kostspielig und unproduktiv. Bei der Berufschullehrerschaft und beim Handwerk gab es zunächst deutliche Vorbehalte, die aus der früheren Frontstellung der Lehrwerkstatt gegen die Meisterlehre resultierten. Demgegenüber fand die Idee der Lehrwerkstatt bei der FDJ und später

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auch bei den Gewerkschaften und der SED unerwartete Zustimmung. Sie sahen darin einen ,,kollektive Form des Lernens" und die Möglichkeit einer stärker pädagogisch orientierte Berufsausbildung, vor allem jedoch eine Chance, neue und zusätzliche Ausbildungsplätze zu gewinnen. Eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung der Lehrwerkstätten spielte der Befehl Nr. 49 der SMAD vom 12. Februar 1946. Er war der erste, der sich speziell auf die Berufsausbildung und ihre Lernorte richtete. Auf die ambivalente Wirkung dieses Befehls hat Ohlmeyer in seiner Dissertation aufmerksam gemacht. Danach gab es offensichtlich zwei voneinander abweichende offizielle Übersetzungen dieses Befehls, der inzwischen auch im russischen Original vorliegt. Die Divergenz bezog sich einerseits auf die Frage des Neuaufbaus oder Wiederaufbaues der Berufsausbildung nach dem 2. Weltkrieg, also auf die Frage der Neuorientierung oder Wiederanknüpfung an die deutsche berufspädagogische Tradition. Zum anderen, ob die Berufsausbildung stärker schulzentriert oder auf die Industrie hin ausgerichtet werden sollte. Von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DVfV) wurde der Befehl im Sinne einer stärkeren schulischen Orientierung der Berufsausbildung übersetzt und interpretiert. Sie entsprach damit offensichtlich auch der Intention des zuständigen Referatsleiters für das Berufs- und Fachschulwesen in der SMAD, Jakoff Nasdeshdin. Dieser hatte sich mehrfach für eine Überwindung des traditionellen Dualismus von theoretischem und praktischem Lernen und für eine Stärkung der Rolle der Berufsschule und insbesondere des Berufsschullehrers ausgesprochen. In dem Berufschulstatut, das mit dem Befehl Nr. 49 erlassen wurde, war die Anhindung von Lehrwerkstätten und Laboratorien an die Berufsschule als Alternative für die betriebliche Ausbildung ausdrücklich vorgesehen. Außerdem wurde darin den Berufsschulen eine Mitverantwortung für die berufspraktische Ausbildung zuerkannt. Rechtlich gesehen, bedeutete dieses eine nicht unwesentliche Modifikation des traditionellen dualen Systems. Das Ziel der Vertreter der DVfV und des Abteilungsleiters für das Berufs- und Fachschulwesen, Richard Fuchs, ging jedoch noch darüber hinaus, wie die Redebeiträge auf dem I. Berufspädagogischen Kongreß 1946 in Halle erkennen ließen. Ihnen ging es nicht nur um eine Ausweitung und Aufwertung der Rolle der Berufsschule durch Einbeziehung der berufspraktischen Ausbildung, sondern um ihre Umgestaltung in Richtung auf eine Produktionsschule, d. h. zu einer Schule, in der nach durchgängig pädagogischen Prinzipien gelernt und gearbeitet werden sollte. Wenngleich ein klares didaktische Konzept noch nicht vorgelegt wurde, so war doch erkennbar, daß die Befürworter der Produktionsschule an ältere Konzepte der Entschiedenen Schulreformer und Reformpädagogen der Weimarer Zeit 13 anknüpften, wie z. B. an Paul Österreich und den Russen Pawel Blonskij. 13 Vgl. Hurrienne, Gerlind: ..Die Produktionsschule - ein umstrittener pädagogischer Begriff", in: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, 66(1970)2, S. 81 - 102.

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Die Deutsche Verwaltung für Volksbildung konnte sich mit ihrer Vorstellung einer künftigen Produktionsschule nicht durchsetzen, obwohl diese immerhin in der Entschließung des 1. Berufspädagogischen Kongresses in Halle ausdrücklich gefordert worden war. Für die weitere Entwicklung der Berufsausbildung in der SBZ blieb dieser Kongreß weitgehend folgenlos, die Redebeiträge wurden sogar nur partiell abgedruckt. Statt dessen begann sich in der Industrie, der SED und den Gewerkschaften die Forderung nach einer sogenannten ..produktiven Lehrwerkstatt" durchzusetzen, die im Unterschied zur Produktionsschule und anderen Lehrwerkstatt-Konzepten betriebsbezogen sein sollte. Gleichzeitig erfolgte eine Abwendung von der bis dahin noch überwiegend handwerklichen Berufsausbildung (80% der Ausbildungsverhältnisse) zugunsten einer Ausbildung in der Industrie. Die Beweggründe waren überwiegend ökonomischer Natur. Der Mangel an Facharbeitern in der Industrie und die geringen materiellen und finanziellen Ressourcen ließen eine Zuordnung der Lehrwerkstätten zu den Großbetrieben wirtschaftlicher erscheinen.

IV. Berufsausbildung im Widerstreit pädagogischer und ökonomischer Zielsetzungen

Mit diesen ökonomischen Überlegungen ist bereits ein drittes Grundproblem der Berufsbildung angesprochen, die Spannung zwischen pädagogischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen. Die Berufsausbildung steht immer in diesem Spannungsverhältnis. das sich nicht ohne Qualitätsverlust der Ausbildung zugunsten dieser oder jener Seite auflösen läßt. Die Einführung der Betriebsberufsschulen bietet dafür ein gutes Beispiel. In der Entwicklung der Berufsausbildung in der SBZ/DDR markiert das Jahr 1948 eine entscheidende Wende. Mit Beginn des Schuljahres 1948/49, am 1. September 1948, nahmen erstmals 99 Betriebsberufsschulen in ausgewählten Großbetrieben ihre Arbeit auf. Vorausgegangen war eine groß angelegte Kampagne, an der sich führende Vertreter der SED und FDJ. allen voran Walter Ulbricht und Erich Honnecker, sowie Wirtschaftsfunktionäre der neu gegründeten Deutschen Wirtschaftskommission (DWK) beteiligten. Vermutlich ging die Initiative dazu jedoch von der sowjetischen Besatzungsmacht aus. Den Hintergrund bildete der Übergang der SBZ zur Planwirtschaft (1. Halbjahresplan 1948, Zweijahresplan 1949/50) und die Einbeziehung der Berufsausbildung in die Wirtschaftsplanung und Kaderpolitik. Als Planziel war die Steigerung der Arbeitsproduktivität im Zeitraum von 1947 bis 1950 um 30 Prozent vorgesehen. Für die Berufsausbildung ergab sich daraus die vorrangige Aufgabe, schneller als bisher den fehlenden Facharbeitemachwuchs für die Industrie heranzubilden. Außerdem sollte sie zu einem neuen Arbeitsethos beitragen bzw. zur .,Liebe zur Arbeit" erziehen. Im Unterschied zu diesen primär ökonomischen Motiven war mit der Einführung der Betriebsberufsschule offensichtlich noch keine pädagogisch-didaktische

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Konzeption verbunden. Dazu erfolgte die Einführung zu überraschend, wenn nicht gar überstürzt. Bis Ende 1947 war jedenfalls von einer Betriebsberufsschule noch keine Rede gewesen. Der Begriff wurde erst im April 1948 in einer Jugendkommission der DWK unter dem Vorsitz der FDJ geprägt. Zu jener Zeit setzten die Berufspädagogen mehrheitlich noch auf die Errichtung von Lehrwerkstätten in den Betrieben. Der Aufbau von Betriebsberufsschulen erhielt erst ab Frühjahr 1948 politische Priorität. Angesichts des seinerzeit bestehenden didaktischen Vakuums stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, ob es sich bei der Errichtung der Betriebsberufsschule lediglich um eine räumliche Verlegung der ehemals kommunalen Berufsschule in die Betriebe handelte, also um eine mehr fonnale Unterstellung einer relativ eigenständigen Institution unter die Betriebsleitung ohne eine wesentliche inhaltlichmethodische Neuorientierung, oder ob mit der Einführung der Betriebsberufsschule ein erster Schritt in Richtung der Anpassung der deutschen Berufsausbildung an das sowjetische System vollzogen werden sollte, die Beruflich-Technische Lehranstalt (PTU) in den Großbetrieben der UdSSR also das eigentliche Vorbild war. In der berufspädagogischen Diskussion der SBZ finden sich dazu keine Hinweise. Das sowjetische System der Berufsausbildung war der Mehrzahl der Bildungspolitiker wohl auch unbekannt. Diese Tatsache schließt jedoch nicht aus, daß die Erfahrungen und Vertrautheit mit dem eigenen System für die sowjetische Besatzungsmacht eine Rolle gespielt hat. Unzureichend geklärt ist auch noch die Frage, wieweit die Lehrwerkstattbewegung zur Entwicklung der Betriebsberufsschule beigetragen hat. War die Lehrwerkstattbewegung, insbesondere mit ihrem Konzept der "produktiven Lehrwerkstatt", ein "Wegbereiter für die Betriebsberufsschule'"4? Sicher hat sie mit der Systematisierung und Sequentierung des beruflichen Lernens wichtige Vorleistungen für die Überwindung des Dualismus von berufstheoretischem und berufspraktischem Lernen erbracht. Andererseits läßt sich den Stellungnahmen in der Fachliteratur jener Jahre entnehmen, daß sie von einigen Betriebspädagogen und Schulleitern auch als Konkurrenz angesehen wurde. Schließlich ist noch daran zu erinnern, daß es in Deutschland lange schon vor der Einführung der Betriebsberufsschule betriebliche Berufsschulen, wie z. B. Werkschulen und Werkberufsschulen gab. Ihre Geschichte reicht wie die der Lehrwerkstätten weit zurück in das 19. Jahrhundert. Seit der Jahrhundertwende hatten sich die Werkschulen vor allem in Großbetrieben entwickelt. In den Zwanziger Jahren spielten sie in der berufspädagogischen Diskussion eine gewisse Rolle. Auch nach 1945 sind in einigen Wirtschaftszweigen, wie z. B. im Bergbau, der Textilindustrie und bei der Reichsbahn betriebliche Berufsschulen weitergeführt worden. Die Betriebsberufsschule hätte also bei ihrer Gründung didaktisch schon an eine Werkschultradition anknüpfen können. Demgegenüber waren die Vertreter der Betriebsberufsschule, wie später auch die DDR-Bildungshistoriker, um Abgrenzung bemüht. Im Zuge des Übergangs zur 14

V gl. Ohlmeyer (Anm. 6).

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marxistisch-sozialistischen Pädagogik und der Orientierung an der Sowjetpädagogik erschien ein Rückgriff auf derartige Ansätze, zumal wenn sie reformpädagogisch geprägt waren, als politisch unangebracht und als historisch überholt. Das betraf nicht nur die Werkschulen und Werkberufsschulen, sondern noch weitaus mehr die stärker sozialpädagogisch orientierten Einrichtungen in der Jugendfürsorge, wie z. B. die sogenannten Siedlerschulen, und nicht zuletzt die auf dem I. Berufspädagogischen Kongreß geforderten Produktionsschulen. Sie zielten auf eine organische Verbindung und gegenseitige Durchdringung von Lernen und Arbeiten, Schule und Produktion. Dabei wurden Modelle eines ganzheitlichen, projektorientierten und handlungsorientierten Lemens entwickelt, die den simulativen Charakter und die Praxisfeme von Schule und Lehrwerkstatt zu überwinden suchten. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, ob nicht bei der Gründung der Betriebsberufsschule und unter dem Zwang vermeintlichen ökonomischen Nutzens und politischer Opportunität die Chance vergeben wurde, unter Rückgriff auf bewährte Vorbilder eine zeitgemäße und wegweisende didaktische Konzeption zu entwickeln. Eine Konzeption, die von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehst, die künstliche Trennung von Lernen und Arbeiten aufhebt und die Lernortfrage so löst, daß der traditionelle Dualismus von berufstheoretischem und berufspraktischem Lernen überwunden wird. V. Schlußbemerkung

Der historische Rückblick auf die Geschichte der Berufsausbildung in der SBZ hat gezeigt, daß dort bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre Fragen und Konzepte diskutiert und realisiert wurden, die in ihrer Aktualität bis heute nichts eingebüßt haben. Politische Vorgaben und ökonomische Zwänge haben damals jedoch dazu geführt, daß die Diskussionen abgebrochen und pädagogische Experimente aufgegeben wurden. Vergegenwärtigt man sich die aktuelle berufspädagogische Diskussion, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung und die Lemortfrage, so wird man feststellen, daß sie im Kern noch nicht sehr weit über den Stand von 1948/49 hinaus gekommen ist. Die Aufarbeitung der Berufsausbildung der SBZ hat damit nicht nur historische Bedeutung. Sie vermittelt auch ein vertieftes Verständnis der komplexen Zusammenhänge und hilft bei der Lösung aktueller Fragen, und sei es nur, daß sie vor überhöhten Erwartungen warnt und zu einer nüchternen und sachadäquaten Betrachtung führt.

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen: Die Neulehrer in den Ländern der SBZ 1945-1949 Von Lotbar Mertens I. Vorbemerkung

Das Hauptziel der sowjetzonalen Bildungspolitik nach 1945 war die Heranziehung einer neuen, antifaschistischen Intelligenz, da die alte Bildungselite sich durch ihre enge Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialismus kompromittiert hatte, bzw. weitgehend noch "bürgerlichen" Idealen anhing. Die Auswirkungen der Umstrukturierungen speziell im Bildungswesen, die durch das "Gesetz zur Demokratisierung der Schule" vom Mai 1946 eingeleitet wurden, 1 sollen hier am Beispiel der Länder Sachsen, der Provinz Sachsen (später Sachsen-Anhalt) und Thüringen untersucht werden. Der Begriff ,,Neulehrer" bezeichnete dabei die neugewonnenen Lehrkräfte, denen bei der Umgestaltung des alten bürgerlichen Bildungswesens in ein neues sozialistisches Schulsystem eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. Durch diese Wortbildung sollten sie von den sog. Altlehrem, die bereits vor dieser Neuorientierung im Dienst gewesen waren, ab- bzw. herausgehoben werden. Grundlage für eine derartige Heranbildung neuer Erzieher bildete der Befehl Nr. 162 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) über die "Vorbereitung der Lehrer für die Volksschule" vom 6. Dezember 1945 .Z II. Die Situation bei Kriegsende

Auf dem Gebiet der SBZ hatte es im Jahre 1939 etwa 1,7 Mio. Schüler gegeben. Im Dezember 1945 gab es hingegen 2,5 Mio. Kinder im schulpflichtigen Alter. Allein in den Ländern Sachsen, Thüringen, der Mark Brandenburg und der Provinz Sachsen hatte sich die Zahl der Schüler von 1,38 Mio. (1939) auf über 1,83 Mio. I Baske, Siegfried/Engelbert, Martha (Hg.): Zwei Jahrzehnte Bildungspolitik in der Sowjetzone Deutschlands: Dokumente. Bd.l: 1945 bis 1958. Heidelberg 1966, S. 24ff.; Günther, Karl-Heinz/Uhlig, Gottfried: Geschichte der Schule in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1968. Berlin (Ost) 1970, S. 42 ff. 2 Schöneburg, Karl-Heinz [(Autorenkollektiv unter Ltg. von]: Geschichte des Staates und des Rechts der DDR: Dokumente 1945- 1949. Hg.: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin (Ost) 1984, S. 214.

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(1945), d. h. um mehr als 30% erhöht, 3 obgleich im seihen Zeitraum die Bevölkerung lediglich um 10% gewachsen war. Hervorgerufen wurde diese Entwicklung, außer durch die geburtenstarken Jahrgänge 1933-39, vor allem durch den raschen Zuzug von kinderreichen Familien aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Diese sog. "Umsiedler" stellten im Dezember 1947 mit über 4,3 Mio. Personen fast ein Viertel der Gesamt!Jevölkerung in der SBZ dar. Insgesamt gesehen war die Wohnbevölkerung der späteren DDR zwischen 1939 und 1947 von 15,2 auf 19,1 Mio. Bürger angewachsen. Die gestiegene Schülerzahlließ die Lehrer-Schüler-Relation von 1:40 auf 1:62 emporschnellen, 4 da, neben vielen Kriegstoten, außerdem im Dritten Reich, infolge einer negativen NS-Propaganda, die Zahl der Lehramtsstudenten drastisch gesunken war.5 Erschwerend kamen noch die indirekten Auswirkungen der Kriegsjahre hinzu, wie etwa beschädigte Schulgebäude und I oder fehlendes bzw. zerstörtes Inventar derselben,6 die einen normalen, geregelten Schulbetrieb nahezu unmöglich machten. Wenn Schulgebäude einmal nicht zerstört waren, dienten sie zumeist als Kommandanturen oder Kasernen für die sowjetischen Besatzungstruppen. Noch im Sommer 1947 gab es in ländlichen Gebieten Schulen, an denen Kreide, Papier und Bleistifte nicht vorhanden waren.7 Insgesamt gab es auf dem Territorium der späteren DDR im Jahre 1945 39.348 Lehrer und Lehrerinnen an Volksschulen. Davon hatten 71,7% der NSDAP angehört, 8 im Reichsdurchschnitt waren es hingegen nur 55% gewesen. Hierbei sind die Parteianwärter und alle jene, die nur Mitglied in einer der angegliederten Organisationen wie SA, SS, HJ, BDM oder NS-Lehrerbund waren, nicht eingeschlossen. Darüberhinaus gab es noch erhebliche regionale Verschiebungen innerhalb der SBZ. So hatten in Thüringen 90% aller Volksschullehrer der NSDAP angehört. 9 Da die ehemaligen "Pgs" als untragbar galten und nicht weiter beschäftigt werden sollten, 10 fehlten, unter Einschluß einer angestrebten geringeren Lehrer-Schüler-Relation, fast 40.000 Lehrer in der SBZ. 11 3 Uhlig, Gotifried: Der Beginn der antifaschistisch-demokratischen Schulrefonn im Osten Deutschlands 1945-1946. HabiL-Schrift Kari-Marx-Universität Leipzig 1963, S. 83. 4 Ebd., S. 84. s Mertens, Lothar: Vernachlässsigte Töchter der Alma Mater. Ein sozialhistorischer und bildungssoziologischer Beitrag zur strukturellen Entwicklung des Frauenstudiums in Deutschland seit der J ahrhundertwende. Berlin 1991, S. I 03 ff. 6 Günther/Uhlig, S. 16 (Anm. 1). 7 Naimark, Norman M. : The Russians in Gennany. A History of the Soviet Zone of Occupation 1945-1949. Cambridge/ Mass.-London 1995, S. 454; Welsh, Helga A. : Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948). München 1989, S. 125. 8 Uhlig, S. 13 (Anm. 3). 9 Wietstruk, Siegfried: Der Aufbau und die Entwicklung der staatlichen Volksbildungsorgane bei der Durchführung der demokratischen Schulrefonn in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945 bis 1949. Diss. B Akademie der Wissenschaften, Berlin (Ost) 1982, S. 14. 10 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BABL), DR 2/421, BI. 2; siehe das Rundschreiben Paul Wandels an die Landes- und Provinzialverwaltungen vom 15. Juli 1946.

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Der immense Bedarf an unbelasteten Lehrkräften war nicht durch die Wiedereinstellungen von durch die Nationalsozialisten entlassenen oder gemaßregelten Lehrern zu decken. Auch die Heranziehung von bereits pensionierten Erziehern konnte nur wenig zur Schließung der Lücken beitragen. Überdies beeinflußte diese zweite Möglichkeit die Altersstruktur der Lehrkräfte äußerst negativ. So waren im Herbst 1945 22% aller Volksschullehrer 12 der SBZ über 60 Jahre alt 13 und selbst Siebzigjährige wurden noch zurück ans Katheder geholt, sofern sie die politisch gewünschte "antifaschistisch-demokratische" Gesinnung besaßen. 14 Um den Auftrag der Sowjetischen Militäradministration nach Wiedereröffnung der Schulen zum Schuljahr 1945/46 erfüllen zu können, IS wurden bis auf das Land Sachsen überall formelle oder nur gering belastete NSDAP-Mitglieder wieder in den Schuldienst aufgenommen, 16 unter der Prämisse, sie bei Verfügbarkeil von geeignetem Ersatz gleichfalls zu entlassen. Denn alle schon im Dritten Reich tätigen Lehrer galten für die .,Schulen des demokratischen Deutschlands" als ungeeignet. 17 Ungeachtet dessen gab es im Oktober 1945 unter den 3.800 Volksschullehrern Mecklenburgs noch 1.100 "Parteigenossen" und von den 7.003 Grundschullehrern Brandenburgs im März 1946 hatten I .143 früher der NSDAP angehört. 18 Geradezu grotesk war die Situation in Thüringen, wo die Zahl der NSDAP-Mitglieder von März bis Mai 1946 durch Personen, die nachträglich wiedereingestellt wurden, um 268 stieg, so daß am Ende des gleichen Jahres noch bzw. wieder 2.363 ehemalige Pgs im Schuldienst waren. 19 Die Hauptschuld an dieser Entwicklung trugen die lokalen Antifa-Ausschüsse, 20 die oftmals auch jene schützten, deren Parteieintritt schon vor dem 30. Januar 1933 erfolgt war. Auch der überaus hohe Anteil nationalII Hohlfeld, Brigitte: Die Neulehrer in der SBZ/ DDR 1945 - 1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat. Weinheim 1992, S. 44f.; Sczepansky, Hermann: Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik im Spiegel der westdeutschen und Westberliner Geschichtsschreibung und historisch-politischen Publizistik. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig 1969, S. 129. 12 1n Brandenburg waren es sogar 29%; Wermter, Otto: Die Neulehrerausbildung für die allgemeinbildenden Schulen auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik vom Mai 1945 bis Juli 1948. Dargestellt am Land Brandenburg. Diss. Pädagogisches Zentralinstitut, Berlin (Ost) 1964, S. 81. 13 Uhlig, S. 160 (Anm. 3). 14 Fröhlich, Walter: Die Demokratisierung des mecklenburgischen Grundschulwesens vom Juni 1945 bis zum 3. Pädagogischen Kongreß 1948. Diss. Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1963, S. I 08 f. IS Schöneburg, Kari-Heinz [Autorenkollektiv unter Ltg. von]: Errichtung des Arbeiterund Bauern-Staates der DDR 1945-1949. Hg.: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin (Ost) 1983, S. 207 f. 16 Naimark, S. 456 (Anm. 7). 11 Brandes, Heino: .,Neue Lehrer? - Neulehrer!". ln: Einheit, 1. Jg. (1946), Berlin, s. 430-437; s. 430ff. IS Wietstruk, S. 88 (Anm. 9). 19 Welsh, S. 102 (Anm. 7). 2o Uhlig, S. 150 (Anm. 3).

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Lotbar Mertens

sozialistischer Lehrkräfte in der Provinz Sachsen verringerte sich kaum. Zwar waren bis August 1946 bereits 4631 Lehrer wegen ihrer Parteizugehörigkeit zur NSDAP aus dem Schuldienst entlassen worden, 21 doch selbst im September 1949 waren noch immer 3.200 ehemalige Pgs an den Schulen Sachsen-Anhalts tätig. 22 Es war dabei sogar vorgekommen, daß belastete Lehrer, die im Land Sachsen entlassen worden waren, in der Provinz Sachsen wieder neu eingestellt worden waren. 23 Auch in Thüringen konnte die angestrebte "antifaschistische" Säuberung des Lehrkörpers, trotz der tatkräftigen Unterstützung durch die SMAD,24 erst Ende 1948 abgeschlossen werden. Die Schwierigkeiten bei der Entnazifizierung blieben nicht nur auf die Lehrerschaft beschränkt, wie ein Schreiben des Leiters der Schulabteilung in der Zentralverwaltung für Volksbildung vom 18. Januar 1946 an die Landesverwaltung Sachsen zeigt: In verschiedenen Schulklassen hingen noch Bilder Hitlers und anderer sogenannter nazisfiseher ,Führer'. Auch nazisfische Plakate und Inschriften waren nicht überall entfernt . .. 25 In den einzelnen Ländern der SBZ war bei der Wiederaufnahme des Unterrichtes im Herbst 1945 die Zahl der im Dienst belassenen Parteigenossen konträr zur Zahl der eingestellten Neulehrer oder Schulhelfer. Wahrend im Land Sachsen 2.059 und in Brandenburg 1.372 Neulehrer26 die Arbeit aufnahmen, waren es in der Provinz Sachsen lediglich 417 und in Thüringen gar nur 333. Anfang 1946 waren im Land Sachsen bereits 7.300 Neulehrer tätig, während es in Thüringen erst 984 waren, obgleich Sachsen nur doppelt so viele Lehrkräfte wie Thüringen besaß?7 Dies verdeutlicht recht anschaulich, ebenso wie das unterschiedliche Zurückgreifen auf ehemalige NSDAP-Mitglieder, das noch sehr unterschiedliche Verhalten der einzelnen Länderverwaltungen für Volksbildung. So waren im März 1947 an den allgemeinbildenden Schulen der gesamten SBZ noch ein Viertel aller Lehrkräfte ehemals Mitglied der NSDAP oder einer der ihr angeschlossenen Gliederungen gewesen.28 Lediglich das Land Sachsen hatte alle belasteten Lehrer vollständig entlassen29 und trug schwer an dieser personellen Auszehrung: Die 21 Hauptstaatsarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg (HStASA), Ministerium für Volksbildung, Nr. 7337; Protokoll der Provinzial-Lehrertagung in Halle I S. vom 1./2. Aug. 1946. 22 Sareik, Ruth: Die Demokratisierung des Grundschulwesens in der Provinz Sachsen vom Mai 1945 bis zum Erlaß des Schulgesetzes im Mai 1946. Diss. Pädagogisches Zentralinstitut, Berlin (Ost) 1964, S. 143. 23 Uhlig, S. 150 (Anm. 3). 24 Feige, Hans-Uwe: Zur propagandistischen Unterstützung des demokratischen Neuaufbaus in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands durch Mitarbeiter der SMAD ( 19451949). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 18. Jg. (1976), Berlin (Ost), S. 482 - 491; S. 482ff. 25 Uhlig, S. 119 (Anm. 3). 26 Wermter, S. 84 (Anm. I 2). 27 Uhlig, S. 165 (Anm. 3). 28 16.332 (= 25,6%) der insgesamt63.641 Lehrkräfte; Wermter, S. 39 (Anm. 12). 29 Hohlfeld, S. 48 ff. (Anm. II ); Wille, Manfred: Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945 - 48. Magdeburg 1993, S. 91 u. 95.

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen

287

Bedarfsfrage ist im Land Sachsen augenblicklich besonders ernst. Sachsen hat bekanntlich am 1. 9. 45 unter Entlassung aller Pg-Lehrer mit 18.000 vollständig unausgebildeten Neulehrern bei 3.600 Altlehrern den Schulbetrieb aufgenommen. 30 Resümierend wurde vom sächsischen Volksbildungsministerium im Sommer 1947 konzediert: Die radikale Ausmerzung der Pg-Lehrer am Anfang des Aufbaues ist, wie sich jetzt zeigt, pädagogisch falsch gewesen. 31 Diese Selbstkritik an der rigiden Entnazifizierung war das Ergebnis einer Referentenbesprechung, die eine Woche vorher, am 13. August 1947 in Berlin stattgefunden hatte und auf der das sächsische Vorgehen scharf kritisiert worden war. 32 Bereits einen Monat zuvor war Paul Wandel in einem Rundschreiben an die Landesschulverwaltungen vom strikten Kurs der Entnazifizierung abgerückt, indem er verfügte: "Die Erfahrung hat aber auch gelehrt, daß es unter den Lehrern, die in der NSDAP waren, solche gibt, die bei näherer Nachprüfung der Umstände, die zum Eintritt führten, und bei gerechter Würdigung der Persönlichkeit, insbesondere auch der Einstellung gegenüber dem Aufbau nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 die Überzeugung ermöglichen, daß sie heute fähig und auch gewillt sind, aktiv am Neuaufbau eines demokratischen Deutschland teilzunehmen. In solchen Fällen ist eine Beschäftigung im Schuldienst möglich . .. Die Zahl der positiven Fälle soll etwa 10% der Gesamtlehrerschaft des Landes (Provinz) nicht überschreiten. Die Verfahren sind umgehend einzuleiten und schnell durchzuführen. Ein Bericht über die Erfahrungen und Ergebnisse bitte ich bis zum 30. August vorzulegen.'m Diese Milderung der ursprünglichen restriktiven Linie war das Ergebnis des enormen Personalbedarfs, das auch durch die Neulehrerrekrutierung nur gemildert, aber nicht vollständig gelöst werden konnte. Um die, trotz aller bereits hier erläuterten Maßnahmen, noch vorhandenen Lücken beim Lehrerbedarf zu schließen, nahmen ungefähr 15.000 Neulehrer zu Beginn des Schuljahres 1945 I 46 ihre Tätigkeit auf; teilweise ohne jegliche vorherige Schulung. 34 Vor allem in ländlichen Gebieten mit großem Lehrermangel mußten die Schulhelfer ihren Dienst ohne vorangehende Ausbildung für die neue Tätigkeit antreten. 35 Manche hatten sich auch nur wegen der Aussicht auf ein Bett und die freie Verpflegung für die Schnellkurse angemeldet. 36 Ungeachtet dessen, gab es noch im Frühjahr 1949 erhebliche Versorgungsmängel unter der Neulehrerschaft und Fälle, in denen Neulehrer sich von ihren Wirtsleuten einen Wintennantel bzw. Schuhe borgen müssen, um zum Unterricht zu gehen. 37 In dem 30 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Dresden (SHStAD), Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 996; Protokoll vom 20. Aug. 1947. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 BABL, DR 2/421, BI. 2; Rundschreiben Paul Wandel an die Landes- und Provinzialverwaltungen vom 15. Juli 1946. 34 Hohlfeld, S. 62 ff. (Anm. II ); Sczepansky, S. 129 (Anm. ll ). 3S Uhlig, S. 164 (Anm. 3). 36 Naimark, S. 455 (Anm. 7). 37 HStASA, Min. f. Volksbildung, Nr. 2445 ; Schreiben des Ministerium des Innern, Abt. Information, an das Ministerium für Volksbildung vom 15. März 1949.

Lothar Mertens

288

bei Naumburg gelegenen Kreis Eckartsberga besaßen beispielsweise etwa 120 Neulehrer keine eigene Uhr. 38 Sie scheinen daher ihren Tagesrhythmus und damit den Schulalltag, nach den Glockenschlägen der örtlichen Kirchtunnsuhren eingeteilt zu haben. Tabelle 1

Parteimitgliedschaft der Lehrer der Grund- und Oberschulen (31. Dez. 1946)39 Lehre

Land Brandenburg

SED

LDP

abs.

in%

11.005

3.717

33,8

725

6,6

870

7,9

408 3.149

5 14,6

976 2.002

11,9 9,3

abs.

in%

CDU

abs.

abs.

in%

Meck1enburg- V. Sachsen

8.230

3.125

21.538

11.013

38 51,1

Provinz Sachsen

16.009

5.952

37,2

1.899

11,9

1.377

8,6

Thüringen

10.631

3.550

33,4

1.119

10,5

886

8,3

Zusammen

67.413

27.357

40,6

7.300

10,8

6.111

9,1

Der radikale personelle Umbruch, insbesondere in Sachsen, und der wachsende Anteil von Neulehrern an der Pädagogenschaft, bedingten auch eine deutliche Umorientierung in der politischen Mitgliedschaft.40 Während in Brandenburg die Lehrerschaft unterproportional (48,3%) einer der drei Parteien angehörte, war die Politisierung in Sachsen am höchsten, wo drei von vier Lehrern Mitglied einer Partei waren und bereits über die Hälfte der SED angehörte. 111. Vor· und Ausbildung der Neulehrer Im Bewerbungsaufruf vom Oktober 1945 war als fachliche Einstellungsvoraussetzung für Neulehrer Alter 19 bis 35 Jahre, überdurchschnittliche Befähigung, gute Allgemeinbildung und pädagogische Neigung gefordert worden. 41 Die politische Forderung, die Neulehrer vornehmlich aus den Reihen der Arbeiterschaft zu gewinnen, ließ sich hingegen nicht verwirklichen. Betrachtet man die Schulbildung der Neulehrer für die gesamte SBZ, so besaßen 54% von ihnen den Volksschulabschluß, 32% den Mittelschulabschluß und 14% hatten eine höhere Schule besucht. Allerdings sind markante regionale Unterschiede zu konstatieren. Während in Thüringen der Anteil der Volksschulabsolventen bei 76% lag, waren es in Mecklenburg nur 36%. Die Neulehrer rekrutierten sich von ihrer sozialen Herkunft 38

Ebd.

Erstellt nach Wille, S. 96 (Anm. 29); prozentuale Anteile eigene Berechnung. Siehe auc h Hohlfeld, S. 237 ff. u. 328 ff. (Anm. II ). 41 Bekanntmachungen. In: Amtliche Nachrichten der Landesverwaltung Sachsen, I. Jg., Nr. 9, 29. Okt. 1945, Dresden, S. 45. 39

40

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen

289

her zwar vorwiegend aus der Arbeiterschaft (55%), doch ein Drittel waren frühere Angestellte, während der Anteil der Bauern bei drei Prozent lag.42 Viele Schulhelfer, wie z. B. Studenten oder Schüler, waren überhaupt noch nicht berufstätig gewesen. Vor allem im stark industrialisierten Sachsen lag der Anteil der Arbeiter mit 12% verhältnismäßig niedrig. Zwischen 20-25% der Neulehrer brachen alsbald die Tätigkeit ab und wechselten in andere Berufe bzw. kehrten in ihre frühere Tatigkeit zurück;43 in Sachsen waren es im ersten Halbjahr 1947 fast 1.000 Personen.44 Als Gründe nennt Uhlig die mangelnde Qualifizierung für die neue Aufgabe,45 die, zumeist trügerische, Hoffnung auf eine bessere Lebensmittelversorgung auf dem Land als in der Stadt und die hohe Fluktuation in die früheren Berufe.46 Diese wurden, aufgrund des immer deutlicher zutage tretenden Facharbeitermangels, materiell wieder attraktiver47 und veranlaSten selbst zahlreiche SED-Mitglieder zu einem Ausstieg aus dem Neulehrerdasein.48 Um die angehenden Lehrer besser auszubilden und deren hohe Abbrecherquote abzubauen,49 wurden deshalb mehrmonatige Schulungen durchgeführt. Außerdem mußten sich die angehenden Neulehrer zu einer mindestens dreijährigen Tätigkeit im Lande verpflichten. 50 Aus Sicht der Zentralverwaltung stellte die unerwünschte Fluktuation der Neulehrer zum einen eine verlorene Ausgabe von Mitteln, zum andern aber empfindliche Störungen des Schulbetriebes dar. 51 So waren beispielsweise in Thüringen für die Instandsetzung und Ausstattung der 20 Ausbildungsstätten fast eine halbe Million RM aufgewendet worden. 52 Hinzu kamen noch die VerpflegungsUhlig, S. 171 f. (Anm. 3). Welsh, S. 122 (Anm. 7); Uhlig, S. 175 (Anm. 3). 44 SHStAD, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 996; Protokoll vom 20. Aug. 1947. 45 Dies kann als Eingeständnis einer vollkommen falschen Einstellungspolitik in den ersten Wochen und Monaten des Schuljahres 1945/46 gewertet werden, wo alle Bewerber, ohne Überprüfung ihrer Vorkenntnisse und pädagogischen Fähigkeiten, sofort in den Schuldienst aufgenommen wurden; siehe auch Welsh, S. 113 ff. (Anm. 7). 46 Naimark, S. 455 (Anm. 7); Uhlig, S. 197 (Anm. 3). 47 Dittrich, Gottfried: Quantitatives Wachstum und Strukturveränderungen der Arbeiterklasse der DDR als planmäßig gestaltete Prozesse (Ende der vierzigerbis Anfang der sechziger Jahre). In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 18. Jg. (1976), Berlin (Ost), S. 240-257; S. 247ff. 48 Naimark, S. 457 (Anm. 7). 49 Siehe Brandes, S. 434 (Anm. 17), woraus ersichtlich wird, daß 30-40% aller Teilnehmer der vom Januar bis August 1946 abgehaltenen ersten Kurse als ungeeignet abgewiesen wurden. so SHSAD. Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Nr. 996; Protokoll vom 20. Aug. 1947; HStASA, Min. f. Volksbildung, Nr. 2386; Rundbrief des Ministers für Volksbildung an die Direktoren der Ausbildungskurse vom 19. Dez. 1946. st BABL. DR 2/421. BI. 15; Rundschreiben der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung an die Landesministerien für Volksbildung vom 18. Dez. 1946. s2 Ebd., BI. 20-32, hier BI. 21; Bericht über die Jahresarbeit der Pädagogischen Fachschulen des Landes Thüringen für das Jahr 1946, S. I. 42

43

19 Timmermann

290

Lothar Mertens

stipendien für die Kursteilnehmer, so die achtmonatige Ausbildung jedes einzelnen Neulehrers in Thüringen insgesamt 783 RM kostete. 5 3 In Thüringen waren aufgrund des Befehls Nr. I 14 der SMA Thüringen vom Januar 1946 20 Pädagogische Fachschulen zur kurzfristigen Ausbildung von 4600 demokratischen neuen Lehrern in Achtmonatskursen errichtet worden. 54 Als Leiter der Einrichtungen wurden nur Lehrkräfte berücksichtigt, die nicht in der NSDAP gewesen waren und außerdem über die notwendigen organisatorischen und pädagogischen Fähigkeiten verfügten. Von den 20 Leitern waren 14 zuvor an Volksschulen und sechs an höheren Schulen tätig gewesen. Parteipolitisch war eine deutliche Präferenz zugunsten der SED gegeben, 55 der zwei Drittel (13) angehörten, während einer in der LDP, zwei in der CDU und vier parteilos waren. Unter den I 08 hauptamtlich tätigen Dozenten, gab es zwar zwei nominelle Mitglieder der NSDAP (Eintritt 1937 bzw. 1942), diese waren jedoch aufgrund illegaler antifaschistischen Tätigkeit rehabilitiert und von der SMA Thüringen anerkannt worden. Nur ein Drittel (35) der Dozenten war in der SED, während 10 in der LDP und 21 in CDU waren. Damit war der Anteil der SED-Kader nur halb so hoch, wie unter dem Leitungspersonal, und die Anteile der LDP und CDU hingegen fast doppelt so hoch. Dies spricht zum einen für die gezieltere parteipolitische Selektion des Leitungspersonals in den Schlüsselfunktionen und zum anderen für die (noch) fehlende breite Massenbasis (symptomatisch auch die Berücksichtigung der zwei nominellen Pgs), die einen ähnlich hohen Anteil unter den Dozenten nicht zuließ. Nach den mehrwöchigen Kursen der Anfangszeit im Spätherbst 1945, waren es ab Frühjahr I 946 vor allem Achtmonatslehrgänge, die zur Vorbereitung der Neulehrer dienten. Durch insgesamt 93 dieser Achtmonatskurse wurden in der gesamten 24.010 Lehrer ausgebildet, von denen 11.279 (46,9%) Frauen waren. Im Hinblick auf das hohe Durchschnittsalter der Altlehrer war die Altersstruktur der Kursteilnehmer erfreulich, denn 76% der Absolventen waren jünger als 30 Jahre. 56 IV. Statistik der 32 Achtmonatskurse in der Provinz Sachsen Näheren Aufschluß über Herkunft und Vorbildung der Teilnehmer an den Achtmonatslehrgängen geben die folgenden Statistiken,57 in denen die Angaben aller 8.554 Teilnehmer an den insgesamt 32 Achtmonatskursen vom Januar bis August I 946 in der Provinz Sachsen (Sachsen-Anhalt) tabellarisch erfaßt sind.58 Beim s1 Ebd., hier BI. 29; Bericht. ..• S. 9. Ebd., hier BI. 21; Bericht.. . , S. I. ss Ebd., hier BI. 23; Bericht. .. , S. 3. S6 Uhlig, S. 171 (Anm. 3).

S4

57 Für die 20 Kurse in Thüringen ist eine ähnliche Tendenz zu konstatieren; BABL, DR 21421, BI. 20- 32; siehe Bericht über die Jahresarbeit der Pädagogischen Fachschulen des Landes Thüringen für das Jahr 1946. SB HStASA, Ministerium für Volksbildung, Nr. 7331; auch abgedruckt in Sareik.

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen

291

Beginn der Kurse betrug die Zahl der Teilnehmer 6.388, davon waren 2.889 (45,2%) weiblich. Durch spätere Zugänge von weiteren 2.166 Personen59 erhöhte sich diese Zahl auf insgesamt 8.554. Lediglich 5.903 dieser 8.554 Kursteilnehmer besuchten die Achtmonatskurse bis zur Abschlußprüfung. Von den 5.903 Absolventen waren 3.192 (54,1 %) männlichen und 2.711 (45,9%) weiblichen Geschlechts. Tabelle 2 Gründe für vorzeitiges Ausscheiden Vorzeitige Abgänge aus

abs.

in%

1.221

14,3

politischen Gründen

582

mangelhaften Leistungen

6,8 4,4

sittlichen Mängeln

377 77

bereits in den Schuldienst eingetreten

394

4,6

2.651

31 ,0

persönlichen Gründen

Insgesamt ausgeschieden

0,9

Zu diesen 31 % der Teilnehmer die vorzeitig ausschieden, kommen noch weitere 480 Personen (= 5,6%) hinzu, welche die Abschlußprüfung nicht bestanden. Dadurch liegt die Ausfallquote mit 36,6% relativ hoch. Von den 3.192 männlichen Teilnehmern bestanden 313 (9,8%) die Abschlußprüfung nicht. Bei den weiblichen Absolventen fielen hingegen nur 167 (6,2%) der 2.711 Prüflinge durch. Dadurch liegt der Anteil der Frauen bei denen, welche die Kurse erfolgreich absolvierten, geringfügig über ihrer Quote bei der GesamtteilnehmerzahL Tabelle 3 Prüfungsergebnisse der Männer Ergebnis

Volksschule in%

abs.

Mittlere Reife abs.

Gesamt

Abitur

in%

abs.

in%

abs.

in%

13

0,7

6

0,6

25

6,6

44

1,4

153

8,7

262

25,1

152

39,9

567

14,8

Befriedigend

885

53,9

164

42,9

1.612

50,5

470

50.1 26,6

563

Ausreichend

155

14,8

nicht bestanden

245

13,9

58

5,6

31 10

8,1 2,6

656 313

20,5 9,8

1.766

100

1.044

100

382

100

3.192

100

Mit Auszeichnung Gut

Zusammen

In den folgenden Tabellen sind die Prüfungsergebnisse außer nach dem Geschlecht zusätzlich noch nach der Vorbildung differenziert, wobei zu berücksichti59

19*

Die jedoch nicht nach Geschlecht differenziert worden waren.

Lotbar Mertens

292

gen ist: Ein Teilnehmer, der das Abitur besitzt, wurde mit anderen Maßstäben gemessen als ein anderer, derdie Vorbildung der Volksschule hat. 60 Tabelle 4

Prüfungsergebnisse der Frauen Ergebnis

Volksschule abs.

in%

Gut Befriedigend Ausreichend nicht bestanden

3 127 484 241 ll5

0,3 13,1 49,9 24,8 Jl,9

Zusammen

970

100

Mit Auszeichnung

Mittlere Reife in% abs.

Abitur

Gesamt in%

abs.

in%

abs.

21 188 152 37 4

5,2

369 688 220 48

I 27,6 51,4 16,4 3,6

9.1 1

38 684 1.324 498 167

1,4 25,2 48,8 18,4 6,2

1.339

100

402

100

2.711

100

14

46.8 37,8

Auffallend ist das notenmäßig bessere Abschneiden der Frauen ungeachtet der schulischen Vorbildung. Lediglich bei der Gruppe derjenigen, die mit der Vorbildung ,,Abitur" die Benotung "mit Auszeichnung" erreichten, schneiden die Männer etwas günstiger ab. Der Zusammenhang zwischen dem Prüfungsergebnis und der vorhandenen Schulbildung ist deutlich konstatierbar. Die Absolventen und Absolventinnen mit Abitur sind besonders zahlreich in den beiden höchsten Beurteilungskategorien ("mit Auszeichnung", "gut") vertreten. Außerdem sind Differenzen, zwischen Abitur und Mittlerer Reife einerseits und Volksschulbildung andererseits, klar erkennbar. Bemerkenswert bei der folgenden altersmäßigen Aufteilung ist der nur geringfügige, leistungsmäßige Abfall der älteren Teilnehmer, die sich, wie Sareik betont,61 mit großem Fleiß und besonderer Ausdauer dem Studium widmen. Auffallend ist dagegen der relativ hohe Anteil der Jüngeren, bei denen sich offensichtliche Wissenslücken aus der teilweise katastrophalen Unterrichtssituation der Kriegsjahre und dem geringen Bildungsinteresse des Nationalsozialismus offenbaren.62 Diese Aussagen werden auch durch die Ergebnisse in Thüringen bestätigt, wo der Anteil der Teilnehmer mit Mittel- und Oberschulbildung, die mit "sehr gut" abschlossen (2,2%), fünfmal höher war als der Anteil unter den Volksschülern (0,4%). Bei der Abschlußnote "gut" waren die Mittel- und Oberschüler (36,5%) fast dreimal so häufig vertreten als die Teilnehmer mit Volksschulbildung (12,7%).63 60

61

Brandes, S. 434 (Anm. 17). Sareik, S. 179 (Anm. 22).

62 Mertens, Lothar: Forschungsforderung im Dritten Reich. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 44. Jg. (1996), H. 2, Berlin, S. Jl9-126, S. 120ff. 63 BABL, DR 2/421, BI. 20-32, hier BI. 29; Bericht, S. 9.

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen

293

Tabelle 5

Frühere Berufe der Männer Abschluß Beruf

Bestanden

nicht bestanden in%

abs.

Arbeiter I Handwerker

929

selbständ. Handwerker

60

Bauern Beamte

abs.

in%

32,3 2,1

142 9

13,3 13,0

38

1,3

6

13,6

97

3,4

5

4,9

730

25,5

74

9,2

41

1,4

3

6,8

freie Berufe technische Berufe

153 297

5,3 10,3

10 26

6,1 8,1

ohne Beruf"'

534

18,5

38

6,7

2.879

100

313

8,9

kaufmänn. Angestellte soziale Berufe

Zusammen

Tabelle 6

Frühere Berufe der Frauen Abschluß Beruf

Bestanden abs.

nicht bestanden In%

abs.

in%

Arbeiter I Handwerker

176

6,9

21

10,7

selbständ. Handwerker

15

0,6

1

6,3

Bauern

42

1,7

0

0

Beamte kaufmänn. Angestellte

73 912

2,9 35,8

I

1,4

65

6,7

soziale Berufe

290

11,4

7

2,4

79

3,1

4

4,8

freie Berufe technische Berufe ohne Beruf'~ Zusammen

145

5,7

7

812

31,9

61

4,6 7,0

2.544

100

167

6,2

Die oben aufgezeigte Interdependenz von Schulbildung und Prüfungsleistung zeigt sich ebenfalls bei der Auflistung der früheren Berufe im Vergleich zum Prüfungsergebnis. Wahrend bei den Männem 13% der ehemaligen Arbeiter und Bauern den Anforderungen nicht genügten, waren es bei den übrigen Berufssparten nur halb soviele. Bei den Frauen zeigt sich ein ähnliches Bild, dort ist die Diskrepanz zwischen früheren Arbeiterinnen und Beamtinnen besonders eklatant. Darüber hinaus dokumentieren die Tabellen 5 und 6, eine, gegenüber dem selbst64

65

Vorwiegend Studenten und Schüler. Vorwiegend Studentinnen, Schülerinnen und Hausfrauen.

Lotbar Mertens

294

gestellten Anspruch, 66 lediglich zur Hälfte erreichte Rekrutierungsrate der Neulehrer aus der Arbeiterschaft. Die Personen ohne vorherige berufliche Tätigkeit sind, neben der kaufmännische Angestelltenschaft, überproportional vertreten. 67 Interessant und zugleich politisch brisant ist die Untergliederung der Teilnehmer nach ihrer Parteiangehörigkeit, besonders hinsichtlich des Prüfungsresultats. Die Tabellen 7 und 8 verdeutlichen, daß vor allem parteigebundene und damit politisch zuverlässige Personen zu den Kursen zugelassen wurden. Dies ist auch für Thüringen zu konstatieren, wo der Organisationsgrad und die Parteizugehörigkeit sehr stark zwischen den 20 Kursorten differierte. So erreichte die SED in Sonneberg (89%), Sondershausen (80%) sowie Altenburg und Greiz (je 72%) ihre höchsten Anteile, während die LDP in Gotha (15%) und Dreissigacker (11 %) überproportional vertreten war. Eine Bastion der CD~8 war hingegen Heiligenstadt (26%), aber auch Erfurt (9%) und Gotha (8%) lagen deutlich über dem Durchschnitt. Auffallend ist, daß die Orte an denen die LDP und die CDU überproportional stark waren, zugleich auch hohe Anteile an parteilosen Teilnehmern aufwiesen (Schmalkalden 60%, Heiligenstadt 48%, Erfurt 47%). Nicht verwunderlich ist, daß die FDJ an den Pädagogischen Fachschulen überproportional vertreten war, an denen auch die SED ihre Hochburgen hatte (Hildburghausen 40%, Sonneberg 23%. Greiz und Nordhausen je 22%).69 Tabelle 7

Partelzugehörigkeit der Männer Bestanden

Abschluß

nicht bestanden in%

Partei

abs.

in%

abs.

SED LDP

2.195

76,2 11,2

253

10,3

321

24

6,9

162

5,6

17

9,5

201

7,0

19

8,6

2.879

100

313

9,8

CDU Parteilos Zusammen

Wahrend der Lehrgangsdauer70 dienten zahlreiche Veranstaltungen der einseitigen politisch-ideologischen Erziehung der Neulehrer. So sprachen im OktoberDezember 1945 KPD-Funktionäre an verschiedenen Orten zu den Kursteilnehmern 66 Deiters, Heinrich: Pädagogische Aufsätze und Reden. Berlin (Ost) 1957, S. 198; Uhlig, S. 168 (Anm. 3). 67 Nach der Volkszählung im Jahre 1950 gab es in der DDR 4,417 Mio. Arbeiter und 1,883 Mio. Angestellte; Statistisches Jahrbuch der DDR, Jg. 1956, Berlin (Ost), S. 156, Tab. 7. 68 Siehe NainuJrk, S. 456 (Anm. 7) zur innerparteilichen SED-Kritik an der CDU-Präferenz vieler Neulehrerkandidaten. 69 BABL, DR 2/421, BI. 20 - 32, hier BI. 27; Bericht . .. , S. 7. 70 Siehe auch Hohlfeld, S. 73 ff. (Anm. II ).

Die Etablierung zuverlässiger Kader in den Schulen

295

über "Die Bodenrefonn und weitere Sozialisierungsmaßnahmen" oder ,,Die große Sozialistische Oktoberrevolution". 71 Aber auch sowjetische Wissenschaftler und Offiziere hielten öffentliche Vorträge,72 besonders über Fragen des Kommunismus und dessen praktischer Umsetzung in der Sowjetunion.73 Parallel dazu verlief die von westdeutscher Seite als Sowjetisierung und Russifizierung74 charakterisierte Umstellung der Lehrinhalte in den allgemeinbildenden Schulen und im Wissenschaftssystem.75 Deutlich erkennbar wird dies bei der Einführung einer Fremdsprache an den Grundschulen der SBZ/DDR. Die Berechtigung der Kritik dokumentiert dabei ein Bericht des sowjetzonalen Ministeriums fiir Volksbildung aus dem Jahre 1947, indem die in den 5. Klassen der Grundschulen Sachsen-Anhalts unterrichteten Pflichtfremdsprachen aufgeführt sind. Danach wurden 3.629 Klassen in Russisch (95,6%) jedoch nur 153 Klassen in Englisch (4,0%) zwölf Klassen in Französisch (0,3%) und eine Klasse in Latein (0,03%) unterrichtet. 76 Tabelle 8

Parteizugehörigkeit der Frauen Abschluß

Bestanden

nicht bestanden in%

Partei

Abs.

in%

abs.

SED LDP

1.433 463

111 16

7,2 3,3

CDU

317 331

56,3 18,2 12,5 13,0

18 22

6,2

100

167

6,2

Parteilos Zusammen

2.544

5,4

V. Resümee Am I. April 1949 gab es unter den 14.577 Lehrern an den allgemeinbildenden Schulen der gesamten Sowjetischen Besatzungszone nur noch 6.950 sog. Altlehrer, aber bereits 7.627 (52,5% der Lehrerschaft) Neulehrer.77 An den berufsbildenden Schulen sah es ähnlich aus, dort waren von den 1.600 Pädagogen 928 (58%) Neulehrer. Damit war planmäßig von der Kandidatenauswahl bis hin zu den Abschluß71

Sareik, S. 172 (Anm. 22).

n Naimark, S. 399ff. (Anm. 7).

Feige, S. 488 ff. (Anm. 24). Anweiler. Oskar/ Kuebart, Friedrich et al.: Bildungssysteme in Europa. Weinheim I Basel 1980, 3. überarb. u. erw. Aufl., S. 65 f. 75 Meck. Sabine I Mertens, Lothar: Das Wissenschaftssystem der Sowjetunion und seine Vorbildfunktion für die DDR. In: Elite in Wissenschaft und Politik. Empirische Untersuchungen und theoretische Ansätze. Hrsg. von Dieter Voigt. Berlin 1987, S. 175 -210; S. 175 ff. 76 Sareik, S. 278 f. (Anm. 22). 77 Ebd., S. 191. 73

74

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Lothar Mertens

prüfungen durch ein personelles Filtersystem innerhalb von knapp vier Jahren und noch vor Gründung der DDR mit der Lehrerschaft der entscheidende Multiplikator im Bildungswesen mehrheitlich von zuverlässigen Gewährsleuten der SED durchdrungen worden. Dadurch war nicht nur ein Austausch innerhalb einer Funktionselite vollzogen worden, sondern zugleich die Gewähr gegeben, daß die zukünftigen Schülergenerationen durch die zielstrebige Umsetzung der marxistisch-leninistischen Bildungsinhalte in den Lehrplänen auf die neue Gesellschaftsordnung eingeschworen wurden. Die Neulehrer, welche in den fünfziger Jahren über 80% der Lehrerkollegien bildeten, waren infolge ihres unverhofften sozialen Aufstiegs bedingungslos loyal zur SED und dem sozialistischen System. Ungeachtet aller fachlichen und pädagogischen Defizite aus ihrer kurzzeitigen Ausbildung prägten die Neulehrer ideell und personell das ostdeutsche Schulsystem in den vier Jahrzehnten DDR.

Professoren der ehemaligen DDR und ihr Verhältnis zur Regierung der DDR und zur SED Von Wemer Amold

Anfang Mai 1945 die Rote Armee in Ostdeutschland einmarschierte und vor den Toren Freibergs stand, erfaßte viele Menschen eine große Angst vor der kommenden Besatzungszeit Viele Wissenschaftler der Bergakademie wußten auch oder ahnten zumindest, daß das NS-Regime vor allem in Polen und in Sowjetrußland Hochschulprofessoren und andere renommierte Wissenschaftler festgenommen und in Konzentrationslager gebracht hatte, weil man von diesen Kreisen in erster Linie Widerstand gegen die deutschen Okkupanten glaubte erwarten zu müssen. Umso mehr löste es Erstaunen aus, als man erkannte, daß sich die Russen auf die Besetzung Freibergs gut vorbereitet hatten und ziemlich genau wußten, welche wissenschaftlichen Kapazitäten die Bergakademie Freiberg, die in Rußland seit über 100 Jahren einen guten Ruf hatte, besaß. Es hatten ja in der Vergangenheit nicht wenige Russen und deutschstämmige Balten in Freiberg studiert und im russischen Bergbau hohe Ämter bekleidet. Wenige Tage nach der Besetzung Freibergs wurde ein großer Teil der bekanntesten Wissenschaftler der Bergakademie von russischen Wissenschaftlern in hohen Offiziersrängen aufgesucht, und es wurden den Freiherger Professoren Forschungsaufträge für die Besatzungsmacht bei guter Bezahlung und Verpflegung angeboten. Bei den Forschungsarbeiten handelte es sich auf den Gebieten der Kohlegewinnung und -Veredelung, der Bunt- und Schwarzmetallurgie und des bergmännischen Maschinenbaus in erster Linie um eine Darstellung des erreichten technischen Stands in den westlichen Industriestaaten, der durch die Kriegsjahre in Rußland verlorengegangen war. Eine weniger umfangreiche Rolle spielten Laboruntersuchungen, die bis dahin in Rußland nicht möglich waren. Durch die Bearbeitung dieser Aufgaben konnten die Freiherger Wissenschaftler ihren Arbeitsplatz und den ihrer Mitarbeiter erhalten. Das war vor allem wichtig für jene, die, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren und deren Arbeitsverhältnis gekündigt worden war. Nach Abschluß der Forschungsaufträge ging ein Teil nach den westlichen Besatzungszonen, einige nach Jugoslawien und einige erarbeiteten Gutachten oder beschäftigten sich mit anderweitigen mäßig honorierten wissenschaftlichen Arbeiten

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Werner Arnold

in der sowjetischen Besatzungszone. 1949 waren die beiden deutschen Staaten gegründet worden und, sowohl die östliche als auch die westlichen Besatzungsmächte begannen, den in ihrem Bereich liegenden Teil Deutschlands in ihr wirtschaftliches, politisches und wenige Jahre später auch in ihr militärisches System einzubauen. Für den östlichen Teil Deutschlands bedeutete dies, eine eigene Wirtschaft aufzubauen vor allem in den Bereichen, deren Schwerpunkte früher im westlichen Teil Deutschlands lagen. Dazu gehörte vor allem die Grundstoffindustrie, die Maschinen- und die Elektroindustrie, und für diese galt es zuallererst, die notwendigen Fachleute auszubilden. Bestehende Hochschulen wurden wesentlich erweitert, neue gegründet und die Beziehungen zum Ausland, hauptsächlich dem östlichen und südosteuropäischen ausgebaut. Erschwert wurden diese Bemühungen durch den Weggang zahlreicher Fachleute nach dem Westen, und es wurde mehr oder weniger die sowjetische Wirtschaftsordnung aufgezwungen, die sogenannte Planwirtschaft eingeführt. Diese war wesentlich bürokratischer, umständlicher und damit auch weniger produktiv. In einigem war sie aber auch etwas besser, insbesondere was die Sicherheit des Arbeitsplatzes anbelangte. Um überhaupt in möglichst kurzer Zeit zum Ziele zu kommen, mußte sich die DDR-Regierung entschließen, eine Reihe von Zugeständnissen an die Intelligenz zu machen: • Bei Berufungen an Hochschulen und Universitäten spielte nach 1950 die politische Vergangenheit des Betreffenden entweder gar keine oder nur eine untergeordnete Rolle. • Die Bezahlung vor allem berufener Professoren wurde erheblich angehoben. • Es wurden weitere Vergünstigungen zugesichert, z. B. bevorzugte Zuweisungen von Wohnraum. • Nahezu uneingeschränkte Zulassung zum Studium für Kinder dieser Personenkreise. • Bevorzugte Gewährung von Urlaubsplätzen im In- und im Ausland. Es ist verständlich, daß diese Privilegien unter der Bevölkerung Unruhe und Ärger auslösten, und Altkommunisten beklagten sich darüber, daß diese Kreise, unter denen es nicht wenige ehemalige NSDAP-Mitglieder gab, vom Staat so bevorzugt würden, während das einfache Volk, vor allem auch solche, die unter dem Naziregime gelitten hatten, noch unter sehr bescheidenen Bedingungen leben mußte. Die SED bemühte sich, diese Beschwerden damit zu entkräften, daß diese Bevorzugungen vor allem dazu dienen, um zu verhindern, daß dringend benötigte Fachkräfte nach dem Westen abwandern und daß die Vergünstigungen zurückgefahren würden, sobald neu ausgebildete Nachwuchskräfte in der Lage sind, diese Aufgaben zu übernehmen. Es gab einen großen Teil der Bevorzugten, denen die ihnen erwiesenen Vergünstigungen vor ihren Mitarbeitern peinlich war, und sie waren bemüht, einen Teil, vor allem Geld, an diese intern weiterzugeben. Generell vollzog sich die von

Professoren der ehemaligen DDR

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der Partei der SED angedeutete Entwicklung über einen Zeitraum von mehr als I 0 Jahren. Eine Erleichterung gab es für alle DDR-Bürger nach dem Volksaufstand 1953, daß recht freizügig Reisegenehmigungen nach Westdeutschland ausgegeben wurden, die jedoch im Verlauf der folgenden I 0 Jahre abgebaut, und das Reisen zunehmend erschwert wurde. Immerhin wurden bei Berufungen bis Anfang der sechziger Jahre politische Gesichtspunkte noch nicht so in den Vordergrund gestellt wie in der Folgezeit. Dies zeigte sich auch in der Besetzung der Leitungsfunktionen. An der Bergakademie Freiberg gehörten von 1946- 1965 von 8 Rektoren lediglich zwei der SED an. In den folgenden 25 Jahren bis 1990 waren sämtliche Rektoren SED-Mitglieder. Bereits kurz nach Kriegsende waren an den Hochschulen und Universitäten Gruppen von politischen Parteien und Gewerkschaften gegründet worden, die aber zunächst keinen größeren Einfluß auf das Geschehen an den Bildungseinrichtungen hatten. Den Vorsitzenden dieser Organisationen wurden durch die SED zunehmend wachsender Einfluß auf die Hochschulpolitik eingeräumt, vor allem in der Personal-, insbesondere der Berufungspolitik. Im einzelnen gab es jedoch sehr unterschiedliche Auslegungen in der Anwendung der Einflußbefugnisse. Es gab einerseits Parteisekretäre, die das Können und die Persönlichkeit des Rektors respektierten und andererseits auch solche, die die ihnen von ihrer Partei gegebenen Vollmachten rücksichtslos ausnutzten. Dies alles pflanzte sich natürlich auch auf andere Einrichtungen einer Universität oder Hochschule fort und machte eine ergebnisreiche Arbeit immer schwerer und unerfreulicher. Nicht wenige Professoren konnten sich damit nicht abfinden und verließen die DDR. Die sozialen Unterschiede zwischen Professoren und den übrigen Hochschulangehörigen wurden dahingehend abgebaut, daß die Einkünfte der Professoren ab 1965 weitgehend eingefroren wurden, während die übrigen Wissenschaftler und sonstigen Mitarbeiter im Abstand von jeweils mehreren Jahren ihre Einkünfte erhöht bekamen. Das war generell erfreulich. Ab Mitte der sechziger Jahre, vor allem aber nach Einführung der sogenannten 3. Hochschulreform verschärften und verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen für Professoren in der DDR zunehmend. Mit der 3. Hochschulreform wurden neue Strukturen geschaffen, die an sich Voraussetzungen für ein besseres Zusammenwirken der Institute hätten schaffen können. In Wirklichkeit wurden jedoch zum großen Teil politisch motivierte zusätzliche Stellen eingeführt, die den bürokratischen Aufwand an den Hochschulen erheblich ausweiteten. Hinzu kam eine zunehmende Kontrolle des Briefwechsels und eine ebenso anwachsende Bespitzelung besonders der Professoren, wie sich inzwischen nach Einsichtnahme in die Akten der Gauck-Behörde herausgestellt hat. Deprimierend und diskriminierend wurde auch die Festlegung von vielen zumeist parteilosen Professoren empfunden, nach der die Kategorie ,,Reisekader" gebildet wurde. Diese bestand aus solchen Professoren, die als politisch zuverlässig genug

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eingestuft wurden, um bei Tagungen und Kongressen im westlichen Ausland die DDR-Wissenschaft vertreten zu können. Es handelte sich dabei in der Regel um linientreue Mitglieder der SED. Dies blieb natürlich auch bei den Organisatoren wissenschaftlicher Veranstaltungen vor allem in Westdeutschland und in Österreich nicht unbemerkt. Doch sie hatten so gut wie keine Möglichkeiten hieran etwas zu ändern. Die Parteizugehörigkeit zur SED war bei den meisten Berufungen etwa ab 1965 kein großes Problem mehr, weil von den meisten Bewerbern die Parteizugehörigkeit bereits in den Funktionen, aus denen sie berufen werden sollten, erwartet oder gefordert worden war. Nach den Erfahrungen des Autors über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten verstand es der weitaus größere Teil der berufenen Professoren, auch solche mit SED-Mitgliedschaft, in den technischen und naturwissenschaftlichen Fachgebieten. politische Aspekte auszuklammern wie mehrfach "von oben" gefordert wurde. Dies betraf u. a. die besondere Betonung von wissenschaftlichen Leistungen der Sowjetunion in Lehrveranstaltungen. Dies alles relativierte sich vor allem in den achtziger Jahren, weil unvermeidlich erkannt werden mußte, daß auf den meisten wissenschaftlichen Gebieten die Höchstleistungen nicht in der Sowjetunion erbracht wurden. Dennoch wurden vor allem in den achtziger Jahren in Ostdeutschland bemerkenswerte wissenschaftliche Werke herausgebracht, die um so mehr auch außerhalb der DDR Anklang und Beachtung fanden als diese hoch subventioniert waren und leicht erworben werden konnten. Etwa 10-20% der in den letzten 15 Jahren der DDRPeriode berufenen Professoren bestand auch in dieser politisch angespannten und weitgehend unerfreulichen Zeit aus parteilosen Wissenschaftlern oder aus Mitgliedern der damaligen Blockparteien. Diese vor allem waren es, die bei Studenten, die sich politisch unter Druck gesetzt fühlten, als Vertrauenspersonen aufgesucht wurden und von denen Rat und Hilfe erhofft wurden. Im Vergleich zu ihren Kollegen in den Ostblockländern standen die DDR-Professoren finanziell noch mit Abstand am besten da. Mit Ausnahme der Ungarn waren sie in ihren wissenschaftlichen und persönlichen Spielräumen noch mehr eingeengt. Wissenschaftliche Verbindungen von DDR-Professoren mit ihren westdeutschen Kollegen verschoben sich infolge der immer intensiver werdenden Überwachung immer mehr auf die private Ebene bei denen, die die Zivilcourage hierfür aufbrachten. Der Stasibespitzelung entgingen sie aber auch da nicht. Es sind dem Autor aber keine Fälle bekannt, wo dies zu Konsequenzen geführt hätte. Man wollte ja doch offiziell nicht zugeben, wie weit die geheimdienstliche Überwachung bereits fortgeschritten war. Bei den Protestdemonstrationen des Jahres 1989 waren DDR-Professoren kaum beteiligt. Das hat man ihnen nach der politischen Wende oft vorgeworfen, und das führte mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dazu, daß diesem Personenkreis nahezu pauschal Regime-Nähe vorgeworfen wurde, auch denen, die im Verlaufe ihrer beruflichen Tätigkeit mehr oder weniger große Konflikte mit der politischen Obrigkeit gehabt hatten. Hier machten sich die Instanzen in der Bonner Regierung und auch im Bundestag kaum Mühe, zu differenzieren und jahrzehntelang im

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SED-Staat Benachteiligte anders einzuordnen als jene, die sich durch politische Hörigkeit ein konfliktfreies Leben zu sichern suchten. Auch eigentliche Kenner der deutsch-deutschen Problematik lebten nach dem Niedergang des SED-Staates in der Vorstellung, daß die Professoren und hochdotierten Wissenschaftler Einkünfte hatten, die haushoch über denen der übrigen Bevölkerung standen. Dies war, wie bereits gesagt, weitgehend abgebaut. Die Anfang der fünfziger Jahre mit Supergehältern eingestuften Wissenschaftler (bis 12.000 MI Monat) waren inzwischen gestorben. Manfred von Ardenne dürfte einer der letzten dieser Kategorie gewesen sein. Dank ist den westdeutschen Professoren zu sagen, die über Jahrzehnte ihren ostdeutschen Kollegen hilfreich und uneigennützig zur Seite standen und ihnen das Leben und Arbeiten erleichterten. Zusammenfassend ist festzustellen: Die in den ersten Nachkriegsjahren den Professoren und anderen analogen Wissenschaftlern gewährten Vergünstigungen entsprangen vor allem der Notwendigkeit, ihren Weggang nach dem Westen zu verhindem und ihr Können für wissenschaftliche und technisch-wirtschaftliche Aufbau- und Entwicklungsaufgaben in der DDR zu nutzen. Die eingeräumten Bevorzugungen wurden abgebaut oder eingefroren, je mehr nach dem Kriege ausgebildete Fachkräfte nachrückten, jedoch auch je mehr eine "Republikflucht" erschwert wurde. Dies besonders nach dem Bau der Berliner Mauer und nach immer intensiver ausgebauten Grenzsperren zwischen Ost- und Westdeutschland. Auch die Wechselhaftigkeit des politischen Klimas, vor allem die Jahre des sogenannten Kalten Krieges wirkten auf die Verhältnisse mit ein. Wie vieles andere sind die Entwicklungen und Vorgänge im Hochschulwesen der ehemaligen DDR in den westdeutschen Bundesländern zumeist unzureichend bekannt. Dies trägt dazu bei, daß gegenwärtig noch vorhandene Defizite beim Zusammenwachsen West- und Ostdeutschlands langsamer verlaufen als notwendig und wünschenswert wäre. Vor allem solche Wissenschaftler in den westdeutschen Bundesländern, die kaum irgend welche Kontakte nach dem Osten hatten so lange zwei deutsche Staaten existierten, besitzen ein beängstigendes Unwissen über die Arbeits- und Lebensverhältnisse ihrer ostdeutschen Fachkollegen. Möge dieser Beitrag ein Baustein dafür sein, das gegenseitige Verständnis zu fördern .

Nicht ohne Zwang, nicht ohne Bereitschaft Anmerkungen zur (Zwangs-)Vereinigung von SPD und KPD am Beispiel Thüringens (1945 /46)* Von Armin Owzar Erfolg hatte Peter Hintze keinen. Die von dem damaligen CDU-Generalsekretär initiierten Rote-Socken- und Rote-Hände-Kampagnen stießen gerade dort, wo sie Interesse zu wecken vermochten, im Osten der Bundesrepublik Deutschland, mehrheitlich auf Kritik. Nicht dem Inhalt, wohl aber dem Prinzip nach war Hintzes Instrumentalisierung der SED-Gründungsgeschichte symptomatisch flir den tagespolitischen Umgang aller Parteien mit der DDR-Vergangenheit. Während manche Christdemokraten sich darauf verlegt haben, eine Tradition sozialdemokratisch-kommunistischer Komplizenschaft bis in die Gegenwart zu konstruieren, betonen zahlreiche Sozialdemokraten ihre Opferrolle, sprechen von Zwangsvereinigung oder Stalinisierung und beschuldigen im Gegenzug die bürgerlichen Politiker ihrer Blockflöten-Vergangenheit. Die PDS wiederum versucht ihre Mitschuld zu mindern, indem sie den antifaschistischen Scheinkonsens der frühen Jahre beschwört und scheinbar positive Aspekte wie den Umgang mit der NSVergangenheit zutage fördert, die SED im übrigen aber zum Befehlsempfänger sowjetischer Befehle degradiert. Eine ironische Verkehrung der Gewichte: war die Einheitspartei doch zeit ihrer Existenz darum bemüht gewesen, ihren zentralen Anteil am Aufbau des Arbeiter- und Bauernstaates hervorzuheben. Allen Seiten gemein ist die gleichzeitige Neigung zu Apologie und Schuldzuweisung: die Mitschuld der eigenen Gruppe wird minimiert, wenn nicht gar bestritten, dem politischen Gegner hingegen die Hauptverantwortung zugeschoben, um ihn in Wahlkämpfen zu diskreditieren.

• Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des von Prof. Dr. Hans-Uirich Thamer (Münster) und Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser (Marburg) geleiteten Forschungsprojektes .,Transformationsgesellschaft und Stalinisierung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) 1945- 1948/49: Politische und sozio-strukturelle Transformationsprozesse zwischen zwei Diktaturen", einem Unterprojekt des von der VW-Stiftung geförderten Forschungsschwerpunktes "Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts: Strukturen, Erfahrungen, Überwindung und Vergleich". Den Projektleitern sowie Stephan Hense, Peter Hoeres, Moritz F. Lück und Dr. Rüdiger Schmidt danke ich für kritische Hinweise.

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I. Deutungen Keinem anderen Thema der SBZ-Geschichte ist bis zuletzt eine so große Aufmerksamkeit zuteil geworden wie der Fusion von KPD und SPD. Schon die DDRHistoriographie hatte sich, mit der ihr eigentümlichen Parteilichkeit, der Gründungsgeschichte der späteren Staatspartei verschrieben. 1 Ungleich sachlichere und kritischere Darstellungen aus den Federn westdeutscher Autoren folgten, 2 darunter auch Studien mit Schwerpunkt auf Thüringen. 3 Gleichwohl fielen die fachhisto1 Zur Gründung der SED in Thüringen siehe Rosemarie Collet, Über den Kampf um die Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse in Erfurt ( 1945/46), in: Beiträge zur Geschichte Thüringens. 1968, hg. von den Museen der Stadt Erfurt (Bezirksmuseen) unter Mitwirkung der Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der Bezirksleitung Erfurt der SED und der Kommission Natur und Heimat der Bezirksleitung Erfurt des Deutschen Kulturbundes, Erfurt 1968, S. 112-139; Änne Anweiler, Zur Geschichte der Vereinigung von KPD und SPD in Thüringen 1945-1946 (Beiträge zur Geschichte Thüringens), hg. von der SED, Bezirksleitung Erfurt und der Bezirkskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, Erfurt 1971 ; Erhard Wörfel, Brüder, in eins nun die Hände! Zur Geschichte der Vereinigung von KPD und SPD in Ostthüringen auf dem Territorium des heutigen Bezirks Gera 1945- 1946, 3 Teile, Gera 1976; Zur Geschichte der Vereinigung von KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Kreis Rudolstadt (Beiträge zur Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung), hg. von der SED, Kreisleitung Rudolstadt, Kreiskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und der Sektion Geschichte beim Kreisvorstand der Urania Rudolstadt, Rudolstadt 1976. 2 Eine Auswahl: Frank Moraw, Die Parole der "Einheit" und die Sozialdemokratie (Politik- und Gesellschaftsgeschichte 23), Bonn 1973/ 2 1990; Beatrix W Bouvier. Antifaschistische Zusammenarbeit, Selbständigkeitsanspruch und Vereinigungstendenz. Die Rolle der Sozialdemokratie beim administrativen und parteipolitischen Aufbau in der sowjetischen Besatzungszone 1945 auf regionaler und lokaler Ebene, in: AfS 16 (1976), S. 417 -468; Lucio Caracciolo, Der Untergang der Sozialdemokratie in der sowjetischen Besatzungszone. Otto Gratewohl und die "Einheit der Arbeiterklasse" 1945/46, in: VfZ 36 (1988), S. 281-318; Werner Müller. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), in: SBZ-Handbuch. Staatliche Organisationen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949, im Auftrage des Arbeitsbereiches Geschichte und Politik der DDR an der Universität Mannheim und des Instituts für Zeitgeschichte München hg. von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1990, S. 460480; Harold Hurwitz, Zwangsvereinigung und Widerstand der Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und Berlin, Köln 1990; ... .. die SPD aber aufgehört hat zu existieren". Sozialdemokraten unter sowjetischer Besatzung, hg. von Beatrix W Bouvier und Horst-Peter Schu/z, Bonn 1991; Norbert Podewinl Manfred Teresiak, ,,Brüder in eins nun die Hände . . .". Das Für und Wider um die Einheitspartei in Berlin, Berlin 1996; Beatrix Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945 - 1953 (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Politik und Gesellschaftsgeschichte 45), Bonn 1996. 3 Siehe etwa Manfred Overesch, Machtergreifung von links. Thüringen 1945/46, Hildesheim/Zürich/ New York 1993; Gunter Ehnert, Alte Parteien in der "neuen Zeit". Vom Bund demokratischer Sozialisten zum SPD-Bezirksverband in Thüringen 1945, in: Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik, hg. von Hartmut Mehringer, München 1995, S. 13 -42; Gunter Ehnert, Die SPD Thüringens im Vorfeld der SED-Gründung (1945/46), hg. von

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rischen Debatten kaum verhaltener aus als die tagespolitischen. Handelte es sich um eine Zwangsvereinigung oder um einen freiheitlichen Zusammenschluß, forcierten die Sozialdemokraten gar, vom Einheitsdrang besessen, die Gründung der neuen Partei? Nicht nur konservative und sozialistische Autoren, die in ungewöhnlicher Allianz letztere Ansicht vertreten haben, trieb dabei ein politisches Interesse.4 Auch die der SPD nahestehende Historiographie hat es an apologetischen Tönen nicht missen lassen. 5 Eine Geschichtsschreibung, die sich der (Zwangs-) Vereinigung widmet, hat daher immer auch die Funktion, solche Geschichtsbilder kritisch zu prüfen. Überdies mag eine Analyse der Gründungsphase der SED Hilfestellung für den angemessenen Umgang mit deren Nachfolgepartei leisten, einer Partei, deren Grundeinstellung zur parlamentarischen Demokratie weiterhin indifferent ist. Dabei gilt es freilich, die politischen Spezifika der unmittelbaren Nachkriegszeit zu berücksichtigen, insbesondere die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht und den antikapitalistischen wie antifaschistischen Konsens auf der Linken. Von zentraler Bedeutung ist die Geschichte der Vereinigung im Rahmen der Diktaturforschung: nicht allein aufgrund des historischen Stellenwertes, den sie im Entstehungsprozeß der DDR einnimmt,6 sondern vor allem aufgrund der daraus zu gewinnenden exemplarischen Erkenntnisse sowohl über die Realisierbarkeil diktatorischer Konstruktionen als auch über den Handlungsspielraum der Opponenten, deren Konflikte und Koalitionen, die von ihnen bewußt und unbeabsichtigt ausder Friedrich-Ebert-Stiftung Landesbüro Thüringen, Erfurt 1995. Zur Forschungslage für Thüringen nach 1945 siehe Jürgen John/Gunther Mai, Thüringen 1918-1952. Ein Forschungsbericht, in: Nationalsozialismus in Thüringen, hg. von Detlev Heiden und G. M., Weimar I Köln I Wien 1995, S. 553-590, hier S. 575-590. 4 Kritisch dazu Werner Müller, SED-Gründung unter Zwang Ein Streit ohne Ende? Plädoyer für den Begriff ,Zwangsvereinigung', in: DA 24 (1991 ), S. 52-58. Kontrovers, zum Teil aber differenzierter als die von Müller kritisierten Autoren argumentieren die Verfasserinnen und Verfasser in dem von Johannes Klotz. herausgegebenen Sammelband Zwangsvereinigung? Zur Debatte über den Zusammenschluß von SPD und KPD 1946 in Ostdeutschland. Mit Beiträgen von: Günter Benser, Beatrix Bouvier. He/ga Grebing, lürgen Hofmann, J. K., Andreas Malycha, Ulrich Schneider, Wolfgang Triebel, Heilbronn 1996. s So kommen die Verfasser eines drei Jahre nach der Wende veröffentlichten Gutachtens für die SPD, zu dem Ergebnis, daß die .,auch in der Bundesrepublik gelegentlich vertretene Auffassung, die SPD trage selbst mit Verantwortung für die Zwangsvereinigung und den daraus resultierenden Verlust ihrer Selbständigkeit [ ... ] die konkreten historischen Umstände der Zwangsfusion" verkenne (Helga Grebing/Christoph Kleßmann/Klaus Schönhoven/ Hennann Weber, Zur Situation der Sozialdemokratie in der SBZI DDR im Zeitraum zwischen 1945 und dem Beginn der SOer Jahre. Gutachten für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, mit einem Vorwort von Björn Engholm und Inge Wettig-Danielmeier, Marburg 1992, S. 61). 6 Mit der Gründung der SED vertiefte sich die Spaltung Deutschlands, insofern .,die Auseinandersetzungen zwischen der westdeutschen Sozialdemokratie und der kommunistischen SED im Osten [ . .. ] ein feindseliges Klima in der deutschen Politik" schufen und die in ihrem Mißtrauen gegenüber den Sowjets bestätigten Westalliierten einen weiteren Grund für ihren Kurs auf einen Weststaat sahen. Nicht zuletzt signalisierte die Parteigründung die .,Übertragung des sowjetischen Einparteienstaats" auf die SBZ (Hennann Weber, Geschichte der DDR, München 1985, S. 116). 20 Timmcrmann

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gelösten Folgen. Die Komplexität dieses Prozesses erschließt sich nur demjenigen, der die Konstruktionen, die diesen zugrundeliegenden Motive und das Handeln sämtlicher Akteure berücksichtigt. Es geht daher im folgenden nicht nur um die im Bunde mit der sowjetischen Besatzungsmacht agierenden Kommunisten, sondern auch um die Rolle der Sozialdemokraten, und zwar auf Landes-, Orts- und Betriebsebene. Die zentralen Fragen lauten: 1. Welcher Methoden bedienten sich die Kommunisten, um die Sozialdemokraten für die Einheitspartei zu gewinnen? 2. Standen den Sozialdemokraten überhaupt Handlungsspielräume zur Verfügung? Und falls ja: Wieso wurden diese kaum genutzt? Warum verweigerte sich trotz weitverbreiteter Vorbehalte nur eine Minderheit dieser Vereinigung, die wie weitsichtige (Zeit-)Genossen erkannten den Auftakt zu einem gesamtgesellschaftlichen Transfonnationsprozeß bildete? Um die erste Frage systematisch zu beantworten, ist es sinnvoll, bei den kommunistischen Konstruktionen zwischen Telos, Strategie und Taktik zu unterscheiden. Das Endziel kommunistischer Politik, im marxistischen Jargon die klassenlose Gesellschaft, läßt sich im Sinne des modifizierten Totalitarismusansatzes der Soziologin Sigrid Meuschel als entdifferenzierte Gesellschaft definieren: als eine Gesellschaft, deren sämtliche Subsysteme ihrer Autonomie beraubt werden und dem Primat kommunistischer Politik unterworfen sein sollten.7 Integraler Bestandteil und unabdingbare Voraussetzung für einen solchen Entdifferenzierungsprozeß war die Monopolisierung des Herrschaftssystems durch eine hierarchisch aufgebaute Staatspartei. Zwecks Umsetzung dieser diktatorischen Konstruktion hatte die KPD bereits im Moskauer Exil auf Geheiß der Kommunistischen Internationale damit begonnen, einen strategischen Fahrplan zu entwickeln, der die kurz- und langfristig zu erreichenden Etappenziele vorgab, der die politische Stoßrichtung definierte, die politischen und sozialen Kräfte in Klassenfeinde oder Bündnispartner unterteilte und die Parteiaufgaben hierarchisierte. 8 Grundsätzlich das gebot schon die bis 1948 bestehende Offenheit der deutschen Frage zeichnete sich diese Strategie durch eine außerordentliche Aexibilität aus, was eine weitgehende Modifizierung des marxistisch-leninistischen Fonnationsmodells ermöglichte. So hatte sich die Exilführung, zum Bedauern vieler daheimgebliebener Genossen, bereits vor Kriegsende von einer revolutionären Umgestaltung der politischen wie gesellschaftlichen Verhältnisse distanziert. Zu verbreitet waren die antibolschewistischen Ressentiments, zu mächtig die ökonomischen Sachzwänge, als daß die Errichtung eines sowjetischen Teildeutschlands Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Unpopuläre Eingriffe in die Eigentumsordnung galt es zu vermeiden; eine vorgetäuschte Rück7 Siehe dazu ausführlich Sigrid Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: GG 19 (1993), S. 5-14. 8 Siehe dazu Peter Erler I Horst LaudeI Manfred Wilke, Zur programmatischen Arbeit der Moskauer KPD-Führung 1941-1945, in: .,Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der FUB), hg. von P. E., H. L. und M. W., Berlin 1994,

S. 23-123.

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kehr zur parlamentarischen Demokratie sollte die politischen Kontrahenten für einen antifaschistischen Block gewinnen. Die gleichzeitig initiierte Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sollte möglichst lautlos vonstatten gehen. Priorität genoß hierbei der Aufbau einer kommunistischen Kaderund Massenpartei zur omnipotenten Steuerungszentrale in dem zu errichtenden Herrschaftssystem stalinistischer Prägung. Alternative Konzeptionen innerhalb der Partei mußten ausgeschaltet, konkurrierende Parteien, Parlamente und Verwaltungen gleichgeschaltet werden. Insofern bildete die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien den Auftakt zu einer Stalinisierung des gesamten politischen Systems. Diese Transformation mußte so legalistisch wie möglich erfolgen. Deshalb bedienten sich die Kommunisten im Vorfeld des Vereinigungsparteitages einer Taktik, die legale, aber auch illegale Formen umfaßte und sich formeller wie informeller Methoden bediente.9 Zur Beantwortung der zweiten Frage, nach der Rolle der ostdeutschen Sozialdemokratie, reicht es nicht aus, die expliziten Stellungnahmen in der Einigungsdiskussion auszuwerten. Die Grenze zwischen den Befürwortern und den Kritikern der Vereinigung verlief weniger trennscharf als gemeinhin angenommen. So unüberbrückbar mußte der Dissens in organisationspolitischen Fragen nicht unbedingt ausfallen, daß dadurch der Konsens auf gesellschaftspolitischem Gebiet außer Kraft gesetzt worden wäre. Das politische Handeln der Sozialdemokraten konzentrierte sich nicht nur auf die Erhaltung der innerparteilichen Demokratie. Damit sind die beiden diesem Aufsatz zugrundeliegenden Thesen umrissen. Sie lauten: 1. Die erfolgreiche Umsetzung der kommunistischen Konstruktionen griindete in der Anwendung einer flexiblen, an die Mitte der Gesellschaft adressierten Strategie und einer ebenso vielseitigen wie unberechenbar wirkenden Taktik, die auch die Anwendung krimineller Methoden einschloß. 2. In der Einheitsfrage korrespondierte dem von den deutschen wie sowjetischen Kommunisten ausgeübten Zwang eine gewisse Bereitschaft seitens der meisten Sozialdemokraten, wodurch die Fusion wenn nicht beschleunigt, so doch reibungsloser vollzogen werden konnte. Man mag über das Ausmaß des Handlungsspielraums streiten, der sich den Gegnern der Transformationspolitik seinerzeit bot. Die Stärke der kommunistischen Taktik bestand ja darin, sowohl aus der Kooperationsbereitschaft als auch aus der Totalverweigerung politisches Kapital zu schlagen. Ohne die seitens der Sowjets wie der Kommunisten ausgeübten Repressionen hätten die Sozialdemokraten der Fusion zu den vorgegebenen Bedingungen damals nicht zugestimmt. Nur eine (freilich nicht zu unterschätzende) Minderheit favorisierte seit dem Spätherbst 1945 eine unverzügliche Vereinigung. 10 Der überwiegende Teil der Sozial9 Vergleiche die Definition des Terminus ,Strategie und Taktik der revolutionären Arbeiterbewegung' in dem von Waltraud Böhme u. a. herausgegebenen Kleinen politischen Wörterbuch. Neuausgabe 1988, Ost-Berlin 7 1988, S. 965 f. 10 Schon Kleßmann hat in seiner Überblicksdarstellung zur deutsch-deutschen Geschichte darauf verwiesen, daß neben den ,,Elementen des Zwangs" eine "breite Einheitsströmung besonders in den Betrieben" existierte, "so daß dem fusionsunwilligen ZA schließlich die

20•

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demokraten, die in ihrer deutlichen Mehrheit einer Einheitspartei zu diesem Zeitpunkt ablehnend gegenüberstanden, unternahm allerdings nur geringe Anstrengungen, sich der Vereinigung konsequent zu widersetzen. Schließlich hatte Kurt Schumacher seinen ostdeutschen Genossen eine Alternative aufgezeigt, indem er ihnen zur Selbstauflösung der SPD geraten hatte. 11 Die Gründe für dieses Verhalten waren unterschiedlicher Natur: die sozialdemokratischen Einheitsgegner kapitulierten teils aus Resignation und Illusion, teils aus Verantwortungs- und Traditionsbewußtsein, teils aus Konfonnismus und Karrierismus. Hinzu kam und das hat die Forschung nicht angemessen berücksichtigt die weitgehende Übereinstimmung in gesellschaftspolitischen Fragen. Der Konsens insbesondere auf wirtschaftspolitischem Gebiet war geeignet, den organisationspolitischen Dissens zu überlagern. Beide Thesen sollen im folgenden Abriß der SED-Gründungsgeschichte: von den ersten Planungen der Moskauer Exii-KPD bis zum Abschluß der Vereinigung im April 1946, belegt werden. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet die regionale Mesoebene als Schnittstelle zwischen der zonalen Makro- und der lokalen Mikroebene, wodurch nicht nur die führenden Funktionäre auf zonaler und regionaler Ebene Beachtung finden, sondern auch der Entscheidungsprozeß vor Ort, im sozialdemokratischen und kommunistischen Milieu, ins Blickfeld rückt. 12 Thüringen kommt dabei insofern eine Schlüsselrolle zu, als hier auf Landesebene eine Generalprobe für den zonalen Gründungsparteitag stattfand. 13 II. Einheitsdrang und Einheitsdrängen

"Vorläufig keine Einheitspartei, erst Klärung", so lautete die Parole, die Paul Wandel, der spätere DDR-Minister für Volksbildung, in seinem Grundsatzreferat über die Bundesgenossen der KPD vor den führenden Funktionären der Moskauer KPD-Führung am 5. Dezember 1943 ausgab 14 ; eine Parole, die auch in den ersten Kontrolle zu entgleiten und er in die Isolierung zu geraten drohte" (Christoph KleßnuJnn, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945- 1955, Bonn 4 1986, S. 139). II Auf Schurnachcrs Frage "Seid ihr [ . . . ] willens und in der Lage, euch dem Druck dadurch zu entziehen, daß ihr notfalls die SPD im Osten auflöst?" erklärten Otto Gratewohl und Gustav Dahrendorf am 8. Februar 1946 einmütig, "daß es dafür jetzt zu spät sei", zumal sieb für ,iür eine Auflösung der SPD weder im Zentralausschuß noch im Parteiausschuß eine Mehrheit finden" würde (zitiert nach Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, mit einem Vorwort von Herben Wehner, Köln 1966, S. 138). 12 Für Thüringen ist die Überlieferung recht gut. Der Aufsatz stützt sich vornehmlich auf die im Thüringischen Hauptstaatsarchiv (ThHStAW) lagernden Akten des Bezirksparteiarchivs der SED Erfun (BPA SED EF) sowie auf die Quellenedition von Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition (AfS Beiheft 16), Bonn 1995. 13 Am 7. April 1946, drei Wochen vor dem zonalen Vereinigungsparteitag zu Berlin, fusionierten die brandenburgischen, mecklenburgischen, sächsischen und thüringischen Landesverbände der beiden Parteien. 14 Zitiert nach Peter Erler I HorstLaudeI Manfred Wilke (Anm. 8), S. 75 und 100.

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Monaten nach Kriegsende ihre Gültigkeit bewahren sollte. Vorrangiges Ziel war der Wiederaufbau der KPD, die Wiederherstellung der von den Nationalsozialisten zerschlagenen Parteiorganisation und die Festigung der eigenen Führungsposition. So sicher waren sich die unter Stalins Aufsicht operierenden Exilkommunisten ihrer Autorität über die in Deutschland verbliebenen oder ins westliche Ausland emigrierten Genossen nicht. Besorgt ob der potentiellen innerparteilichen Opposition war die im Hotel Lux residierende Führungsspitze der KPD zunächst auf eine Disziplinierung dieser Kommunisten bedacht, bevor sie in einem weiteren, zeitlich noch nicht festgelegten Schritt eine Einbindung und Ausschaltung der Sozialdemokraten in Angriff nehmen wollte. Gleichzeitig galt es, die ehemalige Oppositionspartei zu einer Massen-, zu einer Regierungspartei auszubauen. Der KPD mußte die Ausschaltung der sozialdemokratischen Konkurrenz um so leichter fallen, je stärker ihre Hegemonialstellung im linken Lager ausfiel. Unbeirrbar sollten die Funktionäre diesen Kurs auch nach ihrer Rückkehr verfolgen. Bis zum Frühherbst 1945 setzten sie alles daran, den Wiederaufbau der KPD unter ihrer Führung zu bewerkstelligen. 15 Bei nicht wenigen Kommunisten Thüringens stieß diese Position auf Unverständnis. Vor Ort hatten sie sich mit den Sozialdemokraten nicht selten schon während der OS-Besatzung arrangiert. 16 Und die fUhrenden KP-Funktionäre auf Landesebene hatten sich am 9. Juli 1945, unmittelbar nach der Übergabe des Landes an die Rote Armee, für eine völlige Verschmelzung der beiden Parteien auf der Grundlage des Buchenwalder Manifestes ausgesprochen. 17 In diesem am 13. April 1945 verabschiedeten Programm hatten sich die ehemaligen sozialdemokratischen Buchenwaldhäftlinge um Hermann Louis Brill, den späteren kurzzeitig amtierenden Regierungspräsidenten und SPD-Landesvorsitzenden Thüringens, für die unverzügliche Einführung des Sozialismus ausgesprochen. 18 Eine unabdingbare Vorts Siehe dazu ausführlich Frank Thomas Stößel, Positionen und Strömungen in der KPDI SED 1945-1954, Bd. 1, Köln 1982, S. 46-50 und 63-67. Zu den Konflikten zwischen den Buchenwalder Kommunisten und den aus Moskau heimgekehrten Gruppen siehe OlafGroehler; Der verordnete Antifaschismus. Die Rezeption des thüringischen kommunistischen Widerstandes in der DDR, in: Nationalsozialismus in Thüringen, hg. von Detlev Heiden und Gunther Mai, Weimar I Köln I Wien 1995, S. 531 -551. 16 In einzelnen Gemeinden und Betrieben des Landkreises Sonneberg etwa hatten die Genossen beider Arbeiterparteien schon im Sommer 1945 ,,halblegal den Aufbau einer einheitlichen Partei begonnen" (Theo Gundermann, Unsere Opfer waren nicht umsonst, in: Vereint sind wir alles. Erinnerungen an die Gründung der SED, mit einem Vorwort von Walter Ulbricht, Ost-Berlin 1966, S. 527-535, hier S. 529). 17 Siehe Stößel (Anm. 15), S. 44. 18 Jeglichen Gesellschaftskrisen wollte der Kreis um Brill .,durch eine sozialistische Wirtschaft ein absolutes Ende" setzen. Deutschland könne .,ökonomisch nur auf sozialistischer Grundlage wieder aufgebaut werden", ein Aufbau der zerstörten Städte ,.als kapitalistisches Privatgeschäft" sei ebenso unmöglich wie .,ein Wiederaufbau der Industrie aus den Taschen der Steuerzahler", hieß es im Buchenwalder Manifest. Die konkreten Forderungen lauteten nach Enteignung der Banken, der Versicherungen, des Großgrundbesitzes und der Schlüsselindustrien (siehe Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrations-

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aussetzung dafür sah dieser zunächst unabhängig von der SPD agierende Bund demokratischer Sozialisten in der Vereinigung aller "auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden Parteien und Gewerkschaften" .19 Obwohl die thüringischen Kommunisten noch im Juli 1945 auf Druck ihrer Berliner Genossen von dem Konzept einer Einheitspartei ebenso Abstand genommen hatten wie von der Forderung nach einer sofortigen Errichtung des Sozialismus, drangen die thüringischen Sozialdemokraten weiterhin auf eine möglichst rasche (Wieder-)Vereinigung der beiden Arbeiterparteien, nicht nur aus wirtschaftspolitischen Motiven. Nach den Grabenkämpfen der Weimarer Republik und der gemeinsamen Verfolgung unter den Nazis sahen viele Sozialdemokraten in der ,Wiedervereinigung' eine historische Notwendigkeit, zumal sich die KPD mit ihrem Gründungsaufruf zu einer parlamentarischen Demokratie bekannt hatte. Wenige Monate später war der Enthusiasmus, mit dem die Sozialdemokraten sich für einen Zusammenschluß der gespaltenen Arbeiterbewegung engagiert hatten, verflogen. Die Mehrheit sprach sich spätestens seit dem Oktober 1945 gegen eine sofortige Verschmelzung beider Parteien aus. Denn angesichts des bisherigen politischen Verhaltens der Kommunisten, das deren Aufruf vom 15. Juni 1945 Lügen strafte, ahnten die meisten Sozialdemokraten bereits im Spätherbst 1945, was sie in einer Einheitspartei erwarten würde. Allenthalben hatte die KPD ihre Bruderpartei bespitzeln lassen, überall hatte sie laut Brill diese "von innen heraus aufzusprengen" versucht. Die bisherige Zusammenarbeit beurteilten die meisten daher als gescheitert. Alle sozialdemokratischen Forderungen würden von kommunistischer Seite aus abgelehnt, "während wir [ ... ]immer helfend einspringen sollen", klagte ein Erfurter Genosse, der eine Degeneration seiner Partei zum "Anhängsel der KPD." fürchtete. Und nicht nur im Landkreis Langensalza versuchten die Kommunisten den Aufbau sozialdemokratischer Ortsvereine zu sabotieren, Iagers Buchenwald vom 13. April 1945, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. Il/1-001). Zur zentralen Rolle, die Hermann Brill für die thüringische Sozialdemokratie der Nachkriegsmonate spielte, siehe Manfred Overesch, Hermann Brill und die Neuanfange deutscher Politik in Thüringen 1945, in: VfZ 27 (1979), S. 524-569; Manfred Overesch, Hermann Brill in Thüringen 1895-1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992; Manfred Overesch, Der Wendepunkt im Herzen Deutschlands Hermann Brill und die kommunistische Machtergreifung in Thüringen 1945/46, in: Die Deutschlandfrage von Jalta und Potsdam bis zur staatlichen Teilung Deutschlands 1949 (Studien zur Deutschlandfrage 12), mit Beiträgen von Boris Meissner u. a., Berlin 1993, S. 77 -90; Manfred Overesch, Konzeptionen für einen Neuanfang: Hermann Brill und der antinationalsozialistische Widerstand, in: Nationalsozialismus in Thüringen, hg. von Detlev Heiden und Gunther Mai, Weimar/Köln/Wien 1995, s. 487-506. 19 "Begründet auf die Gedanken des Klassenkampfes und der Internationalität und auf das Bewußtsein, daß die Verwirklichung des Sozialismus nicht eine Frage des Zukunftsstaates, sondern die unmittelbare Gegenwartsaufgabe ist, wollen wir die Einheit der sozialistischen Bewegung als eine Einheit des praktischen Handelns, der proletarischen Aktion herstellen." Deshalb forderte der BdS die Einrichtung eines Organisationsausschusses zwecks Berufung eines Gründungskongresses, der die Statuten und das Aktionsprogramm festlegen und die neuen Parteiorgane wählen sollte (Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald vom 13. Aprill945 (Anm. 18)).

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indem sie deren Mitglieder verhaften ließen. Aus allen Teilen des Landes drangen solche Nachrichten nach Weimar?0 Auf ihrem am 26. November 1945 dort abgehaltenen Landesparteitag machten die Delegierten ihrem Ärger Luft. Die vermeintlichen Befürworter einer parlamentarischen Demokratie erwiesen vor Ort sich als "radikale Spießbürger", die, so der Suhler Sozialdemokrat Alfred Schuch auf Lenin anspielend, "in Radikalismus, der Kinderkrankheit ihrer Bewegung" machten. Andere, wie der Erfurter Delegierte Kar! Niehoff, scheuten nicht einmal vor einem Vergleich mit den Nazis zurück: wie die NSDAP wende die KPD "dieses ungeheure Trommelfeuer der Propaganda" an. Gegen eine Zusammenarbeit mit der KPD zeigten sich sämtliche hier vertretenen Sozialdemokraten zwar noch immer nicht abgeneig, einen baldigen Zusammenschluß aber wünschte kaum einer der Redner. Fast allen Delegierten widerstrebte die Vereinigung mit einer Partei, deren Aktivität, wie der Nordhäuser Genosse Willy Schmidt es formulierte, "auf den Bajonetten der Besatzungsmacht" beruhte. Weitsichtig erkannte der Eisenacher Sozialdemokrat Heinrich Jenloch die Folgen einer kommunistisch dominierten Einheitspartei: "dass wir weiter im Schlepptau Moskaus unsere Politik machen müssen." 21 Die Reserve, ja Aversion gegen eine Aufgabe der sozialdemokratischen Autonomie deckte sich weitgehend mit der vom Zentralausschuß (ZA) vertretenen Linie. Mit seiner am 14. September 1945 auf einer Funktionärskonferenz gehaltenen Rede hatte Otto Gratewohl einer sofortigen Vereinigung eine deutliche Absage erteilt und sich mit einem taktischen Kniff Freiraum verschaffen wollen: indem er die Entscheidung von einem gesamtdeutschen Reichsparteitag abhängig zu machen gedachte, hoffte er die SPD über die Zonen hinweg zu einem auch von der Sowjetischen Militäradministration (SMA) unantastbaren Machtfaktor zu stärken. 22 Seit Gratewohls Kurskorrektur, spätestens seit der Zusammenkunft in Weimar war deutlich geworden, daß die ehemals vor allem von den Sozialdemokraten vertretenen Argumente für eine Einheitspartei an Suggestionskraft verloren hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das bisherige Verhältnis beider Parteien in der Einheitsfrage verkehrt. Immer nachhaltiger drangen nun die Kommunisten auf eine Vereinigung. Die von den Remigranten angestrebte Uniformierung in organisatorischer wie ideologischer Hinsicht mochte zwar noch längst nicht erreicht sein, doch die enttäuschenden Wahlergebnisse der ungarischen und der Österreichischen 20 So berichtete der Langensalzaer Sozialdemokrat Zorn von einem kommunistischen Bürgermeister, der erklärt habe, "der Ortsverein der SPD. in Seebach sei gegründet worden aus Opposition gegen die KPD., deshalb werde er ihn wieder vernichten in seiner Gemeinde" (Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. 11/1-001). 21 Ebd. 22 Grotewohls Rede auf der SPD-Kundgebung in Berlin am 14. September 1945 ist vollständig abgedruckt in: Otto Grotewohl und die Einheitspartei. Dokumente, Bd. 1: Mai 1945 bis April 1946, mit einer Einführung von Wolfgang Triebel, ausgew. und komment. von Hans-Joachim Fieber, Maren Franke und W T., Luisenstadt 1994, S. 123- 174.

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Genossen, der Sieg der Vaterländischen Front in Bulgarien nötigten das ZK zu der Ansicht, nur mittels einer Einheitspartei der fortschreitenden Isolierung unter der ostdeutschen Bevölkerung Einhalt gebieten zu können?3 Nicht nur von der Mitgliederstärke der SPD,24 auch von den zahlreichen Stimmen der potentiellen SPDWähler gedachte die KPD zu profitieren. Gleichzeitig wollte sie die Verantwortung für ihre oftmals unpopulären Maßnahmen auf möglichst viele Schultern verteilt sehen. Der Geraer Sozialdemokrat Max Fuchs hatte diese Strategie, die auch mit der Einrichtung des Antifaschistischen Blocks verfolgt wurde, schon im November 1945 erkannt: Sie wissen, "daß die Sympathien der Bevölkerung auf unserer Seite liegen und daß sie verantwortlich gemacht werden für die Dummheiten, die sie auf allen Gebiet begehen", klärte er seine Genossen auf. Die "einseitige Handhabung der Gesetze" im Verlauf der Bereinigung der Wirtschaft, der Beschlagnahme der Vermögen, der Bodenreform, komme ,ja auf das Konto der KPD." Das wüßten die Kommunisten genau, und deshalb wollten sie die Sozialdemokraten "in den Kreis der Verantwortung mit hineinziehen." 25 Darüber hinaus langfristig war dies wohl das ausschlaggebende Motiv versprach die KPD sich von einer Umarmung der Sozialdemokraten deren schnellstmögliche Ausschaltung. All das ahnten die meisten Sozialdemokraten, die von den stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre gehört hatten und, vor 1933 als ,Sozialfaschisten' geschmäht, mit der kommunistischen Taktik ihre Erfahrung gemacht hatten. Da die KPD die wenigsten Mitglieder ihrer Bruderpartei von einer Vereinigung zu überzeugen vermochte eine Ausnahme bildeten einige Lin.kssozialisten, etwa die vor 1933 in der SAP organisierten Genossen 26 , bediente sie sich verschiedener, teils repressiver, teils intriganter Methoden. Den bestimmenden Einfluß aber übten die in Thüringen stationierten Rotarmisten aus?7 Kein Mittel ließ der für Zensur zuständige Hauptmann Weil aus, die Rede-, Presse- und Agitationsfreiheit zuungunsten der Einheitsgegner einzuschränSiehe Weber (Anm. 6), S. 117 f. In Thüringen zählte die KPD im September 1945 nur 12 800, die SPD hingegen etwa 28 000 Mitglieder (siehe Ehnert (Anm. 3), S. II I). 2s Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. 11/1 -00 I. 26 Siehe Hans Köhler, Zur geistigen und seelischen Situation der Menschen in der Sowjetzone (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), Bonn 1952, S. 28. 27 Wenn Viktor Babenko, der Leiter der politischen SMATh-Abteilung für Demokratische Parteien und Massenorganisationen, später behaupten sollte, daß sich die Sowjets "niemals in die inneren Angelegenheiten der sich vereinigenden Parteien eingemischt", ihnen nie ihre "Meinung und Stellungnahmen aufgezwungen", ihnen vielmehr immer Unterstützung und Hilfe gegeben hätten, ,,möglichst ungehindert den von ihnen eingeschlagenen Weg zu gehen", zeugt dies immerhin von einem gewissen Unrechtsbewußtsein des ehemaligen Germanisten angesichts der sowjetischen Interventionspolitik ( Viktor Babenko, Zur Tätigkeit der Sowjetischen Militäradministration Thüringen bei der Unterstützung der demokratischen Kräfte. Erinnerungsbericht, in: Beiträge zur Geschichte Thüringens, Bd. 4, hg. von der SED, Bezirksleitung Erfurt, der Bezirkskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und dem Rat des Bezirkes, Abt. Kultur, Erfurt 1984, S. 27 - 33, hier S. 31 ). 23

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ken. Eine Stellungnahme in der Presse, klagte Brill, sei "vollkommen unmöglich". Zum Druck vorgesehene Manuskripte kritischen Inhaltes lagen wochenlang bei der sowjetischen Administration, und die Sozialdemokraten hörten auf ihr Drängen immer nur eine Antwort: "Jawohl, nächstens, nächstens, nächstens". 28 Wer wie der Geraer Sozialdemokrat Ploss eine Mitgliederversammlung angemeldet, den von den Sowjets aber über den Termin hinaus absichtlich verzögerten Genehmigungsbescheid nicht abgewartet hatte, der mußte mit seiner sofortigen Verhaftung rechnen. Nicht selten waren es die deutschen Kommunisten, die die örtliche Kommandantur zu einer noch schärferen Vorgehensweise anstachelten. "Wenn die Kommunisten der russischen Kommandantur zur Seite stehen würden, wäre es durchaus möglich, unter diesen Verhältnissen zu arbeiten", räumte der Geraer Sozialdemokrat Fuchs ein. Tatsächlich aber steckten sich "die Genossen von der KPD [ ... ] hinter die russische Kommandantur" und intrigierten gegen die SPD?9 In Thüringen war der Druck, den die Militärverwaltung auf die Sozialdemokraten ausübte, von Beginn an besonders groß gewesen. Erich Gniffke erinnerte sich, daß der für Zivilangelegenheiten zuständige Vertreter des SMATh-Chefs, Iwan S. Kolesnitschenko, seiner Partei, "wo er nur konnte", Schwierigkeiten bereitete, indem er seine Genossen ignorierte oder sie aus ihren Stellungen entfernte. Einige Male habe der in der SMAD für Propaganda und Zensur zuständige Sergej I. Tjulpanow seinen Untergebenen zurechtbiegen müssen. Aber erst, als er den Auftrag erhalten habe, "frist- und termingerecht ,die Einheit der Arbeiterklasse' herzustellen", habe sich Kolesnitschenkos Verhalten gegenüber den Sozialdemokraten geändert. Freilich hatte er zu diesem Zeitpunkt "alle sozialdemokratischen Funktionäre, die eine andere Vorstellung von einer demokratischen Entwicklung hatten als er, [ ... ] aus ihren Stellungen entfernt". 30 Dazu zählte auch Hermann Brill, der sich noch im November 1945 bereit erklärt hatte, ,jeden [sie] Kommunisten zu stützen [ ... ] im Kampf gegen bürgerliche Kreise", und der bis zuletzt eine Einheitspartei anstrebte, darin den Kommunisten aber lediglich die Rolle eines Juniorpartners einzuräumen gedachte. 31 Anfang Dezember verließ der Sozialdemokrat das Land, knapp vier Wochen später legte er den Landesvorsitz nieder. 32 Parallel zur Bedrängung der sozialdemokratischen Einheitsgegner unternahmen SMATh und KPD alles, die Vertreter der Mindermeinung in die entscheidenden Positionen zu bugsieren. So versuchten die Kommunisten den Berliner Zentralausschuß unter Druck zu setzen, indem sie sich auf die mittlere und untere Organisationsebene der SPD konzentrierten: "Un28 Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. Il/1-001. 29 Ebd. 30 Gniffke (Anm. II), S. 85. 31 Hermann Brill, Wie kommen wir zur sozialistischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse? Referat auf der Gesamtvorstandssitzung des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. Il/1-001. 32 Siehe Overeschs biographische Studien zu Brill (Anm. 18).

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gleich früher als in Berlin wurde damit bei geringerer Öffentlichkeit der politische Aktionsradius der Sozialdemokraten in der SBZ-,Provinz' eingeengt."33 Als August Frölich, der nach Brills Weggang am 12. Dezember 1945 einstimmig mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Landesvorsitzenden betraut worden war, am 31. Dezember 1945 wieder einmal den Berliner Standpunkt verteidigte, erwiderte sein sowjetischer Gesprächspartner Babenko schroff: "Von unten nach oben, nicht auf Befehl von oben. " 34 Dementsprechend fingierten die Kommunisten schon seit einigen Wochen den ,Einheitsdrang' an der ,Basis' der Gesellschaft: in den privaten wie den enteigneten Betrieben. Die Weisung dazu hatte Walter Ulbricht bereits am 13. Dezember 1945 in Weimar ausgegeben.35 Am 4. Februar 1946 etwa vereinigten sich die Betriebsgruppen der Unterwellenborner Maxhütte anläßlich des Anblasens des ersten Hochofens, zwei Monate vor der landesweit vollzogenen Einheit. Bis heute ist unklar, wie hoch der Anteil der Sozialdemokraten in diesen vorzeitig vereinigten Betriebsgruppen zu veranschlagen ist. Werner Müller vermutet gerade in den SPD-Betriebsgruppen eine große Zahl der neuen Mitglieder, die zwischen Jahresende 1945 und April 1946 in die Partei strömten, die mit den Parteitraditionen nicht vertraut waren, aber leicht gegen die Parteigremien zu mobilisieren waren. 36 Recht hilflos ging die Führung mit diesen Betriebsgruppen um, die ihrem Traditionsverständnis fremd waren; recht hilflos verhielten sich die hierin zusammengeschlossenen Sozialdemokraten. Der Eisenacher Genosse Jentoch gab zu, sich während seiner gewerkschaftlichen Arbeit "oft geschämt" zu haben "für die sozialdemokratischen Genossen in den Betrieben". 37 Viel zu spät forderte der Erfurter Sozialdemokrat Fütterer Ende November 1945 "mindestens in den grösseren Orten, in den grösseren Betrieben solche Organisationen aufzuziehen": er wußte um den "grossen taktischen Fehler" seiner Partei, die Bildung von Betriebsgruppen so lange vernachlässigt zu haben. 38 Dieses Organisationsdefizit war bislang billigend in Kauf genommen worden. Indem die Sozialdemokraten bewußt darauf verzichtet hatten, den Betrieb zum Zentrum parteipolitischer Auseinandersetzungen zu machen, dokumentierten sie ihre Abneigung gegenüber einer Organisationsform, die ihre bolschewistische Herkunft verleugnen weder wollte noch konnte. Unter der Losung "Jeder Betrieb sei unsere Burg" hatte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale schon im Juli 1925 den Mittelpunkt der Partei von den Wohngebieten auf die Unternehmen verlagern wollen, um der "sozialdemokratischen Zahlabendtradition ein Ende [zu] bereiten und die Parteiarbeit an den Arbeitsplatz [zu] verlängern, sie so massenwirksamer [zu] gestalten und für den Fall der Illegalität besser" abzuEhnert (Anm. 3), S. 51 f . Zitiert nach Malycha (Anm. 12), S. 357. 35 Siehe Ehnert (Anm. 3), S. 77. 36 Siehe Müller (Anm. 4), S. 56. 37 Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. II/1-001. 38 Ebd. 33

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sichern. Die kommunistische Parteibasis hatte sich dieser seinerzeit von Ulbricht angeleiteten Bolschewisierung nur scheinbar unterworfen. "Das Dorf, der Stadtteil, der Verein, der hergebrachte Zahlabend das blieben die dominanten Bezugspunkte, nicht jedoch die Zelle mit ihren begrifflich unerfreulichen Assoziationen zu Gefängnis und Kloster, Zwang und Kasteiung." 39 Im Februar 1932 hatte Ernst Thälmann eingestehen müssen, daß sich das von der Führung geprägte bolschewistische Image kaum mit dem traditionalistischen Parteiapparat vor Ort deckte. Beim Wiederaufbau der KPD setzten die Funktionäre dort an, wo sie 1932 kapituliert hatten. Im September 1945 unterwarf die thüringische Bezirksleitung sich einer Anweisung des ZK und erklärte die Betriebsgruppe zur "grundlegenden Organisation der Partei".40 Endlich verbuchte die Parteiführung den lang ersehnten Erfolg. Zum Zeitpunkt der Vereinigung zählte allein die KP Thüringens knapp 900 Betriebsgruppen. Daraus bei den Mitgliedern auf eine ausgeprägtere Konfonnität zu schließen, wäre indes verfehlt. Die Bereitschaft zur Mitarbeit in einer Betriebsgruppe schuldete sich dem Umstand, daß eine Entlassung oder Maßregelung durch den Arbeitgeber nicht länger zu befürchten stand. Anläßtich der späteren Stalinisierung sollten sich gerade die Betriebsgruppen als die widerborstigsten Zellen der Partei erweisen. Im Verschmelzungsprozeß aber wurden sie ihrer vom ZK zugedachten Rolle als Katalysator durchaus gerecht. Im Kreis Nordhausen etwa übten die Arbeiter der bereits im Januar 1946 vereinigten Betriebsgruppen einen so bestimmenden Einfluß auf den bis zuletzt zerstritteneo SPD-Ortsverband aus, daß dieser sich zu einem vorzeitigen Zusammenschluß durchrang.41 Auch auf dem Lande, dort wo die KPD sich aufgrund der Bodenrefonn einer loyalen Klientel sicher sein durfte, glückte es den Kommunisten bisweilen, die lokalen SPD-Gruppen gegen den Landesverband auszuspielen und zur Vereinigung, wenn nicht gar zum Parteiwechsel zu bewegen.42 Widerspruchslos hatten die Kommunisten so schon im Herbst 1945 "ganze Ortsvereine mit ihrem gesamten Vennögen einfach übernommen, das gesamte Geld kassiert und die Ortsvereine aufgelöst".43 Aber selbst bei denjenigen Sozialdemokraten, die auf eine reichsweite Lösung setzten, konnten die kommunistischen Appelle an das historische Gewissen durchaus Wirkung entfalten. Das galt insbesondere für die Landesverbände Thüringen 39 Klaus-Michael Mal/mann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, mit einem Vorwort von Wilfried Loth, Darmstadt 1996. s. 306-312. 40 Zitiert nach Ehnert (Anm. 3), S. 76. 41 Siehe Klaus Schmidtke, Die Sozialdemokratie in Nordhausen und Salza Bürgerstadt und Arbeiterdorf zwischen Kaiserreich und DDR, in: Franz Walter. Tobias Dürr/K. Sch., Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 183-286, hier S. 267 f. 42 Siehe Ehnert (Anm. 3), S. 77. 43 Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr.II/1 - 001.

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und Sachsen, wo die im Jahre 1923 gebildeten Volksfrontregierungen auf Druck der Reichsregierung aufgelöst worden waren. Wer wie August Frölich in der ersten Landesregierung von 1920/21 als Wirtschaftsminister Thüringens den Linkskurs seiner Partei mitgetragen und ihn als Vorsitzender Staatsminister der zweiten Landesregierung von 1921/1922 verschärft hatte Friedeich Facius hat der thüringischen SPD attestiert, "von der Idee des Vernichtungskampfes gegen das Bürgertum [ ... ] geradezu besessen" gewesen zu sein44 , wer schließlich eine Koalition mit den Kommunisten eingegangen war, dem waren Berührungsängste mit der KPD schon Mitte der zwanziger Jahre, spätestens aber seit Hitlers Machtergreifung fremd geworden. Frölichs Gelöbnis: ,.Solltest du die Nazizeit überleben, dann wirst du einen Schlußstrich ziehen und mitarbeiten, um die beiden Arbeiterparteien zu vereinigen", erscheint um so verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß ihn die Gestapo in der Nacht vom 15. zum 16. August 1944 an einen seiner kommunistischen Koalitionspartner, den ehemaligen Staatsminister Dr. Theodor Neubauer, gefesselt hatte. Für Frölich war die Einheitspartei insofern eine Konsequenz seines politischen Lebens. 4 s Trotz aller der SMATh gegenüber selbstbewußt vorgebrachten Einwände gegen eine Verdammung Brills und eine voreilige Verschmelzung beider Parteien,46 fügte sich der Ehrenpräsident des Landesverbandes schließlich in das von den Sowjets bestimmte Schicksal der SPD. Dabei hatte sich selbst dieser dem linken Flügel zuzurechnende Staatsmann ob der Begleitumstände nicht ganz glücklich gezeigt. Unter demokratischen Bedingungen hätte auch er einer Einheitspartei wie der SED niemals zugestimmt. Dessen eingedenk drang die SMATh denn auch auf seine Ablösung. Am 31. Dezember 1945 ließ sie den zweiten Landesvorsitzenden Heinrich Hoffmann wissen, daß sie gerne "eine junge Kraft mit modernen Anschauungen" an der Parteispitze sehen würde.47 Ein solcher ,Wunsch' war dem sozialdemokratischen Landesvorstand Befehl. Am 2. Januar 1946 nominierte er widerwillig den sowjetischen Wunschkandidaten Hoffmann zum geschäftsführenden Landesvorsitzenden. Mit seiner Haltung in der Einheitsfrage repräsentierte der Kontrahent Brills und Frölichs aber weiterhin die Mindermeinung. Verstärkt bearbeitete nun Kolesnitschenko die thüringischen Sozialdemokraten. Der General, der sich vorgenommen hatte, daß Thüringen ,.ein Beispiel geben" müsse, setzte sich gebieterisch über die Einwände August Frölichs hinweg, der bei einem Ende Januar geführten Gespräch unter Teilnahme des kommunistischen 44 Friedeich Facius, Politische Geschichte von 1828 bis 1945, in: Geschichte Thüringens, hg. von Hans Patze und Walter Schlesinger, Bd. 5/2: Politische Geschichte in der Neuzeit, Köln I Wien 1978, S. I -570, hier S. 476. 45 Siehe August Frölich, Der Höhepunkt meines politischen Lebens, in: Vereint sind wir alles. Erinnerungen an die Gründung der SED, mit einem Vorwort von Walter Ulbricht, OstBerlin 1966, S. 515-519. 46 Siehe die Niederschrift von August Frölich über eine Unterredung mit einem Mitarbeiter der SMATh am 31. Dezember 1945, in: Malycha (Anm. 12), S. 356 f. 47 Zitiert nach Malycha (Anm. 12), S. 355.

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Landesvorsitzenden Werner Eggerath die Vereinigung von einer Entschließung des sozialdemokratischen Reichsparteitages abhängig gemacht hatte. Mit der Leninschen Devise "Was gestern zu früh war, ist morgen zu spät" bedeutete ihm Kolesnitschenko, daß nicht länger gezögert werden dürfe. Zwar sei auch ihm bekannt, "daß nicht alle Mitarbeiter in die Einheitspartei gehen" wollten. Das sei aber "nicht von Interesse", befand der Militär lakonisch. Notfalls müsse man die Mitglieder neu registrieren; gleichzeitig gelte es, Delegierte wählen zu lassen. Und er befahl dem späteren Landtagspräsidenten, politische Kontrahenten mundtot zu machen: die "Gegner der Vereinigung und Politikaster" müßten in den Versammlungen und in der Presse bloßgestellt werden; es müsse "ein Kampf geführt werden, und zu einem Kampf' gehöre "auch ein Gegner, der geschlagen werden" müsse.48 Gleichwohl versicherte der Landesvorstand dem Berliner Zentralausschuß noch am 4. Februar 1946 seine Gefolgschaft und wollte die Entscheidung einem Reichsparteitag übertragen wissen.49 Einen Tag später, auf einer gemeinsamen Sitzung der Führungsgremien beider Parteien, setzte Hoffmann sich jedoch selbstherrlich über alle Bedenken des konsternierten Landesvorstandes hinweg und kündigte einen gemeinsamen Landesparteitag für den kommenden April an. 50 Schon wenige Tage später sekundierte die sozialdemokratische Parteizeitung Tribüne der Hoffmann-Fraktion und denunzierte die Einheitsgegner als "Egoisten", "Parteifanatiker", "Saboteure" und "Klassenfeinde". 51 Derart in die Zange genommen, gaben die meisten Sozialdemokraten, wenn auch widerwillig, klein bei. Ohne Zweifel war es primär die Sorge um die innerparteiliche Demokratie gewesen, welche die thüringischen Sozialdemokraten von einer überstürzten Vereinigung nach kommunistischem Fahrplan hatte zurückschreken lassen. In der grundlegenden politischen Frage: nach der künftigen Gestaltung der wirtschaftlichen Basis, stimmten sie mit den Kommunisten weitgehend überein. Gelegentlich übertrafen die Sozialdemokraten diese sogar zumindest rhetorisch an Radikalität. So sprach sich ein führender Sozialdemokrat aus dem Landkreis Stadtroda gegen eine sofortige Vereinigung aus, weil ihm die sowjetischen Maßnahmen nicht weit genug gingen. "Dringender wäre die Einigungsfrage, wenn wir Aussicht hätten, in der Sozialisierungsfrage vorwärts zu kommen", erklärte der Sozialdemokrat, der schon am I. November 1945 dem sowjetischen Kreiskommandanten seine "sozialdemokratische Meinung ganz unverblümt" gesagt hatte: "daß diese Art der Bodenreform unmarxistisch" sei, daß die Kleinbauernschaft "dadurch nicht vorwärts komme", daß so "nur reaktionäre Klein48

Gnifjke (Anm. II ), S. 133 f.

Einzelne Zusammenschlüsse, so hieß es in einer Resolution, "kommen nicht in Frage, die Anweisungen des ZA werden auf jeden Fall befolgt, Disziplinlosigkeiten müssen unterbleiben, auch von Seiten der KPD, es dürfen keine Diffamierungen bei Dritten erfolgen, separatistische Mitgliederwerbungen müssen unterbleiben, keine Überstürzung", zitiert nach Ehnert (Anm. 3), S. 82. so Siehe Ehnert (Anm. 3), S. 84. s1 Siehe Hurwitz (Anm. 2), S. 66. 49

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bauern" geschaffen würden. Auch für die Sequesterbefehle Nr. 124/126 brachte der SPD-Mann kein Verständnis auf. Demonstrativ hatte er den Vorsitz in der Sequesterkommission abgelehnt, da er es ,.für ungenügend" hielt, ,.wenn ein Besitztum aus der Hand des einen Privatmenschen in die Hand eines anderen Privatmenschen gegeben" werde. ,.Wenn der Besitz vergesellschaftet", ,.wenn aus dem privatwirtschaftliehen Betrieb ein gemeinwirtschaftlicher Betrieb gemacht" werde, halte er eine Vereinigung durchaus für sinnvoll. Bedauernd fügte er hinzu: ,.Aber die Russen denken gar nicht daran, in Deutschland die Bolschewisierungsform durchzuführen, eine Art Kollektivwirtschaft durchzuführen, wie sie sie in Russland haben; sie behaupten, dass Deutschland dazu noch nicht reif sei. Wir behalten also die privatwirtschaftliche Produktionsweise, und da sind die Einigungsbestrebungen durchaus nicht so dringlich. Wir werden auch auf die Dauer keine Einigkeit erhalten." Was hatte ein Sozialdemokrat wie dieser in einer Einheitspartei zu verlieren, zu mal sich der transformatorische Charakter der kommunistischen Wirtschaftspolitik immer deutlicher abzuzeichnen begann?52 Heinrich Hoffmann traf den neuralgischen Punkt der Einheitsdiskussion, wenn er die Meinungsverschiedenheit zwischen Brill und ihm für ,.nicht grundsätzlicher Art, sondern rein taktischer Natur" befand.53 Indirekt bestätigten ihm das die führenden Funktionäre seiner Partei: so sehr sie Hoffmann auch in der Einigungsfrage attackierten seinem im Namen der Partei vorgetragenen gesellschaftspolitischen Bekenntnis .,Wir wollen die Revolution, wir wollen die soziale Umwälzung und die klassenlose Gesellschaft, und wir sind durchaus nicht weniger radikal als die Kommunisten" mochte keiner widersprechen. Gleichermaßen Illusionist wie Realist wußte Hoffmann um die Übermacht der Besatzungsmacht, glaubte aber, durch willfähriges Verhalten den mitbestimmenden Einfluß der Sozialdemokraten erhalten zu können. Die meisten Sozialdemokraten, auch die Einheitsgegner unter ihnen, flüchteten sich in die illusionäre Hoffnung als (vermeintlich) mitgliederstärkste Fraktion in der künftigen Einheitspartei den Ton angeben zu können. Schon Ende November 1945 hatten sich die bedrängten Sozialdemokraten recht zuversichtlich über die Behauptung ihrer hegemonialen Stellung (nicht nur im linken) politischen Spektrum gezeigt. Die einer Vereinigung abgeneigten Genossen pflegten aus der Stärke ihrer Parteiorganisation deren Autonomie zu begründen. Genosse Willi Martin aus Stadtroda sprach wohl allen Parteifreunden aus dem Herzen, wenn er sich die Kommunisten .,als ein kleines Häuflein" ausmalte, die den Sozialdemokraten ,.hinterher zu springen" hätten und sie um Beachtung anbetteln müßten. Wie Brill, der eine Einheit, freilich nach seinen Bedingungen, noch Ende November 1945 favorisierte, dachte er sich das Verhältnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten nach dem Vorbild der Labour-Party: den Kommunisten sei ,.die Rolle zuzuweisen, ~2 Protokoll der Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der SPD am 26. November 1945 in Weimar, in: ThHStAW, BPA SED EF, Nr. 11/1-001. ~3 Ebd.

Nicht ohne Zwang, nicht ohne Bereitschaft

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die sie in England" spielten; sie sollten .,hinter der grossen sozialdemokratischen Partei herlaufen." 54 Der Saalfelder Delegierte auf dem ersten Landesparteitag Möbus träumte sogar davon, die KPD aufzulösen: ein .,Resonanzboden" sei für eine bolschewistische Organisation in Deutschland nicht vorhanden; .,die grosse Masse der Bevölkerung in der von den Russen besetzten Zone" komme zur SPD. Selbstbewußt leitete Möbus "aus dem Zustrom der Massen der SPD. das Recht" ab, "die Linienführung zu bestimmen."55 Nachdem die SMATh sich von solchen Kalkulationen nicht hatte beeindrucken lassen, gewann das einstmals gegen die Einheit vorgebrachte Argument eine gegenläufige Stoßrichtung. Wo die SPD wie in Schmölln über eine traditionell starke Hausmacht verfügte, versprach man sich von der neuen Partei .,eine erweiterte SPD mit neuem Etikett". 56 Hätten die Sozialdemokraten über genauere Mitgliederzahlen verfügt und hätten sie ihre Parteibasis ob deren Traditionsbewußtseins nach loyalen und unzuverlässigen Genossen klassifizieren können, wären ihre Bedenken wohl größer ausgefallen. Denn dank ihrer offensiven Werbung holten die Kommunisten zusehends auf. Am 31. Oktober 1945 hatte die KPD nur über gut halb so viele Mitglieder (55,6%) wie die SPD verfügt; zwei Monate später waren es bereits 71 Prozent; zum Zeitpunkt der Vereinigung sogar 80,4 Prozent! 57 Dieser geschrumpfte Abstand verliert noch an Bedeutung, wenn man den hohen Anteil an Opportunisten bedenkt, die beiden Parteien beigetreten waren. Denn anders als der ZA wußte das ZK sämtliche Mitglieder einem strengen Reglement zu unterwerfen und sie gefügig zu machen. Stärker noch als von den venneintlichen Mehrheitsverhältnissen an der Basis ließen sich die Sozialdemokraten von dem vereinbarten Paritätsprinzip täuschen. Dabei profitierte davon die kommunistische Fraktion, die in Thüringen nur 44,6 Prozent Mitglieder einbrachte, aber die Hälfte aller Stellen besetzte. Gleichwohl verbuchten die Sozialdemokraten die Regelung für sich als Erfolg. Am 7. April 1946 war es dann so weit: auf dem symbolträchtig zu Gotha abgehaltenen Vereinigungsparteitag stimmten die Delegierten von SPD und KPD einstimmig für die Gründung einer Sozialistischen Einheitspartei.

111. Resümee Vier Jahre nach dem Einmarsch der Sowjets war die Rechnung der Berliner Kommunisten um Walter Ulbricht aufgegangen. Ohne ihrer teleologisch ausgerichteten Gesellschaftsutopie zu entsagen, hatten sie in Verfolg ihrer auf die gesellS4

Ebd.

ss Ebd. 56 Tobias Dürr. Schmölln: Die rote Knopfstadt, in: Franz Walter. T. D. I Klaus Schmidtke,

Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora. Untersuchungen auf lokaler Ebene vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 287-478, hier S. 415. s1 Zur Mitgliederentwicklung der thüringischen SPD und KPD in den Jahren 1945/46 siehe Ehnert (Anm. 3), S. 111 .

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schaftliehen Ausgangsbedingungen abgestimmten Strategie einen Transformationsprozeß eingeleitet, der eine Entdifferenzierung sämtlicher Subsysteme zum Ziel hatte und alle Bereiche der Gesellschaft dem Primat der Politik unterwerfen sollte. Der Gleichschaltung des politischen Linken war dabei eine zentrale Bedeutung zugekommen. Eine Realisierung des Entdifferenzierungsprozesses setzte schließlich die Verwerfung alternativer Konstruktionen voraus. In einem ersten Schritt hatten die im Moskauer Exil geschulten Funktionäre daher ihre daheimgebliebenen Genossen auf den neuen, nichtrevolutionären Kurs eingeschworen. In einem zweiten Schritt war die Ausschaltung der Sozialdemokraten in Angriff genommen worden. Den Auftakt zur Stalinisierung auch der sozialdemokratischen Schwesterpartei bildete die (Zwangs-)Vereinigung beider Parteien. Um dieses Zwischenziel zu erreichen, hatte sich die KPD einer Doppeltaktik bedient, die zum einen in der Vernetzung legitimer und illegitimer Mittel, zum anderen in der Arbeitsteilung zwischen Parteibasis, Parteiführung und Besatzungsmacht gründete. Für die grobe Arbeit zuständig waren vor allem die sowjetischen Besatzer: sie schränkten die Rede-, Presse- und Agitationsfreiheit der Einheitsgegner ein, verhafteten, bedrohten, bestachen sie. Gleichzeitig setzten von Kommunisten manipulierte SPD-Orts- und Betriebsgruppen ihren Landesvorstand unter Druck. Die regionale Parteielite konzentrierte sich derweil auf die Propaganda, wodurch sie nicht nur die Sozialdemokraten zu überzeugen und die fehlende Legitimation des Einheitsbeschlusses zu kompensieren versuchte, sondern auch die politischen Schlüsselbegriffe zu besetzen verstand. Die Sozialdemokraten, derart bedrängt, stellten ihre Sorgen um die Aufrechterhaltung der innerparteilichen Demokratie schließlich hintan und ergaben sich dem Druck. Daß dieser Prozeß relativ reibungslos verlief, gründete freilich nicht nur in Repressionen und Resignation. Wie groß die Vorbehalte der Sozialdemokraten gegen die in Thüringen auf sowjetischen Druck hin am 7. April 1946 vollzogene Vereinigung auch gewesen sein mögen die (illusionären) Hoffnungen und die positiven Erwartungen, nicht zuletzt bedingt durch den vor allem von kommunistischer Seite aus herbeigeführten Konsens in der Wirtschaftspolitik, wogen sie bei den meisten Genossen auf. Zu einem demonstrativen Parteiaustritt respektive einer Nichtregistrierung bequemte sich jedenfalls nur eine Minderheit. 58 Und eine Selbstauflösung, wie Kurt Schumacher sie empfohlen hatte, scheint keiner der thüringischen Genossen erwogen zu haben. Wer aber die Partei zum Zeitpunkt ihrer Vereinigung nicht verließ, der akzeptierte den Vereinigungsprozeß sei es in freudiger Erwartung, sei es aus Karrierismus oder Konformismus, sei es aus Resignation oder Selbsttäuschung, sei es aus Verantwortungs- oder Traditionsbewußtsein. Insofern fand die Gründung der Einheitspartei nicht ohne massiven Zwang, aber auch nicht ohne ein gewisses Maß an Bereitschaft statt.

ss Vergleiche Müller (Anm. 4), S. 58.

"Überall wird der Stalinismus beseitigt, nur in unserer Dienststelle nicht!" 1 Das autokratische Regime des Leiters der Haftanstalt Brandenburg-Gördeo Fritz Ackermann Von Tobias Wunschik I. Zur Geschichte der Haftanstalt Das Zuchthaus Brandenburg-Gördeo wurde ab dem Jahre 1927 von der Weimarer Justiz aufgebaut. Fertiggestellt im Jahre 1935, ließ dann das NS-Regime hier vorwiegend politische Gegner (wie Erich Bonecker und Robert Havemann) inhaftieren. Doch auch Homosexuelle sowie Sinti und Roma zählten zu den Gefangenen, die ab 1939 zwangsweise in der Rüstungsindustrie arbeiten mußten. Rund 1700 politische Häftlinge wurden hier in den Jahren 1940 bis 1945 exekutiert. Meist Jagen dem Todesurteile des Volksgerichtshofs, beispielsweise gegen Anhänger der Widerstandsgruppe des 20. Juli, zugrunde. Als gegen Kriegsende sowjetische Truppen sich der Haftanstalt näherten, gelang es den in illegalen Strukturen operierenden Häftlingen die Wachmannschaft zu entwaffnen. Definitiv wurde die Haftanstalt am 27. April 1945 durch russische Soldaten befreit. Bis 1948 führte dann die sowjetische Besatzungsmacht auf dem Gelände des Zuchthauses Brandenburg-Gördeo ihr sogenanntes Lager 226 für sowjetische Gefangene? Im Januar 1948 übernahm die Polizei des Landes Brandenburg zwei der Verwahrhäuser der Haftanstaltskomplexes. Die Besatzungsmacht behielt für einige Monate noch die beiden anderen Verwahrhäuser sowie das Krankenhaus in eigener Regie, was etwa 25% der Gesamtkapazität entsprach; die Grenze zwischen den Komplexen bildete das Bahngleis, das mit einem Metallzaun gesichert wurde.3 Die DVP stellte bei der I Bericht eines GI[Geheimer lnfonnator) aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 30. II. 1956; Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Außenstelle (ASt.) Potsdam AP 77/61, BI. 162. Das Zitat bezieht sich zwar auf Ackennanns Führungstätigkeit als Leiter der Haftanstalt Bützow-Dreibergen, läßt sich aber auf seinen Leitungsstil in Brandenburg-Gördeo übertragen. 2 Vgl. Vertrag zwischen dem Kommandanten des Lagers 226 und dem Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg vom Februar 1948; Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 4. 3 Vgl. Schreiben der Abt. Polizei des Ministers des Inneren der Landesregierung Brandenburg an die DVdl vom 23. 4. 1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 20-22.

21 Timmermann

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Übernahme fest, "in dem der Polizei übergebenen Teil der Anstalt dürften sich bis zu 3000 Häftlinge unterbringen lassen."4 Ab April 1948 wies die Polizei des Landes Brandenburg in die Haftanstalt Gefangene ein, die nach SMAD-Befehl 201 zur "beschleunigten Durchführung der Entnazifizierung" vom 16. August 1947 verhaftet worden waren. 5 Im Oktober 1948 entschied die SMAD, daß künftig alle nach Befehl 201 Verurteilten zentral im Zuchthaus Brandenburg-Görden untergebracht werden sollten, seinerzeit etwa 2080 Personen.6 Im Juni 1949 wurde die Strafvollstreckung an dieser Gruppe von Häftlingen der Justiz übertragen, womit auch in Brandenburg-Görden der Hausherr wechselte.' Doch schon wenige Monate später wurden die Zuständigkeiten im ostdeutschen Gefangniswesen abennals geändert. Die östliche Besatzungsmacht entschied im Oktober 1949, binnen weniger Monate auch die drei letzten Speziallager(Sachsenhausen, Buchenwald und Bautzen) aufzulösen. Die Verwahrung der verbliebenen Speziallagerinsassen übernahm die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVDVP).8 Sie galt politisch als zuverlässiger als die Justiz, der bis dahin das deutsche Gefängniswesen groBteils unterstand. In den Augen der Besatzungsmacht war ihr Personal auch nur ungenügend "entnazifiziert" worden. Außerdem hatte die Justizverwaltung das Konzept eines refonnorientierten "humanen Strafvollzugs" entwickelt und in diesem Zuge sogar Arbeitskontakte in die drei Westzonen aufgebaut - alles sehr zum Mißfallen der SMAD. Zur Skepsis der Besatzungsmacht gegenüber dem Justizressort trug ferner bei, daß die Länder im Bereich der Justiz noch eine relativ starke Stellung innehatten und deshalb zu befürchten war, daß die Anweisungen der Besatzungsmacht über die weitere Behandlung der ehemaligen Speziallagerinsassen nicht zuverlässig genug "nach unten" durchgestellt werden würden. 9 4 Aktennotiz für Ministerial-Direktor Staimer vom 27. 2. 1948 betr. Zuchthaus in Görden bei Brandenburg vom 27. 2. 1948; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 2031311, BI. 7-8. s Vgl. Bericht des Dezernat K 51201 der Abt. Polizei des Landeskriminalamtes Brandenburg über die Durchführung des Befehl 201 vom 27. 4. 1948; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 2031133, BI. 56-61. 6 Abschrift eines Vermerks vom 27. 10. 1948; Bundesarchiv (BA), DO I 11 I !589, BI. 2. 7 Bericht der Landeskriminalpolizeiabteilung Brandenburg über die Durchführung des Befehls 201 vom 1. 8. 1949; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 2031133, BI. 102-104. s Vertraulicher Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei an den Staatssekretär im Ministerium des Inneren Hans Warnke vom 1. 10. 1951, abgedruckt in: DA 1I 1996, S. 26 - 33. 9 Vgl. Brigitte Oleschinski, Die Abteilung Strafvollzug der Deutschen Zentralverwaltung für Justiz in der SBZ 1945-49, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe Nr. 2 I 1992, S. 83- 90; Thomas Lorenz. Die Deutsche Zentralverwaltung der Justiz und die SMAD in der sowjetischen Besatzungszone 1945-49, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S. 135-166, S. 135 f., 164 f. sowie Werner Künzel, Das Ministerium der Justiz im Mechanismus der Justizsteuerung 1949-1976, im gleichen BandS. 167-252, S. 169, 176; Andreas Beckmann und Regina Kusch, Gott in Bautzen. Gefangenenseelsorge in der DDR, Berlin 1994, S. 28.

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Den neuen Präferenzen Moskaus entsprechend beschloß das Sekretariat des Zentralkomitee (ZK) der SED im Mai I 950, der "gesamte Strafvollzug an den nach Befehl 201 verurteilten Personen wird der Leitung der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (Hauptabteilung Haftsachen) unterstellt. Die Genossen im Ministerium der Justiz werden verpflichtet, die mit Insassen nach Befehl 201 belegten Strafvollzugsanstalten mit allen Einrichtungen, mit ihren Stellenplänen und Haushaltsmitteln der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei zu übergeben."10 So übernahm die oberste Polizeibehörde am I. Juli 1950 die Haftanstalt Brandenburg-Görden in eigene Regie. 11 Aufgrund des Profils der Anstalt und der Beschlußlage im ZK sprach sich in diesem Fall auch Justizminister Max Fechner für eine Übergabe aus, 12 während er sich gegen die Begehrlichkeilen des Innenressort auf die ihm unterstehenden Untersuchungshaftanstalten und Haftarbeitslager energisch wehrte. 13 Die nach SMAD-Befehl 201 inhaftierten Häftlinge sollten besonders streng behandelt werden. Grundsätzlich wurde ihnen Fluchtabsicht unterstellt, so daß sie scharf überwacht und mindestens zweimal wöchentlich ihre Zellen durchsucht wurden. Besuche waren nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt, wurden streng kontrolliert und durften nicht länger als 15 Minuten dauern. Die Familienangehörigen durften "Gegenstände zum persönlichen Verbrauch" übergeben, jedoch keine Lebensmittel oder Zigaretten. Jede Woche durften die Gefangenen einen Brief schreiben, der natürlich zensiert wurde. Widerstandshandlungen, aber auch "Toben und Schreien", sollte durch Fesselung begegnet werden. 14 "Haftbeschwerden sind nach Befehl 201 nicht zulässig." 1 ~ ,,Die Behandlung der Gefangenen", so hatte schon die Deutsche Justizverwaltung I 948 in einer Besprechung speziell für Brandenburg-Görden festgelegt, "soll nach der von den Nazis für ihre Gefangenen erlassenen Dienst- und Vollzugsordnung von I 940 erfolgen". 16 Die teilweise beträchtliche Willkür, mit der nach Befehl 201 verhaftet und verurteilt wor10 Protokoll Nr. 107 der Sitzung des Sekrelariats [des ZK der SED] vom 15. 5. 1950; BA, DY 30 JIV 213-107, BI. 1-6. II Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Strafvollzug an die Sowjetische Kontrollkommission betr. Struktur der Hauptabteilung Strafvollzug vom 3. 3. 1953; BA, DO I 11/1468, BI. 125-133. 12 V gl. Aktenvermerk der Hauptabteilung HS [Haftsachen) betr. Vorsprache des Leiters der Strafanstalt Brandenburg-Gördeo vom 2. 6. 1950; BA, DO I 11/1586, BI. 29-30. 13 V gl. Tobias Wunschik, Der Strafvollzug als Aufgabe der Deutschen Volkspolizei in den fünfziger Jahren, in: Archiv für Polizeigeschichte Nr. 3/1997, S. 74-91. 14 V gl. Sonderanweisung zur Polizeihaftanstaltsordnung - gilt nur für den Personenkreis, der in Ausführung des Befehls 201 der SMAD festgenommen ist o.D. [Ende 1947]; BLHA, LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, BI. 7- 8. 1~ Vgl. Anweisung der K 5/20 I des Landeskriminalamtes Brandenburg (Potsdam) an alle Einsatzstellen betr. Befehl 201 vom 17. II. 1947; BLHA. LBDVP Ld. Br. Rep. 203/133, BI. 1-3. 16 Ergebnisprotokoll einer Besprechung in der Deutschen Justizverwaltung vom 2. II. 1948; BA, 00 I 11/1589, BI. 4-6.

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den war, spiegelte sich in der Meinung etlicher Aufseher wieder, gegen die in Brandenburg einsitzenden Gefangenen seien teilweise unverhältnismäßige hohe Freiheitsstrafen ausgesprochen worden bzw. einige Insassen säßen sogar unschuldig ein. 17 Im April 1953 befanden sich in der Haftanstalt Brandenburg noch 1567 Personen, die von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) verurteilt worden waren. Die vermutlich auf den sowjetischen "Kompromatslisten" beruhende Statistik zu den Haftgründen ist aufgrund ihrer spezifischen Begrifflichkeil schwer zu interpretieren, doch läßt sich zumindest ermessen, daß hier neben NS-Tätern auch viele Gegner der neuen, vermeintlich "demokratischen" Ordnung einsaßen. 18 So waren 785 Insassen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden, 351 wegen Spionage, 132 wegen antisowjetischer Agitation und Flugblattverbreitung, 81 wegen illegalem Waffenbesitz, 58 wegen Aufruf zum Aufstand und Teilnahme an antisowjetischen Gruppen und Organsiationen, 29 wegen Schädlingsarbeit und Sabotage, 25 "Terroristen", 18 wegen Verheimlichung oder Mitwisserschaft, 3 Diversanten und 85 wegen sonstiger Verbrechen. 569 Gefangene verbüßten eine lebenslange Freiheitsstrafe, 593 saßen eine Strafzeit von 25 Jahren ab, 122 hatten Freiheitsstrafen zwischen 15 und 25 Jahren zu verbüßen, weitere 113 hatten Strafen zwischen 10 und I 5 Jahren und 170 unter 10 Jahren erhalten. 19 Bis zu ihrer Verlegung nach Bautzen II im August I 956 waren unter den Gefangenen auch etwa 90 prominente Insassen, die von den anderen Häftlingen isoliert gehalten wurden. ,,Neben den Opfern von Menschenraubaktionen befanden sich hier als ,besonders gefährliche Gegner des Regimes' geltende Häftlinge sowie ehemalige hohe Partei- und Staatsfunktionäre." 20 Dazu zählten etwa die in Ungnade gefallenen und abgeurteilten Minister für Auswärtige Angelegenheiten und für Justiz, Georg Dertinger und Max Fechner. Durch Entlassungen und Verlegungen wandelte sich der Gefangenenbestand erheblich; Mitte der sechziger Jahre bildeten die SMT und einige zuverlegte Waldheim-Verurteilte nur noch eine verschwindende Minderheit unter den Insassen. Ab 1969 wurden "alle Strafgefangenen der strengen Vollzugsart mit Freiheitsstrafen über 5 Jahren aus dem gesamten Gebiet der DDR" und alle Gefangenen der strengen Vollzugsart aus der Region Brandenburg aufgenommen. 21 Dadurch gelangten Vgl. BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 214. Vgl. hierzu Heinz Kersebom und Lutz Niethammer, ,.Kompromat" 1949- eine statistische Annäherung an Internierte, SMT-Verurteilte, antisowjetische Kämpfer und die Sowjetischen Militärtribunale, in: Serge) Mironenko, Lutz Niethammer und Alexander von Plato (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland. Band I - Studien und Berichte, Berlin 1998, s. 510-532. 17

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19 Statistik der StVA[Strafvollzugsanstalt] Brandenburg vom 11. 4. 1953; BA, DO 1 32/39821. S.a. Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995, S. 368.

20 Gerhard Finn und Kar/ Wilhelm Fricke, Politischer Strafvollzug in der DDR, Köln 1981, S. 35.

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immer mehr vorbestrafte und kriminelle Täter sowie als besonders gefährlich geltende politische Gefangene nach Brandenburg-Görden (unter ihnen etwa Michael Gartenschläger). Beispielsweise wurden hier Angehörige von Schleuserorganisationen, bei der Vorbereitung der Republikflucht Gescheiterte, wegen Spionage Verurteilte und ehemalige Soldaten der NVA inhaftiert. Der Zahl dieser "Staatsverbrecher" in der Haftanstalt Brandenburg lag bei etwa 700 (von 3231 Häftlingen am Jahresende 1974)?2 Bis 1979 saßen auch Bundesbürger in Brandenburg ein; die zuletzt aus etwa 80 Personen bestehende Gruppe wurde dann nach Bautzen II und Berlin-Rummelsburg verlegt. 23 In den achtziger Jahren kamen dann u. a. Skinheads als neue Häftlingskategorie hinzu. Aufgrund ihrer besonderen politischen Bedeutung wurden die Haftanstalten, in denen die ehemaligen Speziallagerinsassen ihre Strafen verbüßten, anfänglich direkt von der Hauptabteilung Strafvollzug (HA SV) in der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei (HVDVP) angeleitet. Dies galt auch für die Haftanstalt Brandenburg-Görden. Erst 1956 wurde sie einem regionalen Verwaltungsorgan des ostdeutschen Strafvollzugs unterstellt, das seinerzeit als sogenannte Bezirksverwaltung für Strafvollzug (BV SV) neu strukturiert wurde, doch bis dahin (und nach 1958) Abteilung Strafvollzug hieß und der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) Potsdam unmittelbar unterstand. An Aufsehern wachten im März 1952 363 Offiziere und Wachtmeister über die Gefangenen; bereits jeder zweite besaß damals das Parteibuch?4 Berichten die ehemaligen Insassen davon, daß die Aufseher ihnen als überzeugte Anhänger des SED-Regimes gegenüber getreten seien, so war aus Sicht der Anstaltsleitung deren politische Linientreue völlig ungenügend. 25 So vertrat ein Oberwachtmeister beispielsweise die Auffassung, "daß die Volkswahlen am 15. Oktober [1950] denselben Charakter wie in der Nazizeit trugen"?6 Der Disziplinarpraxis ist darüberhinaus zu entnehmen, daß Auffassungen von Wachleuten wie "ich könnte auf einen Ausbrecher nie schießen"27 unweigerlich zur Entlassung führten. Der politischen 21 Entschlußfassung des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg entsprechend der Anweisung 37/68 [des Ministers des Inneren] vom 10. 3. 1969; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/ 15.1/694, BI. 34-44. 22 Vgl. Ausführungen des Leiters der StVA Brandenburg zur Dienstversammlung am 13. 6. 1974 vom 7. 6. 1974; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, Bl. 157 -179; Einschätzung der Arbeitsergebnisse 1974 durch den Leiter der StVA Brandenburg vom 3. 1. 1975; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.1/696, BI. 186-210. 23 Vgl. BA, 001 32/46926. 24 V gl. I. Quartalsbericht 1952 der Personalabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg an die HVDVP vom 3. 4. 1952; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 58-59. 25 V gl. Informationsbericht der Strafanstalt Brandenburg vom Monat Oktober an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom I. II. 1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 103-106. 26 Informationsbericht [der Strafanstalt Brandenburg] für den Monat November an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom 29. 11. 1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 107-110.

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Radikalisierung und der Unversöhnlichkeit gegenüber den Gefangenen wurde so gewiß Vorschub geleistet. Der langjährige Leiter der Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, forderte denn auch schlicht von den Aufsehern in Brandenburg-Görden: "Unsere Genossen müssen hart werden." 28 Als erster Anstaltsleiter aus den Reihen der Volkspolizei wurde Heinz Marquardt eingesetzt. Allerdings machten selbst unter den Gefangenen alsbald Gerüchte über seine Ablösung wegen Unfähigkeit die Runde. 29 Sein zum I. September 1954 bestellter Nachfolger Robert Schroetter attestierte der Dienststelle einen "politischmoralisch unbefriedigenden Zustand". 30 Als Beleg dafür diente "ein im Zimmer des Dienststellenleiters vorgefundener Schrank, gefüllt mit leeren Likörflaschen." Schroetter seinerseits wurde Ende 1958 als Leiter der Haftanstalt Hoheneck eingesetzt. Seinen Posten in Brandenburg-Goerden übernahm Fritz Ackennann, der fortan für fast 25 Jahre die Geschicke der Haftanstalt lenkte.

11. Der Anstaltsleiter Fritz Ackermann Fritz Ackennann wurde 1921 als Sohn eines Maurers im Kreis Sangershausen geboren. Im Krieg nur kurzzeitig im Fronteinsatz geriet er im Mai 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Besuch der Antifasehute wurde er am 1. August 1948 entlassen. Wenige Tage später wurde er Mitglied der SED und arbeitete als Instrukteur bei der SED-Kreisleitung in Sangershausen. Im Januar 1949 trat er in die Dienste der Deutschen Volkspolizei und wurde im April 1950 Stellvertreter für Politkultur (PK) in der Haftanstalt Torgau, bevor man ihn wenige Monate später auf den gleichen Posten nach Waldheim versetzte. Im September 1951 bereits konnte er zum Leiter der Strafvollzugsanstalt Cottbus aufsteigen, im Dezember 1952 übernahm er die Leitung von Bützow-Dreibergen. 31 Zu Recht eilte ihm der Ruf voraus, als Dienststellenleiter hart durchzugreifen und die unbedingte Loyalität seiner Untergebenen zu fordern. Nach seiner Amtsübernahme in der Haftanstalt Bützow-Dreibergen führte er aus, "daß er hier Ordnung schaffen würde und wenn nicht anders, dann mit den brutalsten Mitteln. [ . .. ] Wem es hier nicht passe, der könne sich gleich seine Entpflichtung holen". 32 Tatsächlich ließen sich 27 Jahresbericht der Kaderabteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das Jahr 1960 vom 3. I. 1961; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/347, BI. 106-108. 28 Protokoll über die durchgeführte Dienstversammlung [in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg] am 21. 10. 1957 vom 23. 10. 1957; BA, DO I 1111493, BI. 99 - 114. 29 V gl. Leiterbesprechung in der Strafanstalt Brandenburg vom 17. 11. 1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/311, BI. 57. S.a. BA, 00 I II /1513, BI. 342. 30 Quartalsbericht 111/54 der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 21. 10. 1954; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, BI. 282-297. 31 Lebenslauf von Fritz Ackermann vom 14. 5. 1954; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 75. 32 Bericht des IM "Herben" aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 7. 3. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 101.

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binnen dreier Monate bis Februar 1953 37 Aufseher entpflichten und 27 weitere versetzen 33 - eine Zahl, die weit über der nonnalen Fluktuationsrate der Volkspolizisten lag und wohl auch mit Ackennanns Führungsstil zusammenhing. Bemerkenswert ist beispielsweise folgender Vorfall: Als eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle seiner Haftanstalt eine "Vertrauliche Verschlußsache" (VVS) nicht tenningerecht erledigte, "hat der VP[Volkspolizei-]Oberrat sie fertig gemacht, so daß sie nicht mehr zu Wort kam. Danach wurde die Genn. V. auf Veranlassung des Gen. A. mit sämtlichen Unterlagen zu dieser VVS-Sache im Zellenbau mit 9 männlichen Strafgefangenen eingeschlossen und hat diese Nacht allein als Frau mit 9 Strafgefangenen die VVS-Sache bearbeitet. Am nächsten Tage wurde sie dann von dem Gen. A. mit 5 Tagen Arrest bestraft."34 Kein Wunder, daß unter den weiblichen Häftlingen die Meinung vorherrschte, "die VP wird vom Oberrat nicht besser behandelt wie wir." 35 Die Frau des Politstellvertreters von Bützow-Dreibergen kam zu der Feststellung: "A. ist ein Diktator. [ ... ] Er hat einen ganz schlechten Charakter."36 Und ein Spitzel der Staatssicherheit zitierte einen Hauptwachtmeister Ende 1956 sogar mit den Worten: "Überall wird der Stalinismus beseitigt, nur in unserer Dienststelle nicht!" 37 Ganz unabhängig vom zeitgeschichtlichen Rahmen rühmte sich Ackermann auch gerne selbst, daß er der "strengste Anstaltsleiter in der DDR" sei. 38 Und als solcher schien er für die Verwahrung der nach SMAD-Befehl 201 verurteilten Häftlinge genau der Richtige zu sein. Mit Wirkung vom I. Oktober 1958 an wurde er Leiter der Haftanstalt Brandenburg-Görden.39 Vor Dienstantritt wurde er noch in Berlin von der Verwa1tung Strafvollzug in seine neue Aufgabe eingewiesen. Ackennann übernahm zwar einen neuen Posten, doch an seinem Führungsstil änderte sich wenig. So wurde er bald zu einer "Besprechung" nach Potsdam zitiert, wo er vom Leiter der bereits erwähnten Verwaltung Strafvollzug, August Mayer, dem Leiter der BDVP Potsdam und dem Leiter der Abteilung Strafvollzug in der BDVP, W. L., scharf kritisiert wurde. Sein Arbeitsstil, so wurde ihm attestiert, sei mangelhaft, kollektive Arbeitsberatungen würden nicht durchgeführt, Ackennann 33 Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 9. 3. 1953 und 20. 3. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 2-3 u. 103. 34 Bericht des GI v. Butter aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 26. 10. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP77/61, BI. 135. 3S Bericht des GI Fritz Schulz aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 17.6.1954; BStU,ASt.PotsdamAP77/61,BI.I42. 36 Bericht des GI Blumentopf aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 12. 3. 1954; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 138. 37 Bericht eines GI aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 30. II. 1956; BStU, ASt. Potsdam AP77/61, BI. 162. 38 Stimmungsbericht eines GI aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom I. 8. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 118. 39 Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.2/264.

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verfüge selbstherrlich über die Haftanstalt. "Man hat den Eindruck, daß es eine Haftanstalt ,Ackermann' und nicht eine Haftanstalt Brandenburg gibt." Er sei zu impulsiv und gebe ,,Anweisungen ohne diese richtig zu durchdenken". Einem Instrukteur einer vorgesetzten Dienststelle, der den Produktionsprozeß in der Haftanstalt hatte untersuchen sollen, habe Ackermann entgegnet, er solle in einem Jahr wiederkommen, da sei alles fertig. Und zu einem Bauvorhaben der Haftanstalt hatte er eigenmächtig Steine und anderes Material anfahren lassen, obwohl dies von der Verwaltung Strafvollzug noch nicht genehmigt worden war. "Man muß sich immer wieder fragen, woher der Genosse Major Ackermann soviel Mut oder Unvernunft nimmt." Auch den Gefangenen gegenüber verhalte er sich nicht richtig. Ackermann hatte beispielsweise, um den Verfasser einer "Hetzlosung" zu ermitteln, sämtliche Insassen der Haftanstalt Brandenburg kollektiv bestraft, in dem er ihnen alle Brettspiele entzog. In etwa 20 Fällen hatte er als Strafe einen Kahlschnitt des Kopfhaares verfügt, was gemäß Disziplinarordnung unzulässig war. Eine Sauberkeitskontrolle nahm er ausgerechnet am Heiligabend 1958 vor, und ließ sich dabei Kämme, Bürsten und Schuhe der Gefangenen vorzeigen. 140 Häftlinge wurden dann wegen mangelnder Sauberkeit von der Weihnachtsfeier ausgeschlossen. Einen Gefangenen ließ Ackermann mit vier Wochen schwerer Arbeit unter freiem Himmel bestrafen. "Der Zeitpunkt der Kontrolle war sehr unpassend. Solche Maßnahmen lösen bei den Gefangenen Verärgerung aus", wie die Leitung der Verwaltung Strafvollzug überraschend einfühlsam analysierte. "Man braucht sich darum nicht zu wundem, wenn in der Westpresse über die Zustände in der StVA [Strafvollzugsanstalt] berichtet wird." Ackermann empfinde es aber offensichtlich als Auszeichnung, daß sein Name so häufig in den Zeitungen stand. Politisch sei es aber ein Fehler, wenn man durch überzogene Härte für Schlagzeilen sorge - auch Ende der fünfziger Jahre schon war das SED-Regime um seine Reputation im Westen besorgt. Ackermann versuchte abzuwiegeln. Daß er dem Instrukteur geantwortet habe, er solle in einem Jahr wiederkommen, sei zwar richtig, doch habe er das nicht so ernst gemeint. Das Bauvorhaben sei eine falsche Entscheidung gewesen, doch habe das Stadtbauamt für einen Teil Ziegelsteine keine weitere Verwendung gehabt daraufhin habe er die Steine herschaffen lassen. Die Kontrolle der Strafgefangenen sei nur zufällig auf den 24. Dezember gefallen, weil er in den Tagen davor verhindert gewesen sei, und aus Platzmangel in den Versammlungsräumen hätten an der Weihnachtsfeier ohnehin nicht alle Häftlinge teilnehmen können. Bei geringfügigen Widersetzlichkeilen den Kahlschnitt anzuordnen sei vielleicht etwas überzogen gewesen.40 Letztlich entging Ackermann einer "Verwarnung" als Disziplinarstrafe zwar nicht, doch wurde diese ausschließlich mit der illegalen Baumaß40 Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7. I. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep.404/15/118,BI.I78-187.

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nahme und nicht mit den anderen Verfehlungen begründet.41 Der illegale Erwerb von ein paar Ziegelsteinen wog offenbar schwerer als sein Fehlverhalten gegenüber Gefangenen. Wenige Wochen später holte Ackermann zum Gegenschlag aus. Er legte sich nun mit dem Leiter der Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam, W. L., an, der die erwähnte Kritik geübt hatte und außerdem darum bemüht war, seine Weisungsbefugnis gegenüber der Haftanstalt Brandenburg durchzusetzen. In einem Schreiben an dessen Vorgesetzten, den Chef der BDVP Potsdam Münchow, führte Ackermann aus: "In seiner bisherigen Tätigkeit war er [L.] recht viel damit beschäftigt, bei dem Leiter im Zimmer oder mit der Leitung gemeinsam in ständig wiederholenden Reden diese zu beschäftigen. Wir haben es so empfunden, daß der Gen. Abteilungsleiter uns in Wirklichkeit von unserer eigenen Arbeit abhält. [ ... ] Er arbeitet so, daß er auf jeden Fall in einem guten Licht als der gute Onkel erscheint. Möglichst bei den Wachtmeistern, wobei man noch [sogar] der Auffassung sein kann, daß er besonders gegenüber der Dienststellenleitung sich herausstellen möchte." Dagegen kritisiere er die Anstaltsleitung übermäßig hart, "um sie in jeder Hinsicht unbotmäßig zu machen und sich selbst mit seiner Arbeit in ein gutes Licht zu rücken."42 Tatsächlich zog L. in diesem Konflikt den kürzeren, den er stand seinerzeit auch bei Mayer in der Kritik, weil er gegenüber Versäumnissen in den Haftanstalten seines Bezirks als zu nachsichtig galt.43 Da das MfS diese Auffassung teilte und ihm auch moralische Verfehlungen nachweisen konnte, hatte die Staatssicherheit schon Jahre zuvor auf seine Ablösung gedrängt,44 die dann im Frühjahr 1959 schlußendlich vollzogen wurde. Ackermann schickte dem Gemaßregelten die Feststellung hinterher, daß er eine "unparteiliche" Haltung und "mangelnde Kenntnisse in fachlicher und politischer Art und Unkenntnis der sich entwickelnden gesellschaftlichen und ökonomischen Gesetze" gezeigt habe. Nach dessen Ablösung - so äußerte er mit Genugtuung - mache das Arbeiten nun aber wieder "Freude, weil es vorangeht". Nun müsse nachgeholt werden, "was durch jahrelanges Diskutieren versäumt worden ist".4~ 41 Vgl. Protokoll des Sekretariat der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abteilungsleitertagung am 14. 2. 1959 vom 16. 2. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, BI. 215-224. 42 Vgl. Schreiben des Leiters der Strafvollzugsanstalt Brandenburg Ackermann an den Chef der BDVP Potsdam Münchow vom 28. 2. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, BI. 95-102. 43 Vgl. Protokoll des Sekretariat der BDVP Potsdam der Dienststellenleiter- und Abteilungsleitertagung am 14. 2. 1959 vom 16. 2. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404115/118, BI. 215 - 224. 44 Vgl. Schreiben der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam an die Abteilung VII des Ministerium für Staatssicherheit vom 15. 6. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 691/56, BI. 3-4. 4~ Protokoll der Abt. Strafvollzug der BDVP Potsdam betr. Arbeitsberatung mit den Leitern und Parteisekretären der SV-Dienststellen des Bezirkes Potsdam vom 13. 10. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/118, BI. 285-300.

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Im Juni 1959 führte die SED-Bezirksleitung einen Instrukteurseinsatz in der Haftanstalt Brandenburg durch. Ins Kreuzfeuer der Kritik geriet dabei der Sekretär der Grundorganisation, P. Die SED-Kontrolleure stellten fest, P. habe "gegen die Gesetze der Ethik und Moral verstoßen". Diese Kritik wog um so schwerer, als das ZK der SED bereits im Vorjahr in einem Brief an die DVP die Intensivierung der Parteiarbeit angemahnt hatte. "Aus den angeführten Tatsachen muß erkannt werden, daß die Kritik unseres ZK an der Arbeit der Volkspolizei bis jetzt nicht dazu geführt hat, wirklich eine grundlegende Veränderung in der Dienststelle des Strafvollzugs Brandenburg zu erreichen. Es muß auch darauf verwiesen werden, daß es höchste Zeit ist, insbesondere das Verhältnis einiger Offiziere zu unserer Partei in Ordnung zu bringen."46 Ackermann stimmte in diese Kritik ein: .,Der ehemalige Sekretär der Grundorganisation, P., hat nicht nur die breite Durchsetzung der sozialistischen Moralprinzipien gehemmt, sondern auch die Verfestigung und Vertiefung der führenden Rolle der Partei. Aus kleinbürgerlichen egoistischen Interessen hat er jahrelang die Kreisleitung der Partei desorientiert und verhindert, daß eine objektive Einschätzung des politischen sowie moralischen Zustandes entstand. Zur Behauptung seiner kleinbürgerlichen egoistischen Interessen verstieg er sich bis zu Intrigen und brachte sich in einen Gegensatz zur Partei."47 P. habe .,in der führenden Rolle der Partei die führende Rolle seiner Person, und nicht die des Parteikollektivs gesehen". 48 Vermutlich war es diese starke persönliche Stellung des Parteisekretärs, die dem Autokraten Ackermann so mißfallen hatte, und wegen der er P. nach dem Kontrolleinsatz nicht ungeme ablösen ließ. Ackermann erklärte beflissen seine Absicht, die Stellung der SED und ihrer Gremien in der Haftanstalt zukünftig zu stärken: .,Um die führende Rolle der Partei besser durchzusetzen ist es notwendig, daß die Beschlüsse der Partei zum Handeln für jeden Offizier werden. [ .. . ] Daraus ergibt sich, daß sich die Offiziere bei der Durchsetzung grundsätzlicher polizeilicher Aufgaben mit dem Parteikollektiv, dem Gruppenorganisator der gesamten Partei und den Parteileitungen beraten, daß die Verantwortung der Offiziere gegenüber der Partei gehoben wird, indem die Parteileitungen und die Parteigruppen über die Erfüllung der Beschlüsse Rechenschaft gefordert wird, daß alle Offiziere noch einmal die ,Richtlinien für die politische Arbeit in der DVP' studieren." 49 Der Bericht der Instrukteursbrigade der Bezirksleitung der SED vermerkte weiter, in der Haftanstalt Brandenburg habe man nicht die "politischen Ursachen" der erhöhten Ausschußquote in der Gefangenenarbeit erkannt.5° Solche Entwicklungen 46 Bericht [einer Brigade der SED] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25. 6. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, BI. I03 - 117. 47 Referat von Ackermann über die Grundfragen des Strafvollzugs vom 13. II . 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, BI. 180-220. 48 BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344. 49 Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden für das I. Halbjahr 1960 vom 27. I. 1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, BI. 71 - 80. so Bericht [einer Brigade der SED] über den Einsatz in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg vom 25. 6. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, BI. 103 - 117.

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wurden stets auf Sabotagehandlungen der Häftlinge zurliekgeführt und Gegenmaßnahmen der Anstaltsleitung angemahnt. Wenige Wochen später konnte Ackermann dann berichten, es sei nunmehr ein Rückgang in der Ausschußquote zu beobachten. 51 Und während Ackermanns Vorgänger Schroetter noch Ende 1957 hatte anweisen lassen, auch "Spione" und "Saboteure" verstärkt in den Produktionsprozeß einzubeziehen, 52 ließ Ackermann nun die wegen "staatsgefährdender Delikte" Verurteilten "in führenden fachlichen Funktionen der Betriebe und Werkstätten [ ... ] in kürzester Zeit" ablösen. 53 Das Konstruktionsbüro, in dem die meisten "Staatsverbrecher und Agenten" gearbeitet hatten, wurde aufgelöst.54 Bis zum l. April 1960 sollte diese "Differenzierung der Strafgefangenen in den Betrieben, Werkstätten und Kommandos" abgeschlossen sein.55 Den Vorgaben der Partei folgte Ackermann gewissenhaft. Im Oktober 1960 führte die BDVP einen Kontrolleinsatz in der Haftanstalt Brandenburg durch. An Ackermanns Führungsstil hatte sich nichts geändert. ,,Nach wie vor handelt der Gen. Major Ackermann in seiner gesamten Leitungstätigkeit spontan. Dabei verletzt er ständig das Prinzip der kollektiven Beratung, was [ . . . ]zu Spannungen führt." Insgesamt kam Ackermann bei der Kontrolle aber besser weg, weil er es verstand, die von den Instrukteuren gegebenen ,,Arbeitshinweise" so zu deuten, als seien sie in der Haftanstalt bereits gängige Praxis. 56 Ackermann galt daher als rehabilitiert. Im Zuge der "gezeigten Leistungen in Durchführung des Gnadenerweises des Staatsrates der DDR" vom I. Oktober 1960 wurde seine Disziplinarstrafe im Dezember 1960 wieder gelöscht.57

BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/ 15/344. Jahresperspektivplan des Referates Vollzug der BVSV Potsdam vom 28. 12. 1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/ I 15, BI. 288 - 290. Sl Ergänzung zum Plan der Hauptaufgaben flir das 2. Halbjahr I 959 in Auswertung des Berichts der Bezirksleitung der SED vom 10. 8. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, BI. 68-70. 54 Disposition für die Auswertung der BDVP Potsdam mit der Leitung der StVA Brandenburg vom 8. 12. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/ 344, BI. 153-160. 55 Plan der Hauptaufgaben der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Gördeo für das I. Halbjahr 1960 vom 27. I. 1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/343, BI. 71-80. 56 Bericht der Polit-Abteilung der BDVP Potsdam über Vorkommnisse in der Leitung der Strafvollzugsanstalt Bdg. /H. vom 22. 10. 1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/344, BI. 218-221. 57 Befehl 14/60 des Chefs der BDVP Potsdam vom I. 12. 1960; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/ 151115, BI. 8-9. Entgegen seiner sonstigen Rolle als "Hardliner" wollte Ackermann I 962 auch den politischen Gefangenen Alfred Effinger vorzeitig aus der Haft entlassen. Vgl. Kar{- Willreim Fricke und Roger Enge/mann, "Konzentrierte Schläge". Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953- I956, Berlin I 998, S. 204. SI

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111. Die Einflußnahme des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Haftanstalt Brandenburg-Gördeo Auch wenn die Strafvollzugsanstalten der DDR vom Innenministerium bzw. der Deutschen Volkspolizei geführt wurden, unterlagen sie doch der geheimpolizeilichen Aufsicht des Mit>lke-Apparates. Zu diesem Zweck war die Staatssicherheit in den größeren Haftanstalten wie Brandenburg-Gördeo durch sogenannte "Operativgruppen" vor Ort präsent. Die hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter arbeiteten dort "unter Einhaltung der Konspiration als Angehörige der Volkspolizei. Sie tragen die Uniform der VP. [ . . . ] Der Sachbearbeiter, der die Wachmannschaften bearbeitet, ist der Verantwortliche für das gesamte Objekt. Er hat mit den anderen Sachbearbeitern, die unter den Häftlingen arbeiten, die Arbeit zu koordinieren und anzuleiten."58 Die Aufgabe der Operativgruppe lag also in der konspirativen Überwachung der Gefangenen wie auch der Aufseher. Unter beiden Gruppen warb sie deshalb Geheime Informatoren (GI) bzw. Inoffizielle Mitarbeiter (IM). Das besondere Augenmerk des MfS galt dabei stets den politischen und den "renitenten" Gefangenen. So war es unmittelbar nach Übernahme der Haftanstalt Brandenburg durch die HVDVP einem Aufseher gelungen, "einer Organsiation von einsitzenden Häftlingen auf die Spur zu kommen". Nach der sofortigen "Zerschlagung" der Organisation (was vermutlich durch Isolation der Beteiligten geschah) übernahm das MfS die "Weiterbearbeitung dieser Angelegenheit". 59 Die Staatssicherheit vermutete stets eine "Gruppenbildung", wenn Gefangene beispielsweise auf Verabredung hin die Arbeit verweigerten oder die Produktionsnormen nicht einhielten. Sie wurden dann mit Hilfe "einer Reihe bereits vorhandener inoffizieller Mitarbeiter unter den Strafgefangenen" bearbeitet. 60 Das MfS griff immer dann zu geheimpolizeilichen Methoden und leitete sogar "Zersetzungsmaßnahmen" gegen Strafgefangene ein, wenn diese sich den regulären Disziplinarstrafen nicht beugen mochten, zugleich aber die Voraussetzungen für strafrechtliche Sanktionen fehlten. Der Staatssicherheitsdienst wirkte dabei nicht nur konspirativ "hinter den Kulissen", sondern entwickelte auf allen Ebenen offizielle Arbeitskontakte zum Organ Strafvollzug (was als sogenanntes "politisch-operatives Zusammenwirken" I POZW bezeichnet wurde). Dies betraf die Strafvollzugsleitung in Berlin ebenso wie etwa die Haftanstalt Brandenburg, wo ein MfS-Mitarbeiter die Aufseher im Kulturhaus darüber belehrte, wie die "Feindtätigkeit" der Gefangenen zu unterbinss Dienstanweisung 42/53 des Staatssekretariat für Staatssicherheit vom 8. 12. 1953; BStU, ZA, DSt 100884. 59 Informationsbericht der Strafanstalt Brandenburg vom Monat Oktober an die Abteilung PK der Hauptabteilung HS der HVDVP vom I. II. 1950; BLHA, LBDVP Ld. Bb. Rep. 203/ 3ll,B1.103-106. 60 V gl. Bericht der Arbeitsgruppe für Anleitung und Kontrolle über den Einsatz in der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam vom 25. 7. 1958; BStU, ASt. Potsdam AS 9/60, BI. 49 - 61.

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den sei und daß die Sicherheitsvorschriften für Volkspolizisten unbedingt eingehalten werden müßten.61 Das Auftreten der MfS-Mitarbeiter wurde allerdings teilweise als überheblich wahrgenommen, denn .,einzelne Genossen vom MfS glaubten, für sich besondere Rechte in Anspruch nehmen zu dürfen."62 Die Mitarbeiter des Staatssicherheitsapparates .,dürfen die Anstalt betreten, wenn sie einen Schein haben, der vom Leiter unterschrieben ist. Auch dann wird [gemeint ist vermutlich: Auch wird dann] eine Vernehmung durchgeführt werden können. " 63 Häufig ordnete die Staatssicherheit auch eigenmächtig die Verlegung von Gefangenen an, wenn ihr dies .,politisch-operativ" notwendig erschien. 64 Die Abteilung Strafvollzug der BDVP Potsdam pflegte schon Anfang 1953 allwöchentlich Arbeitsberatungen mit dem .,Verbindungsmann vom MfS" durchzuführen. Die offiziellen Kontakte hielten die Staatssicherheit freilich nicht davon ab, gleichzeitig gegen den schon mehrfach erwähnten Leiter dieser Abteilung Strafvollzug, W. L., geheimpolizeilich zu ermitteln.65 Tatsächlich funktionierte die Zusammenarbeit der Apparate von Volkspolizei und Staatssicherheit zunehmend besser, bis die Bezirksverwaltung für Strafvollzug Potsdam im Jahre 1957 schließlich attestierte: .,Eine gute Zusammenarbeit besteht mit den Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Hier erfolgen ständig Absprachen. Es ergeben sich keine Schwierigkeiten."66 Die gute Zusammenarbeit wurde allerdings erheblich gestört, als Fritz Ackermann Leiter der Haftanstalt Brandenburg wurde. Schon in Bützow-Dreibergen hatte er sich, so gut es ging, gegen das Wirken des MfS in .,seiner" Haftanstalt gewehrt. Als beispielsweise eine Aufseherin 1953 den wichtigen Fund einer Handfeuerwaffe auf dem Anstaltsgelände der Operativgruppe des MfS statt Ackermann selbst meldete, schrie dieser sie "durchs Telefon an, ob ich keinen Anstaltsleiter kenne und ihn übergehe, d. h. ihm nichts zuerst davon sage [ ... ]. Er will wohl mit dem MfS nicht viel zu tun haben, nur das Wichtigste, was er eben 61 Vgl. Quartalsbericht der Polit-Abteilung der Strafvollzugsanstalt Brandenburg für das III. Quartal 1957 vom 25. 9. 1957; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/345, BI. 404-406. Das Augenmerk der Staatssicherheit galt dabei besonders den Westkontakten der Aufseher und den Fahrten ihrer Familienangehörigen nach Westberlin. Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe für Anleitung und Kontrolle über den Einsatz in der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam vom 25. 7. 1958; BStU, ASt. Potsdam AS 9/60, BI. 49-61. 62 Vgl. BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/116. 63 Protokoll der Abteilung Strafvollzug der LBDVP Brandenburg über die in der LBDVP Brandenburg stattgefundene Tagung am 26. 7. 1952 vom 28. 7. 1952; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15/119, BI. 2 - 10. 64 So heißt es beispielsweise in einer Statistik aus dem Jahre 1964: "Sonstige Abgänge: 6 Strfg. Wurden vom MfS abgeholt". Gefangenenstatistik der StVA Brandenburg vom 20. 12. 1964 (VVS PV 2/4-77 /64); BLHA, Bez. Pdm. Rep. 404/15.11710, BI. 36. 65 Vgl. BStU, ASt. Potsdam AP 691 I 56. 66 Jahresbericht des Referates Vollzug der Bezirksverwaltung Strafvollzug Potsdam vom 3. l. 1957; BLHA Bez. Pdm. Rep. 404/15/116, BI. 299-301.

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muß."67 Auf einer Dienstvollversammlung warnte Ackermann seine Untergebenen, "daß sich keiner erlauben soll und irgendeiner Dienststelle etwas mündlich oder schriftlich meldet, den würde er einsperren" und, so seine weitere Drohung, aus den Reihen der Volkspolizei entlassen. 68 Ackermann war mitnichten bereit, den Interessen der Staatssicherheit Priorität über die Belange der Volkspolizei und des Strafvollzugs einzuräumen. Noch bevor das MfS in der Folge des Aufstandes vom 17. Juni 1953 zum Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) degradiert wurde, ging Ackermann in die Offensive. Er ließ dem MfS-Mitarbeiter in der Haftanstalt den Hausausweis abnehmen, den Zutritt zu den Zellen untersagen und das gesonderte Zimmer im Zellentrakt sperren, in dem die Staatssicherheit ihre Vernehmungen durchgeführt hatte. Das MfS hatte nach Ackermanns Auffassung im Hauptgebäude "ohne seine Genehmigung nichts zu suchen. [ ... ] Obemat Ackermann versucht mit allen Mitteln gegen das MfS zu arbeiten."69 Der betroffene Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes beschwerte sich daraufhin beim Anstaltsleiter: "Ich sagte dem Oberrat A., wer gegen eine gute Zusammenarbeit mit dem MfS ist, der ist kein guter Genosse. Darauf schrie A. wieder, ,ich werde gegen die Methoden des MfS kämpfen, auch wenn der Kampf hart ist. "'70 Ackermann fühlte sich offenbar durch den Überwachungsapparat des Staatssicherheitsdienstes in seiner alleinigen Macht als Anstaltsleiter beschränkt. Denn durch ihr Spitzelnetz deckte die Staatssicherheit Mißstände auf, die Ackermann lieber vertuschen wollte. So erklärte er im Juni 1954, er wolle "wissen, was die Stasi hier macht und was sie weitermeldet Ihr meldet ständig über die StVA [Strafvollzugsanstalt] und wir sehen es als Lappalie an und ich muß dann dafür herhalten. So. z. B. über den Strafgefangenen S. am 13. 6. 1954, wo man ihn mit in die Zelle genommen hatte und [ ... ] später dann so verprügelte, daß er heute noch im [Kranken-]Revier liegt." Der Vorfall war von der Operativgruppe an die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, nicht aber von der Anstaltsleitung an die BDVP gemeldet worden.71 Ackermann war daher der festen Überzeugung: "Das, was die Stasi macht, ist doch alles Mist." Der betroffene Mitarbeiter der Geheimpolizei reagierte auf diese Äußerung, indem er sofort "eingehende Rücksprachen" mit dem Anstaltleiter hielt. Doch dieser blieb im wesentlichen bei seiner Meinung: "Gut, Sie sind vom MfS, aber das interessiert mich nicht. Sie und Ihre Bez.[irks]verwaltung usw. ist für 67 Bericht des GI Blumentopf aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 20. 4. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP77/61, BI. 115. 68 Bericht einer Dienstvollversammlung [aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 24. 4. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 4. 69 Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 9. 3. 1953 und 20. 3. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 2-3 u. 103. 70 Bericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 7. 3. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 100. 71 Bericht der Kreisverwaltung des SfS Bützow vom 17. 6. 1954; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 139-141.

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mich gar nichts, mein Vorgesetzter ist Generalinspekteur Mayer."72 Unter Hinweis auf seine förmliche Unterstellung unter die Hauptabteilung Strafvollzug bestand Ackermann gegenüber seinen Abteilungsleitern 1955 auch darauf, "daß das selbständige Handeln vom SfS [Staatssekretariat für Staatssicherheit] und verschiedener Genossen mit dem SfS aufhört. Es gibt verschiedene Genossen, die laufen zum SfS, wenn etwas Besonderes ist und kommen gar nicht zu mir. Ich bin Anstaltsleiter und was ich anordne, wird gemacht. Wenn SfS etwas wissen will, soll er [der Mitarbeiter der Staatssicherheit] sich erst die Genehmigung von mir holen." Gleichwohl konnte auch Ackermann Einfluß und Macht des Staatssicherheitsapparates nicht nach Belieben ignorieren und lenkte nach kurzer Bedenkzeit ein: "Das ist nicht so zu verstehen, daß keine Auskunft mehr an [das] SfS erteilt werden soll, im Gegenteil, ich verlange eine gute Zusammenarbeit."73 Auch in Brandenburg-Gördeo versuchte Ackermann den zuständigen MfS-Mitarbeiter vor Ort, Karl Veit, in ähnlicher Weise "abzukanzeln". So ließ er vom Schlüsselbund Veits den Schlüssel für die Zellentrakte entfernen (und gab diesen erst nach heftigen Protesten wieder zurück). Das späteste Dienstende aller Mitarbeiter der Verwaltung legte er auf 17.00 Uhr fest und gestattete auch der Staatssicherheit keine Ausnahme. Wollte diese Gefangene vernehmen, verlangte Ackermann fortan die Vorlage einer gesonderten "Empfangsbestätigung" für den Gefangenen. Das MfS konnte darin nur "einen Verstoß bzw. eine Behinderung in unserer Arbeit sehen, da durch diese Empfangsbescheinigung die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS dekonspiriert werden." Außerdem ließ er die Amtsleitung der Operativgruppe abklemmen. Und als im November 1958 der zuständige Parteisekretär zu Besuch in die Haftanstalt Brandenburg kam, sagte Ackermann explizit "Entweder er oder ich" - wenn nicht Veit die Haftanstalt verlasse, würde er selbst seinen Hut nehmen. 74 Nach der Drohung Ackermanns, um Versetzung nachzusuchen, glätteten sich im Januar 1959 die Wogen wieder. In der bereits erwähnten "Besprechung" mit seinen Dienstvorgesetzten in Potsdam wurde er für das Abklemmen des Telefons heftig gescholten. Ackermann begründete sein Verhalten mit einer neuen Dienstanweisung, derzufolge es innerhalb der Gefängnisse keine Telefone mit Außenanschluß geben dürfe - daran habe er sich einfach gehalten. Mayer sprang Ackermann hier teilweise zur Seite und erkärte, die Maßnahme als solche ginge schon in Ordnung, hätte aber vorher mit dem MfS abgesprochen werden müssen. Ackermann nahm diesen Ball gerne auf und erklärte scheinheilig, eine solche Rücksprache zu halten sei für ihn doch ganz selbstverständlich - "und ich frage mich nur immer wieder, n Zwischenbericht [der Operativgruppe des MfS in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen] vom 31. 3. 1953; BStU, ASt. Potsdam AP77/61, BI. 111-112. 73 Bericht eines GI aus der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen vom 12. 2. 1955; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 168. 74 Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31. 12. 1958; BStU, ASt. Potsdam AP 77/61, BI. 31-36.

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warum die Gen. des MfS solch ein Wesen davon machen". 75 In einer direkten Aussprache mit Veit gelobte Ackermann dann, "daß in Zukunft seinerseits nicht mehr so spontan irgendwelche Anordnungen getroffen werden, sondern vorher eine Absprache mit dem MfS stattfinden würde."76 Zwar scheint Ackermann später den offenen Affront gemieden zu haben, doch blieb sein Verhältnis zum MfS bis in die siebziger Jahre problematisch. Einerseits heißt es in den Berichten der Geheimpolizei, Ackermann sei bemüht "den Genossen der Operativgruppe des MfS gute Arbeitsbedingungen zu schaffen. Er gibt jede erdenkliche Unterstützung bei der Lösung von operativen Aufgaben." Deswegen wurde er auch 1975 von der Bezirksverwaltung Potsdam mit der "Medaillie für Waffenbrüderschaft" in Bronze ausgezeichnet. 77 Andererseits mochte Ackermann seinen Kampf gegen die Staatssicherheit noch nicht ganz verloren geben. "Er ereiferte sich [ ... ] und sprach darüber, daß es sich diese Genossen sogar erlauben, Akten zu holen, ohne den Leiter der StVE [Strafvollzugseinrichtung] vorher zu informieren. Er gestatte derartige Erscheinungsformen für die Zukunft nicht mehr." 78 Charakteristisch für Ackermann, so berichtet ein MfS-Spitzel unter den Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes der Haftanstalt, sei sein "Kampf gegen das Zusammenwirken seiner Genossen mit dem MfS und der Arbeitsrichtung I I 4 der Kriminalpolizei. Er fordert offen dazu auf den Angehörigen dieser Organe Schwierigkeiten zu machen und droht mit barbarischen Maßnahmen und Degradierung, wenn er einen erwischt, der diese Genossen unterstützt oder informiert."79 In den Offiziersversammlungen verdächtigte er einzelne leitende Mitarbeiter seiner Haftanstalt der Zuträgerschaft für die Staatssicherheit. "So beschimpfte er lautstark den IMS ,Klara' aus einer persönlichen Verärgerung heraus als ,Spitzel des MfS bzw. OKS'. Er erklärte, wer zum MfS rennt, der rennt auch zum ZDF."80 Ackermanns Feindseligkeiten erschwerten der Staatssicherheit zwar die konspirative Arbeit, konnten diese aber keineswegs verhindern, wie sich schon an der Masse der Treffberichte von MfS-Spitzeln ersehen läßt. 81 75 Protokoll der BDVP Potsdam über die Besprechung in der BDVP Potsdam zu Fragen des Arbeitsstils der Leitung der StVA Brandenburg vom 7. I. 1959; BLHA, Bez. Pdm. Rep. 4041151118, BI. 178-187. 76 Bericht der KD Brandenburg über die Zusammenarbeit des Mitarbeiters des MfS mit dem Anstaltsleiter vom 31. 12. 1958; BStU, ASt. Potsdam AP 77 /61, BI. 31 - 36. 77 Auskunftsbericht der Abteilung VII /5 der BV Potsdam zu Fritz Ackermann vom 2. 6. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 77-80. 78 Vgl. Information über die Durchführung der Offiziersversammlung über den Befehl 52176 vom 25. 2. 1976; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 204. 79 Treffbericht des IMK "Rose" vom 14. 12. 1977; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, Band 2, BI. 136-138. MO Operativplan zur Bearbeitung des OV "Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP560/83, BI. 36-55, BI. 54. 81 Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII /5 der BV Potsdam zu Fritz Ackermann vom 2. 6. 1981 ; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 77 - 80.

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Ende der siebziger Jahre ließ Ackermann die Gefangenen in der Nähe der Haftanstalt zehn Eigenheime bauen. In einigen der Häuser sollten sich leitende Offiziere einrichten, andere Häuser sollten Eigentum mehrerer Betriebe werden, die sich zu diesem Zweck in einer sogenannten "Interessengemeinschaft" mit der Haftanstalt zusammenschlossen und die nötigen Investitionsmittel bereitstellten. Durch das Verschieben der eingehenden Gelder zwischen den verschiedenen Konten der Haftanstalt konnte Ackermann wiederum den Bau eines eigenen Hauses finanzieren. Bei dem "Haus im Wald", wie es genannt wurde, durften Sauna und Swimmingpool nicht fehlen. Als förmlicher Eigentümer fungierte zwar die BDVP, vermietete das Haus jedoch auf Lebenszeit an Ackermann wegen dessen besonderer Verdienste. Über die luxuriöse Sonderausstattung wurde der Baustab der BDVP natürlich nicht in Kenntnis gesetzt. Durch den Arbeitseinsatz Gefangener und das Heranziehen von Baumaterialien aus dem Fundus der Haftanstalt konnte Ackermann recht kostengünstig arbeiten: Lag der tatsächliche Wert des Hauses seinerzeit bei etwa 500.000 Mark, brauchte Ackermann nur für die Sonderausstattung einmalig 34.000 Mark zu bezahlen und einen Mietzins von monatlich 300 Mark zu entrichten. Dabei verstieß Ackermann auch noch gegen grundlegende Sicherheitsregeln, weil er Gefangene teilweise nur durch seinen Sohn bewacht für sich arbeiten ließ. Gebaut wurde sogar während "politischer Höhepunkte", wenn der Arbeitseinsatz von Gefangenen außerhalb der Anstaltsmauem eigentlich strengstens untersagt war. 82 Weil Ackermann sein Eigenheim möglichst schnell beziehen wollte, kamen außerdem Gefangene mit lebenslangen Haftstrafen zum Arbeitseinsatz - ebenfalls ein klarer Verstoß gegen bestehende Weisungen.83 Entlohnt wurden die Gefangenen, neben ihren regulären Einkünften aus dem Arbeitseinsatz, mit Zigarretten, Sonderessen oder anderen Vergünstigungen, später auch zunehmend mit Sonderprämien. In Einzelfällen soll der Anstaltsleiter Strafrabatt in Aussicht gestellt haben. "Er [Ackermann] geht soweit dabei, daß er den Gefangenen für gute saubere ausgeführte Arbeit eine vorzeitige Entlassung versprochen hat." 84 Außerdem ließ Ackermann für sich und seine leitenden Mitarbeiter Genußund Mangelwaren beschaffen, deren Kosten über die HO und die Dienstküche abgerechnet wurden. Zu Sylvester 1980 beispielswesie ließ Ackermann Karpfen und Fore11en als "Sonderessen für SG [Strafgefangene] der Handwerksstätten" abbuchen. Allerdings wurden die Fische niemals in der Küche zubereitet oder anderweitig ausgegeben. 85 Und regelmäßig wurden hunderte von "Verpflegungs82 Operativplan zur Bearbeitung des OV ,,Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 36 - 55, BI. 46. 83 BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 87. 84 Befragung [des ehemaligen Aufsehers] H. S. [durch die Operativgruppe der Abteilung VII der BV Potsdam] vom 3. 9. 1964; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. I 17-119. 8s Information [des IM] "Axel Berger" o.D. [1981]; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, Band 2, BI. 76. 22 Timmennann

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beuteln" für Strafgefangene abgerechnet, die diese niemals erhielten. 86 Der finanzielle Schaden dabei soll mehrere zehntausend Mark betragen haben. 87 Die umfangreichen Manipulationen geschahen nicht völlig im Verborgenen. Die Staatssicherheit war durch ihre inoffiziellen Kanäle natürlich im Bilde, jedoch profitierten offenbar auch die MfS-Mitarbeiter von Ackermanns Vergünstigungen und deckten den Anstaltsleiter daher.88 Sogar unter den Bürgern der Stadt Brandenburg machte sich zunehmend die Auffassung breit, daß sich "ein Ackermann alles erlauben dürfe". Im Jahre 1980 wurden dann durch die Aussagen eines festgenommenen ehemaligen Mitarbeiters der Haftanstalt die Vorwürfe gegen Ackermann so offenkundig, daß die Staatssicherheit eine Operative Personenkontrolle (OPK) einleiten mußte.89 Ziel war dabei freilich nicht, einen Anfangsverdacht strafrechtlich relevanter Vergehen zu bestätigen (was eigentlich der Sinn einer solchen Maßnahme war), sondern das Bekanntwerden der Verfehlungen Ackermanns zu unterbinden. Die OPK wurde eingeleitet "um zu verhindern, daß durch diese Verhaltensweisen ein politischer Schaden eintritt, indem der Genosse Oberst Ackermann strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden müßte". Statt dessen sollte in der OPK "nachweislich erarbeitet" werden, "daß eine vorzeitige Berentung notwendig ist". Auch galt es, ihm "die Möglichkeit zu nehmen, weitere Manipulationen durchzuführen". 90 Die Staatssicherheit beabsichtigte ferner, "seine Persönlichkeit noch umfassender aufzuklären um ihn besser beurteilen zu können". 91 Auch der Operative Vorgang (OV), der im Dezember 1981 eingeleitet wurde, sollte letztlich nur den hohen Funktionär Ackermann vor Strafverfolgung schützen. ,,Neben dem durch die genannten Handlungen des Genossen Oberst Ackermann eingetretenen volkswirtschaftlichen Schaden besteht die Möglichkeit des Eintretens einer politischen Schädigung, indem der Genosse Ackermann auf Grund von strafbaren Handlungen zur Verantwortung gezogen werden müßte."92 Insgesamt wurden zwölf "Inoffizielle Mitarbeiter zur politisch-operativen Sicherung eines gesell86 Operativplan zur Bearbeitung des OV ,,Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 36-55, BI. 52. 87 BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 90. 88 Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII über die Kontrollergebnisse zum Stand und der Wirksamkeit der Durchsetzung der Befehle und Weisungen des Ministers für Staatssicherheit zur allseitigen Gewährleistung der staatlichen Sicherheit sowie der Ordnung und Sicherheit in der StVE Brandenburg vom 26. 3. 1984; BStU, ZA, HA VII Bdl. 851 (Wg. 13-24), Bd. I, o. Pag. 89 Eröffnungsbericht der Abteilung VII /3 der BV Potsdam zum OV "Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 27-31. 90 Einleitungsbericht der Abteilung VII /5 der BV Potsdam zur OPK "Rentner" vom 3. 7. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 100- 103. 9t Abschlußbericht der Abteilung VII [der BV Potsdam] über die operative Personenkontrolle des Ackermann, Fritz vom 27. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 109112. 92 Eröffnungsbericht der Abteilung VII /3 der BV Potsdam zum OV "Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 27-3 I.

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schaftliehen Bereichs" (IMS) gegen Ackermann eingesetzt, 93 auch wurden die Telefone und der Briefverkehr von insgesamt vier verdächtigen Mitarbeitern der Haftanstalt kontrolliert. 94 Die MfS-Juristen von der Hauptabteilung IX I 3 entschieden aber schlußendlich, "daß aus taktisch-politischen Erwägungen heraus von einem Strafverfahren gegen den Genossen Ackermann Abstand genommen werden muß."95 Obwohl die Staatssicherheit ihm "zahlreiche Rechtsverletzungen" nachweisen konnte, verzichtete sie "aus rechtspolitischen Gründen", wie es hieß, auf eine Strafverfolgung.96 Um weitere finanzielle Manipulationen zu verhindem sorgte der Staatssicherheitsdienst dann dafür, daß der Leiter der Arbeitsgruppe Finanzen abgelöst wurde. Des weiteren legte das MfS im November 1981 fest, daß Ackermann zum 1. September des Folgejahres in den Ruhestand geschickt werden sollte.97 Ackermann mußte sich jetzt eingestehen, daß seine Position nicht länger zu halten war und auch der Innenminister Friedeich Dickel ihn nicht länger würde schützen können. Dieser müsse sich jetzt "von ihm distanzieren, weil er sonst Ärger bekommt. Wörtlich sagte er [Ackermann]: Der General [Dickel] muß, ob er will oder nicht, mich fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel. Ich bin ihm nicht böse, ich weiß, daß ihm nichts weiter übrig bleibt, wenn er nicht selbst in Schwierigkeiten geraten wi11."98 Noch ein letztes Mal wollte sich aber Ackermann seinen guten Draht zum Innenminister zunutze machen, um nach seiner Pensionierung seinen Sohn als neuen Anstaltsleiters zu installieren. ,,Er [Ackermann] spricht bewußt von Erbfolge und nicht von Nachfolger." 99 Ware es tatsächlich zur Inthronisation von Harald Ackermann gekommen, hätte dies allerdings der Einflußnahme der Staatssicherheit auf die Haftanstalt Brandenburg nur die Krone aufgesetzt. Denn der Sohn Ackermanns war seit 1970 Offizier im besonderen Einsatz (OibE) der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam, eingesetzt als Leiter einer Sicherheitsinspektion in der Energiewirtschaft. 100 93 Abschlußbericht der Abteilung VII /5 der BV Potsdam zum OV ,,Rentner" vom 28. 2. 1983; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 58-64. 94 Operativplan zur Bearbeitung des OV ,,Rentner" vom l. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP560/83, BI. 32-35. 95 Abschlußbericht der Abteilung VII/5 der BV Potsdam zum OV ,,Rentner" vom 28. 2. 1983; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 58-64. 96 Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII über die Kontrollergebnisse zum Stand und der Wirksamkeit der Durchsetzung der Befehle und Weisungen des Ministers flir Staatssicherheit zur allseitigen Gewähleistung der staatlichen Sicherheit sowie der Ordnung und Sicherheit in der StVE Brandenburg vom 26. 3. 1984; BStU, ZA, HA VII Bdl. 851 (Wg. 13-24), Bd. 1, o. Pag. 97 Operativplan zur Bearbeitung des OV ,,Rentner" vom I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 36-55, BI. 55. 98 Absprache [der Operativgruppe des MfS in der StVE Brandenburg] mit dem Genossen Ackermann vom 13. II. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 96. 99 Auszug aus den Treffberichten des IMS "Schneider" vom 9. 12. 1977; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 65. 1oo BStU, ASt. Potsdam KS 11 451/85.

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Nach der Ablösung Ackennanns konnte die Staatssicherheit ihren Einfluß in der Haftanstalt Brandenburg vergrößern und ihr Spitzelnetz weiter ausbauen. Mitte der achtziger Jahre verfügte das MfS allein unter den 83 Offizieren und 363 Wachtmeistem über mindestens 34 Spitzel -ein Umstand, den Ackennann stets so heftig bekämpft hatte. Das Dezernat I /4 der Kriminalpolizei, daß die Staatssicherheit bei der Bearbeitung der kriminellen Gefangenen unter den insgesamt 2588 Insassen unterstützte, war vor Ort durch acht hauptamtliche Mitarbeiter vertreten. Sie verfügten über 80 "inoffizielle Verbindungen" unter den Strafgefangenen, womit vermutlich Inoffizielle kriminalpolizeiliche Mitarbeiter (IKM) gemeint waren, und hatten außerdem einen Aufseher verpflichtet. Der Staatssicherheitsdienst wiederum war mit einer sechsköpfigen "Operativgruppe" der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam in der Haftanstalt präsent. Diese führten 63 IMS, sieben Inoffizielle Mitarbeiter zur Führung anderer Inoffizieller Mitarbeiter (FIM), drei Inoffizielle Mitarbeiter für besondere Einsätze (IME) und fünf Inoffizielle Mitarbeiter zur Absicherung konspirativer Wohnungen bzw. in diesem Fall wohl von Dienstzimmern oder Zellen (IMK I KW), also insgesamt 78 IM der genannten Kategorien. Darunter befanden sich 31 Strafgefangene, 34 Aufseher, fünf Betriebsangehörige und zwei Zivilangestellte sowie ein Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter für besondere Einsätze (HIME). Zusätzlich waren, angesichts der besonderen Bedeutung dieser Haftanstalt, zwei Mitarbeiter der Hauptabteilung Vll /8 des MfS Berlin in Brandenburg ständig im Einsatz, die weitere elf IM sowie sechs IMKandidaten führten; wieviele Aufseher darunter waren, ist nicht bekannt. 101 Im Jahre 1984 hatten sich also insgesamt 170 Personen zur Berichterstattung gegenüber einem staatlichen Sicherheitsorgan verpflichtet. 102 Für die Koordination der Arbeitsprozesse in Brandenburg war sicher auch hilfreich, daß die Bezirksverwaltung Potsdam ferner den Leiter der K I sowie den Leiter der Arbeitsrichtung 4 des Dezernates I in ihrem Bezirk als OibE führte. 103

IV. Fazit Der Autokrat Fritz Ackennann diktierte fast 25 Jahre lang das Geschehen in "seiner" Haftanstalt Brandenburg. Kompetenzen "nach unten" zu delegieren lag 1o1 Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII über die Kontrollergebnisse zum Stand und der Wirksamkeit der Durchsetzung der Befehle und Weisungen des Ministers für Staatssicherheit zur allseitigen Gewährleistung der staatlichen Sicherheit sowie der Ordnung und Sicherheit in der StVE Brandenburg vom 26. 3. 1984; BStU, ZA, HA VII Bdl. 851 (Wg. 13 - 24), Bd. I, o. Pag. 1o2 Vgl. Bericht der Hauptabteilung VII/8 über die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen und Konsultationen der HA VII /8 in der Bezirksverwaltung Potsdam, Abt. VII vom 9. 6. 1988; BStU. ZA, HAVII/AKG PK 1/8.1. "Komplexkontrolle BV Erfun 87, BV Potsdam 88", Bd. 4 "Komp1exkontrolle BV Potsdam Abt. VII /88", BI. 117- 124. 103 Vgl. Auskunftsbericht der Abteilung VII der Bezirksverwaltung Potsdam vom 3. 5. 1988; BStU, ZA, HA VII/ AKG PK 1/8.1. Bd. 4, BI. 4-23.

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ihm fern, Anweisungen "von oben" versuchte er zu umgehen, wenn sie ihm nicht genehm waren. Er verbat sich die Einflußnahme durch Dritte - und sei es durch das Ministerium für Staatssicherheit. Deren Mitarbeitern erschwerte er das Leben so gut er nur konnte - nicht etwa, weil er die geheimpolizeilichen Methoden des MfS ablehnte, sondern weil der MfS-Überwachungsapparat ihn in seiner alleinigen Macht als Anstaltsleiter einschränkte und das unabhängige Berichtssystem des Mielke-Apparates ihn am Vertuschen von Vorfallen hinderte. In den siebziger Jahren mied Ackermann meist den offenen Konflikt und sprach, einem Lippenbekenntniss gleich, zunehmend von gutem "politisch-operativen Zusammenwirken" mit dem MfS. Obwohl der Anstaltsleiter im Affekt offene Drohungen gegenüber der Staatssicherheit aussprach, vermied er es doch, die Konfrontation mit der Geheimpolizei auf die Spitze zu treiben. Auf diese Weise konnte er sich erstaunlich lange auf seinem Posten halten. Dies wäre ihm sicher nicht gelungen, hätten nur die geringsten Zweifel an seiner politischen Linientreue bestanden. Doch weder die Partei noch deren "verlängerter Arm" Staatssicherheit hatten dem Anstaltsleiter diesbezüglich etwas vorzuwerfen. Ackermann genoß ferner Rückendeckung durch den Minister des Inneren, Friedlich Dicke!, mit dem zusammen er Jagdausflüge unternahm. Erst Anfang der achtziger Jahre reichte dessen Einfluß nicht mehr aus, um Ackermann wirkungsvoll schützen zu können. Darüber hinaus wurde Ackermann seit seiner russischen Kriegsgefangenschaft ein enges Verhältnis zur Besatzungsmacht nachgesagt. "Durch die Jagd verkehrt er mit einigen Funktionären des Kreises Brandenburg und sowjetischen Offizieren. [ ... ] Der Genosse Ackermann hat eine fortschrittliche Einstellung zur Sowjetunion. Er ist mit einigen sowjetischen Staatsbürgern befreundet. Sein Sohn hat in der Sowjetunion studiert und eine sowjetische Staatsbürgerio geheiratet" 104 - ein weiterer Grund, warum bei Ackermann mehrfach ein Auge zugedrückt wurde. Die ungenügende Kontrolle der Zustände in der Haftanstalt Brandenburg eröffnete Ackermann die Möglichkeit zu Übergriffen und Eigenmächtigkeiten, später auch zur Bereicherung. Selbst das Ministerium für Staatssicherheit kam in diesem Fall seiner Funktion als Überwachungsinstanz kaum nach. Dies lag in der Spätphase auch daran, daß Mielkes Mitarbeiter von den Mißständen in der Haftanstalt persönlich profitiert und sie deshalb lange Zeit gedeckt hatten. Als noch untauglicher erwiesen sich aber die Kontrolleinsätze der BDVP und des Innenministeriums, die in den siebziger Jahren mitnichten geeignet waren, die Zustände in der Leitungsebene der Haftanstalt offenzulegen (von einer Überprüfung der Behandlung der Inhaftierten einmal ganz abgesehen). Offenbar begnügte man sich mit der Erkenntnis, daß auf den ersten Blick Ackermanns Vorgehen im Rahmen der im SED-Staat üblichen Vorteilsnahmen und Begünstigungen zu liegen schien; besonders die Inanspruchnahme der Arbeitskraft von Gefangenen war vierzig Jahre lang gang und gebe im Organ Strafvollzug. Letztlich scheiterte Ackermann auch nur 104

Eröffnungsbericht der Abteilung VII/3 der BV Potsdarn zum OV ,.Rentner" vom

I. 10. 1981; BStU, ASt. Potsdam AOP 560/83, BI. 27-31.

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daran, daß er seinen "zupackenden" Führungsstil aus den fünfziger Jahren beibehielt statt in den siebziger Jahren "wissenschaftlich" zu leiten. Aufgrund seiner "Verdienste" glaubte er für sich Sonderrechte in Anspruch nehmen zu können, was den veränderten Maßstäben aber widersprach. Hätte er den Bogen der Vorteilsnahme mit seinem Hausbau nicht überspannt, hätte die Staatssicherheit auch nicht seine Absetzung betreiben können. Und aus Gründen der politischen Optik vertuschte das MfS zuletzt sogar seine Verfehlungen statt in einem Ermittlungsverfahren offene Rechnungen zu begleichen.

Ein Markgraf als williger Vollstrecker des Totalitarismus Die Biographie des deutschen Berufssoldaten Paul H. Markgraf (SED) unter besonderer Berücksichtigung seiner Amtszeit als Berliner Polizeipräsident 1945-48/49 Von Stefan Winckler

I. Die autoritäre und die totalitäre Persönlichkeit Im Unterschied zur autoritären Persönlichkeit, wie Adorno sie beschrieb, ist die totalitäre Persönlichkeit kein durchschnittlich begabter Untertan, der nach oben hin buckelt, nach unten tritt und eigentlich ein wenig politischer Mensch ist. Die totalitäre Persönlichkeit tritt vielmehr in der Regel als politisch hochmotivierter, intelligenter Karrierist auf, der sich bei seinen von der jeweiligen totalitären Partei sanktionierten Verbrechen öffentlich auf das "Volk" und die "Gemeinschaft" beruft, in Wirklichkeil aber vorbehaltlos der "Bewegung", sprich: seiner Partei (mehr als dem Staat) verpflichtet ist. Genauer: Solange seine Partei die Macht noch nicht vollständig ergriffen hat, wird er gegenüber Vorgesetzten und Kollegen anderer politischer Couleur vorsichtig argumentieren, und strittige Vorgehensweisen damit begründen, er habe keineswegs im Parteiauftrag, sondern im Namen der "Massen", der "Demokratie", der "Freiheit" gehandelt. Noch größere Nenner sind "Gerechtigkeit" und "Frieden". Wenn seine "Parteigenossen" bzw. "Genossen" Staat und Volk kontrollieren, wird er sich offen zu seiner Gesinnung, das heißt zu Nationalsozialismus bzw. Kommunismus bekennen. Die Maske ist gefallen, die totalitäre Persönlichkeit kann sich ohne Risiko auf die "Schaffung einer neuen Gesellschaft" berufen. Sie wirkt an Staatsverbrechen mit, weil sie den "Feind", (Kapitalisten, Reaktionäre, westliche Demokraten . .. ) zu durchschauen glaubt und sich die angeblich richtige, auf Rassen- oder Klassendenken "wissenschaftlich" verbrämte Sichtweise angeeignet hat. Die totalitäre Persönlichkeit ist also ideologisch geschult, während die autoritäre Persönlichkeit vergleichsweise unpolitisch ist. Die Mitwirkung an Staatsverbrechen kann auch Verstöße gegen die Verfassung oder Rechtsordnung einschließen, solange nur der "Partei" genützt und den Feind geschadet wird. Die totalitäre Bewegung hat also Vorrang. Die autoritäre Persönlichkeit hat in den meisten Fällen keinen Kontakt zu Politikern, die totalitäre Persönlichkeit hingegen ist in einen Verwaltungsapparat zwecks Machtausübung und -erhaltung fest eingebunden; das bedeutet: Empfang, Weiter-

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Ieitung und Durchsetzung von Befehlen. Zu einer totalitären Persönlichkeit paßt eine Karriere in der zentral gelenkten Planwirtschaft ("Kommandowirtschaft"), noch besser geeignet ist sicher eine Polizei- und Militärkarriere, da dort das System von Befehl und Gehorsam am stärksten ausgeprägt ist. Die totalitäre Persönlichkeit beteiligt sich nach "außen" maßgeblich am "Verschwindenlassen" politisch unliebsamer Bürger ("Volksfeinde"), sie ist nach "innen" auf straffe Führung und scharfe Überwachung der unterstellten Mitarbeiter bedacht. Eine totalitäre Persönlichkeit soll hier aus Anlaß der Spaltung Berlins vor fünfzig Jahren beschrieben werden: der Berufssoldat Paul Herbert Markgraf, ein zuverlässiges Instrument der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland und der SED. II. Material- und Forschungslage Bei allen biographischen Angaben stütze ich mich, soweit nicht anders angegeben, auf Markgrafs eigene Angaben, die er 1987 und 1988 dem Oberleutnant der Volkspolizei Peter Rhode (SED) für dessen 32seitige Diplomarbeit im Fach Marxismus-Leninismus gegeben hat, und die im Anhang A, B und F in Form eines Interviews wiedergegeben sind. Anhang C enthält ein Interview der Polizeihistorikerin Schönefeld mit Markgraf, Anhang D ein Gespräch Rhodes mit Generalmajor Gondessen und Anhang E ein Interview mit dem Oberstleutnant der VP Michelazzi. Einzusehen ist diese Schrift in der Polizeihistorischen Sammlung des Berliner Polizeipräsidiums, ebenso wie einige Zeitungsausschnitte, Fotos, ein Verzeichnis der Orden Markgrafs und einen Brief an Markgraf aus den USA. Mehrere Quellen, z. B. Anweisungen Markgrafs in seiner Funktion als amtierender und suspendierter Polizeipräsident gehören ebenfalls dazu. Ein kleinerer Teil dieser Quellen ist aussagekräftig, wertvoller sind die Aussagen von Zeitzeugen. Abgesehen von dieser Ausarbeitung Rhodes und einiger polizeigeschichtlicher, aber allgemein gehaltener Abhandlungen ist Markgraf kaum erforscht. Sein Name findet sich aber überall dort, wo etwas über die Geschichte Berlins 1945- 1948 geschrieben steht. 111. Biographie Markgraf wurde am 17. 7. 1910 in Berlin als Sohn eines kaufmännischen Angestellten und einer Verkäuferin geboren. Nach der mittleren Reife erlernte er das Bäckerhandwerk, bis er sich 1931 auf zwölf Jahre zur Unteroffizierslaufbahn verpflichtete. Er selbst spricht von guten sportlichen Leistungen, die ihn dazu bewogen hätten. Wahrscheinlich dürfte aber die Wirtschaftsdepression den Ausschlag gegeben haben. Auch wenn der Eintritt in die Reichswehr alleine kaum als Beleg für eine rechtsgerichtete Einstellung gewertet werden kann, so dürfte eine Laufbahn als Zeitsoldat eine autoritäre, antidemokratische Gesinnung stark gefördert haben. Im Zweiten Weltkrieg wurde er vom Hauptfeldwebel zum Leutnant

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(1. 10. 1941), Oberleutnant (1. 2. 1942) und Hauptmann befördert.' Anderen Quellen zufolge soll er es gar zum Oberstleutnant2 und Regimentskommandeur3 gebracht haben. Dieser Karrieresprung war recht selten, denn Unteroffiziersdienstgrade kmmten nur aufgrund "einzigartiger Leistungen vor dem Feind" in die Offizierslautbahn aufsteigen. 4 Vor Stalingrad erhielt Markgraf das Ritterkreuz, eine Auszeichnung, die nur für "außergewöhnliche und kampfentscheidende Tapferkeitstaten und für ausschlaggebende Führungsdienste" an Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klassekraft Hitlers Entscheidung verliehen wurde. 5

Es ist gut möglich, daß er wie viele Offiziere seiner Altersgruppe, die ihre Jugend ausschließlich unter Hitler verbrachten und eine aussichtsreiche Karriere vor sich hatten, dem Nationalsozialismus und insbesondere Hitler als "Führer" und Oberbefehlshaber der Wehnnacht völlig ergeben war und sich nichts anderes als den totalen Sieg Deutschlands vorstellen konnte. Mitglied der NSDAP konnte er aber nicht gewesen sein, da Wehnnachtsangehörige vor 1943 nicht "Parteigenossen" werden durften. Jedenfalls war er ein fanatischer Soldat, was auch ein sowjetischer Kommandeur bei Markgrafs Gefangennahme in Stalingrad anerkannte: "Herr Markgraf, wenn Sie so, wie sie für eine ungerechte Sache gekämpft haben, für eine gerechte Sache kämpfen, werden wir Freunde."6 Stalingrad wurde zur Wende in seinem Leben: Er schloß sich in der Kriegsgefangenschaft der siegreichen Seite an, und das war die andere totalitäre Macht, die UdSSR. Möglicherweise dürfte das Bewußtsein, daß Hitler ihn, Markgraf, und seine Soldaten verraten und geopfert hatte, ausschlaggebend gewesen sein. Am 20. 4. 1943 half er mit, eine Gruppe Hitlertreuer Kriegsgefangener zu isolieren, und stellte damit Organisationstalent und eine neue, nun "antifaschistische" Kampfbereitschaft unter Beweis. Es war Walter Ulbricht, der ihn aus 500 Kandidaten zunächst zu einem viennonatigen Kurs nach Gorki auswählte, wo er den späteren ersten Staatssicherheitsminister der DDR, Zaisser, als Lehrer erlebten. 70 von ihnen, darunter Paul Markgraf und Generalleutnant Vincenz Müller (der später die Nationale Volksarmee aufbauen half) wählte wiederum Walter Ulbricht zu einer Schulung an der "Hochschule des Leninismus" in Krasnogorsk bei Moskau aus. Berliner Zeitung, 13. 3. 1948. Polizeihistorische Sammlung, Aktensammlung Markgraf. N.N.: Menschlich gesehen. Ritterkreuz und Antifa. Wiedergegeben in: Rhode, Peter: Lebensbild des Genossen Oberst der VP a.D. Paul Markgraf(unveröffentlichte Diplomarbeit an der Sektion Marxismus-Leninismus der Hochschule der Deutschen Volkspolizei "Kar! Liebknecht", Berlin (Ost) 1988, Anlage G. Der anonyme Text stammt offenbar aus dem Jahr 1949, als Markgraf auf eine geheime Schulungsreise in die Sowjetunion ging, und ist, wie der Titel schon erahnen läßt, von ablehnender Tendenz. 3 Vgl. Hanauske, Dieter (Hrsg.): Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2). Berlin, 1995. 4 Vgl. Absolon, Rudolf(Hrsg).: Wehnnacht im Dritten Reich, Bd.V: !.September 1939 bis 18. Dezember 1941. Boppard, 1988, S. 253. s Vgl. ebd., S. 267. 6 Markgraf, in: Rhode, a. a. 0., Anlage F, S. 4. I

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Dort spielte die ideologische Schulung die Hauptrolle. 7 Während der Kriegsgefangenschaft gehörte Markgraf zu den Gründem des Bundes Deutscher Offiziere. Umstritten ist der Zeitpunkt, wann er für das Amt des Berliner Polizeipräsidenten bestimmt wurde. Der Polizeihistoriker Vierthaler nennt gegenüber dem Verfasser das Jahr 1943. Im Alter von 33 Jahren, ohne Polizeierfahrung! Die Auslese Markgrats unter so vielen Kriegsgefangenen und die nachfolgende zweijährige Schulung läßt die These Vierthalers plausibler erscheinen als Markgrats eigene Darstellung, wonach er auf einer Bürgerversammlung unter sowjetischer Aufsicht spontan zum Inspektionsleiter in Berlin-Friedrichshain gewählt und nach einigen Tagen vom Stadtkommandanten Bersarin zum Polizeipräsidenten ernannt wurde. Jene Berliner Zeitungen, die von den westlichen Alliierten lizensiert wurden, zweifelten seit 1946 an der Qualifikation Markgrats für den Posten des Polizeipräsidenten. Wahrscheinlich war aber auch die Erfahrung eines Kriminalers, Juristen oder Schutzpolizisten bei den Sowjetischen Militäradministration und ihren Verbündeten, den deutschen Kommunisten, viel weniger gefragt als die militärtaktischen Kenntnisse, die zur Herrschaftsausübung notwendig erschienen. Mit anderen Worten: Wie ist eine paramilitärische Truppe gegen einen Volksaufstand einzusetzen? Den politischen Charakter seiner Ernennung bestritt auch die DDR-offizielle "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" nicht: ,.Die Zerschlagung aller faschistischen Bestrebungen, die Herstellung von Sicherheit und Ordnung sowie der Schutz der revolutionären Umwälzungen erfordern die Schaffung zuverlässiger Sicherheitsorgane. Schon in der Resolution der Bemer Konferenz der KPD von 1939 war gesagt worden, daß sich die neue demokratische Republik im Gegensatz zur Weimarer Republik in der Armee, der Polizei und im Beamtenapparat zuverlässige Verteidiger der demokratischen Verhältnisse schaffen müsse. Die neue Polizei mußte eine einheitliche, festgefügte, absolut zuverlässige, moralisch saubere und gut disziplinierte antifaschistischdemokratische Organisation sein ( ... ) Markgraf hatte hohen Anteil daran, daß die Volkspolizei in Berlin in den ersten Jahren ihres Bestehens ihre Aufgaben erfüllt hat." 8 Die Rote Armee flog Markgraf am 30. 4. 1945 ein, zeitgleich zwar mit der Gruppe Ulbricht, aber in einem anderen Flugzeug zusammen mit Kriegsgefangenen, die wie er nach AntifaLehrgängen hohe Funktionen9 erhalten sollten, so daß er nach Amtsantritt am 20. 5. 1945 sofort beim Aufbau der NachkriegsPolizei mitwirken konnte. Dieser sehr frühe Zeitpunkt seiner Ankunft unterstreicht, daß er als ein wichtiger Kader vorgesehen war. Ulbrichts Angebot, als KPD-Funktionär in Berlin zu wirken, lehnte Markgraf mit der Begründung ab, er sei zu sehr "TheoreVgl. N.N. : Rezept Korea. Deshalb ist es an der Zeit. In: "Der Spiegel", 27. 10. 1950, S. 5. s Bergmann, WaldemarI Mahlitz. Günter: Der Aufbau der demokratischen Polizei in Berlin 1945. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIIl. Jg. 1965, Heft 3, S. 446-463, hier 7

S. 45I ff.

9 Vgl. Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entläßt ihre Kinder. Berlin, 1961, S. 281; Vgl. Keiderling, Gerhard (Hrsg.): ,.Gruppe Ulbricht" in Berlin April bis Juni 1945. Berlin, 1993, S. 317.

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tiker", im Unterschied zu den .,kampferprobten Genossen". Wahrscheinlich hielt er das Amt des Polizeipräsidenten für machtvoller. Aber war nicht seine Funktion schon in der UdSSR festgelegt worden, oder fürchtete er den .,Stallgeruch" der erfahrenen Kommunisten? Rein rechtlich war er nach seiner Bestellung zum Polizeichef dem Magistrat, genauer: dem stellvertretenden Oberbürgermeister Kar! Maron (KPD I SED; ein Militärexperte) im Rang eines Abteilungsleiters unterstellt, denn bei der Berliner Polizei handelte es sich um eine Stadtpolizei. Dieses Dienstverhältnis stand weder für den Magistrat noch für den Polizeipräsidenten außer Zweifel, wie Dokumente aus dem Jahr 1945 belegen. 10 Wie wir weiter unten noch darstellen werden, änderte sich diese Einstellung zum Dienstverhältnis, als der Einfluß der SED nach den Wahlen 1946 zurückging, d. h. als es zum Konflikt Markgrafs mit dem christdemokratischen Bürgermeister Friedensburg und der nichtkommunistischen Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung kam. Doch schon Ende 1945 rügte das Magistratsmitglied Dr. Siebert, die Polizei mache sich von der Stadtregierung zu selbständig. 11 Er wollte damit wohl zum Ausdruck bringen, die Polizeiführung stehe dem sowjetischen Stadtkommandanten zu nahe, und befolge zu wenig die Anweisungen des Magistrats. Obwohl die Polizei in der "Ära Markgrar' vom Nullpunkt wieder aufgebaut werden mußte - unbelastetes Personal war anzuwerben, Uniformen waren zu beschaffen, die Bewaffnung bestand anfangs nur aus Holzknüppeln - geht Markgraf in seinen Aussagen kaum auf diese Schwierigkeiten ein; im Gegensatz zu seinem (West-)Berliner Nachfolger Dr. Stumm, der in seinen Rechenschaftsberichten sehr ausführlich die Ausstattungsmängel der Polizei benennt. Markgrafs Interesse galt den Machtfragen, d. h. der Stellenbesetzung mit .,zuverlässigen" Personal, und dem Verhältnis zur sowjetischen Besatzungsmacht, zur KPD bzw. SED und zu den Westmächten (die erst am 1. 7. 1945 in Berlin einzogen und Markgraf auf den Posten des Polizeipräsidenten vorfanden). In der Tat stand Markgraf in enger Verbindung zu dem sowjetischen Stadtkommandanten General Kotikow, den er nach jeder Sitzung des Alliierten Komitees für Sicherheit und Ordnung konsultierte, und mit dem er auch einen Teil seiner Freizeit verbrachte. Aufschlußreich für seine Personalpolitik und seine Nähe zu Kotikow ist Markgrafs Reaktion auf das Angebot des britischen Komiteedelegierten Oberst Steward, 5000 bis 6000 ausgebildete Schutzpolizisten mit geprüfter freiheitlich-demokratischer Einstellung könnten sofort in die Berliner Polizei eingegliedert werden. Markgraf lehnte unverzüglich ab und verständigte schnellstmöglich den "Genossen General" Kotikow. Im Abstand von 40 Jahren - 1947 10 Vgl. vierte Magistratssitzung vom 31. 5. 1945. In: HaMuske, a. a. 0., S. 105; vgl. Stellungnahme des Polizeipräsidenten über die Polizeiverwaltung in Berlin. In: Berlin. Quellen und Dokumente 1945 - 1951, hrsg. im Auftrag des Senats von Berlin. Berlin, 1959, I. Halbband, S. 251. 11 Vgl. HanLJusk.e, a. a. 0., Dok. 161.

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bildete sich erst langsam die totalitäre Herrschaft heraus, 1988 gab es sie noch redete er viel offener als vor Gründung der DDR über seine Schutzmacht, so wie es totalitären Persönlichkeiten eigen ist: "Die ständige Hilfe und Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht, vertreten durch die Zentralkommandantur unter der Führung des Genossen General Kotikow sowie die fast väterliche und zeitlich unbeschränkte Konsultationsmöglichkeit mit Genossen Walter Ulbricht stärkten mich in meinem Wollen und meinen Handlungen. Das zweiseitige Vertrauensverhältnis, das mich ständig stärkte, wurde zur Kraftquelle herannahender großer Aufgaben, die es zu lösen galt." 12

Markgraf kritisierte die westalliierte Personalpolitik (kommunistische Stellenbesetzungen seien rückgängig gemacht worden; angeblich gab es Anweisungen an die Polizisten, Markgrafs Befehle zu ignorieren; es hätten keine Lehrgänge für Polizisten in den Westsektoren stattgefunden). Eine neue Polizeischule in Spandau wertete er als Affront und reagierte mit einer entsprechenden Ausbildungsstätte im Sowjetsektor. Die Bestellung von vier Sektorenleitern ab 1946, die ihm auf alliierte Weisung assistieren sollten, sah er geradezu als Gefährdung seiner Machtstellung, zumal die westlichen Sektorenleiter keine kommunistischen Kader waren, sondern vielmehr seiner "Aufbaupolitik" im Wege standen. Sozialdemokratische Kollegen waren für ihn "Handlanger" der Westmächte, namentlich der Leiter seiner eigenen Kanzlei, Dr. Stumm, und der Schutzpolizeikommandeur Kanig. Nichts unterstreicht das Freund-Feind-Denken, das ebenso einem NS-Pamphlet entstammen könnte, besser als seine Beschimpfung noch nach 40 Jahren: "Die Ratten, die jahrelang das Präsidium unterhöhlt hatten, haben das Gebäude nicht instabil gemacht.'"3 Die nötige Neubesetzung der Stellen im Polizeiapparat nach dem Zusammenbruch bot Markgraf die Gelegenheit, Kommunisten auf die maßgeblichen Positionen zu bringen - und er nutzte sie. Dadurch zog er sich das Mißfallen der amerikanischen Besatzungsmacht zu, die eine möglichst unpolitische Polizei bevorzugte. Im Zuge dieser Kaderpolitik gehörten bereits Ende 1946 zwei Abteilungsleiter im Präsidium, 15 von 21 Dezernenten der Kripo und über zwei Drittel der Reviervorsteher der SED an. 14 Der "Telegraf' wußte Anfang 1948 in Erwiderung einer Behauptung Markgrafs gar von einer absoluten SED-Mehrheit unter den Dienststellenleitern und einer fast hundertprozentigen SED-Hausmacht bei den Personaldezernenten.15 Markgraf, in: Rhode a. a. 0., Anlage C, S. 3 ff. Markgraf, in: Rhode, a. a. 0 ., Anlage C, S. 7. 14 So der Stadtverordnete Neumann (SPD) am 2. I. 1947; vgl. Holmsten, Georg: BerlinChronik. Daten, Personen, Dokumente. Düsseldorf, 1984 (Drostes Städte-Chronik), S. 121; ferner: Henfeld, Klaus: Die politische Entwicklung in Berlin von 1945 bis zur Spaltung von 1948. In: Büro für Gesamtberliner Fragen (Hrsg.): Berlin Sowjetsektor. Berlin, 1965, S. 26. 15 Vgl. "Telegraf', 21. 2. 1948, wiedergegeben in der Ausstellung der Polizeibist Sammlung, Polizeipräsidium Berlin. 12

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Am 4.Juli 1945, bezeichnendeiWeise drei Tage nach dem Einzug der westlichen Alliierten in ihren Sektoren, legte Markgraf, der sich nun "Oberst" titulierte, die Uniform ab und trat nur noch in Zivil auf; dennoch entsprachen Auftreten und Umgang eher dem eines Offiziers als eines Behördenleiters. Einer seiner Mitarbeiter, der spätere Generalmajor Gondessen, erinnerte sich, wonach Markgraf das Präsidium z.T. nach "alten militärischen Prinzipien" leitete, anderen oft wenig Handlungsspielraum ließ und eine strenge persönliche Dienstaufsicht über die ihm unterstellten Mitarbeiter ausübte. Zu den eher militärischen als zivilen Gepflogenheiten Markgrafs paßte auch, daß er persönliche statt schriftliche Berichterstattung über erfüllte Aufgaben eiWartete, daß er selbst in den Dienstbereichen Kontrollen vornahm und nichts durchgehen ließ. Bei Nichterftillung und Schwierigkeiten reagierte er äußerst heftig und oft auch verletzend, wobei er auf die Gegenwart von untergebenen Mitarbeitern des Kritisierten keine Rücksicht nahm. 16 Noch schwerwiegender als die von Markgraf durchgesetzte Personalpolitik war die offensichtliche Mitverantwortung Markgrafs für das "Verschwinden" von Personen in Zusammenarbeit mit der sowjetischen Besatzungsmacht. Ein besonders gravierender Fall war die Verschleppung des Schutzpolizeikommandeurs Kar! Heinrich am 2. 8. 1945. Dieser Sozialdemokrat und ehemalige Reichsbanner-Aktivist war unter Hitler wegen angeblichen Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Seine -unbeantwortete -Gnadengesuche an Hitler nahmen die sowjetischen Dienststellen zum Anlaß, ihn zu internieren. Heinrich verstarb im November 1945 im Internierungslager Hohenschönhausen. 17 Was waren die Gründe für sein Ende? Einer kommunistische Quelle 18 zufolge wollten die Westalliierten Heinrich als neuen Polizeipräsidenten einsetzen, so daß Markgraf um sein Amt zu fürchten hatte. Auch andere Kommunisten lehnten Heinrich ab, denn dieser stand ihnen als Vertreter der Staatsmacht in den Straßenschlachten vor 1933 gegenüber. Speziell der Polizistenmörder Erich Mielke, der 1945 in den Berliner Polizeidienst eintrat, hatte ihn zu fürchten. 19 Heinrichs Verhaftung war allerdings kein Einzelfall, eher ein Beispiel politisch-polizeilicher Kriminalität, die den seit den Wahlen von 1946 stärker sozialdemokratisch bestimmten Magistrat und die Öffentlichkeit beunruhigte. Bis zum 13. 11. 1947 waren 5413 Berliner größtenteils aus politischen Gründen von sowjetischen Soldaten oder der einheimischen Polizei festgenommen bzw. verschleppt worden. An jenem Tag sprach die Stadtverordnetenversammlung mit Ausnahme der SED-Abgeordneten Paul Markgraf das Mißtrauen aus; vorausgegangen war die Festnahme des Journalisten Dieter Friede. 20 16 V gl. die Aussagen von Michelazzi und Gondessen, in: Rhode, a. a. 0., Anlage D, S. 2 ff. und Anlage E, S. I ff.

Vgl. Gniffke, Erich W.: Jahre mit Ulbricht, Köln, 1966, S. 189f. Vgl. Bergmann/Mahlitz. a. a. 0 ., S. 451 f. 19 Vgl. Berlin Quellen und Dokumente, zweiter Halbband, Berlin, 1964, S. 262 (Anmerkung). 17

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Schon am 13. 12. 1946 schrieb der Polizeireporter Will Tremper einen Kommentar im "Tagesspiegel", der angesichts der hohen Schwerkriminalitätsrate Markgrafs Eignung in Frage stellte: "Es sieht so aus, als ob Berlins Polizeipräsident vor der Unterwelt kapituliert, derselbe Polizeipräsident, der in den ersten Kriegsjahren vom ,Führer und Oberbefehlshaber der Wehrmacht für Tapferkeit vor dem Feinde' mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet wurde. Es scheint eben doch ein Unterschied zu sein, ob man mit zwei Panzern einen russischen Frontabschnitt aufrollt oder mit zwölftausend Schutzpolizisten und fünfzehnhundert Kriminalbeamten Berlins Verbrecher in Schach zu halten hat."21 Das Hervorstechende an diesem Kommentar war der Hinweis auf das Ritterkreuz in einer Zeit, in der sich die Alliierten den Kampf gegen den ,,Militarismus" auf die Fahnen geschrieben hatten und das Ritterkreuz mit einer NS-nahen Einstellung in Verbindung gebracht wurde. Hätte sich Markgraf nicht den sowjetischen Interessen während seiner Kriegsgefangenschaft verpflichtet, hätte er keine Chance auf ein Amt im öffentlichen Dienst gehabt, sondern wäre automatisch interniert worden. In der Folgezeit nahmen sich andere Zeitungen des Themas an, so daß ein publizistischer Konflikt entstand, auf den bald ein eskalierender politischer Streitfall folgen sollte: Der sozialdemokratische, westlich lizenzierte "Telegrar• druckte einen Artikel, wonach Markgraf als Ritterkreuzträger völlig ungeeignet sei für den Posten des Polizeipräsidenten, während die sowjetisch lizenzierte "Berliner Zeitung" Markgraf als Opfer sowjetischer Postenjäger ansah (wobei sie von einem Artikel in dem unter sowjetischer Lizenz erscheinenden CDU-Blatt "Neue Zeit" ausging, der einen Kampf zwischen SED und SPD um das Amt des Polizeipräsidenten beschrieb). Das amerikanisch lizenzierte Blatt "Der Abend" stellte darüber hinaus fest, daß sich ehemalige SS-Leute in der Polizei des Ostsektor einnisten. So warf der kalte Krieg seine Schatten in den Auseinandersetzungen zwischen den westlich und östlich lizenzierten Zeitungen voraus. Markgraf selbst ließ sich von den britisch, amerikanisch oder französisch lizenzierten Zeitungen nicht interviewen; so bezog er Stellung, ohne selbst etwas zu sagen. So offensichtlich Markgrafs Vergehen waren, so schwierig war es, ihn abzusetzen. Zwar konnte der Oberbürgermeister den Polizeipräsidenten entlassen, aber nur auf einstimmig erteilte Anweisung der Alliierten Kommandantur, deren Befehle er auszuführen hatte. Anfang 1948 bot sich allerdings die Chance, ihn zu stürzen. Zum einen verweigerte sich Markgraf drei mal der Anweisung des Bürgermeisters Friedensburg (CDU), auf einer Pressekonferenz Stellung zu seiner Her20 Vgl. Stenographisches Protokoll der Stadtverordnetenversammlung von 13. II. 1947, wiedergegeben in: Berlin. Quellen und Dokumente, zweiter Halbband, S. 1561. Dem Mißtrauensantrag mochte sich Bürgermeister Friedensburg nicht anschließen, denn er sah einerseits die Schuldigen vor allem in der Sowjetischen Militäradministration, außerdem war er auf die Zusammenarbeit mit Markgraf angewiesen. 21 Wiedergegeben in: Tremper, Will: Meine wilden Jahre. Berlin, 1994, S. 189.

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kunft und der Lage der Verschwundenen zu beziehen. Offen erklärte er auf der Magistratssitzung von 3. März 1948, den Anweisungen des Magistrats nicht mehr zu folgen. Daraufhin konnte ihn der Magistrat, vertreten durch Bürgenneister Friedensburg, nicht mehr stützen, denn Markgraf hatte einseitig die verfassungsrechtlich geregelte Zusammenarbeit aufgekündigt. Daher entschloß sich der Magistrat noch am gleichen Tag, Markgrafs Entlassung bei der Alliierten Kommandantur mit Wirkung vom 9. März 1948 zu beantragen. Dazu war ein einstimmiges Votum der Kommandantur nötig, das wegen des sowjetischen Vetos nicht zustande kam. Sehr schwere Störungen der Stadtverordnetenversammlung durch SED-Anhänger am 23.Juni 1948, die Markgraf nicht unterband, sondern noch rechtfertigte, ließen das Faß zum Überlaufen bringen. Als zahlreiche Polizisten sich anschließend dem Kommando Markgrafs verweigerten, nahm dieser 590 fristlose Entlassungen, von denen auch hohe Polizeiführer betroffen waren, vor, ohne die dafür erforderlichen Genehmigung des Magistrats und der Alliierten Kommandantur einzuholen. Friedensburg beantragte daraufhin die Suspendierung Markgrafs und die Übernahme des Amtes durch dessen Stellvertreter Dr. Stumm (SPD), auch mit der Begründung, viele Polizisten wollten nicht mehr unter Markgraf arbeiten. Die westlichen Alliierten genehmigten die Suspendierung sofort, während die sowjetische Kommandantur, den Unterschied von "Entlassung" und "Suspendierung" ignorierend, an Markgraf festhielt Zur "Suspendierung" als interne Angelegenheit war keine Einstimmigkeit der Kommandantur oder ihres Public-Safety-Committee erforderlich. General Kotikow befahl noch am gleichen Tag, Stumm "wegen spaltenscher Handlungen unverzüglich und fristlos aus der Polizei zu entlassen". Diese Anweisung war aber nichtig, da die amerikanischen, britischen und französischen Vertreter in der alliierten Kommandantur ihre Zustimmung zwei Tage später verweigerten. Vielmehr erkannten sie Stumm anstelle von Markgraf als Polizeipräsidenten an. Mit anderen Worten: Johannes Stumm amtierte seit Ende Juni 1948 als Polizeipräsident im neu errichteten Präsidium in der Friesenstraße (heute: Platz der Luftbrücke) im Bezirk Tempelhof, während sich Markgraf und ein Teil seiner Mitarbeiter weigerte, seinen Amtssessel in der Elsässer Straße, Bezirk Mitte, gemäß dem Befehl zu räumen. Damit war die Polizei als erste Berliner Behörde gespalten. Stumm und Markgraf erklärten sich gegenseitig für "nicht rechtmäßig" auf dem Posten des Polizeichefs.22 Über 70 Prozent der Angestellten in den zentralen Dienststellen - von denen nicht wenige, wie Dr. Stumm, im Ostsektor wohnten - entschieden sich für das neue Präsidium im amerikanischen Sektor. In den folgenden Monaten widmete sich Markgraf zahlreichen Neubesetzungen mit Kommunisten; so wurde ein SEnKreissekretär namens Artur Lehmann, der zuvor nie im Polizeidienst stand, sein Vize. Oder sollte er ihn überwachen im Auftrag von SED und SMAD? Die Mark22

Vgl. Berlin-Dokumente, zweiter Halbbd., a. a. 0., Nr. 891 - 904.

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graf-Polizei stellte sich als "Volkspolizei" vollkommen in den Dienst der SED. Die Erstürmung der Stadtverordnetenversammlung am 26. August und 6. September.1948 durch kommunistische Demonstranten ließ sie geschehen, bzw. sie leistete durch Arrestierung von Parlamentsordnern Unterstützung. 23 1949 verlor Markgraf sein Amt als Polizeipräsident im Ostsektor. Die Ursachen sind nicht ganz klar. Mangelnder Rückhalt des Konvertiten in der SED oder auch eine starke Ablehnung in der Bevölkerung können die Ursache gewesen sein. Nachdem er die Angriffe aus der westlich lizenzierten Presse überstanden hatte, dürfte ihn ein anonymer Brief aus den USA vom Februar 1949 erschüttert haben: Er enthielt einen Ausschnitt aus einer amerikanischen Zeitung mit der Information, daß "Ritterkreuzträger Markgrar• ein Instrument der UdSSR sei. Im September 1949 wurde er zusammen mit 150 weiteren Polizeioffizieren auf Beschluß der SED in den folgenden Monaten an russischen Militärakademien "v.a. waffentechnisch" auf künftige Aufgaben vorbereitet, die er ab Februar 1950 zunächst im Ministerium für Staatssicherheit wahrnahm. 24 In den fünfziger Jahren befehligte er eine Volkspolizei-Bereitschaft (später: Kasernierte Volkspolizei, dann: Nationale Volksarmee), danach wechselte er in das Ministerium für Verkehrswesen der DDR, Hauptabteilung Kraftverkehr I Transportwesen, um die Mitarbeiter militärisch anzuleiten. Als Kommandeur der Grenzpolizei war er um 1960 an der innerdeutschen Grenze eingesetzt. Sehr wenig ist aus der Zeit nach 1950 über ihn bekannt, denn militärische Geheimhaltung spielt in totalitären Systemen eine weit größere Rolle als in freiheitlichen Demokratien. Jedenfalls gehörte er zu den ehemaligen Wehrmachtsoffizieren wie Arno von Lensky und Vincenz Müller, die nun in der DDR militärische Aufbauarbeit leisteten. In den frühen siebziger Jahren dürfte er in Pension gegangen sein. Markgraf erhielt zahlreiche Orden und Ehrenzeichen, u. a. 1955 den Vaterländischen Verdienstorden in Silber und 1960 den Orden "Banner der Arbeit". Glückwunschschreiben von Erich Mielke und Erich Honecker unterstrichen, wessen treuer, fanatischer Verbündeter Paul Markgraf seit 1943 war. Bis zur Revolution 1989 war er auch in der örtlichen Parteiorganisation aktiv. Markgraf verstarb am 7. 4. 1993 in Berlin.

IV. Schlußbemerkung Aufschlußreich ist Markgrafs eigenes Fazit: " ... stets hatte ich parteiliche Aufträge mit militärischem Charakter zur inneren Stärkung und zum zuverlässigen Schutz unserer Republik nach außen zu erfüllen." 25 In der Tat erfüllte er als "willi23 V gl. Tremper; a. a. 0., S. 311 ff. Berliner Schicksal 1945- 1952. Amtliche Berichte und Dokumente. Zusammengestellt im Auftrag des Senats von Berlin vom Büro für Gesamtberliner Fragen, I 952, S. 70. 24 Markgraf, in Rhode, Anlage F, S . 4; Schulung. In: .,Der Spiegel", 9.2. 1950 (Nr. 6), S. 5. 25 Markgraf, in: Rhode, Anlage F, S. 4.

Ein Markgraf als williger Vollstrecker des Totalitarismus

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ger Vollstrecker" der SMAD und der SED zahlreiche Voraussetzungen einer totalitären Persönlichkeit: • Engster Kontakt zu und eine tiefe Verbundenheit mit der totalitären Partei: der SED. • Befehlsverweigerung gegenüber der freiheitlich-demokratischen Dienstaufsicht, als es zum Interessenkonflikt mit den Kommunisten 1947 I 48 kam. • Ein durch und durch militärisches Auftreten einschließlich der persönlichen Überwachung von Untergebenen. • Gute Karriereaussichten auch im Nationalsozialismus. Ein Ritterkreuzträger im Offiziersrang war 1945 eine Ausnahme in der neu aufgebauten Polizei. Sollten nicht Nationalsozialismus und Militarismus vollständig beseitigt werden? Schon 1946 I 48 wurden ehemalige Berufssoldaten zum Aufbau der Volkspolizei herangezogen, die sich freilich zur sogenannten "antifaschistischdemokratischen Umwälzung" bekennen mußten, wozu der Eintritt in die SED schon genügte. Zum Aufbau bewaffneter Kräfte, die durchaus gegen das Volk gerichtet waren, schienen "Fachleute" notwendig, und eine totalitäre Persönlichkeit war kein Makel mehr.

23 Timmermann

V. Kultur

Der Kulturbund als Heimatverein? Anmerkungen zu Anspruch und Realität des Kulturbunds in den vierzigerund fünfzigerJahrenaus regionalhistorischer Sicht Von Thomas Schaarschmidt

Als der Görlitzer Kulturbund-Kreissekretär im Frühjahr 1954 von einer Instruktionsfahrt in die Oberlausitzer Landgemeinde Schönau auf dem Eigen zurückkehrte, notierte er leicht irritiert: "Ich mußte feststellen [ .. . ], daß der Kulturbund eine andere Organisation ist, als ich bis dahin angenommen hatte" 1 • Dieselbe Irritation befällt auch den heutigen Betrachter, wenn er die Entwicklung des Kulturbunds zu einem Konglomerat heterogener Arbeits- und Interessengemeinschaften in den letzten Jahrzehnten der DDR2 mit dem offiziellen Anspruch des Kulturbunds als "Organisation der Intelligenz" vergleicht. Magdalena Heider kam in ihrer 1993 erschienenen Untersuchung ,,Politik- Kultur - Kulturbund" bereits für das erste Jahrzehnt des Kulturbunds zu dem Schluß, daß "Organisationswirklichkeit und Anspruch" weit auseinanderklafften 3 . Im Gegensatz zu früheren Arbeiten über den Kulturbund4 , die sich stark an zeitgenössischen Kulturbund-Publikationen und insbesondere an den quasi-offiziösen Darstellungen und Quellensammlungen des ehemaligen Bundessekretärs und Vizepräsidenten des kommunistischen Kulturbundes Heinz Schulmeister 5 orientiert hatten, I Herbert Knospe: Bericht über die Teilnahme an einer Vorstandssitzung in der Ortsgruppe Schönau a.d. Eigen am 6. 3. 1954, 9. 3. 1954 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden [= SächsHStA], Kulturbund[= KBJ, Mappe 79, ohne Paginierung [= o.P.]). 2 Vgl. Rüdiger Henkel: Im Dienste der StaatsparteL Über Parteien und Organisationen in der DDR. Baden-Baden 1994, S. 234-236. 3 Magdalena Heider: Politik - Kultur - Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945 - 1954 in der SBZ I DDR. Köln 1993, S. 220. 4 Dieter Riesenberger: Heimatgedanke und Heimatgeschichte in der DDR. In: Antimodernismus und Reform. Zur Geschichte der deutschen Heimatbewegung. Hg.v. Edeltraud Klueting. Darmstadt 1991, S. 320- 343; Jens Wehner: Kulturpolitik und Volksfront. Ein Beitrag zur Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945- 1949. Frankfurt a.M. 1992; Hermann Behrens, Ulrike Benkert u. a.: Wurzeln der Umweltbewegung. Die "Gesellschaft für Natur und Umwelt" (GNU) im Kulturbund der DDR. Marburg 1993. s Karl-Heinz Schulmeister: Zur Entstehung und Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Berlin (Ost) 1965; ders.: Die Entwicklung des Kulturbundes in den Jahren 1945 bis 1947. Ein Beitrag zur kulturellen Umwälzung in der ersten Etappe

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Thomas Schaarschmidt

gelangte Heider über die umfassende Auswertung der Archivbestände der Kulturbund-Bundesleitung zu einer wesentlich differenzierteren Sicht der Ziele und Funktionsmechanismen des Kulturbunds im Herrschaftssystem des SED-Staats. Da Heider bei ihren Recherchen die regionalen Archive nicht zur Verfügung standen, wurde auch ihre Forschungsperspektive durch die spezifische Optik der Kulturbund-Bundesleitung beeinflußt, wie sie in der Einleitung ihrer Untersuchung selbstkritisch anmerkte 6 . Aufgrund des in der DDR bis zum Exzeß kultivierten gefilterten Berichtswesens hatte das zur Folge, daß die Heider vorliegenden Archivalien nur das widerspiegelten, was die Kulturbund-Bundesleitung sah, sehen sollte oder auch sehen wollte. Während diese Akten zumindest Vermutungen über die begrenzte Loyalität der Kulturbund-Mitglieder gegenüber Partei und Staat zuließen7 , schloß Heider erst mittels einer Auswertung des umfangreichen statistischen Materials des Kulturbunds, daß der "Schwerpunkt der Kulturbund-Arbeit" bei den "Hobbygemeinschaften" lag8 , "in denen sich passionierte Menschen zur Pflege ihrer künstlerischen, kunsthandwerkliehen und wissenschaftlichen Neigungen zusammengeschlossen hatten, ihre Freizeit gestalten oder kollektiv ihr ,Steckenpferd' pflegen [ ... ] wollten" 9 • Wie die Organisationswirklichkeit des Kulturbunds "vor Ort", wo die einzelnen Mitglieder organisiert waren, tatsächlich aussah, konnte Heider nur ansatzweise beschreiben. Ein Weg zu ihrer Erforschung eröffnet sich mit einer KulturbundGeschichtsschreibung "von unten", die vornehmlich die Archivbestände der regionalen und lokalen Kulturbundorganisationen auswertet. Am Beispiel des Landes Sachsen, beziehungsweise des Bezirks Dresden ab 195210 soll hier den Fragen nachgegangen werden, was der Kulturbund tatsächlich war, welche Rolle tradierte Formen des Vereinslebens im Kulturbund spielten und welche Bedeutung er für die totalitäre Durchdringung der DDR-Gesellschaft hatte. I. Die Anfange des Kulturbunds in den vierziger Jahren Um Zielsetzung und Grundstrukturen des Kulturbunds richtig einschätzen zu können, bedarf es eingangs eines kurzen Überblicks über die Gründungsgeschichte der volksdemokratischen Revolution. Berlin (Ost) 1974; ders.: Auf dem Wege zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945-1949. Berlin (Ost) 1977. 6 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 8. 7 Ebd., S. 147. s Ebd., S. 220. 9 Ebd., S. 227. IO Die Detailuntersuchung steht im Zusammenhang eines diktaturvergleichenden Projekts zur Erforschung der Bedeutung regionaler sächsischer Kulturorganisationen im Dritten Reich und in der SBZ/DDR; vgl. Thomas Schoarschmidt: Vom völkischen Mythos zum "sozialistischen Patriotismus". Sächsische Regionalkultur im Dritten Reich und in der SBZ/DDR. In: Diktaturvergleich als Herausforderung. Theorie und Praxis. Hg.v. Günther Heydemann u. Eckhard Jesse. Berlin 1998, S. 235 - 257.

Der Kulturbund als Heimatverein?

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der Organisation. Das ursprüngliche Ziel des Kulturbunds, das bereits in den auf kommunistische Initiative zustandegekommenen gleichnamigen Exil-Organisationen seinen Niederschlag gefunden hatte, war die Sammlung der Intellektuellen im Sinne der seit 1935 von der Komintern verfolgten Volksfrontkonzeption 11 . Entsprechend breit war der politische Hintergrund des Gründerkreises im Sommer 1945, dem neben vielen Kommunisten auch zahlreiche im Dritten Reich verfolgte Demokraten und Intellektuelle, die die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland verbracht hatten, angehörten 12 . In den auf der Gründungskundgebung am 4. Juli 1945 angenommenen programmatischen Leitsätzen wurde der Kulturbund folglich als die nationale ,,Einheitsfront der deutschen Geistesarbeiter" bezeichnet13. Das unvermeidliche Pendant der propagierten Pluralität und Überparteilichkeit des Kulturbunds war die kommunistische Kontrolle des Apparates, die mit der Besetzung des Postens des Präsidenten durch Johannes R. Becher und des Generalsekretärs durch Heinz Willmann noch deutlicher ausfiel als in anderen Organisationen der frühen SBZ 14 • Obwohl sich der Kulturbund bei seiner Gründung als Sammlungsbewegung der Intelligenz präsentierte, war seine Zielgruppe weit weniger klar definiert, als es die Zusammensetzung des Präsidialrats aus Künstlern, Wissenschaftlern und Technikern vermuten ließ 15 • Bereits im Gründungsmanifest hatte es geheißen, der Kulturbund sollte die "besten Deutschen aller Berufe und Schichten [ ... ] sammeln, um eine deutsche Erneuerungsbewegung zu schaffen" und "auf geistig kulturellem Gebiet ein neues, sauberes, anständiges Leben" aufzubauen 16. Mit diesem weit gefaßten Anspruch öffnete sich der Kulturbund letztlich allen Kulturinteressierten, was ihm einerseits größeren Zulauf verschaffen, ihn aber andererseits bis zur Unkenntlichkeit aufblähen konnte. Die Einrichtung der Kulturbund-Landesverhände setzte unmittelbar nach der Berliner Gründung ein, zog sich aber, bedingt durch die begrenzten Einflußmöglichkeiten der Bundes Ieitung, noch bis Anfang 1946 hin 17 • Wie weit die Vorstellungen von Aufgabe und Funktion des Kulturbunds auseinanderklafften, zeigte sich beispielhaft an der verworrenen Gründungsgeschichte des sächsischen Landesverbands. Obwohl sich die Kommunisten nachträglich als Initiatoren des Dresdner Kulturbunds betrachteten 18 , kam der erste Anstoß im Juli 1945 vom sozialdemoII

Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 16-27.

Ebd., S. 33 - 35. Ebd., S. 37. 14 Ebd., S. 38. 1s Ebd., S. 39. 16 Zit. nach Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 37. 11 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 40-53. 18 Protokoll der Kultur-Kommission am 16. November 1945 im Parteihaus der KPDKreisleitung, 17. II. 1945 [Beitrag Erik Mauthners] (SächsHStA, Landesregierung Sachsen [= LRS]/ Ministerium für Volksbildung/ Hauptabteilung [= HA] Kunst und Literatur, fase. 2263, p. 149). 12 13

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kratischen Leiter des Kulturamts Will Grobmann und dem Verleger Wolfram von Hanstein aus den Reihen der CDU 19 • Trotz größter Anstrengungen gelang es der KPD bis zur Gründungsversammlung am 23. September 1945 nicht, der Organisation ihren Stempel aufzudrücken. Entgegen den mehrdeutigen Formulierungen des Gründungsaufrufs20 hatte von Hanstein als kommissarischer Landesleiter Anfang September 1945 eine Organisationsstruktur entworfen, die mit den Vorstellungen der Berliner Bundesleitung nichts gemein hatte. Um alle "kulturellen Institutionen oder Vereinigungen" in den Kulturbund integrieren zu können, sollte die Landesorganisation seinen Vorstellungen nach auf jede ,,Machtfunktion" verzichten und allenfalls als Dachverband der seit Anfang August entstehenden Kulturbund-Arbeitsgemeinschaften auftreten21 . ,,Jede Arbeitsgemeinschaft," hieß es in seinem der KPD-Landesleitung vorgelegten "Organisations- und Arbeitsplan", "arbeitet für sich und aus sich heraus ihrem Berufe entsprechend und hängt dennoch eng zusammen mit den übrigen Arbeitsgemeinschaften, so daß die gemeinsame Arbeit gewährleistet ist, durch welche überhaupt nur die Gesamtorganisation bestehen kann. [ ... ] Die Aufgaben der Arbeitsgemeinschaften ergeben sich aus sich selbst. [ ... ] Die Ziele und Aufgaben der Arbeitsgemeinschaften zu verwirklichen, ist Aufgabe des Kulturbundes in seiner Gesamtheit'm. Damit stellte von Hanstein die Organisationsprinzipien der Bundesleitung vollständig auf den Kopf. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer direkten Intervention des Bundessekretärs Willmann in Dresden23 brachte Ministerialdirektor Grobmann die Kritik der Bundesleitung auf den Punkt, als er in einem Bericht über die sächsische Organisation schrieb, die "breitere Öffentlichkeit" nehme kaum Anteil am Kulturbund und betrachte "ihn mehr als ein Dach für Dinge, die sonst besonderer und schwer zu erreichender Bewilligung bedürfen. Alles, was nicht unterkommen kann, kriecht im Kulturbund unter und vermehrt den Wirrwarr"24 . Trotz des grund19 Vilmos Korn an Hermann Matern, 5. 7. 1945 (SächsHStA, KPD-Bezirksleitung Sachsen, fase. II A/046, o.P.); ders. an dens., 19. 7. 1945 (ebd.)- Korn (KPD) war stellvertretender Landesleiter des Kulturbunds in Sachsen. 2o Aufruf an alle Kulturschaffenden Sachsens! [undatien] (SächsHStA, LRS/Ministerium für Volksbildung/HA Kunst und Literatur, fase. 2263, p. 181): "Der Kulturbund soll Sammelbecken und Verteilerstelle sein für die Aufgaben der Arbeitsgemeinschaften, die er gebildet hat [ ... ]." 21 Wolfram von Hanstein: Organisations- und Arbeitsplan des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Bezirk Sachsen I Anlage zu einem Brief von Hansteins an Hermann Matern, II. 9. 1945 (SächsHStA, KPD-Bezirksleitung Sachsen II A/046, o.P.); zur Gründung der Arbeitsgemeinschaften vgl. Sitzungsbericht I. Sitzung der kopfbildenden Arbeitsgemeinschaft des Kulturbundes zur Erneuerung des demokratischen Geistes in Deutschland-Bezirk Sachsen, I. 8. 1945 (SächsHStA, LRS/Ministerium für Volksbildung/HA Kunst und Literatur, fascc. 2263, p. 189 f.). 22 Wolfram von Hanstein: Organisations- und Arbeitsplan des Kulturbundes (s. Anm. 21). 23 Heinz Willmann [Kulturbund-Bundesleitung] an Hermann Matern, 9. II. 1945 (SächsHStA, KPD-Bezirksleitung, I I AI 046, o.P.).

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legenden Gegensatzes zwischen den Vorstellungen des sächsischen Landesleiters und der Berliner Bundesleitung gelang dieser erst Mitte Januar 1946 eine Klärung der Machtfrage mit der Einsetzung eines neuen Vorstands und des späteren Bundessekretärs Kar! Kneschke als Landessekretär5 . In der Folgezeit erlebte der Kulturbund in Sachsen einen starken Aufschwung. Die Zahl der Ortsgruppen vergrößerte sich von 36 im Mai 1946 über 74 (November 1946) und 169 (September 1947) auf 186 im Januar 1948. Analog stieg die Mitgliederzahl von 3.976 im Mai 1946 über 10.131 (November 1946) und 25.504 (September 1947) auf 28.531 im Januar 194826. Schon diese Zahlen legen die Vermutung nahe, daß es sich bei den Kulturbundmitgliedern nicht ausschließlich um Intellektuelle handeln konnte. Nach den statistischen Angaben der sächsischen Landesleitung waren zwischen 1947 und 1949 knapp 34 Prozent der Mitglieder Angestellte, reichlich 20 Prozent Arbeiter, gut 13 Prozent Pädagogen, rund 8 Prozent Wissenschaftler, ungefähr 10 Prozent Künstler, wobei der Anteil bis 1949 stark zurückging, rund 6 Prozent Schüler und Studenten sowie 7,5 Prozent Hausfrauen27 . Faßt man Pädagogen, Wissenschaftler, Künstler, Schüler und Studenten im weiteren Sinne unter den Begriff "Intelligenz", kommt man für die Anfangsjahre des sächsischen Kulturbunds auf einen Anteil von 37 Prozent. Verglichen mit den fünfziger Jahren war das noch ein recht hoher Prozentsatz. Nach den statistischen Monatsberichten aus dem Bezirk Dresden pendelte sich der ,,Intelligenz"-Anteil an der Kulturbund-Mitgliedschaft bis Mitte der fünfzigerJahreauf etwas unter 30 Prozent ein. Einer Mitgliederaufschlüsselung des Bezirks Dresden vom September 1953 zufolge gab es dabei extreme Unterschiede zwischen den einzelnen Kreisen. Während der Anteil der Intelligenz in den Stadtkreisen Dresden und Görlitz über 42 Prozent lag, in Meißen sogar über 55 Prozent, wurde er für ländliche Kreise wie Bautzen, Bischofswerda, Löbau und Zittau mit unter 20 Prozent angegeben28 . Die soziale Öffnung des Kulturbunds, die schon im Berliner Gründungsaufruf angelegt und vom ersten sächsischen Landesleiter konsequent betrieben worden war, hatte schon in seinen Anfangsjahren zur Folge, daß sich der Kulturbund immer mehr vom Anspruch einer "Organisation der Intelligenz" entfernte und nolens volens zu einer Organisation für kulturinteressierte Laien entwickelte, die unter seinem Dach ihren vielfältigen Hobbies nachgingen 29. So hieß es in einem Bericht 24 Vennerk von Ministerialdirektor Will Grohmann [Landesverwaltung Sachsen, Zentralverwaltung für Wissenschaft, Kunst und Erziehung], 3. II. 1945/ Anlage zu einem Brief Grohmanns an Friedrichs, 26. II. 1945 (SächsHStA, LRS/Ministerpräsident. fase. 1676, p. 289). 25 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 47 f. 26 Ebd., S. 49. 27 Mitgliederbewegung- Landesleitung. Karteikarte 1948- 1949, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 28 Statistik, September 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 29 Arnold [Kulturbund-Landesleitung] an Roth [Kulturbund-Ortsgruppe Falkenstein im Vogtland], 27. 10. 1947 (SächsHStA, LRS I Ministerium für Volksbildung, fase. 2263, p. 8).

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über die Ortsgruppe der mittelsächsischen Kreisstadt Döbeln vom März 1946, der Kulturbund sei noch "ein Sammelbecken von vorwiegend kleinen Bürgern, die an wissenschaftlichen und kulturellen Fragen irgendwie interessiert sind. [ ... ] Augenblicklich vermittelt er lediglich guten und geistreichen Unterhaltungsstoff für kleinbürgerliche Elemente" 30. Entgegen den Erwartungen der neuen Landesleitung31 sollte sich daran in den folgenden Jahren nichts ändern. Das Bild der Kulturbundarbeit in den Ortsgruppen wurde in den späten vierziger Jahren bestimmt von Vorträgen der unterschiedlichsten Art, vielfältigen Musikdarbietungen, der Beteiligung an Festveranstaltungen, zumeist in Form eines künstlerischen Rahmenprogramms, und einer breiten Palette von künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften32, zu denen seit 1946 auch schon heimatkundliehe Arbeitsgemeinschaften zählten, die zunächst aber noch ein Schattendasein fristeten 33 .

II. Die Neuorientierung 1949/50 Seit 1948 schlug die neue politische Generallinie der SED auf den Kulturbereich der SBZ durch. Das bedeutete zum einen, daß Marxismus und sozialistischer Realismus zu den allein gültigen Maßstäben des Kunstschaffens wurden, und zum anderen, daß die bestehenden Massenorganisationen noch enger an die Partei angebunden und als Transmissionsriemen des politischen Systems instrumentalisiert wurden. Wahrend sich die staatlichen Organe mit den beiden "Intelligenz-Verordnungen" von 1949 und 1950 nun selbst um die Gewinnung der bisher überwiegend politisch neutralen Wissenschaftler und Künstler bemühten, wiesen Partei und Staat dem Kulturbund die Funktion zu, sich zu einer Massenorganisation der nichtprofessionellen Kulturschaffenden zu entwickeln 34 . Die zeitgleiche Gründung der Künstlerverbände ("Verein Deutscher Bildender Künstler", ,,Deutscher Schriftstellerverband" und "Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler") im Kulturbund hatte von vomherein transitorischen Charakter und diente nur dazu, sie organisatorisch zu konsolidieren, bevor sie sich 1952 verselbständigten 35 . 30 Bericht über die Kulturbund-Ortsgruppe Döbeln I Anlage eines Schreibens von Ernst Käseberg [2. Vorsitzender der Kulturbund-Ortsgruppe Döbeln] an Ministerialdirektor Herbert Gute, 23. 3. 1946 (SächHStA, LRS I Ministerium für Volksbildung I HA Kunst und Literatur, fase. 2264, p. 157). 31 Landrat zu Pirna I Kreisnachrichtenamt an das Landesnachrichtenamt, 9. 5. 1946 [mit dem Bericht über eine Rede Kneschkes auf der Kulturtagung am 6. 5. 1946] (SächsHStA, Nachlaß[= NI.] Emil Menke-Giückert, fase. 23, o.P.). 32 Einen guten Überblick über die Aktivitäten der Kulturbund-Ortsgruppen in den ersten Jahren vermitteln die Berichte der örtlichen Nachrichtenämter (SächsHStA, NI. Emil MenkeGiückert, fase. 23). 33 Freie Presse Plauen vom 31. 8. 1947: "Heimatkunde heute" von Kar) Hans Pollmer (SächsHStA, Landesverein Sächsischer Heimatschutz [= LVSH], Mappe 97, p. 85). 34 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 99-102, 107 u. 137. 35 Ebd., S. 120-128 u. 156-161.

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Die Neuorientierung des Kulturbunds fand ihren ersten Niederschlag in der von den Deutschen Verwaltungen für Volksbildung und für Inneres erlassenen "Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden Massenorganisationen" vom 12. Januar 194936. Diese Verordnung betraf auch andere Massenorganisationen, insbesondere den FDGB und die FDJ, hatte aber gerade für den Kulturbund besonders gravierende Folgen37 . Grundsätzliche Kritik an der Verordnung kam auf der Präsidialratssitzung am I. Februar 1949 nur von Robert Havemann, der es als offenen Mißbrauch des Kulturbunds bezeichnete, ihm die Überwachung der aufgelösten Vereine aufzuhalsen 38 . Selbstredend blieb seine Kritik ohne Wirkung. Die Bedeutung der Verordnung vom 12. Januar 1949 erschließt sich erst, wenn man sich vergegenwärtigt, was für Vereine und Verbände es neben den von der Partei- und Staatsführung gewollten Organisationen, wie FDJ, Kulturbund und Kammer der Technik, zwischen 1945 und 1949 in der SBZ gab. Grundsätzlich hatten die Landesverwaltungen 1945 fast alle Vereine aufgelöst, die das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger unbeschadet, zumeist eingebunden in den Organisationswirrwarr des NS-Systems, überdauert hatten 39. In der Praxis sah das Verbot allerdings oft so aus, daß die Vereine zwar ihren Status als "e.V." verloren, faktisch aber weiterexisitieren konnten. Zudem lockerten die einzelnen Landesregierungen das Vereinsverbot in den folgenden Jahren. So bereitete die sächsische Landesregierung 1947/48 ein neues Vereinsgesetz vor, das die Wiederzulassung von Vereinen als "volksbildende Gruppen" unter der Aufsicht der zuständigen Kreisvolksbildungsämter erlaubte40. 36 Abdruck der Verordnung in Behrens: Wurzeln der Umweltbewegung (s. Anm. 4), S. 156f. 37 Zur Einschätzung der Verordnung vgl. Nikola Kn01h: "Blümeli pflücken und Störche zählen ... ?" Der "andere" deutsche Naturschutz: Wurzeln, Ideen und Träger des frühen DDR-Naturschutzes. In: Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven. Hrsg. v. Matthias Frese u. Michael Prinz. Paderbom 1996, S. 448 f. 38 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 104 f. 39 Notiz des sächsischen Innenministers Kurt Fischer vom 5. 10. 1945 zu einem Schreiben von Oberregierungsrat Heinz Kretzschmar [Kulturabteilung) an Ministerialrat Hegner, 2. 10. 1945 (SächsHStA, LRS, Ministerium des Inneren [=Md!], fase. 851, p. 34): "Hierdurch wollen Sie bitte davon Kenntnis nehmen, dass grundsätzlich alle Vereine ausser den politischen Parteien, den Gewerkschaften und dem Kulturbund verboten und aufgelöst sind"; vgl. Artur Hofmann [Chef der sächsischen Polizei) an Landräte, Oberbürgermeister, Polizeipräsidenten und Leiter der Kriminalämter, 25. 4. 1946 (SächsHStA, LRSIMdl, fase. 851, p. 77). 40 LRS I Ministerium für Volksbildung I Allgemeine Volkserziehung I Referat Laienkunst (Ministerialdirektor Richard Gladewitz): Entwurf zum Gesetz volksbildender Gruppen, 4. 2. 1948 (SächsHStA, SED-Bezirksleitung, Al594, p. 50) und Entwurf der Ausführungsbestimmungen zum Gesetz über volksbildende Gruppen, 4. 2. 1948 (ebd., p. 51-53); zum Gesetzgebungsverfahren vgl. Kurt Gentz [Verein Sächsischer Ornithologen] an Werner Schmidt, 25. 5. 1948 (SächsHStA, LVSH, Mappe 133, p. 110): der zuständige Referent Hans Martin Geyer hatte Gentz mitgeteilt, "daß die Verabschiedung des Gesetzes noch längere

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Welche Möglichkeiten sich Vereinen in dieser Zeit boten, verdeutlicht ein Blick auf die beiden größten Dachorganisationen sächsischer Vereine, den "Erzgebirgsverein" und den "Landesverein Sächsischer Heimatschutz". Heimatschutzvereine gab es vor dem Krieg in allen Regionen Deutschlands41 . Ihre Klientel kam hauptsächlich aus dem kleinstädtischen Bürgertum, so daß sie im klassischen Sinn bürgerliche Vereinskultur Yerkörperten42. Zu den traditionellen Tatigkeitsfeldem des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, die sich in vielen Bereichen mit denen des Erzgebirgsvereins überschnitten, zählten Altertums- und Geschichtsforschung, Denkmalpflege und Bauberatung, Volkskunde, Mundart- und Brauchtumspflege, die Betreuung von Volkskunst- und Heimatmuseen, die Förderung von Kunstgewerbe, Handwerk und Volkskunst sowie Natur- und Tierschutz43 . Obwohl die Führung des Erzgebirgsvereins bei Kriegsende politisch stark kompromittiert war44 und der Landesverein in der Verordnung der Landesverwaltung Sachsen vom 6. August 1945 "über die Beschlagnahme des nazistischen Vermögens" - ungerechtfertigterweise - als NS-Organisation genannt worden war45 , konnten beide bis Januar 1949 unter einem Treuhänder weiterbestehen. Trotz seines offiziellen Verbots setzte der Landesverein Sächsischer Heimatschutz seine Arbeit 1945 fort und warb sogar neue Mitglieder46. Die meisten Energien verschlangen jedoch die Bemühungen um eine Wiederzulassung als Verein, die von vomherein eng mit der Entwicklung des Kulturbunds verbunden waren. Um dem Landesverein eine anerkannte rechtliche Grundlage zu verschaffen, nutzte der geschäftsführende Direktor Wemer Schmidt im Herbst 1945 die Gunst der Stunde und meldete den Landesverein als korporatives Mitglied im Kulturbund an47 • Diese Konstruktion fiel postwendend der Durchsetzung der Berliner Kulturbund-Linie nach der Absetzung von Hansteins zum Opfer48 . Zeit auf sich warten lassen wird, da das Gesetz für die ganze Zone gelten soll und entsprechende Absprachen mit den einzelnen Länderregierungen nötig sind. Es ist in Ausnahmefällen möglich, in Sachsen Vereine vorher zuzulassen [ ... )." 41 Der deutsche Heimatschutz. Ein Rückblick und Ausblick. Hg.v. der Gesellschaft der Freunde des deutschen Heimatschutzes. München 1930. 42 Kar/ Ditt: "Mit Westfalengruß und Heil Hitler." Die westfälische Heimatbewegung 1918-1945. In: Antimodernismus und Reform (s. Anm. 4), S. 196f. 43 Werner Schmidt [Geschäftsführender Direktor des Landesvereins]: Memorandum, [4. 3. 1949] (SächsHStA, LVSH, Mappe 97, p. 63 u. 71; Die Kulturorganisation Landesverein Sächsischer Heimatschutz e.V. von der Gründung bis zur Gegenwart. Dresden [ 1934] (SächsHStA, Mdl, fase. 15833/2, p. 133). 44 Curt Unger [Schatzmeister des ErzgebirgsvereinsI an die LRS I Md II Amt für sequestrierte Vermögenswerte, Schneeberg 17. 10. 1947 (SächsHStA, Hauptverwaltung [= HV] Staatliche Museen, Schlösser und Gärten, fase. 38, p. 187). 45 Verordnung über die Beschlagnahme des nazistischen Vermögens. Vom 6. August 1945, Anlage zur Rundverfügung (35 /45) des sächsischen Innenministers Kurt Fischer an die Landräte und Oberbürgermeister, 22. 8. 1945 (SächsHStA, LVS/Mdl, fase. 879, o.P.); zur Position des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz im Dritten Reich vgl. Schaarschmidt: Vom völkischen Mythos (s. Anm. 10), S. 237-247. 46 Werner Schmidt an Werner Lindner, 5. 4. 1946 (SächsHStA, LVSH, Mappe 77, p. 264).

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In der Folge setzte Schmidt darauf, eine Zulassung des Landesvereins als weitere Dachorganisation neben dem Kulturbund zu erreichen 49 , was spätestens seit der Übernahme des sächsischen Volksbildungsministeriums durch den ehemaligen Kommunisten Helmut Holtzhauer im April 1948 kaum noch Aussicht auf Erfolg hatte 50. Der Landesverein unternahm daraufhin einen letzten Versuch, dem Kulturbund geschlossen als Arbeitsgemeinschaft "Sächsischer Heimatschutz" beizutreten, was im April 1948 wiederum am Einspruch des sächsischen KulturbundLandessekretärs Kneschke scheiterte51 • Obwohl sich mit dem bereits erwähnten sächsischen Vereinsgesetz von 1948 eine Perspektive für den Landesverein zu eröffnen schien, geriet er im Laufe des Jahres in eine ausweglose Situation. Mit Verordnungen des sächsischen Ministeriums für Volksbildung vom 21. Dezember 1948 wurden sowohl der Landesverein Sächsischer Heimatschutz als auch der Erzgebirgsverein abgewicke!t 52. Um die Kontinuität der Heimatschutzarbeit in irgendeiner Form zu sichern, nutzte der noch amtierende geschäftsführende Direktor des Landesvereins die Zeit 47 Werner Schrnidt an den Kulturbund, 28. 9. 1945 (SächsHStA, LVSH, Mappe 97, p. 114); Mitgliedskarte des Kulturbunds, Bezirk Sachsen, für den Heimatschutz, Dresden [10. 11. 1945) (ebd., Mappe 110, p. 119); Protokoll über die Vorstandssitzung, 19. I. 1946 im Oskar Seyffert-Museum (ebd., Mappe 123, p. 89). 48 Kulturbund-Landesleitung an den Landesverein Sächsischer Heimatschutz, 13. 2. 1946 (SächsHStA, LVSH, Mappe llO, p. 102): "Dazu müssen wir feststellen, dass nach der Bundessatzung, die von der Bundesleitung in Berlin ausgearbeitet wurde und für das ganze Reich gültig ist, der Kulturbund keine körperschaftlichen Mitglieder aufnehmen kann." 49 Werner Schmidt an Heinrich König, 22. I. 1946 (SächsHStA, LVSH, Mappe 110, p. 106); Werner Schmidt: Memorandum, [4. 3. 1949] (ebd., Mappe 97, p. 63 u. 71). 50 Helmut Holtzhauer an Otto Buchwitz, 13. 10. 1948 (SächsHStA, Landtag 1946-1952, fase. 27, p. 529). Holtzhauers Amtsvorgänger, der ehemalige Sozialdemokrat Erwin Hartsch hatte die Vorstellungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz unterstützt (Erna Kühn an Werner Schmidt, 24. 12. 1947, SächsHStA, LVSH, Mappe 93, p. 94); vgl. Weinholz [Ministerium für Volksbildung/ Abteilung Kunst und Literatur] an Bachmann und Löffler, 18. II. 1947 (SächsHStA, Ministerium für Volksbildung/HA Kunst und Literatur, fase. 2231, o.P.): ,,Betrifft Heimatschutz. Herr Ministerialdirektor Gute bittet Sie, an einer Besprechung betreffend Neuaufbau des Heimatschutzesam Dienstag, den 25. November 1947 um 10 Uhr im Volksbildungsministerium [ ... ]teilzunehmen." 51 [Undatiertes Blatt] (SächsHStA, Ministerium für Volksbildung I HA Kunst und Literatur, fase. 2231, o.P.): "Der Sächsische Heimatschutz sucht als selbständige Arbeitsgemeinschaft mit eigener Rechtsfähigkeit Anschluß an den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Als Termin wird der I. Juli 1948 ins Auge gefaßt"; Satzung der Arbeitsgemeinschaft "Sächsischer Heimatschutz" beim Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, [undatierter Entwurf] (ebd.); vgl. Ministerium für Volksbildung/ Abteilung VII 4 A an das Büro des Ministerpräsidenten, 13. 4. 1948 (ebd.) über eine Besprechung Kneschkes mit den Vertretern des Landesvereins. s2 Verordnung über die Abwicklung des eingetragenen Vereins Heimatschutz Sachsen, 21. 12. 1948, in: Gesetz- und Verordnungsblatt Land Sachsen vom 31. 12. 1948, Abschrift (SächsHStA, LVSH, Mappe 97, p. I); vgl. Lachmann [LRS/Ministerium für Volksbildung/ Abteilung Allgemeine Volkserziehung] an das Sekretariat des Ministeriums, 25. II. 1948 (SächsHStA, HV Staatliche Museen, Schlösser und Gärten, fase. 38, p. 88).

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bis zum Abschluß der Liquidation im Juli 194953 dazu, direkten Einfluß auf die Gründung und Entwicklung von Arbeitsgemeinschaften für Heimatpflege im Kulturbund zu nehmen. So läßt sich für die Kulturbund-Ortsgruppe Radeheul nachweisen, daß Schmidt dem Ortsgruppen-Vorsitzenden im März 1945 nicht nur die Einrichtung eines Arbeitskreises "Heimatpflege, Denkmalpflege und Naturschutz" nahelegte, sondern ihm auch noch Vorschläge für die Besetzung des Vorstandes mit Mitarbeitern des Landesvereins machte54• Zur größten Konkurrenz des Landesvereins hatte sich im Laufe des Jahres 1948 die "Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung entwickelt, deren Wurzeln in der Arbeitersportbewegung lagen 55 . Mit offizieller Unterstützung wurden im Frühjahr 1948 zunächst im Dresdner Umland entsprechende Interessengemeinschaften gebildet, die die Mitglieder der Heimat-, Natur- und Wandervereine in ihre Reihen aufnehmen und damit die alten Vereine überflüssig machen sollten56. Die programmatische Erklärung, daß die "Natur- und Heimatfreunde" "den Heimatschutzgedanken neue Wurzeln schlagen lassen" sollten57, stellte die Existenzberechtigung der traditionellen Heimatschutzbewegung glattweg in Frage. Zum Hintergrund erläuterte Volksbildungsminister Holtzhauer dem sächsischen Landtagspräsidenten Otto Buchwitz am 13. Oktober 1948: "Das Ministerium für Volksbildung ist nicht daran interessiert, den Verein [Landesverein Sächsischer Heimatschutz] wieder aufleben zu lassen; vor allem, wenn es berücksichtigt, dass der Verein unter seinen ehemaligen ca. 62000 Mitgliedern eine aussergewöhnlich grosse Zahl von kleinbürgerlichen, fortschrittsfeindlichen Elementen enthielt. [ ... ] Die positiven Gedanken des Heimatschutzes werden selbstverständlich vom Ministerium für Volksbildung aufs lebhafteste gefördert. Geeignete Träger dieser Gedanken sind die volksbildenden Gruppen [ ... ]''58 . Auch ohne ein gültiges Vereinsgesetz gab es also zum Zeitpunkt der Verordnung vom 12. Januar 1949 in der SBZ wieder ein breites Vereinswesen, das nun in die Massenorganisationen integriert werden sollte. Nach Paragraph 6 der Verordnung sollte der Kulturbund folgende Gruppen und Vereine aufnehmen: "I. Die Goethe53 Aktennotiz: Heimatschutzsitzung arn 9. 8. 1949, 11. 8. 1948 (SächsHStA, LRSIMinisterium für Volksbildung I HA Kunst und Literatur, fase. 2231, o.P.). 54 Schmidt an Hellmuth Rauner, 24. 3. 1949 (SächsHStA, LVSH, Mappe 97, p. 59); ders. an Anton Heußner, 4. 4. 1949 (ebd., p. 40f.); ders. an dens., 9. 4. 1949 (ebd., S. 38); ders. an dens .. l. 6. 1949 (ebd., p. 20); ders. an dens., 7. 7. 1949 (ebd., p. 12). 55 Lausitzer Rundschau vom 30. 6. 1948: ,,Aufgaben und Ziele der ,Natur- und Heimatfreunde'" (SächsHStA, LVSH, Mappe 364, p. 23); vgl. Knoth: Naturschutz (s. Anm. 37), s. 445f. 56 Walter Mühthans an Werner Schmidt, Neustadt I Sachsen, 3. 2. 1948 (SächsHStA, LVSH, Mappe 133, p. 192): "Vereine in dieser Gemeinschaft sollen nicht geduldet werden"; Sächsische Zeitung vom 19. 3. 1949: "Natur- und Heimatfreunde!" (ebd., p. 157). 57 Sächsische Zeitung vom 18. 6. 1948: .,Denkmalschutz durch Heimatfreunde". ss Helmut Holtzhauer an Otto Buchwitz, 13. 10. 1948 (SächsHStA, Landtag 1946-1952, fase. 27, p. 529).

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Gesellschaft und ihre örtlichen Untergruppen, 2. Die Literatur-, Kunst- und Philosophiegesellschaften, 3. Heimat- und Naturschutzgruppen, 4. Geschichts-, Sprach-, naturwissenschaftliche und geographische Gruppen, 5. Philateliegruppen, 6. Fotografiegruppen, 7. Basteigruppen volkskünstlerischer Art, soweit sie nicht nach § 3 der Freien Deutschen Jugend anzugliedern sind"59 . Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Zuordnung zu den Massenorganisationen gab es besonders bei den Volkskunstgruppen, die, falls sie weder in den FDGB noch in die FDJ, den Deutschen Sportausschuß oder den Kulturbund paßten, dem Bund Deutscher Volksbühnen (BDV) angegliedert werden sollten. Bis 1950 fanden folgende Gruppierungen Aufnahme im Kulturbund, die hier aufgelistet werden, um ihr breites Spektrum zu veranschaulichen: Geschichtsvereine, Heimatvereine, Denkmalpfleger, Naturschutzgruppen, einige Wandervereine, Tierschützer, Ornithologen, Pilzsammler, Aquarien- und Terrariengruppen, Philatelisten, Fotogruppen, Vegetarier, Volkschöre, Orchester, Laienspielgruppen, Mundartgruppen, Kunst- und Philosophiezirkel sowie Volkskunst- und Bastlergruppen. Wenn der Kulturbund seiner Funktion als Massenorganisation im System des demokratischen Zentralismus gerecht werden wollte, durfte er sich nicht mit der organisatorischen Einbindung dieser Gruppierungen begnügen, sondern mußte versuchen, sie ideologisch zu durchdringen. Gerade auf seinem 2. Bundestag, der im November 1949 in Berlin stattfand, wurde der Kulturbund eindeutig auf die politischen Vorgaben der SED festgelegt, was den Auszug der letzten unabhängigen Vertreter aus dem Präsidialrat zur Folge hatte. Die neuen "Grundaufgaben" des Kulturbunds verlangten die Schaffung des "Bündnisses von Intelligenz und Arbeitern" sowie die Ausrichtung der Kulturarbeit auf den Marxismus-Leninismus und den demokratischen Zentralismus60. Zur selben Zeit, als sich die politische Ausrichtung des Kulturbunds zunehmend verengte, wurde die Organisation an ihrer Basis immer heterogener. Welche Schwierigkeiten sich den Kulturbund-Funktionären bei der Übernahme der Vereine 1949 boten, soll hier am Beispiel der erzgebirgischen Schnitzervereinigungen veranschaulicht werden. Diese Gruppen galten als Inbegriff traditioneller Volkskunst und zeigten nur wenig Bereitschaft zu einer widerspruchslosen Unterordnung. Das wirkte sich bei der Überführung der Thumer Schnitzer- und Basteigemeinschaft so aus, daß 55 der 70 Mitglieder austraten61 . Da der Kulturbund mehr denn je darauf beharrte, daß die bestehenden Vereine nicht korporativ übernommen wurden und die Vereinsmitglieder einzeln ihre Mitgliedschaft beantragten, hatte er keinerlei Handhabe gegen diese Entwicklung. Die Bedeutung, die der ideologischen Beeinflussung der Volkskunstgruppen von Partei und Staat beigeS9 60

Behrens: Wurzeln der Umweltbewegung (s. Anm. 4), S. 157. Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. I 06- II I.

61 Niederschrift über die 2. Zusammenkunft der erzgebirgischen Volkskünstler am 16. 7. 1949 im R Ratskeller in Thum, [undatiert] (SächsHStA, KB 405, o.P.); vgl. Knoth: Naturschutz (s. Anm. 37), S. 448 f.

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messen wurde, veranschaulichen die Bemühungen von Otto Buchwitz und einigen Mitgliedern der sächsischen Landesregierung um eine zeitgenössische Gestaltung der Schnitzkunst Wie die Vertreter der SED sich die Gestaltung des ,.Fortschrittlichen" in der Volkskunst vorstellten, mag ein Vorschlag verdeutlichen, der in einer Besprechung bei Buchwitz im Dezember 1949 protokolliert wurde: ,.Vorgeschlagen wird die Gestaltung einer neuen Pyramide. Der zentrale Gedanke dabei sollte der Gedanke des Friedens, des Aufbaus und der Zusammenarbeit der Völker sein. Es muß auch versucht werden, daß die Schnitzer neue Bergleute schaffen, die nicht nur nach Illustration, sondern nach dem Leben geschnitzt werden"62 . Abgesehen von einigen Prototypen, endeten diese Versuche mit einem völligen Fehlschlag. Das Beispiel der erzgebirgischen Schnitzervereinigungen läßt sich nicht in allen Punkten verallgemeinern, aber die Probleme ihrer Integration in den Kulturbund sind symptomatisch für dessen Entwicklung 1949/50. Das gilt zum einen für die Aufblähung der Kulturbund-Aktivitäten zu Lasten eines klaren Profils, zum anderen für den Widerstand von Vereinsmitgliedern gegen die Integration und nicht zuletzt für das Eigenleben der fonnal integrierten Vereine im Kulturbund. Dieses Phänomen zeigte sich besonders dann, wenn Vereine geschlossen beitraten und gerade in kleineren Ortsgruppen zur bestimmenden Kraft im Kulturbund wurden, oder wenn, wie im Falle des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, ehemalige Vereinsmitglieder die Arbeit bestimmter Arbeitsgemeinschaften gezielt beeinflußten. 111. Der Kulturbund in den frühen fünfziger Jahren

Noch im Herbst 1949 ergriff die Kulturbund-Bundesleitung zwei Maßnahmen, um die Integration der Gruppen und Vereinigungen organisatorisch zu bewältigen. So wurden auf Initiative der SED im November 1949 Kulturbund-Kreissekretariate eingerichtet, die direkt die Aufgabe hatten, die Arbeit der Kulturbund-Ortsgruppen zu überwachen63 . Mindestens ebenso wichtig war die Zusammenfassung der meisten übernommenen Gruppierungen in einer neugeschaffenen Arbeitsgemeinschaft ,,Natur- und Heimatfreunde". Die Bundesleitung des Kulturbunds hatte erst nach der Verordnung vom 12. Januar 1949 begonnen, sich für die ,,Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung zu interessieren, als sie die Chance erkannte, der Integration der bürgerlichen Heimatschutzbewegung ein Gegengewicht entgegenzusetzen und damit ihre eigene Kontrollfunktion zu wahren64 . Dieses Ziel spiegelte sich in der Debatte des Sächsischen Landtags vom 31. März 1950 über einen Antrag der SED-Fraktion zur Förderung der Volkskunde wider. 62

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Protokoll vom I. 12. 1949 (SächsHStA, KB, Mappe 405, o.P.). Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 106.

64 Kulturbund-Bundesleitung an Hugo Bergmann [sächsische Kulturbund-Landesleitung). 2. 11 . 1949 (SächsHStA, KB, Mappe 407); Bergmann an das sächsische Ministerium für Volksbildung, I 7. I I. 1949 (ebd., HV Staatliche Museen, Schlösser und Gärten, fase. 21, p. 189).

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Nach einem Loblied auf die sächsische Heimatliebe verurteilte der SED-Landesvorsitzende Ernst Lohagen ihren Mißbrauch durch den Landesverein und das 1945 aufgelöste NS-Gauheimatwerk65 , um dann im Gegenzug die Bedeutung der .,Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung hervorzuheben. Zur Zusammenfassung der ,,Natur- und Heimatfreunde" im Kulturbund erklärte er: ,,Die Arbeit des Ministeriums für Volksbildung ist ganz darauf gerichtet, mit dem Kulturbund eine breite Bewegung ins Leben zu rufen, die der des alten Sächsischen Heimatschutzes überlegen ist an wissenschaftlicher Qualität, in bezug auf die Zusammensetzung der Mitglieder, in bezug auf die politische Tendenz, in bezug auf die gesellschaftliche Arbeit" 66. Von der ursprünglichen Aufgabe des Kulturbunds, die ..Intelligenz" für die neue politische Ordnung zu gewinnen, war zu diesem Zeitpunkt keine Rede mehr. Das neue Ziel des Kulturbunds war Anfang der fünfziger Jahre Lohagens Worten zufolge die Schaffung einer Massenorganisation auf dem Feld der Heimatschutzarbeit mit klarer politischer Orientierung67. Wie sich die Kulturbund-Landesleitung die Arbeit der .,Natur- und Heimatfreunde" vorstellte, wurde schon auf der ersten Landes-Tagung der neuen Arbeitsgemeinschaft am 22. Mai 1950 in Dresden deutlich. Nach den Anweisungen der Landesleitung sollten sich die ,,Natur- und Heimatfreunde" mit Heimat- und Ortsgeschichte, Vorgeschichte, Heimat-, Natur- und Pflanzenkunde, Heimat- und Naturschutz, Volkskunde, Heimatmuseen und Fotografie sowie heimat- und naturkundlichem Wandern beschäftigen68 • Weitgehend bedeutungslos blieben die auf der Tagung gewählte Landeskommission der ..Natur- und Heimatfreunde" und ihr Vorsitzender, der parteilose Heimatschriftsteller Erich Feldbaus. Als dieser wagte, selbst Einfluß auf die Gestaltung der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeit zu nehmen, wurde er kurzerhand von der Landesleitung ausmanövriert. Anläßlich der dritten Sitzung der Landeskommission im Juni 1951 mußte er eine Belehrung des zuständigen Instrukteurs Gerhard Thümmler über sich ergehen lassen, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ: .,Der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands ist ein Bund, in dem sich alle Kulturschaffenden als Einzelmitglieder beim Aufbau einer neuen demokratischen Kultur, wie es bereits aus der Bezeichnung hervorgeht, zusammenfinden. Die gewählte Landesleitung des Kulturbundes legt also die Aufgaben für alle kulturelle Arbeit fest und beauftragt die von ihr bestimmten Mitarbeiter mit der Durchführung der einzelnen Aufgaben. Die sog. Sektion Natur- und Heimatfreunde ist also in diesem Zusammenhang kein neuer ,Verein' im Kulturbund, der mit seinen Vorsitzenden und Statuten Vgl. Schaarschmidt: Vom völkischen Mythos (s. Anm. 10), S. 242-247. Landtags-Protokoll vom 31 . 3. 1950, S. 1688 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 67 Vgl. Willi Oberkrome: Heimatschutz und Naturschutz in Lippe und Thüringen 19301960. St Strukturen und Entwicklungen. In: Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven. Hg.v. Matthias Frese u. Michael Prinz. Paderborn 1996, S. 434. 68 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund, Kulturbundhaus Dresden, 22. 5. 1950 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 65

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seine eigene Arbeit nach Gutdünken durchführt, sondern eine Zusammenfassung aller Einzelmitglieder des Kulturbundes, die auf dem Gebiet der Natur- und Heimatpflege in erster Linie die großen Aufgaben beim Neuaufbau unseres kulturellen Lebens erfüllen helfen." Die Landeskommission und ihr Vorsitzender hätten folglich nur eine beratende Funktion. Abschließend schrieb Thümmler: "Wir müssen also, lieber Bundesfreund Feldbaus, von der veralteten Absicht abkommen, daß sich innerhalb des Kulturbundes alle alten Vereine usw. wiederfinden" 69. Entsprechend kam Feldhaus auf der dritten Sitzung der Landeskommission überhaupt nicht mehr zu Wort, und das Hauptreferat wurde gleich von Thümmler gehalten70• In der Folge verlor die Landeskommission jegliche Bedeutung71 • Wenn auch die Machtfrage im Verhältnis zwischen Kulturbund-Landesleitung und ,,Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung frühzeitig geklärt war, sagte das noch nichts über die Organisationswirklichkeit "vor Ort" aus. Aufschlußreich für die Situation zu dieser Zeit ist der erste "Bericht über die Arbeitsgemeinschaften der Natur- und Heimatfreunde im Lande Sachsen" vom 6. Januar 1951, in dem es unter Bezugnahme auf eine Umfrage bei den Kulturbund-Ortsgruppen hieß, daß es bis jetzt 107 Arbeitsgemeinschaften der ,,Natur- und Heimatfreunde" gebe, deren Arbeit aber nur in wenigen Kreisen als gut bezeichnet werden könnte: "Diese Ags. setzten sich teilweise aus den ehern. Mitarbeitern alter Vereine, naturkundlicher Vereinigungen, Interessengruppen, älteren Lehrern, einigen Naturschützlern usw. zusammen, die nun in aller Stille eine längst überholte Vereinsmeierei neu aufbauen wollten. Eine positive Mitarbeit an den Problemen und Aufgaben unserer Regierung, den Wirtschaftsplänen usw. war kaum festzustellen und ist auch leider noch heute nicht erreicht worden"72 . Dabei war die Übernahme der Vereine zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal abgeschlossen. Bei der Überprüfung der neugebildeten Kreissekretariate in der zweiten Hälfte des Jahres 1951 fiel auch die Gesamtbilanz der bisherigen Kulturbund-Arbeit in Sachsen eher kritisch aus. Von den 22 Kreisen, zu denen Berichte vorliegen 73 , wurde die Arbeit in sieben Kreisen (Auerbach, Borna, Chemnitz, Aöha, Freiberg, Oelsnitz im Vogtland und Zwickau74) überwiegend positiv eingeschätzt, in fünf Gerhard Thümmler an Erich Feldbaus, 11. 6. 1951 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). Protokoll über die Sitzung der Landeskommission der "Natur- und Heimatfreunde" des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlandsam 15. Juni 1951 im Hause der Landesleitung Dresden, 21 . 6. 1951 (SächsHStA KB, Mappe 407, o.P.). 71 Auszugsweiser Bericht von der Besprechung der Landeskommission der Natur- und Heimatfreunde am 28. 8. 1951 in der Landesleitung des Kulturbundes, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.); Bericht über die Besprechung zum Arbeitsplan I . Quartal der Sektion Natur- und Heimatfreunde am 10. 12. 1951, [undatiert] (ebd.). n Bericht über die Arbeitsgemeinschaften der Natur- und Heimatfreunde im Lande Sachsen, 6. I. 1951 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 73 Zu den Kreisen Dresden, Glauchau, Hoyerswerda und Meißen fehlen entsprechende Berichte. 74 SächsHStA, KB, Mappen 19 u. 20. 69

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weiteren Kreisen (Bautzen, Görlitz, Grimma, Marienberg75 und Löbau76) wurde kritisiert, daß die Kulturarbeit jeden Bezug zur Politik vermissen ließ, und in den übrigen zehn Kreisen (Annaberg, Aue, Dippoldiswalde, Döbeln, Leipzig, Niesky, Oschatz, Rochlitz77 , Kamenz78 und Pima79) fiel das Urteil durchweg negativ aus. Auch zur Zeit dieser Überprüfungen konnte man noch nicht von einer flächendeckenden Gründung der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaften sprechen. Wo es sie schon gab, wurde ihre Tatigkeit auffallig positiv bewertet80• Neben spezifischen lokalen und individuellen Schwierigkeiten wurden in den meisten Berichten zwei Problemgruppen genannt, die eine politisch orientierte Kulturbund-Arbeit behinderten, zum einen die bereits erwähnten Schnitzer und zum anderen die Chöre und Laienspielgruppen. So schrieb die Kulturbund-Sekretärin Eva Blank in ihrem Bericht über den obererzgebirgischen Kreis Annaberg: ,,Die Mehrzahl der Ortsgruppen sind Schnitzergemeinschaften, die in den Kulturbund überführt wurden. Es ist in den Orten nicht gelungen, diese Schnitzergemeinschaften zu Kulturbundortsgruppen auszubauen"81 . Über den im Osterzgebirge gelegenen Kreis Dippoldiswalde berichtete ihr Kollege Erwin Volzke: "Der ehemalige Kreissekretär Nagel kam aus dem Arbeiter-Sängerbund und hat kulturpolitisch und politisch überhaupt keine Interessen gehabt. Er organisierte den Kulturbund als Gesangverein und Laienspielring" 82 • Wahrend die Schnitzer für den sächsischen Kulturbund ein unvermeidliches Übel blieben, verfolgten die Vertreter des Landessekretariats bei ihren Besuchen in Ebd. SächsHStA, KB. Mappe 81, o.P. 77 SächsHStA, KB, Mappen 19 u. 20. 78 SächsHStA, KB, Mappe 81 , o.P. 79 SächsHStA, KB. Mappe lOS. o.P. so Eva Blank: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Annaberg am 6. 8. 1951, [undatiert], S. I (SächsHStA, KB, Mappe 20, o.P.); Erwin Völzke: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Bautzen am 16. II. 1951, 2. 2. 1952 (ebd., Mappe 19, o.P.); Eva Blank: Bericht über die Überprüfung des Kreises Chemnitz am 27. 7. 1951, 28. 7. 1951, S. 3 (ebd., Mappe 20, o.P.); dies.: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Flöha am 27. 9. 1951, 8. 10. 1951 (ebd.); Fitzermann: Bericht - Überprüfung des Kreissekretariats Grimma am I. 9. 1951, [undatiert) (ebd.); Eva Blank: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Oelsnitz/Vgtl. am 2. 8. 1951, [undatiert] (ebd.); Erwin Völzke: Beric~t über die Überprüfung des Kreissekretariates Oschatz am 2. November 1951, 4. I. 1952 (ebd., Mappe 19, o.P.); Köhler: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Rochlitz am 20. II. 1951,29. II. 1951 (ebd.). 81 Eva Blank: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariats Annaberg am 6. 8. ~.951, [undatiert], S. 6 (SächsHStA, KB, Mappe 20, o.P.); vgl. Erwin Völzke: Bericht über die Uberprüfung des Kreissekretariates Marlenberg am 30. 10. 1951,4. I. 1952 (ebd., Mappe 19, o.P.). 82 Erwin Völzk.e: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariates Dippoldiswalde am 26. 10. 1951, 4. 1. 1952, S. 6 (SächsHStA, KB, Mappe 19, o.P.); vgl. ders.: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariates Marlenberg am 30. 10. 1951, 4. 1. 1952 (ebd.); ders.: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariates Niesky am 13. II. 1951, 8. I. 1952 (ebd.); Hugo Bergmann: Überprüfung des Kreises Plauen, [undatiert] (ebd., Mappe 20, o.P.). 75

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den Kreisen gegenüber den Chören und Laienspielgruppen eine Taktik, die sich 1952 in der ganzen DDR durchsetzte. Anläßlich ihres Besuchs im Kreissekretariat Chemnitz hieß es dazu in Blanks Bericht über die Ortsgruppe Hormersdorf: "In Hormersdorf besteht eine Schwäche, dass die Mitglieder des Kulturbundes sich fast nur aus Chormitgliedern eines schon seit früher bestehenden Chores zusammensetzen. Der Chor ist veraltet. Es wurde vorgeschlagen, dass eine neue Leitung der Ortsgruppe H. eingesetzt wird. Sollten sich die Chormitglieder weiter der kulturpolitischen Arbeit verschliessen, wird vorgeschlagen, den Chor in die Volksbühne zu überführen, um in H. eine vernünftige Kulturbundarbeit zu entwickeln"83. Diese Vorschläge stießen oft auf den Widerstand der Kulturbund-Kreissekretäre, die nicht zu Unrecht um den Bestand ihrer Ortsgruppen fürchteten 84 . Dennoch wurde Anfang 1952 von der Kulturbund-Bundesleitung - parallel zur Verselbständigung der Künstlerverbände - die Übergabe aller Chöre und Laienspielgruppen des Kulturbunds an die Deutsche Volksbühne, die FDJ oder den FDGB zum I. April 1952 angeordnet 85 . Wie das Landesleitungs-Mitglied Heinz Haschke bereits im November 1951 gewarnt hatte, drohte dadurch ein Mitgliederverlust von 30 Prozent86.Tatsächlich hatte der Kulturbund DDR-weit innerhalb der nächsten zwölf Monate einen Mitgliederrückgang um 17 Prozent zu verzeichnen. Dieser Negativtrend setzte sich bis 1955 fort 87 . Besonders hart traf er kleinere Ortsgruppen, die sich in vielen Fällen ganz auflösten. Rückblickend hieß es in einem Bericht von 1953 über die Ausgliederung der Chöre und Laienspielgruppen: "Einer Überführung in die Deutsche Volksbühne wurde fast in allen Fällen Widerstand entgegengesetzt. Versuche, Chöre, Laienspielgruppen usw. in Arbeitsgemeinschaften Musik und Theater umzubenennen und unter diesem Namen die alte Arbeit weiterzuleisten, fehlten nicht" 88 . In einigen Fällen wurde die Anordnung zur Übergabe der Chöre und Laienspielgruppen einfach ignoriert, oder diese Gruppen wurden nachträglich wieder in den Kulturbund aufgenommen 89 . 83 Eva Blank: Bericht über die Überprüfung des Kreises Chemnitz am 27. 7. 1951, 28. 7. 1951, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 20, o.P.). 84 Erwin Volzke: Bericht über die Überprüfung des Kreissekretariates Niesky am 13. II. 195 I. 8. I. 1952, S. 5 f. (SächsHStA, KB, Mappe 19, o.P.). 85 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 164; vgl. Notizen Eva Blanks auf der Tagesordnung der Landessekretärskonferenz am 16. I. 1952, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 22, o.P.); Entschließung der erweiterten Landesleitungssitzung zum Abschluß der Präsidialratssitzung vom 22. 2. 1952, 14. 3. 1952, S. 2 (ebd.). 86 Protokoll über die Landesleitungssitzung vom 22. II. 951 im Hause des Kulturbundes Dresden, [undatiert], S. 5 (SächsHStA, KB, Mappe 22, o.P.). 87 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 164. 88 Berichte des Bezirkssekretariats Dreden für die Berichterstattung an den IV. Bundestag über die Jahre 1951/52 und das I. Halbjahr 1953, (undatiert], S. I (SächsHStA, KB, Mappe 72, o.P.).

89 Günther Falke: Bericht über Instrukteureinsatz im Kreis Bautzen vom 15. bis 17. 9. 1952, [undatiert], S. 4 (SächsHStA, KB, Mappe 37, o.P.).

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Die Ausgliederung der Chöre und Laienspielgruppen vom April 1952 diente ganz offensichtlich dazu, die unerwünschten Folgen der Verordnung vom 12. Januar 1949 ruckgängig zu machen, um den eigentlichen politischen Aufgaben des Kulturbundes noch in irgendeiner Form gerecht werden zu können. Dasselbe Ziel verfolgte die intensivere ideologische Ausrichtung der Kulturbund-Arbeit mit den klassischen Instrumenten der "Anleitung" und "Kontrolle". Bezogen auf die ,,Natur- und Heimatfreunde" hatte schon der bereits erwähnte Bericht vom 6. Januar 1951 gefordert, "daß die Arbeit der NH auf breitester Basis gesteuert werden muß bzw. daß konkrete Aufgaben gestellt werden müssen"90. In der Praxis bedeutete das nicht nur für die ,,Natur- und Heimatfreunde", sondern für den gesamten Kuhurbund, daß die Landesleitung Rahmenarbeitspläne vorgab, die von den Kreisleitungen in Kreisarbeitspläne aufgeschlüsselt wurden, über deren Erfüllung die Kreissekretäre abschließend berichten mußten. Da die Arbeitspläne gerade in der Anfangsphase nur wenig mit der Realität in den Kreisen und Ortsgruppen zu tun hatten91 , darf der Effekt dieser Kontrollinstrumente nicht überschätzt werden. Die Bemühungen, den Kulturbund wieder zu seinen ursprünglichen Aufgaben zurückzuführen, müssen im Kontext der Neubestimmung seiner "Grundaufgaben" im Februar 1952 gesehen werden. In Reaktion auf das 8. ZK-Plenum der SED übte die Kulturbund-Bundesleitung Selbstkritik an der Fehlentwicklung des Kulturbunds zu einer "Allesbetreuer-Organisation"92 und beschloß auf der Präsidialratssitzung am 22. Februar 1952 vier neue "Grundaufgaben"93 . Zu diesen zählten 1. "die Sammlung der Intelligenz zur Lösung der großen kulturpolitischen Aufgaben" in der Auseinandersetzung mit "Kosmopolitismus, Formalismus und andere[n] zersetzende[n] Einflüsse[n] des amerikanischen Imperialismus", 2. "gesamtdeutsche Arbeit", 3. die "Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse unter der Bevölkerung und Hebung des kulturellen Niveaus" sowie 4. die ,,Pflege der Liebe zur Heimat durch Entwicklung der Natur- und Heimatfreunde"94 . Während die zweite und dritte "Grundaufgabe" auch von anderen Organisationen bearbeitet wurden, umrissen die Punkte I und 4 die originären Aufgaben des Kulturbunds. Indem sie die Zielgruppen festlegten, schrieben sie noch einmal den Spagat fest, der dem Kulturbund als "Organisation der Intelligenz" und Dachorganisation für heimat-und naturkundliche Aktivitäten zugemutet wurde. Obwohl ,,Intelligenz" und ,,Natur- und Heimatfreunde" in den "Grundaufgaben" vom Februar 1952 gleichberechtigt nebeneinander genannt worden waren•. mar90 Bericht über die Arbeitsgemeinschaften der Natur- und Heimatfreunde im Lande Sachsen, [6. I. 1951), S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 91 Hockauf (Kulturbund Zittau): Bericht über die Realisierung des Arbeitsplans III /51, 9. 10. 1951, S. 4 (SächsHStA, KB, Mappe 26, o.P.). 92 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 151. 93 Ebd., S. 151 f. 94 Erwin Völzke: Aktennotiz, 17. I. 1952 (SächsHStA, KB, Mappe 29, o.P.); vgl. Kurzprotokoll der Sitzung der Fachausschüsse Vorgeschichte, Denkmalpflege und Museen am 11. Januar 1952, [undatiert], S. 2 (ebd., Mappe 411, o.P.).

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kierte die Formulierung in Anbetracht der bisherigen Kulturbund-Arbeit bereits eine Aufwertung der ,,Intelligenz"-Werbung9 s. Diese Tendenz verstärkte sich infolge der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Mit dem darauffolgenden Präsidialratsbeschluß vom 19. September 1952 legte sich der Kulturbund klar auf den Marxismus und den Aufbau des Sozialismus sowie die Entwicklung eines sozialistischen Patriotismus und Staatsbewußtseins fest. Die Arbeit der ,,Naturund Heimatfreunde" wurde jetzt nur noch implizit erwähnt und damit die Funktion des Kulturbunds als "Organisation der Intelligenz" postuliert96 . In den programmatischen Arbeitsrichtlinien der ,,Natur- und Heimatfreunde"Organisation fand die politische Instrumentalisierung des Kulturbunds zwar auch ihren Niederschlag, aber die Formulierung ihrer Aufgaben blieb vergleichsweise vage. Im Zusammenhang der ersten Zentralen ,,Natur- und Heimatfreunde"Tagung vom November 1950 in Dresden entstand ein Programm der sächsischen ,,Naturund Heimatfreunde", das als Aufgaben "allgemein verständliche Naturwissenschaft (Naturkunde)", ,,Naturschutz und Landschaftspflege" sowie "Heimatkunde und Heimatgeschichte" nannte97 • Die unter den letzten beiden Punkten genannten Aktivitäten entsprachen dabei exakt den Tätigkeitsfeldern des traditionellen Heimatschutzes. Auf der zweiten Zentralen Konferenz am 13. und 14. Oktober 1951 in Quedlinburg faßte der mittlerweile zum Bundessekretär aufgestiegene Kar! Kneschke die Aufgaben der ,,Natur- und Heimatfreunde" noch einmal in 14 Punkten zusammen, auf die in der Folge immer wieder Bezug genommen wurde, die aber kaum Neues enthielten98 • In den "Grundaufgaben", die die sächsische Landeskommission der ,,Natur- und Heimatfreunde" am 15. Februar 1952 beschloß, spiegelte sich die beginnende Neuorientierung des Kulturbunds nur ansatzweise wider. Zu den Aufgaben der ,,Naturund Heimatfreunde" zählten demnach die "Popularisierung der Erkenntnisse der fortschrittlichen Natur- und Gesellschaftswissenschaften", die Mitwirkung am Nationalen Aufbauprogramm, die ,,Mitarbeit bei den Aufgaben des 5Jahrplanes", die Unterstützung der sächsischen Volkskunst sowie die "Erhaltung und Pflege des nationalen Kulturerbes". In Kontrast zu diesen eher auf Kontinuität bedachten Formulierungen stand die politische Forderung: "Eine der Hauptaufgaben der Naturund Heimatfreunde liegt darin, das grosse Kulturerbe des deutschen Volkes auf der wissenschaftlichen Grundlage des historischen Materialismus zu erkennen und zu erklären"99• Von einer Umsetzung der ideologischen Anforderungen in die Auf9S Bericht des Bezirkssekretariats Dresden für die Berichterstattung an den IV. Bundestag über die Jahre 1951/52 und das I. Halbjahr 1953, [undatiert], S. 16 (SächsHStA, KB, Mappe 72, o.P.). 96 Heider: Kulturbund (s. Anm. 3), S. 165. 97 Das umfangreiche Programm der Natur- und Heimatfreunde Sachsens, Entwurf, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 91 Zweite Konferenz der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 13./14. 10. 1951 in Quedlinburg (SächsHStA, KB, Mappe 408, o.P.).

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gaben der ,,Natur- und Heimatfreunde" konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Rede sein. Ein Wandel vollzog sich erst mit der li. Parteikonferenz und dem auf ihr beschlossenen ,,Zwickauer Plan", die Heimatgeschichte im Dienste des sozialistischen Patriotismus zu instrumentalisieren 100. So wurde in den ,,Arbeitsrichtlinien der Bezirkskommission Dresden der Natur- und Heimatfreunde für 1953" eine Orientierung der Arbeit an den Erkenntnissen des Marxismus verlangt. Wichtigstes Ziel der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeit sollte ihr Beitrag zum Bündnis zwischen Arbeitern, Bauern und Intelligenz sein, und als erste Aufgabe der "Natur- und Heimatfreunde" wurde formuliert: "Erforschung der Geschichte des deutschen Volkes und seiner revolutionären Traditionen zur Entwicklung eines demokratischen Patriotismus unter besonderer Berücksichtigung des Studiums der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" 101 . Trotz der wachsenden politischen Anforderungen und der zunehmenden Ideologisierung der Programmatik blieben die ,,Naturund Heimatfreunde"-Aufgaben aber auch 1953 noch relativ unbestimmt, was der Arbeit vor Ort beträchtlichen Spielraum ließ. Wie weit zu dieser Zeit die Realität "an der Basis" von den hehren Zielen der Kulturbund-Spitze entfernt war, sollen hier fünf charakteristische Beispiele aus dem Bezirk Dresden veranschaulichen. Mit einem "Intelligenz"-Anteil von gut 42 Prozent und nur knapp 12 Prozent ,,Natur- und Heimatfreunden" 102 kam die Kreisorganisation Dresden-Stadt dem Ideal einer "Organisation der Intelligenz" am nächsten, was sich aber nicht in einer Orientierung an den "Grundaufgaben" niederschlug 103 . So ließen die zahlreichen Arbeitsgemeinschaften und Veranstaltungen des Kulturbunds in Dresden jede Koordination oder politische Orientierung vermissen 104• Schwerpunkte der Arbeit waren Bemühungen um den Wiederaufbau der Stadt, die Wiederbelebung alter Dresdner Traditionen, wie der "Vogelwiese" und des weihnachtlichen "Striezelmarkts" 105 , sowie stadtgeschichtliche Vorträge, die sich größter Beliebtheit erfreuten Hl6. 99 Kulturbund-Landesleitung I Landeskommission Natur- und Heimatfreunde: Unsere Grundaufgaben für das Jahr 1952, [undatiert], BI. 4 (SächsHStA, KB, Mappe 407, o.P.). 100 Riesenberger: Heimatgedanke (s. Anm. 4), S. 323 f. 101 Arbeitsrichtlinien der Bezirkskommission Dresden der Natur- und Heimatfreunde für 1953, 12. 3. 1953, S. 1 (SächsHStA, KB, Mappe 415, o.P.). 102 Mitgliederaufschlüsselung Bezirk Dresden. Stand: 1. 9. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 103 Paul Meuter: Vorschlag für eine Änderung der Struktur des Kulturbundes in Dresden, 21. 9. 1953, S. 1 (SächsHStA, KB, Mappe 40, o.P.). 104 Auswertung der Überprüfung durch die Bezirksleitung am 21. Januar 1953,26. I. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 40, o.P.); Paul Meuter: Bericht über die Arbeit der Kreisleitung Dresden des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, 10. 6. 1953 (ebd.). tos Paul Meuter an den stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Stadtkreises Dresden Wagner, 7. 11. 1953 (SächsHStA, KB. Mappe 39, o.P.). 106 Paul Meuter I Kulturbund Dresden-Stadt: Politischer Monatsbericht - März 1954, 7. 4. 1954 (SächsHStA, KB, Mappe 40, o.P.); ders.: Politischer Monatsbericht-Mai 1954, 8. 6. 1954 (ebd.).

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Wenn das Kreisleitungsmitglied Otto Huniek den Dippoldiswalder Kulturbund im Oktober 1952 als "Organisation der Intelligenz und der Natur- und Heimatfreunde" bezeichnete 107, war das nicht mehr als eine leichte Verbeugung vor der ll. Parteikonferenz und dem Präsidialratsbeschluß vom 19. September 1952, denn im Kreis Dippoldiswalde dominierten die "Natur- und Heimatfreunde" in allen Ortsgruppen. Nach offiziellen Angaben zählten 76,5 Prozent der Mitglieder zu den ,,Natur- und Heimatfreunden" und 25,4 Prozent zur "Intelligenz" 108 • Die Arbeit des Kulturbunds konzentrierte sich folglich auf Heimatfeste, heimatkundliehe Vorträge, Heimatabende, Museumsarbeit und Wanderungen 109. Eine kulturpolitische Arbeit im Sinne der Bundesleitung war in Dippoldiswalde bis 1954 so gut wie nicht zu erkennenu 0 , und die Gewinnung der "Intelligenz" kam über erste Ansätze nicht hinaus lll. Ähnlich lagen die Verhältnisse im Kreis Löbau, der trotz seiner ländlichen Struktur an dritter Stelle der Mitgliederstatistik im Bezirk Dresden rangierte. Von den 1953 gemeldeten 2411 Mitgliedern gehörten gut 16 Prozent der "Intelligenz" und 57,5 Prozent den "Natur- und Heimatfreunden" an 112• Zu dieser Struktur schrieb ein Mitglied des Bezirkssekretariats nach einer lnstruktionsfahrt: ,,Noch nirgendwo während meiner Tatigkeit im KB habe ich es erlebt, dass die Natur- und Heimatfreunde eine so grosse Rolle spielen und der Kulturbund derart mit den Volkskunstgruppen verflochten ist wie im Kreis Löbau" 113 . Die Vernachlässigung der "Intelligenzarbeit" ging dabei so weit, daß der Kreisvorsitzende Karl Achtnich sich gezwungen sah, auf einer Kreisleitungssitzung im Mai 1953 einen Vortrag mit dem Titel zu halten "Warum brauchen wir die Intelligenz zur Mitarbeit im Kulturbund?"114 Die Schwerpunkte der Arbeit lagen entsprechend bei heimathistorischen Forschungen, Oberlausitzer Mundartpflege und der Veranstaltung großer Heimatfesteu5. 107 Kreisleitung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands: Protokoll über die Kreisaktivsitzung am 15. 10. 1952 in Dippoldiswalde, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 38, o.P.). 108 MitgliederaufschlüsseJung Bezirk Dresden. Stand: I. 9. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 109 Gerhard Thümrnler: Analyse des Kreises Dippoldiswalde im Bezirk Dresden, zusammengestellt am 12. II. 1952 (SächsHStA, KB, Mappe 38, o.P.). 11o Gerhard Thümmler: Instruktion am 23. Juli 1954 in Dippoldiswalde, 26. 7. 1954, S. 3 (SächsHStA, KB. Mappe 38, o.P.). 111 Thümmler an Waller Friedeberger, 30. 11. 1954, S. I (SächsHStA, KB, Mappe 38, o.P.}. 112 MitgliederaufschlüsseJung Bezirk Dresden. Stand: I. 9. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 113 Herbert Knospe: Kreis Löbau. Instrukteurfahrt vom 16. - 18. 9. 1952,22. 9. 1952, S. 4 (SächsHStA, KB, Mappe 81, o.P.). 114 Erwin Krämer [Kreissekretär]: Protokoll über die erweiterte Kreisleitungssitzung am 9. 5. 1953, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 81, o.P.}. 11 ' Erwin Krämer: Durchführung des Arbeitsplanes im Monat April 1953 der Kreisleitung Löbau, 13. 5. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe, 81, o.P.); [ders.]: Meine Ausführung zu der Kreisleitungssitzung am 12. 9. 1953, S. 2 (ebd.}; Rolf Sommer, Erwin Krämer u. Hans Lange:

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Obwohl in der Kreisorganisation Pima das Verhältnis zwischen "Intelligenz" und "Natur- und Heimatfreunden" fast ausgeglichen war 116, dominierten letztere fast in allen Ortsgruppen 117• Nach dem Urteil des Bezirkssekretariats degenerierte der Kulturbund in Pima zu einem "Alt-Männer-Verein" ohne kulturpolitische Interessen und mit abnehmender Resonanz 118 • Charakteristisch für die erfolglose "Intelligenzarbeit" im Kreis war die Aussage des zweiten Kreisvorsitzenden Albert Wetzig auf der Kreisdelegiertenkonferenz von 1952: .,Wir stehen jedesmal vor ähnlichen Fragen wie am Anfang der Kulturbundarbeit - Nachdem das anfängliche Interesse der Intelligenz einer Passivität und Resignation gewichen ist, müßte es heute heißen: Wie kommen wir wieder [Unterstreichung im Text; T.S.) an die Intelligenz heran?" 119 Die Kulturbund-Kreisorganisation Görlitz, die neben dem Stadtgebiet noch für den Kreis Niesky und einige Landgemeinden zuständig war, verzeichnete einen ähnlich hohen "Intelligenz"-Anteil wie Dresden 120• Das lag in Görlitz an der starken Konzentration auf die Werbung der ortsansässigen "Intelligenz" 121 , der insbesondere der Ende 1952 gegründete, DDR-weit erste "Klub der Kulturschaffenden" zugute kam. Obwohl die "Grundaufgaben" damit vorbildlich erfüllt wurden, verwies gerade der Klub auf ein weiteres Dilemma des Kulturbunds. Wenn es wirklich gelang, die "Intelligenz" für den Kulturbund zu gewinnen, konnte sie leicht ein solches Übergewicht gewinnen, daß an eine Steuerung der Kulturarbeit im Sinne des demokratischen Zentralismus erst recht nicht mehr zu denken war. In einer bürgerlich geprägten Stadt wie Görlitz mit einer Dominanz von CDU-Mitgliedem in der Kulturbund-Leitung 122, entwickelte sich der Klub fast unweigerlich zu einem exklusiven Refugium der bürgerlichen ,,lntelligenz" 123 • Der Klub fand Analyse über das Heimatfest in Ebersbach am 3., 4. und 5. August 1953, 4. 2. 1954 (ebd.); Erwin Krämer: Abschlußbericht zum Heimatfest in der Zeit vom 10. bis 13. 6. 1954 in Löbau, 18. 6. 1954 (ebd.). 116 MitgliederaufschlüsseJung Bezirk Dresden. Stand: l. 9. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 117 Gerhard Thümmler: Bericht über die Instruktionsfahrt am 22.9.- 24. 9. 1952 nach Pirna, 3. 10. 1952 (SächsHStA, KB, Mappe 105, o.P.). 118 Thümmler an Hering, I. 12. 1954 (SächsHStA, KB, Mappe 105, o.P.); Erich Sturm (Kreissekretär): Kulturpolitischer Monatsbericht für den Monat Dezember 1954, 8. l. 1955 (ebd.). 119 Erich Sturm: Protokoll der Kreisdelegierten-Konferenz Pirna am 18. 10. 1952, [undatiert], S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 105, o.P.). 12o MitgliederaufschlüsseJung Bezirk Dresden. Stand: l. 9. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 116, o.P.). 121 Ernst-Heinrich Lernper u. Herbert Knospe: Protokoll über die Kreisleitungssitzung am 20. I. 1954 im Haus der Kultur, [undatiert], S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 79, o.P.). 122 Erwin Völzke: Aktennotiz über Instrukteureinsatz zur Vorbereitung der Volkswahl, Görlitz am 18. 9. 1954, 18. 10. 1954, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 79, o.P.). m Erwin Völzke: Einschätzung der Arbeit des Kulturbundes im Kreis Görlitz und Bericht über die Kreisleitungssitzung am 20. 1. 1954, 28. l . 1954, S. 3 f. (SächsHStA, KB, Mappe 79, o.P.); ders. an Emmy Strauß, 23. 11. 1954, S. 2 (ebd.).

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letztlich gerade deshalb so großen Anklang bei der Görlitzer ,.Intelligenz", weil er im Gegensatz zum Kulturbund völlig unpolitisch war124• Die Kehrseite der ,.IntelIigenzarbeit" in Görlitz war die völlige Vernachlässigung der ,,Natur- und Heimatfreunde", die erst 1954 zu Arbeitsgemeinschaften zusammengefaßt wurden, nachdem sie bis dahin von der Kulturbund-Kreisleitung unbehelligt ihr Eigenleben entfaltet hatten 125 • Ein gänzlich anderes Bild als in Görlitz bot sich im Umland und im Kreis Niesky, wo mit insgesamt nur 116 Mitgliedern so gut wie keine Kulturbund-Arbeit zu verzeichnen war126. In den Landgemeinden um Görlitz lebten Chöre und Laienspielgruppen fort, als hätte es den Beschluß vom Februar 1952 nie gegeben. Von kulturpolitischen Ansätzen im Sinne der Bundesleitung fehlte hier jede Spur 127• Resümierend läßt sich feststellen, daß die Kulturbund-Arbeit Anfang der fünfziger Jahre selbst in Städten wie Dresden, Bautzen und Görlitz kaum durch die ,.Grundaufgaben" der Bundesleitung bestimmt wurde. Die häufigsten Mängel, die vom Bezirkssekretariat angeführt wurden, waren fehlende ,.kulturpolitische" Ausrichtung und Vernachlässigung der ,.Intelligenz". Gelang deren Werbung für den Kulturbund wie in Görlitz, behinderte sie eine klare ,,kulturpolitische" Orientierung des Kulturbunds eher, als daß sie sie förderte. In den meisten Kreisen und Ortsgruppen, einschließlich mittelgroßer Städte wie Bautzen, dominierten die Arbeitsgemeinschaften der ,.Natur- und Heimatfreunde", die, anstatt das angeblich überlebte Vereinswesen zu überwinden und die kulturinteressierten Laien für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen, ihren Hobbies nachgingen und ein weitgehend unpolitisches Eigenleben führten 128 . Allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz war der Kulturbund in den frühen fünfziger Jahren alles andere als eine ,.Organisation der Intelligenz".

124 Hermine Lernper [Klubsekretärin] an Erwin Völzke, 5. 4. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 114, o.P.); Bernd Lohaus u. Erwin Völzke: Extrakt der Besprechung im Kreissekretariat Görlitz am 5. 4. 1955, 6. 4. 1955, S. 2 (ebd., Mappe 96, o.P.); Ernst-Heinrich Lemper: Die allgemeine Situation des Kulturbundes in Görlitz, 23. 4. 1955, S. 4 (ebd.); Bernd Lohaus: Aktennotiz, 22. 6. 1955 (ebd., Mappe 95, o.P.). m Ernst-Heinrich Lemper: Protokoll der Kreisleitungssitzung vom 12. II. 1954, [undatiert], S. 1 (SächsHStA, KB. Mappe 79); Bericht über die Instrukteurfahrt am 22. 9. 1952 nach Görlitz. Instrukteure: V61zke u. Dießner, 29. 9. 1952, S. 12 (ebd.). 126 Herber! Knospe: Bericht über die Vorstandssitzung in Niesky am 31 . 3. 1954, 2. 4. 1954 (SächsHStA, KB, Mappe 79, o.P.); Erwin Völzke: Bericht über die Vorstandssitzung des Kreises Niesky am 5. 4. 1954, [undatiert] (ebd., Mappe 84, o.P.). 127 Erwin Volzke: Bericht über den zweiten Besuch der Kreisleitung Görlitz am 3. und 4. Oktober 1952 durch Koll. Völzke, II. 10. 1952 (SächsHStA, KB. Mappe 79, o.P.); Herber! Knospe: Aktennotiz [über eine Vorstandssitzung in Rothenburg], 27. 4. 1954 (ebd.). 12s Vgl. Oberkrome: Heimatschutz (s. Anm. 67). S. 435.

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IV. Der IV. Bundestag des Kulturbunds Bundes- und Bezirksleitungen machten sich keine IJJusionen über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Kulturbund und unternahmen daher nach der II. Parteikonferenz erneute Anstrengungen, den Kulturbund auf eine "Organisation der Intelligenz" zurechtzustutzen. Verstärkte Bemühungen um die "Intelligenz gingen dabei Hand in Hand mit dem Versuch, die "Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung im Kulturbund zu marginalisieren. Die offizielle Begründung für diesen Schritt war die "Verleihung größerer Selbständigkeit" an die ,,Naturund Heimatfreunde" als Ausdruck der Anerkennung für ihre Leistungen. Tatsächlich ging es der Bundesleitung darum, die starke Stellung der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaften in den Ortsgruppen durch die Verordnung einer sehr begrenzten Autonomie zu brechen, den Kulturbund zu seinem ursprünglichen Profil einer "Organisation der Intelligenz" zurückzuführen und ihn damit für die "Intelligenz" attraktiver zu machen 129• Auch wenn diese Vorschläge von einigen ,,Natur- und Heimatfreunde"-Organisationen begrüßt wurden und der Antrag auf eine "Verselbständigung" von den ,,Natur- und Heimatfreunden" an den IV. Bundestag des Kulturbunds gerichtet wurde 130, ist doch nicht zu übersehen, daß die Initiative von der Kulturbund-Bundesleitung ausging und nicht von der ,,Naturund Heimatfreunde"-Bewegung 131 • Die Behauptung von Bundessekretär Kneschke, daß die ,,Natur- und Heimatfreunde" die Verselbständigung wünschten, weil sie sich "in einer Reihe von Ortsgruppen unterdrückt" fühlten 132, stellte die Verhältnisse nachgerade auf den Kopf. Die zunächst eher diffuse Idee einer "Verselbständigung" der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaften orientierte sich am Status, den die Künstlerverbände zwischen 1950 und 1952 im Kulturbund innegehabt hatten, und sah einerseits eigene Leitungen und begrenzte finanzielle Autonomie, andererseits eine Oberaufsicht der Kulturbund-Leitungen vor. Nachdem schon das seit 1952 propagierte Selbstverständnis des Kulturbunds als "Organisation der Intelligenz" unter den Mitgliedern einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, bestärkte der "Verselbständigungs"-Vorschlag bei den meisten von ihnen den Eindruck, daß nach den Chören und Laienspielgruppen nun auch die "Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaften aus dem Kulturbund abgedrängt werden sollten 133 . 129 Gerhard Thümmler an Walter Friedeberger, 30. II. 1954, S. 2 (SächsHStA , KB, Mappe 38, o.P.)- Nikola Knoth (Naturschutz, s. Anm. 0.37, S. 460f.) verweist auf Überlegungen der Bundesleitung von 1960, die exakt in dieselbe Richtung zielten. no Antrag der Natur- und Heimatfreunde an den IV. Bundestag, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 70, o.P.). 131 Zu anderen Ergebnissen kommen Riesenherger (s. Anm. 4, S. 325), Heider (s. Anm. 3, S. 185) und die Verfasser des Bandes "Wurzeln der Umweltbewegung" (s. Anm. 4, S. 35), die sich alle stark an die offizielle Darstellung der Vorgänge anlehnen. 132 Gensior: Bericht über die Kreisdelegiertenkonferenz am I. November 1953 der Kreisleitung Dresden des Kulturbundes im Klubhaus, [undatiert], S. 32 (SächsHStA, KB, Mappe 39, o.P.).

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Da die Bundesleitung die "Verselbständigung" vom IV. Bundestag im Februar 1954 beschließen lassen wollte, stand die Frage nach Sinn und Zweck des Kulturbunds im Mittelpunkt aller Sitzungen und Konferenzen des Jahres 1953. Kritik an den Vorschlägen der Bundesleitung kam nicht nur aus den ländlichen Kreisen und Ortsgruppen mit einem hohen Mitgliederanteil der "Natur- und Heimatfreunde", sondern auch aus städtischen Kulturbund-Gruppen. Die häufigsten Argumente, die gegen eine Definition des Kulturbunds als "Organisation der Intelligenz" vorgebracht wurden, waren das offenkundige Desinteresse der "Intelligenz" an der Kulturbund-Arbeit, die existentielle Gefährdung der kleinen Ortsgruppen und vorrangig die Sorge um die zukünftige Stellung der "Natur- und Heimatfreunde"-Organisation1 34. Die Vertreter des Bezirkssekretariats versuchten zwar, den verunsicherten Mitgliedern, die Vorschläge der Bundesleitung verständlich zu machen, erkannten aber erstaunlich offen die Bedeutung der "Natur- und Heimatfreunde"-Organisation für den Kulturbund an. Charakteristisch für diese Haltung ist ein Brief, den der Bezirkssekretär Gerhard Dießner an die kleine Ortsgruppe Elstra im Kreis Kamenz richtete, zu deren 63 Mitgliedern nur drei "Intelligenzler" zählten, die nach Auskunft der Ortsgruppe nicht einmal "zu positiver Mitarbeit" bereit

m Bernd Lohaus: Zwischenbericht über laufende Diskussionen zum Begriff "Intelligenz", 12. 11. 1953, S. 1 (SächsHStA, KB, Mappe 115, o.P.). 134 Erwin Völzke: Bericht über die außerordentliche Mitgliederversammlung am 4. 11. 1953 der Ortsgruppe Bautzen, 23. II. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 37, o.P.); ders.: Kurzbericht über die Kreisdelegiertenkonferenz in Dresden-Land am 15. II. 1952, 21. II . 1952 (ebd., Mappe 40, o.P.); Alfred Fellisch: Protokoll über die ausserordentliche Mitgliederversammlung. Radeheul 2. 10. 1953, [undatiert] (ebd.); Gerhard Dießner: Bericht über die Kreisdelegiertenkonferenz Kreis Dresden-Land am 17. II. 1953, II. 12. 1953 (ebd.); Protokoll über die Kreisdelegierten-Konferenz Dresden Land am 17. November 1953 in Radeheul, [undatiert], S. I (ebd., Mappe 52, o.P.); Ehrhardt/Ortsgruppe Elstra an die KulturbundLandesleitung [!) Dresden, 12. 10. 1953 (ebd., Mappe 81, o.P.); Herbert Knospe: Kreis Löbau. Instrukteureinsatz vom 16.-18. 9. 1952, 22. 9. 1952, S. 2 (ebd.); Erwin Krämer: Bericht über die bisher durchgeführten Mitgliederversammlungen in den Ortsgruppen Obercunnersdorf und Herrnhut, Löbau, 13. 10. 1953 (ebd.); ders.: Protokoll über die Kreisleitungssitzung [Kreis Löbau] am 27. 10. 1953, [undatiert] (ebd.); ders.: Politischer Monatsbericht für den Monat Oktober 1953 der Kreisleitung Löbau, II. II. 1953, S. 2 (ebd.); Erwin Volzke: Bericht Reichenbach- Niesky [22. 9. 1952], 29. 9. 1952 (ebd., Mappe 84, o.P.); Szymanski: Protokoll über die Kreisdelegierten-Konferenz des Kulturbundes am 21. II. 1953 in Dippoldiswalde, 28. II. 1953, S. 8-12 (ebd., Mappe 51 , o.P.); Gerda Friebe: Kreisdelegierten-Konferenzdes Kulturbunds Freital am 27. November 1953 in Freital, [undatiert], BI. I (ebd., Mappe 52, o.P.); Werner Schönemann: Rechenschaftsbericht zur Kreisdelegierten-Konferenzdes Kulturbunds in Großenhain am I. 12. 1953, [undatiert], S. 22 (ebd.); Lindner: Protokoll über die Kreisdelegiertenkonferenz des Kulturbundes am 21. II. 1953 im Kreissekreatriat Löbau, 3. 12. 1953, S. 2 (ebd.); KB Pirna: Entschließung zu dem Tagesordnungspunkt 2 der Kreisdelegiertenkonferenz am 28. November 1953 "Die Neufassung der Grundaufgaben des Kulturbunds z.d.E.D.", [undatiert], S. 2 (ebd.); Protokoll der ausserordentlichen Kreisdelegiertenkonferenz des Kulturbundes, Kreis Riesa am II. 12. 1953, [undatiert] (ebd.); Kurt David [Kulturbund-Kreissekretär in Zittau]: Rechenschaftsbericht [zur Kreisdelegiertenkonferenz am 9. 12. 1953, undatiert]. S. 8 f. (ebd.).

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waren 135 • In seiner Antwort schrieb Dießner: "Ihre Sorge bezügl. der Unklarheit unserer Mitglieder in den kleineren Ortsgruppen, ob sie weiterhin im Kulturbund bleiben und tätig sein könnten, sind die Sorgen der meisten Ortsgruppen. Hierzu möchte ich Ihnen jedoch erklären, dass die Grundaufgaben unserer Organisation besagen, der Kulturbund sei die Organisation der Geistesschaffenden und Kulturinteressierten. In der vergangenen Arbeit unserer Organisation wurde jedoch zu stark die Arbeit auf die Kulturinteressierten abgestimmt und die erstere Gruppe, nämlich die Kulturschaffenden, die Intellektuellen vernachlässigt. Deshalb begann der Kulturbund seit Ende vorigen Jahres seine Aufmerksamkeit, vor allem die Werbung, der Intelligenz zuzuwenden und verfiel dabei in jenes andere Extrem: den noch heute weit grösseren Teil unserer Mitglieder, die Kulturinteressierten, kaum noch zu beachten. Nach wie vor wird der Kulturbund jene Organisation bleiben, die Geistesschaffende und Kulturinteressierte in ihren Reihen vereinigt. Es gilt in der zukünftigen Arbeit ein gesundes Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen wieder herzustellen" 136. Diese vorsichtige Distanzierung von den Vorstellungen der Bundesleitung war nicht nur die abweichende persönliche Meinung eines Bezirkssekretärs, sondern wurde auch von seinen Kollegen öffentlich vertreten 137 . Im Vorfeld des IV. Bundestages wandte sich das Dresdner Bezirkssekretariat sowohl gegen die "Verselbständigung" der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Bewegung138 als auch gegen die einseitige Definition des Kulturbunds als "Organisation der Intelligenz". In beiden Punkten konnten zumindest Teilerfolge erzielt werden. Hatten erste Entwürfe der neuen "Grundaufgaben" die Zielgruppen des Kulturbundes mit den Worten umschrieben "vor allem die Angehörigen der Intelligenz, aber auch Angehörige anderer Berufe, die an der Pflege einer volksverbundenen Kultur mitarbeiten" 139, so lautete der Gegenvorschlag aus Dresden "die Angehörigen aller Berufe, die an der Pflege und Weiterentwicklung einer nationalen, humanistischen Kultur arbeiten, vor allem die Angehörigen der Intelligenz'" 40. Im Kompromiß, 135 Ehrhardt/Ortsgruppe Elstra an die KB-Landesleitung [!) Dresden, 12. 10. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 81, o.P.). 136 Gerhard Dießner an die Ortsgruppe Elstra, 21. 10. 1953 (SächsHStA, KB, Mappe 81, o.P.); vgl. Erwin Krämer: Protokoll über die erweiterte Kreisleitungssitzung [Kreis Löbau] am 12. 9. 1953 [Äußerungen Dießners] (ebd.). 137 Protokoll über die erweiterte Kreisleitungs-Sitzung des Kulturbundes Großenhain am 14. 8. 1953, [undatiert], S. I [Stellungnahme von Bemd Lohaus) (SächsHStA, KB, Mappe 80, o.P.); Gerda Friebe: Kreisdelegierten-Konferenz des KB Kreis Freital arn 27. November 1953 in Freital, [undatiert], BI. 3 [Stellungnahme Gerhard Thümmlers) (ebd., Mappe 52, o.P.); Lindner: Protokoll über die Kreisdelegiertenkonferenz des Kulturbundes arn 21 . II. 1953 im Kreissekretariat Löbau, 3. 12. 1953, S. 2 f. [Äußerung Thümmlers) (ebd.). 138 Erwin Vdlzke: Vorlage des Bezirkssekretariats Dresden des Kulturbunds z.d.E.D. für den Arbeitsausschuß der Bezirksleitung zu Fragen der Natur- und Heimatfreunde, 13. II. 1953, S. I (SächsHStA, KB, Mappe 57, o.P.). 139 Grundaufgaben des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Entwurf [Diskussionsgrundlage für die Präsidialratssitzung am 24. 9. 1953 mit Korrekturen), S. 3 (SächsHStA, KB, Mappe 55, o.P.). 140 Ebd.

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der schließlich vom IV. Bundestag angenommen wurde, hieß die Formulierung "die Intelligenz und solche Angehörige anderer Berufe, die an der Entwicklung einer nationalen und demokratischen Kultur mitarbeiten" 141 . Was die umstrittene "Verselbständigung" der ,,Natur- und Heimatfreunde" anbelangte, war im Antrag an den Bundestag nur noch die Rede von größerer "Selbständigkeit". Wie eng diese "Selbständigkeit" gefaßt war, macht der entscheidende Passus des Antrags deutlich. Nachdem - unter offenkundiger Verdrehung der Tatsachen - die Wahl eigener Leitungen mit dem Wunsch nach "einer noch stärkeren Entwicklung der Natur- und Heimatfreunde-Bewegung" begründet worden war, hieß es weiter: "Damit wird ihnen im Rahmen ihrer Aufgaben und Arbeitsrichtlinien eine größere Verantwortung übertragen. Die Leitungen des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands haben die Aufsichtspflicht über die Leitungen der Natur- und Heimatfreunde und können deren Beschlüsse aufheben, wenn diese den Grundaufgaben und Satzungen des Kulturbundes entgegenstehen"142. Dadurch war auch die finanzielle Autonomie der "Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaften begrenzt. Vergleicht man die Zerreißprobe des Kulturbunds im Vorfeld des IV. Bundestags mit den gefaßten Beschlüssen, so standen Kosten und Resultat in keinem Verhältnis zueinander. Das grundsätzliche Dilemma des Kulturbunds, daß er zwei Komponenten unter seinem Dach vereinigen sollte, die wenig miteinander zu tun hatten und die beide nur in Maßen an den kulturpolitischen Vorgaben der Bundesleitung interessiert waren, ließ sich durch die Kompromißlösung von 1954 nicht aus der Welt schaffen.

V. Der Kulturbund nach dem IV. Bundestag Wenn es mit den Beschlüssen des IV. Bundestages auch nicht gelungen war, die ,,Natur- und Heimatfreunde" im Kulturbund zu marginalisieren, so hatten die Entscheidungen doch Einfluß auf die Zusammensetzung der Leitungen und die Auswahl von Delegierten. Mit der Begründung, daß die ,,Natur- und Heimatfreunde" demnächst eigene Leitungen wählen würden, hatten die Vertreter des Dresdner Bezirkssekretariats schon im Herbst 1953 darauf gedrungen, daß "möglichst keine Mitglieder der Natur- und Heimatfreunde in die neuen Orts- und Kreisleitungen" gewählt werden sollten 143 . Bei der Aufstellung der Liste zur Kreisdelegierten141 Entwurf des Präsidialrats. Grundaufgaben des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, [undatiert], S. I (SächsHStA, KB, Mappe 55, o.P.). 142 Antrag der Natur- und Heimatfreunde an den IV. Bundestag, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 70, o.P.). 143 Erwin Krämer: Protokoll über die erweiterte Kreisleitungssitzung am 12. 9. 1953, [undatiert], S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 81, o.P.); R. Kirsch: Beschlußprotokoll der Bezirkssekretärkonferenz am 13. II. 1953 in Berlin, 27. II. 1953, S. 2 [Äußerung Karl Kneschkes] (ebd., Mappe 56, o.P.).

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konferenz in Bautzen war daher schon die ketzerische Frage gestellt worden, "wo unter diesen Delegierten die Arbeiterschaft vertreten sei. Es würde sich nur um Intellektuelle handeln, obwohl im Rechenschaftsbericht des Vorsitzenden bekanntgegeben worden wäre, daß 2 I 3 aller in Bautzen organisierten Mitglieder der Arbeiterschaft angehören" 144. Dieses offenkundige Mißverhältnis, das im Kulturbund nicht neu war, sich aber seit 1953 verschärfte, setzte sich analog bis zur Zusammensetzung der Delegierten zum IV. Bundestag fort 145. Auf der Ebene der Ortsleitungen blieben die Bemühungen der Bundesleitung allerdings so gut wie bedeutungslos, da - mit Ausnahme Dresdens und weniger anderer Orte - selbst unter Aufbietung aller vorhandenen Lehrer nicht genügend Vertreter der "Intelligenz" vorhanden waren, um die Leitungsposten zu übernehmen. Folglich bildeten sehr oft Angestellte, Arbeiter, Handwerker und Kaufleute die Mehrheit der Leitungsmitglieder146. Einen Sonderfall stellten diejenigen Ortsgruppen dar, in denen Kulturbund und "Natur- und Heimatfreunde"-Arbeitsgemeinschaft quasi identisch waren, und wo ganz auf die Wahl gesonderter Kulturbund-Leitungen verzichtet wurde. Wie weit die Bemühungen der Kulturbund-Spitze nach dem IV. Bundestag gingen, den Kulturbund als "Organisation der Intelligenz" zu präsentieren, veranschaulicht beispielhaft die Dresdner Kundgebung zum zehnjährigen Bestehen des Kulturbunds am 24. Juni 1955, zu der sich Otto Grotewohl angekündigt hatte. In seiner offiziellen Einladung hatte der Dresdner Bezirksvorsitzende Karl Laux dem Regierungschef eine "Kundgebung der Intelligenz für die Politik unserer Regierung" 147 versprochen, was die Mehrheit der Kulturbund-Mitglieder praktisch von der Teilnahme an der Jubiläumsveranstaltung ausschloß. Das Bezirkssekretariat löste dieses Problem mit einem Kunstgriff, indem es Grotewohls Wunsch nach der Teilnahme von Angehörigen der Intelligenz aus Schwerpunktbetrieben des Bezirks 148 zum Vorwand nahm, fast ausschließlich Vertreter der "technischen Intelligenz" einzuladen, einer im Kulturbund äußerst raren Spezies. Das führte zu der paradoxen Situation, daß sich die 900köpfige Zuhörerschaft Grotewohls überwiegend aus Teilnehmern zusammensetzte, die mit dem Kulturbund auch entfernt nichts zu tun hatte 149. Die Außenwirkung zählte flir die Kulturbund-Funktionäre in diesem Fall mehr als die Verärgerung der eigenen Mitglieder 150. 144 Bemd Lohaus: Zwischenbericht über laufende Diskussionen zum Begriff "Intelligenz", 12. II. 1953, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 115, o.P.). 145 [Delegierte zum IV. Bundestag 1954, undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 70, o.P.). 146 [Kreis- und Ortsleitungen 1956, undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 76, o .P.). 147 Kar! Laux an Otto Grotewohl, 7. 4. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 86, o.P.). 148 Erwin Volzke an die Kulturbund-Kreisleitungen, 31. 5. 1955, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 86, o.P.). 149 [Unterlagen zur Nominierung ftir Kundgebung am 24. 6. 1955, undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 85, o.P.). •so Alfred Fellisch an die Bezirksleitung, 15. 6. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 86, o.P.); Erwin Völzke an Fellisch, 21. 6. 1955, S. I (ebd.).

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An der "Basis" konnte von einer einschneidenden Veränderung der KulturbundArbeit nach dem IV. Bundestag nicht die Rede sein. Wie ein Blick in die Berichte über die einzelnen Kreise und Ortsgruppen im Bezirk Dresden zeigt, nahmen die Dominanz der ,,Natur- und Heimatfreunde"-Aktivitäten und das Desinteresse an den kulturpolitischen Vorgaben der Bundes- und Bezirksleitung eher noch zu. Jeweils zwei städtische und zwei ländliche Beispiele mögen das verdeutlichen. Das Profil der bereits erwähnten Kreisorganisation Dresden-Stadt wurde auch nach 1954 durch ein breites Veranstaltungsangebot mit vielen stadtgeschichtlichheimatkundlichen Vorträgen und musikalischen Aufführungen geprägt. Daß sich bei der Lesestunde zum ,,Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft" im November 1955 nur ein Interessent einfand und ein Vortrag über Friedrich Engels mangels Teilnehmern ganz ausfiel, während zu den Vorträgen "Von Pillnitz bis zum großen Winterberg" und "Von Plauen und dem Plauenschen Grund" mehr als 100 Besucher strömten 151 , war für die Kulturbund-Arbeit in Dresden ebenso bezeichnend wie die unentwegten Klagen der Kulturbund-Funktionäre über das fehlende kulturpolitische Engagement 152• Im Januar 1956 kommentierte ein Bezirkssekretär das Dresdner Veranstaltungsangebot mit den Worten: "Wenn man sich die Veranstaltungsmeldungen der Stadtbezirke anschaut, hat man den Eindruck, als wenn nie eine Kreisleitung oder gar Bezirksleitung auch nur einen Ton über Kulturpolitik und ihren Ausdruck in der Programmgestaltung der Stadt Dresden gesagt habe. Ist nun tatsächlich von der Kreisleitung derartiges nie an die Stadtbezirke weitergegeben worden, oder handelt es sich um einen organisierten ,passiven Widerstand' aller Stadtbezirke, da auch nicht einer mit einem einzigen Thema zu kulturpolitischen Fragen spricht. Von der Themenstellung der Arbeitsgemeinschaften soll gar nicht erst gesprochen werden" 153 • Diese Arbeitsgemeinschaften und Fachgruppen führten in Dresden weitgehend ein Eigenleben und waren faktisch nur lose an den Kulturbund angeschlossene Vereine 154 . Auch die Werbung der Intelligenz blieb nach wie vor ein Manko des Dresdner Kulturbunds155. Im Vergleich zu Dresden gab es für das Bezirkssekretariat an der Freitaler Kulturbund-Leitung nichts auszusetzen. Die SED verfügte in der Kreisleitung über 151

o.P).

Dresden-Stadt- Monat November 1955, [undatiert], S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 93,

152 Schramme!: Einschätzung der Arbeit im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung. Kreis Dresden, im November 1955, 28. 12. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 93, o.P.); Kreis Dresden-Stadt - Dezember 1956, [undatiert], S. 2 (ebd.). 153 Kreis Dresden-Stadt- Januar 1956, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 122, o.P.). 154 Roßbach: Bericht über Instrukteureinsatz Dresden-Stadt am 28. 6. 1956, 9. 7. 1956 "vertraulich" (SächsHStA, KB, Mappe 122, o.P.). ISS Martin Läuter: Die Kunststadt Dresden und die Aufgaben des Kulturbundes [Referat auf der Kreisdelegiertenkonferenz am 22. 5. 1954 in Dresden, undatiert], S. 15 f. (SächsHStA, KB, Mappe 51, o.P.); Stadtbezirksgruppe Dresden IV: Tätigkeitsbericht der Ortsgruppen1eitung, Dezember 1956 (ebd., Mappe 123, o.P.).

Der Kulturbund als Heimatverein?

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eine klare Mehrheit, und der Kreissekretär Bruno Peter entfaltete eine geradezu hektische Betriebsamkeit 156. Die Versuche des Kreissekretärs, den KulturbundVeranstaltungen einen politischen Stempel aufzudrucken, liefen jedoch oft ins Leere 157 . Nach einer aufwendig inszenierten Kulturwoche zum zehnjährigen Jubiläum des Kulturbunds mußte Peter selbstkritisch einräumen: "Leider wurde nicht erreicht, daß alle Einwohner die notwendige Anteilnahme bewiesen. Dabei ist festzustellen, daß hier die politische Betonung der Kulturwoche bei einem großen Teil eine bestimmte Rolle gespielt hat" 158 • Auch nach 1954 erschöpften sich die Kulturbund-Aktivitäten im Kreis Freital zumeist in unpolitischer ,,Natur- und Heimatfreunde"-Arbeit159. Im Kreis Bischofswerda zeichnete sich der Kuturbund durch die große Beliebigkeil seines Veranstaltungsprogramms aus, das von Vorträgen zur Verkehrssicherheit über Heimatabende bis zu Aufführungen Kulturbund-eigener Volkschöre reichte 160. Bezeichnend für das kulturpolitische Engagement der Kulturbund-Ortsgruppen war die Reaktion auf den Vorwurf eines Bürgermeisters, der Kulturbund leiste zu wenig "gesellschaftliche Arbeit": "Wir sind dazu da, die kulturellen Aufgaben zu lösen, die gesellschaftliche Erziehungsarbeit ist Sache der Partei" 161 . Um dem kulturpolitischen Desinteresse entgegenzuwirken, verfiel die Kulturbund-Ortsgruppe Bretnig sogar auf den ungewöhnichen Einfall, "eine Frauen-Gruppe mit Strickabend mit kulturpolitischem Vortrag" ins Leben zu 156 Kreis- und Ortsleitungen [1956, undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 76, o.P.); Bruno PeteriOrtsgruppe Karsdorf: Bericht der Ortsgruppenleitung, Januar 1955, 7. 2. 1955 (ebd., Mappe 98, o.P.); Arbeitsplan der Ortsgruppe Karsdorf des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, [undatiert] (ebd.); Bruno Peter I Kulturbund Freital: Zusammenfassung des statistischen Berichtes, März 1955, [undatiert] (ebd.); ders.IOrtsgruppe Karsdorf: Bericht der Ortsgruppenleitung, Juli 1955, 3. 8. 1955 (ebd.)- Peter war sowohl Kreissekretär in Freital als auch Ortsgruppenvorsitzender in Karsdorf. 157 Bruno Peter I Ortsgruppe Karsdorf: Bericht der Ortsgruppenleitung, Mai 1955, 3. 6. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 98, o.P.). 158 Bruno Peter I Ortsgruppe Karsdorf: Bericht der Ortsgruppenleitung, Juli 1955, 3. 8. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 98, o.P.). 159 Ortsgruppe Tharandt: Jahresbericht für 1955, [Eingang: 12. 4. 1956], S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 98, o.P.); [Bezirkssekretariat Dresden]: Freital [September 1955, undatiert] (ebd.); [Bezirkssekretariat Dresden]: FreitaL Monat Oktober 1955, [undatiert] (ebd.). 160 Kulturbund-Ortsgruppe Schönfeld: Veranstaltungs- und Versammlungstätigkeit, Januar 1955, 4. 2. 1955 (SächsHStA, KB, Mappe 92, o.P.); Wilhelm Schlothauer: Tatigkeitsbericht der Ortsgruppe Bischofswerda des Kulturbunds über das Jahr 1954, [undatiert] (ebd.); Rudolf Langhammer I Ortsgruppe Neukirch: Bericht der Ortsgruppenleitung, Januar 1956, 2. 2. 1956, S. 2 (ebd., Mappe 120, o.P.); Kulturbund-Ortsgruppe Steinigtwolmsdorf: Betr. Kreisdelegierten-Konferenz lt. Schreiben v. 4. u. 7. 4. 1955, 14. 4. 1955 (ebd., Mappe 92, o.P.); Alfred Klemm I Kulturbund Bischofswerda: Protokoll (Abschrift) von der am Dienstag, den 13. März 1956 im Kreissekretariat stattgefundenen erweiterten Kreisleitungssitzung, [undatiert], S. 3 (ebd., Mappe 120, o.P.). 161 Bericht über die Jahreshauptversammlung der Ortsgruppe Bretnig vom 7. 4. 1955, 11. 4. 1955, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 92, o.P.).

25 Timmermann

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rufen 162 • Die Werbung der "Intelligenz" blieb bei diesen Aktivitäten weitgehend auf der Strecke 163 • Der Kulturbund im Kreis Dippoldiswalde, der schon vor 1954 eine Domäne der ,,Natur- und Heimatfreunde" gewesen war, entwickelte sich dank intensiver Mitgliederwerbung 1955 I 56 fast vollständig zur "Natur- und Heimatfreunde"-Organisation 164. Nach Angaben des Vorsitzenden der Kreiskommission der ,,Natur- und Heimatfreunde" Kurt Klaus waren 1955 92 Prozent der Kulturbund-Mitglieder ,,Natur- und Heimatfreunde'" 65 , was die Kreisleitung im September desselben Jahres, ungeachtet der Beschlüsse des IV. Bundestages, dazu bewog, Klaus gleichzeitig zum Kulturbund-Kreisvorsitzendeo zu wählen 166 . Die weitgehend unpolitische Veranstaltungstätigkeit 167 bestand nach wie vor aus heimatkundliehen Vorträgen, erzgebirgischen Heimatabenden, Heimatfesten, Exkursionen und Aufführungen von Laienspielgruppen, Chören und Orchestem 168• Das einzige nennenswerte politische Engagement des Kulturbunds im Kreis war bezeichnenderweise ein öffentlicher Protest gegen die Umbenennung des Bärensteiner Marktplatzes in "Platz der Jungen Pioniere'" 69. 162 Gertrud Meier u. Alfred Klemm I Kulturbund Bischofswerda: Protokoll von der Kreisleitungssitzungvom Donnerstag, dem 2. Februar 1954 im Kreissekretariat, [undatiert], S. 3 (SächsHStA, KB, Mappe 120, o.P.). 163 Alfred Klemm I Kulturbund Bischofswerda: Politischer Monatsbericht für Januar 1956, 7. 2. 1956 (SächsHStA, KB, Mappe 120, o.P.). 164 Thümmler u. Roßbach: Dippo1diswalde - Juni 1956, 17. 7. 1956 (SächsHStA, KB, Mappe 121, o.P.); dies.: Kreisleitung Dippoldiswalde- Monat Dezember 1956, II. I. 1957 (ebd.). 165 Protokoll über die am 16. April 1955 im Bahnhotel Dippoldiswalde stattgefundene Kreisdelegierten-Konferenzund Konferenz der Natur- und Heimatfreunde des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Dippoldiswalde, [undatiert], S. 2 f. (SächsHStA, KB, Mappe 94, o.P.). 166 Bericht über die am 10. September stattgefundene Kreisleitungssitzung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Dippoldiswalde, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 94, o.P.). 167 Richter: Bericht über die Instrukteurfahrt der Abt. VV [Volksbildende Vorträge] nach Dippoldiswalde am II. 6. 1955, 13. 6. 1955, S. 2 [Äußerung des Geisinger Ortsgruppenvorsitzenden Masche] (SächsHStA, KB, Mappe 91, o.P.); Bernd Lohaus: Aktennotiz über den Besuch in Seifersdorf und Dippoldiswalde am 29. 7. 1955, 2. 8. 1955, S. 2 (ebd., Mappe 94, o.P.); Kulturbund Dippoldiswalde: Politischer Monatsbericht -Juni 1956, [undatiert], S. 3 (ebd., Mappe 121, o.P.). 168 Kulturbund-Ortsgruppe Glashütte: Bericht der Ortsgruppenleitung, Juli 1956, 2. 8. 1956, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe 121, o.P.); Kulturbund-Ortsgruppe Seifersdorf: Veranstaltungs- und Versammlungstätigkeit, März 1955, [undatiert] (ebd., Mappe 94, o.P.); Rößler I Kulturbund-Ortsgruppe Lauenstein: Bericht der Ortsgruppen Ieitung, Juli I August 1956, 2. 9. 1956 (ebd., Mappe 121, o.P.). 169 Kulturbund-Ortsgruppe Bärenstein: Veranstaltungs- und Versammlungstätigkeit, Januar 1955, [undatiert] (SächsHStA, KB, Mappe 94, o.P.); Kulturbund-Ortsgruppe Bärenstein: Veranstaltungs- und Versammlungstätigkeit, Mai 1955, [undatiert] (ebd.); Kulturbund-Ortsgruppe Bärenstein: Veranstaltungs- und Versammlungstätigkeit, Juni 1955, [undatiert] (ebd.).

Der Kulturbund als Heimatverein?

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Bei diesen Beispielen handelte es sich keineswegs um exotische Einzelfälle. Wie wenig das offizielle Bild, das der Kulturbund von seinen Aktivitäten zu vermitteln versuchte 170, auch Ende der fünfzigerJahremit der Organisationswirklichkeit zu tun hatte, belegen die endlosen Klagen der Bundes- und Bezirkssekretäre über die mangelnde Konzentration auf die Werbung der "Intelligenz" 171 und die schwache Berücksichtigung politischer Fragen in der täglichen KulturbundArbeit172. Ein besonderer Problemfall blieben die "Arbeitsgemeinschaften des Kulturbundes, besonders der Natur- und Heimatfreunde", so ein Schreiben der Dresdner Bezirkssekretäre an die Bundesleitung vom April 1958, "die noch nicht verstehen, die kulturpolitischen Probleme des Aufbaus des Sozialismus in ihre Arbeit einzubeziehen. [ ... ] Der Hang zur Heimattümelei und zu Nurfachvorträgen ist dort noch überwiegend. Die z.Z. durchgeführten Jahreshauptversammlungen zeigen wohl, daß sich die positiven Kräfte durchsetzen, daß aber die praktischen Folgerungen noch zu schwach sind" 173 .

VI. Zusammenfassung der Ergebnisse Läßt man die Entwicklung des Kulturbunds in der Zeit von seiner Gründung im Juli 1945 bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre Revue passieren, so bleibt der Eindruck einer strukturell bedingten Unfähigkeit, offiziell propagiertes Selbstbild und Alltagswirklichkeit auch nur entfernt in Einklang zu bringen. Als "Organisation der Intelligenz" ins Leben gerufen, entwickelte sich der Kulturbund schon in seinen ersten Jahren zu einer Dachorganisation der unterschiedlichsten kulturellen Bestrebungen. Diese Tendenz verstärkte sich noch einmal im Januar 1949 mit der verordneten Integration unzähliger kultureller Gruppen und Vereine. Das Tätigkeitsprofil des Kulturbunds näherte sich zu dieser Zeit zumindest in Sachsen auffällig demjenigen älterer regional-kultureller Organisationen wie des Landesvereins Sächsischer Helmatschschutz an 174 . Was den Kulturbund von seinen "Vorgängerorganisationen" unterschied, waren die feste Einbindung in das politische System der DDR, damit verbunden Bemühungen der Leitungen um eine Lenkung, Ideologisierung und Kontrolle der Aktivitäten sowie die Aufgabe, Künstler, Wissen110 Der Beitrag des Deutschen Kulturbundes zur Unterstützung der kulturellen Massenarbeit in der DDR. Entwurf, [Eingang: 24. 3. 1958] (SächsHStA, KB, Mappe 112, o.P.). 171 Kühne: Protokoll der Sitzung der Bezirkssekretäre für Veranstaltungen und Vorträge am 27. und 28. 10. 1955, [undatiert], S. 2f. (SächsHStA, KB, Mappe 110, o.P.). 172 Politischer Monatsbericht Bezirk Dresden- Februar 1957, [undatiert], S. 8 (SächsHStA, KB, Mappe 112, o.P.); Rudolph [Bezirkssekretär] an Karl-Heinz Schulmeister, 17. II. 1958, S. 16f. (ebd.). 173 Lohaus u. Rudolph an die Kulturbund-Bundesleitung I Abt. VV, 30. 4. 1958, S. 2 (SächsHStA, KB, Mappe II!, o.P.); vgl. Knoth: Naturschutz (s. Anm. 37), S. 460. 174 Bezogen auf die "Natur- und Heimatfreunde" kommt Willi Oberkrome (Heimatschutz, s. Anm. 67, S. 435) zu vergleichbaren Ergebnissen für Thüringen.

25•

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schaftler, Intellektuelle, Lehrer und Vertreter der freien Berufe für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen. Die Entscheidung der SED-Führung, nur eine Kulturorganisation zuzulassen, entsprach wahrscheinlich am besten dem Bedürfnis der Partei nach politischer Kontrolle, hatte aber unweigerlich zur Folge, daß der Kulturbund zu einem amorphen Monstrum wurde. Gerade die Aufblähung des Kulturbunds von einer eher exklusiven "Organisation der Intelligenz" zu einer Massenorganisation äußerst heterogenen Zuschnitts konservierte traditionelle Formen des Vereinslebens und eröffnete den Mitgliedern politikfreie Nischen, die sich gegen eine ideologische Vereinnahmung sperrten. Die weitgehend unpolitischen Aktivitäten in den Arbeitsgemeinschaften des Kulturbunds, in den ,,Natur- und Heimatfreunde"-Gruppen und selbst in den "Klubs der Intelligenz" gefahrdeten in keiner Weise die sozialistische Ordnung der DDR 175 . In gewisser Weise kompensierten sie sogar politische Unzufriedenheit und konnten folglich geduldet werden. Sie stellten allenfalls implizit das weltanschauliche Wahrheitsmonopol der ,,Partei der Arbeiterklasse" in Frage und bewahrten damit ein Element pluralistischer Kultur. Die Integration bestimmter Personengruppen, Aktivitäten und Interessen in die Massenorganisationen des sozialistischen Staates war nicht gleichbedeutend mit ihrer ideologischen Gleichschaltung im totalitären Sinne, aber die Ausschaltung konkurrierender Organisationen erleichterte die Kontrolle der Gesellschaft durch Staat und Partei.

m Wenn Oberkrome davon spricht, daß die ,.Natur- und Heimatfreunde" seit den späten sechziger Jahren nicht "als oppositionelle Vereinigungen sichtbar in Erscheinung" traten (Heimatschutz, s. Anm. 67, S. 437), ist dem entgegenzuhalten, daß man die Arbeit der Organisation sicherlich mit ,,Resistenz" (ebd., S. 435), aber zu keinem Zeitpunkt mit Opposition charakterisieren kann.

Kunst-Administration nach sowjetischem Vorbild: Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten 1 Von Dagmar Buchbinder

Am 31. August 1951 hielt Otto Grotewohl anläßtich der feierlichen Berufung einer neu gebildeten Kulturinstitution, der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten beim Ministerrat der DDR, eine programmatische Rede, die mit einem Zitat daraus als Überschrift ("Die Eroberung der Kultur beginnt!") in der Presse der DDR wie auch ein Jahr später in einer repräsentativen Auswahl der Reden Grotewohls veröffentlicht wurde? Unmißverständlich war hier das Monopol der SED in Fragen der Kunst und Kultur formuliert worden: "Literatur und bildende Künste sind der Politik untergeordnet ( ... ). Die Idee der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen. ( ... ) Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst. " 3 Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten existierte von 1951 bis 1953 und war laut der beiden Verordnungen vom 12. Juli 1951 für die "einheitliche und zentrale Leitung der gesamten Kunstangelegenheiten" der DDR zuständig. Sie war dafür verantwortlich, "daß auf allen Gebieten der Kunst der Formalismus überwunden, der Kampf gegen die Dekadenz entschieden weitergeführt und eine realistische Kunst durch Anknüpfen an diegroßen Meister der Klassik entwickelt" werden sollte.4 Aus den mittlerweile einsehbaren Akten der SED-Führung wie auch der Kunstkommission geht eindeutig hervor, daß die SED hier versuchte, die entsprechende sowjetische Einrichtung nachzubilden, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Anweisung Moskaus, obwohl diesbezügliche Belege in den Akten bislang noch nicht gefunden werden konnten. Bereits seit 1936 gab es in der Sowjetunion ein "Staatliches Komitee für Kunstangelegenheiten", das bis 1946 unter der Schirmherrschaft des Rates der VolksI Der vorliegende Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem zur Zeit (1998) an der Freien Universität Berlin beim Forschungsverbund SED-Staat laufenden und von der DFG geförderten Forschungsprojekt ",Die Eroberung der Kultur beginnt!' Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten und die Kulturpolitik der SED (1949- 1953)". 2 Vgl. Deutsche Kulturpolitik. Reden von Otto Grotewohl, Dresden 1952, S. 145- 160. 3 Ebd., S. 156. 4 Vgl. die beiden Verordnungen über Errichtung und Aufgaben der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten. Vom 12. Juli 1951, in: Gesetzblatt der DDR, 1951, Nr. 85 vom 17. Juli 1951, S. 683 und 684.

Dagmar Buchbinder

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kommissare und danach des Ministerrats der UdSSR stand und im Jahre 1953 durch ein neu gegründetes Kulturministerium abgelöst wurde. Die Staatliche Kunstkommission der DDR folgte in der Tat im Hinblick auf ihr Statut, im besonderen in ihrer Aufgabenstellung, ihrer Organisation und ihrer Arbeitspraxis dem sowjetischen Modell und stellte eine der ersten zentralen staatlichen Lenkungsund Kontrollbehörden in der DDR für die Bereiche Theater, Musik, Bildende Kunst, Laienkunst und künstlerische Fachausbildung dar. Nach dem Vorbild der Sowjetunion erhielten Literatur, Film und Rundfunk sowie Architektur 1951 und 1952 ihre eigenen staatlichen Gremien. Die Staatliche Kunstkommission war die unmittelbare Vorgängerinstitution des Ministeriums für Kultur, das 1954 ihre Aufgaben und Einrichtungen wie auch die Mehrzahl ihrer Mitarbeiterinnen übernahm und bis 1990 das oberste Gremium im künstlerischen Leben der DDR geblieben ist.

I. Zur Kulturpolitik der SED 1. Zentrale Anleitung bei formaler Vielfalt

Nach der Staatsgründung im Oktober 1949 erfolgte in der DDR in allen Bereichen eine ,Jdeologisierung nach Plan". 5 Auf kulturpolitischem Gebiet wurde die bereits in der SBZ begonnene Ausrichtung am sowjetischen Kunstmodell und dem von ihm propagierten "sozialistischen Realismus" ganz offen fortgesetzt. Die zentralen kulturpolitischen Lenkungsaufgaben nahmen zunächst das aus der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (Leitung: Paul Wandel) hervorgegangene Ministerium für Volksbildung (Leitung: ebenfalls Paul Wandel) mit seiner Hauptabteilung Kunst und Literatur (Leitung: Maria Rentmeister) und seit 1951 I 52 die neu gebildeten staatlichen Instanzen der Kunstkommission, des Amtes für Literatur und Verlagswesen und der beiden Komitees für Film und Rundfunk wahr. Mit diesen nun in ihrer Hand konzentrierten administrativen Mitteln versuchte die SED, ihre am sowjetischen Vorbild orientierten kulturpolitischen Vorstellungen umzusetzen. In der neueren Forschung wird die These vertreten, die SED habe zunächst ihren Führungs- und Kontrollanspruch am besten durch eine eher indirekte Steuerung eigens dafür geschaffener Gremien umsetzen können. 6 Eine .,formale Vielfalt" (bei zentraler Kontrolle durch die Führungsgremien der Partei) konnte darüber hinaus eher den Anschein von Autonomie vermitteln. Die Vorbildfunktion des sowjetischen Modells auch in diesem Punkt wurde allerdings in der Literatur bislang nicht ausführlich thematisiert, was sicher auch der ungünstigen Quellenlage im Hinblick s So der Titel des II. Kapitels bei Manfred Jäger. Kultur und Politik in der DDR 19451990, Köln 1995. 6 Vgl. Magdalena Heider; Politik - Kultur - Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945- 1954 in

derSBZ/DDR, Köln 1993, S. 133.

Kunst-Administration nach sowjetischem Vorbild

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auf die Moskauer Archive geschuldet ist. Tatsache ist jedoch, daß in der Sowjetunion bis 1953 ebenfalls "dekonzentrierte" Strukturen herrschten: Ein Ministerium für Kultur existierte noch nicht, wohl aber das bereits erwähnte "Staatliche Komitee für Kunstangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR", dem die entsprechenden regionalen Kunstkomitees der RSFSR, Belorußlands und der Ukraine untergeordnet waren. Das sowjetische Komitee fungierte als Kontrollinstanz für die Bereiche Theater, Musik, bildende Kunst, Volkskunst und künstlerische Fachausbildung. Für die anderen Bereiche (Film, Rundfunk, Architektur) waren gesonderte Komitees eingerichtet worden. 7 Bemerkenswert ist der Umstand, daß nach der Verkündung des von Moskau empfohlenen ,,Neuen Kurses" und den Ereignissen des 17. Juni 1953 die Führung der SED bereits auf ihrem 15. Plenum (24. -26. Juli 1953) eine Überprüfung der bisher für die Entwicklung der Kunst zuständigen Institutionen ankündigte und strukturelle Veränderungen nicht ausschloß. Anläßtich einer Aussprache mit Amold Zweig, Stefan Heym, Anna Seghers u. a. führenden Künstlern der DDR am 19. Oktober 1953 stellte Gratewohl jedenfalls konkret die Bildung eines zentralen "Ministeriums für Kulturfragen" in Aussicht. 8 Für die Durchsetzung und Kontrolle der kulturpolitischen Beschlüsse der Parteiführung war die Abteilung Kultur beim ZK der SED zuständig, die nach Gründung der Partei 1946 zielstrebig auf- und ausgebaut worden war. Sie ist als eine zentrale Leitstelle der Kulturpolitik der SED anzusehen. Ihre Aufgabe bestand darin, die mit der Ausführung kulturpolitischer Entscheidungen betrauten staatlichen, gesellschaftlichen und künstlerischen Institutionen anzuleiten und zu kontrollieren. Diese waren dadurch unmittelbar an den Parteiapparat angebunden.9 Aus den Akten der Kunstkommission geht deutlich hervor, wie eng die jeweiligen kunstpolitischen Direktiven der Kommission mit den Funktionären der ZKKulturabteilung abgestimmt waren. Zum politischen Alltag gehörte jedoch nicht 7 Über das sowjetische Kunstkomitee liegt bisher keine spezielle Untersuchung vor. Erwähnt wird es verschiedentlich in der Literatur, so bei Jürgen Rühle, Das gefesselte Theater, Köln und Berlin 1957, S. 369; Fred K. Prieberg, Musik im anderen Deutschland, Köln 1968, S. 43; Hubertus Gaßnerl Eckhart Gillen, Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus, Köln 1979, S. 555; Matthew Culleme Bown, Kunst unter Stalin: 1924-1956, München 1991, S. 303. Die in diesem Beitrag angeführten Informationen über das sowjetische Komitee als Vorbild für die Staatliche Kunstkommission der DDR stammen entweder aus den Materialien der Staatlichen Kunst-kommission, BArch, DR 1/5827 und DR 1/ 6110, oder aus den Akten der Kulturabteilung beim ZK der SED, SAPMO-BArch, DY 30/ IV /219.06/246. s Vgl. dazu das Referat Otto Grotewohls, "Die gegenwärtige Lage und der neue Kurs der Partei", in: Das 15. Plenum des Zentralkomitees der SED vom 24. bis 26. Juli 1953. Herausgegeben vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Parteiinternes Material}, 1953, S. 60, sowie "Fragen der Kultur und Kunst im neuen Kurs", in: Elimar Schubbe (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, S. 313-315. 9 Vgl. zur Entwicklung der ZK-Kulturabteilung: Beatrice Vierneisel, Die Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED 1946 - 1964, in: Günter Feist, Eckhart Gillen, Beatrice Vierneisel (Hrsg.). Kunstdokumentation SBZ/ DDR 1945-1990, Köln 1996, S. 788-820.

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nur die regelmäßige Berichterstattung gegenüber der Kulturabteilung, sondern auch gegenüber der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) mit Sitz in BerlinKarlshorst, die als Nachfolgeinstitution der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) von November 1949 bis zum Mai 1953 das zentrale Organ der sowjetischen Besatzungsherrschaft in der DDR darstellte (danach bis 1955: Der Hohe Kommissar der UdSSR). Nach außen wurde von der Sowjetunion stets die formale Eigenständigkeil der DDR betont. Nach innen war die SKK allerdings mit umfassenden Kontrollbefugnissen ausgestattet, und es fanden regelmäßig Beratungen mit der SED-Führung und den obersten staatlichen Instanzen zur Koordinierung von Entscheidungsprozessen und zur gegenseitigen Information statt. 1 Für die Kunstkommission waren, laut Aussage der Akten, von der Informationsabteilung der SKK ein Hauptmann (später: Major) Beburow und ein gewisser Dr. Serebrow zuständig. 11 Insbesondere die in den Akten gut dokumentierten Vorgänge um die Entstehung des Statuts der Kunstkommission Ende 1952/ Anfang 1953 belegen den direkten Einfluß der SKK. Nachdem die Mitarbeiter einer internen Arbeitsgruppe der Kunstkommission zahlreiche Entwürfe angefertigt und mehrere "Aussprachen" in Karlshorst stattgefunden hatten, wurde dem Justitiar der Kommission, Dr. Georg Münzer, schließlich der Text des Statuts des Komitees der russischen Republik (RSFSR) als Muster ausgehändigt, nach welchem dann die deutsche Satzung zu formulieren war. 12

°

2. Das kulturpolitische Konzept der SED

Die Kulturpolitik der SED stellt sich als ein nicht leicht zu durchschauendes, ungemein komplexes Zusammenspiel und Konfliktfeld von Kunstfunktionären der Partei und den Künstlern bzw. deren Verbandsfunktionären dar. Im Kulturbereich existierten bis zuletzt eine große Anzahl von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die zeigen, daß Verwaltung und politische Lenkung eng miteinander verbunden waren. Mit Hilfe der von ihr selbst geschaffenen Kunstadministration versuchte die SED, die Künstler auf die gewünschte Linie des "Sozialistischen Realismus" einzuschwören. Mit Hilfe "gewählter" Mitglieder in den jeweiligen Organisationen und Verbänden und eines ausgefeilten Kontroll- und SanktionsIO Vgl. dazu Elke Scherstjanoi, Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, München 1998. 11 Bei Scherstjanoi tauchen die Namen Serebrow und Beburow nicht auf. Beburow war nach den Erinnerungen von Gustav Just (damals Sektorleiter für Kunst in der Kulturabteilung) auch der Verbindungsmann der SKK zur Kulturabteilung beim ZK: vgl. Gustav Just, Zeuge in eigener Sache, Berlin 1990, S. 33. Dr. Serebrow war offensichtlich auch für die Deutsche Akademie der Künste zuständig: vgl. den Brief Rudo1f Engels vom 2. Februar 1954 an den "Genossen Serebrow", abgedruckt in dem 1996 anläßlich der Berliner Ausstellung "300 Jahre Akadamie der Künste" vorliegenden Manuskript der von der Akademie herausgegebenen Dokumentation ,,Zwischen Diskussion und Disziplin. Dokumente zur Geschichte der Akademie (Ost) 1945 - 1993". In der Druckfassung (Berlin 1997) fehlt dieser Brief. 12 Vgl. dazu BArch DR l/5861.

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systems verwirklichte die Parteiführung ihr kulturpolitisches Konzept und nahm Einfluß auf die Prozesse des künstlerischen Schaffens. Gezielte Förderung wurde nur denjenigen Künstlern zuteil, die bereit waren, dieses Konzept mitzutragen. Folgende Merkmale charakterisieren das kulturpolitische Konzept der SED in der Frühzeit der SBZ I DDR und blieben auch für die spätere Zeit bestimmend: 13 In Kunst und Kultur sollten wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen "bürgerliche" und andere mit der SED-Politik nicht vereinbare Konzepte und Vorstellungen zurückgedrängt werden, um der sozialistischen Perspektive die Hegemonie zu sichern. Die SED wollte die ostdeutsche Bevölkerung nach marxistisch-leninistischen Grundsätzen zu einem "neuen Bewußtsein" erziehen. In Kunst und Kultur sollte der "neue Mensch" bereits als Vorbild aufscheinen. Die SED übte daher verstärkten Druck auf die Künstler aus, dem ideologischen Auftrag zu folgen und die Menschen über eine "volkstümliche", massenwirksame und verständliche Kunst zu motivieren, sich mit den politischen Zielen des Sozialismus zu identifizieren. Das sowjetische Kulturkonzept der Unterordnung von Kunst und Kultur unter das Primat der Politik wurde als verbindlich angesehen. Als Programm und Maßstab galt die seit 1934 in der Sowjetunion herrschende Doktrin des "sozialistischen Realismus" mit ihrer Verpflichtung auf die Widerspiegelung der Wirklichkeit "in ihrer revolutionären Entwicklung", verbunden mit der Aufgabe, "die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen" (so Andrej Shdanow, ZK-Sekretär der KPdSU, auf dem I. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934). Später wurden diese wichtigsten Gestaltungsprinzipien des sozialistischen Realismus in die formelhaften Begriffe "Parteilichkeit", "Volksverbundenheit" und "sozialistischer Ideengehalt" der Kunst gefaßt. Dem sowjetischen Muster folgend wurden permanent Kampagnen gegen alle in diesem Modell nicht vorgesehenen Stilrichtungen und Formen entfacht, d. h. gegen die gesamte künstlerische Modeme des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, einschließlich der eigenen proletarisch- revolutionären Avantgarde der 20er Jahre. Sie alle wurden mit Verdikten wie "Dekadenz", "Formalismus" oder "Kosmopolitismus" diffamiert. Mit diesen ideologiebesetzten und nahezu austauschbaren Begriffen konnten alle künstlerischen Formen bekämpft werden, die im Kunstkanon der SED-Führung nicht vorkamen. Der SED ging es dabei vor allem um eine Abgrenzung gegen die "amerikanische Kulturbarbarei", die in Westdeutschland 13 Zur Kulturpolitik der SED vgl. u. a. Schubbe (Anm. 8), (Einleitung); Wolfram Schlenker, Das "Kulturelle Erbe" in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945-1965, Stuttgart 1977; Günter Erbe, Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem .,Modernismus" in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur der DDR, Opladen 1993; Heider (Anm. 6); Jäger (Anm. 5). Zu den kulturpolitischen Vorstellungen der SED vgl. vor allem Manfred Jäger, Kulturpolitik der DDR, in: Deutschland Archiv H. 7, 1993, S. 873- 880.

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angeblich zu einer Vorherrschaft von Kitsch, Schund und Pornographie und zu einem Kulturverfall geführt habe. Zur Legitimierung ihrer Herrschaft beanspruchte die SED das von jeglicher Modeme gereinigte "kulturelle Erbe" für sich. Sie verstand darunter das unter den "neuen Bedingungen" weiter zu entwickelnde nationale Kulturerbe der klassischen und realistischen bürgerlichen Kunst und Literatur. An der Idee einer einheitlichen deutschen Kultur wurde zunächst weiter festgehalten, entsprechend dem von der SED auch für den politischen Bereich formulierten gesamtdeutschen Anspruch. Neben den Bemühungen um die Einbindung von Teilen der alten ürgerlichen Intelligenz in das sozialistische Konzept stand die gezielte Ausbildung einer der SED verpflichteten neuen Schicht von Künstlern, Wissenschaftlern, Pädagogen, Architekten, Juristen etc. 3. "Kontinuität" der SED-Kulturpolitik

Unter Berücksichtigung der vorliegenden Literatur und der nun möglichen Einsichtnahme in die Partei- und Staatsarchive der ehemaligen DDR kann von der These ausgegangen werden, daß die Staatsgründung der DDR in kulturpolitischer Hinsicht nur von begrenzter Bedeutung war, da in der SBZ und der späteren DDR die bereits von der KPD seit 1944 ansatzweise und nach 1945 ausformulierten kulturpolitischen Vorstellungen wirksam waren. 14 Die von der SED stets vertretene These von der "Kontinuität" ihrer Kulturpolitik 15 bestätigt sich in einem ganz anderen Sinne: Statt der behaupteten ständigen geistig-kulturellen "Höherentwicklung" finden sich vielmehr eine zielstrebig betriebene ideologische Instrumentalisierung sowie permanente Versuche der Auslöschung eines differenzierten und experimentellen künstlerischen Lebens. Auch in personeller Hinsicht läßt sich diese "Kontinuität" nachweisen: Die Funktionäre, die in den Institutionen der SBZ wie der späteren DDR die wichtigsten Kulturpositionen innehatten, kamen fast alle aus der früheren KPD und konnten ihre Wirkungsmöglichkeiten weit über die SOer Jahre hinaus entfalten, während parteilich nicht gebundene Personen oder solche mit sogenannten bürgerlichen Vorstellungen gar nicht erst zum Zuge kamen.16

14 Vgl. dazu u. a.: Peter Erler, Horst Laude, Manfred Wilke (Hrsg.), "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, sowie Gerd Dietrich (Hrsg.), Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945-1949, Berlin (Ost) 1983. 15 Vgl. die entsprechenden Einträge im "Kulturpolitischen Wörterbuch", Berlin (Ost) 1970 und 1978, S. 311 bzw. 404. 16 Für die Kunstkornmission sind das z. B. der Vorsitzende Helmut Holtzhauer und seine Stellvertreterio Maria Rentmeister sowie Wilhelrn Gimus, Hans Rodenberg und Fritz Erpenbeck.

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II. Die Staatliche Kunstkommission I. Planung

Der Gründung der Kunstkommission waren intensive innerparteiliche Planungen vorausgegangen. Der III. Parteitag der SED im Juli 1950 hatte Richtlinien für den ersten Fünfjahrplan verabschiedet, die nicht nur Wirtschaft und Verwaltung der DDR betrafen, sondern auch eine enge Verbindung von Literatur und Kunst mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung forderten. Die bisherige Kulturarbeit war scharf kritisiert und eine verbesserte Planung, Anleitung und Kontrolle angekündigt worden.17 Am 14. September 1950 stand die geplante Umorganisation des Staatsapparates auf der Tagesordnung der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED. Zu den von der Umstrukturierung betroffenen Ministerien gehörte auch das Ministerium für Volksbildung, dessen Hauptabteilung Kunst und Literatur aufgelöst werden sollte. Es war geplant, ihre Aufgaben einer "Staatlichen Kommission für Kunst und Literatur" zu übertragen, deren Leiter zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststand, ihre Strukturpläne und Aufgaben sollten jedoch kurzfristig ausgearbeitet werden. 18 Die Veröffentlichung der beiden Orlow-Artikel 19 "Wege und Irrwege der modernen Kunst" in der "Täglichen Rundschau" im Januar 1951 mit ihren Vorwürfen gegen "Modernisten, Formalisten, Subjektivisten" in der bildenden Kunst, die auch parteiintern lebhaft diskutiert wurden, bildete den Auftakt zu der sogenannten Formalismus-Kampagne, die ihren Höhepunkt auf der berüchtigten 5. ZK-Tagung der SED im März 1951 erreichte. Die dort verabschiedete Entschließung, "Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur", stellt ein Schlüsseldokument der SED-Kulturpolitik dar, das für die gesamte Ulbricht-Ära Gültigkeit behalten sollte. Unter der Überschrift "Die nächsten Aufgaben in Kunst und Literatur" wurde offiziell die "Vorbereitung" einer "Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten" zur zentralen Anleitung des Kunstschaffens in der DDR angekündigt. 20 17 Vgl. dazu: "Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der SozialisJischen Einheitspartei", in: Dokumente der SED, Band III, Berlin (Ost) 1952, S. 79-129; zur Kulturpolitik: "Die demokratische Erneuerung der deutschen Kultur", S. 114-120. 18 Vgl. dazu Arbeitsprotokoll Nr. 12 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 14. September 1950, SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3A/121, S. 186, sowie die Anlage Nr. I des Reinschriftenprotokolls (Signatur: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3/138), S. 6 - 15. Der Bereich der Literatur erhielt sein eigenes Zensurgremium: Am 1. September 1951 wurde das "Amt für Literatur und Verlagswesen beim Ministerrat der DDR" geschaffen. Vgl. dazu Carsten Gansel, Parlament des Geistes, Berlin 19%, S. 132- 141; Siegfried Lokatis, Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur. Das "Amt für Literatur und Verlagswesen" oder die schwere Geburt des Literaturapparates in der DDR, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung, Berlin 1993, S. 303-325. 19 Hinter dem Pseudonym N. ORLOW verbirgt sich mit großer Wahrscheinlichkeit der damalige politische Berater beim Oberkommandierenden der sowjetischen Besatzungstruppen und spätere Botschafter der UdSSR in der DDR, Wladimir S. Semjonow. Vgl. dazu seine Memoiren: Von Stalin bis Gorbatschow, Berlin 1995, S. 255.

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Nach dem 5. Plenum standen die Entwürfe der Struktur- und Aufgabenpläne der neuen Institution, an denen neben dem Leiter der ZK-Kulturabteilung, Egon Rentzsch, auch der spätere Vorsitzende der Kommission, Helmut Holtzhauer (damals noch Minister für Volksbildung in Sachsen) sowie seine künftige Stellvertreteein Maria Rentmeister beteiligt waren, mehrfach auf der Tagesordnung der Sitzungen von Politbüre und Sekretariat des ZK der SED. Maria Rentmeister hatte Egon Rentzsch bereits im Februar 1951 ihr Exemplar einer achtseitigen Beschreibung des sowjetischen Komitees für Kunstangelegenheiten ausgehändigt. Es handelt sich dabei um eine detaillierte Darstellung der sowjetischen Einrichtung.Z 1 Ein Vergleich mit den vom Politbüro endgültig gebilligten Entwürfen zu Funktion und Struktur der Kunstkommission macht deutlich, wie eng sich die neue Institution an das sowjetische Muster anlehnte. Am 10. Juli 1951 gab das Politbüro endlich "grünes Licht" 22 , und der offizielle Festakt anläßlich der "Berufung" der neuen Behörde konnte am 31. August 1951 in der Berliner Staatsoper (damals noch untergebracht im Admiralspalast in der Friedrichstraße) stattfinden. Auf die programmatische Rede Otto Grotewohls wurde bereits verwiesen. 2. Struktur

Die neue Institution bestand zum einen aus einem kollektiven Beratungsgremium, der "Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten", deren Mitglieder vom Politbüro des ZK der SED aus den verschiedensten Bereichen des politischen und kulturellen Lebens der DDR berufen wurden und das in der Regel einmal im Monat tagte. Dazu gehörten als Vorsitzender Helmut Holtzhauer, und seine beiden Stellvertreter Maria Rentmeister und (seit September 1952) Ernst Hoffmann, sowie Otto Lang (Direktor des Deutschen Theaterinstituts in Weimar), Hermann Abendroth (Leiter der Weimarer Staatskapelle), Hans Sandig (Leiter des Jugendchors beim MDR), Fritz Dähn (Rektor der Hochschule für bildende Künste in Dresden), Otto Nagel (Maler), Achim Wolter (Direktor des Hauses der Kultur der Sowjetunion), Hans Rodenberg (Leiter des Theaters der Freundschaft), Fritz Erpenbeck (neben seiner Tatigkeit im Ministerium für Volksbildung als Leiter der Theaterabteilung auch langjähriger Chefredakteur von "Theater der Zeit") und Wilhelm Gimus (Kulturredakteur des ,,Neuen Deutschland"). 20 Vgl. dazu: "Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrillliehe deutsche Kultur". Referat von Hans Lauter, Diskussion und Entschließung von der 5. Tagung des ZK der SED vom 15. - 17. März 1951, Berlin (Ost) 1951, S. 161 ff. 21 "Funktion und Struktur des Komitees für Kunstangelegenheiten", in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/9.06/246. 22 Vgl. dazu Protokoll Nr. 56 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 10. Juli 1951: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/21156. TOP 19 war der Bildung der Staatlichen Kunstkommission gewidmet. Den Entwürfen der beiden Verordnungen über Errichtung und Aufgaben der Kunstkommission, dem Entwurf der Durchführungsverordnung sowie dem Struktur- und Stellenplan wurde zugestimmt.

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Zum anderen bestand die Staatliche Kunstkommission aus einem diesem Gremium unterstellten, hierarchisch gegliederten Verwaltungsapparat gleichen Namens, dessen Stellenplan für ingesamt 232 Mitarbeiter konzipiert war, von denen die meisten aus den aufgelösten Fachabteilungen Kunst und Literatur des Volksbildungsministeriums kamen. Die neue Behörde war zunächst noch in den bisherigen Räumen des Ministeriums in der Wilhelmstraße 63 untergebracht, bis sie im Laufe des Jahres 1952 ihren neuen Amtssitz im eigens renovierten ehemaligen Schwerinischen Palais am Molkenmarkt 1-3 bezog, wo auch das im Januar 1954 gegründete Ministerium für Kultur bis 1990 residierte. Die leitenden Mitarbeiter des Verwaltungsapparates gehörten zum Teil in Personalunion dem Beratungsgremium an. Er gliederte sich in vier Hauptabteilungen, "Darstellende Kunst und Musik" (Leitung: Fritz Erpenbeck), "Bildende Kunst" (Leitung: zunächst kommissarisch Maria Rentmeister, dann Kurt Schifner, ab September 1952 endgültig besetzt mit Ernst Hoffmann), "Künstlerischer Nachwuchs und Lehranstalten" (Leitung: Rudolf Böhm), "Laienkunst" (Leitung: Heinz Besch), und die beiden selbständigen Abteilungen "(Künstlerische Fach-)Literatur" (kommissarische Leitung: Arno Lenke) und "Kulturelle Beziehungen zum Ausland" (Leitung: Maria Rentmeister). Als Querschnittsabteilungen existierten die Abteilungen "Sekretariat" (Leitung: Helmut Holtzhauer, persönlicher Referent: Siegfried Seidel), "Personal" (Leitung: Ernst Räth), "Haushalt" (Leitung: Harry Költzsch), ,,Allgemeine Verwaltung" (Leitung: Grobe) und "Planung" (Leitung: William Becker). Diese überaus komplexe Struktur des Gebildes "Staatliche Kunstkommission" ist dem sowjetischen Modell nachgebildet, das sich ebenfalls aus einem Beratungsgremium von Künstlern und Kunstwissenschaftlern, dem "Staatlichen Kunstkomitee" (mit einem Vorsitzenden und dessen fünf Stellvertretern an der Spitze), und einem ,,Apparat" zusammensetzte, dessen wichtigste Hauptverwaltungen (Theater, Musiktheater, Bildende Kunst, Musik, Kunstschulen) von den Stellvertretern geleitet wurden. Im Laufe der Jahre 1952 und 1953 kam es zu mehreren strukturellen Veränderungen im Verwaltungsapparat der Kunstkommission, die z.T. das Ergebnis zahlreicher Delegationsreisen von Theaterleuten, bildenden Künstlern, Musikern, Laienkünstlern etc. in die Sowjetunion waren. An diesen Studienreisen nahmen außer den zuständigen Mitarbeitern der Kunstkommission auch regelmäßig Funktionäre der ZK-Kulturabteilung teil. Das Ziel derartiger Unternehmungen war stets dasselbe: Erfahrungsaustausch mit sowjetischen Künstlern und "Studium der Arbeit des Kunstkomitees der UdSSR".23 Die Hauptabteilung Darstellende Kunst 23 Das Sekretariat des ZK der SED schlug z. B. dem Politbüro am 17. Januar 1952 (TOP 16) vor, "zum Studium der Arbeit des Kunstkomitees der UdSSR" unter der Leitung von Helmut Holtzhauer eine hochkarätig besetzte Delegation nach Moskau zu entsenden, der nicht nur die leitenden Mitarbeiter der Kommission, sondern auch der Leiter der ZK-Kulturabteilung, Egon Rentzsch, und der Leiter der Kulturabteilung der sächsischen Landesleitung der SED, sowie Vertreter der Landesverwaltungen für Kunstangelegenheiten, des Kulturbundes,

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und Musik wurde z. B. nach einer Studienreise von Theaterschaffenden im Herbst 1952 entsprechend dem sowjetischen Vorbild im Frühjahr 1953 in zwei selbständige Hauptabteilungen aufgeteilt. Vor allem die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 (mit dem dort verkündeten "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus") führten zu zahlreichen Veränderungen im Staatsapparat der DDR und zu einer verstärkten Anpassung an die sowjetische Praxis. Der Hauptabteilung Bildende Kunst wurde mit Ernst Hoffmann (Mitglied des ZK und bis 1951 zweiter Sekretär der SED-Landesleitung Groß-Berlin) ein zuverlässiger und linientreuer Parteifunktionär als Leiter verordnet. Außerdem erhielt die Kunstkommission wie alle Ministerien und Staatssekretariate ein weiteres "beratendes Organ", das sogenannte Kollegium, dessen Mitglieder in der Regel einmal wöchentlich zusammenkamen, sowie innerhalb des Sekretariats eine zusätzliche "Kontrollstelle", wie sie auch das sowjetische Kunstkomitee längst besaß. Beiden Gremien gehörten ausschließlich leitende Mitarbeiter der Behörde an. Die Kontrollstelle unter der Leitung des "Org.lnstrukteurs" Richard Kummetz und des Justitiars Dr. Georg Münzer hatte nicht nur die der Staatlichen Kunstkommission unterstellten Institutionen zu kontrollieren (wie z. B. die Berliner Theater oder die Kunsthochschulen), sondern auch die mit der Anleitung und Kontrolle eben dieser Institutionen ebenfalls beauftragten Fachabteilungen. 3. Aufgaben und Arbeitsweise

Die Staatliche Kunstkommission war in allen Schlüsselpositionen mit bewährten SED-Kadern besetzt. Sie erhielt die Rechtsstellung eines Staatssekretariats mit eigenem Geschäftsbereich beim Ministerrat der DDR. Ihre Weisungsbefugnisse waren nahezu unbeschränkt. Ihr unterstanden "Anleitung und Kontrolle" der gleichzeitig eingerichteten "Verwaltungen für Kunstangelegenheiten" der Länder bzw. (nach der Verwaltungsreform 1952) der Abteilungen bzw. Referate für Kunst und kulturelle Massenarbeit bei den Räten der Bezirke bzw. Kreise. Als Lenkungsund Kontrollbehörde war sie unmittelbar zuständig für die wichtigsten künstlerischen Institutionen der DDR, d. h. für die Berliner Theater und Opern I Operettenhäuser (Deutsches Theater, Berliner Ensemble, Theater der Freundschaft, Deutsche Staatsoper, Komische Oper, Metropol Theater) und die Berliner Staatlichen Museen. Außerdem waren ihr die wichtigsten künstlerischen Hochschulen der DDR unterstellt: in Berlin die Hochschule für angewandte Kunst und die Deutsche Hochschule für Musik, in Leipzig die Staatliche Hochschule für Grafik und Buchkunst, in Weimar die Staatliche Hochschule für Musik und das Deutsche Theaterinstitut, in Halle I Saale die Hochschule für Musik. Ferner unterstanden ihr der des Kulturfonds, des Förderungsausschusses und diverser Künstlerclubs angehören sollten: vgl. Arbeitsprotokoll Nr. 133 der Sitzung des Sekretariats, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3A/245. (Reinschriftenprotoko\1 in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/3/262). Das Politbüro stimmte diesem Vorschlag am 22. Januar 1952 zu: vgl. Protokoll Nr. 88 der Sitzung des Politbüros (TOP II ), in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/2/188.

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Deutsche Konzert- und Veranstaltungsdienst, das Büro für Theaterfragen, zeitweilig der Kulturfonds, das Zentralhaus für Laienkunst in Leipzig, die 1953 gegründete Staatliche Auftrags- und Prämienkommission und die Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiet der Musik (AWA). Zu ihren Aufgaben gehörten, in enger Abstimmung mit den zuständigen Referenten der ZK-Kulturabteilung, die Organisation von Fachtagungen und Konferenzen zu den verschiedenen Kunstgebieten sowie die Veranstaltung von Kunstausstellungen: Z. B. hatte sie die wenig rühmliche III. Deutsche Kunstausstellung 1953 in Dresden zu verantworten, die den ,,Durchbruch zum sozialistischen Realismus" in der bildenden Kunst der DDR zeigen sollte. Die Kunstkommission war zudem berechtigt, Kunstwerke zur Vervollständigung der Museen und Galerien anzukaufen, Forschungsaufträge und Stipendien zu vergeben und mit bestimmten Künstlern sogenannte Einzelverträge abzuschließen, durch die jene finanziell abgesichert waren. Sie war zuständig für die Lehr- und Stoffpläne der Kunsthochschulen, für die sie regelmäßig Studienmaterialien veröffentlichte, sowie für die sogenannte Absolventen Ienkung: d. h. für die präzise Planung des Kontingents von Kunststudierenden und deren späteren, von der Kunstkommission vennittelten beruflichen Einsatz. Außerdem war sie Mitherausgeberio der künstlerischen Fachzeitschriften .,Bildende Kunst", .,Volkskunst" • .,Theater der Zeit", .,Theaterdienst", ,,Musik und Gesellschaft". Die Arbeit der Kommission vollzog sich, wie in allen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen der DDR, streng nach Plan. Ein für die gesamte DDR aufgestellter .,Kulturentwicklungsplan" bildete die Grundlage für den jeweiligen Jahresarbeitsplan der Kommission und die entsprechenden Wochen-, Monats- und Quartalsarbeitspläne der Fachabteilungen. Auf den in der Regel wöchentlichen Sitzungen des .,Kollegiums" und den selteneren Zusammenkünften des repräsentativen Beratungsgremiums .,Kunstkommission" wurden die Direktiven der Parteiführung und entsprechende Richtlinien für deren Umsetzung bekanntgegeben sowie grundsätzliche .,ideologische Probleme der Kunst" erörtert. Danach fanden sogenannte .,Kollektivbesprechungen" des Vorsitzenden mit den Abteilungsleitern statt, deren Ergebnisse anschließend in Arbeits- und Dienstbesprechungen innerhalb der Fachabteilungen an die einzelnen Referenten weitergegeben wurden. Bei den regelmäßig durchgeführten Dienst- und lnfonnationsreisen in die künstlerischen Zentren der Republik verwandelten sich die Fachreferenten, häufig in ..Komplexbrigaden" aus Mitarbeitern verschiedener Abteilungen zusammengefaßt, in .,Instrukteure" nach sowjetischem Muster, um die Stimmung an der Basis zu erkunden, den Funktionären und Künstlern vor Ort die kunstpolitischen Beschlüsse der SED und die Anweisungen der Kunstkommission zu erläutern, um Aussprachen über künstlerisch-ideologische Fragen zu führen und Anregungen oder Beschwerden an die Zentrale in Berlin weiterzuleiten. Die Resultate dieser Inspektionsreisen sind in umfangreichen Kontrollberichten nachzulesen, die alle im Sekretariat gesammelt wurden. Besonders die Ereignisse um den 17. Juni 1953

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versetzten den gesamten Apparat in helle Aufregung und führten zu einer forcierten Reisetätigkeit aller Fachabteilungen, was sich in einer Flut von Berichten und Analysen niederschlug. 24 Der bürokratische Aufwand dieser Kunst-Administration war in der Tat enorm. Nach der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 verstärkten sich die Bemühungen der Kunstfunktionäre um eine "Verbesserung" der ideologischen Arbeit, was eine neue Welle von Analysen, Anweisungen, Vermerken, Berichten, Protokollen, Richtlinien, Statistiken etc. zur Folge hatte. 4. Der Übergang zum Ministerium für Kultur

Nicht zuletzt wegen dieses obsessiven und letztlich wenig effektiven bürokratischen Aufwands war die Kunstkommission auch innerhalb der SED-Führung höchst umstritten. Walter Ulbricht bemängelte schon frühzeitig, sie arbeite "zu sporadisch und geheimnisvoll" und bringe grundsätzliche Probleme nicht an die Öffentlichkeit. 25 Der Ministerrat der DDR befand im Sommer 1952, es sei ihr nicht gelungen, den "richtigen Kontakt" zu den Künstlern und den breiten Massen zu finden. 26 In der Tat äußerten die von ihr "angeleiteten" Künstler immer wieder heftige Kritik und klagten über zuwenig Mitsprache bei den verordneten Maßnahmen. Infolge der Ereignisse nach dem 17. Juni 1953 und der Ankündigung eines "Neuen Kurses" spitzte sich die Situation zu. Die kritischen Verlautbarungen der Deutschen Akademie der Künste und des Kulturbundes im Sommer 1953 zur Kunstpolitik der DDR-Regierung sind bekannt. 27 Hervorzuheben ist dabei, daß sich die geäußerte Kritik in erster Linie gegen die Administrierung dieser Politik durch die als wenig kompetent und äußerst überheblich empfundenen Funktionäre der Kunstkommission richtete (gemeint waren damit vor allem Helmut Holtzhauer und Ernst Hoffmann). Die Grundsätze der Kulturpolitik der Partei wurden jedoch weiterhin bejaht. Wie die Akten belegen, spielte die Kunstkommission spätestens seit Sommer 1953 in den Arbeitsplänen der ZK-Kulturabteilung keine Rolle mehr, und im September wurde dann, wie bereits erwähnt, im Sekretariat des ZK die Bildung eines Ministeriums für Kultur erörtert. Ähnlich wie bei der Gründung der Kunstkommission fanden auch jetzt langwierige Diskussionen über die geplante neue Behörde 24 Vgl. dazu Dagmar Buchbinder. "Tage der Provokation und der Ausschweifungen". Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 im Bereich der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 3, 1997, S. 3 - 15. 25 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/9.06/13. 26 Vgl. BArch, DR 1/5800 (Protokoll der Besprechung der Abteilung Bildende Kunst am 21. August 1952). 27 Die Vorschläge der Akademie der Künste vom 30. Juni 1953 und die des Kulturbundes vom 3. Juli 1953 sind abgedruckt bei Schubbe (Anm. 8), S. 289 - 290 und 290-291. Berühmt wurden auch die beiden satirischen Gedichte Brechts, "Das Amt für Literatur" und "Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission", die in der "Berliner Zeitung" am II. Juli 1953 erschienen.

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und die weitere Verwendung der bisher hauptverantwortlichen Funktionäre statt, bis schließlich das Politbüro am 5. Januar 1954 den eingereichten Entwürfen für ein Kultunninisterium zustimmte. 28 Am 7. Januar 1954 erfolgte mit der "Verordnung über die Bildung eines Ministeriums für Kultur" 29 das Ende der Staatlichen Kunstkommission, die offiziell nicht aufgelöst wurde, sondern im Kultunninisterium aufging und deren Aufgaben wie auch ihre Einrichtungen und die Mehrzahl ihrer Mitarbeiter von der neuen Institution übernommen wurden. Zum Minister für Kultur ernannte die Partei den Schriftsteller Johannes R. Becher, mit Fritz Apelt und Alexander Abusch als Stellvertreter wurden ihm allerdings zwei erfahrene Altkader zur Seite gestellt. Die Entscheidung der SED, die Leitung der Behörde diesmal einem .,Kulturschaffenden" zu übertragen, war in erster Linie aus taktischen Gründen gegenüber der kritischen Intelligenz getroffen worden, die vor allem auf der Ablösung des umstrittenen Vorsitzenden der Kunstkommission, Helmut Holtzhauer, bestanden hatte. 30

111. Im Zeichen des sozialistischen Realismus: Die Kunstkommission auf der Suche nach dem sozialistischen Zeitstück Für die Umsetzung der sowjetischen Kunstdoktrin des ..sozialistischen Realismus" durch die Staatliche Kunstkommission soll hier ein Beispiel aus dem Bereich des Theaters angeführt werden, und zwar die von der Parteiführung gewollte und entsprechend geförderte gegenwartsbezogene Dramatik, die das neue gesellschaftliche Leben in der DDR gestalten sollte, um ,,rückständige Auffassungen zu geißeln und zu zeigen, wie Schwierigkeiten bei der Verwirklichung unseres großen Aufbauplans überwunden werden können."31 1. Das sozialistische Zeitstück: .,Entlarvung des Feindes" und .,Gestaltung des positiven Helden"

Anläßtich der Reise einer Delegation bildender Künstler in die Sowjetunion im März 1951 erzählte einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Staatlichen Kunstkomitees (zuständig ftir die Bildende Kunst) seinen deutschen Besuchern, er sei 28 V gl. Arbeitsprotokoll Nr. 2/54 der Sitzung des Politbüros am 5. Januar 1954, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/2A/324. (Reinschriftenprotokoll in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/21340). 29 Vgl. Gesetzblatt der DDR, 1954, Nr. 5, vom 12. Januar 1954, S. 25-27. 30 Helmut Holtzhauer avancierte 1954 zum Generaldirektor der im August 1953 gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Dieses Amt behielt er bis zu seinem Tod 1971 bei. Ernst Hoffmann dagegen wurde vom Kulturministerium übernommen und leitete die Hauptabteilung Kulturelle Massenarbeit 31 Vgl. "Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur" (Anm. 20), S. 162 (Entschließung des ZK der SED). 26 Timmermann

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anläßlich der Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 in Berlin von drei deutschen bildenden Künstlern gefragt worden, wie denn seiner Ansicht nach die neue Kunst beschaffen sein solle. Er kenne nur zwei Prinzipien, habe er geantwortet, sie müsse wahrheitsgetreu und demokratisch sein, d. h. es komme darauf an, den Feind zu entlarven und den positiven Helden gestalten. 32 Hätten die Mitglieder einer Theaterdelegation eine ähnliche Frage gestellt, so wäre die Antwort vermutlich nicht anders ausgefallen. Die Arbeit mit jungen Autoren und die Entwicklung einer zeitgenössischen Dramatik war eine der wichtigsten Aufgaben des sowjetischen Komitees. Die Hauptverwaltung Theater veranstaltete Wettbewerbe für die besten Stücke, organisierte individuelle Aufträge zur Verfassung von Gegenwartsstücken, führte entsprechende Tagungen und Konferenzen durch und überprüfte im Hinblick auf zeitgenössische Stücke die Spielpläne der Theater, die dem Staatlichen Komitee zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt wurden. Die sogenannte operative Arbeit spielte eine große Rolle: In der Regel nahmen Vertreter des Komitees bereits an den Proben wie auch an der Generalprobe eines Stückes teil, um "helfend eingreifen" zu können. Große Bedeutung kam einer im Verband der Schriftsteller eigens eingerichteten Sektion Dramaturgie mit mehreren Lektoren zu, die die jungen Autoren anzuleiten und zu beraten hatten. Außerdem gab es für die Autoren die Möglichkeit, ihre Stücke direkt beim Staatlichen Komitee einzureichen. Die Redakteure der Abteilung Spielpläne erteilten ihnen bereitwillig praktische wie ideologische Hilfestellung. Auf diese Weise "betreute" Autoren erhielten Honorarzahlungen, besonders gelungene Stücke konnten vom Komitee angekauft werden. Ein dritter Weg, neue Autoren und neue Stücke zu fördern, lag in der vom Kunstkomitee vermittelten direkten Zusammenarbeit eines Autors mit einem bestimmten Theater. In den sowjetischen Theatern existierte dafür eine sogenannte literarische Abteilung (vergleichbar mit der Dramaturgie in den deutschen Theatern), die die Aufgabe hatte, den jeweiligen Autor zu beraten. 33 Die Praxis des sowjetischen Kunstkomitees wurde hier so ausführlich geschildert, weil die Kunstkommission der DDR auch bei ihrer Anleitung der Theater "im Kampf um den sozialistischen Realismus in der Bühnenkunst und die Entwicklung einer deutschen Gegenwartsdramatik" 34 die Arbeitsweise der sowjetischen Kollegen fast in allen Punkten kopierte. In den Arbeitsplänen ihrer Theaterabteilung nahm das Thema "Gegenwartsdramatilc" von Anfang an einen breiten Raum ein. Der ZK-Kulturabteilung wurde regelmäßig über entsprechende Maßnahmen der 32 Vgl./rene Heller (damals "Instrukteur" für bildende Kunst in der ZK- Kulturabteilung) und Fritz Dähn, "Besuch im Staatlichen Komitee für Kunstangelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR in Moskau", in: BArch, DR 1/5827. 33 Vgl. "Bericht über die Studienreise der I. Theaterdelegation der DDR in die SU" vom I. Oktober 1952, sowie Gustav Just, ,,Einige Lehren aus dem Studium des sowjetischen Theaters", in: BArch, DR 1/6110. 34 Vgl. die beiden umfangreichen Entwürfe zu diesem Thema, die 1952 in der ZK-Kulturabteilung angefertigt wurden: SAPMO-BArch, DY 30, IV 219.06/186.

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Kunstkommission berichtet, verbunden mit einer Auswertung der jeweiligen Spielzeit und einer Kurzcharakteristik der uraufgeführten Stücke. "Das Staatliche Kunstkomitee in Moskau", so hieß es, "soll unserer Institution dabei als nachahmenswertes Beispiel vor Augen stehen." 35 Abschriften dieser Berichte gingen entweder direkt vom Molkenmarkt an Dr. Serebrow nach Karlshorst oder wurden von der Kulturabteilung des ZK dorthin gesandt. Die Kunstkommission setzte in dieser Hinsicht nur fort, was bereits kurze Zeit nach Kriegsende in der SBZ begonnen hatte: eine "Erneuerung" der Spielplangestaltung, wobei das sogenannte Zeitstück im Mittelpunkt stand, um dessen begriffliche Klärung sich insbesondere Fritz Erpenbeck in zahlreichen Aufsätzen bemüht hatte. Als Merkmal des Zeitstücks galt seit etwa 1947 seine Relevanz für die aktuelle gesellschaftliche Situation, unabhängig von seinem Entstehungsdatum. Es galt als Oberbegriff für eine gegenwartsbezogene Bühnenkunst: im Sinne des sowjetischen Vorbilds unverzichtbar als ideologische Begleitung des gesellschaftlichen Neuaufbaus. 36 Die Akten der ZK-Kulturabteilung belegen, daß ab 1947 auch in der damaligen Abteilung Kultur und Erziehung beim Zentralsekretariat der SED über Theaterfragen und "Zeitstück" diskutiert und (in Verbindung mit der Deutschen Volksbühnenbewegung) eine stärkere Einflußnahme auf das gesamte Theaterleben gefordert wurde. 37 In den folgenden Jahren standen Probleme der Theaterentwicklung immer wieder auf der Tagesordnung der Sitzungen der SEnFührungsgremien wie auch in den Arbeitsplänen und Aussprachen der Kulturabteilung der Partei. Im Mai 1951 bereits war zudem auf Beschluß der Parteiführung im Ministerium für Volksbildung eine Spielplankommission gebildet worden, die den Theatern dabei Hilfestellung leisten sollte, "das demokratische und sozialistische Staatsbewußtsein des Publikums zu formen" und "die Interessen des neuen Staates vor allem gegen reaktionäre Einflüsse der spätbürgerlichen Ideologie im Theaterleben durchzusetzen. " 38 Nach Bildung der Kunstkommission wurde sie in deren Theaterabteilung eingegliedert. Zu den wichtigsten Aufgaben der Staatlichen Kunstkommission gehörte es demnach, die Entwicklung des "zeitgenössischen deutschen Dramas" voranzubringen und die offensichtlich vorhandene Abneigung der Theaterbesucher gegen diese 3s Vgl. Alfred Bagdahn, Oberreferent im Referat Spielpläne der HA Darstellende Kunst und Musik, an das ZK der SED, Kulturabteilung, 18. November 1952, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/9.06/246. 36 Vgl. zum Thema ,,zeitstück" u. a. Rühle (Anm. 7), S. 330-349; Werner Mittenzwei, Theater in der Zeitenwende, 2 Bände, Berlin 1972 (insbesondere I, S. 67 ff. und S. 199 ff.); Ralph Hammathaler, Die Position des Theaters in der DDR, in: Christa Hasche, Traute Schölling, Joachim Fiebach (Hrsg.), Theater in der DDR, Berlin 1994, S. 173ff.; Andrea Schiller, Die Theaterentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ), Frankfurt am Main 1998, S. 159-161. 37 Vgl. "Stellungnahme zum Zeittheater" vom 19. Juni 1947, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/9.06/186. 38 Zitiert nach Mittenzwei (Anm. 36), I, S. 205.

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neuen Stücke überwinden zu helfen. Daher begann sie, nach sowjetischem Vorbild junge Nachwuchsautoren durch die Vergabe von Stipendien (zwischen 400 und 800 Mark monatlich) zu fördern: Die Stipendiaten wurden an bestimmte Theater verpflichtet, wo sie an ihren Stücken arbeiten und gleichzeitig dramaturgische Kenntnisse und Bühnenpraxis erwerben sollten. Außerdem veranstaltete sie 1952 zwei zukunftsweisende Tagungen: die Intendantentagung vom 5. bis 6. April 1952 in Berlin und die Tagung der Bühnenautoren und Dramaturgen, die vom 16. bis 18. Mai in Weimar stattfand. Auf der Tagesordnung standen so wichtige ideologische Fragen wie z. B. die richtige Pflege des Kulturerbes, die Entwicklung junger deutscher Autoren, der Stellenwert sowjetischer Stücke in der DDR und die Auseinandersetzung über den "kämpferischen Charakter" der Spielpläne.39 Die Intendantentagung (Vorsitz: Fritz Erpenbeck) wurde dominiert von dem Referat Helmut Holtzhauers "Über die Situation an unseren Theatern und unsere Aufgabe für die nächste Spielzeit", in dem er u. a. als "Hauptschwäche" der Gegenwartsdramatik feststellte, daß sie die großen Probleme der Zeit zu wenig thematisiere. Vor allem an die Berliner Theater erging der Appell, mehr Mut zu neuen Stücken aufzubringen. Die in Berlin versammelten Intendanten der Bühnen der DDR verpflichteten sich daraufhin in einer mit der Theaterabteilung der Kunstkommission vorab vereinbarten Entschließung, künftig das zeitgenössische deutsche Drama mehr zu fördern als bisher.40 Auf der Tagung der Theaterautoren (Thema: "Die zeitgenössische deutsche Dramatik und die Aufgaben der Theater") wurden folgerichtig zwei wichtige Beschlüsse gefaßt: die Gründung einer Sektion Dramatik innerhalb des Deutschen Schriftstellerverbandes und die Ausschreibung eines Wettbewerbs für zeitgenössische Dramatik, beides Maßnahmen, die sich eindeutig am sowjetischen Vorbild orientierten.41 2. Der Wettbewerb

Der Wettbewerb dauerte vom I. September 1952 bis zum I. Juli 1953.42 "In recht vielseitiger Form" sollten, so die Aufforderung, "vor allem jene fortschrittlichen Ideen gestaltet werden, die unser deutsches Volk in seinem nationalen Befreiungskampf und im Kampf um den Frieden unterstützen." Der Wettbewerb wandte sich an zwei unterschiedliche Bewerberkreise: zum einen an fünfzehn von der Kunstkommission in Absprache mit der ZK-Kulturabteilung ausgewählte Autoren, darunter Erwin Strittmatter und Heinar Kipphardt (letzterer war damals Dramaturg am Deutschen Theater), die mit einem Stipendium bedacht wurden. Die Preise für die besten drei Arbeiten betrugen 7.500, 5.000 und 2.500 Mark. 39 Vgl. dazu das Protokoll der Arbeitsbesprechung der Abteilung Darstellende Kunst am ll. Februar 1952, in: BArch, DR I/ 5846. 40 Zur Intendantentagung vgl. BArch, DR 1/6115. •• Zur Autoren- und Dramaturgentagung vgl. BArch, DR 1/6031. 42 Die Materialien dazu (einschließlich Schriftwechsel und Gutachten) befinden sich in den Akten der Kunstkommission, BArch, DR 1/6044 und DR 1/6047.

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Zum anderen richtete er sich an alle "dramatisch begabten Schriftsteller der Republik" (oder solche, die sich dafür hielten). Die Kunstkommission war bereit, diese unbekannten Autoren unter der Bedingung, daß ein "erkennbares Talent" vorhanden war, zu unterstützen, sie an ein Theater zu vermitteln und die eingereichten Werke, sofern ihre Qualität eine Aufführung rechtfertigte, den Bühnenverlagen und den Theatern zu übergeben. Die Mitglieder der von der Kunstkommission eingesetzten Jury hatten je zwei Stipendiaten beratend zu begleiten. Zu diesem Gremium gehörten ursprünglich neben Wolfgang Langhoff (Intendant des Deutschen Theaters), Fritz Erpenbeck (Staatliche Kunstkommission), Otto Lang (Direktor des Deutschen Theaterinstituts in Weimar und Mitglied des Beratungsgremiums Kunstkommission), Fritz Wisten (Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm), Walter Pollatschek (Theaterkritiker des ,,Neuen Deutschland") auch die beiden renommierten Autoren Friedrich Wolf und Bertolt Brecht. Während Friedrich Wolf sich wegen Arbeitsüberlastung frühzeitig zurückzog, war Brecht zunächst bereit, Johannes Barthel und Erwin Strittmatter (der an seinem Stück "Katzgraben" arbeitete) zu betreuen. Als Strittmatter jedoch aus Termingründen ausschied, die Jury ihm den seiner Ansicht nach völlig untalentierten Otto Müller-Glösa (mit einer Lustspielskizze "Er hört auf und sie fängt an") als Ersatz zumutete und darüber hinaus ihm keinerlei Einsicht in die anderen eingesandten Entwürfe gewähren wollte, trat Brecht ostentativ am 1. April 1953 zurück. In seinem Schreiben an Alfred Bagdahn, Referat Spielpläne der Kunstkommission (mit Durchschrift an Helmut Holtzhauer), distanzierte er sich scharf von dieser "merkwürdigen Art, zeitgenössische Dramatik zu fördern."43 Die Jury entschied sich dann am 30. November 1953 für folgende Preisträger: Der erste Preis ging an Hedda Zinners Stück ,,Der Teufelskreis" (Thema: Reichstagsbrandprozeß 1933: Schwankender Sozialdemokrat erfahrt Läuterung am heldenhaften Beispiel Dimitroffs), der zweite an Heinar Kipphardts Satire auf den Kulturbetrieb in der DDR, "Shakespeare dringend gesucht", und der dritte wurde aufgeteilt unter 5 Autoren: Peter Bejachs Operettenlibretto ,,Jedes Jahr im Mai" (Thema: Internationale Radfriedensfahrt Warschau-Berlin-Prag), Paul Herbert Freyers Schauspiel "Die Straße hinauf' (Thema: Einführung neuer Arbeitsmethoden beim Wohnungsbau in der Stalinallee), Harald Hausers "Prozeß Wedding" (Thema: Entlarvung der westdeutschen Wiederaufrüstungspolitik und ihre Unterstützung durch die West-Berliner Industrie), Gerhard Heinz Kunzelmanns Stück "Freunde" (Thema: Episode aus den Befreiungskriegen) und Horst Ulrich Wendlees Stück über "Thomas Müntzer in Mühlhausen". Die hier stichwortartig aufgeführten Themen machen deutlich, daß außer Heinar Kipphardts Lustspiel die eingereichten Stücke weitgehend der Parteilinie verpflichtet waren. Es ging in ihnen zu "wie in einem Kuhmagen, nur, daß statt Gras 43 Brecht kritisierte außerdem das seiner Ansicht nach viel zu niedrig angesetzte Stipendium von 350 Mark monatlich, von dem der von ihm betreute Johannes Barthel nicht leben könne: vgl. BArch, DR 1/6044.

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Gedanken und altes Zeitungspapier wiedergekäut werden" .44 Kipphardts seinerzeit in der DDR vielgespielte Satire (Uraufführung am 28. Juni 1953 im Deutschen Theater) konnte die Zensurinstanzen nur passieren, weil in der DDR inzwischen ein "neuer Kurs" in Sachen Kulturpolitik propagiert worden und nach Stalins Tod Malenkow als I. ZK-Sekretär und Ministerpräsident in Moskau an die Macht gekommen war: Malenkow hatte bekanntlich auf dem XIX. Parteitag der KPdSU im Herbst 1952 ein Plädoyer für die Satire gehalten und der Shdanowschen Kulturpolitik eine Abfuhr erteilt. In der Wettbewerbsjury war das Stück keineswegs unumstritten: Während Wolfgang Langhoff sich damals noch vehement für seinen Dramaturgen einsetzte und dem Stück durchaus "Volkstümlichkeit" bescheinigte, vermeinte Waller Pollatschek "etwas Negatives" bei ihm zu wittern und bemängelte dessen "intellektuellen Witz, den nur ein gewisser Kreis versteht". Heinar Kipphardt, der 1949 aus politischer Überzeugung von Düsseldorf nach Ost-Berlin übergesiedelt war, verließ 1959 aus Verbitterung über die Kulturpolitik der SED die DDR, die für ihn die "Diktatur eines spießbürgerlichen Parteiapparates, die sich mit dem Namen Sozialismus drapiert" darstellte: "Blinde Unterwerfung gelte dort als Disziplin und Lobhudelei als Parteilichkeit." 45 In der Bundesrepublik wurde er bekannt durch seine Dokumentar-Stücke "In der Sache J. Robert Oppenheimer" (1964) und "Bruder Eichmann" (1983, posthum uraufgeführt). 3. Die Gutachten

Die Geschichte dieses Wettbewerbs (samt Vorplanung und Nachwirkung) läßt sich aus den Akten der Kunstkommission sehr genau rekonstruieren. Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Tatsache, daß die Gutachten zu den eingereichten Stücken ebenfalls zur Verfügung stehen, und zwar nicht nur diejenigen der 15 Auftragsstücke (Gutachter: die Mitglieder der Wettbewerbsjury), sondern auch jene, die den eingereichten Texten der zahlreichen freien Mitbewerber galten (inklusive dazugehörigem Schriftwechsel). Es handelt sich dabei um sogenannte Innengutachten, die in der Abteilung Spielplangestaltung der Kunstkommission entstanden und z. B. von Fritz Erpenbeck, Willi Lewin oder Alfred Bagdahn stammten, wie auch um "Außengutachten" von freiberuflichen Lektoren bzw. von Gutachtern der Bühnenverlage Henschel und Aufbau. Verfaßt waren diese Texte zumeist auf eigens für die "Spielplankommission" erstellten Formularen: In entsprechend aufgeführten Rubriken geben sie Auskunft über den Inhalt des Stückes, seine "weltanschauliche Tendenz (inwieweit künstlerisch gestaltet)" und den "ideologischen Wert des Stückes". Außerdem existieren Vermerke für "Dramaturgisch", "Sprachlich", "Beurteilung der Musik" und "Besondere Bemerkungen, z. B. "ob Umarbeiten lohnt". 44 Zitat aus "Shakespeare dringend gesucht", in: Heinar Kipphardt, Shakespeare dringend gesucht und andere Theaterstücke, Reinbek 1988, S. 9. 45 Ebd., S. 337, zitiert aus dem Nachwort von Uwe Naumann, der sich auf die Eintragung vom I. April 1960 im Notatheft Kipphardts (Nachlaß) bezieht.

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Darüber hinaus wurden bei der Kunstkommission noch zahlreiche weitere Gutachten gesammelt, und zwar zu Stücken, die unabhängig vom Wettbewerb direkt bei der Theaterabteilung der Kommission eingereicht worden waren oder zu Texten, welche die nach der Bühnenautorentagung im Mai 1952 beim Schriftstellerverband eingerichtete "AG Dramatik" in Kopie der Abteilung zugestellt hatte. Die meisten Gutachten sind negativ ausgefallen, ein "erkennbares Talent" war nicht darunter, auch wenn manche Stücke sicherheitshalber drei- oder viermal beurteilt wurden. In der Regel handelte es sich um sogenannte Aufbau- oder Produktionsstücke, moralisch-erzieherische Texte, Lustspiele, Stücke, die gegen den "Westen" gerichtet waren, patriotische Stücke, Märchen, Kinder- und Jugendstücke oder Operettentexte. Diese Gutachten stellen eine wichtige Quelle dar. Sie lassen Rückschlüsse zu auf die von den Kulturbeamten der Kunstkommission angelegten ideologischen wie inhaltlichen Maßstäbe und geben möglicherweise eine Antwort auf die Frage nach Erfolg oder Mißerfolg bei der Umsetzung der kunstpolitischen Forderung der SED, eine neue deutsche Gegenwartsdramatik zu entwickeln und darüber hinaus auch auf diesem Gebiet den "neuen Menschen", d. h. einen neuen Typus von Künstler zu schaffen.

Weimarer Klassik in der DDR Ein Forschungsprojekt Von lngeborg Cleve

Vorzustellen ist ein Projekt, welches sich mit "Weimarer Klassik" in der DDR 1 befaßt. Es steht in Zusammenhang mit einem von Lothar Ehrlich und Gunther Mai geleiteten und von der VW-Stiftung geförderten Vorhaben zur Untersuchung der Instrumentalisierung von Weimarer Klassik seit dem Wilhelminischen Kaiserreich.2 Vor kurzem hat ein Symposium zum Thema "Weimarer Klassik" in der Ulbricht-Ära stattgefunden, wo der Umgang mit Weimarer Klassik anhand zentraler Institutionen und Projekte thematisiert und die Weimarer Klassik im kulturellen Feld der Diktatur verortet wurde, indem die damit verbundenen Kulturkonzepte, debatten und Paradigmen und deren ein- und ausgrenzende Funktionen vorgestellt wurden. Das Symposium machte deutlich, daß die Rolle der Weimarer Klassik in der DDR noch genauerer Klärung bedarf. In offiziellen Äußerungen der DDR-Führung wurde die Bedeutung Goethes und Schillers von einem durch Mehring und Lassalle formulierten und in den dreißiger Jahren durch Lukacs aktualisierten und marxistisch reflektierten Verständnis der Klassik hergeleitet, welches in Volksfront-Debatten im Exil eine wichtige Rolle gespielt hatte. Nach diesem Verständnis waren in der Weimarer Klassik Werte des Menschseins formuliert, deren Durchsetzung sich das Bürgertum zur Zeit seines Kampfes gegen den Feudalismus verschrieben, die es aber im Zuge seiner eigenen Entfaltung zur herrschenden Klasse verraten hatte, indem es ihre Geltung für die Arbeiter verneinte und sich dem preußischen Militarismus verschrieb. Erst im Sozialismus sollte die Entfaltung aller Menschen zu Individualität in Solidarität möglich werden, Sozialismus mußte in Deutschland daher, das implizierte diese sogenannte "Vollstreckertheorie", sozusagen zwangsläufig und notfalls auch zwangsweise Vollendung der Klassik bedeuten. Auf der Basis eines so verstandenen Humanismus ließ sich versuchen, bildungsbürgerliche Schichten anzusprechen t Einen Überblick über das Thema liefert Lothar Ehrlich, "Gemeingut der ganzen Gesellschaft". Weimarer Klassik in der DDR, in: Hans Wilderotter/Michael Darrmann (Hrsg.), Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik, Berlin 1999 [Ausstellungskatalog], S. 277-290. 2 Vgl. den von Lothar Ehrlich und Jürgen lohn herausgegebenen Symposiumband: Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln 1998.

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und für den Wiederaufbau zu mobilisieren, zugleich ließ sich die Vorbildlichkeit der Verbindung von Ideal und Wirklichkeit im künstlerischen Ausdruck der Klassik für das literarische Schaffen der sozialistischen Gegenwart ableiten und Schriftstellern und Theaterleuten gegenüber in disziplinierender Weise geltend machen. 3 Gegen Kriegsende wurde von Alexander Abusch im ,,Irrweg einer Nation" die historische Rolle der Klassik refonnuliert4 und im Prozeß der Staatsgründung und in der Ära Ulbricht in zahlreichen Reden und Veranstaltungen von staatsoffiziellem Charakter propagiert, wie etwa in den Goethe- und Schillerjubiläen 1949, 1955 und 1959, oder in den notorischen Äußerungen Ulbrichts von der DDR als "Faust III" oder vom Kommunistischen Manifest und Goethes Faust als den Fibeln sozialistischen Bewußtseins. An der Art und Weise der Propagierung und Inszenierung dieser simplifizierten Klassik als humanistischem Erbe, welches die Arbeiterklasse und damit die DDR angetreten habe, welches sich aber vielfach auf eine Handvoll Klassikerzitate reduzierte, läßt sich deren instrumenteller Einsatz erkennen, der auf Legitimierung und Disziplinierung gerichtet war. Darauf ist vielfach hingewiesen worden, in westlichen wie östlichen Untersuchungen, wenn auch in unterschiedlicher Absicht. 5 Ging es Untersuchungen in der DDR darum, anband der offiziellen Klassikpflege die unaufhaltsame Entfaltung des sozialistischen Humanismus nachzuzeichnen, so arbeiteten westliche Untersuchungen deren manipulatorischen und kulturkonservativen Charakter heraus.6 Gemeinsam ist beiden Seiten eine Perspektive, welche eine einheitliche, gleichmäßig durchgesetzte Parteilinie annimmt und von den dort festgelegten kulturpolitischen Intentionen auf Wirkungen (kurz-)schließt. Erfaßt diese Perspektive den Umgang mit Weimarer Klassik in der DDR wirklich hinreichend? Ließ die Komplexität der möglichen Lektüren und Umgangsfonnen, die in der Rezeptionsgeschichte der Klassik seit dem 19. Jahrhundert angelegt waren, ließ die kritische Abwendung von der Klassik, die in der Kultur der Weimarer Republik formuliert worden und auf Breitenwirkung gestoßen war, die Durchsetzung einer solchen reduzierten Rezeptionsweise nach Kriegsende und in den beiden Jahrzehnten danach zu? Jedenfalls erscheint in dieser Perspektive die Verwirklichung des Humanismus der Weimarer Klassik als ein gemeinsames Anliegen 3 Als Quelle zusammenfassend: Horst Haase u. a. (Hrsg.), die SED und das kulturelle Erbe. Orientierungen, Errungenschaften, Probleme, Berlin (DDR) 1988, S. 29-261 passim. Zur Legitimationsfunktion vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, S. 60-81. 4 Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin neubearb. Ausgabe 1949. s Zuletzt zusammenfassend von Peter Merseburger, Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht, Stuttgart 1998, S. 360-389. 6 Stellvertretend: Wolfgang Schlenker, Das "Kulturelle Erbe" in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945- 1968. Stuttgart 1977. Demnächst auch Manfred Jäger im Symposien band.

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von Funktionären und parteigebundenen Künstlern und Kulturvermittlern, welches einen durchgreifenden Anspruch auf die Umgestaltung des kulturellen Lebens und der künstlerischen Produktion rechtfertigen sollte. Die Absichten und Interessen von Politbüro und von parteigebundenen Kulturfunktionären, Kulturvermittlern und Künstlern werden gleichgesetzt, es wird unterstellt, daß die Rezipienten der Weimarer Klassik in der DDR mit der politischen Botschaft erreicht wurden und daß sie sich ihr entweder verschrieben oder sich dem sozialistischen Gesellschaftsaufbau verweigerten. Eine solche Sichtweise fallt, denke ich, auf die Rhetorik der offiziellen Klassikpflege herein. Die nähere Beschäftigung mit dem, was in der DDR im Umgang mit der Weimarer Klassik stattfand, offenbart Mehrdeutigkeiten, Konkurrenzen, Phasen, Widersprüche und Eigenläufigkeiten, die sich dem glatten Bild nicht fügen. Das Forschungsprojekt versucht, diese Ambivalenzen über einen anderen Zugang in den Blick zu bekommen, über das Konzept des Erinnerungsortes, wie es Pierre Nora anhand von Monumenten der französischen nationalen historischen Identität entwickelt hat. Inzwischen wurde dieses Konzept auch in Deutschland aufgegriffen.7 Erinnerungsorte wurden da gestiftet, wo während des 19. Jahrhunderts die kollektive Erinnerungen gesellschaftlicher Gruppen zusammentrafen mit dem Bemühen um die Konstruktion einer nationalen und daher abstrakten Geschichte im Sinne eines übergreifenden gesellschaftlichen Konsensus. Die Stiftung geschah im Rahmen einer Kulturöffentlichkeit, wo debattiert und ein Konsens über Erinnerungsorte hergestellt wurde. So fand nationale Geschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts Akzeptanz über die bürgerliche Gesellschaft hinaus. 8 Weimarer Klassik läßt sich im Sinne Noras als ein Erinnerungsort betrachten. Wie an anderen Erinnerungsorte auch übernahmen im Zuge der Nationwerdung Intellektuelle und Kulturvermittler im Kontext der Klassik die Aufgabe, kollektives Erinnern und abstrakte Geschichte zu verbinden. Anders als in Frankreich jedoch war in Deutschland kein nationaler Erinnerungsort unumstritten. Weimarer Klassik als Textkorpus fand in Auszügen Eingang in den gymnasialen Bildungskanon und wurde insoweit Allgemeingut des akademischen Bürgertums. Das Korpus blieb durch das Goethe-Schiller-Archiv, durch Goethehaus und Goethegesellschaft in enger Beziehung zur thüringischen Residenzstadt. Mit diesem zusammen wurde sie zu einem Erinnerungort protestantischer, mittelstädtischer Bildungsschichten, der dem großstädtisch-modernen, militärisch und industriell geprägten Berlin und seiner Kunst entgegengesetzt wurde. Am Ort Weimar selbst wiederum 7 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. II -33. Manfred Hettling I Paul Nolte (Hrsg.), Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handeins im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993. Etienne Franryois I Hannes Siegrist I Jakob Vogel (Hrsg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im 19. Und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995. Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995. 8 Dieter Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Hettling I Nolte, S. 46-64.

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entwickelte sich im Gegensatz zu dieser kulturkonservativen, retrospektiven Richtung ein Zentrum der bildkünstlerischen Avantgarde um die Kunsthochschule, später das Bauhaus, ein kulturphilosophischer Zirkel gruppierte sich um das Nietzsche-Archiv. Zu süddeutsch-katholisch geprägten Erinnerungsorten bestanden Beziehungen über Bayreuth als wiederum verwandtem und zugleich konkurrierendem Erinnerungscrt. Sie wurden verstärkt durch Versuche einer völkischen Deutung der Erinnerungsorte. 9 Daran wiederum hatte die NS-Propaganda anknüpfen können. 10 Dieser Hintergrund macht die Bedeutung plausibler, die dem Erinnerungsort in Deutschland in den Nachkriegsjahren zugemessen wurde, und die Intensität, mit der in SBZ und DDR versucht wurde, diesen Erinnerungsort symbolisch zu besetzen. Mit der Weimarer Klassik ließ sich nicht nur der Anspruch auf nationale Geschichte als Geschichte einer Kulturnation verbinden, in deren Tradition die DDR sich stellen ließ, indem sie diese Tradition nachträglich sowohl gegen deren nationalsozialistische Besetzung wie gegen ihre Relativierung durch die künstlerische Modeme verteidigte. Sie versprach außerdem einen Zugriff auf bildungsbürgerliche Kulturöffentlichkeit und damit auf ein Stück kollektives Gedächtnis und zugleich auf ein Selbstverständigungsmedium, das zur Propagierung der eigenen politischen Vorstellungen nach außen und zur Disziplinierung bildungsbürgerlicher Schichten nach innen eingesetzt werden konnte. Der Kulturbund spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle bei der Reorganisation und Kontrolle des kulturellen Lebens. Arbeitern und Bauern die Klassik nahe zu bringen hieß, diese durch die Sprengung einer Bildungsschranke in die Kulturnation zu integrieren. Der Erinnerungsort bot außerdem für die sowjetische Besatzungsmacht einen Zugang einem Teil der deutschen Kultur und Mentalität, welcher von der nationalsozialistischen Barbarisierung verschont geblieben zu sein schien, und eine Basis der Verständigung und des Werbens um Vertrauen, dessen sie dringend bedurfte. In methodischer Hinsicht verweist das Konzept des Erinnerungortes auf Rolle und Ziele der Intellektuellen. Zur Zeit der Entstehung nationaler Erinnerungsorte im 19. Jahrhundert war es ihre Aufgabe gewesen, zwischen den kollektiven Erinnerungen gesellschaftlicher Gruppen und dem Anspruch des Nationalstaates auf eine ihn begründende Geschichtserzählung, die von den Erinnerungsorten symbolisiert werden sollte, zu vermitteln. 11 Aus dieser Vermittlungsaufgabe leiteten sie 9 Vgl. Justus Ulbricht, "Wege nach Weimar" und "deutsche Wiedergeburt": Visionen kultureller Hegemonie im völkischen Netzwerk Thüringens zwischen Jahrhundertwende und "Drittem Reich", in: Wolfgang Bialas/ Burkhard Stenzel (Hrsg.), Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur, Weimar etc. 1996, s. 23-35. 10 Vgl. Ursula Härtl/Burkhard Stenzel!Justus H. Ulbricht im Auftrag der Gedenkstätte Buchenwald (Hrsg.), Hier, hier ist Deutschland ... Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, Göttingen 1997. 11 Bernhard Giesen, Die Intellektuellen und deutsche Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt/ Main 1993.

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nach Kriegsende ihren Anspruch auf Einfluß auf die Kulturöffentlichkeit und auf die Politik ab. Diejenigen, welche sich in dieser Situation engagierten, waren in das extrem polarisierte kulturelle Klima der Weimarer Republik hineingewachsen und hatten existentiell bedrohliche Erfahrungen von Widerstand und Exil, Verfolgung und Krieg gemacht. Zueinander standen sie in Konkurrenz um ein Publikum, dessen materielle und mentale Ressourcen erschöpft waren, und sie mußten sich um politische Akzeptanz bei den Besatzungsmächten sorgen, die ihrerseits auch kulturell Front gegeneinander bezogen. Gerade die Ambivalenz des Erinnerungsortes Weimarer Klassik schien diesen dafür zu prädisponieren, durch die Intellektuellen zwischen die Fronten des Kalten Krieges zu geraten. Daß dies nicht geschah, lag wesentlich daran, daß zwischen den Intellektuellen in Ost und West die Kommunikation rasch zusammenbrach und daß die Kulturöffentlichkeiten in beiden deutschen Staaten voneinander isoliert waren und höchst unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten bekamen. Der Verlauf des 1. Schriftstellerkongresses in Berlin 1947, dessen Protokolle kürzlich rekonstruiert worden sind, zeichnete exemplarisch die Spaltung zwischen den Intellektuellen in Ost und West nach. Dort wurde von vielen Rednern auf die Weimarer Klassik, besonders auf Goethe, verwiesen. Es ging aber hier weniger um den Dichter und den Erinnerungsort, sondern um den Versuch, die eigene Haltung in der unmittelbaren Vergangenheit zu überprüfen, gemeinsame Grundlagen für die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit und für zukünftige Denkhaltungen zu gewinnen. Durch Interventionen der Amerikaner und der Sowjets wurde deutlich, daß bis auf Weiteres systemkritische Haltungen und selbst skeptische Anmerkungen nicht in einer geschützten Sphäre des kulturellen Austauschs öffentlich debattiert werden konnten. Die Teilnehmenden waren stellvertretend für alle Intellektuellen in Deutschland vor die Entscheidung für eine Seite gestellt. Dabei implizierte die Option für den Osten einen Pakt mit der Macht - zunächst der Besatzer und dann der SED -, Alimentierung, Privilegierung und Disziplinierung gegen Mobilisierung und Formierung der Kulturöffentlichkeit 12 Anhand des Umgangs mit der Weimarer Klassik lassen sich sowohl die Haltung der kooperierenden Intellektuellen gegenüber dem sich formierenden Partei-, Staats- und Verwaltungsapparat als auch die Formierung der Kulturöffentlichkeit exemplarisch verfolgen. Diese Haltung war nicht unmittelbar vorgegeben, die Zurichtung auf eine enge Lesart der Weimarer Klassik, wie sie in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR propagiert werden sollte, geschah nicht automatisch, es gab zwischen verschiedenen Personen und Gruppen unterschiedliche Entwürfe und Kämpfe um deren Durchsetzung, die wesentlich mit unterschiedlichen Erfahrungen von sozialer Lage und Bildungsoptionen, politischer Partizipation, wissenschaftlicher oder künstlerischer Karriere, Verfolgung und Exil zusammenhingen. Auseinandersetzungen wurden nach 1945 aber gerade nicht, was für die Ent12 Ursula Reinhold!Dieter Schlenstedt/Horst Tanneberger (Hrsg.), Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.- 8. Oktober 1947. Protokoll und Dokumente, Berlin 1997.

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stehung einer neuen Kulturöffentlichkeit eine entscheidende Voraussetzung gewesen wäre, offen ausgetragen. Ein Teil akzeptierte, sich dem Publikum gegenüber belehrend zu verhalten, und nahm Simplifizierungen in Kauf. Diese Intellektuellen bestanden nicht auf ihrer Rolle als Vermittler zwischen Gesellschaft, kommunistischer Partei und Staatsmacht, sondern fungierten als Übermittler einer Botschaft an das Publikum, die von SED-dominierten kulturpolitischen Zirkeln entworfen worden waren, in deren Rahmen sie selber um Einfluß auf die Parteipolitik und auf die Regierungspolitik und damit um institutionelle Verfügungsmacht und um Ressourcen rangen. Diejenigen, die, wie Brecht oder Eisler, durchaus systemimmanent öffentliche Kontroversen über ihre Werke provozierten, wurden ebenso mit Sanktionen bedroht wie Kulturvermittler, die öffentliche Kontroversen unterstützten. 13 So drückt sich im Umgang mit Weimarer Klassik ein wichtiges Stück intellektueller Erfahrung mit der DDR aus. Eine Untersuchung von Weimarer Klassik eröffnet zugleich die Möglichkeit, etwas über die sie in der DDR umgebenden Kulturöffentlichkeiten zu erfahren, denn die Beziehungen zwischen Intellektuellen, Kulturöffentlichkeit und Parteimacht lassen sich an konkreten Umgangsweisen mit der Weimarer Klassik als einem vielgestaltigen Erinnerungsort, der auch in der DDR von den Gedenkstätten über die Schullektüre bis in Theaterinszenierungen der Klassiker reichte, aufzeigen. Wenn die Intellektuellen sich der nationalen Rekonstruktion als sozialistische Gesellschaft verschrieben, konnten sie politisch wirken, insofern sie Kulturöffentlichkeit für diesen Umbau zu mobilisieren vermochten. Daß eine solche Kulturöffentlichkeit wieder hergestellt, aber zugleich kontrolliert werden sollte, zeigen zahlreiche Initiativen der SMAD und der KPD I SED in den ersten Jahren nach Kriegsende. Sie wurde gebraucht, um Renommee nach außen zu gewinnen und um ein Forum für die Umerziehung der Bevölkerung abzugeben, aber auch, um einer traumatisierten, zersplitterten, verstummten und mit dem eigenen Überleben beschäftigten Bevölkerung das Bild einer funktionierenden Übergangsgesellschaft vorzuführen. 14 Dabei diente in denfünfzigerund sechziger Jahren die mit der Weimarer Klassik verbundene Gesellschaftsgeschichte, die Geschichte von Aufstieg, Verrat und Überwindung des Bürgertums, als historischer Hintergrund, vor dem etwa bei den zahlreichen Jubiläen deutscher Künstler und Philosophen wie auf einer Bühne Restauration und Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft evoziert wurde, wobei das Publikum gestisch in diese Aufführung eingebunden war. In dem Maße, wie die Kulturöffentlichkeit im eigenen Machtbereich in solcher und anderer Weise reglementiert und diszipliniert wurde, verloren die Intellektuellen, die sich im Namen des sozialistischen Gesellschaftsumbaus der Parteimacht verschrie13 Vgl. Gustav Just/Christoph Hein, Zeuge in eigener Sache. Diefünfziger Jahre, Berlin 1990. 14 Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 19451955, Bonn 4. Erg. Aufl. 1986, S. 37-65. Alexander von Plato/Airnut Leh, .,Ein unglaublicher Frühling". Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945- 1948, Bonn 1997, s. 99 - 124.

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ben hatten, ihre eigentliche Basis auch gegenüber der sich etablierenden Diktatur, während die Weimarer Klassik, isoliert von einer wirklichen Öffentlichkeit und in eine künstlich inszenierte Scheinöffentlichkeit gestellt, zum Massenspektakel verkommen mußte. In der DDR war Weimarer Klassik Gegenstand von Kulturprojekten, die von Intellektuellen in erzieherischer Absicht konzipiert wurden. Dabei konnten diese sich durchaus mit der Situation der Klassiker identifizieren, die sich nach dieser Lesart in einer abgeschiedenen Provinz lebend und den Regeln einer Residenzstadt unterworfen, mit den Konsequenzen eines weltgeschichtlichen Umbruchs und dessen Konsequenzen für eine bürgerliche Gesellschaft in der Kulturnation künstlerisch auseinandergesetzt und dabei den Zusammenhang zwischen Kunstwerken und Utopien, mentalen Prägungen und Verhaltensformen, Hochkultur und Alltagserleben reflektiert und in ihren Werken und Unternehmungen zur Schaffung einer Nationalkultur umgesetzt hatten. 15 Die Aufgabe, die sich den Intellektuellen nach Kriegsende stellte, konnte an die Erkenntnisse und Mittel der Klassiker anknüpfen. Nach Johannes R. Becher mußte es zunächst darum gehen, die gesamte nationalsozialistisch korrumpierte Bevölkerung durch eine kulturelle Offensive umzuerziehen und dabei an die Errungenschaften der Klassik als Verkörperungen eines "anderen Deutschland" anzuknüpfen. 16 Dies sollte in einer Reihe von Kulturprojekten geschehen, die unterschiedliche pädagogische und künstlerische Mittel verwandten und unterschiedliche Zielgruppen ansprechen sollten. Dabei war die konkrete Ausgestaltung von Projekten der Initiative der Intellektuellen zu einem gewissen Grade überlassen. Durchgesetzt werden konnten derartige Kulturprojekte letztlich nur, wenn sie im Einklang mit politischen Zielen der SED waren. In Debatten um Kulturprojekte wurden diese Ziele festgelegt und aktualisiert. Die Projekte zielten auf die Formierung einer Kulturöffentlichkeit, deren Reaktionen von den Intellektuellen selbst im Sinne der Parteilinie vorgegeben wurden- was allerdings nie restlos gelingen konnte. Der Erinnerungsort wurde durch parteilreue Intellektuelle instrumentalisiert, um kollektives Gedächtnis zu transformieren und über diese Gedächtnistransformation zur Mobilisierung für den Wiederaufbau und zugleich für eine Umstrukturierung der Gesellschaft beizutragen. Diese Umstrukturierung war durch die Neuordnung des Bildungswesens fundiert und wurde durch das dort vermittelte Kulturwissen unterstrichen. Die Teilnahme an Kulturprojekten war und blieb in der DDR ein Entree in den Intellektuellenstatus. IS Stellvertretend: Nicholas Boyle, Goethe. Der dichter in seiner Zeit, 2 Bände, München 199511999. 16 Becher stellte sein Umerziehungskonzept am 25. September 1944 auf einer Tagung des Politbüros der Exil-KPD in Moskau in Wilhelm Piecks Räumlichkeiten im Hotel Lux vor. SAPMO im Bundesarchiv, Nachlaß Wilhelm Pieck, Ny 4036/499 (FBS 93/1078) BI. 175177. Der Entwurf wurde durch die Vermittlung Lilly Bechers 1970 im Münchner .,Kürbiskern" S. 426 - 429 kommentarlos veröffentlicht. Bechers kulturpolitische Reden lassen sich auf dieses Konzept beziehen. Vgl. Karl-Heinz Schulmeister, Auf dem Wege zu einer neuen Kultur, Berlin 1977, S. 25-32.

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Im Umkreis der Klassikpflege in der SBZ/DDR lassen sich zunächst drei Kulturprojekte unterscheiden: die Dichterjubiläen der fünfziger Jahre, der Aufbau der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und schließlich die Goethe-Gesellschaft. Diesen Projekten ist gemeinsam, daß sie Klassik mit dem kulturpolitischen Auftrag popularisieren sollten, ein neues nationales und gesellschaftliches Bewußtsein entstehen zu lassen, welches sich im Umkreis der Projekte gemäß einem materialistischen Kulturbegriff, der hohe Kultur und Alltagskultur verklammerte, 17 an Äußerungen und Handlungen konkret angesprochener Adressaten wiederfinden und dokumentieren lassen sollte. Im Rahmen dieser Kulturprojekte verband sich die SED-Ideologie des "Erbens" mit Denken und Handeln nicht nur der intellektuellen Vermittler, sondern auch mit Reaktionen der Adressaten im Rahmen der formierten Kulturöffentlichkeit Diese Reaktionen ließen sich nicht auf symbolische Inszenierungen beschränken. Die Kulturprojekte erforderten Interpretieren und Interagieren und machten die Formulierung von Interessen der Adressaten und der Kulturvermittler, kulturvoll verkleidet, möglich. Zunächst werden mit den großen Dichterjubiläen- dem Goethejahr 1949, den Schillerjubiläen von 1955 und 1959 -traditionelle Formen der Konstituierung und Erneuerung von Erinnerungsorten aufgegriffen und für die Propagierung kulturpolitischer Ziele und für die Mobilisierung der Gesellschaft eingesetzt. Dabei geht es einmal um die Weise, wie politische Ziele und intellektuelles Renommee aufeinander bewgen werden. Eine Untersuchung der Inszenierungen und der Mobilisierungsweisen ermöglicht es zum andern, Einblicke in die Formierung der Kulturöffentlichkeit zu gewinnen. An zweiter Stelle stehen die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG). Sie wurden 1953 gegründet, als Institution zur Erhaltung der Gedenkstätten der Klassiker, zur Aufbereitung ihrer im GoetheSchiller-Archiv gesammelten Überlieferung und zur kulturpädagogischen Vermittlung des klassischen Erbes. An der Geschichte dieser Institution samt ihrer schwierigen Vorgeschichte läßt sich nicht nur die Formierung der Kulturöffentlichkeit zeigen, sondern auch das Scheitern dieses Ansatzes und die Bemühungen, durch touristische Angebote die subventionierte Fortexistenz zu sichern, nachdem klar wurde, daß die Legitimationsfunktion entfiel und daraufhin das Interesse der Parteizentrale merklich sank. Die NFG schufen sich im Laufe der Zeit ihr eigenes Publikum, welches sich dem Bild des lesenden Arbeiters nicht angleichen wollte. Als drittes Kulturprojekt kann die Goethe-Gesellschaft gelten. Hier läßt sich einerseits zeigen, wie parteigebundene Wissenschaftler, darunter auch der Leiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, Helmut Holtzhauer, versuchten, im Vorstand der Goethe-Gesellschaft Einfluß zu gewinnen, um diese als lnstru17 Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Ersten Kulturtages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 5. bis 7. Mai 1948 in der Deutschen Staatsoper zu Berlin. Berlin 1948.

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ment der Propagierung marxistischer Forschungsansätze und ostdeutscher Gesellschaftsbilder zu benutzen. Andererseits bot eine Position im Vorstand der GoetheGesellschaft die Möglichkeit zu Westreisen, und es bildeten sich Arbeitskoalitionen zwischen Ost und West, um in politischen Krisenzeiten den Fortbestand der Gesellschaft zu sichern. An den Bemühungen, die Mitgliederstruktur der Ortsvereine der Goethe-Gesellschaft zu beeinflussen, wird deutlich, wie ein umfassender kulturpolitische Zugriff sich totlief, aber auch, wie sich ein bildungsbürgerliches Publikum gegenüber den Versuchen der Partei, es zu kontrollieren, zu isolieren und durch neue Bildungsschichten zu ersetzen, eine residuale eigene, abgeschirmte Kulturöffentlichkeit erhielt. Welche politische Bedeutung den angeführten Kulturprojekten zugeschrieben wurde, zeigt sich nicht zueletzt daran, inwieweit das Beziehungsgeflecht zwischen Intellektuellen, Kulturöffentlichkeit und Funktionären im Blick der Staatssicherheit war. Diese Ebene ist bisher nicht zugänglich gemacht worden. Es wird versucht, sie zumindest bei den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten und bei der Goethe-Gesellschaft zu berücksichtigen. Der humanistische Anspruch, der in der politischen Rhetorik steckte, erstickte gerade dadurch, daß die Kulturöffentlichkeit und die Institutionen der Erbepflege bespitzelt und operativ bearbeitet wurden, an seinem zynischen Widerspruch. Die drei genannten Kulturprojekte waren kulturpolitisch motiviert, in Loyalität zur SED-Kulturpolitik getragen von intellektuellen Kulturvermittlern und zielten auf die Formierung spezifischer Kulturöffentlichkeiten. Weimarer Klassik spielte in der DDR in Bereichen eine wesentliche Rolle, deren interne Dynamik wiederum die Kulturprojekte beeinflussen sollten - der akademischen Germanistik und im Schulunterricht, auf dem Theater, in der zeitgenössischen Literatur und in den Medien. So kollidierte der Anspruch, ein wissenschaftlich abgesichertes und zugleich der Parteilinie konformes Klassikbild zu liefern, welches der offiziösen Klassikvermittlung zugrunde liegen sollte, mit der Konkurrenz akademischer Schulen der "Scholzianer" und der "Brechtianer", was Raum ließ, dogmatische Lehrmeinungen zu unterlaufen und alternative Sichtweisen zu pflegen. Die zunehmende Einsicht in das mangelnde reale Interesse der angesprochenen Erben an der Klassik führte weiterhin im Umkreis der Germanistik zu alternativen kulturtheoretischen Konzepten, die versuchten, dem erzieherischen Impetus der Kulturprojekte empirische Analysen und theoretische Konzepte kultureller Bedürfnisse entgegenzusetzen. Eine wichtige Rolle spielten bei der Klassikrezeption wie bei der Emanzipation und Ausweitung von Kulturöffentlichkeit Aufsehen erregende KlassikInszenierungen, von Wolfgang Langhaffs "Faust" 1949 am Deutschen Theater in Berlin über den umstrittenen Urfaust Brechts 1953 und der verhinderten FaustOper Eislers im Jahr darauf hin zu den Modellinszenierungen von Bennewitz am Deutschen Nationaltheater in Weimar 1965 (Faust 1), 1967 (Faust 11) und 1975, zur umstrittenen und mehrfach geänderten Version 1968 von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz 1968, zum populären und witzigen Schweriner Faust von 1979, der bis 1986 über hundert Aufführungen erleben sollte - unter anderem auch bei einem 27 Timmermann

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Gastspiel in der Alten Feuerwache in Saarbrücken, und schließlich zur Dresdner Inszenierung von Wolfgang Engel, die I 990 das Ende der DDR begleitete. Die Figur des .,Faust" geriet dabei, argwöhnisch beobachtet von Kulturfunktionären, von einer erzieherischen Leitfigur zu einer Verkörperung individueller Sinnsuche, welche vom Publikum zunehmend selber gegen den verordneten .,sozialistischen Menschen" eingefordert wurde. Aber auch Inszenierungen des .,Wallenstein" von Wekwerth oder Plenzdorfs vielgespielte .,Werther"-Version für die Bühne, zuerst in .,Sinn und Form" abgedruckt, dessen Chefredakteur der kulturpolitische Hardliner Wilhelm Girnus war, dürfen nicht außer acht gelassen werden. Jede dieser Inszenierungen markierte Beziehungen zwischen Künstlern und Intellektuellen, Partei und Kulturöffentlichk:eit, und diese Beziehungen änderten sich. Nachlassendem Interesse der Parteiführung korrespondierte eine selbstbewußter werdende Kulturöffentlichk:eit, die Künstler und Intellektuellen verstanden sich wieder als deren Sprecher und nicht mehr als Vormünder, das läßt sich anhand der Debatten um die Aufführung erkennen. In der Literatur spielte der heftig propagierte und disziplinierend eingesetzte .,Sozialistische Realismus", der Weimarer Klassik zum literarischen Vorbild kanonisieren sollte und der damit verbundene ..Bitterfelder Weg", also der literarisch konsequenzenreich gescheiterte Versuch, Prinzipien des klassischen Realismus und Arbeitswelt in eine gesellschaftlich fruchtbare Beziehung zu setzen, eine zentrale Rolle. Auch im literarischen Bereich interagierten Intellektuelle, Funktionäre und Publikum. Die Popularisierung klassischer Werke trug dazu bei, kritische Themen anspielungsreich thematisieren zu können. Eine Untersuchung der Kulturprojekte erweitert den im Bereich von Literatur und Theater etablierten Befund, daß sich nämlich die Weimarer Klassik nicht auf Dauer einer einzigen, armseligen Lesart unterwerfen ließ. Dagegen sprachen ihre eigene Vielgestaltigkeit ebenso wie die unterschiedlichen Positionen und Interessen von Intellektuellen und die Vielzahl von kleinen Kulturöffentlichkeiten im Rahmen von Kulturbund, Goethevereinen oder Theaterinszenierungen, die sich nicht dauernd überwachen und disziplinieren ließen, sondern umgekehrt im Rahmen der Kulturprojekte kleinräumige Wirksamkeit im alltäglichen Handeln entfalten konnten. Umgekehrt erzwang die auf Dauer nicht zu ignorierende Beobachtung, daß die Propagierung hochk:ultureller Objektivationen nicht wesentlich Popularität gewinnen konnte, mediale Anpassungen an das Unterhaltungsbedürfnis breiter Schichten. Weimarer Klassik wurde nicht zuletzt durch Film und Fernsehen ein Stück Unterhaltungkultur. Weimarer Klassik als Erinnerungsort war nicht auf die DDR beschränkt. Die offizielle Klassikerpflege vertrat stets auch repräsentative Aufgaben nach außen, insbesondere gegenüber der Bundesrepublik, während die Klassikvermittler und ihr Publikum Einflüsse von da aufgreifen konnten, wenngleich gefiltert. Auch bei diesen Ost-West-Kontakten spielten die Kulturprojekte seit den Dichterjubiläen eine wesentliche, nicht ganz steuerbare Rolle. Theater und Literatur wiederum

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boten Interpretationen an, aus denen sich gerade im kleineren Rahmen der Kulturprojekte Verständigungsmittel für eine neue, kritische Kulturöffentlichkeit entwickeln konnten, die zum Teil in den Nischen und Winkeln des Erinnerungsortes ihren Unterschlupf fand. Intellektuelle meldeten durch Kulturprojekte Ansprüche auf Ressourcen und auf die Möglichkeit, sich gegenüber den latent intellektuellenfeindlichen Funktionären der SED öffentlich zu äußern, an. Einige versuchten allmählich, mit der von ihnen kontrollierten Kulturöffentlichkeit um den Erinnerungsort Weimarer Klassik sich eine eigene Basis gegenüber der Parteimacht zu verschaffen. Daraus erwuchs aus der Sicht der Funktionäre deren politische Brisanz, was Überwachung rechtfertigte, was aber auch zur Einrichtung von internen, nichtöffentlichen Gremien etwa in der Akademie der Künste führte, in denen Konflikte ausgetragen wurden. In dem Maße, wie die Weimarer Klassik im Zuge der zwangsweise durchgesetzten Eigenstaatlichkeil und Abgrenzung und der gesellschaftlichen Transformation aus der Sicht der Parteispitze an legimierender Kraft verlor, desto größer wurden Spielräume der Interpretation und der Interaktion zwischen Publikum und Intellektuellen. Mit Hilfe der Kulturprojekte rückte Weimarer Klassik ein Stück in den gesellschaftlichen Raum zurück und schuf dort Verständigungsmöglichkeiten. Ein kämpferischer Aufbruch aus der Erstarrung war mit dem Erinnerungsort nicht verbunden. 18

18 Ygl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bann 1997. Neubert war von 1964 bis 1984 Gemeinde- und Studentenpfarrer in Thüringen und wirkte u. a. 1983 in Weimar an einer Unterschriftensammlung gegen Kriegsspielzeug mit. In seiner Darstellung kommt Weimar nur en passant vor, Weimarer Klassik nicht. Die marginale Rolle wird von Christoph Victor, Oktoberfrühling. Die Wende in Weimar 1989. Weimar 1992, bestätigt.

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Versuche geistiger Erneuerung im Vorfeld der DDR Notizen zu zwei Potsdamer SchriftsteUern Von Fritz Reinert

Die DDR war schon vor ihrer Proklamierung ein Staat der Schriftsteller, so charakterisiert der Literaturwissenschaftler Hans Mayer die kulturpolitische Entwicklung Ostdeutschlands nach 1945. Da sich die im Exil wirkenden Schriftsteller mehrheitlich dem Osten Deutschlands zugewandt hatten, will er der jungen Bundesrepublik diesen Bonus nicht zubilligen. 1 Als kompetenter Zeitzeuge ostdeutscher Geschichte wirft er die Frage auf, ob das Scheitern der DDR "nicht einen -möglicherweise- guten Anfang" widerlege. Seine Antwort (und These): Es sei "moralisch und charakterologisch" nicht berechtigt, den Versuch, "ein besseres und neu strukturiertes Gemeinwesen" zu schaffen, "vom Ende her zu deuten"2 • Da es jedoch nicht ausreicht, die guten Motive für eine Alternative nennen zu können, bleibt sein methodischer Ansatz strittig; wird doch immer öfter im öffentlichen Dialog die Frage gestellt, wieweit die Fehler nicht am Ende des gescheiterten Experiments saßen, sondern beim Beginn, wenn der Versuch als das Richtige erschien. Nur zögernd bildet sich in der wissenschaftlichen Diskussion eine realistische Bewertung des Ausgangspunktes dieses Versuchs heraus. Und doch können zunehmend übereinstimmende Auffassungen in der Beurteilung des kulturellen Neubeginns beobachtet werden. So bei der Wertung der Kulturpolitik in der SBZ, die von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und von der von ihr protegierten KPD I SED initiiert, beeinflußt und natürlich auch kontrolliert wurde. Bei allihrer Ambivalenz ermöglichte sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine hoffnungsvolle kulturpolitische Öffnung. 3 Diese Realität kulturpolitischen I Vgl. Hans Mayer. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Der Turm zu Babel, Frankfurt/M. 1991, S. 188. Es gehört ,,zu den Erbsünden dieses großen Teilstaates", vermerkt hier Mayer, daß er sich ,.nicht dazu entschließen konnte, die verjagten Emigranten, soweit sie noch lebten, zur Rückkehr aufzufordern". (Ebd.) 2 Ebd., S. 16f. 3 Vgl. lrmo Hanke, Deutsche Traditionen. Notizen zur Kulturpolitik der DDR, In: Rückblicke auf die DDR, in: Edition Deutschland Archiv, Köln 1995; Rüdiger Thomos, Zum Projekt einer Kulturgeschichte der DDR. In: Heiner Timmennann (Hg.) Diktaturen in Europa im 20. Jh. -der Fall DDR, Berlin 1996.

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Anfangs ist auch mit einer Abwertung "schwärmerischer" Erinnerungen4 an jene Jahre nicht aus der Welt zu schaffen. Neue Möglichkeiten kultureller Entwicklung wurden sichtbar bei der Förderung des künstlerischen Lebens, das, wie Isaac Deutscher im Oktober 1945 schrieb, "in Berlin und in den Provinzen ... vorwiegend dank russischer Unterstützung neu belebt worden (ist)".~ Dieser Entwicklungsmöglichkeit, zu der die materielle Förderung der künstlerischen Intelligenz kam, wird - wenn auch nicht uneingeschränkt - von Literaturhistorikern eine enorme kulturpolitische Bedeutung beigemessen. Für die Kulturpolitik der SMAD in den ersten Nachkriegsjahren ist eine eher zurückhaltende, bewahrende und liberale Haltung charakteristisch. Im Unterschied zu ihrer ansonsten scharfen Kontrolle im Pressewesen "seien die Russen geneigt, vieles zu vergessen, wenn es sich um Künstler handelt"6 , beobachtete die OS-Militärregierung im Sommer 1945. Ihrer Kulturpolitik, die "Säuberungsmaßnahmen" gegen nazistisch belastete Künstler (Internierungen, Auftrittsverbote) nicht ausschloß, lag insgesamt "eine fast fanatische Verehrung von Kunst und Künstlern" zugrunde. Die Wiederbelebung des Kulturlebens war für sie "eine Aufgabe ersten Ranges ... , nicht nur, weil sie eine beruhigende Wirkung auf die Bevölkerung brauchte, sondern weil sie von der Notwendigkeit eines solchen Kulturlebens für die Menschheit ganz überzeugt ist, ganz gleich wie unnormal die Zeiten sonst auch sein mögen". Es war auch die Auffassung der übrigen Alliierten, daß die Kultur als Instrument der Umeniehung wirken, fiir den Bruch mit der Vergangenheit und für die Gewinnung der Deutschen zu einem demokratischen Neubeginn sorgen sollte. Das darauf gerichtete Wirken sowjetischer Kulturoffiziere blieb jedoch ambivalent: Eingebunden in enge Befehlsstrukturen (und das bedeutete auch, zentrale Vorgaben sowjetischer Kulturpolitik in der SBZ umzusetzen), in ihrem Handeln aber oft von humanistischen Grundpositionen getragen, verkörperten sie in gewissem Maße ein widersprüchliches Verhältnis von Macht und Geist, das sie als Einzelne selbst aber kaum entscheidend beeinflussen konnten. ,,Ergänzt" wurden diese Rahmenbedingungen für die kulturpolitische Entwicklung in der SBZ durch die offizielle Kultur- und Bündnispolitik der KPD. Ihre wichtigsten, für die erste Nachkriegszeit bestimmenden Komponenten waren: Antifaschistische und antimilitaristische Zielsetzung, die an humanistische Traditionen des Bürgertums in der Kunst, die bewahrt und gepflegt werden sollten, anknüpfen wollte, eine Einbeziehung der bürgerlichen Intelligenz in den Aufbauprozeß, die durch entsprechende Vergünstigungen unterstützt wurde und die 4 Für Jäger sind Erinnerungen an diese ersten Jahre, die betonen, daß es nie soviel Anfang in der kulturellen Entwicklung gab, pathetische Formulierungen, "schwärmerische Gläubigkeit". (Vgl. Materialien der Enquete-Kommission, "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden, Frankfun/M. 1995, Bd. 111.1, S. 419.) s Zitiert nach Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bonn 1991, S. 375. 6 Zitiert nach ebd., S. 438 f.

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Besetzung der Schlüsselpositionen des Kulturapparates mit Kommunisten sowie Anfange einer Schul- und Hochschulreform. Die kulturpolitische Strategie der KPD- in ihren Grundzügen wurde sie faktisch bereits bei der von ihr initiierten Gründung des Kulturbundes im Sommer 1945 durch Johannes R. Becher dargelegt- schien Chancen zu bieten für ein neues Miteinander von Geist und Macht auf kulturpolitischem Gebiet. Der sich einbürgernde Begriff "Erneuerung" der Kultur ließ Auslegungen auf die Überwindung des Widerspruches zwischen Geist und Macht zu. Hoffnungen bei den "Kulturschaffenden", daß es in diesem Bereich gelingen könne, annähernd gleichberechtigte Beziehungen zu den politisch herrschenden Kräften herzustellen, wurden auch durch die kulturpolitischen Ziele, die die KPD auf ihrer ersten zentralen Kulturtagung (Februar 1946) verkündete7 , geweckt. Angesichts der allgemein schwierigen Lebensbedingungen nahm die künstlerische Intelligenz die fördernden Maßnahmen im Kulturbereich mit Erstaunen und Respekt wahr. Mehrheitlich akzeptierte sie die auf Konsens ausgerichtete Kulturpolitik von SMAD und KPD. Hinsichtlich der Schriftsteller galt dies auch für die Autoren unterschiedlicher Konvenienz, so sie bereit waren, bei der ,,Neugeburt des deutschen Geistes" (Programm des Kulturbundes) mitzuwirken. Jene bürgerlichen Autoren, die entschieden auf die demokratische Literatur der Weimarer Republik zurückgriffen und die sich aufgrund ihrer bitteren Erfahrungen mit der NS-Zeit bemühten, eine antifaschistische Literatur zu schaffen, sahen Möglichkeiten, hierbei mit den politisch führenden Kräften zusammenzuwirken. Manche Autoren, die sich "unpolitisch" wähnten, verhielten sich distanzierend zur vorgegebenen Orientierung des Kulturbundes, bei der Vernichtung der Naziideologie mitzuwirken. Bei anderen, die meinten, daß das Programm des Kulturbundes und die Kulturpolitik der KPD identisch sei mit ihrer Sicht, wurde durch das sich anbahnende, günstige kulturelle Klima das Verständnis für ein kooperatives Handeln im antifaschistischen Sinne befördert. Ihre Bereitschaft, mit künstlerischen Mitteln ihren Anteil zur Vergangenheitsbewältigung zu leisten, schuf nicht zuletzt außerordentlich günstige Bedingungen, um die Kluft zwischen ihnen und den aus dem Exil zurückkehrenden Literaten, die in der SBZ den Versuch eines gesellschaftlichen Neuanfangs sahen8 , zu überbrücken. Von Anfang an war die Kulturpolitik darauf gerichtet, die innere Bereitschaft der Kulturschaffenden zur aktiven Unterstützung des politischen Wiederaufbaus zu 7 Aus den Orientierungen der KPD-Tagung zur Erneuerung der Kultur (Februar 1946) ist ablesbar, daß durch eine entsprechende Politik die ,.wahren Träger der fortschrittlichen und freiheitlichen Kultur" für die geforderte Wiedergeburt gewonnen werden sollten. Pieck erklärte hier z. B., daß die Losung deshalb lauten müsse: ,.Anknüpfung an die besten Traditionen! Vermeidung jeden Drucks!" (Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945- 1949, Berlin 1983, S. 140.) 8 Für die Schriflsteller, die in die SBZ gingen, schien, so Jäger, hier eine ,.attraktive Alternative zur restaurierten Bürgerwelt in den Westzonen. .. möglich." (Materialien der EnqueteKommission, a. a. 0 ., S. 420.)

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erreichen. Die kulturpolitische Orientierung der KPD blieb dabei grundsätzlich ihrer Strategie zur Machteroberung und -festigung und dem Erreichen ihres politischen Endziels 9 untergeordnet. Denn die Kräfte, "die das Steuer der Politik und den Einfluß auf die Wirtschaft haben", werden "in hohem Maße auch die kulturpolitische Entwicklung (bestimmen)" 10, erklärte Anton Ackermann auf der zentralen Kulturtagung der KPD. Die KPD, die ihr Ideal in einer Kunst sah, "die ihrem Inhalt nach sozialistisch, ihrer Form nach realistisch ist" 11 , ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß mit ihrer Kulturpolitik eine "Pseudokunst" nicht gefördert werde. 12 Benannt war hier jedenfalls in Umrissen das Zukunftsziel einer systembedingten Kulturpolitik, die insbesondere auf literaturpolitischem Gebiet aber erst nach der DDR-Gründung konkret verwirklicht werden konnte. Insofern ruft Manfred Jägers Auffassung, daß "alle die Kulturpolitik der späteren DDR prägenden Ziele und Eigentümlichkeiten" bereits vor der DDR-Gründung "entweder realisiert oder perspektivisch formuliert wurden" 13, Widerspruch hervor. Mit der nachfolgenden - zeitlich und inhaltlich begrenzten - Studie zum Wirken der Schriftsteller Bernhard Kellermann und Hermann Kasack ist beabsichtigt, sich der Realität damaliger Kulturpolitik zu nähern. Bei diesem Versuch kann verdeutlicht werden, daß beispielsweise die frühe ostdeutsche Literaturentwicklung durchaus differenzierter verlief, als mitunter noch dargestellt wird. Der These Jägers, daß die prägenden kulturpolitischen Ziele bereits in den 40er Jahren realisiert wurden, kann ich aufgrund meiner Einzeluntersuchungen nicht zustimmen. (Dies schließt keinesfalls eine relativ frühe Realisierung zentralgelenkter Zielvorgaben in anderen Kulturbereichen aus, worauf u. a. Friedrich Luft hingewiesen hat. 14) Umstritten bleibt m. E. auch eine andere These Jägers, daß in der ostdeutschen Kulturpolitik Zuckerbrot und Peitsche als zwei Seiten der Regierungspolitik von Anbeginn bestimmend gewirkt hätten. 15 Daß es in einzelnen kulturpolitischen 9 Auch durch die Arbeit auf kulturpolitischem Gebiet müsse der Weg freigemacht werden für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. erklärte Pieck auf der zentralen KPD-Tagung im Februar 1946. tO Ackermann bezog dies in seinem Grundsatzreferat eindeutig auf die "sozialistische Arbeiterbewegung". (Vgl. Um die Erneuerung der deutschen Kultur, a. a. 0., S. 128.) II Ebd., S. 141. 12 Nicht eingegangen werden kann dieser Stelle auf die frühzeitige Isolierung der ostdeutschen Literatur von literarischen Entwicklungen der westlichen Hemisphäre. 13 Materialien der Enquete-Kommission, a. a. 0., S. 425. 14 Berlins berühmter Theaterkritiker spricht schon 1946 in einem Bericht über eine Aufführung im Deutschen Theater von "einem sonderbaren Realismus" und belegt, daß mit der Premiere von Konstantin Simonows "Russische Frage" im gleichen Hause im Mai 1947 die Methode des sozialistischen Realismus konstituiert wurde. (Vgl. Petra Kohse, Gleiche Stelle, gleiche Welle. Friedrich Luft und seine Zeit, Berlin 1998, S. 102 ff.) 1s So Manfred Jäger im September 1998 auf dem Symposium "Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht". Tendenziell ähnliche Auffassungen wurden im November 1998 in der Sektion Kultur der Internationalen DDR-Forschertagung "Neue Analysen und Erkenntnisse zur DDR-Geschichte" der Europäischen Akademie Otzenhausen ebenfalls sichtbar, aber auch hier polemisch erörtert.

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Bereichen zensorische Eingriffe bzw. Eingrenzungen gab ist evident. 16 Bei allen beschämenden Beispielen repressiv-gängelnder Kulturpolitik in der späteren DDR - die Kulturpolitik der ersten Nachkriegsjahre war nicht durch den oben beschriebenen Mechanismus von fördernden und repressiven Maßnahmen charakterisiert. Das gilt insbesondere für die literaturpolitische Entwicklung dieser Zeit. (Zwar gab es schon 1946 einen "Kulturellen Beirat" mit der Aufgabe, Manuskripte zu überprüfen und die private Verlagsproduktion wurde schon früh von sowjetischen Stellen kontrolliert, aber entscheidende, restriktive Eingriffe in die Literaturentwicklung sind erst ab Beginn der 50er Jahre deutlich feststellbar.) Autoren unterschiedlicher ideeller Provenienz sahen offenbar in dem im Sommer 1945 gegründeten Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands eine mögliche antifaschistische Sammlungsbewegung, in der sie künstlerisch verantwortlich für ein neues Deutschland wirken konnten. Als überparteiliche und überzonale Organisation gebildet, sah er sich "einer streitbaren demokratischen Weltanschauung" 17 verpflichtet und wollte dafür breiteste Schichten der Intelligenz gewinnen. Sein Programm, in der Diktion von dem Dichter Johannes R. Becher (KPD), dem ersten Kulturbundpräsidenten, geprägt, war auf eine Bündnispolitik gerichtet, die auf Dialogbereitschaft und Differenzierung setzte. Dem Kulturbund war in der von oben gelenkten Kulturpolitik eine zentrale Rolle zugedacht. Offensichtlich entsprachen aber auch die kulturpolitischen Intentionen von SMAD bzw. KPD den Hoffnungen der Vertreter des geistig-kulturellen Lebens, die auf einer Kundgebung vom 3. Juli 1945 in Berlin die Gründung des Kulturbundes begrüßten. Das von ihnen beschlossene Manifest forderte, die faschistischen Irrlehren aus dem Denken und Fühlen der Deutschen zu verbannen und eine Wiedergeburt der deutschen Kultur im Zeichen der Wahrheit und des freiheitlich-demokratischen Geistes zu vollziehen. Zu den über tausend Anwesenden jener Veranstaltung im Berliner Rundfunkhaus gehörte Bemhard Kellermann, nachfolgend einer der Vizepräsidenten des Kulturbundes. 18 Zu einem Zeitpunkt, da die weitere Entwicklung dieser Organisation noch nicht eindeutig abgesteckt schien, griff Kellermann in seiner Rede vor den hier Versammelten den Gedanken vom Kulturbund als einem geistigen und kulturellen Parlament auf, das die Verpflichtung habe, "die Rechte des Volkes: Freiheit in Schrift und Wort, Freiheit der Künste und Wissenschaften als unverletztlieh bis aufs Messer zu verteidigen" 19 • In der nachfolgenden Zeit hoffte er jedenfalls, da es noch entsprechende offizielle Erklärungen der SED-Führung zur 16 Friedrich Luft mußte beispielsweise wegen seiner kritischen Haltung zu einem russischen Film im Sommer 1945 seine Tätigkeit im Rundfunk beenden und, so berichtete Wolfgang Harich, im darauffolgenden Jahr lehnte er seine Mitarbeit in der Täglichen Rundschau ab, weil er sich dort geistig eingeengt flihle. (Vgl. Petra Kohse, a. a. 0., S. 72, 68.) 17 Zitiert nach Kleßmann, a. a. 0 ., S. 440. 18 Kellermann war ursprünglich sogar als Präsident vorgesehen. 19 Zitiert nach: Hoffnung & Erinnerung. Potsdamer Literatur 1945 bis 1950. Texte und Betrachtungen, hrsgb. von Mathias lven, Milow 1998, S. 289.

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parteipolitischen Neutralität des Kulturbundes gab, Unabhängigkeit und Überparteilichkeit desselben wahren zu können. Ein Jahr nach Gründung des Kulturbundes vertrat Kellermann den Standpunkt, daß dieser eine Art Kunstverein sei, der die Aufgabe habe, weiten Kreisen des Volkes kulturelle Bestrebungen zu vermitteln. Diese Auffassung deckte sich damals mehrheitlich mit der Meinung von Mitgliedern des Kulturbundes, die freimütig bekannten: Wir wollen von Politik nichts hören! 20 Dieses Streben nach "unpolitischer" Haltung kam bei ihnen maßgeblich aus den Erfahrungen wie Politik in der Zeit des Faschismus für verbrecherische Ziele instrumentalisiert und sie selbst durch die NS-Ideologie manipuliert worden waren. Vielfach wurde diese Haltung aber auch mit gegenwärtigen Erfahrungen begründet. Dr. Ferdinand Friedensburg (CDU), der auf dem I. Bundeskongreß des Kulturbundes (Mai 1947) erklärte, daß sich die innere geistige Erneuerung des Bundes langsamer vollzog, "als wir vor zwei Jahren hoffen zu können geglaubt haben", verwies darauf, daß sowohl das Fehlen eines wirklichen Friedenszustandes und einer Selbstbestimmung unseres Volkes über sein eigenes Schicksal, als auch das noch nicht absehbare Ende materieller Not der Menschen vielfach politisches Desinteresse hervorrief. Alle diese Enttäuschungen und Schwierigkeiten, die wir zugeben müssen, so Friedensburg weiter, bilden keine gute Voraussetzung, "für eine wirkliche innere geistige Erneuerung und für das Ausbilden einer demokratischen Reife"21 . Friedensburg wie Klaus Gysi und Pfarrer Kar! Kleinschmidt (beide SED) erklärten in diesem Zusammenhang, daß die Überparteilichkeit des Kulturbundes, um die täglich gerungen werden müsse, wie Kleinschmidt hervorhob, eine wichtige Bedingung bzw. Grundlage der geistigen Auseinandersetzung im Kulturbund bilde. Aufgegriffen wurde damit eine Grundaussage des Hauptreferates von Becher auf dem Kongreß, daß der Kulturbund nur als unabhängige und überparteiliche Bewegung bestehen und so seine Aufgabe jetzt und in der Zukunft erfüllen könne. Becher bezeichnete es als einen "Akt der Selbstbehauptung, wenn wir uns gegen jeden Eingriff seitens einer Partei auf das entschiedenste wehren". Ohne die SED zu nennen, deren hegemoniales Vormachtstreben auf kulturellem Gebiet noch nicht offen formuliert w~2 • setzte er hinzu: "Wir gestehen keiner Partei das Recht zu, eine geistig-kulturelle Erneuerung allein für sich in Anspruch zu nehmen." 23 Zu diesem Zeitpunkt, da der Übergang der SED zu ihrer Stalinisierung noch nicht vollzogen war, teilten einzelne Vertreter der Parteiführung aus taktischen Gründen 20 Berichte über die Arbeit des Kulturbundes für das Land Brandenburg und für Potsdam vermerken das ausdrücklich auch für 1948/49. (Vgl. Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Ld. Br. Rep. 332, SED-Landesverband Brandenburg - nachfolgend: BLHA, Rep. 332 -, Nr. 706, 717.) 21 Der Erste Bundeskongreß. Protokoll der ersten Bundeskonferenz des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlandsam 20. und 21. Mai 1947 in Berlin, Berlin 1947, s. 14. 22 Ihr Führungsanspruch wurde auf dem Ersten Kulturtag der SED (Mai 1948) deutlich begründet. 23 Ebd., S. 57.

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noch die Auffassung von einer parteipolitischen Unabhängigkeit des Kulturbundes, um das angestrebte Bündnis mit der Intelligenz stabil realisieren zu können?4 In dieser kulturpolitischen Etappe (bis Ende 1947) wirkte der Schriftsteller Kellermann -auch einer der Mitbegründer des brandenburgischen Kulturbundes- aktiv im politischen Leben der Ostzone, vor allem aber in Potsdam mit. Sehr bald hatte er den Organen der Besatzungsmacht angeboten, propagandistisch "in der Neuerziehung des deutschen Volkes" mitzuarbeiten. Nach einer Pressedebatte über "Erziehung zur Demokratie" -so eine von ihm überschriebene Artikelserie in der sowjetamtlichen "Taglichen Rundschau" - trat er mit seinem öffentlichen Bekenntnis zur Bodenreform bzw. zu den Wahlen in der SBZ (1946) auf. Der Autor, dessen Werke in der Sowjetunion geschätzt wurden, erfuhr durch die SMAD sehr schnell eine bevorzugte materielle Förderung. Im Kulturbund, auch in der von ihm mitbegründeten "Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion" (der späteren "Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft"), sah sich der hier führend tätige Kellermann in die Pflicht genommen für eine politisch-aufklärerische Funktion. Seine schriftstellerische Tätigkeit verstand er als persönlichen Beitrag zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Ein erneuertes antimilitaristisches Bekenntnis legte er im Vorwort des 1946 wieder aufgelegten Romans "Der 9. November", 1920 herausgegeben, ab: Das deutsche Volk habe die "fürchterliche Mahnung und Warnung" des blutigen Gespenstes Militarismus "in den Wind geschlagen". Es werde aber "nunmehr die warnende und mahnende Stimme verstehen und beherzigen"25, hoffe er jetzt zuversichtlich. Ähnlich wie in diesem Werk sah er in seinem Roman "Totentanz", an dem er seit 1946 arbeitete, seinen Beitrag, mit künstlerischen Mitteln die vormals Herrschenden zu entlarven. In diesem Versuch seiner Abrechnung mit dem Faschismus will er, der sich in der NS-Zeit nicht korrumpieren ließ26, ergründen, warum große Teile der Bevölkerung, auch der Intelligenz, dem Nationalsozialismus verfielen. Dies war zugleich, wie Günter Wirth anmerkte, "ein Roman der Selbstprüfung des Bürgers Kellermann, der die Frage hinzufügte, wie denn die Schichten, denen er sich zeitlebens verbunden gefühlt hatte, hatten versagen können'm. Unter Vermeidung von aufgesetzter Tendenz28 wollte Keller24 Otto Meier (vormals SPD), mitverantwortlich für die Kulturpolitik der SED, warnte Ende 1947 davor, daß mit einer allzu autoritären Vergehensweise gegen den Kulturbund der Intelligenz der Weg .,zu uns" verbaut werden würde, obwohl sie dringend benötigt werde. (Vgl. Harold Hurwitz, Die Stalinisierung der SED. Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946- 1949, Opladen 1997, S. 400.) 2s Bernhard Kellerman, Der 9. November, Berlin 1951, S. 5 f. 26 Werner Mittenzwei hat allerdings 1992 belegt, daß sich Kellermann doch etwas zögerlich in eine Antihaltung zu den Nazis begab, die ihn nicht als Repräsentanten deutscher Literatur haben wollten. 27 Günter Wirrh, Ein Potsdamer Dreigestirn: Bürge!, Kasack und Kellermann. In: Hoffnung & Erinnerung, S. 132. 28 .,Die Tendenz", schrieb er am 5. September 1948 an Kar! Lemke, .,muß aus dem Roman selbst hervorgehen, damit er, wie Sie richtig sagen, der ,Klärung und Mahnung' dienen konnte." (Hoffnung & Erinnerung, S. 283.)

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mann deutlich machen, daß die Vereinnahmung der Massen, die zu den wichtigen Ursachen des Faschismus gehörte, eine bedeutende, eigenständige Rolle für die Ausübung der Diktatur im Dritten Reich gespielt hatte. Eine für die damalige Situation außergewöhnliche Wertung, die der offiziellen SED-Sicht eines verkürzten Zusammenhangs zwischen den faschistischen Lakaien einerseits und den kapitalistischen Herrschern andererseits entgegenstand. Insofern war sein Buch auch eine geistige Herausforderung, weil es sich faktisch gegen vereinfachte Methoden zur Überwindung der Naziideologie richtete. 29 Offensichtlich ging es ihm um ein Hinterfragen des Antifaschismus und um die Kennzeichnung eines (später von Michael Romm so formulierten) gewöhnlichen Faschismus. Der Roman, für ihn literarische Selbstbefreiung aus der NS-Zeit, war in gewissem Maße auch schriftstellerische Reflexion der gesellschaftlichen Umbrüche seit 1945?0 Kellermann wollte offenbar den Antifaschismus als Kraft zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nutzen. Dem dienten auch die von ihm in der genannten Pressedebatte propagierten demokratischen Prinzipien wie Toleranz, Gemeinnutz und Freiheit für das Volk, die man noch zu entwickeln und auszuprägen habe. Antifaschistischer und demokratischer Neubeginn, dies war und blieb Kellermanns Credo. In der künstlerischen Gestaltung dieser Maxime sah er seinen dichterischen Auftrag, seine erzieherische ästhetische Mission. Nicht zuletzt ging es ihm wie seinem Potsdamer Schriftstellerkollegen Bruno-H. Bürgel31 darum, breite Volksschichten kulturell anzusprechen, wobei er auch an aufklärerische Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung anknüpfte. Das Zusammenwirken seiner literarischen und politischen Tätigkeit bildete in den ersten Jahren nach 1945 für ihn durchaus eine Einheit. "Demokratisch und antifaschistisch. Das war eine Denkwirklichkeit, nicht bloß eine Vokabel"32 - so charakterisierte Hans Mayer Hoffnungen und Auftrag jener Zeit. Günter Wirth hat in mehreren Beiträgen herausgearbeitet, daß es bei beiden in Potsdam wirkenden Exponenten des Bildungsbürgertums, Kellermann und Kasack, Gemeinsames in ihrer demokratischen Haltung gab. Sie wären bereit gewesen, "die Schranken ihrer sozialen Schicht und Bildung zu durchstoßen und sich geistig wie gesellschaftlich neu zu orientieren, freilich in Anknüpfung und Beherzigung des bürgerlichen Traditions- und Bildungsinventars" 33 . Diese ihre moralische Verpflichtung erwuchs aus der Ablehnung und Verurteilung des NS-Regimes und aus So z. B. im Sozialistischen Bildungsheft der SED Nr. 2, 1947. Inwieweit Wirths Beurteilung des Romans "als literarischer Ausdruck dessen angesehen werden konnte, was gesamtgesellschaftlich als antifaschistisch-demokratische Umwälzung in der SBZ realisiert wurde" (Günter Wirth, Das geistig-literarische Klima in Potsdam 1945 bis 1950. In: Hoffnung & Erinnerung, S. 24) zuzustimmen ist, bedarf m. E. gründlicher Recherchen. 31 Bürgel, geprägt von der Bildungsarbeit der alten SPD, war ab Sommer 1945 Mitglied des Kulturausschusses beim Parteivorstand der SPD. 32 Hans Mayer, a. a. 0., S. 16. 33 Günter Wirth, Ein Potsdamer Greigestirn . .. In. Hoffnung & Erinnerung, S. 144. 29

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der ehrlichen Bereitschaft, sich mit ihren Mitteln am demokratischen Neuaufbau zu beteiligen. Unterschiede im bisherigen Lebensweg (Kellermann war 17 Jahre älter), in der politischen Lebenserfahrung sowie in der literarischen Ausprägung und Bekanntheil waren bestimmend für das unterschiedliche politische Engagement beider nach 1945. (So hatte sich Hermann Kasack, für den eine Bestrafung von Nazis folgerichtig war, immer dagegen gewehrt, als Antifaschist deklariert zu werden; ein offizieller Machtträger wollte er übrigens nie sein.) Bei aller Unterschiedlichkeit zeichneten sich aber bei beiden Autoren wesentliche Gemeinsamkeiten literarischen Schaffens ab: so in der von ihnen geschaffenen antimilitaristischen sowie der Demokratie verpflichteteten Literatur. Für sie war der Antifaschismus kein verordneter; sie sahen aber andererseits in ihrer nach 1945 geschaffenen Literatur keine Legitimationsstütze für die neuen deutschen Machtträger in der sowjetisch besetzten Zone. Beide haben außerdem in ihrem künstlerischen Schaffen und öffentlich-politischem Auftreten nicht vordergründig an eine Verbindung von Geist und Macht gedacht. Mit dem ihrer kritischen Sicht eigenen bildungsbürgerlichen Denken, gepaart mit dem Versuch gesellschaftlicher Neuorientierung, schien aber ihre Annäherung an damalige kulturpolitische Positionen von KPD bzw. SED möglich. Kellermann und Kasack pflegten zu einzelnen Vertretern der Arbeiterbewegung bzw. zu linksstehenden Autoren aufrichtige Kontakte: Kellermann zum ehemaligen Sozialdemokraten Bürgel bzw. zum brandenburgischen Kulturbundvorsitzenden Otto Nagel (vormals KPD); Kasack, von dem überliefert ist, daß er vor 1933 SPD-Wahler war, zum Marxisten Brecht. Offenbar kommunizierten beide Autoren auch gut mit dem Potsdamer Schriftsteller Peter Nell (KPD I SED), der 1947 deren wichtigste Nachkriegsromane in der Potsdamer "Tagespost" würdigte. Und wenn Becher im Frühjahr dieses Jahres auf einer Landesdelegiertenkonferenz des Kulturbundes in Potsdam "noch einmal die Perspektive einer politisch-geistigen Reformation jenseits von Doktrinarismus"34 eröffnete, so weckte dies zu diesem Zeitpunkt bei Kellermann und Kasack sicher noch Zuversicht, daß eine Kulturpolitik weiter fortgeführt werde, die ihren Intensionen literarischen Schaffens entsprach. Kasack, vor 1933 politisch linksbürgerlich orientiert, hatte frühzeitig die Gefahr des heraufziehenden deutschen Faschismus erkannt; er darf in der NS-Zeit zur konsequenten inneren Emigration gerechnet werden. 1946 beendete er den im Kriege begonnenen Roman "Die Stadt hinter dem Strom". Es ist dies ein bekennendes antifaschistisches Buch: Wenn Robert Lindhoff, Hauptfigur des Romans, als Chronist "durch die Stadt (geht), als ,trüge er einen Sack Asche auf den Schultern' " 35 , dann kennzeichnet hier Kasack indirekt die Notwendigkeit nach Trauerarbeit der Deutschen. In seinen den Roman begleitenden Tagebuchaufzeichnungen zeigt er sich darüber enttäuscht, daß die Deutschen ihre Mitverantwortung für NSZeit und Krieg verdrängen wollten. Jeder rede sich ein, notierte er, "er trage die Zitiert nach Hoffnung & Erinnerung, S. 36. Js Zitiert nach ebd., S. 61.

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Verantwortung am Kriege nicht mit und habe es ja selbst so böse nicht gemeint. So leugnet er nicht nur alle Schuld, sondern nimmt auch die Befreiung der Parteienherrschaft als etwas Selbstverständliches hin"36. Ähnlich wie Kellermann formulierte Kasack in seinem Buch deutlich seine antimilitaristische Position als .,flammende Anklage gegen jede Form von Gewalt und Zerstörung'm. Aus seinem Roman, der zu den am meisten diskutierten Werken der Nachkriegsliteratur gehörte, lassen sich außerdem - literarisch verschlüsselt 38 zeitkritische Bezüge zur Machtproblematik ablesen, die deutlicher in seiner Anfang 1949 in der Zeitschrift •.Sinn und Form" veröffentlichten Erzählung ..Der Webstuhl" hervortreten. 39 In den Vordergrund der literarischen Aussage seines Hauptwerkes rückte, untersetzt von seinen Tagebuchaufzeichnungen, die Hoffnung, daß eine Herrschaft des menschlichen Geistes größeren Einfluß auf die ,,kosmische Ordnung der Erde" erreichen könne. Der ..geistigen Kraft des Lebens zu vertrauen", dafür bestand ,.im Plan der Welt immer die Chance, immer die Möglichkeit", teilt uns Robert Lindhoff mit. Diese Entscheidung fing bei jedermann an, so derselbe, und es blieb ,.im Kreislauf des Daseins nicht gleichgültig . .. , ob sich der einzelne zum Mittel des Geistes oder des Ungeistes machen ließ. Jedermann entrichtet in jedem Augenblick des Lebens seinen Beitrag an den Kosmos"40. Das Geistige war für Kasack .,die allein schöpferische Substanz und die Grundlage des Menschen und der Welt"41 . So von ihm bereits im März 1933 in seinem Tagebuch notiert, und geradezu beschwörend fügte er hinzu, daß die geistige Welt immer wieder anzurufen sei. Und wenn er 1948 im Tagebuch gewissermaßen ergänzte, daß ,.Kunst ... zu allen Zeiten der sichtbarste Ausdruck des Geistigen (ist), vielleicht sogar der einzige Ausdruck", dann meinte er, daß dies .,wiederum für den einzelnen Gültigkeit haben (mag), zumindest für den, dessen Lebenssinn darin besteht, Träger der geistigen Ordnung zu sein"42 . Und er sah auch darin stets seinen eigenen Auftrag, wenn er feststellte, daß der Dichter das Gewissen der Zeit Zitiert nach ebd., S. 60. Lonny Neumann, Wiederkehr- Der Chronist Hermann Kasack. In: Hoffnung & Erinnerung, S. 62. 38 Daß es Kasack in der Zeichnung seiner tragenden Romanfiguren um verallgemeinerungswürdige Gegenwartsaussagen ging, darauf hat er bald aufmerksam gemacht, wenn er notierte, "daß es sich in dem Buch um Sinnbilder der Realität handelt, die unabhängig von einer Erscheinungsform ihre universelle Gültigkeit behalten". (Zitiert nach ebd.) 39 "Darin schlägt sich Kasacks Furcht nieder, daß anstelle der Idee der Apparat steht. . . , der den Sinn des Ganzen aus den Augen verloren hat", beschreibt Lonny Neumann den tieferen Sinn der Parabel. (Lonny Neumann, a. a. 0., S. 64.) 40 Hermann Kasack, Die Stadt hinter dem Strom, Frankfurt/ M, 1972, S. 411. Die Zitate sind der von Kasack 1956 durchgesehenen Fassung entnommen. 41 Zitiert nach: Hermann Kasack- Leben und Werk. Symposium 1993 in Potsdam. Hrsg: Helmut John, Lonny Neumannn, Frankfurt IM., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994, s. 149. 42 Zitiert nach ebd., S. 150. Vgl. auch Kasack, Die Stadt . . . , S. 23. 36

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sein müsse.43 In diesem Sinne vertrat er immer den Standpunkt, mit seiner eigenen Stimme sprechen zu müssen, in dieser Haltung aufzutreten und ein schöpferisches Werk zu leisten, das "einzig dem Gesetz der künstlerischen Wahrheit untertan"44 ist. Diesem Credo fühlte er sich stets verpflichtet. Kasack suchte 1945, obwohl ihn anfangs ständige Ungewißheit begleitete, wohin die Entwicklung gehe, unter den neuen Verhältnissen seinen "politischen" Platz. Für ihn war aber auch klar, teilt er am 24. Juni 1945 seiner Tochter Renale mit "daß jede Brücke in die uns bisher vertraute Vergangenheit abgerissen bleibt und man sich völlig auf das Neue einstellen muß"45 . Ähnlich wie Kellermann empfand er die Niederlage des NS-Regimes auch als persönliche Befreiung. Loyal war seine Bereitschaft gegenüber der Besatzungsmacht, am Wiederaufbau teilzunehmen, obwohl er mit seiner Gattin, einer Verwechselung zum Opfer gefallen, erschossen werden sollte und Kasacks später durch die SMAD exmitiert wurden. Nie aber empfand Hermann Kasack bei Begegnungen mit Russen, einem "Feinde" gegenüberzustehen, notierte er im Frühjahr 1945. Deren "große Schätzung für den Künstler, für den ,Poeten' "46, erfuhr er bald persönlich. Nach Abschluß seines Romans nahm Kasack intensiv und maßgebend Einfluß auf die Neugestaltung des kulturellen Lebens Potsdams und der Mark Brandenburg - vornehmlich über den Kulturbund, zu dessen Landesleitung er bereits seit 1946 gehörte. 47 Er leitete eine Reihe von literarischen Veranstaltungen- auch zu seinem Roman, die 1947 wahrhaft geistige Debatten der gebildeten Schichten Potsdams waren. Kasack übte eine rege Vortragstätigkeit aus und war auch beteiligt bei der Bildung neuer Gruppen des Kulturbundes. Nicht zuletzt wirkte er über den Suhrkamp Verlag als Förderer von Exil-Autoren. Nach dem öffentlich gewordenen Aufbrechen politisch-weltanschaulicher Gegensätze bei den deutschen Schriftstellern auf ihrem ersten Kongreß (1947) und nach der von sowjetischer Seite geforderten Realismus-Formalismus-Debatte - beides kulturpolitische Reflexionen des forcierten Kalten Krieges ging die SED-Führung Ende 1947 dazu über, den Kulturbund politisch stärker zu disziplinieren. Wilhelm Pieck erklärte auf einer Sitzung des SED-Parteivorstandes vom 8. Dezember 1947, man müsse mit dem Kulturbund sprechen, "daß er mehr Interesse am politischen Leben nimmt und nicht so begrenzt auf das Gebiet der Kultur beschränkt"48 bleibt. Die Ankündigung, die bisherige "Sonderstellung" des 43 So ausdrücklich von ihm im Herbst 1949 in seiner Ansprache zur Verleihung des Westberliner Fontanepreises betont. 44 Hoffnung & Erinnerung, S. 271. 45 HerfTUJnn Kasack. Dreizehn Wochen. Tage- und Nachtblätter. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1945 über das Kriegsende in Potsdam, hrsgb. v. Wolfgang Kasack, Berlin 1996, S. 214. 46 Ebd. 47 Später war er gar I. Stellvertreter Otto Nagels. 48 Zitiert nach Harold Hurwitz: Die Stalinisierung der SED, a. a. 0., S. 399. Hintergrund dieses Vorwurfs war eine Kontroverse im Parteivorstand über eine unzureichende Einbindung des Kulturbundes in den von der SED organisierten I. Deutschen Volkskongreß für die Einheit Deutschlands und für einen gerechten Frieden. Hierbei war insbesondere Becher politische Ignoranz vorgeworfen worden.

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Kulturbundes aufzuheben, war darauf gerichtet, ihn nun auch, wie bei den übrigen Massenorganisationen bereits geschehen, vollständig gleichzuschalten. Obgleich Ackennann und Otto Meier gegen die Forderung Pieeies noch Widerspruch erhoben hatten, setzte sich diese Absicht im Führungsgremium der SED durch, und nachfolgend wurden die Freiräume des Kulturbundes schrittweise eingegrenzt. Etwa von diesem Zeitpunkt an datierten auch zentralgelenkte Vorgaben, die Kulturpolitik schrittweise auf eine sozialistische Orientierung auszurichten. Zäsurbildend war der Erste Kulturtag der SED vom Mai 1948, der sich entschieden mit ,,Mängeln der bürgerlichen Kultur" auseinandersetzte. Ihre deutlichen "Symptome der Schwäche", meinte Otto Grotewohl, seien "Zeichen ihrer Unfahigkeit (gewesen), die nationale Katastrophe abzuwenden"49 • Hintergrund dieses Angriffes war seine fonnulierte Absage der SED an den Existenzialismus. Wahre Kunst müsse die Fragen der Zeit aufwerfen und projizieren; sie könne nicht neutral sein gegenüber den großen politischen Bewegungen der Zeit. Sich wohl der Schwierigkeit dieser Anforderungen an künstlerische Arbeit bewußt, schloß er seine Ausführungen vor den anwesenden Intellektuellen mit der bemerkenswerten Feststellung, daß es "kein Allerweltsrezept" für die Bewältigung der nächsten kulturpolitischen Aufgaben gäbe. 50 Beschleunigt setzte die SED-Führung ab Mitte 1948 unter der Losung, daß der wissenschaftliche Sozialismus der neue, reale Humanismus sei (Ackennann), ihre Führungsrolle auch im geistig-kulturellen Leben durch. Verengte Auffassungen, daß die Künste vornehmlich an ihren aktuellen Aktivitäten und Leistungen gemessen werden sollten, gewannen in der Kulturpolitik Oberhand. Walter Ulbricht erklärte im September 1948 vor Schriftsteilem aus den Reihen der SED: Ihr hinkt hinterher, weil ihr nicht die Gegenwartsprobleme gestaltet! Fritz Rücker (SED), Kultusminister des Landes Brandenburg, forderte im Februar 1949 auf einem Kongreß in Potsdam, daß im Mittelpunkt kultureller Arbeit der künstlerischen Intelligenz der Betrieb stehen müsse. Nachhaltiger wurde von der SED gefordert, die Kulturschaffenden als Streiter für den Sozialismus zu gewinnen. Sie "müssen durch fortgesetzte ideologische Einwirkung unsererseits fähig werden", verlangte der 1. Landeskulturtag der SED Brandenburgs (August 1948), in der Klassenauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus "ihren Mann als Kämpfer für den Fortschritt zu stehen"51 . Diszipliniert reagierte die SED-Landesleitung Brandenburg auf die Vorgabe der SED-Führung, Erscheinungen von "Dekadenz und formalistischer Verzerrung der Kunst" den Kampf anzusagen, als sie im März 1948 eine Kampagne "Fonnalismus-Realismus" organisierte. Kritisch registrierte die Potsdamer Parteileitung, daß der hiesige Kreisvorstand des Kulturbundes vor rückständigen Stimmungen in seiner Mitgliedschaft zurückweiche, anstatt diese 49

Um die Erneuerung der deutschen Kultur, a. a. 0 ., S 231.

so "Jeder muß seine eigenen Gedanken mit den gesellschaftlichen Tatsachen in Einklang

zu bringen suchen, um zu erkennen, daß die Philosophie und alle Kultur nur für den Menschen und die Vermenschlichung des Lebens da ist", so Grotewohl. (Ebd., S. 264.) SI BLHA, Rep. 332, Nr. 707, BI. 127.

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für den Kampf gegen den Kosmopolitismus zu gewinnen. Dr. Pockrandt (SED), Vorsitzender des Kulturbundes Potsdam, wurde angegriffen, weil er im Sommer 1949 gerneint hatte, daß Literatur grundsätzlich nichts mit Politik zu tun haben dürfe, und ein Bericht der Landesleitung des Kulturbundes für 1949 stellte fest: "Ein großer Teil der Ortsgruppen verschließt sich ... vollständig" wichtigen politischen Aufgaben wie der "Lösung des nationalen Problems des deutschen Volkes", weil dies ihrer Meinung nach "Sache der Parteien" sei.5 2 Daß diese "unpolitische"53 Haltung bei Mitgliedern der bürgerlichen Parteien und ihrer Klientel, die offensichtlich starken Einfluß im Kulturbund hatten, ziemlich ausgeprägt war, ist evident. Wolfgang Schollwer, damals Funktionär in der LDP Brandenburgs, hat in seinem "Potsdamer Tagebuch 1948- 1950" darauf aufmerksam gemacht, daß angesichts vielfältiger politischen Übergriffe in der SBZ (auch hinsichtlich der Repressionen der Besatzungsmacht), der Gefahrdung der Blockpolitik durch die SED sowie der immer noch unzureichenden Lebensmittelversorgung resignative Stimmungen außerordentlich verbreitet waren. Hinzu kam, daß die SED-Führung den Ausbau der hegemonialen Stellung der Partei auf allen Gebieten vorantrieb und Ansätze zu politischer Pluralität, die es in der Blockpolitik der ersten Nachkriegszeit durchaus gab, zunichte gernacht hatte. Nicht bekannt war den Blockparteien CDU und LDP und den bürgerlichen Führungskräften im Kulturbund die seit 1948 von der SED-Führung verfolgte Strategie, keine parlamentarisch-demokratischen Verhältnisse anzustreben. 54 Vor dem Hintergrund dieser politischen Realitäten der Jahre 1948 I 49 ist zu fragen, welche Möglichkeiten und Grenzen es für das weitere öffentliche Wirken Kellermanns und Kasacks in Potsdam und für ihren Einfluß auf das politischgeistige Klima in der Ostzone insgesamt gab. Die Ausübung der Leitungsfunktion im märkischen Kulturbund wurde für Kellermann zunehmend schwieriger. Nach Meinung der SED war die Arbeit Otto Nagels als Vorsitzender immer unzureichender geworden. Er hemme und sabotiere sogar die Entwicklung im Kulturbund, stellte der SED-Landesvorstand 1949 fest, und demzufolge könne "keine intensive Arbeit im Sinne unserer Verpflichtungen dem Kulturbund und der Partei gegenüber geleistet werden" 55 . Kellermann selbst erwies sich ohnehin als ziemlich ungeeignet für die praktisch-politische Arbeit im Kulturbund. Er war wohl mehr Ästhet, denn Realist, so eine Aussage Hans-Wemer Meyer-Heidkarnps, eines damaligen s2 BLHA, Rep. 332, Nr. 717, BI. 136.

Der genannte Bericht der SED-Landesleitung Brandenburg unterstrich, daß ein Großteil der Kulturbundmitglieder "mit der Politik nichts zu tun haben" wolle (ebd.), und 1948 meinte sie, daß das "kleinbürgerliche Element" den Ton im Kulturbund angebe (BLHA, Rep. 332, Nr. 708, Bl. l6). 54 Ulbricht hatte z. B. im Juli 1948 vor führenden SED-Funktionären Brandenburgs deutlich gemacht. daß es beim Aufbau einer .,volksdemokratischen Ordnung" darum gehen müsse, .,von den parlamentarisch-demokratischen Ordnungen, wie sie in den Landesverfassungen erläuten wird", wegzukommen. (BArch/SAPMO. ZPL IV /2/13/109, BI. 219.) 55 BLHA, Rep. 332. Nr. 717, BI. 4. 53

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Kulturbundmitarbeiters. Für den parteilosen Kellermann, der außerdem noch in andere Funktionen eingebunden war, entstanden erhebliche (nicht nur zeitliche) Belastungen. 1947 notierte er, daß ihm die vielen öffentlich-politischen Anforderungen, "Zeitungsartikel, Gutachten, Erklärungen, Rundfunk etc." Unbehagen bereiteten, ihn von seiner eigentlichen literarischen Tätigkeit abhielten, ihm aber "all der viele Unsinn ... nötig erschien." 56 Sein redliches Bemühen, sich zu wichtigen weltpolitischen Fragen mit einem persönlichen Urteil zu äußern, das maßgeblich durch die Grunderlebnisse seines bisherigen Lebens bestimmt war, tritt 1948 in einem Bericht über die Sowjetunion hervor. Nach einer Reise mit einer deutschen Schriftstellerdelegation in die UdSSR, die er schon vor 1933 mehrmals besucht hatte, schrieb er ziemlich euphemistisch über den zufriedenen "neuen russischen Menschen", dessen Leben neuer Sinn und Inhalt gegeben worden sei. Das habe er "allerorts ... genau" beobachten können. ,,Die neue Gesellschaftsform mußte notgedrungen in einigen Jahrzehnten einen neuen Menschentypus hervorbringen" 57, so Kellermann weiter. Offenbar wollte er der UdSSR, die seinem literarischen Schaffen schon vor 1945 durch Übersetzung und hohe Auflagen seiner Werke hohe Anerkennung zuteil werden ließ, aufrichtige Dankbarkeit erweisen. Seine Bewunderung der Sowjetunion, ohne deren Ideologie und politische Realität wirklich umfassend zu kennen, erwuchs wie bei manchen seiner Zeitgenossen sicher aus einer kritischen Haltung gegenüber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Daß er aber die Lebenswirklichkeit dieses Landes überhaupt nicht in Zweifel zog, zeugt zwar von politischer Naivität, hat aber auch und vor allem zu berücksichtigen, daß die in der SBZ obwaltende Zensur kritisch geäußerte Bemerkungen über die Sowjetunion nicht zuließ. Natürlich wurde Kellermann durch die SMAD (m. E. auch moralisch gerechtfertigt) materiell bevorzugt gefördert58, so daß er möglicherweise aus Dankbarkeit diesem Land und der SMAD gegenüber keine kritische Sicht erkennen ließ. Seine prosowjetische Würdigung war vielleicht auch eine Schutzbehauptung des vermutlich von inneren Widersprüchen zerrissenen Autors59, der von den bestimmenden politischen Kräften im Osten Deutschlands umworben60 und mittelbar vereinnahmt wurde. Hoffnung & Erinnerung, S. 283. Ebd., S. 292 f. ss Im Frühjahr 1949 übergab ihm die SMAD ,.einen funkelnagelneuen 45 PS 6 Zylinder B.M.W. als ,Dank des russischen Volkes"' berichtet er in einem Brief an seinen Bruder. (Zitiert nach Kai-Uwe Scholz: Vom Akademiesessel zwischen die Stühle. In: Hoffnung & Erinnerung, S. 86.) Es handelte sich hier offenbar um eine Form nachträglicher Abgeltung für die ab der 20er Jahre in der UdSSR aufgelegten Werke Kellermanns. Die Sowjetunion gehörte auch 1949 noch nicht der internationalen Vereinbarung über das Copyright an. Autoren, deren Werke in der SU verlegt worden waren, konnten deshalb keinerlei Urheberrechte und damit keine Entgelte beanspruchen. S9 Der DDR-Literaturwissenschaftler Georg Wenzel hat ihn 1963 im wesentlichen so charakterisiert: "Die widersprüchlichen Zeiterscheinungen machten den Dichter selbst widerspruchsvoll und durchsetzten sein Werk mit Widersprüchen..." (Zitiert nach Hoffnung & Erinnerung, S. 85.) S6

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Kai-Uwe Scholz verweist in seiner subtilen Studie über Kellermann darauf, daß der mehr oder minder zur Konformität neigende Schriftsteller "sich gewisse Spielräume bewahrt zu haben (schien)"61 . So als er Mitte 1949 die Wahl in die westdeutsche Akademie der Wissenschaften und Literatur in der Hoffnung annahm, mit diesem Schritt seinen Beitrag zur Überwindung des gespaltenen Landes zu leisten. 62 Da es zu dieser Zeit - mit Ausnahme deutscher Schriftsteller - keine gesamtdeutschen Aktivitäten hin zur deutschen Einheit gab, trat er damit objektiv gegen die (ihm allerdings im Detail nicht bekannte) SED-Strategie zur Bildung eines eigenen, ostdeutschen Staates auf. Aufgrund seiner politischen Einbindung durften ihm jedoch Zentralisierungsmaßnahmen in der SBZ, die Absichten zur Gründung eines ostdeutschen Teilstaates erkennen ließen, nicht entgangen sein. Andererseits gab es wohl bei ihm bereits Anzeichen von Resignation, wenn der - schon gesundheitlich geschwächte - Bemhard Kellermann Kar! Lemke im Herbst 1949 mitteilte: " Ich schreibe zur Zeit an einem kleinen Roman, der den Vorzug hat, völlig unpolitisch (hvgb. F. R.) zu sein. Gleichzeitig beschäftige ich mich mit der Abfassung meiner Memoiren."63 Hermann Kasack, der bei seiner klar betonten linksbürgerlichen Haltung zurückhaltend gegenüber den nach 1945 einsetzenden gesellschaftlichen Veränderungen blieb, enthielt sich jedoch nicht öffentlicher politischer Stellungnahmen, wo er meinte, dies tun zu müssen. In seiner Zustimmung zum Volksbegehren für die Einheit Deutschlands im Mai 1948 trat er in der Potsdamer "Tagespost" gegen eine "Aufspaltung der deutschen Literatur" auf, wandte sich vehement gegen die schon sichtbare Trennung der beiden Teile des Landes64 , ohne in die Sprache der Initiatoren des Begehrens, d. h. der SED, zu verfallen und etwa die westdeutsche Seite ftir die Spaltung verantwortlich zu machen: "Was uns verbindet, ist das Leiden, das Erbe und das Schicksal Deutschlands. Als einer seiner Dichter bin ich nicht gewillt", bekannte er, "am Turmbau von Babel mitzuwirken und eine neue Sprachverwirrung heraufzubeschwören". Für die Zukunft Deutschlands wird es entscheidend sein, folgerte er, "daß unsere Dichtung als Stimme der Menschheit Ausdruck einer unteilbaren Nation ist"65 • 60 Der Parteivorstand der SED bezeichnete ihn in seiner Glückwunschadresse zu seinem 70. Geburtstag (März 1950) als einen Kampfgefährten flir ein friedliches, demokratisches und einiges Deutschland. (Vgl. ebd.) 61 Kai-Uwe Scholz, Vom Akademiesessel ... , a. a. 0., S. 87. 62 "Die Akademien Ost und West sind berufen", schrieb er am 31. 7. 1949 an Walter von Molo, "einen Dachverband zu bilden, unter dem unser zerrissenes Deutschland allmählich zur Einheit heranreift". (Ebd.) 63 Zitiert nach Hoffnung & Erinnerung, S. 284. 64 Bei aller Kenntnis des fortschreitenden Spaltungsprozesses war es für ihn absurd, "die politische und geistige Einheit Deutschlands zu leugnen". (Die Tagespost, Potsdam, 20. 5. 1948, S. 2.) 6S Ebd. Daß diese geistige Einheit nicht aufspaltbar ist, hatte er schon im November 1947 auf einer Kulturbund-Veranstaltung betont.

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In diesem souveränen patriotischen Sinne wirkte er auch für die Bildung eines ersten deutschen PEN-Zentrums (Ende November 1948 in Göttingen gegründet). Als einer der Gründungsmitglieder bekräftigte er erneut wie selbstverständlich es für ihn war, sich in geistiger Verbundenheit für die kulturelle Einheit des Landes einzusetzen. Die von ihm mitunterschriebene Resolution des PEN-Zentrums - von Kasack in der "Tagespost" abgedruckt - entsprach zutiefst seiner politischen Grundhaltung, "gegen jede Rassen-, Klassen- und Völkerhetze zu kämpfen und für den Grundsatz des ungehinderten Gedankenaustauschs innerhalb einer jeden Nation und zwischen allen Nationen einzutreten"66. Es konnte ihm wohl nicht entgangen sein, daß drei Wochen vorher ein Sekretär des SED-Landesvorstandes Brandenburg im Parteiorgan ,,Märkische Volksstimme" offen die Notwendigkeit betont hatte, "den verschärften Klassenkampf . . . mit aller Härte"67 zu führen. Kasacks Veröffentlichung der PEN-Resolution sprach unmißverständlich gegen die von der SED politisch praktizierte Doktrin. Indirekt nahm er damit auch Bezug auf die von der SED zugespitzte ideologische Konfrontation zwischen den politischen Parteien Brandenburgs, die beispielsweise in einer kurz zuvor in der "Tagespost" abgedruckten CDU-Entschließung deutlich wurde.

Ende 1948 kommen bei ihm zunehmend Resignation und Irritation wegen der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht auf (Berlinblockade), aber auch wegen der Restaurationspolitik in den Westzonen sowie wegen der Realitätsfeme mancher Gesprächspartner, die er bei seinen Besuchen dort beobachtete.68 ,,Die Polantäten innerhalb Berlins und Deutschlands nehmen ständig zu", notierte er am 8. November 1948 sorgenvoll. "Wie soll man in dieser Situation für das arbeiten, was für eine Zukunft sinnvoll ist - wie sich selbst vorurteilsfrei aussagen?"69 Sein Mißtrauen gegen die sowjetische Besatzungspolitik wuchs; er befürchtete, daß Berlin "als leeres Strandgut"70 der russischen Besatzungsmacht überlassen werden wird. Zunehmend war sein Roman "Stadt hinter dem Strom" neben bemerkenswerten positiven Würdigungen auch manchen Anwürfen ausgesetzt. Offenbar traten zu dieser Zeit auch Differenzen in seinem Verhältnis zu Becher auf. Noch aber trat er in kulturpolitischen Fragen engagiert auf. So am 7. Dezember 1948 im Potsdamer Kulturbundhaus während einer überfüllten Veranstaltung, in der Alexander Dymschitz, Leiter der Kulturabteilung der SMAD, über ,,Formalismus und Realismus" referierte. Kasack äußerte spontan in der Diskussion, daß Realismus eigentlich kein Stil, sondern eine Haltung sei. Mutig trat er in der bereits öffentlich forcierten Debatte zu Kunstfragen, die auf die Herausbildung eines neuen, letztlich sozialistischen Realismus orientierte, für eine Stilhaltung 66

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Die Tagespost, 7. 12. 1948, S. l f. Märkische Volksstimme, 10. II. 1948, S. 3. Vgl. Hennonn Kasack- Leben und Werk. a. a. 0., S. 129. Zitiert nach ebd., S. 128. Hennonn Kasack. Dreizehn Wochen, a. a. O.,S. 259.

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ein, die für ihn Grundlage seines literarischen Schaffens war. Dymschitz unterstrich - höchst bemerkenswert - in seinem Schlußwort Kasacks Meinung zum Realismus, denn dieser habe "die Wahrheit in der Kunst" geforden. 71 Daß Kasacks Verständnis von der Kunstfunktion offizielle Akzeptanz fand72, mag bei ihm nochmals die Zuversicht geweckt haben, daß es noch Bedingungen für die Darlegung eigener Positionen in der Literatur und in der Literaturdiskussion gab. Anfang 1949 sah er die Bedingungen dafür in der Ostzone nicht mehr als gegeben an: Schweren Herzens verließ er, nicht bereit, seine Geisteshaltung aufzugeben, seine Heimatstadt. "Als sowjetische Funktionäre mich dann 1949 zu Spitzeldiensten zu verpflichten suchten, war es das letzte Zeichen, die Zone endgültig zu verlassen'473, notierte er danach . .Kehren wir zu Hans Mayers Warnung zurück, die Anfänge der DDR von ihrem Ende her zu denunzieren. Ihm ging es um das Prinzip Hoffnung, das viele der damaligen Akteure (auch Schriftsteller) verkörperten, wenn er von einer Alternative zur anderen deutschen Hälfte schrieb und von einer Zeit, in der ursprünglich zumindest kulturelle Entwicklung nach vom offen schien. So ein Stück Hoffnung sah Kellermann wohl erfüllt, als im Oktober 1949 in Ostberlin der zweite deutsche Staat gebildet wurde. In der westdeutschen Entwicklung sah Bemhard Kellermann keine Alternative. Visionen von einem besseren Deutschland, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet hatten, schienen sich nun für ihn mit der DDR zu erfüllen. Sie nahmen für ihn in diesem Staat reale Gestalt an, weil dieser, wie er seinem in München lebenden Kollegen Karl Lemke ein Jahr später schrieb, "alle geistige Wirksamkeit"74 fördere und begünstige. In diesem Sinne hatte der zwei Monate zuvor mit dem Nationalpreis geehrte Kellermann am 17. Oktober 1949 auf einem Empfang der Landesregierung Brandenburg für die Preisträger der DDR-Regierung gedankt. Vergleichen wir jedoch sein öffentliches, oft stark von Euphorie getragenes Auftreten beispielsweise mit seiner privat geäußerten Ansicht vom Oktober 1949, künftig "völlig unpolitisch zu sein"75 , so entsteht äußerlich der Eindruck eines widerspruchsvollen Bildes seiner Persönlichkeit. Offenbar verband er aber seine Zuversicht, die er in das Neue setzte, mit seiner demokratischen Grundauffassung, die er 1945 I 46 nachhaltig vertreten hatte76 und für deren Durchsetzung er sich einsetzen wollte. Dies kommt m. E. in seinem ehrlich geäußerten Stand11

Die Tagespost, 9. 12. 1948.

n Die Tägliche Rundschau berichtete, daß "einzig der Dichter Hermann Kasack" in der

Diskussion unmittelbar an Dymschitz angeknüpft habe, und allein das Schlußwort Dymschitz' "und zuvor die Worte Hermann Kasacks" hätten die "notwendige Klärung" gebracht. (Zitiert nach Hennann Kasack- Leben und Werk, S. 130.) Die öffentliche Reaktion auf sein Auftreten wurde von Kasack selbst als "Sensation" empfunden. (Vgl. ebd.) 73 Zitiert nach ebd., S. 132. 74 Zitiert nach Hoffnung & Erinnerung, S. 294. 1s Vgl. Anm. 63. 76 Exemplarisch beispielsweise in den ,,Zehn Geboten der Demokratie", veröffentlicht in der Täglichen Rundschau vom 14. 4. 1946.

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punkt zum Ausdruck, den er in seiner heute so makaber erscheinenden Erklärung vom 17. Oktober in die Worte faßte: ,,Ein Staat, der sich auf das Recht und die Kultur stützt, wird nicht untergehen."77 Konnte der siebzigjährige Volkskammerabgeordnete Kellermann damals überschauen, welchen Weg dieser Staat künftig einschlagen würde?

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Märkische Vo1ksstimme, 17. 12. 1949.

Sonderbare Begegnungen* Gespräch zwischen ost- und westdeutschen Autoren

1961-1964

Von Rüdiger Thomas I.

Auf dem ll. Schriftstellerkongreß, der vom 4. bis 6. Juli 1950 die Autoren aus der DDR unter dem Motto "Das neue Leben verlangt nach Gestaltung" im geteilten Berlin versammelte, war die Illusion von der Einheit der deutschen Literatur, die Thomas Mann im Goethe-Jahr 1949 noch einmal in Frankfurt und Weimar beschworen hatte, endgültig verflogen. Entrüstet über die westlichen Proteste gegen die stalinistische Kulturpolitik auf dem von Melvin Lasky organisierten, wenige Tage zuvor veranstalteten "Kongreß für kulturelle Freiheit" in West-Berlin polemisierte Becher: "Eure sogenannten Probleme interessieren uns nicht. Eure Verwicklungen, Kompliziertheiten, die Ihr mehr oder weniger literarisch routiniert darstellt, sind für uns wertlos ... Ihr langweilt uns." 1 Das Ende der Gemeinsamkeiten war endgültig vollzogen, als sich das Deutsche PEN-Zentrum Ende 1951 spaltete, nachdem es Erich Kästner und Johannes R. Becher durch ihre internationalen Kontakte im Herbst 1948 gelungen war, das PEN-Zentrum Deutschland in Göttingen zu gründen, in dem sich für kurze Zeit Autoren aus Ost und West zusammengefunden hatten. 2 Die DDR wurde in den fünfziger Jahren unter dem Vorzeichen der Formalismus-Verdikte, die einen doktrinären sozialistischen Realismuspropagierten, zu einer literarischen Provinz ohne eigene Literatur. Diese wurde vor allem durch die Exilschriftsteller Anna Seghers, Arnold Zweig und Bertolt Brecht repräsentiert, die sich nach einigem Zögern für die DDR entschieden hatten - übermächtige Vorbilder, die durch ihre antifaschistische Vergangenheit beglaubigt waren und in

*

Erstabdruck, in : DA 1-99, S. 64-73. Johannes R. Becher: "Die gleiche Sprache", Aufbau 8/1950, S. 697 - 703, hier S. 702. Vgl.dazu auch Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 594-600. 2 Vgl. Friedrich Dieckmann: ..Deutsche PEN-Geschichten. Eine Akten-Lese", Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13-14/96, S. 42-54; Christine Malende: "Berlin und der P.E.N.Club. Zur Geschichte der deutschen Sektion einer internationalen Schriftstellerorganisation, in: Ursula HeukenkiJmp (Hrsg.): Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin 1996, S. 89-128. Siehe dazu jetzt auch 1.-F. Dwars (Anm. 1), S. 624-633. I

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einer diktatorischen Gegenwart nur zu oft selbst an die eng gezogenen Grenzen künstlerischer Freiheit gestoßen sind. Da ist es nicht verwunderlich, wenn sich die literarische Öffentlichkeit ebenso wie die Schriftsteller im Westen Deutschlands kaum für die Entwicklung in der DDR interessierten - sieht man von der respektvollen Anerkennung ab, die sie Peter Huchels Literaturrevue "Sinn und Form" entgegenbrachten. Huchel, erster Chefredakteur der 1949 von Becher initiierten, seit ihrer Gründung von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift, hatte mit Kompetenz, Geschick und Standfestigkeit "ein Forum geschaffen, auf dem Intellektuelle verschiedenster Herkunft, ja oft konträrer Weltanschauungen einander begegnen können" - so hat er seine Intentionen in einem Rundfunkvortrag im Frühjahr 1955 selbst prägnant umrissen. 3 Daß er sich gegen wiederholte politische Disziplinierungsmaßnahmen bis zu seiner rüden Amtsenthebung 1962 behaupten konnte, verdankte er ebenso Bechers Unterstützung wie dem Prestige, das sich die Zeitschrift jenseits der Grenzen der DDR erworben hatte. "Sinn und Form" publizierte wichtige literaturtheoretische Beiträge ebenso wie literaturkritische Analysen und Autorentexte, von denen die wenigsten von jüngeren DDRSchriftstellern stammten. Dafür kamen gelegentlich westdeutsche Autoren zu Wort, darunter Hans Magnus Enzensberger.4 Regelmäßiger Autor war der Leipziger Germanistikprofessor Hans Mayer, über den Klaus Völker seinerzeit geurteilt hat: "Er ist nicht nur ein Literaturhistoriker von Format, sondern auch ein aufmerksamer Kritiker der Gegenwartsliteratur von wirklich gesamtdeutscher Bedeutung."5 Seit 1959 zählte Hans Mayer zu den wichtigsten Protagonisten der Literaturkritik auf den legendären Tagungen der Gruppe 47. Martin Walser hat ihm drei Jahre später in seinem "Brief an einen ganz jungen Autor" ein Denkmal gesetzt: ,,Nun hoffe ich, um Deinetwillen, um unseretwiilen, Hans Mayer sei uns erlaubt worden. Bedenke ich , wann Du geboren bist, rechne ich ein, wo Du jetzt wohnst, dann fürchte ich fast, Du hast noch keinen lebenden Marxisten gesehen. Und jetzt spräche einer zu Dir über Dich."6 Hans Mayer war eine literarische Autorität und eine moralische Instanz zugleich, im Westen Deutschlands nur einer fiktiven Doppelpersönlichkeit aus Hans Werner Richter und Walter Jens vergleichbar. Er hat die Engstirnigkeit der Kulturpolitik, die den Lesern in der DDR weite Bereiche der modernen Weltliteratur vorAbschrift im Archiv des Verfassers. Vgl. Sinn und Form 6/1957, S. 1024-1026. s Nationalzeitung, Basel, 27. Juli 1963. 6 Martin Walser: "Brief an einen ganz jungen Autor", in: Hans Werner Richter (Hrsg.): Almanach der Gruppe 47 1947- 1962, Reinbek 1962, S. 418 - 423, hier S. 421 f. Der Almanach enthält auch einen aufschlußreichen Beitrag von Hans Mayer: "ln Raum und Zeit", ebd., S. 28- 36. Darin verweist der Autor auf "das große Interesse ... , das die literarische Öffentlichkeit in der Sowjetunion der neuen westdeutschen Literatur, vor allem einer solchen gesellschaftskritischer Observanz, entgegenbringt. Heinrich Böll ist einer der beliebtesten Autoren in der Sowjetunion. Das Schaffen von Andersch und Grass, von Lenz und Richter verfolgt man in den Moskauer Redaktionen und Verlagen ebenso aufmerksam wie das Werk von Frisch und Dürrenmatt." (S. 35) 3

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enthielt, vehement attackiert, bedrängte Autoren wie Heiner Müller verteidigt 7 und seinen Studenten die Begegnung mit wichtigen westdeutschen Autoren ermöglicht, die in der DDR nicht publiziert werden konnten. Sein waches Interesse für die westdeutsche Literatur belegt die Tatsache, daß er im März 1960 an der Leipziger Universität im legendären Hörsaal40 für seine Studenten eine gemeinsame Lesung von Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Stephan Hermlin und Peter Huchel organisierte, der ein Jahr später eine Begegnung mit Günter Grass folgte. 8 Um das Jahr 1960 war Hans Mayer das wichtigste Bindeglied zur westdeutschen Literatur in der DDR, so wie vor allem Person und Werk Heinrich Bölls den Lesern in der DDR einen - begrenzten - Einblick in die aktuelle westdeutsche Literatur vermittelten. Der erste Schriftsteller aus der DDR, der an einer Tagung der Gruppe 47 im Oktober 1960 in Aschaffenburg teilnahm, war Johannes Bobrowski. Daß Bobrowski, den man kaum als Repräsentanten einer DDR-Literatur bezeichnen kann, zeit seines Lebens ein gesamtdeutscher Autor geblieben ist, wurde bei seiner vielbeachteten Lesung in Aschaffenburg deutlich. Dort trug er auch das Gedicht "Absage" vor, das mit der Strophe schließt: "Dort/ war ich. In alter Zeit./Neues hat nie begonnen. Ich bin ein Mann, I mit seinem Weibe ein Leib, I der seine Kinder aufzieht I für eine Zeit ohne Angst."9 Solche frühen Wahrnehmungen literarischer Werke, die in der DDR entstanden waren und zugleich auch im Westen verlegt wurden, waren Ausnahmen, die durch das Außenseiterturn der Autoren erklärt werden können. Spektakulärer als Bobrowskis Erfolg, der im Oktober 1962 den Preis der Gruppe 47 (in einer Stichwahl gegen Peter Weiss) erhalten sollte und nur mit einem Tagesvisum nach West-Berlin reisen konnte, 10 war Uwe Johnsons Debüt im unvergeßlichen deutschen Bücherherbst 1959: Seine "Mutmassungen über Jakob", in Mecklenburg geschrieben, von DDRVerlagen zurückgewiesen, bei Suhrkamp publiziert, erschienen fast gleichzeitig mit der "Blechtrommel" von Günter Grass und Heinrich Bölls zeitkritischem Roman "Billard um halbzehn", nachdem Johnson im Juli 1959 die DDR verlassen hatte. 7 Am 27. Dezember 1961 schreibt Hans Mayer an Heiner Müller, der im Herbst 1961 wegen seines Stückes "Die Umsiedlerin" in politische Bedrängnis geraten war: "Durch Zufall erfuhr ich, daß die Leitung des Berliner Schriftstellerverbandes das Bedürfnis empfand, Sie aus seinen elitehaften Reihen zu entfernen. Ich bin nicht zynisch genug, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen . . . Ich schreibe Ihnen aber, damit Sie wissen, . .. daß ich Sie für einen der begabtesten Schriftsteller hierzulande halte." Zit. nach Klaus Pezold: .,Der Literarhistoriker und die deutschsprachige Literatur seiner Zeit. Hans Mayer als Partner von Autoren aus Ost und West", in: Alfred Klein/Manfred NeuhaustKlaus Pezo/d (Hrsg.): Hans Mayers Leipziger Jahre. Beiträge des dritten Walter-Markov-Kolloquiums, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, 1997, S. 99. s Ebd., S. 97. 9 In: H. W Richter. Almanach (Anm. 6), S. 385. Das Gedicht wurde 1961 in den Lyrikband "Sarmatische Zeit" aufgenommen, der in Stuttgart (Deutsche Verlagsanstalt) und Berlin (Union-Verlag) erschienen ist. to Toni Richter. Die Gruppe 47 in Bildern und Texten, Köln 1997, S. 98.

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Plötzlich war deutlich geworden, daß Schriftsteller in der DDR gegen die doktrinären Maßnahmen der Kulturpolitik eigene Wege eingeschlagen hatten, die auch im Westen Neugierde entfachten. Dem ostdeutschen Leser war zu dieser Zeit von den jüngeren Autoren, die erst in der Nachkriegszeit debütiert hatten, vor allem Heinrich Böll bekannt, ansonsten war der politische Argwohn unverkennbar, mit dem die ostdeutschen Kulturfunktionäre der experimentierfreudigen westdeutschen Literatur begegneten. Doch nicht nur die Werke der Autoren blieben den Lesern vorenthalten, es gab in den fünfziger Jahren auch fast keine Kontakte zwischen den Schriftstellern im Osten und Westen Deutschlands_'~ Da blieb die gemeinsam vom Kreuz-Verlag Stuttgart und dem Mitteldeutschen Verlag Halle 1956 edierte Anthologie "Deutsche Stimmen", die "Neue Prosa und Lyrik aus Ost und West" vereinte, eine wenig beachtete Ausnahme, und der Vorsatz der Herausgeber, "ein Gespräch zu eröffnen, ein couragiertes, offenherziges, um Übereinkünfte bemühtes Gespräch innerhalb unseres Volkes", blieb ohne Resonanz, obwohl zu den Autoren immerhin Wolfdietrich Schnurre, Manfred Hausmann, Reinhold Schneider, Wolfgang Weyrauch, Albrecht Goes sowie Ludwig Renn, Georg Maurer, Erich Loest, Hanns Cibulka, Egon Günther und Karl Mundstock gehörten.

II. Daß es schließlich Anfang der sechziger Jahre zu einer Begegnung zwischen ost- und westdeutschen Schriftstellern kam, ist einer ebenso makabren wie grotesken Episode zu verdanken, die sich Anfang Dezember 1960 in Harnburg ereignete: Das "Deutsche PEN-Zentrum Ost und West" beabsichtigte, seine 12. Generalversammlung vom 7. bis 9. Dezember 1960 in Harnburg durchzuführen. Vorgesehen waren zwei Veranstaltungen zu den Themen "Tolstoj, die Krise der Kunst und wir" sowie "PEN-Ciub in unserer Zeit" in der Universität und eine Autorenlesung im Künstlerclub "die insel". Nachdem die prominenten ostdeutschen Teilnehmer mit ihrem Präsidenten Arnold Zweig, Ludwig Renn, Stephan Herrntin und dem Kulturfunktionär Wilhelm Girnus (seinerzeit Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen, 1958 als Voltaire-Biograph hervorgetreten) bereits ihr Hamburger Hotel II Zu den gescheiterten Dialogversuchen im kulturellen Sektor zählen der von Karl Schaller, dem Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität München, unter Mithilfe Bechers initiierte "Deutsche Kulturtag", der nach anfangliehen Verboten im Westen bis 1958 einmal jährlich (zuletzt in München, Harnburg und Dresden) stattfand, die "Kulturgespräche" arn Rande derLeipzigerMessen und vor allem die sechs "Ost-West-Gespräche", die Becher in seiner neuen Funktion als Kulturminister der DDR vom November 1954 bis März 1955 organisiert hat (vgl. dazu 1.-F. Dwars [Anm. 1], S. 708). Beim zweiten Gespräch endet der polemische Schlagabtausch, der in heftigen wechselseitigen Vorwürfen zwischen Lasky und Brecht kulminiert, mit dem Angebot Laskys, Brecht und auch Becher könnten im "Monat" auf fünf Seiten ihre Meinung frei äußern, wenn er einen eigenen Beitrag mit gleichem Umfang in einer östlichen Zeitschrift publizieren dürfe. Da Brecht und Becher diese Offerte aus politischen Gründen nicht aufgreifen konnten, erschien "Der Monat" Anfang 1955 mit ftinf leeren Seiten, die für Brecht und Becher reserviert worden waren (ebd., S. 709).

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bezogen hatten, verbot der Polizeipräsident das Treffen. Daraufhin wurden die Gäste aus ihrem Hotel komplimentiert und zur Abreise gedrängt. Ein vehementer Protest der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" gegen diese Maßnahme, formuliert in einem Artikel vom 16. Dezember 1960, mündete in eine Einladung der Redaktion "nach Harnburg zu kommen und die Themen, die sie für ihren ersten Besuch vorgesehen hatten, mit uns und einigen Schriftstellern aus der Bundesrepublik zu diskutieren. " 12 Bereits eine Woche später akzeptierte Arnold Zweig diese Einladung. Das Streitgespräch fand am 7. und 8. April 1961 in der Universität Harnburg statt, nach sorgfaltig erdachten Spielregeln: Die beiden öffentlichen Veranstaltungen wurden mit abwechselnder Moderation zwischen Ost und West bestritten, zwei Einleitungsreferaten von beiden Seiten folgte eine Diskussion mit einem paritätisch besetzten Podium, in die ausgewählte weitere Teilnehmer abschließend eingreifen konnten. Das mutet wie die Choreographie für ein Staatstheater an, sie trug aber zum Gelingen des Schauspiels, das auf lebhaftes Publikumsinteresse stieß, wesentlich bei. Zu den Protagonisten der Debatten zählten neben den Literaturkritikern Hans Mayer und Marcel Reich-Ranickidie westdeutschen Autoren Siegfried Lenz, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser und Martin BeheimSchwarzbach sowie die ostdeutschen Autoren Arnold Zweig, Stephan Hermlin, Peter Hacks, Heinz Kamnilzer und Wieland Herzfelde, berühmt geworden als Begründer des Malik-Verlages. Während die Diskussion über "Tolstoj, die Krise der Kunst und wir" eher den Charakter einer mit vorsichtigen Sondierungen operierenden literaturtheoretischen Debatte annahm, die sich überwiegend mit Tolstoj beschäftigte, bevor Stephan Hermlin und Hans Magnus Enzensberger die aktuelle "Krise der Kunst" thematisierten, hatte die zweite Veranstaltung, die unter dem neuen Titel ,,Der Schriftsteller in Ost und West" angekündigt war, eine hohe politische Brisanz. Sie wurde von Martin Beheim-Schwarzbach mit einigen Reflexionen über engagierte und nichtengagierte Literatur, Konformismus und Nonkonformismus sowie - in Anspielung auf Brecht - die Differenz zwischen ,,Ja-Sager und Nein-Sager" eingeleitet. Da wurde zwar schon der Gegensatz zwischen einer parteilichen Literatur und einer ästhetischen Autonomie apostrophiert, aber vieles, was die Geister schied, blieb ungesagt, bis Marcel Reich-Ranicki das Wort ergriff. Er stellte die grundsätzliche Frage: "Kann ein Schriftsteller die Gesellschaft, wie sie heute in der Deutschen Demokratischen Republik besteht, eindeutig befürworten?" Er verwies auf die Tatsache, daß in der DDR Schriftsteller "im Zuchthaus, im Gefängnis sitzen" und charakterisierte die literarische Situation mit der Einschätzung: "Ich glaube, daß die Weltliteratur des 20. Jahrhunderts praktisch in der Deutschen Demokratischen Republik unterdrückt, ignoriert, teilweise bekämpft, teilweise totgeschwiegen wird." 13 Es ist erstaunlich zu lesen, wie subtil die Reaktion von Hans Mayer auf diese Fundamentalkritik ausfiel. Auch wenn er 12 Vgl. dazu ausführlich Josef Müller-Marein!Theo Sommer (Hrsg.), Schriftsteller: Ja-Sager oder Nein-Sager? Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West, Harnburg 1961. S. 7 -II. 13 Ebd., S. 99 und 106.

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auf die besonderen politischen Probleme der DDR rechtfertigend hinwies, um Reich-Ranick.is Frontalangriff zu relativieren, distanzierte er sich grundsätzlich von Einflußnahmen der Politik auf die Literatur und verwies auf seine persönlichen Initiativen, Leipziger Studenten mit westdeutschen Autoren wie Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Jens und Grass in seinen Lehrveranstaltungen direkt bekanntzumachen. Westdeutsche Zweifel, ob sich oppositionelle Stimmen in der DDR überhaupt artikulieren könnten, suchte er mit dem Hinweis auf Ernst Bloch, sich selbst und durch Erwähnung der Dichter Georg Maurer und Johannes Bobrowsk.i zu zerstreuen. 14 Eine Pointe am Rande: Bobrowski wird im Protokoll dieser Veranstaltung, das im Hamburger Verlag Rütten und Loening publiziert wurde, als Johannes Dombrowsk.i wiedergegeben - ein bezeichnender Druckfehler, der die Unkenntnis der ostdeutschen Literaturszene zumindest bei den westdeutschen Korrektoren illustriert. Die von Marcel Reich-Ranick.i ausgelöste Kontroverse stand im Mittelpunkt einer Debatte, die bei einigen westdeutschen Teilnehmern zwar Beklemmung auslöste, weil sie offenbar fürchteten, daß auf diese Weise eine Fortsetzung der so lange entbehrten Gespräche unmöglich werden könnte. Ganz anders reagierte allerdings Hans Mayer, der die zeitweilig stark emotionsbehaftete "turbulente" Debatte als "großartig" bezeichnete und es als wichtig erachtete, "die scharfen Gegensätzlichkeiten" herauszuarbeiten, womit er offensichtlich nicht nur die ästhetischen Positionen meinte. Mayer kündigte seine Absicht an, Lenz, Walser und Enzensberger nach Leipzig einzuladen, 15 und diese optimistische Absicht schien Heinz Kamnitzer zu bestätigen, der in Harnburg wohl vor allem für den kulturpolitischen Part verantwortlich war und trotz DDR-apologetischer Töne ebenfalls für eine Fortsetzung der Gespräche eintrat. 16 Diese Aussage wurde vermutlich durch den Umstand erleichtert, daß Enzensberger und Walser in ihren Diskussionsbeiträgen wiederholt auf die gemeinsame Verantwortung der Schriftsteller für die Sicherung des Friedens verwiesen hatten, die Enzensberger zu der Frage zuspitzte: "Sind wir als Schriftsteller für oder gegen den deutschen Bürgerkrieg, zu dem Vorbereitungen getroffen werden?" 17 Enzensberger rief auf diese Weise in Erinnerung, daß viele westdeutsche Autoren seit Ende 1957 einen Auszug aus dem Elfenbeinturm begonnen hatten, der durch die Diskussion über eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr angestoßen worden war. Nachdem die "Göttinger Erklärung" von 18 Atomwissenschaftlern bereits im April 1957 dezidiert gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr Stellung bezogen hatte, waren es vor allem Schriftsteller, die sich nach der "Adenauer-Wahl" vom 15. September 1957, die für die CDU I CSU erstmals eine absolute Mehrheit 14

Ebd., S. l!O.

Ebd., S. 110. Ebd., S. 132. 17 Ebd., S. 116. Es ist aufschlußreich, daß Hermann Kant diesen Satz am Anfang seines Beitrags auf dem V. Schriftstellerkongreß zitiert. 15

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brachte, mit dem Appell "Kampf dem Atomtod" an die deutsche Öffentlichkeit wendeten. Als der Bundestag am 25. März 1958 gegen die Stimmen der SPD die Bundesregierung aufforderte, eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu betreiben, folgte kurze Zeit später ein Massenprotest deutscher Schriftsteller, formuliert in einem Manifest vom 15. April 1958: "Wir protestieren gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, weil sie jede weitere Verständigung zwischen Ost und West unmöglich zu machen droht, die Gefahr einer dritten Katastrophe für das deutsche Volk heraufbeschwört und die Wiedervereinigung verhindem kann." 18 In solchen Einschätzungen erblickte die ostdeutsche Politik offensichtlich einen Ansatzpunkt für einen gesamtdeutschen Dialog, den sie auf der Ebene der Schriftsteller für eigene friedenspropagandistische Zwecke zu instrumentalisieren suchte. Sie mochte dabei übersehen haben, was Robert Neumann in der "Funktion des Friedensengels", als Beobachter des Internationalen PEN, in einem Schlußwort zum Hamburger Streitgespräch konstatiert hatte: "Im Westen ist man der Ansicht, daß man ein Monopol auf die Freiheit hat - im Osten ist man der Ansicht, daß man ein Monopol auf den Friedenswillen hat. Beides ist natürlich Unsinn, aber beides ist gefährlich . .." 19 Nur einen Monat später, am 25. Mai 1961, begann der V. Deutsche Schriftstellerkongreß in Ost-Berlin. Er konnte eine Probe aufs Exempel geben, das Robert Neumann statuiert hatte?0 Unter den Gästen waren auch Mactin Walser und Günter Grass. Sie wurden mit einem der "Bausch-und Bogen-Referate" 21 von Hermann Kant überrascht, der in dünkelhafter Weise über die westdeutsche Literatur räsonierte, in der zwar Böll und Enzensberger mit einigem Lob bedacht wurden,22 während Walser und Grass als wichtigste Exempel für das literaturkritische Debüt eines Jungliteraten dienten, der zu diesem Zeitpunkt noch kein eigenes Buch veröffentlicht hatte. Immerhin konzediert Kant den beiden prominenten westdeut18 Zit. Nach: Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Zusammengestellt von Klaus Wagenbach, Winfried Stephan, Michael Krüger und Susanne Schüssler, Berlin 1979, S. 145. Der Politisierungsprozeß der westdeutschen Schriftsteller läßt sich bei Mactin Walser exemplarisch nachvollziehen. Resigniert hatte er noch 1960 "ehrwürdige Neinsager, die man reden läßt" vorgefunden: .,Die derzeitige Demokratie bedürfte zwar mehr als jede andere unserer Mitarbeit, aber da sie uns weder will, noch nicht will, erlaubt sie uns doch zu kaschieren, daß jeder von uns nicht mehr will als sich selbst." (Ebd., S. 173.) Im folgenden Jahr gab Walser zur Bundestagswahl im September 1961 das rororo-Taschenbuch "Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?" heraus, zu dessen Autoren u. a. Enzensberger, Grass, Richter, Rühmkorf, Schallück und Schnurre zählten. 19 Schriftsteller: Ja-Sager oder Nein-Sager? (Anm. 12), S. 142. 2o Vgl. das Protokoll: V. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 25. bis 27. Mai 1961. Referat und Diskussionsbeiträge, Berlin I %2. Auf das Hamburger Gespräch beziehen sich eingehend u. a. Stephan Hermlin (ebd., S. 219-221) und Kurt Stern (ebd., S. 243 - 247). 21 Ebd., S. 170. 22 Enzensberger. "wahrscheinlich eine der größten Hoffnungen der deutschen Literatur überhaupt", wird als ein Mann gewürdigt, der ganz offenbar zutiefst an der Teilung Deutschlands leidet", und über Heinrich BöII heißt es: "Bölls Religiosität ist die der Bergpredigt, das heißt sie ist eine besondere Form des Humanismus." (Ebd., S. 169 f.)

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sehen Autoren, daß es ihnen ,.ganz offensichtlich weder an Talent noch am langen Atem des Epikers gebricht", und Walsers .,Halbzeit" wird bescheinigt, daß .,dieser blendend geschriebene Roman erfreulich viel ästhetisches Vergnügen und manch geistiges Abenteuer bereitet", damit ist jedoch die Grenze freundlicher Kommentierung erreicht. Zur .,Blechtrommel" bemerkt Kant: ,,Mit den Augen eines physischen und psychische'l Monstrums läßt sich nichts anderes sehen als das, was Oskar Matzerath sah und wie er es sah."23 Damit wird sein Pauschalurteil vorbereitet, mit dem er die Literatur aus der Bundesrepublik versieht: .,Der Zirkel, mit dem viele westdeutsche Schriftsteller ihren Standpunkt umgreifen, ist nicht sehr weit geöffnet. Die soziale Fläche, die in ihrem Werk erscheint, wirkt oft außerordentlich beschränkt." Das ist ebenso anmaßend wie kokett formuliert und beinhaltet doch nur den Vorwurf fehlender Parteilichkeit,24 auch wenn es so platt nicht ausgedrückt ist. Die Prätention Kants, als literaturkritische Autorität zu reüssieren, stieß allerdings nicht nur bei den Gescholtenen auf Widerspruch, sie mußte auch deshalb Verwunderung hervorrufen, weil Eva Strittmatter zuvor berichtet hatte, bei ihrem Moskau-Aufenthalt hätten sich die sowjetischen Kollegen fast ausschließlich für die westdeutsche Literatur interessiert gezeigt. 25 Die Mahnung .,daß Günter Grass, der ein Gentleman ist, auch als Gentleman behandelt wird", 26 zeugte von dem Befremden, das der ehrgeizige Kant mit seinem literaturpolitischen Exerzitium ausgelöst hatte. Um die peinliche Situation zu entschärfen, erhielt Grass kurzfristig die Gelegenheit zu einer improvisierten Entgegnung, die dann kein DDR-Tabu ausließ. Dem Kulturminister Hans Bentzien, der die DDR-Literatur selbstgefällig mit der rhetorischen Frage gerühmt hatte: .,Wer könnte uns das Wasser reichen?", empfahl er .,die Veröffentlichung von Musil, Kafka, westdeutscher und französischer Schriftsteller, die in der Lage sind, Ihnen das Wasser zu reichen." Daß Uwe Johnsons Name als Übersetzer von Melvilles Buch .,Israel Potter" nach seiner Ausreise aus der DDR verschwiegen wurde, nannte er eine .,Schweinerei". Und am Schluß seiner Rede befand Grass: ,.Keines meiner Bücher, die ich geschrieben habe, hätte ich in diesem Staat veröffentlichen können, und so geht es meinen Kollegen auch. Was fehlt diesem Staat nach meiner Meinung? Ein Lyriker wie Enzensberger Ebd., S. 164f. Der westdeutsche Autor und Literaturkritiker Peter Hamm hatte in seiner Rede gegen das Prinzip der Parteilichkeit Stellung bezogen: ,.Bei den jungen Dichtern, die man mir, wenn ich in die Deutsche Demokratische Republik komme, als parteiische Dichter empfiehlt und vorstellt, habe ich oft den Eindruck, daß gerade der Gegenstand ihrer Parteinahme noch höchst farblos und verschwommen und deshalb literarisch kaum oder nur sehr schwer formulierbar ist." (Ebd., S. 90.) 2s Ebd., S. 83. 23

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26 So formulierte es der in London lebende Autor Arno Reinfrank, der sich als "Bürger der Bundesrepublik" vorstellte und die Empfehlung aussprach: "Ich würde Ihnen vorschlagen, daß Sie als Deutscher Schriftstellerverband Günter Grass einladen zu Gesprächen über alle möglichen Probleme, die ihn interessieren, daß er sich mit Strittmatter oder anderen auseinandersetzen kann über Arbeitsprobleme usw." (Ebd., S. 183.)

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dürfte hier gar nicht den Mund aufmachen, wenn er Bürger der DDR wäre . . . lassen Sie Taten sehen! Geben sie den SchriftsteHern die Freiheit des Wortes!"27

III. Das Protokoll des Schriftstellerkongresses enthielt auch diese kritischen Sätze, doch als es Anfang 1962 erschienen war, hatte eine neue Frostperiode begonnen, in der für Gespräche vorerst kein Raum war. Die geistige Kluft zwischen den beiden Teilen Deutschlands schien nach der gewaltsamen Seihstabschließung der DDR am 13. August 1961 unüberbrückbar. Besonders in Berlin löste die rigorose mauerbewehrte Abgrenzung, die zu einer vollständigen Trennung der Menschen in der geteilten Stadt führte, tiefe Entrüstung und heftige Proteste aus. Nachdem sich viele westdeutsche Autoren in den fünfziger Jahren gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, eine Atomrüstung der Bundeswehr und die geplanten Notstandsgesetze engagiert hatten, waren sie über die unkritische Systemloyalität ihrer DDR - Kollegen besonders schockiert. Günter Grass äußerte seine Betroffenheit schon am 14. August gegenüber der Vorsitzenden des Deutschen Schriftstellerverbandes (der DDR) Anna Seghers: "Es darf nicht sein, daß Sie, die Sie bis heute vielen Menschen der Begriff a11er Auflehnung gegen die Gewalt sind, dem Irrationalismus eines Gottfried Benn verfallen und die Gewalttätigkeit einer Diktatur verkennen, die sich mit Ihrem Traum vom Sozialismus und Kommunismus, den ich nicht träume, aber wie jeden Traum respektiere, notdürftig und dennoch geschickt verkleidet hat. " 28 Sein Appell blieb ohne Antwort. Zwei Tage später richteten Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre einen offenen Brief an die Mitglieder des Schriftstellerverbandes der DDR" und forderten ihre Ko11egen zur Ste11ungnahme auf, "indem Sie entweder die Maßnahme Ihrer Regierung gutheißen oder den Rechtsbruch verurteilen." Das Verhalten der DDR - Autoren wurde nach den Kategorien einer politischen Moral beurteilt, die in den ersten Nachkriegsjahren durch den antifaschistischen Konsens geprägt worden war. "Es gibt keine ,Innere Emigration', auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird schuldig ..." 29 Obwohl die Kritik berechtigt und verständlich war, konnte sie nur polarisierend wirken, weil sie die NS-Diktatur, gegen die viele der angesprochenen DDR-Autoren gekämpft hatten, mit dem DDR-System in Beziehung setzte, das als sozialistisches Experiment auf deutschem Boden ihren Idealen nahestand, auch wenn seine Wirklichkeit davon weit entfernt sein mochte. Durch den Angriff auf ihre moralische Integrität verletzt, reagierten Bruno Apitz, Franz Fühmann, Erwin Ebd., S. 178-180. Günter Grass: .,Brief an Anna Seghers", Die Zeit, 18. August 1961. Zit. nach: Vaterland, Muttersprache (Anm. 18), S. 184. 29 Günter Grass/Wolfdietrich Schnurre: .,Offener Brier·. in: Hans Werner Richter (Hrsg.): Die Mauer oder der 13. August, Reinbek 1961. Zit. nach: Vaterland, Muttersprache (Anm. 18), S. 184. 27 28

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Strittmatter und Stephan Herrntin mit umgekehrten Schuldzuweisungen: "Offenbar haben Sie doch nicht sehr genau überlegt, an wen Sie da geschrieben haben, denn Ihre Adressaten, zumindest die Mehrzahl von ihnen, schwiegen gerade zwischen 1933 und 1945 nicht, im Gegensatz zu so vielen patentierten Verteidigern der westlichen Freiheit des Jahres 1961."30 Während in dieser öffentlich geführten Auseinandersetzung scharfe Töne angeschlagen wurden, waren sich einige der daran beteiligten Akteure durchaus bewußt, daß die bescheidenen Ansätze einer intellektuellen Kommunikation durch die politische Entwicklung nicht gänzlich zerstört werden durften. Hinter verschlossenen Türen fielen die Urteile über die entrüsteten westdeutschen Schriftstellerkollegen wesentlich differenzierter aus. Als sich die Akademie der Künste am 26. August im Zusammenhang mit der Verabschiedung einer Stellungnahme zu den Maßnahmen vom 13. August auch mit dem Brief von Grass und Schnurre beschäftigte, setzte nur Fritz Cremer diese Polemik fort, indem er gegen "demokratisch getarntes faschistisches Geschrei jenseits des Brandenburger Tores" protestierte. 31 Stephan Herrntin und vor allem der renommierte Oberspielleiter des Berliner Ensembles, Erich Engel, solidarisierten sich zwar mit der Entscheidung ihrer Regierung, sie betonten aber gleichzeitig ihren Wunsch, eine "freundschaftliche Auseinandersetzung", 32 "ein echtes und produktives Gespräch" mit den westdeutschen Schriftstellerkollegen, "zum Teil hochbegabten, sympathischen, ehrlichen und bemühten Männem", zu führen. Denn es sei, wie Engel konstatierte, "nicht uninteressant, . . . die Meinung der Klügsten aus der Bundesrepublik zu hören", 33 zu denen er ausdrücklich Grass und Schnurre zählte. Stephan Hermlin hatte in seinem Beitrag vor dem "Abbruch kultureller Verbindungen" 34 gewarnt, den er als Folge des Kalten Krieges befürchtete. Tatsächlich hat ein westdeutscher Politiker als Antwort auf den Mauerbau gefordert, die Stücke von Bertolt Brecht vom Spielplan westdeutscher Bühnen zu verbannen, und der konservative Schriftsteller Peter Jokostra tadelte den Luchterhand-Verleger Eduard Reifferscheid, der kurz zuvor "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers in einer westdeutschen Ausgabe publiziert hatte, in einem Offenen Brief, der am 31 . Juli 1962 in der "Welt" erschien: "Die Meute der gelehrigen Nacheiferer der so erfolgreichen Anna Seghers, die Strittmatter und Hermlin, die Kuba und Kurella drängen durch das Tor, das Sie der Vorsitzenden des kommunistischen Schriftstellerverbandes in die Mauer gesprengt haben und das Ulbrichts Knechte bewachen und vermint haben ... " Glücklicherweise ließen sich weder Regisseure noch Verleger durch solche Attacken beirren. Die Antwort Reifferscheids, die am 3. September an gleicher Stelle zu lesen war, zeigte sich unbeeindruckt und selbstbewußt ,,Soll durch diese Bresche Zit. nach: ebd., S. 186. Zwischen Diskussion und Disziplin. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (Ost) 1945/50 bis 1993, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin 1997, S. 193. 32 Ebd., S. 196. 30

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Ebd., S. 196.

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drängen, wer da will: an uns ist es zu entscheiden, was publikationswürdig ist oder nicht!" IV. Man mag es als paradox empfinden, daß gerade in den ersten Jahren nach dem Mauerbau die Entdeckung der Literatur aus der DDR in der Bundesrepublik einsetzte. Neben dem Interesse einer wachsenden Zahl von westdeutschen Verlagen war es vor allem die Zeitschrift "alternative", die das westdeutsche Lesepublikum seit 1963 auf die Literatur der DDR nachdrücklich hingewiesen hat. Eine Übersicht vom April 196435 nennt als Autoren aus der DDR, die in der Bundesrepublik verlegt worden sind, neben den etablierten Schriftstellern Bertolt Brecht, Anna Seghers, Ehm Welk und Amold Zweig u. a. Bruno Apitz, Erich Arendt, Manfred Bieler, Johannes Bobrowski, Peter Hacks, Peter Huchel, Günter Kunert, Reiner Kunze, Christa Wolf, außerdem drei Anthologien: zwei Lyrikbände sowie einen Erzählungsband. In der DDR waren zu diesem Zeitpunkt nur wenige wichtige westdeutsche Autoren verlegt worden: Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Hans Werner Richter, Paul Schallück, Günter Weisenborn, Wolfgang Weyrauch. Wichtige Namen fehlten: Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Uwe Johnson, Siegfried Lenz, Martin Walser. Offizielle Kontakte zwischen den Schriftstellern ließen sich unter solchen Bedingungen kaum vereinbaren, und als sich Ende Januar 1963 Autoren der Gruppe 47 mit einigen Schriftstellern aus der DDR in der Evangelischen Akademie Berlin-Weißensee trafen, geschah dies - unautorisiert und improvisiert - sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit. 36 Das klandestine 35 Vgl. alternative 35 (April 1964), S. 24-26. Das Heft, das einen Überblick über neue Tendenzen der Literatur in der DDR bietet, enthält u. a. einen Beitrag des Ostberliner Dramaturgen und Regisseurs Hans Bunge, damals Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs, der Christa Wolfs Erzählung "Der geteilte Himmel" mit Uwe Johnsons ,,Mutmassungen über Jakob" vergleicht: "Johnson schildert aus großer Distanz, objektiv, nüchtern, intellektuell, interessiert an der Sache, aber eine mögliche Anteilnahme weitgehend unterdrückend und keine Anteilnahme fordernd. Christa Wolf steht den Personen ihrer Geschichte mit spürbarer Wärme gegenüber. Sie markiert mit jeder Zeile ihren eigenen Standort und wendet sich, beeinflussend, direkt an den Leser." Bunge rechnet es Christa Wolf als "besonderes Verdienst" an, "daß sie viele Unsitten, beispielsweise die Heuchelei, nicht nur als existent nachweist, sondern auch unerbittlich in ihrer verheerenden Wirkung bloßstellt." Und von Uwe Johnson heißt es, er selbst ähnle Christa Wolfs Figur Manfred Herrfurth: ,jenem Wissenschaftler, der aus der DDR durch Enttäuschungen vertrieben wurde und der dort mehr fehlt als er in der Bundesrepublik erwartet wurde." (Ebd., S. 14 f.) - Bernd Jentzsch stellt unter dem Titel "Nelkensträuße für Poeten" die Anthologie .Auftakt 63" vor, die durch Hermlins AkademieVeranstaltung "Junge Lyrik - unbekannt und unveröffentlicht" vom II. Dezember 1962 ausgelöst worden war. Von der neuen ,,Lyrik-Welle" in der DDR hebt Jentzsch hervor: .,Sarah Kirsch schreibt intellektuelle Neo-Anakreontik, Wolf Biermann dichtet, komponiert und singt zeitbezogene Lieder und Balladen, Volker Braun donnert pathetisch mit interessanten Themen (Jugend und Großbauten)." (Ebd., S. 4.) 36 Das hinderte Kurt Hager nicht, am 25. März 1963 auf einer Beratung des Politbüros des ZK der SED und des Präsidiums des Ministerrates mit Schriftstellern und Künstlern heftig 29 Timmermann

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(Nicht-)Verhältnis der deutschen Schriftsteller konnte erst im folgenden Jahr aufgebrochen werden. Was Hans Werner Richter, dem Vater der Gruppe 47, damals gelungen ist, war eine kleine Sensation, die erstaunlicherweise schon bald in Vergessenheit geriet. Im Rahmen des literarisch-politischen Salons, den Hans Werner Richter im dritten Programm des SFB und NDR als Jour fixe unter dem Titel ,,Berlin X- Allee" moderierte, ist es am 14. Mai 1964 gelungen, ein gesamtdeutsches Autorengespräch zu führen, an dem Hermann Kant, Max Walter Schulz und Paul Wiens aus der DDR sowie die westdeutschen Schriftsteller Günter Grass, Uwe Johnson und Heinz von Cramer teilgenommen haben. 37 Dieses Gespräch war die erste öffentliche Ost-West-Debatte nach dem Mauerbau und die Atmosphäre, in der es begonnen wurde, hat ein Zuhörer - den Richter während der Sendung zitiert - sehr anschaulich beschrieben: "Das Gespräch ist von einer fast unerträglichen Spannung, jeder redet wie auf Zehenspitzen." Für den tastenden Anfang mochte diese Einschätzung zutreffen. Hans Werner Richter hatte einleitend nach den Gemeinsamkeiten der deutschen Sprache und Literatur gefragt und dafür bei den DDR-Autoren, die vor allem auf die gemeinsame Verantwortung für die Vergangenheit hinwiesen, zunächst eine positive Resonanz gefunden. Doch Uwe Johnson störte dieses Einvernehmen mit der lakonischen Feststellung: "Ich halte den Satz für zweifelhaft, daß wir alle in einer gemeinsamen Sprache schrieben oder uns ausdrückten." Und er verwies auf den Umstand, "daß zwischen den Schriftstellern dieser beiden Währungsgebiete durchaus eine Meinungsverschiedenheit herrscht, welcher Satz auf eine literarische Weise gut ist." Johnson pointierte diese Einschätzung später mit der Bemerkung, daß ein westdeutscher Kritiker einen Satz - beispielsweise aus Christa Wolfs "Der geteilte Himmel" - gegebenenfalls als "schlecht" bezeichnen würde, während die ostdeutsche Kritik - etwa im "Sonntag" oder im ,,Neuen Deutschland" - den Satz eines westdeutschen Autors als "schädlich" beurteile: ,,Dieser Unterschied zwischen schlecht und schädlich, der ist doch einigermaßen gefährlich." Max Walter Schulz wollte diese scharfe Entgegensetzung relativieren, indem er als dritten Begriff das Adjektiv "zweckmäßig" einführte38 und damit um Verständnis für die gegen das Treffen zu polemisieren: ,,Auf dieser Tagung fand sozusagen ein trautes der bürgerlichen und sozialistischen Ideologie statt, oder noch konkreter ausgedrückt: Die Schrift steiler der DDR befleißigten sich, beide Ideologien, konkret etwa Brecht und Dürrenmatt, gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen . .. Jeder derartige Versuch führt unweigerlich zur Preisgabe des sozialistischen Realismus und bereitet dem Gegner für seine Politik der ideologischen Diversion und Verwirrung den Boden." (Zit. nach: Elimar Schubbe [Hrsg.]: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, s. 875.) 37 Für die Überlassung der Tonaufzeichnung dieses Gesprächs danke ich dem für die Sendung verantwortlichen Redakteur des SFB, Hanspeter Krüger. Ein Auszug aus dem Gespräch wurde in der Zeitschrift "alternative" 38/39 (Oktober 1964), S. 97-100 publiziert. Dabei blieben die meisten der im folgenden zitierten brisanten politischen Aussagen unberücksichtigt. 38 Heinz von Cramer wies dieses Wort entrüstet zurück: "Wenn wir in diesem Beruf des Schriftstellers überhaupt den Begriff [zweckmäßig] einführen, dann beginnt der Zynismus,

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Literaturpolitik der DDR zu werben versuchte: "Wir in der DDR befinden uns in einer revolutionären Situation, und wir können für uns nicht die absolute ästhetische Freiheit Anspruch nehmen. Ich glaube aber, Herr Grass, daß Sie die absolute ästhetische Freiheit für sich in Anspruch nehmen wollen." Grass entgegnete: ,)a, für jeden Schriftsteller. Das ist für mich selbstverständlich, und wenn sie nicht gegeben ist, dann erwarte ich von den Schriftstellern als Hefe in einem Staat, daß sie von sich aus gegen diese Beschneidung etwas tun . . ." An diesem Punkt der Debatte wurde die prekäre Beziehung zwischen Literatur und Politik in der DDR offen benannt: Anders als es Grass in Polen mit respektvoller Sympathie beobachtet hat, war die literarische Entwicklung in der DDR nach seinem Urteil einer ,jahrelangen Vernachlässigung der Form" erlegen, die er nicht nur auf vorherrschende ästhetische Konzepte, sondern vor allem auf mangelnde Zivilcourage der Schriftsteller zurückführte: "Diesen Beitrag innerhalb Ihres Staatsgebildes und in - also ich lächle darüber - Ihrer revolutionären Situation in der DDR vermisse ich einfach, es tritt auf der Stelle, es bleibt ein KleinPoppelsdorf." Der Autor Grass zeigt sich in diesem denkwürdigen Streitgespräch zugleich als ein Moralist, der sich mit unverbindlichen Beschwörungsfonnein über gemeinsame Interessen nicht begnügen mag, sondern die Dinge, die ihn bedrängen, schonungslos beim Namen nennt. Als Paul Wiens am Beginn des Gesprächs emphatisch die gemeinsame Verantwortung der deutschen Schriftsteller beschwor, die er am Beispiel einer Begegnung mit Hans Magnus Enzensberger, Bruno Apitz und Erwin Strittmatter auf einem europäischen Schriftstellertreffen in Leningrad illustrierte, mochte Grass die Totenklage nicht auf die Vergangenheit beschränkt sehen: "Wie schwierig wäre es, wenn Sie, Herr Wiens, Herr Enzensberger oder irgendein anderer westlicher Schriftsteller sich zum Beispiel hier an der Mauer träfen, wo es auch zu Toten gekommen ist, und nun jeder von sich aus etwas dazu sagen sollte." Und am Ende des Gesprächs, das Kant zuvor als "etwas Bemerkenswertes" und als "großartige Möglichkeit" charakterisiert hatte, machte Grass noch einmal deutlich, wie er die politische Verantwortung des Schriftstellers auffaßte, als er sich für Robert Havemann einsetzte. Robert Havemann war seit 1950 Professor für physikalische Chemie an der Humboldt-Universität in Berlin und hatte im Wintersemester 1963 I 64 mit der Vorlesung über ,,Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" Aufsehen im Westen und Argwohn bei den SED-Funktionären erregt. Am 12. März das sage ich jetzt ganz hart, dann beginnt auch schon die Halbwahrheit aus Zweckmäßigkeit, das Verschweigen aus Zweckmäßigkeit, die bewußt mangelhafte Information aus Zweckmäßigkeit. Ich glaube, wir alle sind da gebrannte Kinder, wir alle haben erlebt, was es bedeutet, [zweckmäßig-sein] in der Kunst. Das ist nicht solange her. Wir können uns gut erinnern. Da gibt es keine Gemeinsamkeit auf diesem Gebiet." Max Walter Schulz zeigte sich "nicht geneigt, den Ausdruck zurückzunehmen. Wenn ich unter ,Zweckmäßigkeit' die zweckmäßige Verfolgung eines humanen Zieles anstrebe, dann glaube ich nicht, daß man das mit Zynismus abtun kann." 29•

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1964 wurde er seines Amtes enthoben und am folgenden Tag aus der SED ausgeschlossen. Als Vorwand für diese Maßregelung diente ein angebliches Interview, das am 11. März im Hamburger ,,Echo am Abend" publiziert worden war. Der Journalist Karl-Heinz Neß hatte in dieser Veröffentlichung Gesprächsnotizen mit Havemann zu einem nichtautorisierten Text unter dem Titel "Wir Deutschen machen alles ganz besonders gründlich ..." zusammengestellt. Zwei Monate nach diesem Vorgang, der in der westdeutschen Öffentlichkeit auf massive Kritik gestoßen war, appellierte Grass an die ostdeutschen Schriftstellerkollegen: "Wir können nicht sagen, wir reden jetzt über die Angelegenheiten der Schriftsteller, als wenn sie in einem Interessenverband säßen. Es passieren natürlich um uns herum tausend Dinge, die mit Schriftstellerei überhaupt nichts zu tun haben. Es ist einfach nun mal so, daß Herr Professor Havemann diese Schwierigkeiten in Ihrem Staat hat und daß er - ich beneide ihn nicht um seine Situation nun bei Euch verteufelt arm und allein sitzt. Ich möchte ihm nicht das Schicksal von Rarich wünschen, daß er im Gefängnis landet ... , "Ich wünsche mir von Euch, ... daß Ihr einen Mann wie den Havemann stützt, ... daß es nicht einfach zu Sanktionen kommt, daß er nicht den Weg nach Bautzen geht ..." Es ist eindrucksvoll, akustisch nachzuerleben, wie sehr Hermann Kant von dieser solidarischen Intervention, "mit der völlig neue Dinge ins Spiel gebracht werden", irritiert war, so daß es ihm beinahe die Sprache verschlagen hätte, bevor er zum Jargon des zuverlässigen Literaturfunktionärs zurückfand: "Herr Grass geht von der für ihn klaren Tatsache aus, daß alles, was er über diese Geschichte weiß, zutreffend ist, und ... er fordert uns hier zur Unterstützung dieser oder jener Person auf, von der wir vielleicht ganz andere Meinungen haben als er, ganz sicher sogar." So einfach wollte es sich Paul Wiens nicht machen: "Lassen wir uns in unseren beiden Staaten darauf einwirken, ... daß sich die Situation hier in Deutschland ... normalisiert, dann werden all diese unnormalen Erscheinungen, die also weit in unsere Arbeit und in unser Leben einwirken, sich beheben lassen." Uwe Johnson mochte erkannt haben, daß die entschiedene politische Wendung, die das Gespräch genommen hatte, bei den Vertretern aus der DDR alarmierend wirken mußte und eine Fortsetzung der Debatte gefährden könnte. Doch sein Beschwichtigungsversuch endete schließlich als ein zweites Plädoyer für den bedrängten Robert Havemann: "Wenn Herr Grass jetzt diesen Fall Havemann - hoffentlich ist es keiner - zur Sprache bringt, dann nicht, um Sie zu ärgern oder zu provozieren, sondern weil er genau wie wir ein Interesse daran hat, daß sich die andere Seite verhandlungsbereit zeigt, und es ist natürlich für uns schwer zu begreifen, daß jemand wegen philosophischer Auslegungen von einem chemischen Lehrstuhl entfernt wird." Das Gespräch, das beinahe politisch-tagesaktuell endete, hatte auch seine heiterironischen Momente, wenn etwa Uwe Johnson sein Plädoyer für einen freien Bücheraustausch mit dem Wunsch ergänzte, Günter Grass sollte in einem Glühlampenwerk der DDR lesen und diskutieren dürfen und Hermann Kant dafür eil-

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fertig seine Vermittlungsdienste anbot. Aber der Versuch von Paul Wiens, "das Gemeinsame zu sehen in aller Verschiedenartigkeit", stieß immer wieder an die Grenze der Politik. Und es war gewiß eine politische Entscheidung, daß dieses Gespräch trotz gutgemeinter Absichtserklärungen von allen Beteiligten keine Fortsetzung finden sollte. Hans Wemer Richter hatte abschließend festgestellt: ,,Es hat jedenfalls von keiner Seite jemand sich gescheut, das auszusprechen, was er für richtig hält." Das war wohl der wichtigste Grund, daß diese denkwürdige Debatte unter deutschen Schriftstellern lange Zeit ein singuläres Ereignis geblieben ist. 39 "Sonderbare Begegnungen" lautet der Titel eines schmalen Bandes mit drei Erzählungen von Anna Seghers, der 1973 erschienen ist. Eine, "Reisebegegnung" (1972 entstanden), imaginiert ein Treffen zwischen E.T.A. Hoffmann, Gogol und Kafka, die in einem Prager Cafe im Sommer 1922 über Fragen der Kunst debattieren. Traum und Wirklichkeit, das Phantastische und das Teuflische, die Anfechtungen des Künstlers und die Willkür der Zensur sind zentrale Themen dieser drei Schriftsteller, die zwar zu verschiedenen Zeiten lebten, aber einige Gemeinsamkeiten hatten: Sie litten unter ihrer Doppelexistenz als Staatsdiener und als Dichter, sie lebten in Zeiten des Übergangs und erwehrten sich einer bedrohlichen Welt, die Kafka als "ausweglos" empfand. Das rief den Widerspruch von Hoffmann hervor: ..... weil Sie für sich selbst keinen Ausweg sehen, sehen Sie auch keinen für andere. Man muß aber nach einem Ausweg suchen, nach einer Bresche in der Mauer. Wie ein Gefangener eine sucht, um eine Botschaft durchzustecken von einem Menschen zum anderen. " 40 Was mag Anna Seghers wohl im Sinn gehabt haben, als sie diese Ermutigung formulierte?

39 Es mag auch eine Reaktion auf dieses Gespräch gewesen sein, daß die von Hans Werner Richter zur Tagung der Gruppe 47 im September 1964 nach Sigtuna (Schweden) eingeladenen DDR-Autoren Bieler, Bobrowski, Braun, Huchel und Kunert keine Ausreisegenehmigung erhalten haben (vgl. T. Richter [Anrn. 10], S. 115). Nachdem es im Mai noch ein ostwest-deutsches Autorengespräch gegeben hatte, muß es auch befremdlich erscheinen, daß zu einem Internationalen Schriftsteller-Kolloquium, das vorn I. bis 5. Dezember 1964 in OstBerlin zum Thema ..Literatur in beiden deutschen Staaten" stattfand, ausschließlich Teilnehmer aus sozialistischen Ländern eingeladen worden sind. (Vgl. dazu Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990 [Edition Deutschland Archiv], Köln 1994, S. 114.) 40 Anna Seghers. Sonderbare Begegnungen, Darmstadt und Neuwied 1973, S. 146.

Rockmusik in der DDR zwischen 1973 und 1982 Politik und Alltag

Von Michael Rauhut

Das Thema "Ostalgie" hat über Monate hinweg Schlagzeilen geschrieben: OssiFreizeitparks, DDR-Feten, Honecker-Dubletten, "das Bier von hier" - und natürlich Musik. Kaum ein Medium konnte den schrillen, scheinbar anachronistischen Bildern widerstehen. Da drängelte sich junges und altes Disko-Volk an Einlassem im FDJ-Hemd vorbei, zahlte die DDR-typischen 3,10 Mark Eintritt, orderte ColaWodka und schwitzte bis zum Morgengrauen zu den Platten von den Puhdys, Silly und Karat. War das der Schrei nach der DDR, ein tanzender Protest gegen den Westen? Oder war das einfach "Kult", gedankenleer und nur auf Konsum versessen? Der Bertelsmann-Konzem hat diese Frage am schnellsten beantwortet. Er hat im Dezember 1993 den gesamten Nachlaß der ostdeutschen Rock- und Pop-Produktion gekauft und vermarktet ihn seither bis zum letzten Ton. Selbst der eingefleischte Fan kommt da kaum noch hinterher. Bertelsmann hat Dutzende von Compilations mit den alten Hits im Angebot, die besten Langspielplatten des DDR-Rock auf CD und auch bislang unveröffentlichtes ArchivmateriaL Alles muß raus, ist das Motto. Man findet immer wieder neue Wege, um die alten Songs zum xten Male zu verkaufen. Der jüngste Streich war ein Kooperationsgeschäft mit MacDon, "Cross Promotion" im Fachjargon. Da konnte man im Oktober 1998 neben Coke und Burger auch eine Best-Of-CD mit dem Titel ,,Mitten ins Herz. 16 Top-Hits aus dem Osten" erstehen, zum Dumpingpreis von 9,95 DM. "Ost-Rock" ist ein Marktfaktor. Daß er funktioniert, zeigen die Zahlen. Bei der MacDonaids-Aktion wurden innerhalb eines Monats 370 000 CDs abgesetzt. Insgesamt kann Bertelsmann seit Dezember 1993 mehr als 30 Millionen DM Umsatz mit Rock- und Popmusik aus der DDR verbuchen. 1 Natürlich ist irgendwann auch der letzte Käufer abgeschöpft und der Boom vorbei. Schließlich ist das Reservoir, auf das sich die Marketingstrategien stützen können, ein recht begrenztes. Es sind vor allem die Hits aus den siebziger Jahren, die das größte Haltbarkeitsdatum haben und die noch immer klingende Münze abwerfen. t Alle Angaben wurden beim "Geschäftsbereich Amiga-Marketing" der Hansa Musik Produktion GmbH, eine Gesellschaft der Beneismann Music Group, erfragt.

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Um diese Zeit soll es im folgenden gehen. 2 Zum besseren Verstehen sind ein paar prinzipielle Vorbemerkungen nötig.

I. Rock und Alltag Rockmusik funktioniert als eine "Sozialisierungsinstanz ersten Ranges" 3 , als "ein kulturelles Medium Jugendlicher, das ihre sozialen Erfahrungen, Sinnansprüche und -defizite öffentlich macht"4 . Oder anders formuliert: Sie sucht nicht die "Flucht vor der Realität, sondern hinterfragt die Kategorien, die diese organisieren"5. Darin liegt ihre eigentliche politische Sprengkraft. Rockmusik bildet den Kristallisationskern zahlreicher Jugendkulturen - von den Rock'n'Roii-Fans der Fünfziger, den Mods und Hippies, bis hin zu den Grufties, Punks und TechnoFreaks. Sie steht als Klammer über ein ganzes Arsenal von Verhaltensmustern, Stilen und Images und fungiert als ein Mittel zur Abgrenzung. Nur der Kreis der Eingeweihten kann sie entschlüsseln. Ihr sozialer und kultureller Kontext ist ein Raum der Selbstverwirklichung und Selbstfindung: "Der erste Grund, der diese Musik so attraktiv macht, ist ihr Gebrauch zur Beantwortung der Frage nach unserer Identität: Wir benutzen Popsongs, um uns eine bestimmte Art von Selbstdefinition zu schaffen, einen bestimmten Platz innerhalb der Gesellschaft. Das Vergnügen, das Popmusik produziert, ist in hohem Maße ein Vergnügen der Identifikation - mit der Musik, den Ausführenden dieser Musik, mit anderen, die diese Musik ebenfalls mögen. " 6 In der DDR wurden die sozialen und kommunikativen Qualitäten der Rockkultur durch das spezifische Klima der "geschlossenen Gesellschaft" zusätzlich aufgewertet. Sie avancierte für viele zum Symbol für "Freiheit" und "Anderssein" und vermittelte Werte, die mit den Normen des sozialistischen Menschenbildes kollidierten. Unter dem Stern des Rock etablierten sich Nischen, Handlungsräume, in denen Befindlichkeiten ausgelebt und soziale Erfahrungen gesammelt werden konnten, die sonst verwehrt blieben. Der Staat verlor an Einfluß. Ablesbar wurde das etwa an habituellen Besonderheiten und den Attitüden der Fans, dem Gruppenverhalten der Gleichgesinnten oder an den regelbrechenden Vorstellungen über Sexualität und Moral. Hier wurde unablässig gesellschaftlicher Konfliktstoff produziert, der über die ästhetischen und sittlichen Vorbehalte der älteren Generationen hinaus politische Konsequenzen nach sich zog. Dem Willen der SED zufolge sollte die Erziehung der Jugendlichen bis in die private Sphäre von Freizeit und 2 Der Beitrag entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts "Rock in der DDR 1973 bis 1982. Politische Koordinaten und alltägliche Dimensionen". 3 Peter Wicke, Vom Umgang mit Popmusik, Berlin 1993, S. 16. 4 Peter Wicke. Like A Rolling Stone. Die Politik des Rock, Manuskript, S. 14. 5 lain Chambers, Urban Rhythms. Pop Music And Popular Cu1ture, London 1985, S. 209. 6 Sirnon Frith, Towards An Aesthetic Of Popu1ar Music, in: Music And Society IR. Leppert; S. McCLary (Hg.), Cambridge/New York 1987, S. 140.

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Familie garantiert sein. Dafür waren Organisationen wie die FDJ und kulturelle Einrichtungen etwa in Gestalt der staatlichen Jugendklubs zuständig. Ihre tägliche Arbeit sah sich jedoch mit Zwängen konfrontiert, die in den Papierkonstrukten unterbelichtet blieben. Wollten sie die Jugendlichen erreichen, hatten sie sich mit deren realen Bedürfnissen auf Dauer zu arrangieren. Deshalb wurden immer wieder Kampagnen initiiert, die die Rockkultur kontrollieren, entschärfen und in eine "sozialistische Jugendtanzmusik"7 kanalisieren sollten. Was sich zu experimentell oder renitent gebärdete, wanderte in das Hoheitsgebiet privater Veranstalter und kirchlicher Einrichtungen ab. II. Politische Mechanismen l. Im Unterschied zum Westen wurde Rockmusik in der DDR nicht mit marktwirtschaftlichen, sondern ideologischen Maßstäben gemessen. Ihr kulturpolitischer Auftrag lautete, die Jugend im Sinne des kommunistischen Persönlichkeitsideals zu erziehen. 2. Diesem Auftrag entsprechend, sollte sich die Rockmusik der DDR in ihrem künstlerischen wie politischen Profil von den Produkten des Westens abgrenzen. Das Konzept "Eigenständigkeit" ging allerdings nie auf. Die Geschichte des DDRRock ist eine Geschichte der Kapitulation vor der Übermacht westlicher Entwicklungen. Noch die am heftigsten bekämpften Trends wurden früher oder später sanktioniert und von den Fangarmen der Bürokratie umklammert, weil man an ihrem realen Stellenwert im Leben der Massen auf Dauer nicht vorbeikam. 3. Der politischen Relevanz, die man Rockmusik in der DDR zubilligte, entsprach ein gigantischer bürokratischer Apparat. Rockmusik wurde durch zahllose staatliche Institutionen verwaltet, gefördert und zensiert. Ende der achtziger Jahre umfaßte die Szene 110 professionelle und 2 000 Amateurbands. 4. Der offizielle Umgang mit Rockmusik in der DDR wurde durch ein geradezu pathologisches Sicherheitsdenken geprägt. Das spezifische Verhalten der Fans, vor allem die Bildung informeller Freizeitgruppen, wurde als Angriff auf die Autorität des Staates gewertet. Die Erklärung, die man für negativ bewertete Phänomene wie Cliquenbildung, Hedonismus oder Ausstiegsattitüde parat hatte, blieb über die Jahrzehnte konstant: Die westlichen "Gegner" und nicht die eigenen Verhältnisse hatten an allem Schuld. Populäre Musikkulturen, die aus dem Westen in die DDR sickerten, fielen bis in die siebziger Jahre a priori unter das Verdikt der "ideologischen Diversion". Später schied man nach politisch und ästhetisch grob zugeschnittenen Kriterien in progressive und reaktionäre Trends.

5. Die politische Geschichte des Rock in der DDR gliedert sich im wesentlichen in zwei große Etappen. In den sechziger Jahren, der Frühphase, wurde Rockmusik im großen und ganzen als "psychologische Waffe" des "Klassenfeinds" verketzert. 7

Anfang der siebziger Jahre von der FDJ ausgegebener Slogan.

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Die Wende kam mit dem Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 und dem neuen Kurs gen "Konsumsozialismus". Rockmusik wurde von nun an als ein wichtiger Faktor der Jugend- und Kulturpolitik behandelt. 111. Die siebziger Jahre Der erste Kulminationspunkt der politischen Anerkennung des Rock in der DDR war im Jahr 1973 erreicht, der letzte 1982. Im Vorfeld der "X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten", die 1973 in Ostberlin ausgerichtet wurden und dem Staat internationale Reputation einbringen sollten, sind landeseigene Bands in einer bis dato ungekannten Intensität gefördert worden. Die Medien öffneten sich, das infrastrukturelle Netz des Live-Alltags wurde perfektioniert, die X. Weltfestspiele selbst stiegen mit zahlreichen Konzertveranstaltungen quasi zur "Bewährungsprobe für die DDR-Rockgruppen"8 auf. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich 1982, kurz vor der Entscheidung über die Stationierung USamerikanischer und sowjetischer Atomraketen in Europa. In dieser heißen Phase hoben einheimische Kapellen die Festivalreihe "Rock für den Frieden" aus der Taufe, die bis 1987 alljährlich im Ostberliner Palast der Republik ausgerichtet wurde. Zwischen den beiden Zäsuren von 1973 und 1982 erstreckte sich eine historische Etappe, die in dreierlei Hinsicht von besonderer Bedeutung war. 1. Die siebziger Jahre haben sich als künstlerisch fruchtbarster Abschnitt in die Geschichte des DDR-Rock eingeschrieben. Hier fächerte sich das stilistische Spektrum auf und prägten sich regionale Szenen aus, die die unterschiedlichen Spielarten repräsentierten. Art Rock war vornehmlich im Dresdner Raum beheimatet, Folk und Blues im thüringischen Süden, Hard Rock fand in urbanen Breiten (v. a. Berlins) sein Domizil. Hinter den kreativen Aufbrüchen verbargen sich mehrere Faktoren. Zum einen erlaubten die günstigen kulturpolitischen Konstellationen der jungen Ära Honecker ein hohes Maß an Experiment und Selbstverwirklichung. Außerdem wirkten bahnbrechende internationale Entwicklungen als Vorbild. Seit jeher suchten einheimische Bands den Schulterschluß zu den anglo-amerikanischen Trends. Anders als in den sechziger Jahren, als die pure Kopie dominierte, mühten sie sich jedoch nun, den globalen Gestus des Rock in eine eigene Sprache zu transformieren - die Grundbedingung, um von den ostdeutschen Medien produziert zu werden. Hinzu kam, daß mit den Siebzigern eine neue Generation von professionellen Künstlern an den Start ging. Sie hatten eine Spezialausbildung in "Tanz- und Unterhaltungsmusik" an einer der vier Musikhochschulen der Republik absolviert und brachten ein enormes Potential an Ehrgeiz und Handwerk in die bislang von Amateuren beherrschte DDR-Rockszene ein. 2. Landeseigene Rockmusik erreichte in den siebziger Jahren ihr Popularitätsmaximum. Schallplattenauflagen sprengten nicht selten die Marke von 250000, s Peter Wicke, Anatomie des Rock, Leipzig 1987, S. 214.

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nationale Hitparaden stießen auf ein beachtliches Interesse, die beliebtesten Bands gaben im Schnitt über 200 Konzerte pro Jahr. Ihre Songs, die eine nie wieder erreichte musikalische und soziale Qualität aufwiesen, fanden mühelos ein Massenpublikum. Mit der Wende zu den Achtzigern fiel dann die Resonanzkurve des DDR-Rock. Neben der Tatsache, daß der Anschluß an revolutionäre internationale Trends der künstlerischen Entfaltung (Punk und NewWave) und medialen Vermittlung (Video und CD) verlorenging, waren vor allem die abgewirtschafteten Verwaltungsstrukturen an dieser Talfahrt Schuld. Laut Umfragen des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung gaben 1979 noch 49% der Jugendlichen an, daß ihr "Lieblingstitel populärer Musik" aus der DDR-Produktion stamme, 1984 waren es 31 %, 1985 22% und 1987 schließlich nur noch 11 %. Parallel dazu stieg die Zahl derer, die sich für ein Stück "aus dem kapitalistischen Ausland" entschieden von 51% ( 1979) über 69% (1984) und 71% (1985) bis auf 89%.9 3. Zwischen 1973 und 1982 wurden die Extreme der politischen Bewertung des Rock ausgelotet. Die Amplitude reichte von euphorischer Förderung bis zum Rückzug in restriktive Härte. Mit der Vorbereitung der "X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten" geriet ein regelrechter Rockförderboom ins Rollen. Das Treffen, das vom 28. Juli bis 5. August 1973 mehr als 25 000 Mädchen und Jungen aus 140 Nationen nach Ostberlin lud, sollte demonstrieren, "wie die Bürger unseres Landes erfolgreich auf dem Weg des Sozialismus voranschreiten" 10• Auch in kultureller Hinsicht wollte man sich als "weltoffener" Staat präsentieren. Das wiederum hat den Prozeß der Etablierung und Profilierung des DDR-Rock entscheidend vorangetrieben. Im Sog des "Weltfestspielfiebers" gelangten die späteren Stars der Branche ans Licht, prägten sich künstlerische Handschriften aus, die zum Synonym für diese Musik avancierten. Die Medien begannen mit der kontinuierlichen Produktion von Rockmusik. In ihren Studios entstanden zeitlose Hits, die goldene Ära des DDR-Rock brach an. Lange sollte der Aufschwung nicht währen. Nach der Hochzeit der X. Weltfestspiele waren die Grenzen der Toleranz schnell erreicht. Die kulturellen Phänomene, wie sie im Zeichen des Rock blühten, gerieten zunehmend unter Beschuß. Daran hatte die Stasi eine erhebliche Aktie. Sie gab ab 1974 verstärkt "alarmierende Vorfälle" in der Veranstaltungssphäre zu Protokoll: überregionale Fanbewegun9 Holm Felber; Hans-Jörg Stiehler. Erste Ergebnisse der Untersuchung "Das Verhältnis Jugendlicher zur populären Musik" (POP 87), Leipzig, Zentralinstitut für Jugendforschung 1987, S. 57. Die Studie beschreibt lediglich die Population, die hinter den Angaben für 1987 steht: Es wurden I 227 Jugendliche befragt, die sich aus Lehrlingen (53%; 40% ohne, 13% mit Abiturausbildung), Arbeitern (30%), Hoch- und Fachschulabsolventen (6%) und Studenten (12%) rekrutierten. Die Summe von mehr als 100% geht auf einen Rundungsfehler zurück. JO Aufruf des Nationalen Festivalkomitees der DDR für die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten vom 18. Februar 1972, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch): DY 24/ A8295.

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gen zu den Konzerten und Tanzabenden, Verstöße gegen Ruhe und Ordnung, "dekadentes Showgehabe", Alkoholmißbrauch und sexuelle "Entgleisung". Im Juli 1975 legte das MfS eine umfangreiche .Jnfonnation über negative Auswirkungen bei Auftritten von Beat-Fonnationen" vor. Zu den Adressaten gehörten das ZK der SED, die Ministerien für Kultur sowie des Innern und der FDJZentralrat. Wie üblich, wurden einzelne Vorkommnisse als Indikatoren bedrohlicher Tendenzen ins Feld geführt. Das Dokument rekapitulierte vier Rockveranstaltungen in Berlin, Gaschwitz und Plauen, unter denen das staatliche "II. Tanzmusikfest der Jugend" vom 23. bis 25. August 1974 in der vogtländischen Kreisstadt bezüglich Größe und Problemschärfe hervorstach. Die Plauener Freiluftkonzerte hatten rund 4 000 Enthusiasten angelockt, die am Ende mit der Polizei aneinandergerieten. Nach Meinung der Stasi waren solche Krawalle vorprogrammiert, weil sich die Massen partiell aus "asozialen Elementen", Rowdys und Vorbestraften rekrutierten- kurzum Personen, die "nicht gewillt sind, bestimmte Nonnen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten" und sich der "erzieherischen Einflußnahme entziehen"11. Die Aussteigerattitüde, so der geheimdienstliche Schluß, finde in zügellosem Rockfanatismus eine exponierte Projektionsfläche: "Das ,Bekenntnis' zu einer bestimmten Beat-Fonnation ist deshalb offensichtlich als Ausdruck einer gewissen Oppositionshaltung und gestörter Beziehungen zur sozialistischen Gesellschaft überhaupt zu werten." 12 Mit seinem Bericht trat das Mielke-Ministerium im ZK der SED eine Lawine los. Das Hohe Haus der Partei ordnete etwa an: "Durch das Komitee für Unterhaltungskunst sind spürbare Veränderungen im Aussehen und Auftreten der vertraglich im Betreuungsverhältnis stehenden Beatgruppen herbeizuführen." ,Jn Sendungen des Rundfunks wie bei DT 64 u. a. ist eine ausgewogene Gestaltung von Tanzmusiksendungen verstärkt zu sichern und eine zu einseitige Betonung bestimmter (harter) Beattypen zu vermeiden." ,,Es ist eine Regelung zu schaffen, die gewährleistet, daß ein konzentriertes Auftreten von Beatgruppen nur mit Zustimmung des Ministers für Kultur erfolgen darf.'' 13

Eben noch auf den Wogen der Aufbruchseuphorie der frühen Siebziger, gerieten die Bands abennals unter administrativen Druck. Die Longe sollte sich mit neuerlichen Zwischenfällen im Veranstaltungsalltag weiter straffen.

II Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), ZA, ZAIG 2411 , BI. 3 und 4. 12 Ebd., BI. 4. 13 Standpunkt und Vorschläge der Abteilungen Kultur, Jugend und Agitation des ZK der SED zur Verstärkung der politisch-ideologischen und künstlerischen Einflußnahme auf die Entwicklung der Beat-, Schlager- und Tanzmusik, des Jugendtanzes und zur Zurückdrängung nichtsozialistischer Erscheinungen auf diesem Gebiet, 22. 09. 1975, SAPMO-BArch: DY 24/ All227.

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IV. Das Menetekel von Altenburg und der 7. Oktober 1977 Den schwersten Rückschlag erlitt die ostdeutsche Rockszene nach der 1000Jahr-Feier der Kreisstadt Altenburg vom 9. bis 11. Juli 1976 im Süden der DDR. Dort hatte sich eine "Reihe ernsthafter Vorkommnisse" zugetragen, "welche die Ordnung und Sicherheit erheblich beeinträchtigten. Ursache waren die Anwesenheit und das Verhalten von etwa 2 500 Gammlern und Jugendlichen mit dekadentem Aussehen." 14 Neun hochkarätig besetzte Rock-Open-airs hatten den Ansturm ausgelöst. Ein Desaster von bis dato in DDR-Breiten ungekanntem Ausmaß nahm seinen Lauf: "Allein durch die verwahrloste Kleidung, die teils mit westlichen Symbolen, wie zum Beispiel USA-Flaggen, versehen war, und durch das abstoßende Aussehen und Verhalten des genannten Personenkreises wurde die festliche Atmosphäre erheblich beeinträchtigt. Störungen zeigten sich vor allem in rowdyhaften Handlungen, zum Teil unter starkem Alkoholeinfluß, wie zum Beispiel provozierendes Verhalten gegenüber Volkspolizisten, Anpöbeleien gegenüber Bürgern, unsittliche Belästigungen, Betteleien unter Androhung von Gewalt, Beschädigungen öffentlicher Einrichtungen und Zerschlagen von Flaschen und Gläsern. Dieser Personenkreis lagerte und nächtigte gruppenweise und einzeln auf Straßen, Plätzen und in Anlagen, verschiedentlich wurde nackt in Schloß- und Parkteichen gebadet und die Notdurft in aller Öffentlichkeit verrichtet o. ä. Es kam verschiedentlich zu staatsfeindlichen Äußerungen, wobei eine Abschirmung der Wortführer vor der einschreitenden Volkspolizei in den Gruppen erfolgte. Aus diesem Personenkreis wurden Losungen gerufen wie: ,Wir machen, was wir wollen!'; ,Wir wollen frei sein!'; ,Wir werden beweisen, daß die Staatsmacht machtlos ist! ' Schimpfworte richteten sich besonders gegen die Volkspolizei, deren Angehörige wiederholt als ,Bullen' und ,Nazischweine' bezeichnet wurden.'" 5 Der Zusammenprall blieb da unvermeidlich- über 100 Jugendliche wurden verhaftet. In den Zentralen der SED und Stasi sorgte das Debakel von Altenburg für helle Aufregung. Interne Beschlüsse forderten drakonische Maßnahmen, denn: "Diese Vorkommnisse können zu einer unmittelbaren Gefahrdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und darüber hinaus zu einer Diskreditierung der Staatsmacht der DDR nach innen und außen führen." 16 Wie ein Räderwerk griffen nach Altenburg kultur- und sicherheitspolitische Disziplinierungsstrategien ineinander und beschnitten wichtige Entfaltungsräume des Rock. Einmal in Gang gesetzt, war der Mechanismus dann wieder schwer zu 14 Information über Vorkommnisse während der 1000-Jahrfeier der Stadt Altenburg sowie Maßnahmen zur verstärkten politisch-ideologischen, künstlerischen und organisatorischen Einflußnahme auf Jugendtanz- und andere Veranstaltungen, Beschluß des Sekretariats des ZK der SED vom 08. 09. 1976, SAPMO-BArch: DY 30/JIV2/3/2492. 1s Ebd. 16 Erich Mielke an die Leiter der Diensteinheiten, Zur vorbeugenden politisch-operativen Abwehrarbeit unter negativ-dekadenten Jugendlichen und Jungerwachsenen, 15. II. 1976, BStU, ZA, VVS MfS 008-1127176, ohne Blaltzählung.

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stoppen. Neuerliche Vorfälle, die nun besonders eifrig registriert wurden, hielten ihn permanent in Schwung. Einen extrastarken Impuls lieferten Ereignisse, die sich am 7. Oktober 1977 in der Ostberliner City zugetragen hatten. Anläßtich des "Republikgeburtstages" war rings um den Alexanderplatz eine Non-Stop-Gala ausgerichtet worden, die auch Rockbands aufbot. Wahrend eines der Konzerte kam es am Fuße des Fernsehtu!llls zur Katastrophe. Um besser sehen zu können, waren mehrere Jugendliche auf einen Lüftungsschacht geklettert. Die Gitterabdeckung hielt der Last nicht stand - neun von ihnen stürzten ca. 19.00 Uhr in die TiefeY Als sich ein Bereitschaftstrupp der VP "zwecks Absicherung des Unfallortes" sowie "Hilfeleistung und Sicherung des Einsatzes von Schnellhilfewagen des DRK" 18 durch die Menge knüppelte, brach Panik aus. Ein paar Hundert der 20000 Zuschauer "rotteten" sich laut Stasiprotokoll gegen die Uniformierten "zusammen". Blitzschnell nahmen die Dinge eine politische Wendung. Polizisten wurden die Mützen vom Kopf gerissen und verbrannt, die aufgeputschten Gemüter sangen aus voller Kehle "All we are saying is give peace a chance" und skandierten "Freiheit", "Nazis","Mörder" oder "Nieder mit der DDR", "Honecker raus- Biermann rein", "Nieder mit dem Bullenpack" und "Hängt sie auf'. An beiden Fronten wütete Gewalt. Erst um 23.30 Uhr war der Alptraum vorbei. Das Areal glich einem Schlachtfeld. 66 Beamte, zum Teil schwer verletzt, mußten medizinisch versorgt werden. Bis zum 5. November 1977 wurden 468 "Zuführungen" realisiert, von denen man 207 "nach eingehenden Belehrungen und Verwarnungen" wieder aufhob, weil kein strafrechtlich relevanter "Tatbeitrag" vorlag. Auf den Rest warteten vielfach schlimme Konsequenzen. In 23 Fällen wurde ein Freiheitsentzug von sechs Wochen verhängt, 64 Personen landeten zwischen vier Monaten und drei Jahren hinter Gittern. 16 Hafturteile setzte man auf Bewährung aus. Parallel zur "Aufklärung" der Beteiligten zurrten die Stasi und das Innenministerium mit einer verfeinerten Sicherheitskonzeption die Schlinge um den Rock- und Tanzsektor zu und legten den Griff zum eisernen Besen nahe. U. a. hieß es: "Es ist ständig Einfluß auf das koordinierte und zielgerichtete Zusammenwirken der Untersuchungsorgane, der Staatsanwaltschaft, der Gerichte sowie der anderen zuständigen staatlichen Organe, der wirtschaftsleitenden Organe und der Betriebe, Kombinate und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen zur einheitlichen, konsequenten Anwendung des sozialistischen Rechts und vor allem zur Einleitung langfristig wirksamer Maßnahmen der Erziehung und nachhaltigen Disziplinierung, besonders durch Arbeit, zu nehmen." 19 Die SED-Loge gewährte Feuerschutz: "Das Politbüro ist einverstanden, daß Genosse E. Honecker den Minister des Ionern und den Minister für Staatssicherheit beauftragt, Maßnahmen zu treffen, daß a) die Bestimmungen für Ordnung und Sicherheit bei Tanz-, Disco- und ähnlichen öffent11 V gl. Hauptabteilung IX, Abschlußbericht über die Ergebnisse der Untersuchungen zur Aufklärung der Vorkommnisse während des Volksfestesam 7. 10. 1977 in der Hauptstadt der DDR, II. 11. 1977, BStU, ZA, HA IX, 899, BI. 1-26. 18 Ebd., BI. 5. 19 BStU, ZA, HA IX, 899, BI. 45.

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Iichen Veranstaltungen eingehalten werden; b) Rowdys entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen zur Verantwortung gezogen werden." 20

V. Das Verbot der Klaus Renft Combo Ein besonderes Exempel restriktiver Härte wurde mit dem Fall Renft statuiert. Das Verbot dieser Gruppe vermittelt ein aussagestarkes Bild von den Grenzen der staatlichen Rockförderung, den Zensur- und Entwicklungsstrategien der Medien, vom Handlungsgefälle zwischen politischer Zentrale und Region, vom Umgang mit der eigenen Geschichte und auch von den inneren Konflikten einer etablierten Kapelle, die zwischen Anpassung und Widerstand zerriß. 21 Die Leipziger Klaus Renft Combo gehörte zu den populärsten Rockformationen der DDR. Sie stieg nach etlichen Umbesetzungen und Profilkorrekturen Anfang der Siebziger, im Vorfeld der X. Weltfestspiele, zum staatlichen Aushängeschild der "sozialistischen Jugendtanzmusik" auf. Renft genoß eine starke Medienpräsenz, staatliche Subventionen, hohe Gagen und Auszeichnungen. Das kostete sie jedoch erheblich an Prestige unter ihren Fans. Sie warfen der Band einen Ausverkauf solcher Ideale wie Bodenhaftung und Integrität vor. Die Combo rutschte in eine Identitätskrise und spaltete sich in Fraktionen. Wahrend die eine Hälfte auf Diplomatie und Kompromisse setzte, rüstete die andere zum Muskelmessen mit dem Staat. Sie wußte den Liedermacher Gerulf Pannach hinter sich, der Anfang der siebziger Jahre etliche große Renft-Hits getextet hatte. Pannach war inzwischen mit ketzerischen Songs und v. a. durch seine Kontakte zu Wolf Biermann zum "Staatsfeind" aufgestiegen, sein Fall avancierte zur politischen Chefsache. Im September 1974 verlor er seine Spielerlaubnis. Als sich die Renft-Combo mit ihm solidarisierte und ihn in ihren Konzerten illegal auftreten ließ, richtete sich das Visier von SED und Stasi auch auf die Band. Es schloß sich ein fataler Kreis: Über Pannach driftete die Gruppe in das Umfeld der Staatsaffeire Biermann. Die Berliner Kulturzentralen, die Renft bis dahin ausgiebig gefördert hatten, zogen ihre Hand zurück und überantworteten die Band den für ihren Dogmatismus berüchtigten Leipziger Behörden. Diese sprachen am 22. September 1975 ein endgültiges Verbot aus. Ein Teil der Combo fand in anderen DDR-Rockgruppen ein neues Betätigungsfeld, der Rest landete wegen fortdauernder politischer Vergehen im Gefangnis und wurde schließlich in den Westen abgeschoben. Der Name Renft blieb im Osten Deutschlands bis 1989 tabu.

20 Information über Zunahme von Verletzungen der Ordnung und Sicherheit bei Tanzveranstaltungen sowie des Rowdytums, Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 08. II. 1977, SAPMO-BArch: DY 30/JIV21211700. 21 Detaillierter: Michael Rauhut, Blues in Rot. Der Fall Gerulf Pannach und das Verbot der Klaus Renft Combo, in: Deutschland Archiv 5/1998, S. 773-782.

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VI. Ausreiseschicksale Zahlreiche Rockmusiker sahen bald in der Ausreise oder Flucht "nach drüben" den einzigen Weg aus einer Identitäts- und Schaffenskrise der Szene, die sich Ende der siebziger Jahre dramatisch zuspitzte. Ab 1976 setzte ein folgenreicher künstlerischer Exodus ein. Der Weggang solch profilprägender Persönlichkeiten wie Nina Hagen, Veronika Fischer, Franz Bartzsch, Angelika Mann, Hansi Biebl, Stefan Diestelmann, Holger Biege, Hans-Joachim Neumann, Ute Freudenberg und Heinz-Jürgen Gottschalk war ein irreparabler Verlust. Das traf genauso für den endlosen Strom von exzellenten Instrumentalisten, Textern und Managern zu, die im Arbeiter-und-Bauern-Staat keinerlei Perspektive mehr sahen. Der Seitenwechsel einiger der besten ostdeutschen Musiker ist in zweierlei Hinsicht für das Verhältnis von Rock und Politik relevant. Zum einen wurde mit diesem radikalen Schritt das Ausmaß der Probleme deutlich, die auf den Künstlern lasteten. Zwar hatte jeder, der das Land verließ, auch ganz private Motive, entscheidend waren aber immer fehlende berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und der damit verbundene Illusionsverlust Darüber geben v. a. die entsprechenden Unterlagen der Staatssicherheit Auskunft. Sie belegen in einzigartiger Weise die Grenzen der kulturpolitischen Verwaltung des Rock, aber auch die Ränke- und Muskelspiele um die Pfründe der Aktivisten der Szene. Die Fälle persönlicher Betroffenheit sind von hohem exemplarischen Wert: Sie liefern einen aufschlußreicheren Einblick in den Alltag des Rockmusikmachens in der DDR als die zentralen Bestandsaufnahmen und kritischen Lageberichte der SED. Zum anderen zeigt der interne politische Umgang mit der Ausreiseproblematik auf der zentralen Machtebene, daß man ganz genau um die Konsequenzen für die kulturelle Landschaft und für das deutsch-deutsche Verhältnis wußte und deshalb den Schaden zu minimieren versuchte. Hatte sich ein Prominenter zum Gang von Ost nach West entschlossen oder war ,,republikflüchtig" geworden, bemühten sich die obersten Instanzen um Vermittlung - abgesehen von den Fällen, wo Musiker. der Gruppe Magdeburg, vorsätzlich aus politischen Gründen abgeschoben wurden. Meist waren es führende Funktionäre der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst, des Staatlichen Komitees für Rundfunk, des ZK der SED oder des Kulturministeriums, die mit den Betreffenden (nicht selten noch im Westen) Kompromisse aushandeln wollten. Sie boten dann bessere Arbeitsbedingungen in der DDR an, versprachen stärkere Medienpräsenz, Fördeegelder oder den Reisepaß und waren bei besonders populären Künstlern auch schon mal bereit, höchste Privilegien zu versprechen. Die Sängerin Veronika Fischer und der Jazz-Rock-Pionier Klaus Lenz etwa lebten mehrere Jahre lang mit einem Dauervisum in Westberlin, ohne ihre DDR-Staatsbürgerschaft zu verlieren. Letztlich liefen aber alle Versuche, prominente Musiker zur Rückkehr zu bewegen, ins Leere. Einmal offen ausgebrochen, waren die Konflikte nicht mehr zu schlichten. Erst 1982 gingen Staat und Szene mit der Aktion "Rock für den Frieden" ihr letztes großes Arrangement ein.

Biographie und Situation Komponieren in der DDR bis 1961 Untersuchungen zum Verhältnis künstlerischer Entwicklung und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen am Beispiel der ersten Komponistengeneration der DDR

Von Daniel Zur Weihen

Der folgende Beitrag versucht, Bedingungen kompositorischer Praxis in der DDR der 50er Jahre anhand der Übergänge zwischen politischer Lenkungsarbeit und künstlerischer Alltagspraxis zu formulieren. Am Beispiel der ersten Komponistengeneration der DDR ("' 1922- 1930), die dadurch definiert wird, daß eine ernsthafte musikalische Ausbildung mit Richtung auf den Beruf des Musikers oder Komponisten erst nach dem Kriegsende beginnen konnte, wird untersucht, auf welche Weise der Aufbau und die unterschiedlichen Ausformungen des politischen Regelungssystems für die konkrete kompositorische Arbeit Bedeutung gewinnen konnten. 1 Grundlage der Forschung bilden intensive Archivrecherchen und InterAbkürzungen: ALV Ami für Literatur und Verlagswesen AWA Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte DAK Deutsche Akademie der Künste HA Hauptabteilung Kulturbund (zur demokratischen Erneuerung Deutschlands) KB KF Kulturfonds MfK Ministerium für Kultur MfV Ministerium für Volksbildung SRK Staatliches Komitee für Rundfunk beim Ministerrat der DDR Stakuko Staatliche Kornmission für Kunstangelegenheiten VDK Verband deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler ZS der SED Zentralsekretariat der SED I Der vorliegende Beitrag gibt einen kleinen Einblick in die Ergebnisse eines wesentlich umfangreicheren Dissertationsprojektes. Aus Platzgründen kann im zweiten Teil mit dem Komponisten Günter Kochan auch nur ein Einzelfall exemplarisch vorgestellt werden. Umfassendere Schlußfolgerungen, die auch die nach Lebenslage stark differierenden subjektiven Realitätskonstruktionen bei gleichzeitig weitgehender Überschneidung der wichtigsten Einflußgrößen der politischen Situation berücksichtigen sowie genauere Darstellungen der Arbeitsweise der angeführten Institutionen im Bezug auf die Kornposition zeitgenössischer Musik geben, können der im Herbst 1999 in der Reihe .,Aus Deutschlands Mitte" (Hrsg.: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, Prof. Dr. Dr. Hennann Heckmann) erschienen Dissertation entnommen werden. 30 Timmermann

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views2 • Die Ergebnisse geben Hinweise darauf, wie ein komplexes System aus parteistaatlichen Lenkungsorganen (Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED, die staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, das Amt für Literatur und Verlagswesen, das Ministerium für Kultur, Hauptabteilung Musik) 3 , Künstlerorganisationen (VDK, Sektion Musik der DAK), Versorgungseinrichtungen (AWA) und persönlichen Beziehungen und Interessengruppen, das unzumutbar starke Einschränkungen für die kompositorische Arbeit der einzelnen Komponisten vermuten läßt, eine hohe Stabilität entwickeln konnte. Zu den befragten Komponisten gehören sowohl solche, die der offiziellen ästhetischen Diskussion nahestanden und stark gefördert wurden wie Günter Kochan, als auch solche, die aus politischen oder kompositionstechnischen Gründen in ihrer Arbeit Behinderungen unterworfen waren wie Harald Heilmann und besonders PauiHeinz Dittrich. I. Voraussetzungen

Bei der Betrachtung der kompositorischen Arbeit in ihrer Beziehung zur politischen Entwicklung muß auch in einem Bereich wie dem der SBZ I DDR, der durch einen starken, durch Sanktionen abgesicherten kulturpolitischen Lenkungsanspruch einer Partei gekennzeichnet ist, von einer Mehrdimensionalität der Beziehungen zwischen Komponisten und Gesellschaft ausgegangen werden. Die Annahme eines polaren Gegenübers von "politischer Vormundschaft und künstlerischer Selbstbestimmung"4 ermöglicht nur einen sehr begrenzten Einblick in die Funktionsweise des Bereiches der Komposition neuer Musik, da z. B. die Einbindung einiger junger Komponisten in das "institutionelle Netz"5 , die Doppelrolle von Komponist und Musikfunktionär und die Rückwirkung von Diskussionen innerhalb des Komponistenverbandes oder auch deren Fruchtlosigkeit bei regelmäßiger Wiederholung erst Hinweise auf die Bestandsmöglichkeit des Regelungssystems geben. Für die kompositorische Praxis sind in den meisten Fällen die konkreten Gegebenheiten der alltäglichen Praxis weitaus bedeutender als übergreifende 2 Befragt wurden: Prof. Andre Asriel (* 1922) (Gedächtnisprotokoll), Prof. Paul-Heinz Dittrich (*1930) (Gesprächsprotokoll), Harald Heilmann (*1924) (Gesprächsprotokoll), Prof. Wolfgang Hohensee (* 1927) (Gesprächsprotokoll), Prof. Günter Kochan (*1930) (Gedächtnisprotokoll), Siegfried Kurz (*1930) (Gesprächszusammenfassung), Wolfgang Lesser (*1923) (Gesprächsprotokoll), Prof. Siegfried Mattbus (*1934) (Gesprächsprotokoll). Zitiert werden die autorisierten Gesprächsaufzeichnungen mit Name (GI Jahr). 3 Das Abkürzungsverzeichnis der nicht allgemein geläufigen Abkürzungen befindet vor den Fußnoten. 4 ,,Zwischen politischer Vormundschaft und künstlerischer Selbstbestimmung - Protokoll einer wissenschaftlichen Arbeitstagung vom 23. bis 24. Mai 1989 in Berlin", hrsg. im Auftrag der Akademie der Künste zu Berlin von lrmfried Hiebe/, Hartmut Kahn und Alfred Klein, 1989. s Werner Weidenfeld, Rudolf Korte (Hrsg.): "Handbuch zur deutschen Einheit", Frankfurt a. M. u. a., 1993, S. 119.

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ästhetische Diskussionen und Zielvorgaben. Hier, im Bereich des Alltäglichen, ist der Übergang zwischen politischer und kompositorischer Praxis zu finden.

II. Musikgeschichte im Überblick Da die Darstellung die jungen Komponisten in den Mittelpunkt stellt und eher systematisch als musikhistorisch aufgebaut ist, sollen hier die Ausgangslage und die wichtigsten Stationen der Musikgeschichte der SBZ/DDR bis 1961 vorgestellt werden. 6 In den ersten Jahren der SBZ waren die Ansätze und Entwicklungen der zeitgenössischen Musik noch nicht verschieden von denen in den westlichen Besatzungszonen. Vorbild war in ersten Nachkriegszeit in ganz Deutschland besonders Hindemith. Tätig wurden vor allem Komponisten, die auch während des Dritten Reiches in Deutschland gearbeitet hatten. 7 Erst ab 1948 kehrten die ersten Exilkomponisten, die für die Entwicklung der DDR-Musik Bedeutung gewinnen sollten, zurück (E. H. Meyer, P. Dessau, H. Eisler). Um diese Zeit waren die meisten Professorenstellen in der SBZ schon mit Komponisten besetzt, die zumeist in der Tradition der Spielmusik und der Jugendmusikbewegung der 20er Jahre arbeiteten oder in der Nachfolge der neobarocken Leipziger Schule standen. Ebenfalls im Jahr 1948 fand erstmalig eine Sitzung parteigenössischer Komponisten und Musiker beim Leiter der damaligen Abteilung Parteischulung, Kultur und Erziehung des ZS der SED, Heymann, statt. 8 Hier 6 Zur Musikgeschichte der SBZ/DDR bis 1961 siehe: F.K. Prieberg: "Musik im anderen Deutschland", Köln 1968; Autorenkollektiv unter der Leitung von Heinz Alfred Brackhaus und Konrad Niemann: ,,Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik - 19451976", Berlin (DDR) 1979; Klaus Mehner: "Tradition und Neubeginn-Musiknach 1945", in: Zwischen politischer Vormundschaft ( . .. ) (1989), S. 12-14; ders: ..Zwischen Neubeginn und Tradition- Die frühen Jahre der DDR-Musik" (teilweise identisch mit Mehner (1989)), Beitrag zum Kolloquium über die DDR-Musikgeschichte der 50er Jahre, veranstaltet von der Akademie der Künste im Februar 1990, in MuG 5/1990, S. 247 - 252; ders.: "Ab 1945: Deutsche Demokratische Republik", Abschnitt des Artikels "Deutschland" in: MGG, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Bd. 2, 1995, Spalte 1188- 1192; Frank Schneider: ,,Momentaufnahme- Notate zu Musik und Musikern in der DDR", Leipzig 1979; ders.: ,,Der andere WegGrundzüge einer Musikgeschichte im gespaltenen Deutschland", Beitrag zum Kolloquium an der Akademie der Künste Berlin/West: ,,Musikgeschichte: gedoppelt- geteilt" vom 11. bis 13. Mai 1990, veröffentlicht in MuG 7/90, S. 363- 373; Friedbert Streller: •.Sozialistische Aufgabe -Proletarische Tradition - Bürgerliches Erbe - Entwicklungsprobleme der DDRMusik in den 50er /60er Jahren", in Helmuth Hopf, Brunhilde Sonntag (Hrsg.): ,,Im Osten nichts Neues? - Zur Musik der DDR", Wilhelmshaven 1989. 7 Klaus Mehner. ,,Jahre der Entscheidung - Vom deutschen Nachkriegsklang zur sozialistisch-realistischen Musik", in: ,,Positionen" Nr. 27. Mai 1996, S. 13-18. 8 SAPMO - BArch DY 30 /IV 2/906/284, Blatt 3 f., ..Bericht über die Konferenz der parteigenössischen Musiker und Komponisten" am 15. 12. 1948. Eine erste Zusammenkunft mit SED-Mitgliedern aus dem Bereich der bildenden Künste war schon am 5. Juli 1946 durchgeführt worden. (SAPMO- BArch DY 30/IV 2/906/4, Blatt 157, zit. nach Beatrice Vierneisel, "Die Kulturabteilung des Zentralkomitee der SED 1946-1964", S. 791 , in: Gün-

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erläuterte E. H. Meyer die Hauptthesen eines an sowjetische Vorstellungen 9 anknüpfenden sozialistischen Realismus in der Musik, der in seinen späteren Ausformungen durch Meyer zur Grundlage der Zielsetzungen von Partei und Komponistenverband werden sollte. Ungefahr ab 1948 I 49 entwickelten sich die Komponisten-Szenen in Ost und West langsam auseinander, was auch mit institutionellen Trennungen, wie dem Verbot des Kulturbundes in den Westzonen, zusammenhing.10 Während im Westen und besonders in Darmstadt das Vorbild der Wiener Schule (Schönberg, Webern, Berg) entdeckt wurde, forderte die Ästhetik des sozialistischen Realismus in der Musik das Anknüpfen an das klassische Erbe und die Demokratisierung des Musiklebens. 11 Dabei haben besonders zwei Grundgedanken Auswirkungen auf die DDR-Komponisten gehabt: der einer nicht elitären, verständlichen Kompositionsweise, ergänzt um die besonders durch Eisler und im Umfeld seiner Meisterklasse vertretene, an Brecht orientierte Forderung nach der Nützlichkeit der Musik, und der Gedanke der handwerklichen Traditionspflege, der auch im akademischen Umfeld der Musikhochschulausbildung vermittelt wurde. Darüber hinaus standen sich verschiedene Interessengruppen und Fraktionen, die zum Teil aus dem Verhalten ihrer Protagonisten während des Dritten Reiches resultierten, gegenüber. Werke der Musikgeschichte der SBZIDDR, in denen sich wichtige Entwicklungsabschnitte artikulieren, sind die ,,Festouvertüre" von Gerster (1948) als erstes und häufig gespieltes quasi-offizielles Werk, in dem mehrere Arbeiter- und Kampflieder in klassisch-romantischer Tradition verarbeitet werden, Dessau I Brechts Oper "Das Verhör I Die Verurteilung des Lukullus", an der 1951 die erste polemische Diskussion zum Realismus und Formalismus in der Musik geführt wurde, Eisler I Bechers ,,Neue deutsche Volkslieder", die den Gedanken einer volksnahen Einfachheit zur Schaffung einer neuen Nationalkultur verkörpern, Dessaus "In memoriam Bertolt Brecht" ( 1957), das für eine Ausweitung der kompositorischen Mittel ab 1953 I 54 und besonders nach 1956 in Richtung auf einen offiziellen Gebrauch von Zwölftontechniken, allerdings noch mit Konnotationen der Trauer, ter Feist, Eckhart Gillen, Beatrice Vierneisel, ,.Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990 -Aufsätze, Berichte, Materialien", Köln 1996, S. 788 - 820). 9 Aktuelles Vorbild für die Überlegungen zum sozialistischen Realismus in der Musik war: Andrej Alexandrowitsch Shdanow: ..Eröffnungsrede auf der Beratung von Vertretern der sowjetischen Musik im ZK der KPdSU (B), Januar 1948", zit. nach Shdanow (1951}, S. 46 ff.; ders.: "Fragen der sowjetischen Musikkultur", Diskussionsbeitrag auf der Beratung von Vertretern der sowjetischen Musik im ZK der KPdSU (B}, Januar 1948, zit. nach Shdanow (1951), S. 55 ff.; beide in: ders.: ,.Über Kunst und Wissenschaft", Berlin (DDR) 1951. IO Werner Danneberg: ,,Nachholbedarf- Kulturbund und neue Musik 1945-1952", in MuG 6/90, S. 306-311 ; Maren Köster: ,,Das friedlichste Esperanto- Neue Musik in der SBZ (1945- 1949}", in: Nico Schüler (Hrsg.), ,.Festschrift für Cornelia und Hanning Schröder" (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 2}, Frankfurt a.M./Berlin 1995. Leicht überarbeitet in: ,,Positionen" Nr. 27, Mai 1996, S. 19-22. II Ernst Hermann Meyer: ,.Realismus - die Lebensfrage der deutschen Musik", MuG 1951, Nr. 2, S. 38 (S. 6) - S. 43 (S. II ), ders.: ,.Musik im Zeitgeschehen" (hrsg. von der DAK), Berlin (DDR) 1952.

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stehen kann, und Kochans Eisler gewidmetes, u. a. an Schostakowitsch orientiertes .,Klavierkonzert" op. 16 (1958), Matthus' .,Gesänge nach Motiven lateinamerikanischer Negerdichtung" ( 1959 I 60), Gerhard Wohlgemuths ., I. Streichquartett" (1960) und die .,2. Sinfonie" (1960) von Kurz, die zeigen, wie sich Anknüpfungen an Bart6k, Messiaen, Wiener Schule und Strawinsky bei jungen Komponisten durchsetzten, wobei es für die öffentliche Präsentation allerdings Grenzen gab, die durch Stücke wie Reiner Bredemeyers aleatorische Verfahren nutzendes .,Schlagstück I" (1960) und Dittrichs zwölftöniges Bläserquintett .,Pentaculum" (1960) 12 markiert sind. Werke dieser beiden Komponisten wurden noch bis in die 70er Jahre hinein in der DDR so gut wie nicht aufgeführt. Zeichen der Teilung ist das Schicksal der west-östlichen Kollektivkomposition .Jüdische Chronik" (von: Blacher, Wagner-Regeny, Henze, Dessau, Hartmann auf Text von Gerlach), deren geplante erste Aufführung durch den Mauerbau zum Politikum wurde. 13

111. Organisationen und Institutionen Will man die Rolle, die die Institutionen der Lenkung und Verwaltung des kulturellen Lebens spielten, richtig einschätzen, muß man die Funktionalisierung der Künste im Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts, wie sie die Auffassungen der parteinahen Funktionsträger kennzeichnete, voraussetzen. Beispielhaft sei hier eine Äußerung des Vorsitzenden der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten (Stakuko), Helmuth Holzhauer, in seiner Rede auf dem I. Jahreskongreß des Verbandes deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler im Oktober 1952 angeführt: ,,Ihre Kunst, die Musik, die wie keine andere an die Herzen von Millionen Menschen rührt, die die Zungen der Volksmassen durch ihre Lieder beredt machen kann, soll von der Epoche künden, in die wir unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse eingetreten sind. Die Musik soll uns beim Aufbau des Sozialismus begleiten, soll seine heroischen Züge und seine kleinen, die Herzen der Menschen tagtäglich belebenden Freuden schildern. Musik muß überzeugen. Die Menschen sehnen sich danach, daß Künstler immer neue Worte und Tone finden, die ihre eigenen ionersten Empfindungen und Gedanken formulieren, so daß sie beim Hören eines Liedes sagen können: ,Ja, ja, das gerade wollte auch ich aussprechen, der Künstler hat es mir von der Zunge genommen.' " 14 12 .,Pentaculum" wurde 1964 in Schwerin, von der Schweriner Bläservereinigung uraufgeführt. Dillrieb (G /1998) erinnert sich, daß es bei der Aufführung nach dem Stück einen ,,Eklat" gegeben habe. Das Stück habe eine schlechte Kritik bekommen, und die Bläser hätten es dann auch nicht mehr spielen wollen. Noch Ende der 60er Jahre trug die Behandlung dieses Stückes in einem Analysekurs Dittrichs an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Berlin entscheidend zur Absetzung des Seminars durch den Hochschulrektor Rebling bei. Kurz darauf wurde Dillrieb verboten, an der Hochschule über neue Musik zu sprechen. 13 Umfassend dokumentiert in: Ulrich Dibelius, Frank Schneider (Hrsg.): ,,Neue Musik im geteilten Deutschland" (Bd. 1), Berliner Festspiele GmbH zur 14. Musik-Biennale Berlin 1993, Berlin 1993.

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Das folgende Schaubild gibt einen Überblick über Institutionen und Organisationen, die für die Arbeit der Komponisten von Bedeutung waren: Abteilung Kultur beim ZK der SED, Stakuko I MfKHA Musik bzw. Sektor Musik, Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte, Rundfunkleitung I Staatliches Rundfunkkomitee, Amt für Literatur und Verlagswesen, Kulturfonds, Kulturbund, Verband deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler, Deutsche Akademie der Künste - Sektion Musik. 15 Eine Kulturabteilung bestand bei der Parteileitung der KPD und später der SED seit 1946. Ihr oblag im demokratischen Zentralismus ab 1948 die Verbindung von der Parteileitung zu den Parteigruppen und regionalen Leitungsstrukturen sowie die Ausformulierung der durch das Politbüro bestimmten zentralen Richtlinien der Kulturpolitik. Nach der Gründung der Staatsorgane kontrollierte die Abteilung die Arbeitspläne von Stakuko und MfK genauso wie die der Künstlerorganisationen. Die Stakuko (1951-1953), darauffolgend das MfK (ab 1954), die Rundfunkleitung bzw. das Staatliche Komitee für Rundfunk, das ALV, der Kulturfonds und die AWA waren im Staatsapparat angeordnet bzw. diesem unterstellt und entsprachen in den meisten Fällen dem sowjetischen Vorbild. Der VDK hatte über Kommissionen und Kuratorien oder Beiräte Mitsprachemöglichkeiten bei der Gelderverteilung durch AWA und Kulturfonds (KF), in der Musikkommission des MfK und im SRK. Außerdem fanden zu allen wichtigen Fragen der Organisation der zeitgenössischen Musik Besprechungen mit Teilnahme der Verbandsführung bei den Partei- und Staatsorganen statt. Die Einflußnahme der SED auf den VDK erfolgte über die Betriebsparteiorganisation, der auch die Verbandsführung angehörte. Vorstandswahlen des VDK wurden vorher geplant und die aufgestellten Listen mit wenigen Änderungen auch durchgesetzt, obwohl die Parteimitglieder bei den Delegiertenkonferenzen nicht in der Mehrheit waren. Eine Sonderrolle hatte die Sektion Musik der DAK, da die DAK direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt war, in den 50er Jahren auf ihrer relativen Unabhängigkeit beharrte und eine Lenkung über Parteimitglieder unter den Mitgliedern nie reibungslos funktionierte. Charakteristisch ist die herausgehobene Stellung der Mitglieder der Sektion Musik, die deshalb von Kollegen angegriffen wurden, andererseits aber immer wieder durch Einzelaktionen den Horizont der in der DDR diskutierten neueren Musik erweiterten und für die bessere Verbreitung zeitgenössischer Kompositionen eintraten. In internen Kontrollberichten der Parteileitung wird allerdings die gegenüber den anderen Sektionen vorbildlich Parteiziele umsetzende Arbeit der Sektion Musik immer hervorgehoben, was wohl dem Einsatz E. H. Meyers zuzuschreiben ist.

!4 Protokoll des 1. Jahreskongreß des VDK (1952}, S. 8, archiviert im Deutschen Musikarchiv, Berlin, Deutsche Bibliothek, Berlin. MA, Berlin. u Die folgenden Einschätzungen der wichtigsten Institutionen sollen hier nicht im Einzelnen belegt werden, da sie auf umfangreichen Untersuchungen beruhen, deren Schlußfolgerungen in der erwähnten Dissertation des Autors begründet und durch Quellen gestützt werden.

Komposition in der DDR ZKder SED

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Kontrollierende Beziehungen sind in dem Schema, wenn kein anderes Verhältnis angegeben ist, durch Verbindungen von oben nach unten ausgedrückt oder durch Pfeile markiert. Verzeichnet sind der Übersichtlichkeit halber nur die wichtigsten Bestandteile des Netzes. Die Einflußnahme der Partei auf alle Bereiche, die mit der Komposition zeitgenössischer Musik regelnd beschäftigt waren, erfolgte nach den Prinzipien der Kaderpolitik. Dabei war die direkte Beschäftigung der Organe der Parteileitung mit einzelnen Werken selten. Sie kontrollierten aber die Arbeit der Staatsorgane und nahmen starken Einfluß auf die ideologische .,Diskussion". Dazu dienten zum einen der VDK und zum anderen Veröffentlichungen in der Presse von der .,Einheit" 16 über das .,Neue Deutschland" 17 bis hin zur Verbandszeitschriftdes VDK, ..Musik und Gesellschaft" 18 . Nachdem die Stakuko sich direkter zensierender Maßnahmen, wie der umfassenden Kontrolle sämtlicher Konzertprogramme auf allen Ebenen, Republik bis Gemeinde, bedient hatte 19, darüber hinaus aber auch noch versuchte, die kompositorische Entwicklung über gezielte Auftragsvergabe zu beeinflussen, eine umfassende ideologische Debatte zu lenken und die Hochschullehrer zu beaufsichtigen, änderte sich die staatliche Arbeitsweise u. a. aufgrund von Kritiken durch die Künstlerverbände, die DAK und den Kulturbund im Umfeld des 17. Juni 1953. Vorrangig wurde nun die Propaganda in der Presse und die Kommunikation mit führenden Künstlerfunktionären. Ein Zeichen für die veränderte Arbeitsweise unter 16 Eberhard Rebling: "Für den sozialistischen Realismus in unserem musikalischen Schaffen", in: ZK der SED (Hrsg.), "Einheit, Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus" 8.Jhg. (1953), Nr. 5, Berlin (DDR) 1953. Der Artikel war spätestens seit Oktober 1952 durch die Kulturabteilung des ZK der SED und den verantwortlichen Sekretär des ZK (Just) diskutiert und überarbeitet worden. (SAPMO- BArch DY 30/ IV 2/906/284, Blatt 54 ff.). 17 Z. B.: ND (redaktioneller Artikel(?)): ,,Zu den Aufgaben der Deutschen Staatsoper", in ND vom 19. 12. 1952. Der für Kulturpolitik verantwortliche Redakteur, Wilhelm Girnus, war Mitglied der Stakuko. Im Zuge der "Debatte" um Eislers Opern-Libretto "Doktor Faustus" schrieb Gimus am 5. März 1953 an Eisler mit Bezug auf Eisler kritisierende Artikel im ND: "Wir haben ( ... ) den Beschluß ( . .. ), die Artikel zu veröffentlichen, auf Grundlage von Parteibeschlüssen gefaßt, wie wir überhaupt in solchen grundlegenden Fragen niemals ohne vorherige Fühlungnahme mit dem ZK handeln." (Louise Eisler-Fischer: "Doktor Faustus in der DDR", NDR u. SFB, III. Programm, 26. 4. 1969, S. 350, in: Hans Bunge: "Die Debatte um Hanns Eislees ,Johann Faustus'- Eine Dokumentation", Berlin 1991, S. 341- 357.). 18 So wurden nicht nur die Arbeitspläne der MuG bei den staatlichen Stellen eingereicht, sondern auch Artikelserien zu einzelnen Themen angesetzt. (BArch DR- 1, 356 (Stakuko/ MfKHA Musik, Bestand MuG)). 19 Für die Kontrolle der Verlagsprogramme auch der Musikverlage war das "Amt für Literatur und Verlagswesen" verantwortlich, das zur selben Zeit wie die Stakuko gegründet worden war. Es gab aber Kompetenzprobleme mit der Stakuko, die ebenfalls versuchte auf die Produktion der Musikverlage Einfluß zu nehmen. Dies kann hier nicht näher dargestellt werden. Siehe dazu auch Siegfried Lokatis: "Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur", S. 306 in Jürgen Kocka (Hrsg.), "Historische DDR-Forschung- Aufsätze und Studien", Zeithistorische Studien Bd. I, Berlin 1993, S. 303- 325; Carsten Gansel, ,,Parlament des Geistes- Literatur zwischen Hoffnung und Repression, 1945 -1961", Berlin 1996, S. 144-148.

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der Formel .,überzeugen statt administrieren" war die Gründung des MfK zum Januar 1954 unter der Leitung Johannes R. Bechers. Die Leitung der Hauptabteilung Musik des neuen Ministeriums wurde ebenfalls durch einen von außerhalb kommenden Funktionär, den Cembalisten, Musikwissenschaftler und vormaligen Leiter der Musikabteilung des Rundfunks, Hans Pischner, übernommen. Die gewollte Einflußnahme nach den Vorgaben der Parteiprogrammsetzungen blieb aber über die ganze beobachtete Zeit bestehen.

IV. Versorgung Die materielle Situation der jungen Komponisten hatte starke Auswirkungen auf die Einbindung in den Parteistaat und war umgekehrt auch abhängig von der Bereitschaft zur Mitarbeit. Es gab jedoch auch Zwischenpositionen von jungen Komponisten, deren materielle Lage sich im Laufe der Zeit normal entwickelte, ohne daß bewußt Konzessionen an eine offizielle ästhetische Linie gemacht worden wären. Vordringlich ist aber festzustellen, daß sich aus anfänglichen Vergünstigungen für Intellektuelle und Künstler, verstärkt durch gezielte Förderung materieller und publizistischer Art bestimmter junger Komponisten, schließlich Verpflichtungen ergaben. Diese wurden nicht nur in der Formalismuserklärung I 95 I allgemein eingeklagt, sondern waren auch mit Forderungen oder zumindest Erwartungen an junge Komponisten wie Asriel und Kochan verbunden, die diese auch aus subjektiver Sicht unter beträchtlichen Druck setzten und zeitweise überforderten. Dies ist nicht nur aus den Interviews, sondern z. B. auch durch einen am Ende dieses Abschnitts angeführten Brief Asriels an Rentzsch von 1951 zu belegen. Wichtigste Mittel zur materiellen Versorgung waren neben festen Anstellungen ab I 95 I die AWA, die Verteilung von Preisen, besonders der Nationalpreise, und die Vergabe von Kompositionsaufträgen. l.AWA

Die AWA wurde zur Zeit der Gründungskonferenz des VDK am 5. April 1951, rückwirkend zum I. Januar 1951, durch die .,Verordnung über die Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiete der Musik"20, ausgegeben von der Regierung der DDR, Ministerpräsident Grotewohl, und dem Ministerium für Volksbildung, Minister Wandel, begründet. Bis zum Jahr 1951 war 20 ,.Verordnung über die Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiete der Musik, 5. 4. 51", Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Nr. 41, Berlin (DDR) 13. 4. 1951, S. 235 - 237. Das Dokument wurde dem Verfasser vom Liquidator der Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiete der Musik - in Liquidation -, Prof. August Angerer, zur Verfügung gestellt.

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die Abrechnung der Aufführungsrechte auch der in der DDR lebenden Komponisten über die GEMA geregelt. Die AWA, als gemeinnützige Anstalt öffentlichen Rechts, unterschied sich in ihrer Organisationsform erheblich von der westdeutschen GEMA. die eine Genossenschaft war: "Die Genossenschaft Deutscher Tonsetzer war ein Komponistenverein, die GEMA war und ist eine kaufmännische Genossenschaft, aber die AWA ist eine unter Regierungsaufsicht stehende Anstalt öffentlichen Rechts. Die AWA hat keine Mitglieder, sondern sie nimmt kraft staatlichen Auftrags die gesetzlichen Aufführungsrechte der Komponisten wahr, handelt also nicht im Einzelauftrag des lndividuums." 21 Hinzuweisen ist hier auf die besondere Konstruktion der AWA, die die Gelder nach zwei parallelen Systemen an die Komponisten verteilte. Neben einer konventionellen Punktwertung nach Werkgattungen gab es einen zweiten Multiplikator, der sich nach dem gesellschaftlichen Wert der Werke richtete. Dieser wurde mit Billigung des AWA-Beirates willkürlich festgelegt und ermöglichte die gezielte Förderung von Komponisten: ..§ 8 Die Grundsätze des Verfahrens auf den Verteilungsgebieten (I.) Bei ( ... ) allen Aufführungen außer Rundfunk und Tonfilm erfolgt die Abrechnung durch ein kombiniertes Verfahren, das sich a) aus der Punktierung und Spielhäufigkeit, b) aus der Wertung zusammensetzt. " 22 Neben der Orientierung an einem Schlüssel für Punkte je nach Art der Veranstaltung und des Werkes und der Spielhäufigkeit gab es ein Wertungsverfahren, bei dem Komponisten Multiplikatoren zugesprochen wurden, die als vervielfachende Faktoren in die Abrechnung eingingen. 23 Butting erklärt diese Vorgehensweise 1952 folgendermaßen: "Daß sie (die AWA, Anm. d. Verf.) diesen Gesamtlohn nun auch wieder an die einzelnen Schaffenden zu verteilen hat, ist selbstverständlich, aber es ist auch klar, daß diese Verteilung unter ganz anderen Gesichtspunkten vor sich gehen muß, als es in den alten Gesellschaften (GDT und GEMA, Anm. d. Verf.) der Fall war. Aus dem Umstand, daß in den alten Gesellschaften der einzelne als Auftraggeber der Gesellschaft anzusehen war, folgte, daß jeder einzelne die gleichen Ansprüche für gleichartige Kompositionen ableiten konnte, ohne Ansehung der Qualität und kulturellen Bedeutung des Stückes. Die AWA ist dagegen geradezu verpflichtet, bei der Verteilung des Gesamtlohnes an die Berechtigten Rücksicht auf die Bedeutung einzelner Kompositionen oder des Gesamtschaffens einzelner Komponisten zu nehmen. ( ... ) Die Leistung nach Qualität und gesellschaftlicher 21 Max Buuing, "Die AWA (Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte auf dem Gebiete der Musik)", MuG 1952/10, S. 338/339. 22 SAPMO-BArch DY 34/11/7211642, Verteilungsplan der AWA, 7 Seiten, o.Dt. Der Plan befindet sich im Archivbestand des FDGB und ist nach den umgebenden Dokumenten auf die Zeit zwischen März und Mai 1952 zu datieren. 23 Ebd., nur bei Musikaufführungen; Rundfunkaufführungen wurden nach Punktierung und Spielhäufigkeit, Tonfilmaufführungen nach Musikanteilen und Spielhäufigkeit und mechanische Vervielfältigungen nach Produktionsunterlagen bzw. Absatz abgerechnet.

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Bedeutung zu entlohnen, ist höhere Gerechtigkeit."24 Eine etwas genauere Darstellung des Wertungverfahrens gibt ein Verteilungsplan der AWA. 25 Dort heißt es unter§ 10: ,,Die Wertung: ( 1) Das Kuratorium beschließt jährlich, welcher Teil der Verteilungssumme für das jeweilige Verteilungsgebiet auf der Grundlage der Programmverrechnung und welcher auf der Grundlage der Wertung abgerechnet werden soll. (2) Bei der Wertung wird der künstlerische und kulturelle Wert berücksichtigt. (3) Das Kuratorium beschließt die Richtlinien, die die Arbeit der Verteilungskommission bei der Wertung im einzelnen regeln.''26

Für die Abrechnung 1951 liegen die Richtlinien für die Durchführung des Wertungsverfahrens vor. 27 Das zusätzlich zur Programmverrechnung über Punktierongen durchgeführte Wertungsverfahren teilte sich in zwei Bereiche, eine Gruppenwertung und eine Sonderwertung. Welche große Rolle diese Wertungen in der Gesamtabrechnung spielten, wird an der Gewichtung der Gelder deutlich: 40% der Verteilungssumme wurden über die Gruppenwertung, 20% über die Sonderwertung und nur 40% über die Punktierung verteilt. Im Rahmen der Gruppenwertung wurden die Komponisten durch eine Unterkommission der Verteilungskommission der AWA in acht Gruppen eingestuft, die jeweils für einen bestimmten prozentualen Aufschlag auf die Punktierung standen. Nach der Durchführung dieser Einteilung wurde die Gesamtzahl der zusätzlichen Punkte ermittelt und nach dieser Maßgabe die zugeteilten Anteile der Verteilungssumme vergeben. Die Abhängigkeit der Einstufung in Wertungsgruppen von dem angenommenen Wert der Komponisten im Rahmen der kulturpolitischen Arbeit macht die Aufstellung der Gruppen für 1951 deutlich: Zur 1. Gruppe, der ein Aufschlag von 250% auf die Punktierung zugestanden wurde, gehörten: "Hervorragende Komponisten, die neue Wege im Musikschaffen bahnen und deren Werke besonderen kulturpolitischen Wert besitzen", während in die zweite Gruppe (180%) "Komponisten mit einem außergewöhnlichen Können" fielen. Ähnlich verhielt es sich bei den anderen Gruppen, wo immer eine allgemeine Einstufung mit einer Höherstufung durch einen zusätzlichen kulturpolitischen Wert in der nächst höherwertigen Gruppe kombiniert war. Auffällig ist die Wichtigkeit des zweiten Kritieriums, da die Abstände innerhalb dieser zusammengehörigen Gruppen jeweils wesentlich höher waren als die zwischen der kulturpolitisch wertvolleren Gruppe und der nächstfolgenden allgemeinen Gruppierungs stufe. 28 24

Max Butring, a. a. 0.

SAPMO-BArch DY 34/11/72/1642, Verteilungsplan der AWA, o.Dt. Ebd., S. 7 . 27 BArch DR-1, 253, Bestand: MfK, HA Musik, AWA, Richtlinien für die Durchführung des Wertungsverfahrens betreffend die Abrechnung für das Jahr 1951, o.Dt. 25

26

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Darüber hinaus eröffnete 1951 noch die "Sonderwertung" die Möglichkeit, einzelnen "Urhebern und Verlegern ( . .. ) unabhängig von der Höhe der für sie aufgetragenen Punkte" zusätzliche Geldbeträge zuzuerkennen. Auch hier bestand der "Sinn" darin, "wertvolle kulturpolitische Leistungen ( .. . ) anzuerkennen." 29 Die Einteilungen im Rahmen der Gruppenwertung mit allerdings etwas abweichender Verfahrensweise beschrieb der Komponist Siegfried Kurz dem Verfasser: "Bei der AWA gab es eine Wertungskommission. Von der Kommission wurde der Wert eines Komponisten eingestuft. ( ... ) Diese Einstufung war subjektiv, und man mußte Glück haben, daß man in eine hohe Gruppe eingestuft wurde. ( ... ) Butting war in der Kommission und auch der Zentralvorstand des VDK war daran beteiligt. So hatte der ZV des VDK, z. B. mit Notowicz und Meyer, auch dort Einfluß. Ich kann aber nicht mehr sagen, wer der Hauptverantwortliche für die Einstufung war." 30 Darüber hinaus waren Komponisten von Massenliedern im Vorteil, da ihnen bei Großveranstaltungen pauschal Punkte gutgeschrieben wurden, die sich auf Vermutungen über relevante Daten wie die Aufführungshäufigkeit gründeten?' Die Auswirkungen wurden zum Beispiel im Gespräch mit Andre Asriel deutlich. Nachdem Asriel mit seiner Frau in sehr einfachen Verhältnissen gelebt hatte, mußte er sich nach der Gründung der AWA keine Sorgen mehr um sein Auskommen machen. Er berichtet von unmäßigen AWA-Ausschüttungen, die ihn sogar dazu bewogen hätten, der AWA anzubieten, das Geld, das zum Aufbau des Staates seiner Meinung nach dringender benötigt wurde, nicht anzunehmen. Die Zahlung am ersten Jahresende, nach Asriels Erinnerung sollte er 25.000,- Mark bekommen, sei so hoch gewesen, daß er mit Kochan zum Generaldirektor der AWA gegangen sei und mit 28 BArch DR-1, 253, Bestand: MfK, HA Musik, AWA, Gruppen für die Wertung 1951, o.Dt.: Die im Text nicht erwähnten Gruppen und ihre Wertungen: 3. Gruppe (150%): ,,Ebensolche Komponisten wie unter Gruppe 4, wenn ihre Werke einen besonderen kulturpolitischen Wert besitzen.", 4. Gruppe (100%): "Komponisten, die über ein beachtliches Können verfügen.", 5. Gruppe (80%): Ebensolche Komponisten wie unter Gruppe 6, deren Werke aber kulturpolitisch wertvolle Anregungen bringen.", 6. Gruppe (40%): "Komponisten ohne besondere fachliche Qualifikationen.", 7. Gruppe (30%): .,Komponisten wie unter Gruppe 8, in deren Werken sich kulturpolitische Ansätze zeigen", 8. Gruppe (10%): .,Komponisten, von denen niemals oder fast niemals Originalwerke zur Aufführung gelangen. Ebenso Komponisten, deren Melodien erst durch Bearbeitung aufführungsreif werden." 29 BArch DR-1, 253, Bestand: MfK, HA Musik, AWA, Richtlinien für die Durchführung des Wertungsverfahrens betreffend die Abrechnung für das Jahr 195 I, o.Dt. 30 Kurz (GI I 995).

31 Hohensee (GI 1998): "Weil sogenannte Massenlieder auf Massenveranstaltungen gesungen wurden, passierte nun folgendes: Am Ersten Mai waren die Leute über die Linden gezogen, oder über die Stalinallee und spätere Kari-Marx-AIIee und hatte Verschiedenes gesungen. Dann bekamen alle Komponisten, die Massenlieder geschrieben hatten, nach einem Schlüssel, der sich ein bißeben danach richtete, wie die Beliebtheitsskala des betreffenden Komponisten war, aus diesem Topf Tantiemen. Das war deshalb ein bißeben zweifelhaft, weil niemand wirklich feststellen konnte, wieviel und was gesungen worden war und wieviele Personen mitgesungen hatten."

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diesem konferiert habe. "Das kann man doch nicht machen", hätten sie angesichts der schlechten Lage im Land geäußert. Doch habe ihnen der Generaldirektor der AWA geraten, das Geld nicht zurückzuweisen, da das "mißverstanden" werden könnte. Zusammenfassend sagte Prof. Asriel, daß er, seit die AWA funktionierte, über Geld nicht mehr habe nachdenken müssen. Geld sei automatisch gekommen. 32 Auffällig ist die Reaktion auf Asriels Angebot, das Geld nicht anzunehmen. Hier wird deutlich, wie die Vermischung aus persönlicher Förderung und gesellschaftspolitisch motivierter Höherstufung dazu beitragen sollte, das System der Solidarität als eine Grundlage des Machterhaltes auszuweiten. Aus einem solchen Blickwinkel hätte eine Ablehnung eine Distanzierung von der solidarischen Gemeinschaft der im Aufbau der DDR engagierten Künstler bedeutet. 33 An Asriel sind auch die Auswirkungen der Verleihung von Nationalpreisen zu beobachten. Gegen die Meinung der Sektion Musik der Akademie der Künste wurde Asriel 1951 der Nationalpreis 3. Klasse zugesprochen, der nicht nur mit der großen Summe von 25.000,- Mark34 dotiert war, sondern auch zu weiteren Vergünstigungen, wie der Zuteilung eines der neuen lntelligenzhäuser, führte. Voraussetzung für diese Förderung waren Asriels Massenlieder gewesen, die der Nachwuchskomponist, Pianist und Jazzkenner, der schon im Exil in England Mitglied der FDJ geworden war, gekonnt und eingängig komponierte. Ausschlaggebend für den Nationalpreis war das Massenlied "Freundschaft, Einheit, Frieden". Dabei muß darauf hingewiesen werden, daß Andre Asriel nie Mitglied der SED war, nach der starken Förderung aber eine Verpflichtung zur Erfüllung der Erwartungen als hoffnungsvoller Nachwuchskomponist, der in vielen offiziellen und halboffiziellen Artikeln erwähnt wurde, empfand. Ein Brief Asriels an den Leiter der Abteilung Kultur beim ZK der SED, Egon Rentzsch, vom 22. November 1952 gibt Aufschluß über Asriels Probleme mit den 32 Asriel (G /1995). Die Erinnerungen der Beteiligten weichen hier stark voneinander ab. Kochan berichtete über seine AWA-Einnahmen in den ersten Jahren: " ( .. . ) meine AWAEinnahmen waren nicht üppig." (Koch an (G /1995)). 33 Ähnliche Erfahrungen machte auch Stefan Heym anläßlich einer Preisverleihung im Jahr 1953. Als er das Preisgeld spenden wollte, führte dies zu Irritationen: "( ... ) er (Heym, Anm. d. Verf.) hat das deutliche Gefühl, einen riesigen Fauxpas begangen zu haben. ( ... ) Brecht greift ihn am Ellenbogen und führt ihn aus dem Raum. Draußen sagt er: "Hören Sie, H., wenn diese Regierung Ihnen Geld geben will, dann hat sie's auch, und dann nehmen Sie's ( ... )". (Stefan Heym, "Nachruf', Berlin (DDR), 1990). 34 Zur ungefähren Einordnung der genannten Beträge soll hier ein bei Waldemar Krönig I Klaus Diecer Müller. "Anpassung, Widerstand, Verfolgung - Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 1945 - 1961 ", Köln 1994, S. 91 zitierter Bericht einer Studentin aus Jena (1955- 61) über ihre Lebenshaltungskosten dienen: ,,Einmal nach Hause fahren, sieben bis zehn Mark Reichsbahn, Miete im Wohnheim zehn Mark, Miete in einem möblierten Zimmer 25 Mark, tägliche Straßenbahnbenutzung in die Stadt, mindestens 40 Pfennige. Das belief sich so im Durchschnitt auf acht bis zehn Mark. Wenn man das alleine zusammenrechnet, dann bleibt von den I 30,- Mark nicht allzuviel übrig. Bücher und ein bißchen besser gebundene Hefte hatten damals auch ihren Preis."

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Forderungen, die an seine weitere Entwicklung gestellt wurden. Darin heißt es: "( ... ) Ich hatte gerade den Entschluß gefaßt, den Auftrag des Görlitzer Stadtrates, eine Kantate der deutsch-sowjetischen Freundschaft zu schreiben, nach neunmonatiger harter Bemühung unter Anleitung von Hanns Eisler zurückzugeben. Das Resultat meiner Bemühungen wurde dem schönen Gedicht von Kuba in keiner Weise gerecht, und es war mir nicht mehr möglich, weiter daran herumzudoktern. ( ... ) Ich zog einige Schlußfolgerungen. Zunächst trat ich aus der Meisterklasse Hanns Eislers aus. Ich bin weit entfernt davon, irgendwelche Beschuldigungen gegen Eisler zu erheben. Ich war zu diesem Schritt gekommen, da ich feststellte, daß Qualität und Quantität meiner Produktion seit meiner Teilnahme an der Meisterklasse katastrophal zurückgegangen waren. Ebenso verhielt es sich mit meinem Selbstvertrauen. Wann immer ich mich zu einer neuen Arbeit hinsetzte, waren die ersten unverscheuchbaren Gedanken: /Was wird Eisler sagen? /Es wird ja doch wieder nichts Gescheites. ( ... )" 35 2. Auftragsvergabe

Ein weiteres zentrales Mittel zur Versorgung der Komponisten war ein umfangreiches Auftragswesen. Staatsaufträge, die in den ersten Jahren (bis 1954) ausschließlich von staatlicher Stelle durch die Stakuko und die Räte der Bezirke vergeben wurden und später mehr und mehr in die Kompetenz des Komponistenverbandes und der Interpreten übergingen, dienten zumindest Anfang der 50er Jahre zur geziehen Förderung einzelner Gattungen. Beispielhaft sei hier ein Entwurf der Stakuko vom Mai 1953 genannt, in dem es heißt: ,,Es sind vordringlich Sinfonien und Opern in Auftrag zu geben, die die Heimatliebe, den Patriotismus und bedeutende Ereignisse aus Vergangenheit und Gegenwart unseres Volkes zum Inhalt haben. Hierbei ist die Form der sinfonischen Dichtung stark zu fördern. Auf dem Gebiet der Musik für Volksinstrumente, Blasmusik und Tanzmusik besteht eine entscheidende Schwäche darin, daß unsere führenden Komponisten so gut wie überhaupt nicht in diesen Gattungen Werke schaffen und darüber hinaus das kompositorische Schaffen auf diesem Gebiet ungenügend beachten und dem Selbstlauf überlassen. ( .. . ) Auch hier muß die Auftragserteilung als ein wichtiges Mittel zur Schaffung von wegweisenden Beispielen genutzt werden. " 36

Die im Oktober 1953 geplante Auftragsecteilung folgte diesen Vorgaben. In Auftrag gegeben wurden 23 sinfonische Dichtungen, 7 Opern, Operetten und Ballette, 16 Chorkompositionen, 22 Werke der Unterhaltungs- und Tanzmusik, aber nur 5 Kammermusikwerke. 37 Bei der Vergabe von Aufträgen gab es eine große VerteiSAPM DY 30/IV 2/9.06/284, Blatt 372 vorne und hinten. SAPMO - BArch DY 30 I IV2/906/284, Blatt 76 ff., (Bestand: ZK der SED, Abteilung Kultur). aufgrund von Vorentwürfen der Stakuko zuzuordnen, ,.Über die Entwicklung der Musikkultur in der Deutschen Demokratischen Republik", o. Dt., handschriftl. (Hartig): "Gen. Lahl, 12. 5. 53 Hartig". 37 MuG 10/53, S. 385, Hans-Georg Uszkoreit, ..Der staatliche Auftrag, ein Mittel zur Förderung des Musikschaffens". 3S 36

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lungsbreite. So erwähnt eine Aufstellung der Staatsaufträge aus dem 2. Halbjahr 1954 82 Aufträge an ebensoviele verschiedene Komponisten. 38 Solange die Entscheidung über die Auftragsvergabe bei der Stakuko lag, war die Auftragspolitik darüber hinaus mit direkten politischen und ästhetischen Zielsetzungen verbunden. Ein Beispiel ist eine Aufstellung über die im dritten Quartal 1952 zu erteilenden Kompositionsaufträge, die elf Aufträge an acht Komponisten und zwei Schriftsteller anführt. 39 Bis auf einen Auftrag an Wagner-Regeny für eine Komposition mit dem Titel "Drei sinfonische Sätze für Orchester", durch den ein ,.gutes neues Werk eines zeitgenössischen Komponisten für den Konzertsaal" angestrebt wird, und einen noch völlig unbestimmten Auftrag an Eisler sind alle Aufträge auf auffallig direkte Weise schon über Titel oder Themenstellung mit propagandistischen Vorgaben verbunden. Angestrebt wurden Aufträge an folgende führende Komponisten der DDR: E. H. Meyer, H. Eisler, 0. Gerster, R. Wagner-Regeny, M. Butting, C.-E. Ortwein und J. P. Thilman. Außerdem wurde der Vorschlag gemacht, eine "dramatische Szenenfolge" mit dem Titel "Pamphlete für den Frieden" als Grundlage für eine Komposition bei Friedrich Wolf oder Bertolt Brecht und das Libretto für ein "musikalisches Lustspiel" mit dem Thema "Neuaufbau Berlin" bei Gerhard Rentzsch in Auftrag zu geben. Das gesamtdeutsche Arbeitsprogramm wollte man durch einen Ballettauftrag an Boris Blacher erfüllen, mit dem allerdings noch keine Verhandlungen aufgenommen worden waren. Bei fünf Auftragsvergaben wird in deren Beschreibung die für die Arbeit der Stakuko besonders in den Jahren 1951/52 charakteristische unvermittelte und direkte Verbindung von politischer Nutzbarkeit und komponiertem Werk deutlich: Meyer wurde mit einer sinfonischen Orchestermusik mit dem Titel "Aufrur· beauftragt: "Dieses Werk soll, wie der Titel bereits sagt, die breiten Massen mobilisieren und zum patriotischen Kampf für Einheit und Frieden aufrufen". Gerster, der noch mit einem Auftrag für ein einsätziges Orchesterwerk mit dem Titel "Aufbruch" beschäftigt war, "dem ebenfalls ein patriotischer Gedanke zugrunde liegt", sollte die Komposition eines Librettos von Heinz Rusch, "Kantate der Republik", angetragen werden.40 Über den Auftrag an Butting herrschte noch 38 BArch DR-1, 55, MfK, HA Musik, Aufstellung über erteilte Kompositionsaufträge, o.Dt.. Bis auf handschriftliche Ergänzungen (.,März 1955") ist kein Abgabedatum nach Juni 1954 angegeben, so daß eine Datierung auf die zweite Hälfte 1954 nahe1iegt. Fast alle Aufträge sind vor 1954 vergeben worden. Ab 1954 wurde alle Staatsaufträge bis auf zwei bis drei Aufträge, die das MfK direkt erteilte, durch den VDK erteilt. 39 BArch DR-1, 55, Stakuko, Abt. Musik, Kuhl, Aufstellung über die im 111. Quartal (lt. Arbeitsplan) zu erteilenden Kompositionsaufträge, 27. 6. 1952. 40 Dieser Auftrag kam nicht zustande. Noch im Januar 1954 suchte das MfK nach einem Komponisten, der bereit wäre, das Libretto zu vertonen. Hier liegt ein Beispiel für die Problematik der zentralen Auftragsecteilung vor, der die notwendige Anbindung an die musikalische und kompositorische Praxis fehlte. Aus einem Brief an den VDK (BArch DR-1, 193, Stakuko an VDK, 21. I. 1954) geht hervor, daß das Libretto nach Gerster auch Fredrich, Asriel, Kochan, Dessau, Meyer, Forest, Thilman und Prof. Rücker (Direktor des Konserva-

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keine Klarheit, es wurde aber erwogen, ein "Kammennusikbüchlein mit Spielmusiken und Liedern aktuellen Themas" in Auftrag zu geben. Auch für die Werke Ortweins, ein Ballett "Erntetänze", und Thilmans, eine Sinfonie mit dem Untertitel "Krieg und Frieden", waren über den Titel propagandistische Funktionalisierungen vorgegeben. Für die weitere Entwicklung ist besonders die Zusammenarbeit von Komponistenverband und Kulturministerium bei der Auftragsvergabe von Bedeutung. Schon die Stakuko hatte, nachdem 1951 I 52 noch eigene Lektoren eingesetzt worden waren, die Abnahme der Werke zunehmend den Verbandsgremien überlassen. Während des Bestehens der Stakuko machte der Komponistenverband Vorschläge für die Erteilung von Aufträgen41 , bis er die staatliche Auftragsecteilung nach Gründung des MfK fast vollständig übernahm. Hier liegt eine Überschneidung der politischen und der alltäglichen Praxis vor, wie sie für die Arbeit des Komponistenverbandes charakteristisch ist, da die Auftragsecteilung zum einen der Unterstützung bestimmter Gattungen und ästhetischer Zielsetzungen diente, jedoch zum anderen auch ein vom Verband als Interessenvertreter genutztes Mittel zur Versorgung der organisierten Komponisten war.

V. Ästhetische und handwerkliche Diskussionen Die Rechtfertigung der Existenz einer nonnativen Ästhetik des sozialistischen Realismus in der Musik war abhängig von deren genauer Ausarbeitung. Hier wurde nicht nur versucht, die dienende Rolle der Musik im Zuge eines gesellschaftlichen Fortschritts zu belegen, sondern darüber hinaus kompositionstechnisch verbindliche Leitlinien zu entwickeln, die einer sozialistisch-realistischen Musik entsprechen sollten. Am Beispiel der protokollierten Diskussionen auf Verbandskongressen des VDK ist abzulesen, welche Rolle diese theoretischen Diskussionen für die jungen Komponisten hatten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Kongresse durch die Kulturabteilung beim ZK der SED und die verantwortliche staatliche Stelle (Stakuko, MfK) sehr weitgehend vorbereitet wurden und ideologische Ziele in die Praxis weitergeben sollten.42 toriums Rostock (Mai '55)) angeboten worden war, die alle wegen Arbeitsüberlastung oder anderweitiger Beschäftigung ablehnten. Am 21. I. 1954 gab das MfK das Libretto. ohne einen Komponisten gefunden zu haben, an den VDK. 41 Zur Verfahrensweise siehe: BArch DR-1 , 6191, Stakuko, Abt. Musik, Uszkoreit, Aktennotiz über die Besprechung zu Fragen der Auftragsecteilung am 16. 3. 1953, 24. 3. 1953: "Der weitere Gang der Auftragsecteilung wurde folgendermaßen festgelegt: In der Vorstandssitzung des Verbandes Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler am 26. 3. 1953 (an der auch die Leiter der Arbeitskreise teilnehmen) wird diese Aufstellung (Anteile der Gattungen an Auftragserteilung. (Anmerkung des Verfasser) zur Diskussion gestellt und werden Vorschläge der Vorstandsmitglieder fUr die nominelle Benennung der zu beauftragenden Komponisten entgegengenommen. Die Komponisten, die für die AuftragseTteilung vorgesehen sind, bzw. sich selbst bewerben, müssen bereits Skizzen, Entwürfe oder Dispositionen ihres geplanten Werkes vorlegen."

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Betrachtet man das Ergebnis, so ist eine Tendenz von engagierter Diskussion 195243 über die stärkere Hinwendung zu handwerklichen Fragestellungen 195444 bis hin zu einer Ablösung der Diskussion konkreter Verbandsprobleme45 durch die Komponisten von der ästhetischen Debatte der Musikwissenschaftler 195746 zu beobachten. Rückblickend bleibt bei den meisten Interviewpartnern ein diffuses Bild des sozialistischen Realismus in der Musik, wie er in den 50er Jahren durch offizielle Planvorgaben, Satzungen des VDK und Artikel gefordert wurde. Dies ist auf die Unmöglichkeit einer überzeugenden Präzisierung im Hinblick auf kompositionstechnische Fragen besonders im Bereich der Instrumentalmusik zurückzuführen. Wichtig für die Entwicklung und Arbeit einzelner Komponisten wurden die Werkdiskussionen im Komponistenverband innerhalb der Fachkommissionen, aber auch auf Verbandskongressen sowie kritische Ausführungen in Publikationsorganen wie .,Musik und Gesellschaft" und Diskussionen im Kollegenkreis z. B. an den Musikhochschulen. Hier kam es immer wieder zu polemischen Auseinandersetzungen, die zu Zerwürfnissen führten, bestehende Fraktionsbildungen verstärkten und Verunsicherung von Komponisten im Hinblick auf ihre weitere Arbeit nach sich zogen.47 VI. Kompositorische Praxis An einem Komponisten der Generation, die Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist, soll hier gezeigt werden, an welchen konkreten Punkten es für einzelne Komponisten zu Berührungen mit dem angedeuteten System von Einbindungen, Verpflichtungen, Mitarbeit und Lenkungsabsicht kommen konnte und wie sich in diesem Rahmen ihr kompositorisches Arbeiten entwickelte. Dabei ist besonders 42

zeigt.

Dies wird im Abschnitt "Kompositorische Praxis" für den I. Jahreskongreß 1952 ge-

Protokoll des I. Jahreskongreß des VDK (1952), a. a. 0. Musikfest und 11. Kongreß (1954): Hrsg.: Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler, ,.Musikfest und II. Kongreß des Verbandes deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler-Leipzig- 23. bis 31 Oktober 1954- Bericht", ohne Ort 1954, Drucksache, archiviert im DMA/VDK. Das als Drucksache vorliegende Protokoll des zweiten Kongresses des VDK ist nicht vollständig. Eine Umschrift des stenographischen Protokolls findet sich in SAPMO- BArch DY 30/IV2/906/283. 4~ Z. B. wurden die Förderung junger Komponisten und Auswahlprobleme für Verbandskonzerte kontrovers diskutiert. 46 Protokollmitschrift der ,,Zentralen Delegiertenkonferenz" des VDK in Berlin am 23. und 24. Februar 1957, DMA/VDK. 47 Ein kleiner Ausschnitt solcher kritischen Werkdiskussionen, wie sie auf dem I. Jahreskongreß des VDK, 1952, geführt wurden, wird unten im Abschnitt ,.Kompositorische Praxis" analysiert. Das bekannteste und am umfassendsten dokumentierte Beispiel ist die Debatte um Dessau I Brechts ..Das Verhör des Lukullus" im Jahr 1951 (Joachim Lucchesi (Hrsg.), "Das Verhör in der Oper- Die Debatte um die Aufführung ,Das Verhör des Lukullus' von Bertolt Brecht und Paul Dessau", Berlin 1993). 43

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die Verquickung biographischer Faktoren und langfristiger Zielsetzungen sowie politischer Grundauffassungen mit unterschiedlich herzuleitenden situativen Entscheidungsmomenten zu erwähnen. Am Beispiel Günter Kochans wird dabei besonders die Verbindung von biographischer Einbindung, ideologischer Überzeugung und Kompositionsentwicklung als eine Möglichkeit des Übergangs von Politik und Werk deutlich. Kochan hatte als musikalisch begabter Schüler das von der NSDAP eingerichtete Musikgymnasium in Leipzig besucht. Er konnte ohne größere Verzögerung durch den Krieg nach dem Kriegsende seine Ausbildung 1946 mit einem Studium an der Musikhochschule in Berlin-Charlottenburg fortsetzen. Bis 1950 lebte und studierte Kochan im Westteil Berlins, arbeitete aber u. a. für den sowjetisch kontrollierten Berliner Rundfunk bei der Abteilung Volksmusik u. a. in der Gruppe "Unser Lied- unser Leben" und für die FDJ. Beim Berliner Rundfunk und während seines Studiums bei Hermann Wunsch lernte Kochan Andre Asriel kennen, der, 1922 in Österreich geboren, schon ein Exil in Großbritannien hinter sich hatte, wohin er 1938 vor der Judenverfolgung der Nationalsozialisten geflüchtet war. Die Bekanntschaft zu Asriel hatte Folgen für Kochans weitere Lebensausrichtung und seinen späteren Umzug in die DDR. Asriel hatte von seiner Mutter "erste Anflüge linken Denkens"48 mitbekommen und war in Großbritannien im Kulturbund und bei der FDJ engagiert gewesen. Dort hatte er auch schon E. H. Meyer und Wolfgang Lesser kennengelernt Aufgrund der Begegnung mit Asriel und anderer Bekanntschaften dieser Zeit begann Kochan, der noch keine zwanzig Jahre alt war, sich "Gedanken zu machen" 49 • Besonders wichtig seien für ihn Persönlichkeiten und Freunde gewesen: ,,Menschen, die mich beeindruckten durch ihre auch politische Haltung waren die genannten und die Musikwissenschaftler Georg Knepler, später N. Notowicz, H. Goldschmidt, E. Rebling und Wolfgang Lesser. ( ... ) Wenn diese Leute nicht gewesen wären, wäre vielleicht alles ganz anders verlaufen." Den letzten Ausschlag für den Umzug in die DDR im Jahr 1950 gab für Kochan die Eröffnung einer Meisterklasse an der DAK durch Hanns Eisler. Dort hoffte er, auf Rat von Asriel, seine Ausbildung verbessern zu können. Neben der Arbeit für den Berliner Rundfunk trug auch die Komposition von Liedern für die FDJ, die sich aus persönlichen Bekanntschaften ergeben hatte, zur Einbindung in das Musikleben im Ostteil Berlins bei. Bei Kochan war die Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis und die Überzeugung von einer politischen Haltung durch Vorbilder sowie die alltagspraktisch aus Arbeitsmöglichkeiten hervorgehende Einordnung in ein berufliches Umfeld für die Ausrichtung des eigenen Lebens bestimmend. Dazu kommen mit der Unterrichtsmöglichkeit bei Eisler fachliche Asriel (G /1995). Für den ganzen folgenden Abschnitt sind Äußerungen Kochans in direkter und indirekter Rede Kochan (G /1995) entnommen. 48

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Zielsetzungen. Kochan war nach seinem Umzug in die DDR schon während seiner Meisterschülerzeit in der Meisterklasse der Sektion Musik der DAK bei Eisler (1950-53) ab 1950 Lehrbeauftragter und später Dozent an der Deutschen Hochschule für Musik, Berlin (DHtM). An die DHtM wurde er von Georg Knepler (Rektor der DHfM) engagiert, der ein Werk Kochans auf einem Nachwuchskonzert gehört hatte. Trotzdem war Kochans finanzielle Situation in den 50er Jahren nicht gut, was auch darauf zurückzuführen ist, daß er bereits eine Familie zu versorgen hatte:"Reich konnte man so (mit dem Schreiben von Massenliedern, Anm. d. Verf.) nicht werden. Ich hatte Familie und mußte Geld verdienen. In der Hochschule verdiente ein Dozent damals ca. 800,- Mark, meine AWA-Einnahmen waren nicht üppig. Also schrieb ich auch Film- und Hörspielmusiken." Kochan teilte zusammenfassend über diese Zeit mit, er erinnere sich an diese Jahre und deren geregeltes Leben als besonders schöne Zeit seines Lebens und betonte, von Eisler und Knepler viel gelernt zu haben. Damit versuchte er auch, seine Arbeit ftir den Sozialismus zu begründen. Seien doch beide Vorbilder, die er hoch schätzt und als "hochgebildet" beschreibt, Kommunisten gewesen. Die politische Überzeugung führte bei Kochan, der seine persönlichen Vorlieben nicht nur im Bereich des Massenliedes hatte, jedoch auch zu Problemen in der kompositorischen Entwicklung, wenn er in den ersten Jahren nach 1950 Schwierigkeiten hatte, trotz seines Einsatzes für das politische Lied seine Ausbildung weiterzuverfolgen: "Folgendes habe ich, zurückblickend, falsch gemacht: Ich habe dem Genre Lied in den 50er Jahren zu große Aufmerksamkeit geschenkt und die für meine Entwicklung so wichtige Kammermusik und Sinfonik ziemlich vernachlässigt. Die vielen Lieder habe ich allerdings auch mehr aus Spaß an der Freude gemacht, aber auch, weil ich glaubte, damit im Sinne des Sozialismus nützlich zu sein. ( ... ) Ich habe mich als Komponist damals ziemlich verzettelt."so

Ein zentraler Punkt dieser für den jungen Komponisten zweischneidigen Verflechtung mit der politisch unterstützten Entwicklungsrichtung des zeitgenössischen Komponierens war die Umwandlung seines bei Eisler als Schülerarbeit entstandenen Violinkonzertes op. I in das einzige Standardbeispiel für einen gelungenen sozialistischen Realismus in der Instrumentalmusik in internen und öffentlichen Verlautbarungen. Ausgangspunkt war die Uraufführung auf dem 1. Jahreskongreß des VDK im Oktober 1952. Sie fiel auf einen Zeitpunkt, als zwar schon Beispiele für eine Vokalmusik, die den seit der Formalismusentschließung 1951 51 forciert geforderso Kochan (G/1995).

"Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur für eine fortschrittliche deutsche Kultur", Entschließung des ZK der SED auf der Tagung am 15, 16. und 17. März 1951, zit. nach: Sonderdruck zu MuG 3/1951, S. 3-11. 51

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ten musikalischen Zielsetzungen entsprachen, gefunden waren52, ein Beispiel für eine gelungene Instrumentalmusik aber noch fehlte. Darüber hinaus wurde ein Schwerpunkt auf die Entwicklung von Nachwuchskadern gelegt53, die im Bereich der Kunst nicht durch Erfahrungen der Avantgardebewegungen der 20er Jahre beeinflußt waren. Wie stark beim Entstehen der neuen Situation die Bedürfnisse der besonderen kulturpolitischen Problemlage, spontanes Urteil, Interessenkonflikte zwischen Gruppierungen von Komponisten und die Wertungen einzelner Kapazitäten zusammenwirkten, soll an einer Darstellung des Umfeldes der erfolgreichen Uraufführung gezeigt werden: Im Zuge der Lenkung des VDK durch Partei- und Staatsführung standen der l. Jahreskongreß und das Musikfest des VDK in Berlin (27. 9. -7. 10. 1952), auf dem auch Holtzhauer, der Vorsitzende der Stakuko, seine oben angeführte Stellungnahme abgab54, unter besonderer Beobachtung. Für die Vorbereitung des Komponistenkongresses war das Referat I der Abteilung Musik der Stakuko zuständig: "a) Einflußnahme auf die Tagesordnung im Sinne der ideologischen Diskussion; Musik und nationale Frage, Musik im Zeitgeschehen, Die Stellung des Musikkritikers zur zeitgenössischen Musik, Programmusik, Musikerziehung etc." Handschriftlich ist der Weg dieser Einflußnahme über den Vorstand des VDK angemerkt: "erfolgt laufend, Themen festgelegt - im Vorstand zu beschließen"55 Auch die Programmgestaltung des zugehörigen Musikfestes mit zeitgenössischer Musik unterlag dem Einfluß der Abteilung Musik der Stakuko. Verantwortlich war hier deren Referat lll: "Pos. 10 ( ... ) b) Einflußnahme im Sinne bester Auswahl der Werke für die ,Festtage deutscher zeitgenössischer Musik' in Berlin vom 27. 9. -7. 10. auf den Komponistenverband. 1. Laufende Kontrollen und Rücksprachen mit dem Sekretär des Komponistenverbandes Möller. Termin: laufend, Verantwortlich: Rolf Kuhl."56 Beiden Bereichen der Einflußnahme ging dabei eine Planung durch die Kulturabteilung beim ZK der SED voran. Schon am 26. 4. 1952 fand dort eine Sitzung zur Vorbereitung des Jahreskongresses und des Musikfestes statt, an der verantwortliche Musikfunktionäre aus unterschiedlichen Bereichen teilnahmen, die alle der SED angehörten: Pischner (Berliner Rundfunk), Gerster (Vorsitzender, VDK), Notowicz (1. Sekretär, VDK), Uszkoreit (Stakuko), Möller, Lebmann (beide 52 Häufig genannt wurden E. H. Meyers eigene Illustration seiner theoretischen Ausführungen (s.o.), das ,,Mansfelder Oratorium" (T.: Stephan Hermlin) und Eisler I Bechers "Neue Deutsche Volkslieder". 53 Allgemein zu den größeren Aufstiegschancen der ersten DDR-Generationen: Heike Solga, "Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? - Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR", Berlin 1995. S4 Holtzhauer war neben Paul Wandel (Minister für Volksbildung) als zweiter staatlicher Vertreter während des Kongresses Mitglied des Kongreßpräsidiums. (Protokoll des I. Jahreskongreß des VDK (1952), S. 1). 55 BArch DR-1 , 20, Stakuko, Abteilung Musik, Referat I, Arbeitsplan III /52. 56 BArch DR-1, 20, Stakuko, Abteilung Musik, Referat 111, Arbeitsplan III /52.

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Sekretariat, VDK), Volkmann (KF), Just und Knapp (beide Abt. Kultur beim ZK der SED).57 Der Schwerpunkt der Sitzung lag auf der Planung des Musikfestes, eingeschlossen eine Vorplanung des Programms und der Finanzierungsmöglichkeiten. In beide Bereiche war die Parteiführung involviert. Ca. der geplanten Kosten von 235.000,- DM, also 170.000,- DM, war der KF bereit zu übernehmen. Voraussetzung dafür war, "daß der ZK-Beschluß schnellstens herbeigeführt wird und der Beschluß dazu die Möglichkeit gibt". Auch über die Programmplanung wollte die Abteilung Kultur beim ZK der SED informiert werden, so daß Möller beauftragt wurde, beim ZK eine Liste der gewesenen und noch kommenden Auswahlkonzerte flir das Musikfest einzureichen. Als Ergebnis dieser vorbereitenden Sitzung wurden VDK und Stakuko zur weiteren Vorbereitungstätigkeit aufgefordert: "Der VDK stellt seine gesamte Arbeit auf die Vorbereitung dieser Festwoche ein und arbeitet einen detaillierten Plan aus auf der Grundlage von DM 230.000,- plus 3.000,- Westmark. Der Gen. Uszkoreit wurde beauftragt, über die ganze Angelegenheit sofort mit Gen. Holtzhauer zu sprechen, damit sich die Staatliche Kommission ebenfalls sofort einschaltet." Entsprechend der Bedeutung, die der Veranstaltung von der Abt. Musik der Stakuko zugesprochen wurde, faßte der Leiter der Abteilung Musik, Hartig, auch deren Ergebnisse in einer "Einschätzung des Kongresses der Deutschen Komponisten und Musikwissenschaftler und der Festtage zeitgenössischer Musik" zusammen. 58 Sowohl die Festtage zeitgenössischer Musik als auch der Kongreß selbst waren nach dieser Einschätzung mit einer klaren politischen Aufgabe versehen, die Hartig jeweils anführt, um sie auf ihre Erfüllung zu überprüfen. Die Festtage galten einer Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Musik in der DDR aus dem Blickwinkel des sozialistischen Realismus, um u. a. "Zurückbleiben", ,,Mängel" und "Schwächen" festzustellen. 59 Die Aufgaben des Kongresses waren operativer Art und hatten eine über die Vermittlung ideologischer Grundlagen hinausgehende Aktivierung der Komponisten zum Inhalt: "Der Kongreß hatte die Aufgabe: a) das Musikschaffen der 57 SAPMO - BArch DY 30/IV2/906/284, Blatt 51 - 53, ZK der SED, Abt. Kultur, Aktennotiz, Jahreskongreß des VDK im Oktober 1952, verbunden mit einem Musikfest, Sitzung vom 26. 4. 1952. 58 BArch DR-1, 7, Stakuko, Abteilung Musik, Hartig, Einschätzung des Kongresses der Deutschen Komponisten und Musikwissenschaftler und der Festtage zeitgenössischer Musik, II. 9. 1952. Auffällig ist die Datierung des Dokumentes, die vor dem Kongreß liegt. Dabei handelt es sich wohl um einen Schreibfehler, da in der Einschätzung auf die Diskussionsbeiträge und auf den Verlauf der Diskussion eingegangen und eine interne Wertung vorgenommen wird, deren Abgabe im vorhinein selbst bei weitgehender Planung des Kongreßverlaufes sinnlos wäre. 59 Ebd.: "Der Sinn der Festtage sollte sein, aufzuzeigen, welchen Stand das gegenwärtige Musikschaffen in der Deutschen Demokratischen Republik aufweist, wenn man es unter dem Gesichtspunkt des sozialistischen Realismus betrachtet. Es gilt festzustellen, inwieweit ein Zurückbleiben unserer musikalischen Produktion im ganzen oder in Teilen vorhanden ist und welche Schwächen und Mängel die einzelnen aufgeführten Werke aufweisen."

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Komponisten der Deutschen Demokratischen Republik kritisch vom Standpunkt des sozialistischen Realismus zu betrachten und daraus Lehren für das weitere Musikschaffen zu ziehen. b) Die Diskussion über Formalismus und Realismus zu entfesseln und dabei die Maßstäbe aufzuzeigen, nach denen unser künftiges Musikschaffen entwickelt werden soll. c) Im Verband eine richtige Kritik und Selbstkritik anzubahnen und zu verwirklichen." 60 Hartigs Urteil über die auf den Festtagen gebotene Übersicht über das kompositorische Schaffen in der DDR fällt negativ aus. Dabei wird auch das Problem einer Anleitung der Komponisten deutlich. Hartig stellt mit unausgesprochenem Bezug auf das 5. Plenum des ZK der SED und die 2. Parteikonferenz ein Zurückbleiben der musikalischen Produktion hinter "den Forderungen, die an ein Musikschaffen im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus gestellt werden müssen" fest. Doch seine genauere Fassung der Kritik bleibt, was die Verwertbarkeit für Komponisten innerhalb einer musikästhetischen Debatte angeht, ungreifbar, wenn Hartig feststellt, daß "entweder überhaupt nicht in den Werken die gesellschaftliche Wirklichkeit widergespiegelt ist oder, wie in den Kantaten, zwar die Wirklichkeit versucht wurde zu gestalten, jedoch ohne jene dem Leben verbundene Kraft und Übereinstimmung, die gefordert werden müssen". Bei der Wertung der Entwicklungen in den verschiedenen Gattungen werden besonders Sinfonik, Volksmusik, Tanzmusik und Kammermusik negativ eingeschätzt. Im Bereich sinfonischer Musik greift Hartig mit Butting und WagnerRegeny zwei etablierte Komponisten an, wobei an Buttings Werk61 neben "Unverbindlichkeit im Inhalt" der "spielmusikartige Charakter", fast die einzige auf Kornpositionstechniken zu beziehende Einordnung innerhalb der Stellungnahme, kritisiert wird. Umfassender ist die Kritik an Wagner-Regeny, die einer in weiten Teilen Hartigs Einschätzung zu Grunde liegenden Stellungnahme des Musikwissenschaftlers und Rektors der DHfM Georg Knepler auf dem Kongreß folgt, wenn bei vorhandenem "Wille(n) zur fortschrittlichen Gestaltung" .,im 2. Satz formalistische Tendenzen" festgestellt werden.62 In der Tanzmusik wird in einer in den Folgejahren fast gleichbleibend wiederkehrenden Diagnose die ,,Abkehr von der amerikanischen Tanzmusik" gefordert und festgestellt, daß "eine gründliche Behandlung durch alle maßgebenden Stellen nötig" sei, "die sich auf die Neuorientierung unserer Komponisten ( ... ) zu erstrecken" habe. Die konkretesten Auswirkungen hat w Ebd. 61 Aufgeführt wurde bei dem Musikfest 1952 des VDK Buttings 8. Sinfonie (28. 9. 1952, Staatsoper, Staatskapelle, Ltg.: Glückselig). Das Werk wurde auf dem Kongreß kontrovers und teilweise polemisch diskutiert. 62 Die Kritik an Buttings 8. Sinfonie und Wagner-Regenys .,Sinfonischen Sätzen" findet sich noch in Reblings programmatischem Artikel "Für den sozialistischen Realismus in unserem Schaffen" in ,,Einheit" Nr. 5, 1953, S. 741 wieder, der, entstanden unter starker Einflußnahme der Abteilung Kultur beim ZK der SED, den Stand der Diskussion in der DDR zum sozialistischen Realismus in der Musik unter erstmaliger Einbeziehung der Instrumentalmusik und Nennung aktueller Beispiele u. a. vom Musikfest 1952 zusammenfaßt.

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die Unzufriedenheit mit der Entwicklung der Volksmusik. Hier wurden von Hartig "personelle Änderungen" an der Weimarer Hochschule erwogen. Eine der im Zentrum des Musikfestes und Kongresses stehenden Gattungen war die Kantate, bei der Hartig einen Fortschritt feststellt, jedoch den allgemeinen Mangel einer zu geringen Anknüpfung an das nationale Kulturerbe und eine nicht vollständige Beherrschung der Mittel kritisiert. In der unterschiedslosen Kritik der Werke von Meyer, Gerster, Eisler, "Friedrich" (sic!)63 und Dessau folgt Hartig dabei einer Tendenz der Kongreßdiskussion, wo Eislers und Dessaus wie auch Meyers Werk kritisiert worden waren. Hintergrund der negativen Einschätzung der auf dem Kongreß vorgestellten Werke der führenden Berliner Komponisten, die den kritischen Beiträgen der Diskussion auf dem Kongreß folgt, ist eine auf dem ersten Jahreskongreß zentrale Kritik an den "Olympiern" unter den Komponisten. Diese führend von dem Dresdener Komponisten Thilman vorgetragene Polemik folgte den Äußerungen Shdanows von 1948, der die wichtigsten sowjetischen Komponisten wie Schostakowitsch und Schebalin als unkritisierbare Olympier angegriffen hatte. Verbunden waren dabei Beschwerden über Bevorteilung dieser Komponisten u. a. durch verbündete Kritiker und ihre Position im Musikleben und in Musikerorganisationen mit der Diagnose einer durch westliche Vorbilder beeinflußten, formalistischen Kompositionsweise. Auf ähnliche Weise wurde nun, auf dem ersten Jahreskongreß des VDK, eine Gruppe führender Berliner Komponisten, alle Mitglieder der Sektion Musik der DAK, vier Jahre nach den Äußerungen Shdanows, angegriffen, was zu lebhaften Auseinandersetzungen führte. Diese Angriffe wurden von Komponisten aus der Provinz als Versuche, sich gegen eine "Berliner Clique" durchzusetzen, verstanden, geschahen aber mit Billigung der Stakuko, deren Leiter solche Kritik von unten nach oben in seiner Einschätzung sehr begrüßte. Dies entsprach der Arbeitsrichtung der Abteilung Musik der Stakuko, die sich durch ihre nivellierende Arbeitsweise in ständigen Auseinandersetzungen mit Komponisten wie Eisler, Wagner-Regeny und Dessau befand. Positiv bewertet wird in Hartigs Einschätzung neben E. Schmidts Operette "Bolero" die Entwicklung des Massenliedes, wobei sich Hartig auf die Aussagen des Komponisten und zweifachen Stalinpreisträgers Nowikow, der als Vertreter des Sowjetischen Komponistenverbandes am Kongreß teilgenommen hatte, beruft. Im Rahmen der positiven Wertungen des Musikfestes und Kongresses ist die Einführung des Violinkonzertes von Günter Kochan in seiner Eigenschaft als Standardbeispiel der DDR-Diskussion um den sozialistischen Realismus in der Musik 63 Gemeint ist wahrscheinlich Günter Fredrich, von dem mehrere Werke, u. a. der ..Gesang für Frieden" (Chor u. Orch. des Mitteldeutschen Rundfunks, Ltg. Herben Kegel), im Rahmen der .,Festtage deutscher zeitgenössischer Musik" im Zusammenhang mit dem ersten Jahreskongreß des YDK aufgeführt wurden. Programm des Jahreskongresses und der ,Festtage zeitgenössischer Musik' 1952, archiviert bei im DMA,VDK.

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anzusiedeln. In Hartigs Stellungnahme zum Musikfest ist das Konzert als "bedeutend" vor allen anderen positiv bewerteten Werken herausgestellt. Die uneingeschränkte Vorbildfunktion wurzelt, neben dem großen Erfolg des Werkes bei der Uraufführung, in zwei Stellungnahmen der Hartigs Ausführungen leitenden Theoretiker Knepler und Nowikow64 . Knepler hatte in seinem Diskussionsbeitrag zum Kongreß aufgezeigt, daß die Hoffnungen für eine Entwicklung einer sozialistisch realistischen Musik auf den jungen Komponisten liegen mußten, da diese, anders als die etablierten und kritisierten Komponisten wie Butting, Wagner-Regeny und Dessau65 , den Formalismus nicht erlebt hätten. Als besonders hoffnungsvolles Beispiel erwähnte Knepler Kochans Violinkonzert, das ein großer Erfolg gewesen sei, auch wenn es stilistisch an Brahms anknüpfe und Kochan noch einen eigenen Stil entwickeln müsse. Die in Kochan gesetzte Hoffnung gründete Knepler auf dessen starke innere Beziehung zu wichtigen Inhalten und auf dessen Jugend ohne die Erfahrung des Formalismus: "( . . . ) unter der Führung von Hanns Eisler reagiert er gesund auf die problematische Situation unserer Tage und bildet sich an den großen Meistem der Vergangenheit. Ich glaube, hier ist ein Weg, den man aufmerksam verfolgen soll, sowie eine Methode, die wir aufmerksam studieren sollten."66 Das zweite Vorbild für Hartigs Darstellung ist Nowikow, der sich in einem Gespräch für die "Tägliche Rundschau" vom 9. Oktober 1952 zu seiner Einschätzung der gehörten Werke geäußert hatte und dabei Kochans Violinkonzert in den Mittelpunkt gerückt hatte: ,,Auf unsere Frage, welche Werke der jungen deutschen Komponisten ihn in dieser Hinsicht (dem Volke zu dienen, ideenreiche parteiliche und realistische Werke zu verfassen, die den breiten Bevölkerungsschichten zugänglich sind und sich einprägen. Anm. d. Verf.) besonders gefallen haben, antwortete er, daß er besonders vom Violinkonzert mit Orche64 A. a. 0., Einschätzung des Kongresses der Deutschen Komponisten und Musikwissenschaftler und der Festtage zeitgenössischer Musik, S. 3: Bei der Beurteilung der Aufgabe ,,Entfaltung der Kritik und Selbstkritik" lobt Hartig besonders die Diskussionsbeiträge Kneplers und Nowikows: "Es wurde auch deutlich - und das besonders an der vollendeten Form der Kritik Nowikows und Kneplers, wie die Kritik eine helfende, kameradschaftliche und freundschaftliche sein muß." 65 Protokoll des I. Jahreskongreß des VDK (1952), Knepler, S. 129 f.: "Die große Schwierigkeit besteht doch bei Wagner-Regeny sowie bei manchen anderen Kollegen, z. B. auch bei unserem Freund Max Butting, darin, daß ihre Entwicklung in eine Zeit fällt, in der es um ganz andere Dinge ging, als es heute geht. Es schien damals so, ich glaube, daß es auch damals falsch war, aber es schien so, als ob man an die große humanistische, pathetische Musik des 19. Jahrhunderts gar nicht mehr anknüpfen könne und dürfe. ( ... )Man mußte ganz neu beginnen. Man mußte sachlich, entsinnlicht, sparsam, unpathetisch, unemotioneil sein ( . .. ). Aber der Stil Wagner-Regenys, Buttings, Dessaus und vieler anderer hat sich eben in dieser Zeit gebildet. Ich bin fest davon überzeugt, daß man ohne bewußte kritische Auseinandersetzung mit dieser seiner Vergangenheit nicht zu einem neuen sozialistischen Realismus gelangen kann. Was damals als .Logik der Entwicklung", als herbe, entsinn licht, modern, neuartig, originell und dergleichen mehr galt, wirkt heute oft gewollt, dürr, blutlos, konstruiert, schlecht klingend und - verzeihen Sie das harte Wort - unmodern, veraltet." 66 Protokoll des I. Jahreskongreß des VDK (1952), a. a. 0 ., S. 134.

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ster von Günter Kochan beeindruckt war. ,Das ist eine Musik!' rief er uns mit einem Ausdruck, der sein inniges Mitgefühl für den Erfolg des jungen deutschen Komponisten deutlich machte, zu. ,So muß man realistische Musik schreiben.' Alle drei Teile dieses Konzertes des jungen Musikers sind klangvoll, farbig, gut ausgearbeitet und proportionell aufgebaut. Die Musik zeichnet sich durch einen lebensbejahenden Optimismus und aktuellen Charakter aus. Günter Kochan hat den Anschluß an die klassischen Formen der deutschen Musik gefunden. Diesem Werk sind keine Spuren des Modernismus, kein nihilistisches Verhalten zur klassischen Musik eigen, Merkmale, die man noch bei verschiedenen gegenwärtigen Komponisten der DDR und zum Teil auch bei solch erfahrenen Meistern wie Hanns Eisler findet. "67

In beiden Stellungnahmen wird die Zielsetzung deutlich, die unabhängigen, führenden Komponisten etwas zurückzudrängen und statt dessen die Hoffnung auf den Nachwuchs zu legen. Gleichzeitig ist aber mit Kochan ein junger Komponist der Hoffnungsträger, der der durch Meyer vertretenen, offiziellen Entwicklung eines sozialistischen Realismus in der Musik und als Meisterschüler Eislers der Berliner Zentrale wesentlich näher stand als die auf dem Kongreß kritisch wortführenden Komponisten, die eher in der Nachfolge der gemäßigten Modeme und der Spielmusikbewegung der 20er Jahre, besonders Hindemiths, standen. Für Kochan hatte der unerwartete Ruhm nicht nur positive Folgen: "Prof. Kochan beschreibt den Erfolg als einzigartig in seiner Karriere. Die Zuhörer hätten applaudiert und gerufen, so daß der letzte Satz wiederholt werden mußte. Solchen Erfolg wertet Prof. Kochan als äußerst zwiespältig für einen jungen Komponisten, da ein Erwartungsdruck entstanden sei, der dazu führte, daß er ,eigentlich bis zum Klavierkonzert' 68 kein Orchesterwerk mehr aus der Schublade ließ."69 Für den Anfang der 50er Jahre ist fast von einer Vereinnahmung Kochans zu sprechen. Mindestens zweimal dienen seine Werke dazu, eine argumentatorische Lücke zu füllen. So wurde nicht nur das Violinkonzert im Kontext der Formalismus-Realismus-Debatte u. a. auch 1953 von Rebling als das benötigte Musterbeispiel für sozialistischen Realismus in der Instrumentalmusik genutzt, sondern 1954 mußten auch Kochans ,,Präludien, Intermezzi und Fugen" für Klavier in einer wei67 BArch DR-1, 7, Tägliche Rundschau 9. 10. 1952, "Unsere Aufgabe: Für die Werktätigen komponieren", Gespräch mit A. Nowikow. In Rebling (1953), a. a. 0., S. 471 wird ebenfalls das Violinkonzert von Kochan als dem sozialistischen Realismus sehr nahekommendes Werk in der Instrumentalmusik hervorgehoben. Rebling bezieht sich auf einen weiteren sowjetischen Gewährsmann: "Stalinpreisträger A. Schtogarenko bezeichnete dieses Werk ( . . . ) als einen wichtigen prinzipiellen Meilenstein in der Entwicklung der zeitgenössischen Musik der Deutschen Demokratischen Republik und folgt ansonsten dem Diskussionsbeitrag Kneplers, der das Violinkonzert u. a. durch Anknüpfung an Brahms charakterisiert hatte, was Rebling übernimmt. Dazu Kochan (G /1995): "Die Sache mit Brahms amüsiert mich immer wieder. Ich kannte damals keine Note von Brahms." 68 Gemeint ist das Klavierkonzert op. 16 von 1958. 69 Kochan (G /1995). Das Gespräch mit Kochan liegt auf Wunsch Günter Kochans als autorisiertes Gesprächsprotokoll vor, das nur in geringem Maße wörtliche Zitate enthält und ansonsten in indirekter Rede gehalten ist.

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teren zentralen Konfrontation dazu herhalten, der durch Rebling70 abgelehnten gefühlsasketischen, neobarocken, polyphonen Klaviermusik als positives Beispiel für Polyphonie in der Klaviermusik entgegengesetzt zu werden. Knepler behauptete auf dem Kongreß 1954, Kochanhabe das Werk geschrieben, um "zu beweisen", daß es nicht so ist, daß man "Polyphonie überhaupt nur im Zusammenhang mit Askese und Gefühlsenthaltung gebrauchen kann"71 • Damit versuchte Knepler eine von Rebling herausgestellte Abgrenzung von der polyphon gearbeiteten Musik einiger Leipziger Komponisten gegen die Einwände von Komponisten, besonders des jungen Siegfried Köhler, aufrechtzuerhalten. Nach einer längeren Phase der Orientierungslosigkeit fand Kochan erst in den Jahren 1956/57 zu einer entscheidenden Weiterentwicklung in Richtung eines für die Folgezeit charakteristischen Kompositionsstils, der an Schostakowitsch anknüpfende Elemente mit sehr strikter motivischer Durcharbeitung bei durchsichtiger Satztechnik, die schon im Violinkonzert angelegt ist, und zwölftönigen Bildungen verbindet. Schon vorher hatte Kochan die als Beispiel für sozialistischen Realismus in der Musik gelobte Linie des Violinkonzertes als "Sackgasse" erkannt. Zu einer stilistischen Neuorientierung kam er aber erst in einer persönlichen Krisensituation72 , die aus einer Erschütterung seines politischen Glaubens resultierte. Aufgrund seiner Identifikation mit den politischen Zielen der Partei wurden die Entstalinisierung und der Ungarnaufstand 1956 für Kochan sehr wichtig: ,,Da fing an, etwas kaputtzugehen." Die Verunsicherung war tiefgreifend: "Und jetzt sage ich ihnen etwas, was ich noch nie in der Öffentlichkeit gesagt habe: Ich hatte für einige Tage den Gedanken, die DDR zu verlassen." Erst viel Arbeit und Gespräche, besonders mit Notowicz und Knepler, hätten zur Überwindung der Krise beigetragen. Seine starke Verbindung mit der politischen Entwicklung der DDR betonte Kochan im Gespräch ausdrücklich: ,,Mit dem Untergang der DDR im Jahre 1990 ging für mich ein wichtiger Abschnitt in meinem künstlerischen Leben zu Ende. Meine Entwicklung als Komponist ( ... ) war eng mit der Entwicklung der DDR verbunden." Im Folgenden sollen die biographischen und situativen Grundlagen der kurzund längerfristigen Zielsetzungen und Haltungen dargestellt werden. 73 Zentral ist 70 Eberhard Rebling, "Die Überwindung der Gefühlsaskese in der Musik - kritische Betrachtungen zu neuer deutscher Klavierrnusik", MuG 9/54, S. 316-319. 71 Musikfest und Il. Kongreß (1954), a. a. 0 . 72 Zur Kategorie Krise und ihrer widersprüchlichen Einschätzung in Bezug auf die künstlerische Produktion siehe: Hermann Danuser: "Die Kategorie Krise in ihrer Bedeutung für Leben und Kunst", in: Giselher Schubert (Hrsg.): "Biographische Konstellation und künstlerisches Handeln", Mainz 1997, S. 303-318. Dabei unterscheidet Danuser Lebenskrisen von künstlerischen Krisen, weist aber darauf hin, daß beide Krisensituationen durchaus positive Auswirkungen für das künstlerische Schaffen haben können. 73 Die theoretische Grundlage des verwendeten Prallisbegriffes bilden die Vorschläge H. Joas', der die situativen, biographischen und vorrationalen Aspekte des Handeins betont. Hans Joas, "Die Kreativität des Handelns", Frankfurt a. M. 1992.

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die Äußerung Kochans: "Wenn diese Leute nicht gewesen wären, wäre vielleicht alles ganz anders verlaufen." Kochan bildete seine politische Einstellung Ende der 40er Jahre während seiner Studentenzeit in Berlin aus. Politische Überzeugung und Arbeitsmöglichkeiten brachten ihn dann dazu, sich in Ostberlin zu etablieren. Ein großes Vorbild wurde Eisler, den Kochan sowohl als Komponist als auch als Theoretiker bis heute sehr schätzt. Obwohl er sich an der ästhetischen Debatte kaum beteiligte, war Kochan doch von der allgemeinen Zielsetzung überzeugt und wollte "im Sinne des Sozialismus nützlich" sein. Bei Kochan wird das Geflecht von Freundschaften, Arbeitsbeziehungen und politischer Überzeugung besonders deutlich, das zu seiner Ausrichtung im Bereich der neuen Musik beitrug, die seine Wahrnehmung der Organisationsstruktur des Musiklebens mit bedingte. Er kann die einzelnen Menschen noch benennen ("ein junger Schriftsteller, ein Chordirigent und ein Kulturfunktionär der FDJ"), durch die er um Liedvertonungen gebeten wurde, die er dann u. a. auch "aus Spaß an der Freude" anfertigte. Die beruflichen Bindungen beim Berliner Rundfunk und als Lehrbeauftragter und später als Dozent an der DHfM in Berlin verstärkten die Lebensgestaltung im Kreise SED-naher Komponisten und Musikwissenschaftler. Ein wichtiger Faktor ist darüber hinaus die bewußte Einbindung Kochans und Asriels als repräsentative Nachwuchskomponisten. Wichtige Persönlichkeiten der Musikwissenschaft, Knepler und Rebling (Chefredakteur von ,,Musik und Gesellschaft"), veröffentlichten lobende Stellungnahmen zu Kochans und Asriels Werken. Wie schon seine Liedkompositionen entstanden auch Kochans theoretische Stellungnahmen aufgrund von Bitten anderer, z. B. Kneplers. 74 Hier zeigen sich bei Kochan Zwänge einer Struktur, die persönliche Beziehungen und organisatorische und kulturpolitisch motivierte Regelungen miteinander verbindet. Die bewundernde Anlehnung wandelt sich in Folge des Violinkonzertes op. 1 und der weiteren positiven Bewertung durch führende Kritiker in eine Verpflichtung diesen Menschen gegenüber. So konnten sowohl politische Stellungnahmen verlangt als auch Hoffnungen auf Kochans weitere kompositorische Entwicklung geäußert werden, die diesen unter Druck setzen. Bei Kochan sind, in Folge seiner politischen Überzeugung und der Bewunderung einiger SED-naher Leitfiguren im Bereich der neuen Musik, direkte Parallelen zwischen kompositionstechnischer und gesellschaftlicher Entwicklung zu erkennen. Dazu trug bei, daß er versuchte, den theoretischen Vorstellungen zumindest in der Arbeitsweise und der Wahl der Gattungen sowie in der Produktionsästhetik zu folgen. Grund dafür war eine allgemeine, aus biographischen Einflüssen entwickelte weiterreichende Haltung. 74 Ein Beispiel ist ein Brief Georg Kneplers an Günter Kochan vom 3. 10. 1951, der freundlicherweise von Prof. Kochan zur Verfügung gestellt wurde: ,,Lieber Herr Kochan! Erfahrungsgemäß macht es immer großen Eindruck, wenn auch bekannte Künstler ihre Stimme zur Herbeiführung des deutschen Gesprächs vernehmbar machen. Würden Sie nicht ein paar Zeilen in diesem Sinne schreiben wollen, die wir an unserem schwarzen Brett und auch in der Presse veröffentlichen könnten? ( . . . )".

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Rückblickend spricht Kochan, bezogen auf diese Zeit, von "Überspitzungen". Er legt aber Wert darauf zu betonen, daß er sich Anfang der 50er Jahre auf einer wenn auch naiven, so doch ehrlichen Suche nach einer Musik, die dem Ideal der Allgemeinverständlichkeit entsprach, befand. Die beschränkende Wirkung der theoretischen Diskussion relativiert er durch den Hinweis auf die Wichtigkeit der Interpreten für das Zustandekommen von Aufführungen. Im nachhinein bedauert Kochan, daß " ,1956 die Chance, den Sozialismus zu reformieren, nicht genutzt worden ist.' Auch er selbst hat sich ,Versäumnisse' vorzuwerfen. Er hätte ,öfter das Maul aufmachen müssen'. Zu leicht hätten sich die Komponisten ,mit kleinen Erfolgen zufriedengegeben' ."75 VII. Schlußfolgerungen Abgeleitet werden einige Thesen zur Komposition in der "durchherrschten Gesellschaft"76, die auf die besondere Verbindung von Politik und Musik verweisen, wie sie sich bei Betrachtung der konkreten Berührungspunkte zwischen kompositorischer und politischer Praxis ergibt. Es soll aufgrund des kleinen Ausschnitts, der hier dargestellt wurde, nicht versucht werden, umfassende Aussagen zu machen. Die Frage nach dem Verhältnis von Biographie und Situation kann für die jungen Komponisten in dem sich entwickelnden staatlichen Regelungssystem mit weitreichendem auch ästhetischem Anspruch auf folgende Hauptthesen reduziert werden: 1. Über Auftragsgewichtung, AWA-Zahlungen und andere hier nicht dargestellte Hebel konnten musikpolitische Zielsetzungen, wie die "Demokratisierung des Musiklebens" oder die Entwicklung einer eigenen Tanz- und Unterhaltungsmusik, durch die Parteiführung mit Auswirkungen auf die Praxis verfolgt werden. Die konkrete Ausformung der Zielsetzungen ging dabei aber auf Musikspezialisten wie Musikwissenschaftler und Komponisten zurück. 2. Bei den Nachwuchskomponisten, die mit zustimmender Einstellung in das sich entwickelnde System hineinwuchsen, gab es keinen bewußten Gegensatz von einschränkendem Parteistaat und individuellem Ausdruckswillen. 3. Für junge Komponisten der ersten Generation standen, solange sie nicht konsequent an der Entwicklung eines Kompositionsstils arbeiteten, der auf den abgelehnten "spätbürgerlichen" Kompositionstechniken beruhte, umfangreiche Einstiegsmöglichkeiten in das Berufsleben und finanzielle Unterstützung zur Verfügung. Kochan (G 11995). lürgen Kocka, ,,Eine durchherrschte Gesellschaft", in Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr, "Sozialgeschichte der DDR", Stuttgart 1994, S. 547.- 553. 75

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4. Aus der Sicht der Komponisten, die nach zufalligen Stationen, Aufträgen und Erfolgen in der parteinahen Szene arbeiteten, konnten sich die unterstützenden Maßnahmen finanzieller und publizistischer Art in Verpflichtungen und vermeintliche Erwartungen verwandeln, die eine persönliche Weiterentwicklung über Jahre verhindem oder stören konnten. 5. Die sich ausbildende Stabilität des Verwaltungssystems für zeitgenössische Komposition beruht auf weitgehender finanzieller Sicherheit, Ausbildung von Gruppenzugehörigkeilen und einer zunehmenden Aufspaltung der Diskussionen auf zwei Ebenen: die der Praktiker und die der Theoretiker. Alltagsinteressen standen für junge Komponisten, die nicht aufgrund auffälliger Kompositionstechniken mit Aufführungsverhinderungen und polemischer Kritik zu kämpfen hatten, im Mittelpunkt.

Überwachung, Kontrolle, Manipulation Das MfS und eine Verflechtung mit Kunst- und Kulturinstitutionen Von Hannelore Offner

Ich beschränke mich hier auf die Rolle des MfS und dessen Verflechtung mit anderen Einrichtungen des Staats- und Parteiapparates sowie fachlichen Institutionen bei der Ausgrenzung von Kunst seit dem Mauerbau. Voran stelle ich einige Arbeitsthesen: - Künstlerisches Schaffen entwickelt sich nach eigenen Gesetzmäßigkeiten, aber: Die Rahmenbedingungen hat in der DDR die Kulturpolitik bestimmt. - Kunst und Kultur haben um Freiräume gerungen, aber die Partei hatte die Definitionsmacht, das Anweisungsrecht, die Verfügungsgewalt. - Kunstwerke können nicht permanent abseits und total abgeschirmt entstehen, in der inneren Emigration entstehen andere Kunstwerke. - In der Kunstpolitik gab es periodische Schwankungen zwischen Anspannung und Entkrampfung, aber die Partei bestimmte wann und in welcher Form - Zensur war immer ein Akt der Willkür und der Gnade. - Das MfS wirkte im engen Zusammenspiel mit den Kulturabteilungen der Städte, Kreise und Bezirke, mit dem Zentralverband Bildender Künstler und den bezirkliehen Verbänden, sowohl mit den Leitungen der Hochschule als auch mit einzelnen Dozenten und Studenten. Die "Strategie der verteilten Rollen unter Regie des MfS". 1 - Kunst und Kultur wurden einerseits als Unsicherheitsfaktor im Innem betrachtet, der in besonderer Weise kontrolliert und überwacht wurde, andererseits wurden sie seit der Honnecker-Ära als Instrument im Ringen um Reputation und internationale Anerkennung genutzt.

• V gl Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 294.

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I. Zum Stand der Forschung - Ästhetische Betrachtung wider politische Aufarbeitung? Welche Rolle können Kunst und Kultur unter den Bedingungen einer Diktatur spielen? Mit dieser Fragestellung steht die Kunstwissenschaft in Deutschland noch am Anfang. Anders als im Literaturbereich, der nach Öffnung der Archive in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion geriet und zum Gegenstand fundierter Veröffentlichungen wurde, wird in der Debatte zur Kunst in der DDR immer wieder ausgeblendet, welche Mechanismen von Seiten des Staates wirkten, um Einfluß auf die Künstler und ihr Schaffen zu nehmen. Die Strategien der Wahrnehmungsverweigerung und Abwehr, gerade in Bezug auf die Akten des Staatssicherheitsdienstes, bestehen auch im achten Jahr der deutschen Einheit fort. Häufig wird vorgeschoben, die Kunst und die ostdeutschen Künstler könnten dadurch insgesamt eine Abwertung erfahren. Aufarbeitung mit politischen Fragestellungen wird allzu schnell als Angriff auf die Kunst generell verstanden. In dieser Frage stimmen Vertreter unterschiedlichster Interessen überein. Zum einen sind es Kunstwissenschaftler, die zwar früher mitunter kritische Positionen vertraten, jetzt aber ihre frühere Arbeit als Ostdeutsche insgesamt infrage gestellt sehen. Mit ihnen in einer Reihe stehen Künstler, die seinerzeit Kompromisse eingingen und nun ihre damaligen Privilegien verloren sehen, und, nicht zu vergessen, jene Künstler, die diskriminiert wurden und jetzt aus eben diesem Grund um die Akzeptanz ihrer künstlerischen Qualität fürchten. Eine ähnliche Abwehrhaltung nehmen einige westdeutsche Kunstwissenschaftler ein, die ihre Utopien in bezug auf die DDR noch heute nicht in frage stellen. Ebenso wie bestimmte westdeutsche Kunsthändler und Sammler, die in der ostdeutschen Kunst eine realistische Tendenz sahen, die sie selbst vertraten und deshalb gestärkt sehen wollten, sich dabei allzu gern auf offizielle Vorzeigekünstler konzentrierten und jetzt eine Wertminderung ihrer gesammelten sozialistischrealistischen Werke fürchten - Kunstwerke, die in den siebziger und achtziger Jahren noch einen Hauch von Exotik in den westlichen Kunstmarkt brachten. Zu dieser Abwehrfront gehören auch jene Theoretiker, Kunstvermittler und Künstler, die sich mit dem System weitgehend arrangiert hatten und eine Aufdeckung ihrer eigenen Verwicklungen fürchten. Kunsthistoriker und Kunstwissenschaftler, die darauf bedacht sind, Werke ausschließlich ästhetisch zu betrachten und einzuordnen, plädierten wiederholt dafür, die MfS-Akten bei der Diskussion um die bildende Kunst unberücksichtigt zu lassen. Als die Zuträgerschaft und inoffizielle Mitarbeit einzelner Kunstfunktionäre, aber auch renommierter Kunstwissenschaftler und Künstler erstmals an die Öffentlichkeit drangen, wurden die Fakten entweder nicht wahrgenommen, bagatellisiert oder vorliegende Spitzelberichte als fragwürdige anonyme Informationen betrachtet. Auch im achten Jahr der deutschen Einheit wird noch immer die generelle Aus-

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sagefähigkeit der Akten relativiert und infrage gestellt. Natürlich können Geheimdokumente eines diktatorischen Systems nicht so gelesen werden, daß sie allein Wirklichkeit abbilden, sie beinhalten ,,zerrbilder und reale Erscheinungen". Gleichwohl finden sich darin "die genetischen Schlüsselinformationen über die inneren Funktionsmechanismen". 2 Die in den Kunstprozeß eingreifenden Vorgänge und Zusammenhänge lassen sich oft nur in einem aufwendigen Puzzlespiel mit Akten aus den unterschiedlichen Archiven erschließen. Und dennoch kann nachgewiesen werden, daß Prozesse im künstlerischen Umfeld manipuliert wurden. Inwiefern damit Einfluß auf biographische Entwicklungen genommen wurde, wäre ein Thema für weitere Untersuchungen. Der in der Diskussion um den totalitären Charakter des Staatssozialismus beschriebene Herrschaftsanspruch der Einheitspartei prägte nicht nur Politik und Ökonomie, sondern beeinflußte auch Wissenschaft, Kultur und nicht zuletzt die Kunst. Das von der SED vertretene Wahrheitsmonopol führte in all diesen Bereichen zu repressiven Maßnahmen. Auch autonome und private Bereiche blieben nicht unberührt. 3 Der SED gelang es weitgehend, die Gesellschaft "ideologisch zu durchformen"4 ; ebenso konnte Kunst nicht unabhängig und ausschließlich in Nischen existieren. Neben einer ästhetischen Wertung der in der DDR entstandenen Kunstwerke stellt sich daher die Frage, inwieweit und auf welche Weise die Partei über Jahrzehnte Einfluß im künstlerischen Bereich nehmen konnte. Die Ausgrenzung läßt sich aber nicht nur auf direkte Maßregelungen und Verbote beschränken. Diffizile Formen der Vereinnahmung von Künstlern gilt es zu untersuchen. Es ergibt sich die Frage inwieweit es möglich war, Kunst zu instrumentalisieren oder Prozesse im künstlerischem Bereich zu manipulieren. Wird über Kunst in der DDR reflektiert, überwiegt der Blick auf die Kunst nach dem langsamen kulturellen Wandel, auf die Werke der späten siebziger und der achtziger Jahre. Damit geht eine verklärende Sicht einher. Die in den Jahrzehnten vorher betriebenen Kampagnen gegen die ästhetische Modeme bleiben weitgehend unbeachtet. Die offene Ausgrenzung der vom Realismus abweichenden Kunstrichtungen, ihre Brandmarkung als formalistisch, dekadent, kosmopolitisch und modernistisch, - und das beweisen auch die Akten - hat jedoch länger nachgewirkt, als es allgemein wahrgenommen wird. Der Mythos der Nischen, in denen Künstler anscheinend frei agieren konnten, läßt sich nicht aufrecht erhalten, auch nicht für die späte Phase der DDR. Es gab in 2 Jochen Staadt: Robert Havemann: existent aber nicht gegenwärtig, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 5. 8. 1997. 3 Vgl. Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 5 - 14. 4 So Ralph Jessen, zit. nach Sigrid Meuschel in: DDR-Geschichte und Totalitarismustheorie, in: Berliner Debatte Initial4/5 1995, S. 21.

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einem erheblichen Ausmaß Observierungen und Zugriffe des Sicherheitsapparates auf die Kunstszene. In Berlin wurde 1980 die Weiterführung der Galerie Schweinebraden unterbunden, 1981 die Galerie Arkade geschlossen, in Erfurt im gleichen Jahr die Galerie im Flur. Für die Kari-Marx-Städter Künstlergruppe Clara Mosch erarbeitete das MfS Maßnahmepläne, nicht nur um sie zu unterwandern, sondern systematisch zu "zersetzen", wie es in der Sprache des MfS hieß. Die Malerin Bärbel Bohley wurde 1983 verhaftet, der Kunstwissenschaftler Diether Schmidt 1984 in Abschiebehaft genommen. Selbst 1988 ließ die Kulturbürokratie in Jena nach einer Hofvernissage Gipsplastiken von Eva Anderson und ein großformatiges Ölbild von Detlev Schweiger zerschlagen, zersägen und auf die städtische Müllhalde transportieren. Neben Beeinträchtigungen und Demütigungen wirkten in dieser Zeit insbesondere subtile Methoden von Einflußnahme, die der außenpolitischen Reputation angemessen schienen. Beispielsweise konnte die Genehmigung einer Westreise innerhalb des Verbandes eine Form sein, Künstler in bestimmter Weise einzubinden, auch zu disziplinieren, und sei es durch eine Art von Selbstzensur. Die Überwachung, die Kontrolle und die gleichzeitige Versorgung mit Privilegien sind die Kennzeichen dieser modernen totalitären Herrschaftsform. Und gerade diese sublimierten Methoden sind es, die heute den Nachweis erschweren. Die Frage "ästhetische Betrachtung wider politische Aufarbeitung" darf so nicht gestellt werden. Gegenwärtig überwiegt ein separiertes Betrachten der Prozesse im Kunstgeschehen. Diese jedoch von den politischen abzutrennen, widerspricht der Rolle, die Kunst und Kultur in der DDR innehatten. Andererseits kommt es auch zur Überbewertung von subversivem Verhalten von Künstlern. Dabei ist es die Besonderheit dieses Metiers, daß sich Künstler zwar Freiräume genommen haben, dies aber nicht als widerständiges, sondern mehr als kunstimmanentes Verhalten zu werten ist. Im wesentlichen drehten sich die Debatten bisher um staatsnahe Künstler, beispielsweise 1990 im deutsch-deutschen Bilderstreit, als Baselitz den in der DDR verbliebenen Künstlern Verrat an der Kunst vorwarf, bei der Hängung der Arbeiten von Sitte/Heisig/Tübke in der Neuen Nationalgalerie Berlin 1993, der Übernahme der Akademie der Künste der DDR und damit auch von staatstragenden Künstler-Funktionären im gleichen Jahr und der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums zur Auftragskunst der DDR 1995. Zuletzt entbrandte 1998 eine heftige Diskussion um die Hängung von Bildern Bernhard Reisigs im zukünftigen deutschen Reichstag. Kritische Stimmen wehrten sich dagegen, daß der staatstragende Künstler (der auch als SS-Angehöriger am Rußlandfeldzug beteiligt war), der einmal Maßstab für DDR-Kunst im Ausland war, weiterhin als Repräsentant ostdeutscher Kunst gelten soll. In bisherigen Untersuchungen werden die Künstler, die nicht bereit waren, Kompromisse einzugehen, die sich gegen eine Vereinnahmung gewehrt haben oder in der letzten Konsequenz das Land verließen, kaum gewürdigt. Eine Ausnahme ist

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der fundierte Band Die Einübung der Außenspur über die Leipziger Kunstszene von 1971-1990 von 1996. Die Ausstellung Diktatur und Boheme im Deutschen Historischen Museum setzte 1997 einen neuen Akzent, wenn auch der Begriff Boheme, der im Zusammenhang mit bürgerlichen Lebensformen entstand, inbezug auf die DDR überhöht wirkt und zu hinterfragen wäre. Unter dem Titel Die Vergangenheit der Gegenwan gibt Jürgen Schweinebraden 1998 zwei Bände heraus, die die Bedingungen beleuchten, unter denen in der DDR Kunst entstand, mit Beiträgen, die sich gegen Vergessen und Verdrängen wehren und Erinnerung wachhalten wollen. Durchaus ist es legitim, die in der DDR entstandenen Kunstwerke im Rückblick unter rein ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu werten. Ich denke jedoch, es ist noch nicht an der Zeit ist, die Geschichte der DDR-Kunst neu zu schreiben. Viele Legenden der offiziellen Kunstgeschichtsschreibung müssen revidiert werden. In diesem Zusammenhang ist ein Vergleich aller zugänglichen Dokumente notwendig. Das VBK-Archiv konnte erstmals im September1996 in größerem Umfang genutzt werden, darüberhinaus stehen die Akten des MfS-, Partei- und Akademiearchivs zur Verfügung. Nichtzuletzt ist die Befragung von Zeitzeugen gerade bei dem Thema der Ausgrenzung eine unerläßliche Ergänzung der Arbeit. Kunstwissenschaftler plädierten 1993 bei ihrem Vorhaben, eine Dokumentation zur DDR-Kunst herauszugeben heftig dafür, die MfS-Akten auszuklammern. Gerade bekannt gewordene erste Fakten, daß sowohl Künstler als auch respektable Kunstwissenschaftler mit dem Staatssicherheitsdienst inoffiziell zusammen gearbeitet hatten, wurde nicht hinterfragt, sondern als "Enthüllungsjoumalismus" abgetan. Die Bespitzelung, Denunziation und gezielte Einflußnahme durch Intellektuelle, die sich mit dem Mielke-Apparat einließen, werden entweder nicht wahrgenommen, bagatellisiert oder vorliegende Aktendossiers als fragwürdige anonyme Informationen betrachtet. Wichtige Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Thema der Ausgrenzung sind: 1. Die Machtverhältnisse im Partei- und Staatsapparat inbezug auf die Kunstpolitik, die Weisungsstrukturen, Leitungs- und Kontrollfunktionen zu untersuchen. Es kann beispielsweise nachgewiesen werden, daß das Kulturministerium zum Befehlsempfänger der Abteilung Kultur beim ZK der SED degradiert war. 2. Die Rolle des Künstlerverbandes und der Akademie der Künste bei der Durchsetzung der Partei vorgaben, auch die Rolle der Parteigruppen innerhalb des Verbandes. 3. Das Thema der Ausgrenzung der Modeme innerhalb der DDR, dabei auch von Künstlern, die bereits im Nationalsozialismus verfemt waren. Zum Beispiel scheint das in den dreißiger Jahren verhängte Edikt des Entarteten in der Ideologie derfünfzigerund sechziger Jahre in der DDR seine Fortsetzung gefunden zu haben. 32*

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4. Das Zusammenspiel von künstlerischen Institutionen der DDR mit westlichen Kunsthändlern, Sammlern, linken Verbänden und DKP-nahen Einrichtungen ist ein weiteres Thema, um die Mechanismen einer gelenkten Kunstpolitik zu verstehen. Die eben genannten Fragestellungen werde ich hier ausklammern und mich darauf konzentrieren, welche Rolle das MfS als verlängerter Arm der Partei bei der Durchsetzung der Kunst- und Kulturpolitik spielte. Die SED hatte eine eigene Kulturpolitik installiert, aber keine eigene Kunsttheorie entwickelt. Der kommunistische Parteiapparat betrachtete seit den dreißiger Jahren die Kunst als Transportmittel zur Verbreitung der Ideologie. Wie Shdanow 1934 auf dem Schriftstellerkongreß verkündet hatte, ging es um die "Schaffung des neuen Menschen" im Sozialismus. Das Leitmotiv war nachwievor: "Kunst ist Waffe" im Klassenkampf. Somit erstellte auch das MfS keine eigenen Grundsatzpapiere in Bezug auf die Kunst. Der Sicherheitsapparat stand als "Schild und Schwert" vor der Partei. Dabei funktionierte auch im bildkünstlerischen Bereich die Überwachung, Kontrolle und Manipulation im Zusammenspiel mit den Parteiebenen, dem Künstlerverband und dem Kulturministerium, nicht nur restriktiv, sondern auch durch die Vermittlung von Privilegien.

II. Perioden in der Arbeit des MfS Im Laufe der Jahrzehnte gab es einen systematischen Ausbau der Abteilungen innerhalb des MfS, was unter anderem eine Ausweitung der kulturoperativen Maßnahmen zur Folge hatte. 1963 wurde innerhalb des Referates Kulturarbeit das Sachgebiet Politische Untergrundarbeit eingerichtet. Im Zusammenhang mit dem 11. Plenum 1965 wandelte sich die Arbeit: Von der Überwachung und scharfen Angriffen ging das MfS dazu über, von nun an Künstler mehr im Vorfeld "aufzuklären". In der Zeit, in der die Gedanken des Prager Frühlings auch in die DDR herüber wehten, verschärfte Mielke 1968 die Überwachung dieses Bereichs. Dem folgte 1969 die Einrichtung einer eigenen kulturoperativen Abteilung, die XX 17, in der Künstler und Schriftsteller observiert oder zur Mitarbeit animiert wurden. Anfang der siebziger Jahre versuchte die DDR sich internationale Reputation durch kulturelle Kontakte zu verschaffen, von Honecker wurde nach dem VIII. Parteitag 1972 die sogenannte "Weite und Vielfalt" angekündigt. Als Einschnitt in der Sicherheitspolitik des MfS gegenüber Kulturschaffenden kann das Jahr 1975 gelten -es folgte ein verstärkter IM-Einsatz im Inneren, Mielkes Truppen sahen zunehmende Gefahr durch die internationale Anerkennung der DDR. Nach dem Grundlagenvertrag, der Anerkennung des Helsinkier Abkommens und der Ausbürgerung Biermanns gab es ein verstärktes Augenmerk auf die Kulturschaffenden, v.a. die Literaten. Anfang 1976, noch vor der Bierrnann-Ausweisung, wird die operative Gruppe der XX /7 gegründet, seither legte sie spezielle

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operative Vorgänge (OV) und zentrale operative Vorgänge (ZOV) an. Die Isolierung von Einzelnen, die "Differenzierung und Zersetzung" von Gruppierungen wurde als neuer Aspekt in die Arbeit aufgenommen und mit der Biermann-Affäre sogleich erprobt. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs der Sicherheitsapparat, vor allem in den achtziger Jahren, enorm an und spezialisierte sich. Ich verzichte hier das Zahlenmaterial, zitiere aber Mielke zu den Besonderheiten der Bearbeitung von Künstlern und Schriftstellern: "Die Anwendung straftrechtlicher Maßnahmen sind nicht so ohne weiteres angebracht, obwohl wir hier natürlich ebenso die Beweise für solche Maßnahmen erarbeiten. Aber die Vorgangsbearbeitung, die operative Bearbeitung solcher Personen und Gruppierungen muß von vomherein stärker auf die Zielsetzung ausgerichtet sein, zersetzend zu wirken, sie unglaubhaft zu machen und zu isolieren, Mißtrauen zu erzeugen. [ ... ], um ihnen die Basis für ihr Wirksamwerden zu entziehen."5 Anfang der achtziger Jahre konzentrierte sich die Arbeit des MfS verstärkt auf Friedensund Umweltgruppen, der Einfluß von Solidamosc auf die Künstler war von Interesse. Seit Mitte der achtziger gewannen sogenannte ,,Rückgewinnungsmaßnahmen" der Künstler an Relevanz. Diejenigen, die außerhalb der staatlichen Strukturen agierten, versuchte man in die Arbeit des Verbandes wieder einzugliedern, andere die die Ausreise beantragt hatten, durch das Angebot von Studienreisen und anderen Privilegien davon abzubringen. Bis zum Mauerfall machte das MfS seinen Einfluß geltend. 1989 wurde an der Hochschule des MfS von Oberleutnant Gundlach eine Diplomarbeit über "Erkenntnisse und Erfahrungen bei der Zurückdrängong und vorbeugenden Verhinderung von Auswirkungen der politisch-ideologischen Diversion unter Mitgliedern des VBK-DDR, Bezirksorganisation Rostock"6 abgeschlossen. Noch 1989 vergab ein Führungsoffizier in Dresden den Auftrag an einen Privatkunsthändler, sich beim Neuen Forum zu engagieren. Dieser war seit 1963 bereitwilliger Informant, konnte als einziger privater Händler der DDR Kunst vertreiben, und genoß das Vertrauen vieler Künstler. In der Endphase der DDR wurde er ins MfS gebeten, um zu beraten, welche der Antragsteller eine Genehmigungen zur Neugründung von Privatgalerien erhalten sollten. Ein Beispiel dafür, wie die Vorund Nachwendezeit vom MfS mitgestaltet wurde. Die Phasen des Ausbaus des Sicherheitsapparates, die Joachim Walther ausführlich in seinem Buch "Sicherheitsbereich Literatur" beschrieben hat, können auch für die bildende Kunst gelten. Sowohl die Partei als auch das MfS konnten nicht direkt auf den künstlerischen Schaffensprozeß einwirken. Zusammenfassend läßt sich jedoch sagen, daß die je s Dienstanweisung 2/85, Zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit vom 20. 2. 1985, BStU, ZA, Dokumentenstelle Nr. 103138. 6 BStU, VVS JHS 0001-414/89.

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nach Kursänderung mehr oder weniger subtilen Methoden der Steuerung und Einflußnahme anband der Dokumente der verschiedenen Archive und der Befragung von Zeitzeugen aufgezeigt werden können. Dabei ist die Vernetzung zwischen dem MfS, den Kulturabteilungen der Bezirks- und Kreisebenen, des Partei- und auch des Staatsapparates, dem Kulturministerium und dem Künstlerverband von Interesse.

111. Fallbeispiele zur Einflußnahme auf künstlerische Institutionen und biographische Entwicklungen Auf repressive Überwachung von Künstlern und Kunstwissenschaftlern gehe ich in diesem Zusammenhang nicht ein. Anband von einigen Fallbeispielen möchte ich aber aufzeigen, wie das Mielke-Imperium Einfluß auf künstlerische Institutionen und biographische Entwicklungen nahm. Bei der Besetzung von Ämtern und Gremien hatte das MfS immer seine Zustimmung zu geben. Beispielsweise liegt ein Dossier vor, in dem der Staatssicherheitsdienst den vorgesehenen Rektor der Kunsthochschule in Leipzig bestätigte, ebenso den Vorsitzenden des Bezirkskünstlerverbandes. Aber auch die Zusammenarbeit von gesellschaftlichen (GMS) und inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in Schlüsselpositionen mit dem MfS hatte einen hohen Stellenwert bei der Umsetzung von Parteiinteressen. Leitende Mitarbeiter aus Hochschulen, Museen und im Verband stimmten die fachliche Arbeit mit ihrem Führungsoffizier ab, machten Vorschläge, wo das MfS massiver wirken könnte und nahmen Aufträge, auch für Dienstreisen, entgegen. Als Beispiele seien hier stellvertretend genannt: Der Direktor der Kunsthalle in Rostock, der gleichzeitig die Biennale der Ostseeländer koordinierte (bis 1993 fungierte er noch als Direktor der Galerie Neue Meister in Dresden), der Direktor der Fachschule für Angewandte Kunst in Heiligendamm, der Rektor der Hochschule für Industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein in Halle, in Dresden der Rektor der Kunsthochschule ebenso wie die Direktoren der Sammlung Neue Meister, der Skulpturensammlung, des Grünen Gewölbes, des Historischen Museums, des Museums für Kunsthandwerk im Schloß Pillnitz, der Direktor der Ostasiatischen Sammlung der Staatlichen Museen in Berlin, die stellvertretende Direktorin der Alten Nationalgalerie. Daß es aber möglich war, den Avancen des Sicherheitsapparates mit Ablehnung zu begegnen, zeigt das Beispiel des Direktors des Kupferstichkabinetts in Dresden, der sich der Werbung nach einigen Treffen widersetzte und sowohl seine kirchlichen Bindungen als auch moralische Gründe anführte. Der Rektor für Erziehung und Ausbildung an der Kunsthochschule in Dresden übergab dem MfS Listen mit den Personalien der Studienbewerber, um so dann im Auftrag des MfS einzelne Aufnahmen zu verwehren. Fast zwanzig Jahre wirkte er

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in Kooperation mit dem Milke-Apparat. ,,Mit dem IM wurden die operativen Momente für die Stud.-Zulassung 1981 abgestimmt, um die Immatrikulation neg. Studenten vorher zu verhindern. Der IME [der IM im besonderen Einsatz] wird jetzt offensiv die Entscheidung der Zulassungskommission beeinflussen und auf die Nichtzulassung der Bewerber ... [es folgen f\inf Namen] Einfluß nehmen. Einleitung I Durchführung offensiver Maßnahmen zu [ .. . ] Exmatrikulation."7 Reimann wandte sich ebenfalls entschieden gegen die Aufnahme eines Bewerbers, der als Bausoldat den NVA-Dienst an der Waffe verweigerte hatte. Außerdem verhinderte er einen Lehrauftrag für den kritischen Kunsthistoriker Diether Schmidt. 8 Außer bei den Studienzulassungen war das MfS selbstverständlich beteiligt, wenn es um Relegierung von den Hochschulen, aber auch um Aufnahme oder Ablehnung in den Künstlerverband ging. In einem "Operativplan" des Vorgangs "Exponent" über die Jenenser Künstler Lutz Leibner, Gerd Sonntag und Frank Rub schrieb der MfS-Führungsoffizier: "Der Vemand hat zu gewährleisten, daß die Vorgangspersonen nicht als Kandidaten oder Mitglieder in den VBK aufgenommen werden, bis sie gezeigt haben, daß sie sich voll zu unserem Staat bekennen und dies in Ihren Bildern, Plastiken usw. zum Ausdruck kommt, bzw. aus operativen Gründen erforderlich wird. " 9 Und es gelang ihnen. Bei Gerd Sonntag vergingen fünfzehn Jahre bis er kurz vor dem Ende der DDR als Mitglied im Künstlerverband aufgenommen wurde. Innerhalb des Verbandes arbeiteten einzelne Mitglieder des Zentralvorstandes, viele Bezirks-Sekretäre, selten die Vorsitzenden der Bezirksverbände mit dem MfS inoffiziell und unter Decknamen zusammen. Für eine besonders einflußreiche IM-Tätigkeit standen einige Vizepräsidenten des VBK und Mitglieder des Zentralvorstandes. Verbandssekretäre aus Berlin, Dresden, Leipzig und Rostock waren über Jahrzehnte Stasi-Getreue. Für die 1983 bevorstehenden Verbandswahlen vereinbarte das MfS beispielsweise mit IM "Grün", dem Rostocker Sekretär, "daß alle vorgesehenen Vorstandsmitglieder bzw. gewählten Funktionäre für den Verband Bildender Künstler erst nach Rücksprache und Bestätigung durch das MfS auf die Tagesordnung für eine Wahl gestellt werden, um so zu garantieren, daß negative bzw. feindliche Kräfte nicht in gewählten Funktionen wirksam werden können." 10 Eine zentrale Position, um die Fäden im Sinne des MfS zu lenken, nahm Fritz Donner ein. Im Ministerium für Kultur leitete er die Abteilung für bildende Kunst und zog zusammen mit seinem Führungsoffizier seit 1974 die Fäden als IM "Fritz", mitunter sogar vorbei am Minister. Er wirkte mit bei vielen Ausstellungsverboten und Galerieschließungen, der Amtsenthebung eines Museumsdirektors, BStU, ASt. Dresden, AlM 4708/90, Bd. 0.2, BI. 452. Ebenda BI 459. 9 BSTU, ASt. Gera, AOV 32/84, Bd.l, BI. 47. 1o BSTU. ASt. Rostock, AlM 431170, Bd.lll, BI. 185. 7

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der Entlassung des Leiters der Galerie Arkade Berlin 1981 oder den Maßnahmen, die Penck zur Ausreise drängten. Die MfS-Bezirksverwaltung in Dresden sah kein Hindernis, Sittes Vorgänger Gerhard Bonzin als Präsident des Künstlerverbandes zur inoffiziellen Arbeit zu verpflichten. Noch bevor er 1965 die Leitung der Hochschule übernahm, hatte "ein guter offizieller Kontakt" 11 bestanden, nach seiner Wahl zum Verbandspräsidenten wurde Bondzin durch Unterleutnant Salomo zur Zusammenarbeit "mittels Handschlag" verpflichtet 12 . Außerdem war er Mitglied in der Dresdener SED-Bezirksleitung. So kontrollierte und monierte er im Auftrag des MfS die Kontakte seiner Künstlerkollegen in den Westen, informierte über interne Probleme des Zentralvorstandes, übergab Briefe und reichte intern geübte Kritik des Zentralvorstandes 13 an der Kaderarbeit an das MfS weiter. Nach seinem Präsidentenamt fertigte er in den achtziger Jahren Sachverständigengutachten und Expertise zu observierten Künstlern, informierte auch über die Hintergründe von Exmatrikulationen an der Dresdener Hochschule. Seine letzten Berichte über mißliebige Studenten stammen aus dem Sommer 1989. Weiteren Einfluß nahm das MfS in der Akademie der Künste, im Kunsthandel, bei der Auftragspolitik, der Jurierung von Ausstellungen, bei Ausstellungsverboten, der Schließung von Galerien, der Genehmigung von Reisen (Reiseanträge nahmen den Weg vom VBK, an das Ministerium für Kultur, von dort an das ZK der SED, und Ursula Ragwitz reichte sie an Generalleutnant Kienberg vom MfS), der Erteilung von Druckgenehmigungen sowie der Vergabe von Atelier- und Wohnräumen Noch einige konkrete Beispiele: In Dresden ebnete der Sicherheitsapparat seinem Informanten "Liebermann", dem Direktor der Gemäldegalerie Neue Meister, zur Unterwanderung in der Weise den Weg, daß der Führungsoffizier Rücksprache mit einem Genossen der Parteibezirksleitung nahm, "damit das Bild von X noch in die Ausstellung aufgenommen wird, um dem GI das Eindringen in den Radeheuler Kreis zu erleichtern." 14 In Rostock erhielt der Bezirkssekretär bei seinen regelmäßigen Treffs in konspirativen Wohnungen die Aufgabe, die Steuererklärungen aller VBK-Mitglieder und die Personalien der innerhalb des VBK bekannten Aktmodelle vorzulegen, daraufhin konnte die zuständige Abteilung entsprechende Überprüfungen einleiten. 15 Auch die Kunstwissenschaftler spielten keine rühmliche Rolle, ob es sich um den Professor in Leipzig, der gleichzeitig als enger Vertrauter den Künstlern 11

12

BStU, ASt. Dresden, AGMS 2668/90, Bd.I, BI. 10. Ebenda, BI. 49.

13 Herbert Herklotz prangerte "schwerwiegende Fehler in der Kaderarbeit" in einem Brief an den Zentralvorstand an, den Bondzin dem MfS übergab. Herklotz war langjähriger Funktionär im Zentralvorstand und selbst IM. Vgl. ebenda, BI. 64. 14 BStU, AST. Dresden, AlM 2980/88, Bd. Al, BI. 40. 15 BStU, ASt. Rostock, AlM, Bd. 3, BI. 246, 263.

Das MfS und Kunst- und Kulturinstitutionen

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begegnete, handelte oder den Jenenser Professor, der vom MfS gezielt im Westen eingesetzt und von linken Professoren und Studenten aufgrund seiner marxistischen Betrachtung der mittelalterlichen Sakralarchitektur gefeiert wurde. Eine Hallenser Professorin traf sich über Jahrzehnte konspirativ mit ihrem Führungsoffizier, sie fertigte unter anderem künstlerische Gutachten, erstattete Bericht und erfüllte gewissenhaft ihre Aufträge. In Berlin sind zum Schutz der besonders wichtigen Informanten Personal- oder Berichtsakten von Kunstwissenschaftlern rechtzeitig vernichtet worden, so daß nur noch geleerte Aktendeckel vorliegen. Im Rahmen seiner Überwachungs- und Unterdrückungstätigkeit arbeitete der Mielke-Apparat vor allem mit den verschiedenen Ebenen der Partei eng zusammen. Darüber hinaus gab es noch das sogenannte politisch operative Zusammenwirken (POZW) mit den Räten der Kreise und Bezirke, den Kaderabteilungen der Institutionen, aber auch der Volkspolizei, der Zollverwaltung und mit Reisebüros. Ohne die Abstimmung mit anderen staatlichen und gesellschaftlichen Organen und Einrichtungen wäre der Anspruch auf flächendeckende Kontrolle nicht umsetzbar gewesen. In Magdeburg hatte die Bezirksparteileitung vorgesehen, zur besseren Kontrolle einem Mitarbeiter Aufgaben im Künstlerverband zu übertragen, er wurde aber weiterhin vom ZK der SED bezahlt. Die Partei setzte ebenfalls die Verbandssekretäre ein, nicht selten hatten sie sich zuvor in Parteifunktionen bewährt. Aber auch die gute Zusammenarbeit eines Abteilungsleiters für Kultur beim Rat des Bezirkes und von Stadträten für Kultur ist in den MfS-Akten dokumentiert. In Dresden schaltete das MfS die Bezirksparteileitung für einen besonderen Dienst ein: "Wir bitten deshalb darum, daß der I. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Gen. Modrow, davon informiert wird, daß wir ein operatives Interesse daran haben, daß unser 1MB ,Liebermann' [der Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister]den Auftrag bekommt, diesen Empfang [zur Ausstellungseröffnung in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik] zu besuchen." 16 Im Rahmen der Anerkennung der DDR versuchte die Partei über das MfS mit ihren Kadern Einfluß im Westen und in internationalen Organisationen wie der Internationalen Kunstkritikervereinigung AICA und ICOGRADA, dem Verband der Grafiker, zu gewinnen. Für Verhandlungen und Tagungen wurden Kenner des Fachs als IM gesandt. Das ZK beschloß, den Hallenser Chefkonservator alias IM "Oskar" für die Funktion des Generalsekretärs des Internationalen Rates für Denkmale bei der Unesco (ICOMOS) aufzubauen, was tatsächlich gelang. Um ihn fachlich für seine MfS-Aufträge zu legitimieren, wurde der Denkmalpfleger für ein Kurzstudium nach Italien gesandt und ihm wurde kurzfristig ein Professorentitel verliehen. Das MfS legte ihm dann nahe, eine politisch oppositionelle Haltung vorzutäuschen, um ihn direkt auf westliche Geheimdienstmitarbeiter ansetzen zu können. Ein Übersichtsplan für den Führungsoffizier zeigt, daß der IM 1988/89 immer nur für kurze Zeit in der DDR weilte, sich aber überwiegend im westlichen 16

BStU, ASt. Dresden, AlM 2980/88, Bd.II/YI, 81.28.

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Ausland, vor allem in Paris autbielt. IM "Oskar" erfüllte mit großem Eifer Aufträge, betrachtete sich ausdrücklich als Mitarbeiter des MfS 17 und wurde nicht nur mit Prämien und der Verdienstmedaille der NVA in Silber ausgezeichnet, auch Frau und Tochter konnten sich an Geschenken des MfSOffiziers erfreuen. Als der Sekretär der Ostseebiennale 1973 nach Schweden und Finnland reiste, um die Ausstellung vorzubereiten, bescheinigte der Führungsoffizier danach eine gute Auftragserfüllung: "Die Aufgabe bestand darin, zusammen mit den Vertretern Schweden und Finnlands im internationalen Komitee der Biennale die in Dresden beschlossene Konzeption zur Durchsetzung einer realistischen Biennale abzusichem.Wichtigstes Ergebnis der Besprechungen ist das Eingeständnis, daß nicht wie früher 50% Realisten und 50% Abstrakte oder Vertreter modernistischer Richtungen ausgestellt werden, sondern ausschließlich Vertreter der Realisten." 18 Je nach Aktenlage sind bei den ausführlich untersuchten Fallbeispielen regionale Besonderheiten der Kunstlandschaft in der damaligen DDR zu berücksichtigen. Unterschiede bei Maßregelungen und Ausgrenzung werden sichtbar, z. B. zwischen Berlin, wo sich ein kontrollierender Überblick über die Kunstszene nur schwer verschaffen ließ, und Jena, wo in der thüringischen Provinz selbst Ende der achtziger Jahre sehr rigide gegen Künstler vorgegangen wurde. Im Kunstzentrum Dresden hatten das MfS und Parteifunktionäre nach bisherigen Erkenntnissen mehr Einfluß auf künstlerische Entscheidungen als in Leipzig, dem "Gral des sozialistischen Realismus". Für Rostock als Ostseegrenzbezirk liegen besonders aufschlußreiche MfS-Maßnahmepläne und Statistiken für die achtziger Jahre vor. Die Bereitwilligkeit zur Denunziation und Manipulation im Auftrag des MfS erfolgte aus unterschiedlichen Motiven heraus. Dem Wohle der sozialistischen Ordnung zu dienen, konnte ebenso eine Rolle spielen wie Macht- und Karrierestreben. Auch persönliche Motive der Anerkennung konnten bei einer Anwerbung ausschlaggebend sein oder einfach Charakterschwäche. So gab es fließende Übergänge zwischen einem Kooperieren bis hin zum Kollaborieren. Sehr oft waren es simple egoistische Beweggründe und kleine private Vorteile einer Mangelgesellschaft, die jegliche humane Orientierung in den Hintergrund treten ließen. Die Bestandsaufnahme der Verstrickungen von Kunstfunktionären, Kunsttheoretikern und Künstlern mit dem MfS hat gezeigt, wie die Partei mit Hilfe des Sicherheitsapparates versuchte, ihre Ziele durchzusetzen. Angst und Lüge wurden vom Sicherheitsapparat bewußt eingesetzt, um Freundeskreise zu zersplittern, Ehen zu zerstören, Menschen zu verunsichern, zu lähmen, zu verdächtigen, zu isolieren, sie in ihrem Ansehen in Mißkredit zu bringen. Die geöffneten Briefe, das Abhören des Telefons, das Aushorchen der Kollegen und Nachbarn, die perfiden Methoden des Verrats durch Freunde, die in der Wohnung installierten Wanzen sowie heimlich durchsuchte Wohnungen haben weit in 17 18

BStU, ASt. Halle, VIII582/74, Bd. 1111, BI. 9. BStU, ASt.Dresden, AlM 4138/90, Bd. II I, BI. 114.

Das MfS und Kunst- und Kulturinstitutionen

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die Privatsphäre eingegriffen und belasten die Biographien einzelner Betroffener bis heute. Die Abgründe dieses Spitzel- und Denunziantenturns faßt die Psychologin und Psychotherapeutin Ursula Plog aus den Erfahrungen ihrer Arbeit zusammen: "In scheinbar privatem Raum, beim Treff zu zweit in einer konspirativen Wohnung, hat eine Staatsmacht sich des Innersten des Menschen in einer Totalität bemächtigt wie nie zuvor ein Regime. Am Ende der DDR standen zwar keine Bilder von Massengräbern und Internierungslagern, wohl aber Hunderttausende von zerstörten Seelen." 19 Das Neue innerhalb der DDR-Strukturen sind die verdeckten Steuerungs- und Manipulationsfunktionen (auch über Versorgung und Privilegien), die nicht nur in wichtigen Bereichen von Staat und Gesellschaft, sondern bis in kleinste und vermeintlich autonome Gruppen und persönliche Beziehungen hinein wirkten. 20 Diese Funktionsmechanismen sind auch im Kunstbetrieb wahrzunehmen und aufzudecken. Neben den ästhetischen und kunstwissenschaftliehen Fragestellungen werden sie Grundlage und Voraussetzung für eine Neuschreibung der DDRKunstgeschichte sein. Die Studie über die Einflußnahme des MfS im Bereich der bildenden Kunst sollte nicht die Betrachtung der Kunst ersetzen, ist aber ein erster Schritt, um die Kunst und die künstlerischen Institutionen in der DDR mit größerem historischen Abstand zu analysieren. Es handelt sich hier- im Gegensatz zur direkten Betrachtung der Kunst -um ein wenig erbauliches Thema, das beim Aktenstudium oft genug Abgründe aufreißt. Ich halte es aber für unerläßlich, auch als Kunsthistorikerin, die gemachten Erfahrungen im Umgang mit deutscher Vergangenheit nicht auszublenden, denn, und ich zitiere den Titel des zweiten Bandes der Dokumentation zur Geschichte der Akademie der Künste:" . .. und die Vergangenheit sitzt immer mit am Tisch".

19 Ursula Plog: Immer auf der richtigen Seite stehen, Der Spiegel, 33/1995, nach: Europäische Ideen, Heft%/ 1996, S. 10. 20 Vgl. Klaus-Dietmar Henke: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. in Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 4/1993, S. 586, nach Sigrid Meuschel: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S 5 ff., S. 13.

Ein Gesetz, das nicht in Kraft trat Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR 1950 I 51 Von Ursula Hahlweg-Eichlepp*

Nach Kapitulation und damit faktischem Ende des Deutschen Reiches als einheitlichem hoheitlichen Staat am 8. Mai 1945 war dessen bis dahin geltende Gesetzgebung keinesfalls automatisch annulliert. Wenn auch die Tätigkeit der Zentralbehörden des deutschen Reiches auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone (für Berlin mit Befehl Nr. I vom 28. 4. 1945) eingestellt wurde, so waren damit nicht die erlassenen Gesetze ungültig. Die Nachfolgeverwaltungseinheiten unter der Hoheit der Alliierten mußten die jeweilige Gesetzeslage den neuen Bedingungen gemäß verbindlich regeln. Das geschah sowohl auf höchster Ebene im Alliierten Kontrollrat, als auch auch in den einzelnen Verwaltungsgebieten, den Zonen bzw. Ländern. "Ausübung der Regierungsgewalt im Sinne des Potsdamer Abkommens bedeutete, daß die Befehle und Anordnungen der Militärbehörden die juristische Grundlage für das Handeln der deutschen Verwaltungen und Organe darstellten." 1 In den Jahren 1945 bis 1949 gab es in den durch die Sowjetunion militärisch verwalteten Gebieten unterschiedliche Rechtsformen. Der Aufteilung und Verwaltung nach relativ selbständigen Ländern mit eigener Judikative stand von Beginn an die Bildung zentraler Verwaltungsstrukturen entgegen 2. Das Potsdamer Abkom-

* Die Autorin arbeitet seit 1989 an dem Thema "Die Theaterpolitik der Staatlichen Kommission für Kunstangelgenheiten". Die ersten Recherchen machte sie noch im Verwaltungsarchiv des Ministeriums für Kultur der DDR. Nach 1990 wurden die Recherchen zunächst im Zentralen Parteiarchiv der DDR, später im Bundesarchiv fortgesetzt. Aus diesem Grund verzeichnen einige Fußnoten noch die damaligen Akten-Nummern des VWA des MfK. Heute ist der gesamte Bestand der Kunstkommission im Bundesarchiv unter der Signatur DR/1 eingearbeitet. Eine Konkordanz ist im Aufbau. I H. Haase/R. Dau/8. Gysi/H. Peters/K. Schnakenburg: Die SED und das kulturelle Erbe, Berlin 1986, S. 82; vgl. auch: Hermann Weber: Geschichte der DDR,. München 1985, S. 96/97: "Die Zentralverwaltungen konnten allerdings keine Gesetze und Verordnungen erlassen, allein die SMAD bestimmte. Die Verwaltungen, durch Befehl Nr. 17 legalisiert, arbeiteten als Hilfsorgane der SMAD, sie bildeten zugleich aber auch eine Keimzelle für eine zukünftige deutsche Zentralregierung." 2 Vgl. Wolfgang Merker: Die deutschen Zentralverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1947, Diss. 1980: (die Zentralverwaltungen) "stützten sich

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men sah zwar einerseits die Bildung von zentralen Verwaltungseinheiten vor, in der Rechtspraxis des Alliierten Kontrollrates jedoch galt das Vetorecht und so wurden dort solche Vorschläge der SMAD3 durch das Veto Frankreichs zu Fall gebracht. Nach der Konstituierung zweier deutscher Staaten mit unterschiedlicher ökonomischer und verwaltungstechnischer Struktur entsprach auch das Staatsrecht jeweils anderen Prämissen. Wahrend in der Bundesrepublik Deutschland das bürgerliche Recht dominierte, entstand in der DDR eine Rechtsform, die sich als eigenständiges sozialistisches Recht entwickelte und definierte. "Die sozialistische Gesetzlichkeit ist eine grundlegende Methode der Machtausübung des sozialistischen Staates. Sie besteht in der wirksamen Gestaltung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse mittels des Rechts, das von den staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben, gesellschaftlichen Organisationen und Bürgern einheitlich befolgt und verwirklicht wird. Die sozialistische Gesetzlichkeit erfordert, alle jene gesellschaftlichen Verhältnisse, die der rechtlichen Gestaltung und des rechtlichen Schutzes bedürfen, rechtlich zu regeln sowie die strikte Einhaltung der rechtlichen Regelung von allen Bürgern, Staatsorganen, Kollektiven und Organisationen."4 Das hier untersuchte Gebiet des Theaters als ein Teil des Kunstbetriebes unterlag dabei sowohl ideologischen als auch wirtschaftlichen Interessen. Das machte seine Verwaltung und staatliche Lenkung stets kompliziert. In den von der Sowjetunion verwalteten Ländern, die sich 1949 zum Staat DDR konstituierten, spielten Kunst und Kultur von Beginn an eine wichtige Rolle bei der ideologischen Einflußnahme auf die Bevölkerung, namentlich auf die nicht emigrierten Intellektuellen, die für eine Mitarbeit gewonnen werden sollten5 . Das Kulturkonzept der Sowjetunion fand seinen Ausdruck in einer Bekanntmachung der SMAD vom 25. 9. 1945, in der es u. a. heißt: "In seinem Befehl über die Wiedererrichtung und Tatigkeit von Kunstinstituten hat der Oberste Chef der Sowjetischen Militärverwaltung, Marschall der Sowjetunion G. Shukow, Bestimmungen über die grundlegenden Aufgaben von Körperschaften und Unternehmungen der Kunst in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands getroffen. Diese Aufgaben sind: unter Leitung der SMAD auf ihre Koordinierungs-, Kontroll- und Anleitungsfunktionen gegenüber den ihnen nicht unterstellten Landes- und Provinzialverwaltungen, die in Übereinstimmung mit dem Potsdamer Abkommen als zunächst höchste deutsche Staatsorgane das Gesetzgebungs- und Verordnungsrecht für die Wahrnehmung der einheitlichen Staatsgewalt in ihren Territorien erhielten, auf ihre Leitungsvollmachten gegenüber ihrem nachgeordneten Verwaltungs- und Betriebsapparat, der in den Jahren 1946 I 47 ständig erweitert wurde." 3 Sowjetische Militär-Administration (SMAD). 4 Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, Berlin 1975, S. 394. 5 v. Klemperer: Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945, Berlin 1996, S. 43: "Die Intelligenz ist nach Westen getürmt, Bonn z. B. wird es leicht haben- aber wir sind Ostelbien geworden. Wiederum: der Amerikaner brauche sich nicht als Kulturträger auszuweisen, während der Russe erst einen Ruf zu gewinnen habe."

Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR 1950/51

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a) volle Befreiung der Kunst von nazistischen, rassistischen, militaristischen und anderen reaktionären Ideen und Tendenzen; b) aktive Verwendung der Kunstmittel im Kampf gegen Faschismus und für die Umerziehung des deutschen Volkes im Sinne einer folgerichtigen Demokratie; c) eingehende Einführung in die Kunst der Welt und das russische Kunstschaffen."6 So ist es auch folgerichtig, wenn eine rasche gesetzliche Regelung, die den Einfluß des Staates auf die Theater gewährleisten sollte, angestrebt wurde. Für die Theater in der sowjetischen Besatzungszone bedeutete diese Kulturpolitik der SMAD von Beginn an eine große materielle und ideologische Unterstützung. In Berlin und der sowjetischen Besatzungszone nahmen 158 Theater bis zur Spielzeit 1947 I 48 den Spielbetrieb wieder aue Dabei waren die Eigentumsformen zunächst vielfältig. Zahlreiche Neugründungen von Privattheatern fanden auch mit Lizenzen der SMAD gleich nach Ende des Krieges statt. Dieser private Sektor entwickelte sich jedoch nicht in der von der Besatzungsmacht gewünschten ideologischen Richtung und entzog sich einer zentralen Lenkung und Kontrolle. In den Jahren 1946 bis 1949 I 50 wurde mit Hilfe gesetzlicher Regelungen die Eliminierung dieses Sektors in der SBZ betrieben8. Bereits 1946 gaben sich einzelne Länder eigene Theatergesetze9 . Diese Gesetze regelten vor allem die Zulassungs- und Genehmigungsfragen sowie den Strafrahmen bei Zuwiderhandlungen. Es handelte sich also um grundsätzliche Kontrollinstrumente der Landesverwaltungen, verabschiedet von den Landtagen. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften wurden durch die jeweiligen Ministerien für Volksbildung erlassen. So heißt es beispielsweise in § 1 des Theatergesetzes des Landes Mecklenburg vom 12. 9. 1947: "Gewerbsmäßige Unternehmen zur Veranstaltung von Theater-, Kleinkunst- und ähnlichen Aufführungen, Handpuppenspielen und Konzerten, bei denen ein höheres Interesse der 6 Theater in der Zeitenwende (Autorenkollektiv): Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945- 1968, Erster Band, Berlin 1972, S. 31. 7 Ebenda, S. 26. 8 Ebenda, S. 26 u. 28: "Wieder Theater erleben zu können, das weckte aber auch das kleinbürgerliche Bedürfnis, sich im Rausch wirklichkeitsfremder Illusion zu betäuben. Morgenluft witternde kapitalistische Manager nutzten diese kleinbürgerliche Sucht nach Vergessen, um sie in klingende Münze zu verwandeln ... Nach 1948 vollzogen sich rasch ein schrittweiser Abbau und die Umwandlung der nach dem Krieg zahlreich gegründeten Privattheater in kollektive (kommunale, genossenschaftliche und staatliche) Eigentumsformen." 9 Vgl. Michael Müller: Die Entwicklung der staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen auf dem Gebiet des Theaterwesens der DDR 1949 bis zur Mitte der sechziger Jahre. Diplom-Arbeit HUB 1982, Anlage 6.

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Kunst oder Wissenschaft vorliegt, sowie die einzelnen Veranstaltungen dieser Art sind genehmigungspflichtig. " 10

Die Absicht einer Reglementierung der privat betriebenen Theater in ideologisch gewünschter Richtung wird aus dem Brief der Landesregierung Mecklenburg an das Ministerium für Volksbildung vom 9. 1. 1950 deutlich, mit dem sie den von ihr geforderten Vorschlag für ein einheitliches Theatergesetz begleitet: "Wenn wir auch der Meinung sind, daß gesetzliche Regelungen sich möglichst auf das gesamte Gebiet der Republik erstrecken sollten, so halten wir es doch für verfrüht, die Genehmigungspflicht für Gastspielreisen in den einzelnen Ländern aufzuheben, weil sofort wieder unkontrollierbare Veranstaltungen über das vorhandene Bedürfnis hinaus stattfinden würden und eine Zurückdrängung der privaten Bühnen sehr erschwert wird. Durch die Durchführung der Genehmigungspflicht haben wir die privaten Bühnen vollkommen beschränken können, die vom Veranstaltungsdienst der Deutschen Volksbühne (wirtschaftlich angeschlossen an das Landestheater) eingesetzt werden. Der Veranstaltungsdienst geht jetzt zur Aufstellung eigener Ensembles über und wird die beiden letzten privaten Varietes allmählich ganz eingliedern. Bei einer Aufhebung der GenehmigungserleiJung durch die Länder würde diese Entwicklung gestört." 11

Diese Kontrollfunktion wird bei allen Entwürfen - und es werden insgesamt neun sein- eines einheitlichen Theatergesetzes der DDR die zentrale Rolle spielen. Im Mai 1947 gibt die Deutsche Verwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone einen ,,Entwurf eines Theatergesetzes der Länder und Provinzen der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands" 12 heraus. Dieser Entwurf regelt in 13 Paragraphen die Zulassungsfragen und Auftrittsgenehmigungen sowie die staatliche Einflußnahme auf Personalentscheidungen bei leitenden Positionen. Das Reichstheatergesetz vom 15. Mai 1934 findet keine Anwendung. Dieser Entwurf wird nicht rechtswirksam. Nach Gründung der DDR wird die Forderung nach einem einheitlichen Theatergesetz immer wieder laut. So forderte Wolfgang Langhoff am 1. /2. April 1950 in der Jahresversammlung des Büros für Theaterfragen 13 die Schaffung eines solchen Gesetzes. Der erste nachweisliche Gesetzesentwurf nach Gründung der DDR stammt vom 9. Januar 1950 14 und gliedert sich in zwei Teile. Teil A behandelt die Theater-Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommem, RIG.BLATT Nr. 23 von 1947. VWA MfK 1998, Akten-Nr. 986/12, Bestand Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten. 12 Fassung vom 27. 5. 1947, Zentrales Staatsarchiv Potsdam (1989), R-2 1035-1036. 13 Büro für Theaterfragen. Gegründet im Juli 1948 als beratendes Gremium für Theaterbelange. Aufgelöstper 30. 4. 1958. Es wurde in Laufe der Zeit immer mehr von einem eingetragenen Verein zu einer nachgeordneten Einrichtung des Ministeriums für Volksbildung bzw. der Staatlichen Kunstkommission und des Ministeriums für Kultur. Vgl. auch: M. Müller. a. a. 0., S. 70-71. 14 Entwurf zu einem Theatergesetz der Deutschen Demokratischen Republik, VWA des MfK (1989), Akten-Nr. 986/12, Bestand Staatliche Komission für Kunstangelegenheiten. IO

II

Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR 1950/51

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Konzessionspflicht und umfaßt die Paragraphen 1 bis 6. Teil B regelt die Genehmigungspflicht und enthält die Paragraphen 7 bis 13. Als Muster diente dabei u. a. das Landestheatergesetz des Landes Thüringen, das im Aktenbestand dem Entwurf folgt. Nach Aktenkenntnis ist dieser Entwurf vom Januar 1950 der erste in der Reihe der Entwürfe, deren zweiter am 2. Oktober 1950 mit dem Buchstaben B bezeichnet wird und die dann fortlaufend bis zum letzten nachgewiesenen Entwurf vom August 1951 mit dem Buchstaben I enden. Im Teil A, Konzessionspflicht, regelt der Gesetzentwurf vom 9. 1. 1950 folgende Sachverhalte: § 1 Gegenstand und Geltungsbereich:

Gegenstand: "Gewerbsmäßige Unternehmen zur Veranstaltung von Theater-, Kleinkunst und ähnlichen Aufführungen, Zirkusse, Handpuppenspiele und Konzerte, auch Alleinunterhalter.. " 15 Geltungsbereich: " ... bedürfen einer Konzession des Ministeriums für Volksbildung desjenigen Landes, in dem die Unternehmer ihren Wohnsitz haben .. .. Die Konzessionseiteilung erfolgt, soweit es sich nicht um Unternehmen des Landes oder der Landesleitungen handelt, nach Anhörung des Rates des Kreises, in dem das Unternehmen ansässig ist und der Gewerkschaft Bühne, Film, Musik, Artistik. Die den einzelnen Künstlern ausgestellten Berufsausweise gelten nicht als Konzessionen im Sinne des vorstehenden Absatzes." 16 §2 §3

Gültigkeitsbereich. "Die von den Ländern der deutschen Demokratischen Republik erteilten Konzessionen haben für das ganze Gebiet der Republik Gültigkeit." 17 Bedingungen:

"a) ein öffentliches Bedürfnis vorliegt, b) der Bewerber bzw. sein Stellvertreter persönlich und politisch zuverlässig, fachlich geeignet und wirtschaftlich ausreichend leistungsfähig ist, c) die Eintrittspreise in angemessener Höhe gehalten sind." 18 §4

Garantien:

"Die Konzession kann von der Leistung einer Sicherheit für die Erfüllung der finanziellen Verpflichtungen abhängig gemacht werden. Gegebenenfalls entscheidet das Ministerium für Volksbildung über die Verwendung der Sicherheit unter Ausschluß des Rechtsweges."19 §5

Einspruch:

". . . kann der Antragsteller binnen zwei Wochen nach Zustellung des Bescheides schriftlich Einspruch erheben. Über den Einspruch entscheidet das Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik." 20 15 Ebenda, S. I. 16 Ebenda. 17 Ebenda. 1s Ebenda. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 33 Timmermann

514 §6

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Persona/fragen: "Intendanten, Direktoren, Schauspiel- und Verwaltungsdirektoren, Dramaturgen, verantwortliche Leiter von Theatern und konzessionierten Orchestern und ähnliche leitende Kräfte bedürfen, welche Bezeichnung sie auch führen mögen, zur Ausübung ihrer Tlitigkeit der Bestätigung durch das Ministerium für Volksbildung der Landesregierung." 21

Im Teil B, Genehmigungspflicht, wird folgendes geregelt: §7

Gastspielreisen: "Die Zulassung für Gastspielreisen innerhalb eines Landes hängt nach Prüfung der Bedürfnisfrage von der Genehmigung des zuständigen Ministeriums für Volksbildung ab. Für kreisansässige Unternehmen erteilt die Genehmigung der Rat des Kreises.'' 22

§8

Ausnahmen und Verpflichtungen: "a) Genehmigungsfrei sind die Gastspielreisen der im jeweiligen Landes ansässigen konzessionierten Theater und Gastspielunternehmen sowie die Veranstaltungsdienste der Deutschen Volksbühne. b) ... genehmigungsfrei die Veranstaltungen der demokratischen Organisationen und Institutionen mit selbst zusammengestellten Programmen, unabhängig davon, ob sie von Berufs- oder Laienkräften bestritten werden, soweit sie nicht mehr als sechsmal innerhalb 1/2 Jahres gebracht werden. c) Alle geplanten Veranstaltungen werden den örtlichen Kulturämtern zur Terminabstimmung gemeldet. " 23

§9

Zensur von Bühnenwerken: "a) Schauspiele, Operetten, Opern, Puppenspiele u.ä. Aufführungen können von den Volksbildungsministerien der Länder zwecks Fernhaltung von Kitsch und antidemokratischer Tendenzen untersagt werden. Die Textbücher sind zur Prüfung vor Einstudierung einzusenden. Aus gleichen Gründen unterliegen Variete- und Kabarettprogramme einer Abnahme durch eine Kommission der Landesregierung, b) von der Prüfung befreit sind Bühnenwerke, die nach 1945 bei demokratischen Verlagen erschienen sind."24

§ 10 Zensur von Konzerten:

"a) Gewerbsmäßige Konzertveranstalter, deren Wirkungskreis nicht über den Bereich des Heimatkreises hinausgeht, bedürfen der Genehmigung durch die Behörden des Veranstaltungsortes. b) Die Konzerte demokratischer Organisationen und Institutionen sind genehmigungsfrei, sie sind aber den Kulturämtern zur Terminabstimmung zu melden. c) Die Kulturämter haben Aufsichtspflicht darüber, daß die Konzertprogramme keine Werke unerwünschter Komponisten und Textdichter oder Werke antidemokratischer Tendenz enthalten." 25 21

Ebenda.

22

Ebenda, S. 2. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

23 24 25

Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR 1950 I 51

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§ ll Reglementierung der Veranstaltungsorte und -termine:

,,Zur Venneidung des Überschneidens von Veranstaltungen können die Volksbildungsministerien der Länder mit Einverständnis der Kreise Spielgebiete einteilen und Gastspielreisen regulieren. Sie können mit dieser Regelung andere Institutionen, wie den Veranstaltungsdienst der Deutschen Volksbühne, beauftragen. " 26 § 12 Widerruf"

"Konzessionen und Genehmigungen dürfen nur unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs erteilt werden.'m § 13 Art der Erlaubnis:

"Die Ministerien für Volksbildung der Länder entscheiden darüber, ob eine Konzessionspflicht vorliegt, oder ob die Ausstellung eines Wandergewerbescheins als genügend erscheint." 28

Der genannte Entwurf diente in den folgenden Wochen als Diskussionsgrundlage. Eine erste Stellungnahme dazu waren die .,Leitgedanken für die Erstellung eines Theatergesetzes" vom Büro für Theaterfragen (undatiert). Darin wird besonders die Stellung der Intendanten ausführlich behandelt und deren Recht, sich auf die Mitverantwortung gesellschaftlich-fachlicher Beiräte zu stützen, betont. So heißt es u. a ...... zwar soll der Intendant die letzte Entscheidung haben und hauptverantwortlich sein, er soll aber nicht der diktatorische alleinige Leiter des Theaters sein; die demokratische Mitarbeit und Mitverantwortung von beratenden und unterstützenden Kollektiven muß eingebaut werden."29 Das verwundert nicht, wenn die Zusammensetzung des leitenden Gremiums dieses Büros beachtet wird. Wolfgang Langhoff und Max Burghardt waren zu dem Zeitpunkt Intendanten großer Häuser und sprachen hier in Kenntnis der Situation auch in eigener Sache. Weitere Forderungen sind: die Bereitstellung der Mittel für die Theater im Haushaltsplan der DDR; alle Vermittlungen künstlerischen Personals sollen ausschließlich über den Zentralen Bühnennachweis geführt werden; die Pflege der Theatergebäude soll Sache der Unterhaltsträger sein; bei den Landesarbeitsgerichten sollen Extrakammern für berufsrechtliche Streitigkeiten eingerichtet werden. In den dazu gemachten Ergänzungen30 wird das Ausbildungswesen als ein gesetzlich verankerter Gegenstand gefordert. Als nächster Schritt folgt der Entwurf vom 21. 1. 1950, erarbeitet durch das Ministerium für Voksbildung 31 • Dieser Entwurf unterscheidet sich erheblich Ebenda. Ebenda. 28 Ebenda. 29 Büro für Theaterfragen: Leitgedanken für die Erstellung eines Theatergesetzes, undatiert (vmtl. Januar 1950), VWA des MfK (1989), Akten-Nr. 986/12, Bestand Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, S. 2. 30 Ebenda, Ergänzungen zu den Leitgedanken für die Erstellung eines Theatergesetzes, a. a.O. 31 Entwurf eines Theater-Gesetzes, 21. l. 1950, Ministerium f. Volksbildung, DR/ l 6045. 26

21

33•

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von dem vorherigen. Er umfaßt 9 Paragraphen, die nicht mehr vorrangig auf Genehmigungsfragen, sondern auf die rechtliche Stellung der Theater und ihrer Leitungsorgane abzielen. Dieser Entwurf hat einen deutlicheren Gesetzescharakter als der erste. Die Bemerkungen des Büros für Theaterfragen finden Berücksichtigung. Im Entwurf vom 21. 1. 1950 heißt es u. a.: § I Stellung und Unterstellung der Theater:

,,Alle Theater....werden von den Ländern unterhalten . .. Sie unterstehen der Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung der Landesregierung ... Die Theater. unterstehen der unmittelbaren Aufsicht des Ministeriums für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik. " 32 § 2 Leitung der Theater:

,,An der Spitze des Theaters steht ein Intendant. ...Er ist für die Leitung dem ihm vorgeordneten Ministerium unmittelbar verantwortlich. .... " 33 Beratende Gremien:

§ 3 ,,ZUr Unterstützung des Intendanten in verwaltungsmäßiger Hinsicht steht ihm ein Verwaltungsrat beratend zur Seite." 34 § 4 ,,Zur Unterstützung und Beratung des Intendanten in künstlerischer Hinsicht wird ein künstlerischer Beirat gebildet." 35 § 5 ,.In allen Angelegenheiten, die sowohl einer verwaltungsmäßigen wie einer künstle-

rischen Entscheidung bedürfen, beruft der Intendant den Verwaltungsrat und den künstlerischen Beirat zu gemeinsamen Vollsitzungen zusammen." 36

§ 7 Vertragsverpflichtungen:

,,Der Intendant hat für die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen des Theaters verantwortlich Sorge zu tragen. Die Tantiemen der Autoren gelten als bevorrechtigte Forderungen und sind binnen 48 Stunden nach der Aufführung auf ein vom Autor bzw. seinem Vertreter angegebenes Konto einzuzahlen." 37 § 8 Privattheater:

,,Privatuntemehmem ist der Betrieb von Theatern zur Veranstaltung von Schauspielen, Opern und Operetten untersagt. Die bisher erteilten Lizenzen erlöschen mit der Verkündung dieses Gesetzes. " 38

32 33 34

35

36 37 38

Ebenda, S. I. Ebenda, S. I. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 2. Ebenda.

Der Entwurf eines Theatergesetzes der DDR 1950/51

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§ 9 Rechtsstreitigkeiten:

" ... wird in jedem Land unter Ausschluß des ordentlichen Rechtsweges je ein Bühnenschiedsgericht errichtet, zur Entscheidung über Berufungen ein Bühnenoberschiedsgericht in Berlin."39

Dieser Entwurf wurde in den folgenden Wochen diskutiert. Das Volksbildungsministerium berief eigens eine Kommission für das Theatergesetz40 ein, der Vertreter des Ministeriums; der Bühnenleitungen; der Länder; der Akademie der Künste; der Gewerkschaft Bühne, Film, Musik, Artistik; der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehörigen; der Deutschen Volksbühne und des Büros für Theaterfragen angehörten. Darunter u. a. Dr. Allmeroth, Gerda Müller, Max Burghardt, Hanns Anselm Perten, Hans Rodenberg, Wolfgang Langhoff und Kurt Bork. Die Kommission stellte in ihrer Sitzung am 5. 9. 1950 zum Charakter des Gesetzes fest: "Es handelt sich bei der Schaffung des Theatergesetzes um ein Rahmengesetz ... daß ein solches Gesetz sich einmal auf die berufsmäßigen TheaterUnternehmungen beschränken muß und daß zum anderen nur die wirklich wesentlichen Punkte enthalten sein müssen, die sich eindeutig auf allgemeine Bestimmungen im Theaterbetrieb beziehen."41 Zum ersten Entwurf trafen Stellungnahmen verschiedener Institutionen ein. So zum Beispiel von der Gewerkschaft 19, Bühne, Film, Musik, Artistik, mit Datum 23. 8. 1950.42 Darin wird besonders auf die Rolle der Gewerkschaft bei der Entscheidungsfindung durch den Intendanten eingegangen. Es heißt dort: ,,Die BGL43 und das Kollektiv der Vorstände unterstützen den Intendanten bei der Leitung des Theaters. Die Intendanten sind verpflichtet, in allen Fragen der Spielplangestaltung mit den Massenorganisationen zusammenzuarbeiten. Federführend flir die Massenorganisationen ist der Deutsche Volksbühnenbund." Das Büro für Theaterfragen legte nach den ersten Leitgedanken vom Januar 1950 dann im September 1950 eine ,,Denkschrift über die Notwendigkeit eines Theatergesetzes"44 vor, die als eine politische Leitlinie bezeichnet werden kann. Hierin werden das Anliegen und der Inhalt des Gesetzes benannt. Auch Konflikte zu bestehenden Regelungen und notwendige Abgrenzungen werden thematisiert. Als Gegenstand des Gesetzes sieht das Büro nur solche "Theater-Unternehmungen, die berufsmäßig Schauspiele, Opern, Operetten und Tanzdramen veranstalEbenda. BA DR/1 6045: darin: Beschluß-Protokoll über die Sitzung der Kommission für das Theatergesetz am 5. 9. 1950. 41 Ebenda. 42 BA DR/1 6045, darin: Brief des FDGB, Gewerkschaft 19 vom 23. 8. 1950 an Ministerium für Volksbildung. 43 BGL: Betriebsgewerkschaftsleitung. 44 Büro für Theaterfragen: Denkschrift über die Notwendigkeit eines Theatergesetzes, VWA MfK, Akten-Nr. 986/12, Bestand Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten. 39

40

Ursula Hahlweg-Elchlepp

518

ten."45 Das schließt die Puppentheater und Orchester eindeutig aus. Die Unterstellung der Theater soll zentralistisch, das heißt unter die Landesverwaltungen oder die DDR-Zentralverwa1tung, erfolgen. Einschränkend macht das Büro die Feststellung, daß die neuen Haushaltsrichtlinien für 1951 dem jedoch entgegenstehen. Es besteht weiter auf einer grundsätzlichen Klärung im gewünschten Sinn. Nach einem historischen Exkurs wird dann der Schluß gezogen, daß Privattheater nicht mehr betrieben werden sollten. Zur Begründung zentraler Verwaltungsstrukturen wird u. a. ausgeführt: .,Die Aufgaben des Theaters unserer Gegenwart und Zukunft in der fortschrittlichen Spielplangestaltung sind undurchführbar, wenn die Mittel für das Theater auf der Stadtebene vom Rentabilitätsstandpunkt aus betrachtet werden. Ein fortschrittlicher Spielplan mit Schwergewicht auf dem Schauspiel wird mehr zu Risiken neigen und kann infolgedessen nicht der Entscheidung lokaler Behörden überlassen werden."46 Wie ideologiebestimmt diese Auffassung ist, liegt auf der Hand. Der befürchtete Kontrollverlust bei nichtzentralistischer Strukturierung des Theaternetzes wird deutlich ausgesprochen. Ebenfalls klar gefordert wird eine Bereinigung der Struktur durch Zusammenlegung von Theatern. So heißt es u. a.: .,Bei der Planung unseres Kulturlebens werden unter Umständen entscheidende Maßnahmen beschlossen werden müssen zur Zusammenlegung von Theatern oder zu mindestens zur rationellen Ausnützung der einzelnen Kunstgattungen im Landesmaßstab, so daß es denkbar wäre, daß in einer Stadt ein Opern-Ensemble gehalten wird unter dem Gesichtspunkt, benachbarte Städte mit diesem Opern-Ensemble zu bespielen. Das war bei dem Kultur-Egoismus der kleinen Theaterstädte nicht möglich, weil sie sich dabei auf eine Kulturtradition stützten, die unter den veränderten Verhältnissen heute nicht mehr gegeben ist."47 Und noch eine Passage der Denkschrift, die einer zentralistischen Theaterpolitik den Vorrang gibt, sei hier zitiert: .,Schließlich ist auch der Einwand hinfällig, daß die zentrale Organisation der Theater einen Eingriff in die Selbstverwaltung der Städte darstellt. Bei der angespannten Finanzlage der Städte, entstanden im Kultursektor durch Unterhaltung von Schulen, Museen, sportlichen Einrichtungen, Büchereien usw., sind die Städte sehr geneigt, die Lasten für die Theater von sich abzuschieben, da bei der Ungewißheit der Einnahmen häufig Nachforderungen notwendig werden, und dadurch die städtische Plandisziplin verletzt wird. Für die Finanzlage der Städte ist es viel besser, wenn sie mit festen Zahlungen rechnen können als mit schwankenden Einnahmen. Infolgedessen würde es analog wie im Schulwesen am Platz sein, daß die Städte nur die Theatergebäude zu unterhalten, mit den sonstigen Kosten des Theaterbetriebes aber nichts zu tun haben. Daneben wäre zu erwägen, ob, was man jetzt schon für die theaterlosen Städte plant, auf alle •~

46 47

Ebenda, S. I. Ebenda, Punkt 4., S. 4. Ebenda, Punkt 6., S. 4.

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Städte auszudehen wäre: nämlich feste Kulturbeiträge von allen Städten anzufordem."48 Es folgt mit Datum 2. 10. 1950 der Entwurf B49 , der bereits eine Präambel besitzt und 15 Paragraphen umfaßt. Die Präambel proklamiert das Deutsche Nationaltheater und bezieht sich auf gewerkschaftliche Traditionen. Es heißt darin: ,,Mit dem vorliegenden Gesetz ist der nunmehr 70jährige Kampf der gewerkschaftlich organisierten Bühnenschaffenden für ein fortschrittliches Theatergesetz beendet. Erstmalig in der deutschen Geschichte kann die Bühnenkunst nicht mehr zum Objekt materieller Spekulationen privater Unternehmen degradiert werden, denn die Theater werden sich ausschließlich in der Hand des Volkes befinden.''50 §I

definiert den Begriff Theater und seinen Geltungsbereich: "I) Theater sind Einrichtungen, in denen die berufsmäßigen Aufführungen von Bühnenwerken wie Schauspiele, Opern, Operetten und Tanzwerke durchgeführt werden. Sie werden nur von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, den Regierungen der Länder, den Organen der Kreise, Städte und Gemeinden und in den durch Regierungsbeschluß genehmigten Einzelfällen von demokratischen Massenorganisationen unterhalten und betrieben. 2) Neugründungen, Schließungen und die Wiederöffnung von Theatern bedürfen der Zustimmung des Ministeriums für Volksbildung der DDR."51

Im Vergleich zum Entwurf vom 21. 1. 1950 wird neben der Stellung und Unterstellung auch der Begriff Theater als Institution definiert. '§ 2 regelt die Aufgaben der Theaterleitungen: Neben dem Intendanten wird der Verwaltungsdirektor ausdrücklich benannt. Im Sinne eines Haushaltsverantwortlichen untersteht dieser dem Intendanten. Seine Aufgabe ist unter 2) geregelt: ,,Für die Einhaltung der Haushaltspläne und Bewirtschaftung der Mittel ist der Verwaltungsdirektor sowohl dem Intendanten als auch dem Rechtsträger des Theaters direkt verantwortlich." 52 Damit war gegenüber der Fassung vom Januar 1950 die Forderung aus der Denkschrift nach zentralistischer Kontrolle berücksichtigt worden. § 3 regelt die Wahl der Leitungskader:

Intendanten und Verwaltungsdirektoren sind Berufungspositionen und werden durch die jeweiligen Landesregierungen vorgeschlagen und vom Volksbildungsministerium der DDR berufen; die übrigen leitenden Positionen werden vom Intendanten besetzt, bedürfen jedoch der Zustimmung der Volksbildungsministerien der jeweiligen Länder; für die Abberufungen gilt es analog. Damit geht dieser Entwurf über den vom Januar 1950 hinaus und regelt Verfahrensfragen. Ebenda, Punkt 5., S. 7. BA DR/1 6045, darin: Entwurf B vom 2. 10. 1950, 14 S. mit handschr. Korrekturen bzw. Ergänzungen. 50 Ebenda, S. I. s1 Ebenda, S. 2. s2 Ebenda. 48 49

520 §4

Ursula Hahlweg-Elchlepp postuliert die Pflicht zur Planung: "1) Die Theater haben spätestens bis zum Schluß der Spielzeit einen Arbeitsplan für die folgende Spielzeit aufzustellen. 2) Der Arbeitsplan gliedert sich in a) Spielplan b) Bespielungsplan c) Finanzplan (Haushaltsplan) 3) Bespielungsplan und Finanzplan bedürfen der Bestätigung des Ministeriums für Volksbildung der zuständigen Landesregierung." 53 Dieser Paragraph ist gegenüber dem vorherigen Entwurf neu. Er ist Ausdruck einer zentralen Kontrolle und steht anstelle der demokratischen Beteiligung beratender Gremien (Verwaltungsrat I künstlerischer Beirat).

§ 5 Genehrnigungsverfahren:

Alle Spielpläne unterliegen einer Genehmigungspflicht Dazu wird eine Zentrale Spielplankommission beim Volksbildungsministerium eingerichtet. "2) Neben der Genehmigung der Spielpläne obliegt der Zentralen Spielplankornmission die Zulassung von Bühnenwerken." 54 §6

Aufgaben der Gewerkschaft: Es wird der Abschluß einer Betriebsvereinbarung zwischen Leitung und Gewerkschaft unter Ziffer I auferlegt, die eine Mitberatung in künstlerischen und eine Mitbestimmung in den übrigen Fragen gewährleisten soll. Die Betriebsgewerkschaftsleitung wird unter Ziffer 2 beauftragt, ,,Maßnahmen zur staatspolitischen Schulung durchzuführen.''55 Das bedeutet einerseits die Beschränkung der Mitbestimmung auf die gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter bzw. deren Vertreter, andererseits aber eine Einbeziehung aller Mitarbeiter in die ideologische Beeinflussung.

§7

Regionale Theaterausschüsse: Als zusätzliches beratendes Gremium soll ein Theaterausschuß gebildet werden, dem der Intendant, Verteter der örtlichen Verwaltungen, der Massenorganisationen - besonders der Deutschen Volksbühne, des Kulturbundes, des FDGB und der FDJ angehören müssen. (I) "(2) Der Arbeitsplan des Theaters ist dem Theaterausschuß jeweils zur Beratung vorzulegen.''56

§8

Zentrale Theaterausschüsse: Bei den Landesregierungen bzw. beim Ministerium für Volksbildung sind analoge Ausschüsse zu bilden. Sie haben beratende Funktion.

§9

Vermittlung: Die Vermittlung ist nach dem Gesetz für Arbeit zu regeln. Damit beauftragt wird der Zentrale Bühnennachweis. Die Beschäftigung in einem künstlerischen Beruf bedingt

53 Ebenda, S. 5. S4 Ebenda, S. 6. ss Ebenda, S. 7. 56 Ebenda, S. 8.

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521

einen Abschluß an einer staatlichen Fachschule. Das bedeutet ein zentral gelenktes staatliches Vermittlungs- und AusbildungsmonopoL § 10 Arbeitsbedingungen:

Es gilt das Gesetz der Arbeit für alle Arbeitsbedingungen als Grundlage. § 11 Ausbildung: (I) Die Ausbildung ist auschließlich durch staatliche Institute durchzuführen.

(2) Ausnahmeregelungen bedürfen der Genehmigung durch das Ministerium für Volksbildung. (3) Im musikalischen Bereich sind bedingt Zusatzausbildungen bei staatlich zugelassenen privaten Pädagogen zugelassen.

§ 12 Weiterbildung:

Der Intendant trägt die Verantwortung für die Weiterbildung des bühnenkünstlefischen Nachwuchses an seinem Theater. § 13 Zustand der Theater und Spielstätten: "Die Theater und die nicht ständigen Spielstätten in Abstecherorten sind gemäß ihrer Bedeutung als Kulturstätten würdig und spielfertig zu unterhalten. Verantwortlich ist jeweils die Gemeinde." 57 § 14 Durchführungsbestimmungen:

Werden vom Ministerium für Volksbildung oder ggf. vom Ministerium für Arbeit gemeinsam mit dem Ministerium der Finanzen und dem Ministerium des Innern erlassen. § 15 Inkrafttreten: (1) mit Verkündigung . . .

(2) ("Alle diesem Gesetz entgegenstehenden früheren reichsrechtlichen und landesrechtilchen Bestimmungen werden durch dieses Gesetz aufgehoben."

Diesem Entwurf B folgte eine weitere Diskussionsrunde. In einem Protokoll vom 11. 10. 1950 der Hauptabteilung Kunst und Literatur, Referat Theater, des Ministeriums für Volksbildung58 finden sich Änderungsvorschläge zum Entwurf B. Der Gesetzentwurf in seiner Grundstruktur und in seinem Umfang wird jedoch nicht wesentlich verändert. Zum Rahmengesetz selbst beziehen sich diese Vorschläge allein auf den § 11, Ausbildung. Darin wird die Ausbildung an eine Eignungsprüfung gebunden, außerschulischer Unterricht durch private Lehrer zurückgenommen und Externen-Prüflinge dürfen nur nach vorheriger Überprüfung ihrer fachlichen, politischen und gesundheitlichen Eignung durch die Schulleitung zugelassen werden. Zu den Ausführungsbestimmungen werden unter I. Fachschulen in § 1 bis § 7 die Aufgaben der staatlichen Fachschulen sowie deren Errichtung bestimmt. Danach haben diese " ... die Aufgabe, den Schülern die Beherrschung der künstleEbenda, S. 13. VWA MfK, 986/12,(Ministerium für Volksbildung) Protokoll der HA Kunst und Literatur, Referat Theater vom 11. 10. 1950,4 S. 57

58

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Ursula Hahlweg-Elchlepp

rischen Ausdrucksmittel, fachliches Wissen sowie ausreichende Kenntnis der Gesellschaftswissenschaft und die Grundlagen der heutigen ideologischen Entwicklung zu vermitteln." 59 Die Einrichtung von Fachschulen für Schauspiel und Oper (Operette) in Berlin, Halle, Weimar, Leipzig und Rostock wird angekündigt. Unter li. Abschlußprüfung werden in § 8 bis § 12 Funktion, Modalitäten und Prädikate der Prüfungen definiert. Der Abschluß berechtigt zur Berufsausübung. Die Anstellung selbst wird in Punkt III in den Paragraphen 13 und 14 geregelt. Danach ist die Anstellung nur im Einvernehmen zwischen staatlicher Vermittlung und Schule möglich und an eine Bindungsfrist von zwei (Schauspiel) bzw. einem (Oper) Anfagerjahr an dem jeweiligen Theater gebunden. Entwurf C vom 16. l 0. 1950 berücksichtigt diese und weitere Vorschläge. Neben zahlreichen stilistischen Überarbeitungen sind inhaltliche Veränderungen zu Entwurf B die folgenden: - Streichung der Präambel. - § 4 Planung wird erweitert um Punkt 4, der die Bindung der Landesregierungen an zentrale Richtlinien des Ministeriums für Volksbildung festschreibt. - § 11 Ausbildung präzisiert die Ausnahmefälle einer Ausbildung an Theatern

und schränkt diese weiter wie folgt ein: "Die Zulassung kann auf ein bestimmtes Fachgebiet beschränkt werden. Die Ausbildung hat an einer dem Theater angegliederten Schule zu erfolgen." 60

Die Abteilung Kultur des ZK der SED vermerkt in ihrem Beschlußprotokoll vom 3. 11. 1950: "Die Genossen Rentzsch und Herzog bereiten bis zum l 0.11. eine Sekretariatsvorlage zum Gesetz über Theaterfragen vor."61 Die Deutsche Akademie der Künste befaßte sich in mehreren Sitzungen mit dem Theatergesetz. So hält das Protokoll vom 6. 11. 195062 fest, daß bisher noch kein Entwurfstext eingegangen sei und die Mitglieder der Akademie "als oberstes Organ in Angelegenheiten der Kunst und Kultur" dieses Gesetz nicht anerkennen werden, ehe sie es nicht geprüft haben. Auf einer außerordentlichen Plenarsitzung am 13.11. 1950 - inzwischen muß der Text vorgelegen haben - werden nach einer Diskussion Änderungsvorschläge formuliert. So wird die Beteiligung der Akademie in Streitfragen der künstlerischen Qualität eingefordert und als gesonderter Paragraph formuliert. Ohne Änderungsvorschläge äußert sich der Zentralvorstand der Deutschen Volksbühne am 11. 12. 1950 zustimmend zum Gesetz: "Die Zentralleitung der deutschen Volksbühne hat in ihrer Arbeitstagung am 8. und 9. Dezember ds. Js. zu 59 1>0 61

52. 62

Ebenda, S. I. BA DR/ I 6045, darin: Entwurfe voml6. 10. 1950, 14 S., S. 12. ZPA IML, IV 2/906/ II, ZK der SED, Abteilung Kultur, Abteilungsberatungen 1948Zentrales Parteiarchiv der DDR, NL 90/536 Akademie der Künste, darin Blau 147 ff.

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den Arbeitsaufgaben im Jahr 1951 Stellung genommen und sich dabei auch mit dem Inhalt des kommenden Theatergesetzes befaßt. Die gesamte Arbeitsplanung wird bereits ab I. Januar 1951 den Grundsätzen entsprechen, wie sie durch das Theatergesetz zur Anwendung kommen sollen ... Wir sprechen deshalb die dringende Bitte aus, das Theatergesetz möglichst in den nächsten Wochen zur Verabschiedung zu bringen, damit die Theater selbst, sowie alle beteiligten Behörden und Organisationen rechtzeitig die Vorarbeiten für eine ordnungsgemäße Aufstellung der Bespielungspläne für das Spieljahr 1951/52 in Angriff nehmen können."63 Zu Entwurf C gibt es weiter eine Stellungnahme des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen vom 25. 11. 195064 , in der zu den Paragraphen 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 und 15 Änderungsvorschläge gemacht werden. Es handelt sich dabei überwiegend um Formulierungsfragen. Inhaltliche Einwände betreffen den § 6, die Arbeit der beratenden Gremien bzw. die Rolle der Gewerkschaft. Hier heißt es: ,,Zu § 6, Ziff.l: Es ist empfehlenswert, erneut zu überprüfen, inwieweit die Mitbestimmung der Mitglieder des Theaters in den kulturpolitischen Fragen des Theaters kollidiert mit den Aufgaben der Zentralen Spielplankommission. . ..Zu § 6, Ziff. 2: Es ist nicht möglich, durch Gesetze und Verordnungen den Betriebsgewerkschaftsleitungen Weisungen und Auflagen zu erteilen. Dies können nur die den BGL übergeordneten Organe der Gewerkschaften tun."65 In einem Brief vom 29. 11. 195066 reagiert das Ministerium für Justiz auf den Entwurf. Hauptabteilungsleiter Dr. Nathan erhebt keine grundsätzlichen Bedenken, macht aber Einwände und fügt einen Gegenentwurf bei, der jedoch "mehr in der Form als im Inhalt von Ihrem Entwurf abweicht."67 Zu § I Eigentumsform und Geltungsbereich weist er auf vergleichbare Gesetzesentwürfe wie den eines Bibliothekengesetzes und den eines über die Kinotheater hin und empfiehlt die Erweiterung der Genehmigungspflicht auch für Laientheater. Zur Problematik privaten Unterrichtes wird ausgeführt: "Hier scheint es mir notwendig, ein klares Verbot der privaten Theaterschulen aufzustellen. Damit soll der Einzelunterricht für zugelassene Privatlehrer . . . nicht getroffen werden. Wie weit die Schüler der staatlichen Theaterinstitute zusätzlich die Dienste solcher Privatlehrer in Anspruch nehmen, wird ihnen selbst bzw. der Leitung des staatlichen Theaterinstituts überlassen bleiben müssen. Eine Einflußnahme durch das Gesetz dürfte kaum möglich 63 BA DR/1 6045, darin Brief der Zentralleitung der Deutschen Volksbühne vom II. 12. 1950 an das Ministerium für Volksbildung. 64 BA DR /I 6045, darin Brief des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen, Hauptabteilung Arbeit, Arbeitsrecht, vom 25. II. 1950 an Ministerium für Voksbildung, HA Kunst und Literatur, 2 S. 65 Ebenda, S. 2. 66 BA DR/1 6045, darin Brief des Ministeriums der Justiz der DDR, Hauptabteilung Gesetzgebung, vom 29. II. 1950 an das Ministerium für Volksbildung, HA Kunst und Literatur, 4 S. mit Anlage vom 19. II. 1950, Entwurf D Theatergesetz, 12 S. 67 Ebenda, S. I.

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Ursu1a Hah1weg-Elch1epp

sein."68 Interessant ist die Bemerkung zum § 15, im Gegenentwurf § 16, Inkrafttreten. "Hier hielt ich es für nötig, ausdrücklich zu sagen, daß das hitlerische Theatergesetz seine Wirksamkeit verloren hat, soweit einzelne Teile desselben noch anwendbar waren." 69 Der Schlußsatz lautet: "Ich halte es gleich Ihnen für nötig, die gesamte, nicht leicht zu behandelnde Materie in einer gemeinsamen Besprechung, womöglich unter Hinzuziehung von Vertretern des Ministeriums des Innem und des Ministerium für Arbeit eingehend zu klären."70 Der dem Brief als Anlage beigefügte Gegenentwurf trägt die Bezeichnung D und wird Grundlage für den EntwurfE vom 9. 12. 195071 . Immer noch ohne Präambel umfaßt dieser Entwurf 15 Paragraphen. Diese folgen denen des Entwurfes C, sind in ihren Formulierungen jedoch präziser und damit eindeutiger. Die Änderungen entsprechen den Vorgaben des Ministeriums für Justiz. So werden z. B. die Berufungszuständigkeiten für Intendant und Verwaltungsdirektor unter § 3 in 3 Absätzen klar geregelt. Bei den Arbeitsplänen in § 4 wird der 30. Juni jeden Jahres als Abgabetermin für den Arbeitsplan des Folgejahres festgelegt. Bestandteil des Arbeitsplanes sind: Spielplan, Bespielungsplan und Finanzplan. Die Arbeitspläne sind von den zuständigen Ministerien für Volksbildung der Länder bzw. der DDR zu bestätigen. Ausnahme bilden der Spielplan und die Zulassung von Bühnenwerken, die gemäß § 7 ausschließlich durch das Ministerium für Volksbildung der DDR, beraten von einer Zentralen Spielplankommission, genehmigt werden müssen. Die Mitbestimmung der Belegschaft regelt der§ 5 mit Bezug auf das Gesetz der Arbeit vom 19. 4. 1950. Damit wird das Monopol der Gewerkschaft formal umgangen. Neu gefaßt ist der § 13 Aufsichts- und Weisungsrecht In ihm lautet es ausdrücklich: "Sämtliche Theater unterliegen dem Aufsichts- und Weisungsrecht des Ministeriums für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik. Dieses Aufsichts- und Weisungsrecht erstreckt sich auch auf die Eigentümer von Theaterräumen, Bühnen und Spielstätten, die nicht einer der im § I aufgezählten juristischen Personen oder Organisationen angehören .. . Die aufsiehtführenden Stellen sollen insbesondere dafür sorgen, daß auch Theaterräume, Bühnen und Spielstätten gern. Satz 2 ihrer Bedeutung als Kulturstätten würdig und spielfertig unterhalten werden."72 Die Anmerkungen zum Theatergesetz, die dem Entwurf E unmittelbar folgen, kommentieren den Gegenentwurf des Justizministeriums im Vergleich zu Entwurf D des Ministeriums für Volksbildung und begründen dessen neue Fassung als 68 69

10

Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 3-4. Ebenda.

71 VWA des MfK, Bestand Staatliche Kommission für Kunstange1egenheiten, AktenNr. 986/12, darin: EntwurfE vom 912.1950, 6 S. sowie Anmerkungen zum Theatergesetz, Entwurf E, 2 S. n Ebenda, S. 5.

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Entwurf E. Dabei werden praktische Erfahrungen der Mitarbeiter dieser Behörde im täglichen Umgang mit den an den Theatern Beschäftigten sowie weiteren Angehörigen der Intelligenz deutlich. So heißt es zu § 5 (Spielplankommission) im Entwurf des Justizministeriums: ,,Der Kommission sollen Vertreter der demokratischen Massenorganisationen und hervorragende Vertreter des Theaters und der Theaterkritik angehören.'m In den Anmerkungen wird dazu ausgeführt: "Es wird vorgeschlagen, ,hervorragend' zu streichen, da sonst die Möglichkeit ausgeschlossen wird, daß besonders geeignete, aber nicht besonders namhafte Vertreter ernannt werden, während ,Prominente' Beschwerde führen, daß sie nicht mitzuberaten haben. Die Spielplankommission soll nicht, wie Justizministerium vorsieht, genehmigen und entscheiden, sondern das Ministerium beraten."74 Ein kritischer Punkt war die Zulassung zur Berufsausübung. "Bühnenschaffenden, die schon lange im Beruf sind, kann eine Abschlußprüfung an einer Theaterschule nicht zugemutet werden. Auch die ununterbrochene Berufsausübung während einer bestimmten Anzahl von Jahren kann nicht Bedingung sein, da dann Emigranten und von den Nazis ausgeschlossen gewesene Bühnenkünstler nicht mehr tätig sein dürften und gegenüber den von den Nazis Begünstigten schwer benachteiligt wären."75 Deshalb legt§ 10 des Entwurfes E, Absatz 2, die Erteilung einer Zulassung in die alleinige Verantwortung des Ministeriums für Volksbildung. Darunter fallen somit alle an staatlichen künstlerischen Fachschulen der DDR erworbenen Abschlüsse sowie die durch das Ministerium erteilten Sondergenehmigungen. In einer Hausmitteilung vom 18. I. 1951 meldet das Referat Musik der HA Kunst und Literatur des Volksbildungsministeriums seine Ansprüche an. "In dem neuen Entwurf des Theatergesetzes muß unbedingt ein Passus aufgenommen werden, der die Verpflichtung eines musikalischen Oberleiters und des I. Dirigenten eines Konzertorchesters von der Bestätigung des Ministeriums für Volksbildung der DDR abhängig macht."76 Dies geschieht nicht. Die Trennung von Theaterapparat und Orchestern bleibt bis 1990 bestehen. Gründe dafür sind hauptsächlich tarifrechtlicher Natur. Der Entwurf F vom 22. I. 1951 hat wieder 15 Paragraphen, die denen des Entwurfes E folgen. Neu sind die Überschriften zu den Paragraphen. Sie lauten:

73 BA DR/1 6045, darin Brief des Ministeriums der Justiz der DDR, Hauptabteilung Gesetzgebung, vom 29. II . 1950 an das Ministerium für Volksbildung, HA Kunst und Literatur, 4 S. +Anlage vom 19. II. 1950, Entwurf D Theatergesetz, 12 S. 74 VWA des MfK, Bestand Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, AktenNr. 986/12, darin: EntwurfE vom 9. 12. 1950,6 S. sowie Anmerkungen zum Theatergesetz, EntwurfE, S. I. 75 Ebenda, Anmerkungen S. 2. 76 BA DR /I 6045, darin Hausmitteilung der HA Kunst und Literatur, Referat Musik vom 18. I. 1950 an Bork und Erpenbeck, I S.

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Ursula Hahlweg-Eichlepp

§I §2

§3 §4 §5 §6 §7 §8 §9 § 10 § II § 12 § 13 § 14 § 15

Rechtsträger71 Aufgaben des Intendanten und des Verwaltungsdirektors Ernennung und Entlassung des leitenden Theaterpersonals Arbeitspläne Zentrale Spielpankommission Örtliche Theaterau3schüsse Landestheaterausschüsse Betriebsvereinbarung Arbeitsverhältnisse Ausbildung des Bühnennachwuchses Staatliche Bühnenvermittlung Übergangsbestimmungen Aufsichts- und Weisungsrecht Durchführungsbestimmungen Schlußbestimmungen

Mit den Überschriften ist zugleich eine klare inhaltliche Bestimmung der einzelnen Paragraphen gegeben. Das Gesetz ist als Rahmengesetz angelegt und läßt weitere Durchführungsbestimmen offen. Es trägt den Charakter eines verwaltungsrechtlichen Konstruktes und nimmt die Verwaltungsreform von 1952, die eine Auflösung der Länder zugunsten von Regierungsbezirken (Bezirken) unter zentraler staatlicher Leitung beinhaltet, bereits vorweg. Am 12. 2. 1951 liegt der Entwurf G78 vor. Er entspricht dem Entwurf F bis auf folgende Änderungen: §I

Rechtsträger, Absatz 2) "Für die von der Republik betriebenen Theater bedarf es der Zustimmung der Regierung."

§6

Örtliche Theaterausschüsse, Absatz 2) Zusätzlich zu aufgeführten Vertretern gehört auch der Intendant zu den zu berufenden Mitgliedern.

77 Mit diesem Begriff definiert der Gesetzgeber den derzeitigen Verwalter, nicht den Eigentümer. Eigentum im Sozialismus wird als Volkseigentum deklariert, sofern es nicht als persönliches (privates) Eigentum ausgenommen ist; vgl. auch: Verwaltungsrecht Lehrbuch. Staatsverlaag der DDR, Berlin 1979, S. 282 ff.: "Die sozialistischen Betriebe und Einrichtungen sind Träger des gesamt-gesellschaftlichen Volkseigentums. Auf dem Volkseigentum beruht in erster Linie das sozialistische Wirtschaftssystem ... Aus dem Charakter und der Funktion des Volkseigentums ergibt sich, daß bei seiner Nutzung durch die Rechtsträger oder die zuständigen staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe bzw. bei deren Änderung keine Notwendigkeit für eine Entschädigung besteht, im Unterschied zur Inanspruchnahme von Eigentum der Bürger. Muß die Zweckbestimmung bestimmter Fonds des Volkseigentums geändert werden, so geschieht das im Rahmen der Leitung und Planung der Volkswirtschaft oder anderer gesellschaftlicher Bereiche im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Dazu wird ein Rechtsträgerwechsel vorgenommen. Das Eigentum ändert dadurch jedoch seinen Charakter nicht, es ist und bleibt Volkseigentum." 78 BA DR/1 6045, Entwurf G Theatergesetz vom 12. Februar 1950, 15 S. mit handschriftlichen Zusätzen.

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§ 10 Ausbildung des Bühnennachweises

Absatz I): Der Begriff "private Theaterschulen" wird durch den Begriff "private Ausbildungsinstitute" ersetzt. Absatz 3): Die Ausbildung bei privaten Pädagogen ist den Schülern der staatlichen Ausbildungsinstitute nur mit Zustimmung des Institutsleiters gestattet. § II Staatliche Bühnenvermittlung, Absatz l)

Es erfolgt ein ausdrücklicher Hinweis auf die grundsätzliche Zuständigkeit der Arbeitsämter.

Dieser Entwurf ist Gegenstand einer Beratung am 24. 2. 1951 im Ministerium für Volksbildung. Geladen sind dazu Vertreter des Justizministeriums, des Ministeriums für Arbeit, des Ministeriums des Innem und des Ministeriums für Finanzen. 79 Der Entwurf H 80 liegt mit Datum 27. 2. 1951 vor. Er enthält keine Präambel und entspricht in Umfang und Gliederung dem Entwurf G. Inhaltliche Änderungen betreffen folgende Passagen: §I

Rechtsträger, Absatz 3) Die Genehmigungspflicht für Aufführungen von Laienbühnen entfällt.

§ 3 Anstellung und Entlassung des Theaterpersonals Die Begriffe "Ernennung in I} und 2} werden durch "Anstellung" ersetzt; In 4} wird der Begriff ,.Genehmigung" durch den Begriff ,.Zustimmung" ersetzt §4

Arbeitspläne Absatz I) erhält die Ergänzung "Der Arbeitsplan dient als Grundlage zur Aufstellung des Haushaltplanes für das kommende Kalenderjahr." Absatz 2) wird aus § 5 des Entwurfes G übernommen. Die Reihenfolge der Paragraphen 6 und 7 wird vertauscht, es heißt nun:

§6

Landestheaterausschüsse

§7

Örtliche Theaterausschüsse

§ 10 Ausbildung des Bühnennachwuchses

In Absatz 2) Ausnahmen entfällt der Passus "Die Ausbildung kann erfolgen: a) in einer dem Theater angegliederten Schule; b} im Theaterbetrieb." Das ist nunmehr nur noch am Theater selbst möglich. Der Absatz 3) Private Pädagogen ist gestrichen § II Staatlicher Bühnenachweis statt ,.Staatliche Bühnenvermittlung" § 12 Übergangsbestimmungen entfällt, dafür

§ 12 Aufsichts und Weisungsrecht Absatz 2) entfällt, dafür neu 79 BA DR/ I 6045, Brief der Rechtsstelle des Ministeriums für Volksbildung an das Ministerium des Innern vom 20. 2. 1950, I S. so BA DR/1 6045, Entwurf H Theatergesetz vom 27. Februar 1950, 15 S. mit handschriftlichen Zusätzen.

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Ursula Hahlweg-Elchlepp

§ 13 Nichtständige Spielstätten

Absatz I) entspricht § 13, Absatz 2) von Entwurf G Absatz 2) ist neu und lautet: .,Die Bereitstellung von Spielstätten und deren Errichtung kann auf dem Verwaltungswege erzwungen werden."

An diesem Entwurf wird weitergearbeitet. So zeigen bereits die handschriftlichen Änderungen eine weitere Arbeit am Text. In der Folgezeit wird dieser Entwurf mit allen zuständigen Ministerien, Institutionen und Organisationen diskutiert. So vom Ministerium für Justiz vom 12. 3. 1951 81 . Darin wiederholt Dr. Nathan den Hinweis, auf § 13 (Nichtständige Spielstätten ) zu verzichten mit der Begründung. .,Es würde keinen allzu günstigen Eindruck machen, wenn man es für notwendig halten würde, diese Einrichtungen durch ein Gesetz zur Einhaltung einer derartigen selbstverständlichen Pflicht anzuhalten. Wenn ausnahmsweise ein Kulturdirektor oder ein sonstiger Funktionär eines volkseigenen Betriebes oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder Anstalt diese Pflicht vernachlässigt, müssen die Gewerkschaften, nötigenfalls auch die vorgesetzten Dienststellen für eine Bewußtseinshebung der betreffenden Person Sorge tragen. Das sind aber alles Dinge, die nicht in ein Gesetz gehören."82 Das Staatssekretariat für Berufsausbildung in seiner Stellungnahme vom 15. 3. 1951 83 meint zu§ ll (Staatlicher Bühnennachweis): .,Dieser Paragraph besagt nicht, daß nur bereits im Beruf Stehende darunter fallen,.es wird vorgeschlagen, daß zum Ausdruck kommt, daß auch der Weg für die Laienspielkräfte in dieser beruflichen Tätigkeit offensteht."84 Vom Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen, Hauptabteilung Arbeit, kommt am 17. 4. 1951 85 ein Vorschlag zu § 9 (Arbeitsverhältnisse). Der Begriff wird in .,Arbeitsvertragsverhältnisse" geändert und mit folgendem Zusatz versehen: .,Mit besonders hervorragenden Kräften aus diesen Berufsgruppen können Einzelarbeitsverträge abgeschlossen werden. Mit Angehörigen der Bühnenvorstände werden Einzelarbeitsverträge abgeschlossen." 86 Aufschlußreich ist ein Brief der Deutschen Akademie der Künste vom 10. 4. 1951 an Paul Wandel, Minister für Volksbildung, unterzeichnet von Ernst Legal, ständiger Sekretär der Sektion Darstellende Kunst. Er belegt das Span81 BA DR/1 6045, Brief des Ministeriums für Justiz, Hauptabteilung Gesetzgebung, vom 12. 3. 1951 an das Ministerium für Volksbildung der DDR, 2 S. s2 Ebenda, S. I . 83 BA DR /I 6045, Hausmitteilung Ministerium für Volksbildung, Rechtsstelle an Herrn Bork: Stellungnahme des Staatssekretariats für Berufsausbildung zum Theatergesetz, 2 S. 84 Ebenda, S. 2. 8S BA DR /I 6045, Brief des Ministeriums für Arbeit und Gesundheitswesen vom 17. 4. 1951 an das Ministerium für Volksbildung, 2 S. 86 Ebenda, S. 2.

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nungsverhältnis zwischen diesen beiden Institutionen. In dem Schreiben heißt es: "Das Plenum der Deutschen Akademie der Künste hat in seiner Sitzung am 13. November 1950 zu einem Entwurf des Theatergesetzes Stellung genommen und eine Reihe von Veränderungs resp. Zusatzanträgen vorgeschlagen. Nachdem diese Vorschläge bisher ohne Antwort geblieben sind, bittet die Sektion Darstellende Kunst der Deutschen Akademie der Künste I. um baldige Beantwortung und 2. um Infonnation über den augenblicklichen Stand der Gesetzesvorbereitung." 87 In der Antwort vom 30. Mai heißt es u. a.: "I) Der Gesetzestext liegt bis auf die Präambel vor. . .. wird das Gesetz beim Ministerrat demnächst zur Vorlage kommen. 2) Die Vorschläge der Sektion Darstellende Kunst haben im Theatergesetz weitgehend Aufnahme gefunden."88 Es entsteht der Entwurf I, wie er mit Schreiben vom 18. 4. 1951 89 an den Förderungsausschuß versandt wurde. Die genannten Meinungsäußerungen und strukturellen Veränderungen im staatlichen Verwaltungsapparat werden in folgender Weise berücksichtigt: I. Statt ,,Ministerium für Volksbildung der DDR" heißt es nun "Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten" bzw. "Verwaltungen für Kunstangelegenheiten der Länder" . Die Gründung dieser Kommission im Range eines Staatssekretariates erfolgte per Beschluß des Ministerrates vom 12. Juli 1951 am 31. August 1951. Vorsitzender ist Helmut Holtzhauer. 2. In § 9 Arbeitsverhältnisse wird der Zusatz aufgenommen: ,,Mit besonders hervorragenden Kräften aus diesen Berufsgruppen können Einzelarbeitsverträge abgeschlossen werde. Mit Angehörigen der Bühnenvorstände und dem solistischen Personal werden Einzelarbeitsverträge und, soweit es sich um hervorragende Kräfte handelt, Einzelverträge abgeschlossen."90 Eine Präambel wird am 22. 6. 1951 erarbeitet, und der gesamte Vorgang wird nach Gründung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten aus dem Ministerium für Volksbildung herausgenommen und in die Verantwortung der Kommission gegeben. Der Entwurf der Präambel nimmt Bezug auf die Regierungserklärung der DDR vom 12. 10. 1949 mit der allgemeinen Forderung zur Erhaltung und Förderung der deutschen Wissenschaft und Kunst und definiert Theater "als Ausdrucksmittel des gesellschaftlichen und sozialen Fortschritts"91 • Weiter folgt die Aufzählung der "vordringlichsten Aufgaben", die in vier Punkten benannt werden: 87 BA DR/1 6045, Brief der Deutschen Akademie der Künste an Minister Wandel, Ministerium für Volksbildung vom 10. 4. 1951, I S. 88 a. a. 0 ., Brief des Ministeriums für Volksbildung an die Deutsche Akademie der Künste vom 30. 5. 1951, I S. 89 BA DR/1 6045, Ministerium für Volksbildung, Rechtsstelle, Brief an den Förderungsausschuß vom 18. 4. 1951,1 S.,mitAnlageEntwurfi,ISS. 90 Ebenda, Anlage S. 9. 91 BA DR/1 6045, Ministerium für Volksbildung, Rechtsstelle, Brief vom 22. 6. 1951 an Minister Wandel, I S. mit Anlage, 2 S.

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"I.) die Fonentwicklung des Theaters zum vollendeten Ausdrucksmittel des gesellschaftlichen Bewußtseins des werktätigen Volkes, 2.) dem gesamten werktätigen Volks der regelmäßigen Genuß guten Theaters zu ermöglichen, 3.) die P!1ege des kulturellen Erbes, der zeitnahen Dramatik und einer unserem gesellschaftlichen Bewußtsein entsprechenden realistischen Bühnenkunst, 4.) die Förderung des Bühnennnachwuchses."92

Am 19.Juli 1951 übergibt das Ministerium für Volksbildung den Vorgang Theatergesetz an die Staatliche Kommission für Kunstangelgenheiten93 . Zusammen mit einer neuen Fassung der Präambel, in der auf die Nennung von Aufgaben verzichtet und wieder zur verbindlicheren Fonn der Proklamation zurückkehrt wird. Darin heißt es: "Das gesamte staatliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben in der Deutschen Demokratischen Republik wird gelenkt vom Geist der Demokratie, des Friedens und der Völkerfreundschaft, der nationalen Einheit, des Aufbaus und des Fortschritts und steht damit uneingeschränkt im Dienst des werktätigen Volkes. Um unseren Bühnen die Durchführung ihrer hieraus erwachsenen Aufgaben zu erleichtern, wurde ein Theatergesetz geschaffen. "94 Die letzte mir bekannte aktenkundliehe Erwähnung des Theatergesetzes ist vom 13. 8. 1951 und enthält "Randbemerkungen des Vorsitzenden (der Staatlichen Kommission für Kunstangelgenheiten - U.H.-E.) zum Theatergesetz". 95 Darin geht es um Fonnulierungsfragen. Inhaltliche Aspekte werden nicht mehr verändert. Das Gesetz trat nicht in Kraft. Warum, bleibt hypothetisch. Denkbar wäre, daß die ursprüngliche Funktion eines Rahmengesetzes als Instrument einer zentralen staatlichen Kontrolle nicht mehr notwendig war. Die Verwaltungsrefonn, die 1952 mit der Auflösung der Länder abgeschlossen wurde, war im Herbst 1951 bereits soweit vorangetrieben worden, daß die Länderhoheit praktisch aufgehoben war. Es genügten nun Regelungen in Fonn von Tarifabkommen bzw. Arbeitsanordnungen der zentralen Verwaltungsbehörden, hier der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten. Der Grad der Verbindlichkeit dieser Regelungen gegenüber einem Gesetz war geringer und ihre Durchsetzung von oben nach unten staatsrechtlich einfacher. Der Vorteil eines Theatergesetzes wäre die einklagbare Geltendmachung der in ihm getroffenen Festlegungen für alle an den Theatern Beschäftigten gewesen. Ein Gesetz in bzw. außer Kraft zu setzen, ist ein komplizierter Prozeß und war auch in der Deutschen Demokratischen Republik an ein umfangreiches Prozedere gebunden. 96 Ebenda. BA DR/ I 6045, Brief des Ministeriums für Volksbildung, Rechtsstelle, vom 19. 7. 1951 an die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, 1 S. mit Anlage, I S. 94 Ebenda. 95 BA DR/ I 6045, Aktennotiz der Abt. Darstellende Kunst, Schulze, vom 13. 8. 1951 , 2 S. 96 Vgl. dazu: Staatsrecht der DDR. Lehrbuch. Staatsverlag der DDR, Berlin 1977, S. 337. Hier heißt es: ,.Das Recht zur Gesetzesinitiative haben gemäß An. 65 der Verfassung die 92

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So trat stattdessen am 1. 10. 1951 das "Lohn- und Gehaltsabkommen für die Theater und Kulturorchester der DDR" in Kraft. Es galt für alle an den Theatern angestellten Personen und war eine Tarifvereinbarung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft Kunst mit der Regierung der DDR, Staatliche Kommission für Kunstangelgegenheiten. Ein Gesetz über die kulturpolitische, rechtliche und administrative Stellung der Theater in der DDR war es nicht.

Abgeordneten der Volkskammer, die Ausschüsse, der Staatsrat, der Ministerrat und der FDGB. Dieses Recht besitzen auch die Fraktionen der Volkskammer(§ 8 GeschOVK). Eine besondere Verantwortung trägt der Ministerrat, dem die Ausarbeitung der Grundsätze der staatlichen Innen- und Außenpolitik obliegt und der daher die meisten Gesetzesentwürfe einbringt." 34•

Die Gegenkultur in der DDR: ,Alternativer Underground', ,Treibhausanarchie', Boheme oder Opposition? Von Axel Große I. Begriffsbestimmung In der DDR gab es eine Gegenkultur, doch wie ist diese zu charakterisieren? War es eine "andere Kultur", eine "alternative Kultur", eine "Subkultur" -oder einfach nur der Gegensatz zur offiziellen DDR-Repräsentationskultur? Die im Titel genannten Begriffe sind einzeln zur Charakteristika einer Gegenkultur ungeeignet - zusammen jedoch geben sie wider, was mit dem Begriff gemeint sein soll und wie weit dieser gefaßt werden muß. Auch die im Folgenden unweigerlich auftretenden Charakteristiken von ,offizieller Kultur', ,inoffizieller Kultur' beinhalten eine inhaltliche Trennung, die sich im zu beschreibenden Phänomen der DDR-Gegenkultur als zunehmend unscharf und untauglich erweist, da sich die Schnittmengen beider Bereiche überlagerten und sich die Herausbildung einer völlig autarken und unabhängig agierenden Kunst- und Kulturszene nach dem heutigen Erkenntnisstand als Fiktion erweist. 1 Die ,offizielle Kultur' existierte in der DDR als Postulat und Norm und dominierte die institutionalisierten Beziehungen und Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit dem Anspruch, den ideologischen Vorgaben seitens der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu entsprechen. 2 Innerhalb schmaler Interpretationsspielräume regulierte die offizielle Kultur die Aktionsmöglichkeiten der Staatsbürger konstruktiv, manipulierbar und regressiv. Die übergreifenden Wertmuster und Handlungsmaximen der offiziellen Kultur erstreckten sich auf alle Bereiche des organisierten gesellschaftI Zu der begrifflichen Auseinandersetz.ung vergl. insbes. den durch seine Fülle an bislang unveröffentlichten Text- und Bildmaterial aus Privatarchiven ehemaliger Beteiligter sehr wertvollen und ebenso ausgewogen kommentierten Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 4. September bis 16. Dezember 1997: Kaiser, Paul/Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen. Konflikte. Quartiere 1970-1989. Berlin 1997. Hier S. 18 ff. Weiterhin Tannert, Christoph: ,.Nach realistischer Einschätz.ung der Lage . .. ". In: Der Riß im Raum. Ausstellungskatalog. Berlin 1994. Ders.: "Subkultur: Bildende Kunst". In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Baden-Baden 1995. Hier Bd. 111/1 ; Wirth, Günter: Gegenkultur aus bildungsbürgerlichem Geist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom I. 4. 1995. Tiefdruckbeilage. 2 Vgl. Bachnumn, Ben: Der Wandel der politischen Kultur in der ehemaligen DDR. Berlin 1993, s. l4ff.

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liehen Lebens und wurden gerade auch im kulturellen Sektor transparent. Die offizielle Kultur war verbindlich und wurde mit Hilfe politisch-administrativer sowie kulturell-nonnativer Verfügungsgewalt verbreitet und kontrolliert. Mit Gegenkultur sollen dagegen alle nicht-offiziellen Denk- und Verhaltensweisen bezeichnet werden, wobei der Begriff der Gegenkultur nicht zwingend im Widerspruch zur offiziellen Kultur dahingehend steht, daß die Gegenkultur systematisch geformte und oppositionelle Orientierungen, Ideologien und Lebensweisen bilden muß. 3 Ein intimer Kenner und publizistischer Begleiter der Szenen, der Kunsthistoriker Christoph Tannert, charakterisiert die Gegenkultur wie folgt: "Wir wissen jetzt, daß diese ,andere Kultur' im wesentlichen unter Treibhausbedingungen entwickelt und von allen Seiten akribisch begutachtet wurde. [ ... ] Zur Zeit ihres Bestehens war sie exotisch, innovativ in ihrem formalen Haushalt, bizarr in ihrer Selbstbezüglichkeit, hermetisch gegenüber den Uneingeweihten, eine Frischzellenkultur für das Staubgepäck der Gerontokratenperspektive in der DDR. Sie provozierte Polizeieinsätze gegen Galerien und Wohnzimmerveranstaltungen, und sie stabilisierte Gefühle, die dem kollektiven Zwang im Vormundschaftsstaat in die Quere liefen. Insofern hat sie viel bewirkt, Identitäten geprägt, ,Welle gemacht' und ist dem permanenten Stillstand des realsozialistischen."4 II. Ursachen für das Entstehen und Vorhandensein einer Gegenkultur in der DDR Kultur allgemein (und DDR-Kultur im besonderen) ist lediglich bedingt steuerbar und entsteht in der Regel nicht aufgrund von Direktiven und Beschlüssen. Deshalb ist sie in ihrer Wirkung unberechenbar und nicht vollständig abschirmbar gegenüber unerwünschten Einflüssen aus dem In- und Ausland. In der DDR förderte die offizielle staatliche Kulturpolitik mitunter geradezu dieses provokative "inoffizielle" Element der Kultur. Die von der SED erhobene Funktion der Disziplinierung kehrte sich bei einigen Künstlern ins Gegenteil und setzte schöpferische Energien des Widerstandes frei. In der DDR blieben bestimmte Künstler von vomherein vom offiziellen Kulturbetrieb ausgeschlossen bzw. in ihrer Tatigkeit und Entwicklung von den Staatsorganen behindert. Besonders eklatant ist diese Strategie in den 70er und 80er Jahren zu erkennen, als vorwiegend jungen Künstlern sowohl der Zugang zu den staatJ "Subkultur in der DDR war immer durch das Spannungsverhältnis von Anpassung und Widerstand, Flüstern und Schreien, Integrations- und Zentrifugalkräften geprägt. Statt radikaler Abgrenzung oder verwirklichter Autonomie ist hier eher ein osmotisches Verhältnis zu konstatieren. Taktische Allianzen und ein Ausschreiten sich bietender Entfaltungsspielräume innerhalb der staatlichen Strukturen sind weit verbreitet." Kaiser I Petzold: Boheme und Diktatur in der DDR. A. a. 0. S. 22 f. • Tannert, Christoph: "Subkultur: Bildende Kunst". In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission. A. a. 0. S. 579.

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Iichen Institutionen der Kulturförderung verwehrt als auch der damit verbundene Ausschluß aus der offiziellen kulturellen Öffentlichkeit praktiziert wurde. Die betroffenen Künstler suchten Mittel und Wege abseits des etablierten Kunst· und Kulturbetriebes, um dennoch in der DDR leben und arbeiten zu können. Hierbei soll eine grobe Unterteilung in drei Gruppen erfolgen, die aber keinesfalls als homogen und ausschließlich zu betrachten sind, gab es doch immer "Grenzgänger und Pendler" zwischen den Gruppierungen. 5 Für die erste Gruppe bildete das reale Feld der Kulturpolitik keinen Anlaß zur künstlerischen Auseinandersetzung, weil es permanent als parteiwillig gesehen wurde. Im Mittelpunkt der Aktivitäten standen Versuche, der offiziellen Kulturpolitik ständig auszuweichen und Konfrontationen mittels einer Haltung der Verweigerung zu entgehen. Eine zweite Gruppe versuchte gegen die kulturpolitische Normalität der DDR anzugehen mit dem Ergebnis, entweder in den Westen abgeschoben zu werden oder mit Sanktionen (beispielsweise Gefangnisstrafen) rechnen zu müssen.6 Eine dritte Gruppe versuchte die offizielle Politik zu ignorieren und sich Freiräume einzurichten mit der deutlichen Tendenz, das DDR-System künstlerisch überhaupt nicht mehr zu thematisieren - oder zumindest so zu tun - und die "DDR" nur im Alltag wahrzunehmen. Indem sich die letztgenannte Gruppe, die den Gegenstand der weiteren Betrachtungen bilden soll, eigene Kommunikationskanäle schuf, siedelte sie sich abseits des etablierten Kunst- und Kulturbetriebes an. Die Selbstartikulation - frei von politischen Vorgaben - stand im Vordergrund der Handlungen. Den Hintergrund bildete die Schaffung einer eigenen Öffentlichkeit und Kommunikationsstrukturen der Beteiligten untereinander. In der DDR, mit ihrer zentral-staatlich gelenkten Kunstproduktion (Verlagswesen, Ausstellungen, Filmförderung usw.) stellten das selbstverlegte Künstlerbuch, der selbstproduzierte Film, die privatorganisierte Vernissage und anderes mehr allein durch die Tatsache ihres Vorhandenseins wichtige Ereignisse dar und nahmen oft provokativen Einfluß auf die Entwicklung vornehmlich junger Künstler. Angestrebt wurde, etwas Prinzipiell-Konträres zur offiziell-verordneten Kultur zu schaffen, wobei sich das Hauptaugenmerk nicht primär auf das "politische Anderssein", sondern auf Experimente, beispielsweise in Stil und Sprache, richtete. 7 Ab Anfang der 70er Jahre verband die junge und jüngere Generation in der DDR s Vgl. dazu Tannert, Christoph: "Subkultur: Bildende Kunst". In: Ebenda, S. 576-587. Sowie Böthig, Peter: ,,Alternative Literatur". In: Ebenda, S. 597-637. 6 In der realsozialistischen Praxis der DDR folgte nach der Haft meistens die Abschiebung in den Westen. 7 Vgl. hier (insbes. den literarischen Bereich betreffend) Henkel, Jens: Die Bibliographie der ,,Andersdenkenden" - Künstlerbücher in der DDR. In: Ders./Russ, Sabine (Hrsg.): Dl980 Dl989 R. Künstlerbücher und Originalgraphische Zeitschriften im Eigenverlag. Bibliographie. Gifkendorf 1991, S. 8-14.

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kaum noch Identifikationsmuster mit einer zunehmend pervertierten Utopie, deren Phase des endgültigen Niedergangs mit dem "Fall Biermann" 1976 eingeleitet wurde. 8 "Die Vorhaltung des Mankos zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDR-Gesellschaft war nicht mehr interessant. Angesichts der Banalität der vorgefundenen Situation wollte man nicht auch noch die Imagination damit belasten. Vielmehr galt es, dem Geschehen eine eigene, wenn auch virtuelle Realität entgegenzusetzen. " 9 Gab es in den 50er und 60er Jahren bereits Anzeichen für das Vorhandensein einer Gegenkultur, so blieben diese meist auf individuell-vereinzelte alternative Lebensentwürfe beschränkt und war in der Regel auf den Schutz ,,relativ liberale Kulturinstitutionen sowie renommierter Intellektueller und bildungsbürgerlich inspirierter Hauskreise" 10 angewiesen. 11 Mit Anfang der 70er Jahre bildeten sich "subkulturelle Biotope, die durch spezifische Freiräume, lokalpolitischen Konstellationen und mitunter voneinander abweichenden Handlungsstrategien geprägt waren" und die sich bis zum Ende der 70er Jahre zu "wichtigen Säulen einer tragfähigen subkultureilen Infrastruktur" 12 herausbilden konnten. Dabei ist bemerkenswert, daß diese Entwicklung sich anfangs vor allem in den traditionsreichen Kunstzentren Dresden und Leipzig, aber auch in Halle, Erfurt, Jena und Karl-Marx-Stadt vollzog. Ost-Berlin mit seiner mittlerweile berühmt-berüchtigten Prenzlauer Berg-Szene spielte bei der Entwicklung der Gegenkultur anfangs nur eine untergeordnete Rolle. Erst als sich ab Anfang der 80er Jahre viele Akteure - besonders aus dem sächsisch-thüringischen Raum- in Berlin ansiedelten, rückte Ost-Berlin mehr in eine zentrale Stellung. 13 8 Nach der kurzzeitigen Liberalisierung in der Kulturpolitik, verkündet vom gerade ins Amt gelangten Parteichef Honecker auf der 4. Tagung des ZK der SED am 17. 12. 1971, folgten der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 Sanktionen, die einen nie endenden Exodus vieler "Kunst- und Kulturschaffender" der DDR bis zu deren Ende nach sich zogen und von dem auch die Gegenkultur nicht verschont blieb. 9 Löser. Claus: Vorab. In: Ders.l Fritzsche, Katrin (Hrsg.): Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR 1976 - 1989. Texte Bilder Daten. Berlin 1996, S. 7. 10 Kaiser. Paul/ Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. a. a. 0 ., S. 18. 11 Als Beispiel vgl. in Ebenda: Gesichte, Chiffren, Schattenblätter. Zivilcourage in Blickhöhe: Die ,,Erfurter Ateliergemeinschaft" von 1963 bis 1974 als illegales Podium moderner Kunst. S. 280-286. 12 Ebenda, S. 18. 13 Ost-Berlin und hier insbesondere der Stadtteil Mitte, bot aufgrund der vielen baufälligen, vernachlässigten und dem geplanten Abriß überantworteten Quartiere, ideale Voraussetzungen zur künstlerischen Arbeit. Wohnungen und Ateliers wurden einfach "besetzt" und in Beschlag genommen, die unter legal-offiziellen Bedingungen nie zur Verfügung gestanden hätten. Der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) war der geordnete Überblick längst abhanden gekommen. In der Regel überwiesen die Akteure Mieten an die KWV, ohne je einen Mietvertrag o.ä. erhalten zu haben und wurden in Ruhe gelassen. Auch in anderen Städten - wie beispielsweise der Dresdner Neustadt oder dem Stadtteil Connewitz in Leipzig - wurde diese Art der Inbesitznahme von Wohnraum praktiziert und war keinesfalls nur ein Kennzeichen oder "Privileg" der Gegenkultur.

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111. Akteure und Szenen Das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung innerhalb der Szenen der Gegenkultu waren vielfältig und vennischten sich. Es gab weder eine erkennbare hierarchische Gliederung, noch einheitliche Aktionsprogramme. Die Unbeständigkeit der Szenen resultierte zum großen Teil aus den ihnen innewohnenden großen Schwankungen in der personellen Besetzung und der losen Zusammenarbeit der Akteure untereinander. Hinzu kam eine Vielfalt an Stilen, Haltungen und Kunstauffassungen und oftmals eine Nichtfestlegung auf eine bestimmte Gattung der künstlerischen Betätigung. So drehten bildende Künstler Super-8-Filme, junge Literaten trugen ihre Texte als Sänger in Punk-Bands vor, Maler und Graphiker gründeten selber Bands und spielten auf ihren eigenen Vernissagen. Die Kommunikation untereinande trug oft eher den Charakter einer Notgemeinschaft, als daß sie auf bewußter Solidarität beruhte. ,,Viele Allianzen basierten auf Folgen der Mängelwirtschaft der eine hatte das Auto, der andere den Filmprojektor, der dritte verfügte über Zugang zu Auftrittsmöglichkeiten." 14 Der individuelle Ausstieg aus einem als nicht länger sinnstiftend angesehenen System kann als kleinstergemeinsamer Nennerder nonkonfonnen Gruppen, Zirkel und Freundeskreise beschrieben werden. Dabei war es charakteristisch, daß jeder Beteiligte sein persönliches Programm verfocht und etwas Übergreifend-Einigendes selten beabsichtigt war. Der freiwillige Ausstieg (oder gar nicht erst vollzogene Einstieg) aus dem offiziellen Kulturbetrieb der DDR bot zwar einerseits alternative Möglichkeiten zur Kommunikation, anderseits verlangten gerade die zuvor im Kunstbereich der DDR noch nicht oder wenig erprobten experimentellen und avantgardistischen Kunstformen die Auseinandersetzung innerhalb der Gegenkultur und eine breite Öffentlichkeit, die es unter den politischen Bedingungen einer Diktatur nicht geben konnte. 15 Es blieb nicht aus, daß sich die Szenen vorwiegend auf sich bezogen und das angestrebte Schaffen von spontanen und autonomen Kunsträumen größtenteils zwar 14

s. 8.

Löser. Claus I Fritzsche, Katrin: Gegenbilder. Filmische Subversion in der DDR. A. a. 0.

IS An eine normale Öffentlichkeitsarbeit war nicht zu denken, so konnten weder Anzeigen in der Tagespresse geschaltet noch Plakate gedruckt und aufgehängt werden. Das genehmigungspflichtige Limit für Druckerzeugnisse (beispielsweise von im Siebdruckverfahren hergestellter Einladungen) lag bei unter 100 Exemplaren. Am besten funktionierte die altbewährte Mund-zu-Mund-Propaganda. Oft legten die Künstler aber auch selber Hand an: Gerd Wandrer, Veranstalter der Jenaer Hofvernissagen, stempelte seine Einladungen mitunter im Kohlrabi-Druck. Der Leipziger Maler Lutz Friede) griff Anfang der 70er Jahre auf die Kaltnadelradierung zurück und in Ost-Berlin brannte Ekkehard Maaß die Einladung zu einer Lesung in seiner Wohnküche mit dem Lötkolben in ein Abendbrotbrettchen, von dem er dann Papierdrucke herstellte. Auch der Dresdner Maler Ralf Winkler (A. R. Penck) brannte die Einladungen zu seiner Ausstellung "UNTERgrund" 1972 in Holzplatten. Vgl. hierzu insbes. das Kapitel "Neue Kreise, andere Räume. Aktionsorte und Organisationsformen." In: Kaiser. Paul/Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. S. 34 - 43.

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kurzfristig möglich wurde, aber ein Ausbruch aus der Isoliertheil nur bedingt und punktuell gelang. 16 So förderten viele Szenen aufgrund ihrer Immanenz ungewollt ihr oft frühes Ende. Diese Tendenz verstärkend kam noch hinzu, daß die Gegenkultur neben aller Exotik und Innovation auf formalem Gebiet nicht zuletzt von ihrer Selbstbezogenheil lebte und als verschlossen gegenüber dem uneingeweihten Betrachter bezeichnet werden muß.17 Wie immer bestätigen auch in diesem Fall die Ausnahmen die Regel. Es gab programmatische Ansätze - so formulierte beispielsweise A. R. Penck im Gründungsjahrder Dresdner Künstlerguppe Lücke 1971 in einem Manifest: "Wenn wir uns darüber einigen, daß wir neben den traditionellen Wertmaßstab Geld einen neuen Wertmaßstab setzen, so wird unsere Maßstabstindung uns instand setzen, unseren eigenen Raum zu behaupten." 18 Programmatisch war auch die erste Ausstellung der Lücke, an der auch andere sympathisierende Maler teilnahmen und die den bezeichnenden Titel "Erste Integration junger Zeitgenossen" trug. "Hier geschah nun für die DDR-Kulturpolitik etwas Unerhörtes: Pencks Lücke entfernte sich nicht nur vom Kollektiv, sie ignorierte es. Zwar hatten sich einige der Gruppenmitglieder eine Zeitlang vergeblich um die Mitgliedschaft im staatlichen Künstlerverband bemüht, mit der Installation der Lücke und der auch anderen Künstlern offenstehenden Galerie Lücke-Frequentor behaupteten die beteiligten Autodidakten fortan jedoch ein autonomes und von den Strukturen des VBK [Verband Bildender Künstler der DDR- A.G.] und der Kunsthochschule nicht erreichbares Kunstquartier.'" 9 Die DDR-Gegenkultur stellt bezogen auf politisch wie programmatisch eindeutige Äußerungen seitens ihrer Akteure und Szenen ein schwieriges Terrain dar. Aus damaliger wie auch aus heutiger Sicht fällt es schwer zu beurteilen, was ,,richtige Kunst" und was politische Protestgebärde war. Jenseits aller ästhetischen Bewertungen - die für die vorliegenden Überlegungen ohne Belang sind - ist allen 16 Zwei Beispiele - leider fast die einzigen, dafür aber um so bemerkenswerter - hierfür sind: Die erste und auf lange Zeit einzige unabhängige Künstlergruppe "Lücke" in Dresden. Gegründet wurde sie im Mai 1971 von Harald, Gallasch, Steffen Kuhnert (Terk), Wolfgang Opitz und Ralf Winkler (A.R. Penck). Die Künstler, allesamt Autodidakten, verstanden sich als Alternative zum offiziellen Kunstbetrieb und der in Dresden stark gepflegten konservativen Maltraditionen an der Kunsthochschule. Die Gruppe löst sich nach Schikanen durch die Behörden und der zeitversetzten Einberufung der Akteure in die NVA 1976 selbst auf. Eine zweite herausragende Gruppe der Gegenkultur war die von Mai 1977 bis Dezember 1982 existierende Künstlergruppe "Clara Mosch" in Karl-Marx-Stadt. 17 Matthias Griebe!, heute Direktor des Stadtmuseums Dresden, vor der "Wende" über 20 Jahre Hilfsarbeiter und Leitfigur einer facettenreichen Szene in Dresden-Loschwitz, beschreibt dies wie folgt: "Unsere Welt fand hinter geschlossenen Türen statt, die aber für Gleichgesinnte offen standen. In den öffentlichen Raum zu gehen, war gefährlich, da hätte man auch gleich vom Rathausturm springen können." Zitiert nach Kaiser, Pau/1 Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0., S. 160. 18 Zitiert nach ebenda, S. 147. 19 Ebenda, S. 37.

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Aktivitäten, Projekten und Arbeiten der Vorzug zuzusprechen, daß es sie überhaupt gegeben hat. Unabhängig von den Intentionen zum Zeitpunkt ihrer Entstehung geben sie Auskunft über Zustände, die ansonsten nicht mehr nachvollziehbar und rekonstruierba wären. .Jhr bleibender sozialhistorischer Wert liegt in der Dokumentation von Wirklichkeitsfragmenten, die in der offiziellen Geschichtsschreibung und Selbstdarstellung der DDR notwendigerweise keinen Platz gefunden haben - gerade in den Zeiten unseliger ,Ostalgie' ein wertvolles Gegengewicht, das es immer wieder in Erinnerung zu bringen gilt."20

IV. "Kunst ist Waffe" - Die Konstruktion von Staatsfeinden Die Akteure der hier betrachteten DDR-Gegenkultur verstanden sich in erster Linie als unpolitisch. Dabei darf nicht vergessen werden, daß es in der DDR unter den Bedingungen einer Diktatur auch kaum vorstellbar war, eine politische Gegenkultu als Etikettierung von wie auch immer gearteten Autonomiebestrebungen von vomherein zu installieren. Die Protagonisten versuchten, sich von der etablierten Doktrin und deren sozialistischrealistischen Kunstbegriff zu lösen, nicht nur, um der Kunst eine kritische gesellschaftliche Funktion zurückzugeben, sondern um sie frei von politischen Zielsetzungen zur Selbstartikulation zu nutzen?' Zu fragen ist an dieser Stelle, ob es diesen ,.politikfemen Raum", diesen ,.bloßen Kunstraum" im realsozialistischen Gefilde überhaupt geben konnte? Einen elementaren Widerspruch autonomer künstlerischer Artikulation in der DDR bildete der Umstand, trotz bewußt unpolitischer Attitüde nahezu automatisch politisch aktiv zu werden - allein aufgrund der bewußten Abschirmung - gegen die kulturbürokratische Vereinnahmung. 22 In der ansonsten gleichbleibenden kulturpolitischen Starrheit mußte die Schaffung neuer, alternativer Organisations- und Korn-

zo Löser, Claus/ Fritzsche, Karin: Filmische Subversion in der DDR. A. a. 0 . S. 7f. 21 Dabei hatte die Vermeidung einer bekennenden politischen Gegnerschaft zum System seine Gründe. Die unpolitische Lebenshaltung war .,eine Möglichkeit, sich nicht auf eine prägende Gegnerschaft einzulassen, die ihrerseits Negativabdrücke produziert. Es ging also darum, sich nicht auf dieses Diktum einzulassen, was aus einer Gegnerschaft resultiert. Ich finde nicht, daß das apolitisch ist. Das ist auch eine politische Haltung." Zitiert nach Kaiser, Paul/ Petzold Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. S. 17. 22 Der Kari-Marx-Städter Claus Löser, 1983 Herausgeber von sechs Ausgaben der selbstverlegten Grafik-Foto-Text-Mappe A 3 und unabhängiger Schmalfilm-Produzent, äußert sich zum Thema der Entpolitisierung in den 80er Jahren wie folgt: .,Politisch eindeutige Äußerungen in der unabhängigen Kunstszene der 80er waren Ausnahmeerscheinungen, die tendenziell nicht recht ernst genommen wurden. Dennoch waren die mehrheitlich apolitischen Texte, Bilder, Filme usw. de facto durch ihre bloße Existenz politisch widerständig, schufen sie sich doch Räume, die in der Topographie der DDR-Kulturpolitik eindeutig nicht vorgesehen waren." Zitiert nach Ders. I Fritzsche, Karin: Filmische Subversion in der DDR. A. a. 0. S. 7.

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munikationsstrukturen in gewisser Weise subversiv wirken. Hinzu kam eine sich seit dem Bestehen der DDR formierende unheilige Allianz aus ästhetischem Ressentiment und politischem Verdikt, die der Richtlinie folgte: Je größer die ästhetischen Ressentiments, desto höher die staatsgefährdende Wirkung. 23 Die SED hat in Bezug auf die Gegenkultur nie den Versuch unternommen, die "inoffiziellen" kulturellen Bestrebungen als Teil ihrer offiziellen Kulturpolitik in irgendeiner Form zu integrieren und damit zu vereinnahmen. Vielmehr versuchte die Partei, die DDR-Kulturpolitik hermetisch gegen jedwede gegenkultureile Aktivität abzuschotten und die Gegenkultur als prinzipiell staatsfeindlich einzustufen. Dies hatte für die Akteure oft schlimme Folgen, denn dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) kam bei der Umsetzung der kulturpolitischen Vorgaben durch die SED eine führende Rolle zu. Entsprechend der Maxime "Kunst ist Waffe" betrieb die Partei eine Kulturpolitik, die auf die Umsetzung ihrer Interessen beruhte und dem Machterhalt diente. Als "Schild und Schwert der Partei" war das MfS dabei aufs Engste mit den kulturpolitischen Entscheidungszentren der SED verflochten. Daneben kam den einzelnen Kulturinstitutionen und -verbänden in der DDR eine wichtige Funktion zu. Zur Sicherung ihrer Herrschaft instrumentalisierte die SED genannte Institutionen und nutzte sie als "Transmissionsriemen" zur Umsetzung ihrer Politik.24 Nach der Enttarnung von Alexander (Sascha) Anderson und Reiner Schedlinski als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS, beide Protagonisten der literarischen Prenzlauer Berg-Szene, gingen die Vermutungen einer fast lückenlosen Überwachung der Gegenkultur durch das MfS soweit, daß stellenweise sogar von einer Simulation der Gegenkultur durch die Stasi ausgegangen wurde. Die mittlerweile 23 Hier kamen auf die Spätstalinisten der oberen DDR-Kulturverwaltung Kunstformen zu, die jedwede Form eines propagierten und geforderten .,sozialistischen Realismus in der Kunst" sprengten und sich ästhetischer Mittel bedienten, für die der Begriff "bürgerlich-dekadent" allenfalls geschmeichelt war. Zur Illustration seien hier nur ein paar kurze Beispiele angeführt: Die Dresdner Autoperforationsartisten (Else Gabriel, Micha Brendel, Volker [Via] Lewandowsky und Rainer Görß) setzten mit ihren Aktionen und Performances nicht selten schockartige Reaktionen seitens der Kulturbehörden frei. Der Hallenser Brachialperformancer Mattbias Baader Holst provozierte mit seinen radikalen Punkdichtungen, deren Vorträge immer in wahren Leseorgien endeten - nicht selten mit dem Autor als Nackttänzer, nicht nur die sogenannten Spießer und Konservativen. Und der "DDR-Ober-Dadaist" Klaus Rudolf gründete beispielsweise im Mai 1988 in den Gemächern des Leipziger Studentenclubs seine eigene Kunstpartei "Vogelfrei", deren turbulenter Gründungsakt zum legendären Happening wurde. V gl. dazu die umfassenden Darstellungen von Kaiser, Paul/ Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. S. 145-377, wo auf die wichtigsten Repräsentanten und Gruppen der Gegenkultur in der DDR ausführlich eingegangen wird. 24 So war eine Mitgliedschaft im VBK Arbeits-, Ausstellungs-, Vervielfältigungs- und Verkaufsgenehmigung gleichzeitig. Mittels der Verbandszugehörigkeit gelang es weiter, rare Arbeitsmaterialien zu beziehen, die einem ansonsten verschlossen blieben. Viele bildende Künstler der Gegenkultur bemühten sich um eine Kandidatur und spätere Vollmitgliedschaft im VBK, doch es gelang nicht allen. A. R. Penck beispielsweise blieb der Verband trotz mehrfacher Versuche und bekannter Förderer verschlossen.

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vorliegenden Erkenntnisse lassen einen solchen Schluß jedoch nicht zu?5 Nach Befragungen unter den Akteuren waren etwa fünf bis zehn Prozent IM's der Stasi. Allerdings besitzt diese Zahl nur geringen Aussagewert, bleibt bei einer dafür notwendigen Quantifizierung des gegenkulturellen Milieus aus heutiger Sicht doch immer ein spekulativer Rest. Außerdem war die Dichte des IM-Einsatzes regional unterschiedlich und in einigen Fällen enorm hoch. "Allein im näheren Umfeld der Kari-Marx-Städter Künstlergruppe ,Clara Mosch' waren 121 private Stasi-Berichterstatter aktiv. Der Cottbuser Performancekünstler und Maler Hans Scheuerecker, dessen Akten aus dem letzten DDR-Jahrzehnt noch nicht vorliegen, hatte in den 70er Jahren allein etwa 80 persönliche Geheimdienst-Berichterstatter, und der OstBerliner Privatgalerist Jürgen Schweinebraden konnte in den 18 Bänden seines Operativen Vorgangs [OV] ,Arkade' mehr als 110 offizielle und 70 inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entdecken, die sich mit seinem ,Fall' befaßt zeigten." 26 Selbst eine Ausreise in den Westen schützte in vielen Fällen nicht vor einer weiteren "operativen Bearbeitung", viele Künstler blieben auch weiterhin aktenkundig, besonders wenn sie noch Kontakte zu ehemaligen Freunden und Gefahrten in der DDR pflegten. 27 Neben den "altbewährten" vom MfS angewandten Mittel und Methoden (z. B. Arbeits- und Auftrittsverbote, Ausreisezwang28 , Inhaftierung) diente der IM-Einsatz nicht zuletzt dem Ziel, belastendes Material für eine Kriminalisierung bestimmter Personen zu erhalten. Oft streute das MfS auch selber Gerüchte und Denunziationen über eine IM-Tätigkeit völlig unbelasteter Personen, die für die Betroffenen nicht oder nur sehr schwer auszuräumen waren, da keine Beweise und schon gar keine Gegenbeweise vorgelegt werden konnten?9 2s Vgl. Kaiser; Paul/ Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. Hier insbes. "Tschekisten im Untergrund. Die Boheme im Visier der Staatssicherheit." S. 84-89. 26 Ebenda, S. 85. 27 Vgl. Fuchs, Jürgen: Magdalena. MfS. Memfisblues. Stasi. Die Finna. VEB Horch & Gauck - ein Roman. Berlin 1998. Jürgen Fuchs war in Westberlin einer verschärften Verfolgung (ca. 40 IM's waren im Einsatz) ausgesetzt, die mit Anschlägen auf Leib und Leben seiner Person und das seiner Familie verbunden war. Beim Betreten des Territoriums der DDR (etwa bei einer Benutzung der Transitstrecke) wäre er verhaftet wurden. 28 Zur Ausreise bzw. Ausweisung muß angemerkt werde, daß auf diesem Wege die ostdeutsche Gegenkultur in den 70er und 80er Jahren substantiell zunehmend an Masse verlor und natürlich gerade viele der kritischsten und radikalsten Akteure des Landes verwiesen wurden oder freiwillig gingen. Die große Ausreisewelle von 1984 forderte ihr Tribut und dieser Trend verstärkte sich zunehmend bis zum Ende der DDR - was sicher auch als Zeichen der politischen Agonie des Systems zu werten ist. Gab es 1987 insgesamt 18 958 Übersiedler, waren es ein Jahr später bereits 39 832, darunter nicht wenige Vertreter der Gegenkultur. Zahlen zit. nach Kaiser; Paul I Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. S. I 04. 29 So streute die Stasi auch Gerilchte über eine Mitarbeit bei "der Finna" des Privatgaleristen Jürgen Schweinebraden, der im Nachhinein dazu meint: ,,Es war weder für mich noch für meine Freunde verwunderlich - aber auch kein Problem - , daß etwa zwei Jahre nach der ersten Ausstellung das Gerücht aufkam, ich selbst sei Mitarbeiter des MfS in höherem

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Die von den Herrschenden befürchtete Destabilisierung der Verhältnisse in der DDR durch Aktivitäten der Gegenkultur stand in keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten, die sich dieser Gegenkultur im Lande boten. Außerdem zeugte die .,im Organ" zunehmende Koordinierungswut, die in der Einrichtung neuer Kommissionen, Arbeitsgruppen und Leitungsgremien mündete, von einer wachsenden Unbeherrschbarkeit der gegenkulturellen Szenen. Trotz des stellenweise hypertroph anmutenden Spitzelaufwandes und der damit verbundenen scheinbaren Omnipräsenz der Stasi, gelang es dem MfS nur bedingt, die Gegenkultur entscheidend zu beeinflussen. Auf Aktionen und Programmatik der Gruppen hatten die IM's (außer am Prenzlauer Berg) nur bedingt Einfluß. Der denunziatorische Charakter vieler Spitzelberichte gab dem MfS jedoch in vielen Fällen die Möglichkeit, gegenüber Einzelpersonen und deren Familien Maßnahmepläne zu realisieren, die an Perfidität nicht zu überbieten waren und für die Betreffenden oft schwere Sanktionen nach sich zogen. 30 "Man hüte sich [betreffs der Gegenkultur- A. G.] in jeder Hinsicht vor Idealisierung wie Vereinfachung. Das Verhältnis von Macht, Alltag und Kunst im Spätstalinismus der DDR ist nicht zu verharmlosen - dafür hat es zu viele Demütigungen und Repressionen gegeben; von Krankheit, Haft und Tod ganz zu schweigen. Gerade in Kreisen, die nicht unter dem Schutz der Öffentlichkeit standen, weil sie weniger prominent waren [dies betraf insbesondere die Gegenkultur- A.G.], ergingen wegen Nichtigkeiten massive Eingriffe. Der Besitz von kopierten Rainer Kunze Büchern oder Biermann-Mitschnitten führte zu Verhaftungen, zerbrach Familien, trieb Menschen zum Selbstmord."31

Folgend soll anband von zwei Fallbeispielen illustriert werden, welche Formen die .,operative Bearbeitung" von ..feindlich-negativen" Kräften durch das Ministerium für Staatssicherheit innerhalb der DDR-Gegenkultur konkret annahm. 1. Ein Einbruch ins "Totenhaus'o32

Auf dem Elbhang bei Scharfenberg im Kreis Meißen steht, idyllisch gelegen, ein einzelnstehender Pavillon, den der Dresdner Maler und Graphiker Helge LeiDienstrang. Ich machte mir darüber ebensowenig Gedanken, wie ich mir jemals Gedanken über die Methoden der Stasi gemacht habe. Die Anschuldigung besaß in einem Klima der Angst, der mangelnden Zivilcourage und Gleichgültigkeit, in dem jeder nur seine eigene, von anderen möglichst nicht einzusehende Nische suchte, eine gewisse Zwangsläufigkeit und eine Qualität, mit der man leben mußte." Zitiert nach ebenda, S. 89. 30 "Operativ bearbeiten", "zersetzen", "feindlich-negative Kräfte", "PID" und "Pur· sind nur ein paar Kostproben aus dem Wortschatz der Staatssicherheit, deren Übersetzung in die realsozialistische Praxis für die Betroffenen meist Haftstrafen bedeuteten. Vgl. dazu: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR (Hrsg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur "politisch-operativen" Arbeit. Berlin 1993. 31 Löser. Clausl Fritzsche, Karin: Filmische Subversion in der DDR. A. a. 0. S. 8. 32 Zu beiden Beispielen vgl. Kaiser. Paull Petzold, Claudia: Boheme uns Diktatur. A. a. 0 . S. 379-390.

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berg, Jahrgang 1954 und enger Freund des 1980 ausgebürgerten Malers A. R. Penck, bis zu seiner eigenen Ausreise 198433 als Atelier und Domizil nutzte. Durch die Kriminalpolizei erfahrt er am 29. 10. 1981 von einem Einbruch in sein sogenanntes Totenhaus. Als Leiberg am Tatort eintrifft, bietet sich ihm ein Bild der Verwüstung. Doch sehr schnell wird dem Maler klar, daß es keine Diebe waren, die sein Atelier heimgesucht hatten, denn die hinterlassenen Indizien deuten darauf hin, daß es vielmehr Freunde oder Bekannte gewesen sein mußten, die über sein vertrautes Verhältnis zu Penck bestens informiert waren: Über eine seiner Zeichnungen war ein typisches Penck-Strichmännchen gekritzelt, unter dem Kruzifix an der Wand hängt ein Foto des ausgebürgerten Freundes und auf einer Truhe liegt ein Spielzeugrevolver. Das Vertrauensverhältnis des Malers zu einigen seiner Freunde wurde damals auf eine harte Probe gestellt und hinzu kam ein gehöriger Schreck über das Vorgefallene. Mehr als zehn Jahre später und erfolgter Stasi-Akteneinsicht erfahrt Leiberg die wahren Hintergründe der "Operativen Kombination Totenhaus", denn die Bezirksverwaltung Dresden des MfS führte den Einbruch samt Verwüstungen selbst aus. Der ,,Ablauf der Kombination", der unter der Rubrik "Zersetzungsmaßnahme" lief, sah unter Punkt 3 als eine Voraussetzung vor: "Sicherung der Abwesenheit von Leiberg durch den Einsatz von IM und Mitarbeiter am Aufenthaltsort in Dresden"34. Die Punkte 6 bis 9 beinhalteten dann die konkreten Handlungen, die den Maler "verunsichern" sollen: .,6. Die Handlungen am und im Objekt werden durch Mitarbeiter ohne Funk durchgeführt. Das Objekt wird erbrochen, und es erfolgt die Verursachung von Spuren, die eine unbefugte Benutzung ausweisen (zerwühlte Schränke, benutzte Betten, Essenreste) Weiterhin werden Spuren verursacht, die auf eine mutwillige Handlung von Personen aus dem Verbindungskreis des Leiberg hinweisen. z. B.: - Übermalen von vorhandenen Bildern - Hinterlassen von Anwürfen geschmiert auf Papier, daß aus Beständen des Verbindungskreises stammt und auf Leibergs Haltung für den Verband Bildender Künstler hinzielt 7. Fotographische Sicherung aller operativen Hinweise im Haus. 8. Verlassen des Objekts im sichtbar erbrochenem Zustand und Abzug der Mitarbeiter. 9. Anruf beim Rat der Gemeinde Scharffenberg und Mitteilung, daß das Objekt durch einen Spaziergänger im erbrochenen Zustand vorgefunden wurde. Es wird ein Bezug auf Meldungen zu Laubeneinbrüche in der Zeitung gegeben. Bitte um Verständigung des ABV." 35 Leiberg mußte innerhalb von 24 Stunden die DDR verlassen. Ebenda, S. 382. (Kopien des Durchführungsplanes der .,Operativen Kombination" und ,,Zusammenfassender Bericht zur operativen Kombination .,Totenhaus" im OV .,Grund" der Abt. XX /7" der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden Abteilung XX. Schreibweise und-stilsind unverändert wiedergegeben.) 35 Ebenda. S. 381 f. 33

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Der Abschlußbericht der MfS Bezirksverwaltung Dresden beginnt mit den Sätzen: "Ziel der operativen Kombination bestand in der weiteren Verunsicherung der OV Personen, der Verbindungspersonen zum OV und oppositionellen Gruppen im Bereich der politischen Untergrundtätigkeit bildender Künstler. Mit der Kombination sollte in der Zielstellung eine weitere Zersetzung genannter oppositioneller Gruppen und das Herausbrechen von einzelnen Personen erfolgen. Es kann eingeschätzt werden, daß dieses Zielstellung erreicht wurde."36 "Zielstellung erreicht", dies bedeutete konkret: ,,Es konnte erreicht werden, daß sich die OV Person Leiberg bedroht fühlt, durch Künstlerkreise die mit [ .. . ] (BRD) liiert sind und ihm gegenüber zum Ausdruck bringen wollen, daß sie ihn nicht wollen und seine Kunst ablehnen. Durch die Aussagen von L. bei der Befragung und ihre Wiederverwendung in Gesprächen mit [ ... ] und [ ... ] durch das MfS wurde L. von seinen Freunden isoliert. Man bezeichnet ihn als einen Idioten, der gegen die Spielregeln verstossen habe und den anderen das MfS ,auf den Hals gehetzt' habe. L. wurde gegenüber seines Freundeskreises unglaubhaft, da er für sie belastende Aussagen gemacht hat und dem MfS Informationen gegeben hat, die nicht an die Öffentlichkeit sollten. Die Legende des Einbruchs ging auf, von dem Freundeskreis des L. wird angenommen, daß der freischaffende MI G [ .. . ] den Einbruch verübt habe um seiner Wut Ausdruck zu geben, daß seine ehemals guten Verbindungen zu [ ... ] abbrachen obwohl gerade er sich als ,wahrer Verfechter' der Ideen von ( ... ] einmal betrachtete. ( ... ) Die gegenwärtig starke Verunsicherung oppositioneller Künstler Dresdens durch diese operative Kombination führte dazu, daß ein großer Teil des Vertrauensverhältnisses dieser Personen zerstört ist und jeder vom anderen glaubt er sei ein Informant des MfS."37

2. OV "Made", OV "Wurm", OV "Eremit": Die Karl-Marx-Stiidter Künstlergruppe und Produzentengalerie "Clara Mosch" im Visier der Staatssicherheit

Am 30. 5. 1977 gründete sich in Karl-Marx-Stadt die Künstlergruppe "Clara Mosch", die ebenfalls eine kleine Galerie gleichen Namens im Vorstadt-Dörfchen Adelsberg unterhielt. 38 Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft und Dagmar RanftEbenda, S. 382. Ebenda, S. 383. (Die durch [ ... ] wiedergegebenen Stellen sind die in der Kopie geschwärzten Namen.) 38 Geplant war ursprünglich eine Privatgalerie, doch kurz vor der Eröffnung setzten der Verbandsvorstand des VBK, Kulturfunktionäre der SED-Stadtleitung, Beauftragte vom Rat des Bezirkes und der Kulturbundleitung die Künstler unter Druck. Da private Galerien in der DDR verboten seien (einige Ausnahmen bestätigten damals bereits diese Regel), müßte die Gruppe mit einem ..gesellschaftlichen Partner fusionieren, ansonsten bliebe die Galerie geschlossen. Die Gruppe willigte in die Zusammenarbeit mit dem Kulturbund ein. Doch bereits nach drei Jahren verschoben sich die Verhältnisse in der Galerieleitung und den beiden Mosch-Vertretern im Beirat standen immer mehr Kulturbund-Vertreter gegenüber, die deren Vorschläge offen boykottieren. Der Clara-Mosch-Namenszug verschwand von den Ausstellungsplakaten und es wurden immer mehr (für die .,Moschisten") fragwürdige Künstler ins Ausstellungsprogramm lanciert. 36 37

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Schinke, Michael Morgner und Gregor-Torsten Schade sind "Clara Mosch"- der Gruppenname setzte sich anagrammhart aus den Anfangsbuchstaben der Familiennamen aller fünf Gründungsmitglieder zusammen. Mit dem Status eines außerordentlichen Mitglieds, kam kurze Zeit später noch der Fotograf Ralf-Rainer Wasse hinzu, dessen umfangreiche Werks- und Aktionsdokumentation die Gruppe bald republikweit in den Szenen bekannt machte. Allerdings nicht nur dort, denn der Neuzugang stand auch auf den Gehaltslisten der DDR-Tschekisten und berichtete diesen penibel und detailgetreu als IMV "Frank Körner" über alle Aktivitäten der Gruppe. 39 "Ciara Mosch" war noch nicht einmal geboren, da beschloß die Bezirksverwaltung des MfS in Karl-Marx-Stadt schon ihr Ableben. Der vorbeugende Kampfauftrag einer "Konzeption zur Differenzierung und Zerschlagung des personellen Schwerpunktes ,Avantgardistischer Kreis'" für die Kämpfer an der unsichtbaren Front, wurde bereits am II. 3. 1977 formuliert: .•Die gegenwärtige Klassenkampfsituation erfordert offensive Maßnahmen, um eine weitere Festigung des entstehenden feindlichen Stützpunktes zu verhindern und die planmäßige Differenzierung und Zerschlagung der Konzentration durchzuführen." 40

In den nächsten fünf Jahren sollten in einem von der Stasi erarbeiteten "Zersetzungs"-Programm mehr als 120 Spitzel zum Einsatz kommen und die "CiaraMosch"-Künstler in drei Operativen Vorgängen "bearbeitet" werden: Thomas Ranft und GregorTorsten Schade (später Kozik) im OV "Made", Michael Morgner im OV "Wurm" und Carlfriedrich Claus im OV "Eremit". Die Mitglieder der von der Stasi als "avantgardistisch" etikettierten Künstlergruppe waren indes alle Mitglieder im VBK und Ranft und Morgner engagierten sich im Künstlerverband sogar derart, daß sie dessen Profil bald entscheidend mitbestimmten. Es ging ihnen in erster Linie um die Verwirklichung eigener künstlerischer Tätigkeit. In der "Ciara-Mosch"-Galerie in Adelsberg fanden bis zur ihrer Autlösung insgesamt 29 Ausstellungen statt, darunter sechs Gemeinschaftspräsentationen der ,,Moschisten" und mehrere Personalausstellungen. Die editorische Produktion verweist auf 7 Mappen werke, 26 Plakate, etwa 120 Künstlerpostkarten und Mail-ArtProjekte. Jährlich fanden kollektive Arbeiten in "freier Luft" - sogenannte Pleinairs - statt, wo auch Leipziger und Dresdner Künstler teilnahmen. Dabei verband "die höchst unterschiedlichen Charaktere ein spürbarer Gruppengeist, der sich aus Achtung vor dem jeweils anderen Mikrokosmos speiste; eine Fünftracht unter dem Namen der selbsterfundenen Patronin, zerbrechlich aber sinnstiftend"41 . 3Y Ygl. Kaiser. Paul!Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur. A. a. 0. S. 320-330 und Dokumentation S. 384- 390. (Die Stasi finanzierte Wasse nicht nur das Fotopapier sondern sogar ein monatliches Salär- im Laufe der Jahre insgesamt II 0 000 Mark.) 40 Ebenda, S. 384. 41 Ebenda, S. 325. 35 Timmcrmann

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Michael Morgner charakterisierte die Künstlergruppe nach der "Wende" wie folgt: ,,Es war eigentlich eine Notgruppe angesichts der Situation qualitätslosen Sozialistischen Realismus. Wir hatten überhaupt kein ,Programm', sondern Mosch war ,ein Boot für alle Leute, die nicht untergehen wollten'. Es war weniger eine einigende Grundhaltung des künstlerischen Programms, sondern mehr die gleiche Grundhaltung bei der Ablehnung des Realismus bis hin zu Sitte, Müller, Bergander, Heisig, Mattheuer."42

Das MfS indessen entwarf ,,Maßnahmepläne". So unter anderen einen "Maßnahmeplan zur Bearbeitung des OV "Made" vom 26. 1. 197843 , in dem die Künstlergruppe folgendennaßen charakterisiert wird: "Diese Personen verstehen sich als ,Außenseiter' und unternehmen in verstärktem Maße den Versuch, die Positionen des sozialistischen Realismus zu unterlaufen. Zur Verwirklichung ihrer Zielstellung, einen anerkannten Gegenpol zur sozialistischen Kulturpolitik zu bilden, verbünden sie sich mit Personen und Personengruppen, die in OV anderer OE (insbesondere BV Berlin, Leipzig und Dresden) [OE== Diensteinheiten; BV =Bezirksverwaltung- A.G.] in gleicher oder ähnlicher Beziehung operativ bearbeitet werden. 1977 wurden die Verbindungen der Hauptverdächtigen in die BRD und zum kapitalistischen Ausland ausgebaut, um in diesen Ländern künstlerische Anerkennung und moralischen Rückhalt zu finden." 44 Die Stasi hatte gut beobachtet wie die Analyse zeigt. "Außenseiter", "Versuch, die Positionen des sozialistischen Realismus zu unterlaufen", "Gegenpol zur sozialistischen Kulturpolitik bilden" - genau das war das Ziel der "Ciara Mosch". Aus dem Blickwinkel der Macht jedoch liest sich das anders. "Außenseitertum" bedeutete Absonderung vom sozialistischen Kollektiv und ein "Gegenpol" zur offiziellen Kulturpolitik war einfach undenkbar. Dazu kamen noch die Verbindungen ins kapitalistische Ausland, zum "Klassenfeind" mit etwaiger "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" und zu befürchtender "Verunglimpfung und Herabwürdigung der Arbeiter und Bauern Macht". Die Stasi befürchtete eine republikweite Beispielwirkung mit Vorbildcharakter auf andere Künstler und Künstlergruppen. Die Abteilung XX der BV Kari-Marx-Stadt handelte umgehend und formulierte unter anderen folgende Ziele der "operativen Bearbeitung": "- Tiefer in die Konspiration der Verdächtigen einzudringen, um deren Pläne, Absichten, Aktivitäten und die dabei angewandten Mittel und Methoden rechtzeitig in Erfahrung zu bringen. Daraus sind geeignete Abwehrmaßnahmen abzuleiten, um die weitere Herausbildung des feindlichen Stützpunktes unter den Künstlern des Bezirkes wirksam verhindern zu können. -

Das Ziel und der Charakter der Kontakttätigkeit in das kapitalistische Ausland ist exakt herauszuarbeiten, um den Nachweis der Feindeinwirkung auf die Verdächtigen führen

Ebenda. Kopie aus den Akten der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt Abteilung XX in ebenda, S. 385-390. 44 Ebenda, S. 385. 42 43

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zu können. (Die Dokumentierung erlolgt rückwirkend ab Aufnahme der operativen Bearbeitung.) -

Der Zusanunenhang zwischen der politischen Untergrundtätigkeit [PUT- A.G.], der verstärkten Kontakttätigkeit und der PID [Politisch-Ideologische Diversion- A.G.] auf und durch die Verdächtigten ist umfassend und Tatsachenbezogen herauszuarbeiten, die erkannten feindlichen Kräfte sind zu isolieren, politisch schwankende Kulturschaffende sind positiv zu beeinflussen.

-

Auf Grundlage der bereits gewonnenen und der zu gewinnenden Informationen über die Aktivitäten der Verdächtigen ist der Differenzierungs- und Zersetzungsprozeß mit wirksamen Maßnahmen zu führen." 45

Die darauf in die Praxis umgesetzten ,,Maßnahmen des Differenzierungs- und Zersetzungsprozeß" waren vom MfS genau kalkuliert und trugen wesentlich zum Zerfall der "Clara Mosch" bei. 46 Mit von der Stasi eigens konstruierten Gerüchten über eine inoffizielle Zusammenarbeit wurde Gregor-Torsten Schade erfolgreich bei den anderen Mitgliedern der Gruppe kompromittiert. Die Freundschaft zu ihm zerbrach letzten Endes. Eine andere persönliche Strategie, deren Umsetzung in die Praxis allerdings gründlich mißlang, benutzte die Stasi für Michael Morgner. Er sollte durch verstärkte Auftragsvergaben47 durch den VBK und Ausstellungsbeteiligungen auch im westeuropäischen Ausland gefügig gemacht werden. In den Privatbereich des Ehepaares Dagmar Ranft-Schinke und Thomas Ranft griff das MfS ebenfalls nicht ohne Folgen ein: "Die Anerkennung der Ehefrau des R. [Thomas Ranft - A.G.] als Künstlerin beeinflußt maßgeblich das Ansehen des R. Durch politisch-operative Maßnahmen sind Ansatzpunkte für einen Ehekonflikt mit dem Ziel der Trennung zu schaffen, dazu ist erlorderlich: - Einsatz von zuverlässigen und überprüften IM an R. und dessen Ehefrau. - Verunsicherung beider Personen durch intime Zuschriften, Briefe u. a., die geeignet sind, eheliche Zerwürlnisse zu vertiefen. " 48 "Die Maßnahme wird realisiert - für Thomas Ranft interessiert sich plötzlich eine geheimnisvolle Schöne aus Ost-Berlin. Nach der vollzogenen Trennung der beiden Ranfts ist die Dame plötzlich verschwunden, ausgereist nach Österreich, wie es heißt."49

Die Gruppe zog nach fünfeinhalb Jahren den Schlußstrich und holte ihre legendäre Galerie-Fahne eigenhändig wieder ein. Ein von IMV "Frank Körner" hergestellter Aufkleber in Form einer Traueranzeige verkündete am 27. 11. 1982 das Ableben der rebellischen Dame: "Clara Mosch ist tot". Ebenda. V gl. dazu detailliert : Ebenda, S. 327 f. und 384. 47 "Er sollte bevorzugt Großaufträge für Wandbilder und baugebundene Kunstwerke erhalten, ,die von ihm ein konsequentes parteiliches und volksverbundenes Schaffen fordern und eine intensive ideologische Einflußnahme durch die Auftraggeber ermöglichen'." Zitiert nach ebenda, S. 384. 48 Maßnahmeplan der BV des MfS K.-M.-Stadt vom 26. 1. 1978. Zitiert nach ebenda, S. 386. 49 Ebenda, S. 328. 45

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Die beiden Fallbeispiele - bewußt ausführlich dargestellt - zeigen noch einmal den bereits eingangs angeführten eklatanten Widerspruch zwischen selbstgestellten Anspruch der Gegenkultur, der sich in fast allen Fällen auf eine andere Form der Kunstausübung beschränkte und in den seltensten Fällen eindeutig politisch motiviert war und der Begegnung und Behandlung durch die DDR-Kulturbürokratie, mit der SED an der Spitze. Die ständig wiederkehrenden Begriffe wie "feindlich-negativ", ,,PID" und "PUT", "oppositionelle Gruppen" in den Akten des MfS, rückten die "Beobachtungsobjekte" der Stasi fast ausnahmslos in des Licht von Staatsfeinden, die es erbarmungslos zu bekämpfen galt. V. Schlußbetrachtung

Die Gegenkultur war für die offizielle DDR-Kulturpolitik der SED ein permanenter Störfaktor, den sie mit dem Etikett "oppositionell" versah und ausweglos - mit dem Ziel der Bekämpfung - politisierte. Der Preis, den die Protagonisten der DDR-Gegenkultur dafür zahlen mußten, war hoch und widerlegt die Auffassung, daß die DDR in erster Linie eine Nischengesellschaft war, in der sich ein Jeder mehr oder weniger bequem einrichten konnte. Das System forderte Loyalitätsbekenntnisse von seinen Bürgern - sei es durch die "Volkswahlen" oder von Mitgliedschaften in gesellschaftlichen Organisationen.50 Da dieser Prozeß bereits im Kindesalter einsetzte (z. B. mit dem Eintritt in die Pionierorganisation), ließ sich eine Einteilung in loyale und renitente Bürger regelmäßig, mannigfaltig und frühzeitig vornehmen und bei Entscheidungsfallen (z. B. Studienzulassung) später weit zurückverfolgen. In der offiziellen Kunst, die besonders in der Diktatur dem Motto "Wem nützt das?" gehorcht, wurde die Dazugehörigkeil nicht automatisch erteilt. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." hieß die Devise. Die individuelle Verweigerung gegenüber einer doktrinären Kunstauffassung in Zusammenhang mit einer dogmatischen Kulturpolitik, führte zu gesellschaftlicher Ächtung und ließ die Betreffenden zu Außenseitern, wenn nicht gar zu Staatsfeinden werden. Der Dichter Durs Grünbein, einst selbst Akteur der Szene in Dresden und später in Ost-Berlin, findet diesbezüglich folgende Worte: "Das System brauchte seine Feinde im Inneren wie den Gegner im Ausland zum Überleben. Konfrontation war die einzige Sprache, die es verstand, die jede Paranoia und alle Kontrolle begründete. Woran es zugrunde ging, war die Verweigerung, der wunderbar egoistische Massenauszug aus dem mit Stacheldraht umzäunten Labyrinth. " 51 ~o

Vgl. dazu Löser. Claus/Fritzsche Karin: Filmische Subversion in der DDR. A. a. 0.

s. 8 f.

51 Zitiert nach Kaiser. Paul/ Petzold. Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. A. a. 0 . S. 17.

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Grünbein ist hier nur bedingt zuzustimmen. Der Auszug aus dem ,,Labyrinth" war nicht massenhaft, die Verweigerung immer individuell und in den seltensten Fällen umfassend (gedacht wird hier insbesondere an das letzte Wahlergebnis im Mai 1989, wo trotz Wahlfälschungen immer noch gut 90% der Bevölkerung "hinter der Politik von Partei und Regierung" standen) und sicher nicht der einzige Grund, der zum Zusammenbruch der realsozialistischen Diktatur in der DDR führte. Dennoch lag gerade in dieser Verweigerungshaltung eine erhebliche politische Relevanz der DDR-Gegenkultur. Es ist ein Ergebnis ihrer Existenz, in nicht zu unterschätzendem Maße zur innenpolitischen Destabilisierung der DDR beigetragen zu haben.

Zensur in der DDR: Restriktion und Emanzipation der Schriftsteller im literarischen Schaffensprozen Von Robert Grünbaum

I. Einführung Drei große Debatten bestimmten bisher den literar-intellektuellen Diskurs im wiedervereinigten Deutschland: der ,.deutsch-deutsche Literaturstreit" des Jahres 1990 1, die immer wieder aufflackernde Auseinandersetzung um das Verhältnis von Literatur und Staatssicherheitsdienst im sozialistischen Staat2 und der heftig und emotional geführte Streit um die Vereinigung der beiden deutschen PEN-Zentren. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen stand vor allem das äußerst umstrittene Beziehung der DDR-Schriftsteller zu ihrem Staat. Ein Aspekt, der dabei nur eine untergeordnete Rolle spielte, waren die konkreten Arbeitsbedingungen, also der Alltag der Autoren. Doch gerade hier stellen sich wichtige Fragen über das Leben in der Diktatur: Was bedeutete es für die Schriftsteller, unter den Bedingungen eines kommunistischen Regimes schöpferisch tätig zu sein? Welche Vorgaben machte die SED für den literarischen Schaffensprozeß und wie versuchte sie, diese durchzusetzen? Wie reagierten die Schriftsteller darauf? Welche Konsequenzen hatte es, wenn sich ein Autor gegen die offizielle Parteilinie stellte beziehungsweise an dieser Kritik übte? Auf diese Fragen sollen nachfolgend einige Antworten gegeben werden. Dabei geht es nicht darum zu beurteilen, ob die Werke der DDR-Literatur ästhetisch wertvoll sind oder nicht. Ihre literarische Qualität soll hier nicht bewertet werden. Im Mittelpunkt der Ausführungen des ersten Teils steht vielmehr die Beschreibung der äußeren Bedingungen, unter denen Bücher im SED-Staat entstanden. Es sollen generelle Herrschaftsstrukturen aufgezeigt werden, unabhängig davon, daß der Einzelne diese im Alltag subjektiv unterschiedlich wahrgenommen ' Der "Literaturstreit" des Jahres 1990 liegt zweifach dokumentiert vor: Thomas Anz (Hg.), ..Es geht nicht um Christa Wolf'. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991 sowie Kar/ Deiritz / Hannes Kraus (Hg.), Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder ..Freunde. es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge". Analysen und Materialien, Harnburg 1991. 2 Vgl. zu dieser Thematik u. a. Heinz Ludwig Arnold {Hg.), Feinderklärung. Literatur und Staatssicherheitsdienst (Text u. Kritik Heft 120), München 1993; Peter Böthig/Klaus Michael (Hg.), MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg, Leipzig 1993; Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996.

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und erlebt haben mag. Im zweiten Teil werden dann die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Schreibbedingungen anhand der Diskussionen auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR 1987 untersucht.

II. Strukturen und Mechanismen der literarischen Zensur Die SED fürchtete das freie Wort, wie der Teufel das Weihwasser. Weder in den Medien noch in Büchern durften gesellschaftliche Widersprüche thematisiert werden. Angesichts ihrer vermuteten subversiven Kraft stand die Literatur unter besonderer Vormundschaft der Partei. Selbstverständlich galt der Führungsanspruch der SED auch für den Bereich der Kultur- bzw. Literaturpolitik. Sie machte die Vorgaben und kontrollierte deren Umsetzung. Um ihren Führungsanspruch und die daraus resultierenden literatur-ideologischen Gebote durchzusetzen, bediente sich die SED des aufwendig und umfangreich organisierten Systems der "literarischen Zensur". Zunächst bedarf es einer Begriffsklärung: In der Forschung trifft man häufig auf einen sehr engen Zensurbegriff. der sich lediglich auf das rein staatliche Genehmigungsverfahren für den Abdruck eines Textes bezieht. 3 Damit wird man dem Gesamtphänomen "Zensur" allerdings kaum gerecht. Ein weiter gefaßter Zensurbegriff ist deshalb passender.4 Danach war die "literarische Zensur" in der DDR jegliche parteistaatliche Kontrolle schriftlicher und mündlicher Äußerungen im Literaturbereich, verbunden mit massiven Beeinflussungsversuchen ihrer Produzenten, um unerwünschte Veröffentlichungen, gleich welcher Art, zu verhindern. Sie konnte als Vor- oder Nachzensur in Erscheinung treten. 3 Vgl. z. B. Bernd Weyergraf/ Peter Lübbe, Stichwort •.Zensur", in: Wolfgang R. LangenbucherI Ralf Rytlewski I Bernd Weyergraf (Hg.). Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit. Bundesrepublik Deutschland I Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988, S. 763 -765; Siegtried Bräuer/Clemens Vollnhals (Hg.), "In der DDR gibt es keine Zensur". Die Evangelische Verlagsanstalt und die Praxis der Druckgenehmigung 1954-1989, Leipzig 1995, S. 15; Ernest Wichner/Herbert Wiesner (Hg.), Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und ,,Ästhetik" der Behinderung von Literatur, Berlin 1991, S. 9 13; dies. (Hg.), "Literaturentwicklungsprozesse". Die Zensur der Literatur in der DDR, Frankfurt a.M 1993; Sirnone Barck/Martina Langermann/Siegtried Lakatis, "Jedes Buch ein Abenteuer". Zensur-System und literarische Öffentlichkeilen in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997, S. 10. 4 Er wird u. a. auch verwandt von Ulla Otto, Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik, Stuttgart 1968, S. 6; Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982, S. 9- 22; Hans J. Schütz, Verbotene Bücher. Eine Geschichte der Zensur von Homer bis Henry Miller, München 1990, S. 9-25; Antonia Grunenberg, Die Opposition unter Schriftstellern in der DDR vom Beginn der Ära Honecker bis zur polnischen Revolution 1980/81, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der EnqueteKommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bd. VII,!, Baden Baden 1995, S. 764; Richard Zipser, Dauer im Wechsel: Literaturzensur in der Deutschen Demokratischen Republik, in: ders. (Hg.), Fragebogen: Zensur, Leipzig 1995, S. 13 - 41.

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Folgt man dem Text der DDR-Verfassung, hätte es keine Zensur geben dürfen, konnte doch jeder gemäß Art. 27 Abs. I "den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß"5 seine Meinung frei und öffentlich äußern. Niemand sollte benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch machte. So war zwar fonnal eine freie Meinungsäußerung verfassungsmäßig abgesichert. Inhalt und Umfang dieses Rechts wurden allerdings durch den Verfassungsvorbehalt strukturiert und beschränkt. Mit einer so beliebigen Formulierung waren den Beurteilungen kritischer Äußerungen keine Grenzen gesetzt. Das heißt nichts anderes, als daß eine freie Meinungsäußerung nur soweit gewährleistet wurde, wie die Herrschaftsverhältnisse nicht beeinträchtigt schienen. Die Bürger der DDR hatten nur insoweit einen verfassungsmäßigen Anspruch auf dieses Grundrecht, als sie den Führungsanspruch der SED nicht in Frage stellten.6 Um kritische Äußerungen und Stellungnahmen im Kunstbereich zu verhindern, machte die SED den Literaten klare ideologische Vorgaben. Es galt die allgemeinverbindliche Programm des "sozialistischen Realismus". Auf der Basis der marxistisch-leninistischen Ideologie war dieses in den Rang einer Kunstdoktrin erhobene Konzept zugleich offizielle Kunstauffassung, einheitliche Literaturtheorie und gültige Schaffensmethode. Laut "sozialistischem Realismus" hatte der Künstler in seinem Werk die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung hin zur kommunistischen Gesellschaft darzustellen. Zu seinen Grundelementen gehörten Prinzipien wie Volksverbundenheit, Optimismus und Parteilichkeit. Auch wenn es innerhalb der 40 DDR-Jahre immer wieder Veränderungen der offiziellen Linie gab: entscheidend ist, daß der "sozialistische Realismus" trotz aller Veränderungen als Grundkonzept bis 1989 in Kraft blieb und dem einzelnen Autor, der in der DDR publizieren wollte, enge Grenzen setzte. Die SED verfügte über ein breites Spektrum mehr oder weniger repressiver Maßnahmen, um ihren ideologischen Anspruch gegenüber den Schriftstellern durchzusetzen. Da ist zunächst das sogenannte "Druckgenehmigungsverfahren"7 : Im Gegensatz zu demokratischen Systemen, in denen jeder die Möglichkeit zur Veröffentlichung seiner Schriften hat (und sei es im Selbstverlag), behielt sich in der DDR die SED das Recht vor zu bestimmen, wer was und wann publizieren durfte. Jedes Schriftstück in der DDR bedurfte einer Druckgenehmigung. Das Genehmigungsverfahren für literarische Werke war streng hierarchisch strukturiert. Es reichte vom Verlagslektor und dem Verlagsleiter, über die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur (der eigentlichen und zentralen s Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1975, S. 20. Dazu ausführlicher Herwig Roggemann, Die DDR-Verfassungen. Einführung in das Verfassungsrecht der DDR. Grundlagen und neuere Entwicklungen, Berlin 1989, S. 281 f. 7 Dieses komplizierte Verfahren wird für die Zeit bis zum Ende der sechziger Jahre ausführlich und detailiert beschrieben von Sirnone Barck/Martina Langermann/Sieg/ried Lokatis, a. a. 0. (Anm. 3). Für die siebzigerund achtziger Jahre vgl. ferner Ernest Wichner/ Herbert Wiesner (Hg.), Zensur in der DDR, a. a. 0 . (Anm. 3) sowie Robert Darnton, Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990, München 1991. 6

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"Zensurbehörde"), bis zur Kulturabteilung des ZK der SED. In besonderen Fällen griff auch direkt das Politbüro bzw. Walter Ulbricht oder Erich Honecker persönlich ein. 8 Manches Buch ging auf diesem Institutionenweg mehrere Male hin und her, so daß es bei beanstandeten Werken einige Jahre dauern konnte, bis sie nach mehr oder weniger starken Veränderungen beziehungsweise mit großer zeitlicher Verzögerung erschienen - oder eben auch nicht. Entgegen dem Wortlaut der Verfassung reservierte sich die Partei durch das Druckgenehmigungsverfahren also das Recht, bereits vor Erscheinen eines Textes die Arbeit eines Schriftstellers zu prüfen und gegebenenfalls von der Erfüllung bestimmter Änderungsvorschläge die Druckgenehmigung abhängig zu machen. Entscheidende Kriterien für deren Erteilung waren die Übereinstimmung mit der aktuellen Parteilinie, die Gestaltung des Stoffes nach den Prinzipien des sozialistischen Realismus, der Verzicht auf die Darstellung systembedingter Probleme, die Beachtung bestimmter Tabuthemen und die Unterlassung von Kritik an Partei und Staat. Diese Vorgaben waren zwar allgemein bekannt, nicht aber für die Betroffenen schriftlich fixiert irgendwo einsehbar. Es gab keinen unmittelbar durchschaubaren, fest umrissenen Ge- und Verbotskatalog für das Schreiben, ein Druckgenehmigungsgesetz existierte nicht. Schließlich ging es der SED ja gerade darum, auf keinen Fall eindeutige und nachvollziehbare Kriterien aufzustellen. Denn auf diese hätte sich der Autor dann berufen können, die Parteientscheidungen wären nachvollziehbar und überprüfbar geworden. Genau das aber sollten sie nicht sein. So war es auch möglich, von Fall zu Fall zu entscheiden, und bei der Erteilung von Druckgenehmigungen immer wieder Ausnahmen von den Regeln zu machen. Entscheidend waren hier oft tagesaktuelle kulturpolitische Erwägungen der Staatspartei, deren Kurs im Literatursektor durchaus schwankend war. Die Entscheidung über den Druck eines Manuskripts unterlag somit vollständig der Willkür der Partei. Dabei wäre es insgesamt vergeblich, die Trennungslinie zwischen politischer Zensur und ästhetischer Kritik aufsuchen zu wollen - beide wurden ständig ineinander verwoben. Ästhetische Kritik wurde zumeist auch politisch legitimiert, und politisch-ideologische Einwände wurden oft als identisch mit ästhetischen Unzulänglichkeiten dargestellt. 9 Die administrative Zensur bezog sich nicht nur auf die Entstehung eines Buches, sondern sie begleitete die Entwicklungsgeschichte eines Werkes ständig, z. B. wenn es um Nach- oder Neuauflagen oder um Lizenzen für den Abdruck im Ausland ging. Eine wichtige Rolle spielte hierbei das "Büro für Urheberrechte", ~ Erich Loest nennt das Politbüro den allmächtigen "vierten Zensor", der sogar schon genehmigte oder schon gedruckte Bücher stoppen könne. Die drei Zensurinstanzen zuvor waren demnach der Selbstzensur ausübende Schriftsteller, die Verlagslektorate und die HV Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur. Vgl. Erich Loest, Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR, Köln 1984. S. 48. 9 Vgl. Anlnnia Grunenberg, a. a. 0. (Anm. 4), S. 763.

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ohne dessen Einverständniserklärung kein Buch außerhalb der DDR erscheinen durfte. 10 Neben der reinen Druckgenehmigung verfügte die Partei über eine ganze Reihe von Mitteln, um die Schriftsteller zu beeinflussen und zu disziplinieren. Eine wichtige Rolle spielte hierbei auch der Schriftstellerverband, der ja in der Hauptsache ein Instrument zur Durchsetzung der SED-Kulturpolitik im Bereich der Literatur war. Nur wer Mitglied im Verband war (was eine soziale Absicherung mit sich brachte), galt offiziell als Schriftsteller. Als Verbandsmitglied anerkannte man laut Statut allerdings die führende Rolle der Partei in der Kulturpolitik und verpflichtete sich ebenfalls zur Schaffensmethode des sozialistischen Realismus. Wer- aus welchen Gründen auch immer - kein Mitglied war, aber neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch keinen anderen Beruf ausübte, galt als arbeitslos. Da aber nach der DDR-Verfassung (Art. 24) und dem Arbeitsgesetzbuch (§ I Abs. 2) nicht nur das Recht sondern auch die Pflicht zur Arbeit bestand, konnte ihm in diesem Fall von den staatlichen Behörden eine beliebige Tatigkeit zugewiesen werden, die ihn nicht mehr zum Schreiben kommen ließ oder ihn dabei zumindest stark behinderte.11 Ein weiteres Mittel, Einfluß auf die Autoren auszuüben, war die Schaffung eines politischen Strafrechts, das auch "literarische" Straftatbestände festlegte. Sie eröffneten dem Staatsanwalt und damit wiederum der Partei jede Möglichkeit, gegen literarische Werke vorzugehen, wenn in ihnen systemkritische Passagen oder Ideen enthalten waren. Ihre Funktion lag vor allen in der vorauseilenden Einschüchterung, damit die Literaten freiwillig Selbstzensur ausübten. Bereits 1974 und 1977 war das politische Strafrecht in der DDR systematisch ausgebaut wordenn. Mit dem 3. Strafrechtsänderunggesetz vom I. August 1979 wurden die bestehenden Tatbestandsmerkmale der "Verbrechen gegen die DDR (§ 96 ff.) und "Straftaten gegen die staatliche Ordnung" (§ 210 ff.) teils präzisiert, teils ins Ungefahre ausgedehnt. Davon war auch die schriftstellerische Tätigkeit betroffen. So mußte bei10 V gl. dazu: Drohgebärden. Das Büro für Urheberrechte als Vollstreckungsgehilfe der Zensur. Dokumente, in: Ernest Wichner/Herbert Wiesner (Hg.), .,Literaturentwicklungsprozesse", a. a. 0 . (Anm. 3), S. 128-143. II Seide Bestimmungen korrespondierten mit § 249 StGB .,Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten". Dort heißt es: "(I) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird [ . . . ] mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft." Strafgesetzbuch der DDR - StGB - Textausgabe mit Sachregister, Berlin (Ost) 1986, S. 64. Eine schriftstellerische Tätigkeit, die jenseits der offiziellen Institutionen erfolgte, konnte danach leicht als .,nicht geregelte Arbeit" bewertet werden. Vgl. auch Friedrich-Christian Schmeder, Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983, S. 96-100. Bemerkenswert sind in disem Zusammenhang auch die Bemühungen der SED, die Berufsbezeichnung .,Schriftsteller" per Gesetz zu .,schützen". Vgl. dazu Petra Boden, Strukturen der Lenkung von Literatur. Das Gesetz zum Schutz der Berufsbezeichnung Schriftsteller, in: Peter Böthig/Klaus Michael (Hg.), a. a. 0 . (Anm. 2), S. 217-227.

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spielsweise ein Autor, der in seinen Texten staatliche Funktionsträger kritisch darstellte damit rechnen, nach § 106 StGB wegen "staatsfeindlicher Hetze" zwischen einem und 8 Jahren Haftstrafe verurteilt zu werden.12 Schriftsteller, die unter Umgehung des Büros für Urheberrechte eigene Texte im Westen veröffentlichten, mußten nach § 219 StGB mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren rechnenY Nahmen sie für ihre iw. Ausland verlegten Werke Honorare entgegen, liefen sie Gefahr, wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz angeklagt zu werden. Autoren schließlich, die in privaten oder öffentlichen Lesungen innerhalb oder außerhalb der DDR kritische Texte vortrugen, konnten wegen "öffentlicher Herabwürdigung" nach § 220 StGB mit Freiheitsstrafen bis zu 3 Jahren belegt werden. 14 In all diesen Fällen war bereits der Versuch strafbar. Darüber hinaus wurden das Ordnungswidrigkeilsgesetz und weitere staatliche Strafmöglichkeiten genutzt, um zu drohen, zu verwarnen oder Sanktionen unterhalb der strafrechtlichen Ebene zu verhängen. Den Strafverfolgungsbehörden wurde ein unbeschränkter Ermessensspielraum bei der Feststellung überlassen, auf Grund welchen literarischen Befundes oder welcher konkreten Wirkung Texte geeignet waren, aufhetzend, herabwürdigend oder aufwiegelnd zu wirken. Ein Autor konnte nur aufgrund von Hypothesen über die vermutete Wirkung seines Werkes angeklagt werden. Einem derart Angeklagten war es demzufolge unmöglich, einem Willkürurteil zu entgehen. 12 § 106 ,.Staatsfeindliche Hetze" hieß im Wortlaut: "(1) Wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der Deutschen Demokratischen Republik angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er I . die gesellschaftlichen Verhältnisse, Repräsentanten oder andere Bürger der Deutschen Demokratischen Republik wegen deren staatlicher oder gesellschaftlicher Tatigkeit diskriminiert; 2. Schriften, Gegenstände oder Symbole zur Diskriminierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, von Repräsentanten oder anderen Bürgern herstellt, einführt, verbreitet oder anbringt; 3. die Freundschafts- und Bündnisbeziehungen der Deutschen Demokratischen Republik diskriminiert; 4. Verbrechen gegen den Staat androht oder dazu auffordert, Widerstand gegen die sozialistische Staatsund Gesellschaftsordung der Deutschen Demokratischen Republik zu leisten [ . .. ] wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu acht Jahren bestraft." Strafgesetzbuch der DDR, a. a. 0 . (Anm. 11), S. 35. 13 § 219 "Ungesetzliche Verbindungsaufnahme": ..[ ... ] (2) Ebenso wird bestraft, [ ... ] 2. wer Schriften, Manuskripte oder andere Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, unter Umgehung von Rechtsvorschriften an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland übergibt oder übergeben läßt." Ebd., S. 59. 14 § 220 ,.Öffentliche Herabwürdigung": ..(1) Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tatigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren [ ... ] verurteilt. (2) Ebenso wird bestraft, wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht. [ ... ]Wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik die Tat [ .. . ] im Ausland begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren [ . . . ]bestraft." Ebd., S. 59.

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Das Wissen um die staatlichen Sanktionsmaßnahmen ließ viele Autoren Selbstzensur ausüben, indem sie auf Kritik verzichteten: "Die potentielle, permanente Drohung prägte nicht unwesentlich das gesamtgesellschaftliche Klima in der DDR und führte zu einer Disziplinierung auch ohne direkte Repression. Hielten es die DDR-Machthaber in den ftinfziger Jahren noch für nötig, die Instrumente zu zeigen oder anzuwenden, so genügte später das tief verinnerlichte Wissen der DDR-Bürger, daß die Instrumente, auch wenn sie im Alltag nicht sichtbar, so doch vorhanden und anwendungsbereit waren." 15 Doch die SED beschränkte sich nicht nur auf Drohungen. Bis zum Ende der DDR war die Staatsmacht immer wieder bereit, die Bestimmungen des politischen Strafrechts anzuwenden, um so kritische Geister im Land zu kriminalisieren oder auszuschalten. Gegen viele Autoren wurde wegen der oben angeführten Vergehen ermittelt, etliche von ihnen - vor allem jüngere und international wenig bekannte wurden verhaftet und verurteilt. 16 Da sie ihre Bücher unter Umgehung des Büros für Urheberrechte in der Bundesrepublik veröffentlicht hatten, verurteilt man zum Beispiel wegen Devisienvergehens 1979 Robert Havemann zur Zahlung einer Geldstrafe von 10.000 Mark, Stefan Heym von 9.000 Mark und Wolfgang Hilbig von 2.000 Mark. Besonders häufig fand § 106 StGB "Staatsfeindliche Hetze" Anwendung. Auf dieser Grundlage wurden unter anderem 1964 Roger Loewig zu 2 Jahren, 1968 Thomas Brasch zu 2 Jahren und 3 Monaten, 1973 Ulrich Schacht zu 7 Jahren und 1974 Siegmar Faust zu 4 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Die Lyrikerin Annegret Gollin mußte 1976 zunächst wegen "asozialen Verhaltens" (§ 249 StGB) für sechs Monate ins Gefängnis. Nachdem sie bereits 1981 nach § 220 StGB zu zwei Jahren Bewährung verurteilt worden war, wurde sie 1982 wegen "öffentlicher Herabwürdigung des Sozialismus" zu 20 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Insgesamt ist für den Zeitraum von 1945 bis 1989 von einer Mindestzahl von 43 inhaftierten Schriftstellern auszugehen. Hinzu kommen noch weitere, vom literarischen Bereich nicht klar abgrenzbare Fälle. 17 Dies zeigt: Die SED setzte ihren totalen Machtanspruch auf geistigem Gebiet rigide durch. Über kritische Literatur sollte nicht diskutiert, sie mußte unterbunden werden. Wenn das Verbot der Veröffentlichung nicht ausreicht, zielte man eben direkt auf die Person des Autors. Ein beliebtes Mittel der SED, um mißliebige Schriftsteller loszuwerden, war deren Ausbürgerung oder erzwungene Ausreise in die Bundesrepublik sowie die Erteilung mehrjähriger Visa für eine Tätigkeit im Ausland. Waren entsprechende Autoren nicht bereit, ihr Land freiwillig zu verlassen, wurde entweder so starker 15 16

Joachim Walther. a. a. 0. (Anm. 2) , S. 365. Vgl. ebd., S. 365 - 376.

17 Neben den hier erwähnten Fällen nennt Joachim Wallher u. a. die bekannteren Literaten Horst Bienek, Dieter Borkowski, Wolf Deinert, Thomas Erwin, Dieter Eue, Jürgen Fuchs, Bernd-Dieter Hüge, Waller Kempowsk.i, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Christian Kuhnert, Erich Loest, Frank-Wolf Matthies, Gerulf Pannach, Lutz Rathenow, Utz Rachowski, Andreas Reimann, Bettina Wegner, Gerald K. Zschorsch. Vgl. ebd., S. 373 f.

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Druck auf sie ausgeübt, daß ihnen keine andere Wahl mehr blieb, oder sie wurden ganz einfach ausgebürgert. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Fälle Biermann 1976 18 mit den bekannten Folgen oder Krawczyk und KlierEnde der achtziger Jahre. 19 Seine eigene, herausragende Rolle im Zensurprozeß kam dem Ministerium für Staatssicherheit zu, in dem die Abteilung 7 der Hauptabteilung XX mit 41 hauptamtlichen Mitarbeitern für den Kulturbereich zuständig war. Diese Institution soll an dieser Stelle aber nicht ausführlich behandelt werden. 20 Hier nur soviel: Sämtliche Institutionen des Literatursektors - vom Schriftstellerverband, über die Akademie der Künste und das FEN-Zentrum bis hin zum Ministerium für Kultur und die Verlage - waren vom MfS unterwandert. Über Freunde, Bekannte, Kollegen, Verbandsmitglieder und Verlagsmitarbeiter im Dienst des Dienstes gelang es, Einfluß auf den einzelnen Autor schon im Vorfeld einer geplanten Veröffentlichung zu nehmen. Ein enges Netz aus Bespitzelung und Überwachung, Einschüchterung und Repression zog sich um denjenigen, der kein willfahriger Lobredner des Regimes war. Auch in das Druckgenehmigungsverfahren war der Staatssicherheitsdienst u. a. durch eigene Fachgutachten und Bewertungen von Manuskripten involviert. So war das MfS ebenso direkt in den Entscheidungsprozeß über das Erscheinen eines Textes einbezogen, wie in die verschiedenen Beeinflussungsmaßnahmen gegenüber einzelnen Autoren. Insgesamt betrachtet bedeutete "literarische Zensur" in der DDR also die Unterdrückung kritischer Äußerungen durch Beeinflussung, Disziplinierung und Maßreglung der Autoren. Die Methoden reichten von leichten Textänderungen bis zum absoluten Publikationsverbot, von der sozialen Ausgrenzung über Berufsverbot, Observation, Hausarrest, Kriminalisierung und Inhaftierung mißliebiger Schriftsteller bis zur Ausbürgerung oder der erzwungenen Ausreise in den Westen. Daneben gab es mildere Restriktionen wie die Untersagung öffentlicher Lesungen, eine besonders starke Verzögerung der Buchveröffentlichung bzw. die Genehmigung der Veröffentlichung nur in äußerst geringer Auflage, der Verzicht auf Nachauflagen sowie der Ausschluß aus dem Schriftstellerverband oder der Partei sowie die 18 V gl. Dietmar Keller I Mallhias Kirchner (Hg.), Biermann und kein Ende. Eine Dokumentation zur DDR-Kulturpolitik, Berlin 1991; Renate Chotjewitz-Häfner u. a. (Hg.}, Die Biermann-Ausbürgerung und die Schriftsteller. Ein deutsch-deutscher Fall, Köln 1994; Roland Berbig u. a. (Hg.), In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung, Berlin 1994; Manfred Krug, Abgehauen. Ein Mitschnitt und Ein Tagebuch, Düsseldorf 1996; Stefan Heym, Der Winter unsers Mißvergnügens. Aus den Aufzeichnungen des OV Diversant, München 1996; Joachim Wiukowski, Die DDR und Biermann. Über den Umgang mit kritischer Intelligenz: Ein gesamtdeutsches Resümee, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/1996, S. 37 - 45. 19 Zur Problematik der Ausreise von DDR-Schriftstellern siehe besonders die verdienstvolle Arbeit von Andrea Jäger. Schriftsteller aus der DDR. Ausbürgerungen und Übersiedlungen 1961- 1989. Bd. I: Autoren1exikon, Bd. 2: Studie, Frankfurt a.M. 1995. zo Vgl. zur Rolle des Staatssicherheitsdienstes auf dem Gebiet der Literatur vor allem die umfangreiche und unentbehrliche Studie von Joachim Walther. a. a. 0. (Anm. 2).

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Zurückweisung von Reisewünschen ins westliche Ausland. Viele Maßnahmen wurden parallel zueinander eingesetzt, sie konnten aber auch einzeln und fallweise angewandt werden. Dabei war für den einzelnen Literaten nicht voraussehbar, welche Maßnahme in seinem konkreten Fall in Gang gesetzt werden könnte. Der Zensurvorgang als solcher war unpräzise, seine Folgen schwer zu kalkulieren. Die SED-Führung hatte ein breit angelegtes System der politischen Überprüfung literarischer Texte installiert, um teils verdeckt, teils offen die Meinungs- und die künstlerische Freiheit zu unterdrücken. Es war ihr gelungen, ein "dichtes und nahezu perfektes Netz der Zensur" 21 um die Autoren zu legen. Wie reagierten die Schriftsteller auf die Existenz der "literarischen Zensur"? Da gab es zum einen die parteikonformen Autoren, die ohnehin so dachten und schrieben, wie es sich die SED wünschte. Bei anderen setzte die Selbstzensur ein, die berühmte "Schere im Kopf'. 22 Verschiedene, für die Partei problematische Stoffe wurden nicht thematisiert: Armee, Umweltverschmutzung, Mauer, Ausreise, Strafvollzug, Staatssicherheitsdienst gehörten dazu. Durch die Verwendung bestimmter literarischer Stilmittel versuchten sie außerdem, die Zensur zu umgehen oder zu überlisten, um zwar der direkten politischen Konfrontation zu entgehen, gleichzeitig jedoch ungeliebte Wahrheiten "zwischen den Zeilen" chiffriert auszusprechen. Man benutzte unter anderem das stilistische Mittel der Anspielung, Aussparung und Kürzung und die Technik der literarischen Montage oder der sprachlichen Verfremdung, verstärkte die Dialogisierung in erzählenden Texten, um so unbequeme Wahrheiten aussprechen zu können, die gleichzeitig durch Gegenpositionen relativiert wurden, verwandte Parabeln und Metaphern, schrieb mehr Kinderliteratur oder verlagerte die Stoffe in zeitliche oder räumliche Ferne?3 Um die Veröffentlichung ihres Werkes nicht zu gefahrden, zeigten sich viele dieser Literaten zu mehr oder weniger umfassenden Kompromissen mit der Zensurbehörde bereit. 24 Eine dritte Gruppe verweigerte sich der Zensur. Sie nahmen auf die Vorgaben der Partei keinerlei Rücksicht. Diese meist jüngeren Literaten mußten in Kauf nehmen, nur für die Schublade schreiben oder nur in Untergrundblättern bzw. im Westen publizieren zu können?5 Beides bedeutete ein erhebliches 21 Richard Zipser, Dauer im Wechsel. Literaturzensur in der Deutschen Demokratischen Republik, in: ders., a. a. 0. (Anm. 4), S. 18. 22 Dazu auch ebd., S. 27-32 sowie Manfred Jäger, Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR, in: Ernest Wichner/Herbert Wiesner (Hg.), ,,Literaturentwicklungsprozesse", a. a. 0. (Anm. 3), S. 18-49. 23 Zur Verwendung dieser literarischen Stilmittel siehe Elke Mehnert, Äsopische Schreibweise bei Autoren der DDR, in: Peter Brockmeier/Gerhard R. Kaiser (Hg.), Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 263-274. 24 Siehe dazu die verschiedenen Beispiele in Ernest Wichner/ Herbert Wiesner (Hg.), Zensur in der DDR, a. a. 0. (Anm. 3), Berlin 1991. 25 Vgl. z. B. Elke Erb/Sascha Anderson (Hg.), Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR, Köln 1985; Uwe Kolbe/Lothar Trolle /Bernd Wagner (Hg.), Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR, Darmstadt I Neuwied 1988; Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Die andere Sprache. Neue DDR-Literatur der 80er Jahre,

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persönliches Risiko für den Einzelnen, das sich vergrößerte, je weniger bekannt der Autor war - vor allem in Westen. 111. Der X. Schriftstellerkongreß der DDR 1987

Inwieweit sich die Vorgaben der SED tatsächlich durchsetzen ließen, ob der Versuch der Einflußnahme auf den Schaffensprozeß der Autoren also erfolgreich war, läßt sich natürlich nur sehr schwer empirisch messen. Hilfreich sind hierbei bis zu einem gewissen Grad die Akten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel bzw. die erhalten gebliebenen Unterlagen der verschiedenen Verlage, denen sich zumindest teilweise entnehmen läßt, welche Änderungen am Werk eines Autors vorgenommen wurden?6 Kennzeichen für die Wirksamkeit der Partei auf diesem Gebiet ist aber auch das gesellschaftliche Verhalten der Literaten, ihr öffentliches Auftreten und ihre Stellungnahmen zur politischen Situation im Land. Hieran läßt sich ablesen, inwieweit es der SED gelang, mit ihrem genauso umfangreichen wie differenzierten Drohpotential Einfluß auf die Literaten auszuüben und kritische Äußerungen zu verhindern. Daß die Schriftsteller der DDR durchaus bereit waren, sich zu engagieren, wenn es um ihren eigenen Berufsstand ging, zeigte ihr Verhalten nach der BiermannAusbürgerung 1976?7 In den Folgejahren taten sich die Autoren in dieser Beziehung allerdings nicht besonders hervor. Die relative Zurückhaltung der Schriftsteller in politischen Fragen sollte sich ab Mitte der achtziger Jahre ändern. Auslöser war die sowjetische Reformpolitik Gorbatschows, die auch viele in der DDR auf eine Umgestaltung und Liberalisierung des politischen Systems hoffen ließ. Doch die SED sperrte sich gegen jede Veränderung. Wohl zu Recht fürchtete sie als Folge des Beschreitens neuer Wege ihren Machtverlust Die Partei hatte allerdings zunehmend Schwierigkeiten, die Menschen ruhig zu halten. Daß das auch für die Schriftsteller galt, soll an einem bislang wenig beachteten Ereignis gezeigt werden: dem X. Schriftstellerkongreß der DDR im November 1987, der zu einem Zeitpunkt stattfand, als die SED-Führung noch sicher im Sattel saß, ihr Ende keineswegs absehbar war und sie noch uneingeschränkt über all ihre Machtmittel verfügte. Schon im Vorfeld des Kongresses war die Unruhe unter den Schriftstellern enorm angewachsen. Seit 1986 geht aus internen Analysen der ZK-Abteilung Ku!München 1990; Klaus Michael/Thomas Wohlfahrt (Hg.), Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989, Berlin 1992; Gabriele Muschter I Rüdiger Thomas (Hg.), Jenseits der Staatskult ur. Traditionen autonomer Kunst in der DDR, München 1992 sowie Maria Sonnenberg (Hg.), Dissidenten? Texte und Dokumente zur DDR-..Exii"-Literatur, Berlin 1990. 26 Ygl. Sirnone Barck/Martina Langermann/Sieg/ried Lokatis, a. a. 0. (Anm. 3) sowie Ernest Wichnerl Herbert Wiesner (Hg), Zensur in der DDR, a. a. 0 . (Anm. 3). 27 V gl. dazu die Verweise in Anm. 18.

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tur und aus Berichten des Schriftstellerverbandes über die politische Haltung der Intellektuellen deutlich hervor, daß es großen Unmut unter den Autoren über die Reformverweigerungshaltung der SED gab. In einer ,,Information über Stimmungen, Meinungen und Haltungen im Kultur- und Kunstbereich" für das ZK der SED wird darüber berichtet, daß in Diskussionen von Schriftstellern mit Parteifunktionären immer wieder Fragen aufgeworfen werden, "die die innere Entwicklung in der Sowjetunion mit der Sorge verbinden, wir könnten uns in bezug auf die Entwicklung im Kultur- und Kunstbereich von der Sowjetunion zu sehr ,abschotten' " 28 • Über eine Mitgliederversammlung des Berliner Bezirksverbandes der Schriftsteller im Frühjahr 1987 heißt es: "Es mehren sich die Symptome von Resignation, von Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit, es gibt Vertrauensschwund in bezug auf die Kraft und die behauptete gesellschaftliche und kulturpolitische Bedeutung des Verbandes." 29 Auch aus anderen Bezirksverbänden wurde im Laufe des Jahres von "lebhaften Diskussionen unter den Verbandsmitgliedern" über diese Frage berichtet. 30 Dieser Unmut brach sich dann schließlich auf dem X. Schriftstellerkongreß öffentlich Bahn. Natürlich gab es auf dem Kongreß noch viel Althergebrachtes und Bekanntes. Wie auf solchen Veranstaltungen üblich, gab es Beiträge, in denen die DDR gelobt, das bisher Erreichte gepriesen und der Partei gehuldigt wurde. Doch es waren auch neue Töne zu hören. So gab es z. B. spontane Wortmeldungen und - im Beisein von Erich Honecker und anderer führender DDR-Politiker - Änderungsanträge zur Tagungs- und Geschäftsordnung mit dem Ziel, intensiver als vorgesehen über die sowjetische Reformpolitik zu diskutieren. 31 Das waren Vorgänge, 28 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Dy 30/ J IV 2/9.06/38, BI. 6. 29 Bericht über die Mitgliederversammlung vom 28. Mai 1987. Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Archiv des Schriftstellerverbandes der DDR (SAdK-SV), SAdKSValt 1250. 30 In dem "Bericht über die in den Bezirksverbänden in Vorbereitung des X. Schriftstellerkongresses durchgeführten Wahlberichsversarnmlungen in den Monaten September und Oktober 1987" heißt es dazu: "Der eingeleitete Prozeß des neuen Denkens in der Sowjetunion führte zu lebhaften Diskussionen unter den Verbandsmitgliedern. [ ... ] In diesem Zusammenhang wünscht man sich ausführlichere Informationen über den Stand der Umgestaltung in der Sowjetunion." SAdK-SV neu 751 BI. 2. Auch in den Gruppengesprächen im Berliner Bezirksverband seit Anfang 1987 spielte die Refortnpolitik Gorbatschows offenbar eine ganz zentrale Rolle.Vgl. SAdK-SValt 879. 31 Der entsprechende Antrag des Lyrikers Horst Matthies wurde ebenso abgelehnt wie der Änderungsantrag zur Abschlußerklärung von Jürgen Renner!. In einer Kongreßauswertung durch die ZK-Abteilung Kultur heißt es dazu: ,,Für die Stärke der Parteikräfte des Kongresses [ .. . ] und für die politische Reife des Präsidiums des Verbandes spricht die Tatsache, daß einige Aktivitäten, die darauf abzielten, Richung und Verlauf des Kongresses zu verändern, entschieden zurückgewiesen wurden. Das gilt insbesondere für die Beantragung auf Änderung der Geschäfts- und der Tagesordung. ( . .. ] Die Reaktionsfähigkeit des Kongresses, seine richtigen, mit großer Mehrheit getroffenen Entscheidungen zur einmütigen Ablehnung dieser Versuche [ ... ] waren Ausdruck der politischen Stabilität im Schriftstellerverband der DDR." SAPMO-BArch, Dy 30/ J IV 2/3A/4630, Anlage 2, BI. 5.

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die bei einem offiziellen Ereignis, das zudem noch erstmals von den westlichen Medien verfolgt werden durfte, nicht gerade üblich waren. Die sowjetische Politik der Umgestaltung und ihre Übertragung auf die DDR war ein zentrales Thema, daß sich durch fast alle Diskussionen zog. Die DDR-Autoren verfolgten sehr genau die Entwicklung in der Sowjetunion und waren davon überzeugt, daß nur ein entschlossenes Einschwenken auf Reform und Liberalität die gesamtgesellschaftlichen Probleme ebenso lösen wie die Austrocknung der DDR-Literatur und die Abwanderung junger Talente stoppen könne. So richtete der sorbische Schriftsteller Jurij Koch seine Hoffnung auf "einen großen Politiker, den der Sozialismus hervorgebracht hat" 32 , und jeder wußte, daß Gorbatschow gemeint war. Dieter Mucke wurde noch deutlicher: ,,Es reicht eben nicht aus, daß die Gorbatschow-Reden im ND gedruckt werden, wenn gleichzeitig sehr eigenartige Vergleiche im Raum herumschwirren, die letztendlich zu einer Halbherzigkeil führen, die diese neuen Gedanken, diese neue Schubkraft in der gesellschaftlichen Entwicklung hemmt." 33 Aber auch andere gesellschaftliche Probleme, die lange Jahre tabu waren oder als Tabu galten, wurden kontrovers diskutiert. Dazu zählten Fragen der Reise-, Medien- und Informationsfreiheit, einer Justizreform und auch das Problem der aus dem Verband ausgeschlossenen oder in die Bundesrepublik ausgereisten Schriftsteller. Die Problematik der Umweltzerstörung wurde ebenfalls aufgegriffen. Der Kinderbuchautor Wolf Spillner wies anhand von Pressemeldungen nach, daß Erich Honecker offenbar keine Ahnung von dieser Problematik habe 34 . Jurij Koch griff in seiner Rede die Regierung scharf an. Engagiert kritisierte er den verantwortungslosen Raubbau der DDR-Wirtschaft an der Natur am Beispiel des Braunkohletagebaus. Er wandte sich dagegen, daß diese "Verwüstung" verheimlicht und durch ein stereotypes, optimistisches Pathos beschönigt werde. Den staatlichen Volkswirtschaftsplanern warf er vor, alternative Energien und Fragen der Energieeinsparung zu vernachlässigen. Kochs Vorwürfe veranlaßten Umweltminister Hans Reichelt zu einer Entgegnung, allerdings in der typisch verwaschenen, verallgemeinemden und die DDR rühmenden Form. Das Plenum strafte den Minister für seine langatmigen Ausruhrungen nicht nur mit demonstrativer Unaufmerksamkeit, sondern bedeutete ihm auch mit rhythmischen Klatschen, daß er die Rednertribüne verlassen solle. So viel Respektlosigkeit war man in der DDR bisher nicht gewöhnt. Thematisiert wurde auch die konfliktträchtige Zensurfrage. In einer engagierten und mit viel Beifall bedachten Rede wandte sich Günter de Bruyn vor dem Plenum 32 Schriftstellerverband der DDR (Hg.), X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. 1: Plenum, Berlin 1988, S. 158. 33 Schriftstellerverband der DDR (Hg.), X. Schriftstellerkongreß, Bd. 2: Arbeitsgruppen, S. 294. Mucke bezog sich hier auf das .,Tapeten"-lnterview Kurt Hagers in der Illustrierten .,Stern" vom 9. Aprill987. 34 V gl. ebd., S. 35 f.

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des Kongresses gegen die Zensur in der DDR. Eine Gesellschaft, die dieses Verfahren nicht abschaffe, verliere ihr Ansehen, argumentierte er. De Bruyn verlangte für das Erscheinen von Büchern die alleinige Verantwortlichkeit von Autoren und Verlagen ohne Einschaltung von Partei und Staat. Ansonsten müsse es ein "Druckgenehmigungsgesetz" geben, um so Willkür zu verhindem und ein Einspruchsrecht zu ermöglichen.35 Neben Günter de Bruyn war es vor allem Christoph Hein, der mit seinen Angriffen auf das Zensursystem für Aufsehen sorgte. Der Kernsatz seiner Ausführungen lautete: "Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar."36 Spätestens in den ftinfziger Jahren, so Hein, hätte die Zensur zusammen mit den Lebensmittelmarken verschwinden müssen. Er nannte sie nutzlos, da sie ohnehin nicht in der Lage sei, Literatur auf Dauer zu verhindern. Sie sei paradox, weil die Zensurbehörde genau das Gegenteil ihrer erklärten Absicht erreiche, werde durch ihr Verbot ein zensiertes Buch doch erst richtig bekannt. Durch die Zensur würden außerdem die Autoren derart in ihrer Arbeit behindert, daß sich einige gezwungen sähen, das Land zu verlassen oder aber, im Land bleibend, Selbstzensur zu üben. Und sie führe zu einer Entmündigung von Verlegern und Lesern. Weiterhin, so Hein, stehe die Zensur im Gegensatz zur Verfassung und sei ungesetzlich, schädige sie doch in hohem Grad das Ansehen der DDR, was laut Strafgesetzbuch den Tatbestand der "Öffentlichen Herabwürdigung" erfülle. Schließlich kam Christoph Hein zu dem Schluß: ,,Die Zensur muß schnellstens und ersatzlos verschwinden, um weiteren Schaden von unserer Kultur abzuwenden, um nicht unsere Öffentlichkeit und unsere Würde, unsere Gesellschaft und unseren Staat weiter zu schädigen."37 Wie lassen sich die beiden Redebeiträge einordnen? Erstmals seit der Rede Stefan Heyms vor dem Berliner Bezirksverband 1979, von dem er damals ausgeschlossen wurde, wagten es wieder zwei DDR-Autoren, vor einem öffentlichen Gremium die Zensur zu geißeln. 38 In einem Papier der Kulturabteilung des ZK der SED, das den Kongreß auswertete, heißt es dazu: "Es muß jedoch auch festgestellt werden, daß es vereinzelte Versuche gab, bestimmte oppositionelle Stimmungen in den Kongreß zu tragen. So wurde in den Diskussionsbeiträgen von Günter de Bruyn im Plenum und Christoph Hein in einer Arbeitsgruppe behauptet, daß es bei uns eine Zensur gäbe und damit die Forderung verbunden, die bestehende staatliche Regelung für die Herausgabe von Büchern zu beseitigen." Gleichzeitig verSchriftstellerverband der DDR (Hg.). Bd. I, a. a. 0 . (Anm. 32), S. 128-130. Schriftstellerverband der DDR (Hg.), Bd. 2, a. a. 0. (Anm. 33), S. 228. 37 Ebd., S. 231. 38 V gl. Joachim Walther u. a. (Hg.), Protokoll eines Tribunals. Die Ausschlüsse aus dem DDR-Schriftstellerverband 1979, Reinbek bei Harnburg 1991, S. 43-48. Bereits 1972 hatte Stephan Herrntin in einem internen Papier für Erich Honecker die Zensur in der DDR scharf angegriffen. Seine Einlassungen gelangten erst 1995 an die Öffentlichkeit. Vgl. Stephan Hennlin, Aide-Memoire, in: ders .• In den Kämpen dieser Zeit, Berlin 1995, S. 7-14. 35

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suchte man, diesen Vorgang herunterzuspielen: .,Sachlichkeit, konstruktiv-kritische Sicht, Verantwortung für den Sozialismus, Optimismus und Bereitschaft zur politischen Mitwirkung bliebenjedoch die bestimmenden Elemente der Diskussion". 39 Mit dieser Einschätzung hatte die Parteiführung nicht einmal unrecht. Zwar war der X. Schriftstellerkongreß mit seiner teils ungeschminkten Diskussion und dem Aufgreifen verschiedener Tabuthemen ein durchaus DDR-untypisches Ereignis und belegt die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zunehmenden Emanzipationsbestrebungen zahlreicher etablierter Literaten von der offiziellen Kulturpolitik. Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß die Kritiker natürlich bei weitem in der Minderheit waren. Der Kongreß läutete noch lange keinen grundsätzlich neuen Kurs ein. Dennoch aber entfaltete er seine Wirkung: Noch nie waren in der DDR der letzten Jahre außerhalb der Kirche die heißen Eisen mit solcher Deutlichkeit öffentlich angepackt worden. Nun waren sie in aller Munde und allgemeines Diskutiergut, nicht nur bei den Schriftstellern. Das im Laufe des Jahres 1988 in geringer Auflage veröffentlichte Protokoll zirkulierte in Intellektuellenkreisen und wurde dort intensiv diskutiert. Die Dämme begannen nach und nach zu brechen. Immer mehr Autoren bekannten sich, ermutigt durch die Offenheit auf dem Kongreß, zu ihrer kritischen Haltung und forderten nachdrücklich Veränderung. Auf einer Sitzung des Berliner Verbandes nach dem X. Schriftstellerkongreß Anfang 1988 forderte beispielsweise Christa Wolf, die am Kongreß nicht teilgenommen hatte: ,,Ich plädiere [ . . . ] dringend dafür, daß der Schriftstellerverband sich beharrlich für eine Änderung des bei uns praktizierten Druckgenehmigungsverfahrens für Bücher einsetzt, in dem Sinne, in dem Christoph Hein und Günter de Bruyn auf dem Kongreß darüber gesprochen haben." 40 Auf der Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Gera im Dezember 1987 wird die Ungeduld der Autoren in dieser Frage deutlich: ,,Paul Elgers übte massive Kritik am Verfahren der Erteilung von Druckgenehmigungen. Es wäre an der Zeit, Hürden abzubauen und das alles zu vereinfachen."41 Ähnliche Meldungen kamen auch aus den anderen Bezirken.42 Das Ministerium für Staatssicherheit sah sich in einer Lageeinschätzung ebenfalls veranlaßt, auf entsprechende Tendenzen unter den Schriftstellern hinzuweisen. So wurde konstatiert, es gäbe verstärkt .,Forderungen nach Aufhebung der Zensur, uneingeschränkter Veröffentlichung literarischer 39 SAPMO-BArch, Dy 30/ J IV 2/3A/4630, Anlage 2, BI. 2. Zur Rolle des stellvertretenden Kultunninisters in dieser Diskussion heißt es dort: ,,Der Forderung einiger Delegierter nach Beseitigung des Druckgenehmigungsverfahrens trat Genosse Höpcke entschieden entgegen." Ebd., BI. 4. 40 ,,Sitzung des BV Berlin", SAdK-SV neu 535, BI. 5 f . 41 Mitgliederversammlung am 10. und II. Dezember 1987 in Gera, SAdK-SV neu 752, Bd. I, BI. 89. 42 Vgl.. z. B. SAdK-SV neu 751, BI. 31 (SV der DDR); SAdK-SV neu 752, Bd. 2, BI. 124-125 (BV Rostock); SAdK-SV neu 752, Bd. 2, BI. 4 (BV Cottbus); SAdK-SV neu 752, Bd. l, BI. 44-46 (BV Erfurt). In dem Bericht über die Mitgliederversammlung des BV Erfurt am 18. 12. 1987 wird entgegen der sonst üblichen Praxis nicht von .,Druckgenehmigungspraxis", sondern offen von •.zensur" gesprochen.

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Arbeiten, genereller Veränderung in der Medienpolitik, Offenlegung jeglicher Tabus und Öffnung der Archive"43 . Die SED mußte darauf reagieren, und sie reagierte auch. Man verfuhr nach dem bewährten Prinzip von ,,Zuckerbrot und Peitsche". Noch während der X. Schriftstellerkongreß tagte, drang der Staatssicherheitsdienst am 25. November in die Räume der Ostberliner Zionskirche ein, um die Räume der dort beheimateten "Umweltbibliothek" zu durchsuchen, Unterlagen zu beschlagnahmen und Oppositionelle zu verhaften. Anfang 1988 wurden dann der radikal-kritische Dichter und Liedermacher Stephan Krawczyk zusammen mit seiner Frau, der Theaterregisseurin Freya Klier, verhaftet und zur Ausreise gedrängt. Auf der anderen Seite modifizierte man ein Jahr später, und damit auch ein Jahr nach der scharfen Zensurkritik auf dem Kongreß, sehr begrenzt das Druckgenehmigungsverfahren. Klaus Höpcke, der damalige stellvertretende Kulturminister und als solcher DDR-Chefverleger und Oberzensor in einer Person, interpretierte dies nach 1989 gerne als Abschaffung der Zensur, für die er natürlich ganz alleine verantwortlich sei.44 Das ist allerdings nur ein weiterer Versuch eines früheren SEn-Spitzenfunktionärs zur Legendenbildung. Zwar wurde die Prozedur zum Erwerb der sogenannten "Druckgenehmigung" ab Januar 1989 leicht verändert, das Genehmigungsverfahren als solches -und damit die Zensur- blieb aber insgesamt bestehen. Auch im letzten Jahr der DDR galt nach offiziellem Parteibeschluß, "daß keine den Grundsätzen unseres Staates und unserer Gesellschaft widersprechende Literatur veröffentlicht wird"45 . Bei einem internen Treffen mit Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit am 1. März 1988, auf dem Klaus Höpcke den kulturpolitischen Kurs der Partei erläuterte, wurde der "Bücherminister" noch deutlicher: "Aber wir werden, das ist noch nicht für außerhalb des Saales bestimmt, zur Vereinfachung der Verfahren auch noch einige Schritte gehen, die an der Grundinstitution, daß eine Druckgenehmigung erteilt wird, nichts ändern." 46 In einer internen Information der HA XX/7 des MfS vom 14. April1988 heißt es ebenso unmißverständlich: "Laut Mitteilung des stellvertretenden Ministers für Kultur, Gen. Klaus Höpcke, wurden in Auswertung des X. Schriftstellerkongresses der DDR in Abstimmung und Konsultation mit zentraler Stelle [ ... ] Überlegungen angestellt und Vorschläge erarbeitet, in welcher Weise das Druckgenehmigungsverfahren verändert bzw. zeitlich verkürzt werden könnte, ohne die staatliche Aufsicht und Entscheidungsbefugnis einzuschränken."47 Die SED zeigte sich also keineswegs bereit, ihr Genehmigungszit. nach Joachim Walther. a. a. 0 . (Anm. 2), S. 132 f. Vgl. Klaus Höpcke, Wie es 1988 zum Ende der Buchzensur in der DDR kam. Ein wenig bekanntes Kapitel von Kulturpolitik in der späten DDR, in: ders., Geordnete Verhältnisse?, Schkeuditz 1996, S. 203-216. 43 Ebd., S. 207. 43

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Zit. nach: Joachim Walther. a. a. 0. (Anm. 2), S. 67. "Information zum Stand der Diskussionen über eine beabsichtigte Änderung des Druckgenehmigungsverfahrens durch die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur" der HA XX/7 vom 14. Aprill988, zit. nach: Ebd., S. 283. 46 47

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monopol aufzugeben. Die drei kirchlichen Verlage (Evangelische Verlagsanstalt, Evangelische Hauptbibelgesellschaft, St. Benno-Verlag) kamen nicht einmal in den Genuß der geringfügigen Veränderungen, für sie behielt das alte Genehmigungsverfahren uneingeschränkte Gültigkeit. 48 Wie wenig sich auch im Spätherbst 1989 an der gängigen Praxis geändert hatte, zeigt ein Brief des für die Kultur zuständigen Politbüromitglieds Kurt Hager vom 2. 11 . an Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann. In dem Schreiben, der nur zwei Tage vor der großen Protestkundgebung von mehr als einer halben Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz geschrieben wurde, hieß es: "Dein Vorschlag vom I. 11. 1989, bestimmte Bücher in den Editionsplan aufzunehmen, muß meines Erachtens dem Sekretariat des ZK vorgelegt werden [ ... ). Es erstaunt mich, daß Du den Vorschlag über die Herausgabe des Romans ,Schwarzenberg' von Stefan Heym sowie Monika Marons ,Flugasche' machst. Der stellvertretende Kulturminister, Klaus Höpcke, hat das Erscheinen dieser Bände bereits in seinem Gespräch mit Harald Wessei (siehe Neues Deutschland vom 28./29. Oktober '89) angekündigt. Offenbar gilt für ihn keine Ordnung mehr, aber mir ist nicht bekannt, daß solche Entscheidungen ohne vorherige Beratung und Beschlußfassung bekannt gegeben werden dürfen."49 Eine Abschaffung der Zensur konnte es in der DDR nicht geben. Sozialistisches Herrschaftssystem und literarische Zensur waren untrennbar miteinander verbunden. Erst das Ende der DDR bedeutete auch das Ende der Zensur.

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Vgl. Siegfried Bräuer/Clemens Vollnhals (Hg.), a. a. 0 . (Anm. 3), S. 16f. neuedeutsche Iiteratur, 39. Jg. (1991), Heft 11, S. 170.

VI. Außenbeziehungen

"Manche haben vom Polyzentrismus geträumt" Die Reaktion der SED auf die polnische Krise von 1956 Von Beate Ihme-Tuehel

Nachdem die Aufregung in der SED-Führung über die Unruhen im Nachbarland zwischen dem Sommer 1956 und dem Frühjahr 1957 ihren Siedepunkt erreicht hatte, flaute sie im Anschluß an die Moskauer Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien vom November 1957 ab. Jens Hackers These, wonach die "Konsolidierungsphase in der sowjetischen ,Block'-Politik" von "Ende 1956 bis zur Konferenz der zwölf regierenden kommunistischen Parteien" im November 1957 gedauert habe, kann daher nur zugestimmt werden. 1 Die Erleichterung Walter Ulbrichts über die Wiederherstellung der sowjetischen Autorität im Ostblock im Anschluß an diese Konferenz zeigt sein Satz über die Träume vom Polyzentrismus nur allzu deutlich. 2 Ulbricht, einer der schärfsten Gegner des polnischen Nationalkommunismus, konnte Moskau mit der Gewißheit verlassen, daß mit der dort beschlossenen Deklaration die seit dem XX. Parteitag der KPdSU eingetretene Unruhe im "sozialistischen Lager" beendet werden würde. Im Folgenden soll die Reaktion der SED-Führung auf die polnische Krise bis zur Normalisierung 1958/59 analysiert werden. 3 Dies soll anband von Dokumenten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR4 und des Parteiarchivs der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) geschehen.5 Die Reaktion der SED auf die polnische Krise von 1956 läßt sich in drei Phasen gliedern: Eine erste Frühphase zwischen dem XX. Parteitag der KPdSU vom Februar I Jens Hacker: Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939- 1980, BadenBaden 1983,S. 576. 2 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (im Folgenden: SAPMO-BArch), DY 30/IV 2/1.01/367. Stenografische Niederschrift der Chefredakteurskonferenz am 25. II . 1957, S. 8. 3 Vgl.: Beate Ihme-Tuchel: Das "nördliche Dreieck". Die Beziehungen zwischen der DDR, der Tschechoslowakei und Polen in den Jahren 1954 bis 1962, Köln 1994, S. 124182. 4 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (im Folgenden: PAAA, Bestand MfAA). 5 Die Akten der SED, früher im Institut für Marxismus-Lenismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, später: Institut für die Geschichte der Arbeiterbewegung, Zentrales Parteiarchiv der SED (im Folgenden: lfGA, ZPA), liegen heute in der SAPMO-BArch.

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1956 und dem Sommer 1956, der eine zweite und akute Phase zwischen Oktober 1956 und dem Sommer 1957 folgte sowie eine dritte Normalisierungsphase bis zur Jahreswende 1958/59. I. Die Frühphase bis zum Sommer 1956 Der XX. Parteitag der KPdSU war zumindest mittelbar das Fanal für die Doppelkrise in Polen und Ungarn. Die "Geheimrede" des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU Nikita S. Chruschtschow über den "Personenkult und seine Folgen"6 traf auch die SED unvorbereitet. 7 Ursprünglich wollte Ulbricht den Inhalt der Geheimrede allenfalls im engsten politischen Kreis auf der obersten Parteiebene abhandeln.8 Durch westliche Veröffentlichungen geriet die SED-Führung unter Zugzwang und mußte - ohne zuvor eine ausgefeilte Strategie entwickeln zu können und ohne Absprache mit den Sowjets - wenigstens einen Teil des Materials bekanntgeben: Nach der Schilderung von Paul Wandel waren die Politbüromitglieder Otto Grotewohl, Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht und Alfred Neumann9 "auf der Groß-Berliner Funktionärssitzung", als eine Mitteilung einging, der RIAS habe Auszüge aus der Geheimrede Chruschtschows durchgegeben: "Es war ein Sonntag. Man konnte sich nicht mit den Genossen der Sowjetunion in Verbindung setzen, und dort wurde beschlossen, daß Genosse Walter Ulbricht sofort in einer Diskussionsrede einen Teil dieses Materials bekannt gibt, und zwar aus der Erwägung heraus, daß zunächst einmal, von morgen an, die ganzen nächsten acht Tage alle unsere Genossen sagen würden, das ist Lüge, da hat der Rias wieder einen Schwindel verzapft, und dann nach acht Tagen oder früher oder später mußten wir sagen, ein Teil dieser Dinge ist wahr, und die Genossen kämen wieder in die Schwierigkeit."10 Dies sei eine "sehr verantwortungsvolle Entscheidung [gewesen], weil in diesem Falle verletzt wurde, was wir bis zur Stunde streng eingehalten haben, daß 6 Vgl.: "Wir müssen dem Parteitag die Wahrheit sagen!" Die Entstehungsgeschichte von Chruscevs Geheimrede im Jahre 1956, in: Osteuropa 47 (1997) 9, A 367-A 371. 7 Vgl. dazu etwa Hermann Axen: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Hara1d Neubert, Berlin 1996, S. 145. "Die Rede von Chruschtschow hatten wir nicht erwartet. Wir hatten zwar mit gewissen Neuerungen gerechnet, nicht aber damit, was dort geschah. Unsere Partei war nicht informiert." s Namhafte Funktionäre forderten dagegen eine umfangreichere Aussprache. Otto Winzer etwa schrieb in dieser Sache am 7. März 1956 an Ulbricht. Angeblich habe nicht nur er, sondern auch viele andere ZK-Mitglieder nach der Rückkehr der SED-Delegation vom XX. Parteitag erwartet, daß das ZK zu einer "gründliche(n] Information" zusammentrete. Daß dies bislang nicht geschehen sei, könne nicht "mit den Leninschen Normen des Parteilebens" übereinstimmen. IfGA/ZPA, NL 18117. 9 Der SED-Delegation auf dem XX. Parteitag der KPdSU gehörten Ulbricht, Grotewohl, Schirdewan und Neumann an. Vgl.: Neues Deutschland (im Folgenden: ND) vom 14. 2. 1956, s. I. 10 Vgl. die Schilderung Paul Wandels gegenüber der Parteigruppe des Schriftstellerverbandes vom 31. 5. 1956, in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1.011309, S. 24.

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jeder Schritt der Infonnation mit den führenden Genossen der Sowjetunion vereinbart war, denn sie hatten die Genehmigung gegeben für das, nicht mehr, nicht weniger." Wahrend Ulbricht und andere führende SED-Vertreter seit dem Februar 1956 bemüht waren, die Relevanz der dort ausgelösten Entstalinisierungsdebatte für die DDR herunterzuspielen 11 und das tschechoslowakische Politbüro bereits am 2. Mai 1956 die Diskussion über den XX. Parteitag für "beendet" erklärte, 12 reagierten in Polen die Bevölkerung und die PVAP elektrisiert auf Chruschtschows Geheimrede. Laut Jerzy Holzer gerieten der Parteiapparat und die Sicherheitsorgane Polens "in einen Zustand, den man als Zerrüttung bezeichnen könnte." 13 Die Parteiführungen von SED und KPC dagegen verengten die Kritik an Stalin auf eine sehr allgemeine Kritik am "Personenkult"; 14 daneben erfolgten einige Rehabilitierungen sowie Entlassungen aus den Gefängnissen, die aber nicht an die große Glocke gehängt wurden. In Polen dagegen waren bereits 1954 Opfer der stalinistischen Willküljustiz rehabilitiert worden. Andrzej Paczkowski gibt aber zu bedenken, daß es "letztlich" bei "äußerlichen Veränderungen" geblieben sei: 1955 habe es immer noch etwa 30.000 politische Gefangene gegeben; von einem ,.echten ,Tauwetter'" in Polen könne daher erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU und nach dem Tod Bieruts gesprochen werden.15 Wladyslaw Gomulkas Freilassung II Vgl. seine Äußerungen auf der 27. ZK-Tagung der SED arn 30. 3. 1956, in: IfGA/ZPA, IV 2/1/158, S. 7 f. sowie seine Ausführungen auf der 28. ZK-Tagung (27. -29. 7. 1956), in: IfGA/ZPA, IV 2/1/161, S. 22 ff. Sowohl in internen wie auch öffentlichen Verlautbarungen wurde zudem immer wieder argumentiert, die Beschlüsse des XX. Parteitags zum sog. Personenkult seien für die SED weniger relevant, da in der DDR bereits 1953 entsprechende Schlüsse gezogen worden seien. Vgl.: ND vorn 8. 7. 1956, S. 3: ,.Das Zentralkomitee der SED hat auf Grund eigener Erfahrungen bereits . . . 1953 mit Maßnahmen gegen den Personenkult begonnen, und z. B. festgelegt, daß es nicht gestattet ist, Betriebe, Institute, Straßen usw. weiterhin nach lebenden Personen zu benennen." 12 Kare! Kaplan: Die Ereignisse des Jahres 1956 in der Tschechoslowakei, in: Hans Henning Hahn/Heinrich Olschowsky (Hg.): Das Jahr 1956 in Ostrnitteleuropa, Berlin 1996, S. 31-45, hier: S. 41 f. ,.Sie [die Prager Führung, d.V.} bildete innerhalb des Sowjetblocks den konservativsten und dogmatischsten Flügel. Zu den Ereignissen in Polen nahm sie von Anfang an eine überaus kritische Haltung ein und vertrat diese unverändert noch im Januar 1957." Noch extremer sei ihre Reaktion auf den Ungarnaufstand ausgefallen: Am 26. I 0. 1956 machte sie sogar den Vorschlag, sich mit eigenen Truppen an seiner Niederschlagung zu beteiligen. 13 Jerzy Holzer: Der Kornmunismus in Europa. Politische Bewegung und Herrschaftssystem, Frankfurt a.M. 1998, S. 117. 14 Paul Wandel schätzte die Lage in der Tschechoslowakei allerdings explosiver als die in der DDR ein. Im ,.Vertrauen" teilte er den parteigenössischen Schriftstellern seinen Eindruck von seinem Besuch dort am 9. Mai mit: in der Tschechoslowakei habe es viel umfangreichere ,.Diskussionen" gegeben, es herrschten ,.ernsthafte Unklarheiten, historische Schwankungen und parteifeindliche Erscheinungen, speziell in der Prager Organisation."; sogar ein außerordentlicher Parteitag sei gefordert worden. Wandel führte diese Erscheinungen auf den Slansky-Prozeß, einige ,,Fragen der Armee" sowie einen ..starken westlichen Einfluß" zurück. Paul Wandel am 31. 5. 1956, S. 26 (wie Anm. 10). I~ Andrzej Paczkowski: Polen, der ,,Erbfeind", in: Stiphane Courtais/Nicolas Werth/JeanLouis Panni/Andrzej Paczkowski/Karel Bartosek/Jean-Louis Margolin: Das Schwarzbuch

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erfolgte im Dezember 1954, seine Rehabilitierung aber erst im August 1956. Bereits unmittelbar nach Chruschtschows "Geheimrede", die in Polen massenhafte Verbreitung erfuhr, 16 kam es zu heftigen Diskussionen über zahlreiche neuralgische Punkte vor allem im polnisch-sowjetischen Verhältnis: diese betrafen das Verbot der polnischen Kommunistischen Partei von 1938, das Chruschtschow auf dem XX. Parteitag als !licht rechtens bezeichnet hatte, die Ermordung von mehr als 14.500 polnischen Offizieren in Katyn im Frühjahr 1940, 17 das Schicksal der in die UdSSR verschleppten Polen sowie das Verhalten der sowjetischen Truppen beim Warschauer Aufstand von 1944. 18 Am 12. März 1956 starb plötzlich Polens stalinistischer Parteichef Boleslaw Bierut in Moskau, wodurch die PVAP nach Meinung der ostdeutschen Diplomaten in Warschau "in eine sehr schwierige Situation" geriet. 19 Edward Ochab wurde am 20. März sein Nachfolger als Erster Sekretär der PVAP. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU und dem Tod Bieruts seien in der polnischen Parteiführung "offene Gegensätze und Schwankungen zu Tage" getreten, wurde im Außenministerium der DDR konstatiert. Die PVAP habe sich "dieser Lage nicht gewachsen" gezeigt. 20 Seit dem XX. Parteitag gärte es in Polen, was die SED mit wachsender Sorge beobachtete: Während Paul Wandel im Mai 1956 lediglich auf die "sehr breite Diskussion" verwies, die sich in Polen entfaltet habe und die Ansicht vertrat, daß die SED sich nicht einmischen solle,21 änderte sich dies im Monat darauf: "Stärker als auf allen anderen Gebieten haben die Ereignisse und Beschlüsse des XX. Parteitages in der Volksrepublik Polen in den verschiedenen Zweigen des Kulturlebens eine lebhafte Diskussion ausgelöst, die bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Mit des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München und Zürich 1997, S. 397-429, hier: S. 421. 16 Auf Beschluß der PVAP sollen 100.000 bis 200.000 Exemplare der "interne[n] Rede Chrustschows" an die polnischen Parteifunktionäre verteilt worden sein. Weil das polnische Zentralkomitee vorab "nicht Stellung zu der Rede" bezogen habe, sei eine "Diskussion in breitester Form" entstanden. Vgl. PAAA, Bestand MfAA, A 2059. "Protokoll der Dienstbesprechung der Abteilung Benachbarte Länder am 18. 6. 1956". Laut Holzer spricht vieles dafür, daß die Verbreitung der Geheimrede ,,mit Zustimmung Chruschtschows" erfolgte. Holzer: Der Kommunismus ... , S. 117 (wie Anm. 13). 17 Vgl. zum Gesamtkomplex der sowjetischen Repressionen gegen Polen: Paczkowski: Polen, der "Erbfeind", in: Stephane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch . .. , S. 397-423 (wie Anm. 15). 18 Franz Dahlem kritisierte diese Diskussionen in Polen über das polnisch-sowjetische Verhältnis später als "allgemeine krankhafte nationale Empfindlichkeit der polnischen Genossen über wirkliche oder angebliche Mängel im Verhältnis der Sowjetunion zu Volkspolen". lfGA/ZPA, IV 2/1/189. 34. ZK-Tagung der SED am 27. 11. 1957, BI. 126. 19 PAAA, Bestand MfAA, A 2059. "Protokoll der Dienstbesprechung der Abteilung Benachbarte Länder am 18. 6. 1956". Boles\aw Bierut (1892-1956) war zwischen 1947 und 1952 Staatspräsident, von 1952 bis 1954 Ministerpräsident und zwischen 1948 und 1956 Parteichef der PVAP. 2o PAAA, Bestand MfAA, A 3933. 21 Paul Wandel am 31. 5. 1956, S. 27 (wie Anm. 10).

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der Wucht eines sich mit Überdruck entladenden Ventils brachen Diskussionen aus, deren Art und Umfang weit über das bisher gewohnte Maß hinausgeht." 22 An der Entstalinisierung in Polen und Ungarn störte führende SED-Funktionäre wie den Ministerpräsidenten Grotewohl die "Wiedergutmachung", die "Entlassungsperiode aus den Gefängnissen, die Ausgrabung der Toten und ihre Aufbahrung vor den Augen der Menschen. Daß alles so etwas nicht ohne Wirkung blieb und einer demagogischen Argumentation alle Türen und Tore öffnete", nannte Otto Grotewohl "erklärlich".23 Ulbricht wurde nicht müde zu betonen, daß der Personenkult keineswegs die "Hauptfrage" auf dem XX. Parteitag gewesen sei. 24 Ende Juni entlud sich die explosive Stimmung sowie die lange aufgestaute Unzufriedenheit in der polnischen Arbeiterschaft in spontanen Arbeitsniederlegungen, Demonstrationen und Verkehrsblockaden. 25 Es folgten Forderungen nach Meinungsfreiheit, einem höheren Lebensstandard, nach der Einrichtung von Arbeiterräten und größerer Mitbestimmung. Die Reaktion der SED-Führung auf die Posener Unruhen vom Juni 1956 war teilweise widersprüchlich: Obwohl intern häufig gemeldet wurde, daß die Ursachen im niedrigen Lebensstandard sowie im XX. Parteitag der KPdSU zu suchen seien,26 erfolgten - sowohl in internen Diskussionen "auf Parteiebene" als auch in öffentlichen Verlautbarungen 27 - immer wieder Vergleiche mit dem 17. Juni 1953 in der DDR: "Es ist genau wie am 17. 6. 53 bei uns". 28 Es wurde auch behauptet, der "Putsch" sei "durch amerikanischeund westdeutsche Geheimdienste organisiert" worden29 sowie durch den "Sender Freies Europa". 30 22 IfGA/ZPA, IV 2/201157. Bericht vom 26. 7. 1956 über die kulturpolitische Entwicklung in Polen nach dem XX. Parteitag der KPdSU. Dieser Bericht findet sich auch in: PAAA, Bestand MfAA, A 3626. 23 IfGA I ZPA, IV 2/20/81. Stenographische Niederschrift der Botschafterkonferenzen im Hause des MfAA vom 21.-24. I. 1957, S. 20. 24 lfGAIZPA, IV 2111161. Ulbricht auf der 28. ZK-Tagung der SED am 27. 7. 1956, S. 23. 2s Vgl. den "Bericht über die Vorfälle während der Messe in Poznan", in: lfGA I ZPA, J IV 212021 368. 26 Vgl.: Bericht Stefan Heymanns über die Vorgänge in Poznan, in: IfGAI ZPA, IV 21201 183. 27 Vgl.: ND vom 30. 6. 1956, S. I. Unter der Überschrift "Wachsamkeit!" wurde über das "neueste Verbrechen der Imperialisten, die Provokation von Poznan", unterrichtet. Diese habe 38 Todesopfer und 270 Verletzte gefordert und sei von langer Hand mit westlicher Unterstützung vorbereitet worden. Im ND vom 8. 7. 1956, S. 2 wurden "Provokateure einer reaktionären Untergrundbewegung" für die Unruhen verantwortlich gemacht. Diese seien von ausländischen "Agenten" unterstützt worden, die "u. a. von Westberlin und Westdeutschland aus" wirkten und "blutige Unruhen auslösten". 28 Bericht Heymanns über die Vorgänge in Poznan, in: IfGA I ZPA, V 21201183. 29 Ebenda. Vgl. auch: ND vom 10. 7. 1956, S. 5: "Beschluß im Dienste des kalten Krieges. ,Prawda': Poznan-Putsch mit zusätzlich bewilligten amerikanischen Spionagegeldern". ND vom II. 7. 1956, S. I und vom 12. 7. 1956, S. 2. 30 Vgl.: " Beginn der Prozesse in Poznan", in: ND vom 27. 9. 1956, S. 5.

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II. Die akute Phase bis zum Sommer 1957 Den Auftakt zur akuten Krise bildete die Wahl Wladyslaw Gomulkas zum Ersten Sekretär der PVAP. Gomulka war bereits anläßlich des VII. ZK-Plenums der PVAP im Juli rehabilitiert worden. Wahrend des VIII. Plenums der PVAP (19. bis 21. 10. 1956) traf am 19. Oktober eine sowjetische .,Überraschungsdelegation" in Warschau ein. 31 Die SED war, wie wahrscheinlich auch die übrigen ,,Bruderparteien", von dieser Besuchsabsicht vorab informiert worden. Nach einem .,vertraulichen" Schreiben an das ZK der SED vom 19. Oktober hielt es das sowjetische ZK .,für seine Pflicht", die SED über folgendes zu informieren: .,In der letzten Zeit ist es in der Führung der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei zu scharfen Meinungsverschiedenheiten darüber gekommen, wie die Situation in der . . . Arbeiterpartei und in Polen überhaupt einzuschätzen ist und welche weiteren Maßnahmen in diesem Zusammenhang getroffen werden sollen. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen die Grundfragen der Außen- und Innenpolitik ... sowie die Zusammensetzung der Parteiführung. Die in der Führung der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei entstandene Lage gibt uns Anlaß zu ernster Besorgnis, gerade in anbetracht [sie] der besonderen Stellung Polens für das Lager des Sozialismus und vor allem für die Sowjetunion. Angesichts des Ernstes der entstandenen Lage hat es das ZK der KPdSU für notwendig befunden, eine Delegation nach Polen zu entsenden, der die Genossen Chruschtschow, Kaganowitsch, Mikojan und Molotow angehören. Von den weiteren Vorgängen werden wir Sie informieren." 32 Ziel dieses Besuchs war die Verhinderung der Wahl Gomulkas zum Ersten Sekretär. 33 Diese erfolgte allerdings am selben Tag. Es folgten polnisch-sowjetische Dauerverhandlungen. Mit der Rückkehr der sowjetischen Einheiten in ihre Garnisonen zum 25. Oktober war allerdings klar, daß es keine sowjetische Militärintervention wie in Ungarn geben würde. Die sowjetische Führung konzedierte Polen also einen begrenzten .,eigenen Weg zum Sozialismus". Damit war der Zenit der Krise überschritten. Die polnische Krise blieb nicht auf die Innenpolitik sowie auf die polnischsowjetischen Beziehungen beschränkt, sondern hatte auch direkte Auswirkungen auf das Verhältnis zur DDR. Die SED-Führung reagierte besonders tangiert auf alle Anzeichen eines polnischen Nationalkommunismus: "Das Interesse eines sozialistischen Polens kann doch nicht von den Interessen des sozialistischen Lagers, den Interessen des Weltproletariats unabhängig sein." 34 So verwundert es nicht, daß es 31 Vgl. die Darstellung bei Teresa Toranska: Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht, Köln 1987, S. 84 f. 32 IfGA/ZPA, J IV 2/202/368. 33 Auch die SED spekulierte noch im Juni 1956 auf eine Ablehnung Gomulkas durch einen "Teil" des polnischen Politbüros und ZK. Vgl. IfGA/ZPA, IV 2120/157. Bericht über die Lage in der PZPR (Po1ska Zjednoczona Partia Robotnica = PVAP). 34 Vgl.: "Stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten", in: ND vom 14. 12. 1956, S. 3.

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als Konsequenz der polnischen Krise zu einem besonders engen Schulterschluß zwischen SED und KPC kam, die damals als "Bollwerke des Konservativismus" gegen den polnischen Revisionismus galten. 35 Wahrend der akuten Phase der Krise beschloß das SED-Politbüro die Ablösung des Botschafters Stefan Heymann. 36 Dabei war Heymann stolz gewesen, daß es "in einer sehr kritischen Situation" nicht zu einer "Trübung der Beziehungen unserer Republik zur VR Polen gekommen" war. 37 Seine Berichte waren von Sympathie und Empathie für sein Gastland durchdrungen. Weil er aber angeblich "den Erfordernissen der gegenwärtigen Situation in Polen nicht gewachsen" sei,38 sollte Heymann baldmöglichst ersetzt werden. Anläßlich der Botschafterkonferenz im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten übte Heymann im Januar 1957 Selbstkritik: Die Kritik von Sepp Schwab und Otto Winzer an seiner Tätigkeit in Warschau und seiner "falsche[n] Einschätzung der Ereignisse in Polen" nannte er berechtigt. 39 War der Tenor der Heymann-Berichte oft politisch naiv und persönlich engagiert,40 Änderte sich dies mit seinem Nachfolger Josef Hegen, der am 13. März 1957 seinen Antrittsbesuch in Warschau machte. Anders als Heymann, der die Vorgänge in Polen meist von der Warte eines um Verständnis ringenden Freundes kommentierte, hielt mit Hegen eine Berichterstattung, die strikt von den Interessen der DDR ausging, Einzug in den diplomatischen Alltag. Neben der Abberufung des Botschafters Heymann besaß auch die Abrechnung mit der "Harich-Janka-Gruppe"41 eine deutlich antipolnische Spitze. Im Frühjahr Vgl.: lhme-Tuchel: Das "nördliche Dreieck", . . ., S. 140- 170 (wie Anm. 3). IfGAIZPA, J IV 2121517. Protok.oll61 vom I. 12. 1956: "Das Politbüro beschließt die Abberufung des Genossen Heymann als Botschafter." 37 IfGA I ZPA, IV 2/20/81. Otto Winzer auf der Botschafterkonferenz vom 21.24. I. 1957, S. 17. Laut Winzer könne "doch so keine Botschaft Stellung nehmen, die die .. . Politik ihrer Republik zu vertreten hat." Ebenda. Während der akuten Krise sandte Heymann nahezu täglich umfangreiche Berichte aus Warschau, die im Bundesarchiv mehrheitlich unter der Signatur J IV 212021368 abgelegt sind. Diese Berichte zeugen von einer erstaunlichen politischen Naivität des Botschafters. So wertete Heymann die Rückkehr Kardinal Stefan Wyschinsk.is nach Polen als "weiteres Zeichen der Versöhnung" (Bericht vom 1. II. 1956), legte ausführlich das polnische Verständnis des Begriffes ,,Personenkult" dar und qualifizierte Chruschtschows Besuch in Warschau anläßlich des VIII. Plenums als "politisch unklug". Der Gipfel seiner Fehleinschätzung der ,,korrekten" SED-Parteilinie dürfte aber sein Fazit gewesen sein: "Wir sind der Überzeugung, daß die Arbeiterklasse in allen Volksdemokratien vieles aus dem polnischen Beispiellernen kann." (Bericht vom 21. 11. 1956). 38 IfGA I ZPA, NL 901484. Peter Florin am 30. 11. 1956 an Ulbricht. 39 IfGA I ZPA, IV 2120181 . Heymann auf der Botschafterkonferenz vom 21 - 24. 1. 1957, S. 1-5. 40 Grunert lobte allerdings die .,analytischen Fähigkeiten" des "großartigen Chefs" Heymann, der einst Journalist gewesen war. Er habe ,,nur einen Fehler" besessen: ,,Er ließ dem Tatendrang seiner Frau Lies! in Botschaftsangelegenheiten zu viel Spielraum." Horst Grunert: Für Honecker auf glattem Parkett. Erinnerungen eines DDR-Diplomaten, Berlin 1995, S. 116. 3S

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1957 unterstellte das ,,Neue Deutschland" der "Harich-Gruppe" ominöse Beziehungen nach Polen.42 Es sollte der Eindruck erweckt werden, als habe es zwischen Polen und den ostdeutschen "Abweichlern" Verbindungen gegeben. "Trybuna Ludu" konstatierte am 14. März unter der Überschrift "Kommentar über einen gewissen Aspekt im Urteil des Harich-Prozesses", daß Erich Melsheimers Behauptung von der Existenz eines "polnische[n] Plan[s]" der Angeklagten im Harich-Prozeß zu einer "schweren Störung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Volkspolen und der DDR" hätte führen können.43 Wegen der Unterstellungen der ostdeutschen Seite wurde Hegen ins polnische Außenministerium gebeten. Außenminister Rapacki setzte sich gegen die Behauptungen der DDR zur Wehr.44 Aus der Presse der DDR könne der Eindruck erwachsen, "als ob die Vorgänge um Harich durch die VRP inspiriert worden wären." Polen stehe aber fest zu seinen "bisherigen freundschaftlichen engen Beziehungen zur DDR" und auch fest im "Lager des Sozialismus." Die Vorgehensweise des Staatsanwalts Melsheimer "fördere nicht unser gemeinsames Bestreben." 45 Hegen gab sich überrascht - ihm sei "unbegreiflich", wie ein derartiger Eindruck aus den Veröffentlichungen in der DDR habe entstehen können. 46 Im November 1956 übte "Trybuna Ludu" Kritik am polnischen Kohleexport, denn Polen sah sich innerhalb des RGW auf die Rolle eines Rohstofflieferanten reduziert und wollte dies nicht länger hinnehmen: "Im allgemeinen muß man sagen, daß unser Export, hauptsächlich in die DDR und CSR ein typischer Rohstoffexport, charakteristisch für wirtschaftlich zurückgebliebene Länder ist."47 Dies löste in der DDR starke Befürchtungen aus. Die ausbleibenden polnischen Kohlelieferungen machten sich in der Wirtschaft der DDR48 sehr schnell bemerkbar, wie 4 1 Schon im Mai 1956 war Harich kritisiert worden. Vgl.: "Diskussionen über Dogmatismus" im ND vorn 20. 5. 1956, S. 4. Harich, Chefredakteur der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" und Dozent an der Hurnboldt-Universität, wurde der .,Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe" sowie des Versuchs zur Restauration des Kapitalismus in der DDR bezichtigt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Walter Janka, Leiter des AufbauVerlags, wurde 1957 wegen "parteiwidrigen Verhaltens" zu fünf Jahren Haft verurteilt, kam aber nach Interventionen westlicher Schriftsteller 1959 vorzeitig frei. Beide wurden 1990 rehabilitiert. 42 "Die Verbrechen der Harich-Gruppe", in: ND vorn 9. 3. 1957, S. 4. Angeblich wollte Harich seine staatsfeindlichen Aktivitäten teilweise nach Polen verlagern. Vgl. auch: Kurt Hager: ..Das 30. Plenum und der ideologische Kampf', in: ND vorn 12. 2. 1957, S. I. .,Diese imperialistische Losung [gemeint ist der Nationalkomrnunisrnus, d.V.] wird auch von nationalistischen Elementen in Polen und Jugoslawien verbreitet." 43 Trybuna Ludu, zit. nach: IfGA I ZPA, NL 90/485. 44 IfGA/ IfGA, NL 90/485. Aktennotiz Hegens über seine Unterredung mit Rapacki vorn 13. 3. 1957. 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 2. 47 IfGA I ZPA, IV 2/20/170. Der Autor des Artikels war Jan Totronczyk. 48 Noch 1955 hatte Polen der UdSSR 8,2, der DDR 3,8 und der CSR 3,7 Millionen Tonnen Kohle geliefert. 1956 hatte allein die DDR mit einem jährlichen Verlust von zweieinhalb

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Grotewohls Einschätzung der Wirtschaftslage vom Januar 1957 zeigte: "Es zeigte sich schlagartig der Rückgang der Kohleproduktion in Polen, um ... 25% ungefahr ... Diese polnische Kohle ging nach diesen Bestimmungen in die Sowjetunion zu erheblichen Teilen, von der Sowjetunion ging ein großer Teil in Reexport an die DDR. Wir selbst hatten großen Export aus Polen [? d. V.] ... 3 1/2 Mill. Tonnen. Da wurde uns erklärt, das können wir Euch nicht mehr geben. Sie gingen an die CSR und diese Ringverbindung Polen-DDR-Sowjetunion-CSR in der Kohlefrage wirkte sich in diesem Umlauf sofort katastrophal aus." 49 Das Eisenhüttenkombinat an der Oder beruhe aber auf dem Prinzip "sowjetische Erze, polnische Kohle, deutsche Arbeitskraft. Erze und Arbeitskräfte sind, die Kohle und Koks sind nicht gekommen." Daher mußten von insgesamt sechs teilweise drei Öfen stillgelegt werden. Der Kohlemangel gefahrdete die Erfüllung des Fünfjahresplanes in der DDR, die sich ohnehin in der "Kohlefrage" als der am schwersten betroffene Staat empfand. 50 Die SED schlug Polen sogar vor, eine "polnisch-deutsche Gesellschaft" zur Übernahme einer ,,Anzahl" von Kohleschächten zu bilden. Die DDR wollte die Arbeitskräfte, die Technik und sogar die Versorgung der Arbeiter übernehmen, "um unsere Kohlenversorgung einigermaßen auf eine sichere Basis zu stellen". Wie nicht anders zu erwarten, lehnte Polen ab, "das käme gar nicht in Frage."51 Während Polen seine Kohlelieferungen in die sozialistischen Länder erheblich verringerte, steigerte es gleichzeitig den Export in den Westen. Die SED beobachtete auch, daß die "beste Kohle" in die Bundesrepublik ging, während die Lieferungen in die DDR "30% Steingehalt" besaßen. Die knappe Energiebasis als Konsequenz der fehlenden Kohle gefahrdete Ulbrichts Prestigevorhaben, die Abschaffung der Lebensmittelkarten in der DDR.52 Wegen des Kohledebakels sollte die heimische Brennstoffindustrie beschleunigt entwickelt werden. 53 Auch die vorsichtige politische Neubewertung der Bundesrepublik durch Polen versetzte die SED seit 1956 in Panik. Seit dieser Zeit "belebten sich die gesellschaftlichen Kontakte zwischen der BRD und Polen." Wenngleich diese damals "nicht umfangreich" gewesen seien, bedeuteten sie doch verglichen mit der "absoMillionen Tonnen zu rechnen. Vgl. Viney: GOR- East German coal shortage- and USSR to the rescue as Poland defaults? Radio Free Europe (RFE), News and information evaluation & research (general desk), February 1957. 49 IfGA/ZPA, IV 2/20/81. Botschafterkonferenzen vom 21.-24. I. 1957, S. 20 f. so IfGA/ZPA, IV 2/1/166. Redebeitrag Hermann Matems. S. 356. Laut Bruno Leuschner war der "Steinkohlen- und Koksimport aus Polen ... in den letzten 3 Monaten des Jahres 1956 auf etwa 1/3 der früheren Bezüge zurückgegangen." IfGA/ZPA, IV 2/1/170. 30. ZKSitzung der SED vom 30.1. - I. 2. 1957. S. 134. st IfGA I ZPA, IV 2/1/166. Redebeitrag Hermann Materns, S. 356. s2 Ebenda, Redebeitrag Ulbrichts, S. 298. 53 SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1.01/343. Stenographische Niederschrift der Tagung mit Wissenschaftlern auf ökokonomischem Gebiet am 26. I. 1957. Redebeitrag von Gerhart Ziller, S. 5. 37 Timmermann

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luten Kontaktlosigkeit der frühen 50er Jahre[n]" einen deutlichen Aufschwung. 54 In einem an Ulbricht adressierten .,Bericht" über die Lage in Polen hieß es dazu am 1. Februar 1957: .,Wir haben den Eindruck, daß im politischen Leben Polens Kräfte auftreten, die mit Westdeutschland diplomatische Beziehungen aufnehmen wollen, auch unter der Bedingung, daß die Frage der Grenzregelung ausgeklammert wird. Solch eine Taktik läge ganz auf der Linie der politischen Umklammerung der DDR. Die These der Leute in der polnischen Partei, daß es auch unterschiedliche Staatsinteressen zwischen den sozialistischen Ländern gibt, könnte zur Begründung einer Politik der Verständigung Polens mit Westdeutschland auf Kosten der DDR werden. Da sich auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik diese Linie bereits durchsetzt, kann der nächste Schritt nicht ausbleiben."55 Die Befürchtungen der SED waren derart groß, daß selbst schwache Hinweise darauf ernsthaft verfolgt wurden. Im April 1957 etwa erkundigte sich Josef Hegen in Moskau, ob ein geheimes westdeutsch-polnisches Treffen stattgefunden habe.56 Auslöser dieses Verdachtes waren neben der .,gleichzeitige[n] Anwesenheit Cyrankiewich's und Brentanos in Indien", 57 die .,unklaren Ausführungen Cyrankiewicz's [sie] in bezug auf die deutsche Frage" sowie .,inoffizielle Nachrichten" des Stellvertretenden sowjetischen Außenministers Patolitschew. In den Berichten der DDR-Botschaft aus Warschau häuften sich seit 1956 Hinweise auf direkte polnisch-westdeutsche Kontakte zur Regelung der Familienzusammenführung, von denen die DDR oftmals nicht infonniert wurde. 58 Die SED beobachtete auch die polnisch - amerikanischen Kreditverhandlungen mit Argwohn. Polnische Vertreter warben um Verständnis dafür, daß wegen der "außerordentlich unbefriedigende[n] wirtschaftliche[n] Lage" der Bevölkerung .,unbedingt Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensstandards" ergriffen werden mußten. Vor allem .,modernste Maschinen für den Bergbau", die die sozialistischen Länder nicht liefern könnten, würden aus den USA gebraucht. 59 Angeblich seien, 54 Mieczyslaw Tomala: ,,Erzählen Sie keinen Unsinn, Genosse Ulbricht!" Die VR Polen und die DDR in den 60er Jahren: Offizielle Harmonie und internes Mißtrauen, in: WeltTrends 4 (1996) Nr. 13, S. 1ll-l31, hier: S. 112. ss IfGA/ZPA, NL 182/1249, S. 14. S6 IfGA/ZPA, J IV 2/202175. Aktenvermerk über eine Unterredung mit Genossen A1exandrow, S. 3 ff. s1 Cyrank.iewiczs Name i.O. falsch, d.V. ss Vgl. etwa: "Über die Ende Dez. stattgefundenen Verhandlungen zwischen der VRP und Westdeutschland über die Familienzusammenführung für das Jahr 1957 ist dem Länderreferat nichts Näheres bekannt." PAAA, Bestand MfAA, A 1812, BI. 305. Vgl. auch: "Betr.: Deutsch-polnische Kommission zur Regelung von Fragen, welche die in der VRP lebenden deutschen Staatsangehörigen betreffen", in: PAAA, Bestand MfAA, A 38, BI. 499. S9 IfGA/ZPA, NL 90/485. Aktennotiz Johannes Dieckmanns über sein Gespräch mit Sejmmarschall Wycech am II. 5. 1957. Am 7. 6. 1957 wurde ein Wirtschaftsabkommen zwischen beiden Ländern abgeschlossen, das Polen einen Kredit von 48,9 Millionen Dollar gewährte. Vgl.: Gomulka besucht die Sowjetzone, in: Hinter dem Eisernen Vorhang 3 ( 1957) 8, S. 55 ff.

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so die polnische Seite, mit den Kreditverhandlungen keinerlei politische Konzessionen verbunden, was der SED-Vertreter in Zweifel zog: ,,Noch niemals hätten die USA einen Kredit ohne ganz bestimmte politische Absichten gegeben .. . . Es könne doch auch wohl in Polen niemand einen Zweifel daran haben, daß allein der sozialistische Block Polens Friedensgrenze gewährleiste. Eine Kreditnahme von Amerika bedeute m.E. also auch den imperialistischen Versuch, die Grenze zumindest zum Diskussionsobjekt zu machen."60 Diese Äußerungen des Volkskammerpräsidenten Dieckmann zeigen den Versuch, die polnisch-amerikanischen Kreditverhandlungen zu einen Angriff auf die "Friedensgrenze" zu stilisieren. Nach Meinung fUhrender SED-Vertreter sei Polen selbst schuld an der Krise: "Unsererseits seien die polnischen Freunde in den letzten Jahren wiederholt freundschaftlich auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, die Wirtschaftskraft Polens in erster Linie auf die Modernisierung des Bergbaus zu konzentrieren. Bedauerlicherweise sei das jedoch nicht geschehen."61 Interessant ist, daß die Ursachen der Krise von 1956 selbst in den internen Dokumemen der SED zumeist nicht beim Namen genannt wurden. So wurde über den XX. Parteitag der KPdSU kaum je offen gesprochen. Der für Kultur und Erziehung zuständige ZK-Sekretär Paul Wandel sprach hier ausweichend von "Probleme[n], die in Verbindung mit der Frage des Personenkults und besonders in Verbindung mit der vertraulichen Sitzung des Parteitages aufgerollt" wurden.62 Auch den Stalinismus beschönigte er mit dem Begriff "diese Dinge".63 Von Stalin distanzierte sich auch Wandel nur halbherzig mit den Worten: ,,Nun, Genossen, wir machen etwas langsam in der Beseitigung der ganzen Stalinbilder, Stalinbüsten und Stalinalleen und Stalinstädte. Das ist doch allgemein heute sichtbar geworden. Es war nie gedacht, solche Korrekturen durchzufhren [sie]. Aber trotzdem, wenn die gesamte Person heute gewürdigt wird, konnte man nicht daran vorbeigehen, eine sehr tiefgehende Gesamtumwertung der Rolle von Stalin auch durchzuführen." 64 Auch Alfred Kurella65 verniedlichte die Stalinschen Verbrechen. In der bereits mehrmals erwähnten Beratung mit dem Vorstand der Deutschen Schriftstellerverbandes verglich er die Verfolgung von Kommunisten in der UdSSR mit dem Krieg: "Wer im 60 IfGA/ZPA, NL 90/485. Aktennotiz Dieckmanns über sein Gespräch mit SejmmarsehaB Wycech am Il. 5. 1957, S. 3. In der Kreditfrage stand Polen auch nach diesem Zeitpunkt unter scharfer Beobachtung der SED. In einem Telegramm Hegens von Mitte Oktober 1957 aus Warschau hieß es, "eine Reihe Anzeichen" deuteten darauf hin, daß Verhandlungen zwischen Polen und den USA "wegen weiterer Kredite geführt werden, ebenso auch mit westdeutschen SteHen." lfGA I ZPA, NL 90/485. 61 IfGA/ZPA, NL 90/485. Aktennotiz Dieckmanns über sein Gespräch mit SejmmarsehaB Wycech am II. 5. 1957, S. 4. 62 SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/1.01/309. Wandel am 31. 5. 1956, S. 7 (wie Anm. 10). 63 Ebenda, S. 14. 64 Ebenda, S. 22. 65 Kure11a, den die Schriftste11erin Brigitte Reimann "Kuratella" nannte, war damals Direktor des "Instituts für Literatur" in Leipzig. Vgl.: Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955- 1963, Berlin 1998, 4. Aufl., S. 265.

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Kriege war, weiß, daß es vorkommt, daß im eigenen Schützengraben Granaten der eigenen Artillerie explodieren.... Ist das unangenehm, wenn neben einem die besten Kämpfer zerrissen werden? Es handelt sich um Krieg."66 Parallel zu diesem teils offen, teils verdeckt ausgetragenen ostdeutsch-polnischen Disput mehrten sich aber seit Jahresbeginn 1957 die Stimmen in der SED, die für eine erneute Annäherung an Polen plädierten. Bereits die Ausführungen von Außenminister Lotbar Bolz auf der Botschafterkonferenz vom Januar 1957 zeugen von diesem Bestreben, wenngleich für eine erneute Annäherung auch Bedingungen gestellt wurden. Trotz dieser Deeskalationsbemühungen waren die Beziehungen im Frühjahr 1957 noch weit von einer "sozialistischen Normalität" entfernt. So unterlag die Lagebeurteilung der SED seit dem Frühjahr 1957 recht großen Schwankungen, was sich überdeutlich in den Botschaftsberichten aus Warschau niederschlug. So zeigten die Berichte Hegens vom April 1957 starke Unsicherheiten über den weiteren Kurs der PVAP. Im Bericht vom 4. April 1957 wurden vor allem die "grossen Schwierigkeiten auf ideologischem Gebiet" und in der Landwirtschaft hervorgehoben. 67 Am 17. April wurde von einer "Verschärfung" der Krise sowie einer Verstärkung des ,,Antisowjetismus" in Polen ausgegangen: ,,Da nach wie vor die Verbreitung revisionistischer Ansichten sehr stark ist und durch das ZK der PZPR keine ernsthaften Versuche des Kampfes dagegen unternommen werden, werden die Positionen des Revisionismus gefestigt und der ideologische Zersetzungsprozess macht weitere Fortschritte."68 Die SED-Führung rechnete m.E. bis etwa zur Jahresmitte 1957 da mit, daß Gomulka als Generalsekretär scheitern könne. Deutlich wurde die Hoffnung, Gomulka könne lediglich ein Interimssekretär sein, in der wiederholten Verwendung des Begriffs von der "Gomulka-Richtung" in den internen Berichten.69 DI. Normalisierung Den Wendepunkt in den ostdeutsch-polnischen Beziehungen bildete der Besuch einer polnischen Partei- und Regierungsdelegation im Juni 1957 in der DDR. Zwar fehlten im Vorfeld die üblichen Jubelartikel, doch wurde trotz des kühlen Auftakts deutlich, daß der SED an einer Annäherung gelegen war. Das ostdeutsche Politbüro legte am 15. Juni 1957 die Details dieser Beratung fest. Deutlich wurde eine zweigleisige Strategie: Die Anweisung, das Problem der deutschen Minderheit nur dann zu thematisieren, "wenn von polnischer Seite die Frage gestellt wird", ließ Alfred Kurella am 31. 5. 1956, S. 157 (wie Anm. 10}. PAAA, Bestand MfAA, A 38, BI. 434 f. 68 Hegen am 17. 4. 1957 über die ,,innere Lage" in Polen, in: PAAA, Bestand MfAA, A 38, BI. 92-96. 69 "Bericht über die politische Lage in der Volksrepublik Polen", in: IfGA/ZPA, NL 182/ 66

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eine defensive Taktik der SED-Führung erkennen. Andererseits sollten die SEDVertreter in ,.allen Fragen, die Polen mit Westdeutschland behandeln will", den Vorschlag machen, .,vorher die DDR zu konsultieren." 70 Mit dem Besuch der polnischen Delegation in der DDR hatten nach Ansicht der SED-Führung .,Spekulationen der imperialistischen Kräfte, besonders in Westdeutschland, zwischen unseren Parteien und Regierungen einen Keil" treiben zu können, widerlegt werden können. 71 Das ,,Neue Deutschland" nannte es am 21. Juni .,aussichtslos", zwischen beiden Staaten ,,Mißtrauen" säen zu können. Am 30. Oktober 1957 gab Hegen eine ..Grobeinschätzung des X. Plenums" der PVAP. Seiner Meinung nach hatten sich die .,Schwierigkeiten" in der polnischen Partei .,nicht verkleinert". 72 Als ..positiv" bewertete der Botschafter die Säuberung der PVAP, das Verbot der Zeitschrift ..Po Prostu", den Parteiausschluß .,einiger Dutzend rechter Journalisten aus den Redaktionen" sowie die erneute Betonung der Rolle der Gewerkschaften beim .,Kampf um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität".73 Obgleich die Liste der ..negativen Seiten" des X. Plenums deutlich umfangreicher ausfiel als die .,Positivliste",74 kann Hegens Befund, wonach sich die ,,Position des marxistisch-leninistischen Flügels" in der PVAP .,gefestigt" habe, 7s m.E. aber als weiterer Meilenstein einer ,,Normalisierung" im Sinne der SED gewertet werden. Seit 1958 mehrten sich die Stimmen in der SED, aber auch in den übrigen kommunistischen Parteien, die von einer Konsolidierung der politischen Lage in Polen berichteten. 76 Obwohl die SED die polnische Landwirtschaftspolitik weder in den fünfziger Jahren noch später akzeptieren konnte, und häufig das polnische Verhalten im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe kritisierte, überwogen die positiven Urteile in den politisch entscheidenden Fragen. Diese waren für die SED im Verhältnis zu Polen die Deutschland- und West-Berlinfrage, die Anerkennung der .,führenden Rolle" der UdSSR im sozialistischen Block sowie die Akzeptanz eines allgemeinverbindlichen Sozialismusmodells. Die internationale Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau im November 1957 stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit 1o IfGA/ZPA, J IV 212/545. Reinschriftenprotokoll Nr. 25, S. 2. 7t lfGA/ZPA, IV 2/1/177. 32. ZK-Tagung der SED vom 10.-12. 7. 1957, BI. 37. n PAAA, Bestand MfAA, A 17665, BI. 3 -16. n Ebenda, BI. 4. 74 Ebenda, BI. 4- 7. Als ,.negativ" wurde unter anderem eingestuft, daß die MarxistenLeninisten innerhalb der PVAP nach wie vor ,.gebrandmarkt" würden, daß auch auf dem X.Plenum .,nichts über die führende Rolle der KPdSU in der internationalen Arbeiterbewegung und von der führenden Rolle der UdSSR im sozialistischen Lager" gesagt worden sei. Kritisiert wurde zudem, daß auch die "führende und reaktionäre Rolle der USA im Lager des Imperialismus" verschwiegen werde. 1s Ebenda, S. 3. 76 Vgl.: Jhme-Tuchel: Das .,nördliche Dreieck" ... , S. 259 - 262 (wie Anm. 3).

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dem "Revisionismus". 77 Obwohl die erst im Oktober 1956 formulierte These vom "eigenen Weg zum Sozialismus" nicht revidiert wurde, verschob sich der Akzent zugunsten der Betonung der "grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die allen Ländern, welche den Weg zum Sozialismus einschlagen, eigen sind". 78 Die Anerkennung der "führenden Rolle" der Sowjetunion, auf die orthodoxe Parteien wie die SED größten Wert legten, wurde eher beiläufig festgehalten: Die UdSSR wurde als der "erste und mächtigste sozialistische Staat" bezeichnet. 79 Die polnische Delegation unter Leitung Gomulkas mußte auf der Beratung mit vielen ihrer Vorschläge80 eine Niederlage hinnehmen. Friedeich Ebert, der dem Zentralkomitee der SED am 27. November Bericht erstattete, vermerkte dies mit Genugtuung: So sei der polnische Wunsch nach Aufnahme aller auf der Konferenz gemachten Vorschläge in die Deklaration verworfen worden, weil man, so die Kritik Ulbrichts, "aus der Erklärung" kein "Konglomerat verschiedener Standpunkte machen" dürfe. 81 Auch die Formulierungsvorschläge der polnischen Delegation zur "Wiedergeburt des deutschen Militarismus" waren der SED zu zahm. Es gehe nicht nur um eine "Gefahrdung des Friedens", sondern um die "Vorbereitung einer imperialistischen Aggression und Kriegsgefahr." 82 Laut Ebert seien die polnischen Vorschläge nur in "einigen untergeordneten und taktischen Fragen" teilweise berücksichtigt worden, während sie "in allen prinzipiellen Grundfragen . . . abgewiesen" worden seien.83 So habe die polnische Delegation der DDR lediglich ihre "volle Solidarität" zusichern wollen, während in der Endfassung des Textes alle Teilnehmer der DDR ihre "volle[n] Unterstützung" zusagten, was "also noch ein Bißehen [sie] schärfer ausgedrückt" ist. 84 Peter Aorin bezeichnete auf dieser ZKTagung die PVAP als "die Partei, in der die revisionistischen Kräfte am stärksten auftreten." Verglichen mit der PVAP herrsche in der ungarischen "Kampfpartei" dagegen eine "klare, feste Position". 85 Zwar werde in der PVAP eine ,,Parteireinigung" durchgeführt, doch eine "Garantie, daß wirklich die schlechtesten Kräfte aus der Partei entfernt werden", existiere bisher nicht. 86 In den folgenden Äußerungen Aorins wird die Erleichterung der SED-Führung darüber deutlich, daß nach dem 56er Krisenjahr wieder eine feste Parteidisziplin 77

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Vgl. den Text der Deklaration, in: Europa-Archiv 12 (1957), S. 10364 ff. Ebenda, S. 10367. Ebenda, S. 10366.

ao Vgl. ausführlich: "Bemerkungen der polnischen Deklaration zum Entwurf der Deklaration", in: IfGAIZPA, NL 621136, BI. 44 - 51. 81 IfGA/ZPA, IV 2/1/189. 34. ZK-Tagung der SED am IfGA/ZPA, NL 62/136, BI. 44-51. 82 Ebenda. 83 Ebenda. IJ.4 Ebenda, BI. 31 . 85 Ebenda, Redebeitrag Florins, BI. 71. 86 Ebenda, BI. 72.

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im "sozialistischen Lager" herrschen würde: ,,Noch ein Wort zur Frage des Verhältnisses der sozialistischen Staaten! Ich halte es für außerordentlich gut, . . . daß nunmehr das Verhältnis der sozialistischen Staaten nicht nur von den Prinzipien der Gleichberechtigung, Nichteinmischung usw. aus betrachtet werden soll, sondern daß man auch den in diesen Prinzipien noch nicht enthaltenen Seiten des proletarischen Internationalismus mehr Aufmerksamkeit widmet ... und diese Seite der Beziehungen der sozialistischen Staaten wurde auch in der Erklärung der Sowjetregierung vom 30. Oktober des vergangeneo Jahres nicht beachtet."87 Trotz dieser harten Kritik der SED-Vertreter an der PVAP machte Ulbricht in seinem Schlußwort deutlich, daß die Konferenz wegen der Festigung des "sozialistischen Lagers" als großer Erfolg zu werten sei. Nun müsse das Gemeinsame zwischen den sozialistischen Staaten im Vordergrund stehen, die rückwärtsgewandten Diskussionen müßten aufhören.88 IV. Fazit

Für die erste Untersuchungsphase ist festzuhalten, daß die ostdeutsche Parteiführung seit dem Frühjahr 1956 die Entwicklung im Nachbarland mit Argwohn beobachtete. Bis zu den Posener Unruhen ging sie aber davon aus, daß die PVAP die durch den XX. Parteitag entstandenen "Diskussionen" aus eigener Kraft beherrschen werde. Diese relativ gelassene Haltung der SED änderte sich schlagartig durch die Posener Unruhen. Hier darf nicht vergessen werden, daß Posen an das Trauma der SED, den Arbeiter- und Volksaufstand vom 17. Juni 1953, rührte. Berücksichtigt werden muß auch, daß Posen die SED aus einer sehr optimistischen Grundstimmung herausriß: Die Genfer Außenministerkonferenz vom Sommer 1955, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, der ostdeutsch-sowjetische Vertrag, die Schaffung eigener Streitkräfte und deren Integration in den Warschauer Vertrag hatten der DDR eine dauerhafte Perspektive und ein größeres Gewicht im "sozialistischen Lager" verliehen. Zahlreiche Dokumente aus den Jahren 1955/56 zeigen, daß die SED-Spitze dem Glauben anhing, die DDR werde den Systemwettlauf mit der bundesdeutschen "Konkurrenzgesellschaft" auf allen Ebenen (wirtschaftlich, technologisch, moralisch, kulturell, außenpolitisch) innerhalb etwa eines Jahrzehnts gewinnen. In der zweiten Phase, der akuten Krise in Polen, stellte sich heraus, daß der Traum der SED von einem baldigen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus "im Weltmaßstab" nicht annähernd auf realistischen Prämissen beruhte. Die durch den XX. Parteitag der KPdSU ausgelösten Krisen in Polen und Ungarn führten auch dazu, daß die SED-Führung jetzt auch innenpolitisch ein neues Gefahrenpotential schärfer als zuvor wahrnahm: Die Intellektuellen und "Kulturschaffen87 88

Ebenda, BI. 74. Ebenda, Schlußwort Ulbrichts, BI. 182 ff.

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Beate Ihme-Tuehel

den" als Risiko für die politische Stabilität der DDR. Anders als beim Aufstand vom 17. Juni 1953, der durch Künstler und Intellektuelle ,,keine nennenswerte Unterstützung" gefunden hatte, fürchtete die SED-Parteiführung seit der Doppelkrise in Ungarn und Polen eine ähnliche Entwicklung, etwa die Herausbildung eines Petöfi-Kiubs, auch in der DDR.89 Durch die Doppelkrise von 1956 gelang es Ulbricht aber auch, echte und potentielle Widersacher in der SED zum Schweigen zu bringen. Eine ausufernde innerparteiliche Diskussion über den Stalinismus konnte so unterbunden werden. Bereits auf der 30. ZK-Tagung der SED konnte Ulbricht selbstgefällig bilanzieren: "Viele Bürger der DDR, die früher leichtfertig die Liberalisierung gefordert hatten, sind heute dankbar, dass bei uns nicht solche Ereignisse wie in Ungarn oder . . . Polen möglich waren .... Nach der Beseitigung des Personenkultes ist Genosse Stalin auf die richtige Stelle gerückt worden. Wir werden seine Werke auch weiterhin achten ... Heute wird niemand mehr über die ,Sensation der ChruschtschowRede' sprechen, sondern heute werden alle Kräfte konzentriert ... gegen den deutschen Imperialismus".90 Die SED reagierte auf die Doppelkrise von 1956 extrem tangiert, was sich auch in allen folgenden Krisen - 1968, 1970 oder 1980 - wiederholen sollte. Die Gründe dieser Tangiertheil durch "polyzentristische" Entwicklungen im Ostblock waren vielfliltig und DDR-spezifisch: Hier ist das Problem eines geteilten Landes zu nennen, das gegen die bundesdeutsche "Konkurrenzgesellschaft" bestehen wollte: "Weil der DDR eine selbstverständliche nationalstaatliche Basis fehlte, konnte sie ihre staatliche Eigenständigkeil gegenüber den Ansprüchen und Attraktionen, die von der Bundesrepublik ausgingen, nur sichern, wenn sie die Spezifika ihrer Gesellschaft deutlich machte und übeneugend ausgestaltete."91 Daneben weckte die polnische Annäherung an Westdeutschland während der Liberalisierung von 1956 die Furcht vor einer Isolierung der DDR. Aus SED-Sicht wäre damit längerfristig die Existenz der DDR aufs Spiel gesetzt worden. Aus diesem Grund erhob die SED seit dieser Zeit den Anspruch auf die Kontrollrechte bei der Ausgestaltung der Deutschland- und Berlinpolitik des "sozialistischen Lagers". Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1955 wurde auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und allen übrigen sozialistischen Staaten erwartet. Dies stellte die SED vor besondere Probleme, weil es noch zahlreiche ungelöste Probleme wie die Existenz einer deutschen Minderheit zwischen ,,Deutschland" und etwa Polen gab. Die SED befürchtete nun, daß sich die Bezie89 Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996, S. 69 f. und S. 140-150. 90 IfGA/ZPA, IV 211/170.30. ZK-Tagung der SED vom 30.1.-1. 2. 1957, S. 87 f. 91 Siegrid Meuschel: Wandel durch Auflehnung. Thesen zum Verfall bürokratischer Herrschaft in der DDR, in: Rainer Deppe I Helmut Dubiell Ulrich Rödel (Hg.): Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt a.M. 1991, S. 26-47, hier: S. 36.

Die Reaktion der SED auf die polnische Krise von 1956

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hungen zwischen Westdeutschland und Polen über den Kopf der DDR hinweg entwickeln würden, daß Bonn sich zum Anwalt aller Deutschen aufspielen und - vor allem in den ehemaligen Ostgebieten - eine ,,Ausreisepsychose" unter den Deutschstämmigen entfachen würde. Die SED vertrat aber den Standpunkt, daß ihren sozialistischen Verbündeten allenfalls eine von den Interessen der DDR abgeleitete Deutschlandpolitik betreiben dürften. Besonders deutlich vertrat sie diesen Standpunkt gegenüber Polen und der Tschechoslowakei - aber auch gegenüber der UdSSR: In allen die Bundesrepublik oder West-Berlin betreffenden Fragen wollte die SED die oberste politische Instanz innerhalb des "sozialistischen Lagers" sein. An ihr vorbei sollte keine West-Berlin- oder Deutschlandpolitik betrieben werden können. Die Normalisierung der ostdeutsch-polnischen Beziehungen in der dritten Phase seit 1958/59 fiel mit der machtpolitischen Konsolidierung der Position Ulbrichts zusammen. Nach der Ausschaltung aller tatsächlichen oder potentiellen Oppositionellen - zuletzt Karl Schirdewans wegen angeblicher "Fraktionstätigkeit"92 -, konnte Ulbricht seine Stellung festigen. Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958, der auch als "Parteitag des Sieges" bezeichnet wurde, war er die alles beherrschende Figur. Nachdem Walter Ulbricht 1960 Vorsitzender des neugegründeten Staatsrates geworden war, stand er im Zenit seiner Macht. "Träume vom Polyzentrismus" sollte es in der DDR unter Ulbricht nicht mehr geben.

92 Kar/ Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur, gegen stalinistische, dogmatische Politik, Berlin 1994, S. 140-151.

Die Beziehungen DDR- Polen* in den achtziger Jahren Von Georg W. Strobel

Die Vorstellung, die Beziehungen zwischen der DDR und Polen verliefen in den achtziger Jahren anders, auf alle Fälle aber besser als in den Jahrzehnten davor und insbesondere seit dem Verhalten von DDR und SED gegenüber dem polnischen "Frühling im Oktober" 1956 sind nur teilweise richtig 1. In ihren Grundvorstellun• Auch für die Beziehungen in den achtziger Jahren war von Bedeutung, daß erste Unstimmigkeiten zwischen dem kommunistischen Regime Polens und der KPD bzw. SED eigentlich bereits mit der Gründung der SBZ aufgetaucht waren. Seit Kriegsende war Polen bestrebt, die Oder-Neiße-Grenze, die die Sowjetunion noch vor dem Potsdamer Abkommen einführte, über ihren später auch in Potsdam vereinbarten Verlauf weiter nach Westen auszudehnen, um in Wahrnehmung der tradtitionellen Vorstellungen polnischer Konservativer und Nationalisten die fehlende staatliche Legitimität und nationale Identifikation durch hypernationalistisches Verhalten zu gewinnen. In diesen Kreisen wurde die Vorstellung von einem Polen bis zur Eibe und Saale gepflegt, das von westslawischen Stämmen, die alle als Polen angesehen wurden, besiedelt gewesen war. Mithin gab es eine vermeintlich historische Begründung für diese Vorstellungen, die eigentlich die ganze SBZ hätten Polen zuführen sollen. Stalin hatte schon seit 1943 seinen späteren Herrschaftsträgern wiederholt strategisch klug aufgegeben, die deutsche mitsamt der Grenzfrage sowie eine Schonung der Kirche zu Mitteln der Gewinnung der Gesellschaft zu machen. Vor allem trachtete das kommunistische Regime danach, Polen die Lausitz, das Siedlungsgebiet der auch noch meist katholischen Sorben, einzuverleiben, was aber zu heftigen Streitigkeiten mit der Tschechoslowakei führte, die das ebenfalls beabsichtigte und darüberhinaus auch noch die Grafschaft Glatz beanspruchte. Erst Ende 1946 bereitete ein sowjetisches Machtwort den Bestrebungen der polnischen Regierung und Partei, die bemerkenswerterweise auch die Kirche unterstützte, ein Ende. Die durch die polnischen Absichten verschreckte SED, die bei den Kreis- und Landtagswahlen vom Oktober 1946 um die Stimmen der Vertriebenen warb, verabschiedete daraufhin ihre ZK-Erklärung "Klarheit in der Ostfrage!" (Neues Deutschland, 21. 9. 1946), die die Forderung nach Offenhaltung der Grenz-und Abtretungsfrage Ostdeutschlands bis zur Friedenskonferenz deklarierte. Flugblätter zur Wahl betonten die Vorläufigkeit der Grenzregelung und die Ablehnung von Gebietsabtretungen, was in Polen viel Aufmerksamkeit und Ablehnung fand. Erst der Artikel Ulbrichts "Die Grundlagen der deutsch-polnischen Freundschaft" (ND, 21. II. 1948) beendete nach außen die Bekundungen. Das Problem blieb trotz des Görlitzer Grenzabkommens vom 6. 7. 1950 jedoch in der SED lebendig. Äußerlich beendet wurde es durch Repressalien, die auf Druck Polens erfolgten. I Zu den Auswirkungen der polnischen Reformansätze und des "Frühlings im Oktober" 1956 in der DDR sowie den daraufhin entstandenen Spannungen zwischen Polen und der DDR und deren Entwicklung auf verschiedenen Gebieten sowie den Bemühungen, sie aus der Welt zu schaffen vgl. Georg W Strobel, Polens "eigener Weg zum Sozialismus", in: Europa-Archiv, Frankfurt 1958, Nr. 15-16-17, S. II 014ff.; Georg W Strobel, "Oskar Lange und die Reformbestrebungen in der marxistischen Wirtschaftstheorie Polens", in: Europa-

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gen sowie in ihrem Grundverhalten blieben sie weitgehend gleich, übrigens auch in ihren Auswirkungen auf die jeweiligen nationalen Gesellschaften. Was seitdem anders war, war die sich verändernde Position der DDR innerhalb der sozialistischen Staaten- und Wirtschaftsgemeinschaft, was auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zurückschlug. Infolge ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ideologischen Linientreue entwickelte sich die DDR zunehmend zum wirtschaftlichen Leistungsträger, aber im Bewußtsein dessen auch zum besserwissefischen Lehrmeister und verbissenen ideologischen Wachter. Das akzeptierte selbst die Sowjetunion, wenngleich widerwillig, wobei sie abgestuft erhebliche Vorbehalte gegenüber den jeweiligen SED-Führungen zu erkennen gab. Das DDR-Selbstverständnis sowie das gestiegene Selbstbewußtsein der DDR sollten solchermaßen zu einem belastenden Element innerhalb der sozialistischen Wirtschafts- und Staatengemeinschaft werden. Anders war mit der Zeit ferner die Qualität der die vielfältigen Spannungen um die DDR auslösenden Ereignisse, die sich zwar nicht in ihrer Art, wohl aber in der Weise ihrer Äußerung zuspitzten. In diesen grundsätzlichen Zusammenhängen entwickelten sich die Problemfelder der DDR-Polen-Beziehungen in den achtziger Jahren. Gleichermaßen wie die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen waren sie stets vom Schatten des anderen deutschen Staates gezeichnet, ähnlich übrigens wie auch die Beziehungen der DDR zur Sowjetunion. Das galt insbesondere für die Besonderheiten, die sich aus dem innerdeutschen Handel mit der Bundesrepublik, den finanziellen Substitutionsleistungen und zusätzlichen Kreditgewährungen insbesondere für DDR-Zugeständnisse im Reiseverkehr ergaben und die DDR im sozialistischen Lager erheblich besser stellten. Im Gegensatz zu allen ihren sozialistischen Partnern erhielt sie dadurch auch noch Zugang zu den Vorteilen des EGMarktes, wenngleich nur indirekt über die Bundesrepublik eingebunden, was sie aber trotzdem im sozialistischen Lager bevorzugte. Die Vielfalt und die Tragweite der Probleme ist in den letzten Jahren durch den Untergang der DDR und die Öffnung eines Teils ihrer Archive, insbesondere des Parteiarchivs, sowie durch die politische Wende in Polen deutlicher geworden, denn auch in Polen sind die kommunistischen Partei- und einige Regierungsarchive zugänglich geworden. Sie alle sind im Ansatz bereits in bemerkenswerten Arbeiten erschlossen. Deutscherseils handelt es sich um die auch in Polen begreiflicherweise große Aufmerksamkeit erlangte Arbeit von Michael Kubina und Manfred Wilke, "Hart und kompromißlos durchgreifen". Die SED contra Polen 1980 I 81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995. Polnischerseils ist es die ehrliche und sehr kundige, in Deutschland leider immer noch weitgehend unbekannte, eine Übersetzung und große Verbreitung verdienende Arbeit des wohl besten DeutschlandArchiv, Frankfurt 1959, Nr. 19 - 20, S. 601 ff.; Georg W Strobel, "Der Ausbau der polnischen Beziehungen zu Pankow. Gomulkas Besuche in der DDR in den Jahren 1957- 1963", in: Europa-Archiv, Frankfurt 1963, Nr. 4, S. 135 ff.

Die Beziehungen DDR- Polen in den achtziger Jahren

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kenners Polens Mieczyslaw Tomala, des seinerzeitigen Charge d' Affairs in der DDR und Gesandten in den Niederlanden, Gastprofessor und gefragter Vortragsredner in der Bundesrepublik, der in Düsseldorf vor einem Kreis von Industriellen bereits offiziell als Botschafter Polens in der Bundesrepublik vorgestellt worden war, was er dann, wie aus Warschauer ZK-Kreisen verlautete, wegen seiner Aufgeschlossenheit gegenüber Deutschland und seiner aus Königsberg stammenden deutschen Frau im letzten Augenblick doch nicht wurde. An seiner Stelle kam der hohe Parteifunktionär Waclaw Pi\}tkowski, ein unverhohlener Gegner alles Deutschen, wie er während meines Vortrages in Warschau im Polnischen Institut für Auswärtige Angelegenheiten des Außenministeriums in der Diskussion bekannte. Tomala war zu seiner Zeit auch persönlicher Deutschlandberater Gomulkas und dessen sowie seiner Nachfolger Dolmetscher bei Gesprächen mit der DDR-Staatsund Parteiführung, aber auch der Bundesrepublik, so beispielsweise bei den VierAugen-Gesprächen Brandt-Gomulka im Dezember 1970, worüber er detailliert berichtet. Seine bemerkenswerte Arbeit, die viele Fehleinschätzungen vermeintlicher Experten in Deutschland korrigiert, führt den Titel ..Patrz\lC na Niemcy. Od wrogosci do porozumienia 1945-1991", Warszawa 1997, was übersetzt heißt: .,Mit Blick auf Deutschland. Von Feindschaft zur Verständigung 1945- 1991". In den achtziger Jahren wurden die Beziehungen zwischen der DDR und Polen deutscherseits von politischem und ideologischem Mißtrauen und zunehmend lehrmeisterhafter, verbissener Überheblichkeit sowie Geringschätzung, wenn nicht gar Mißachtung alles Polnischen genau so geprägt, wie durch Außenhandelsschwierigkeiten und zusätzliche Seegrenz- und Territorialforderungen gegenüber Polen, ähnlich derer im Gefolge des .,polnischen Oktober" 1956. Sie berührten das polnische Verständnis von der historischen Bestandsfahigkeit seiner westlichen .,Friedensgrenze", wie die Oder-Neiße-Grenze im Gefolge des Grenzvertrages von 1950 zuerst von der DDR apostrophiert wurde. Polnischerseits waren die Beziehungen von großer Betroffenheit darüber und umso tieferem Mißtrauen alledem gegenüber gezeichnet, was dann in offiziellen und gesellschaftlichen Zweifeln an der Loyalität der DDR gegenüber Polen gipfelte und einen Gegensatz nationaler Interessen und Ansichten schuf. Zudem beherrschte die polnische Führung Neid verschiedener Ursachen, besonders jedoch wegen der für die DDR günstigen Auswirkungen ihrer .,besonderen Wirtschaftsbeziehungen" mit der Bundesrepublik, die sie indirekt in die EG einbanden, ohne daß sie die sich daraus für sie ergebenden Vorteile an die sozialistischen Partnerländer und natürlich ganz besonders an das von Deutschen zerstörte Polen in einem von ihm erwarteten Ausmaß weitergab, worauf Polen ein Anrecht zu besitzen glaubte. Keine Bedeutung spielte für Polen dabei, daß es infolge der Bemühungen der Bundesrepublik ebenfalls Vorteile gegenüber den anderen sozialistischen Partnern aus der Polen gegenüber allen anderen Drittländern besserstellenden Behandlung bei der Abwicklung seiner Exporte in die EG genoß und diese ebenso nicht weiterreichte. Im Grunde fühlte sich Polen weniger durch alles das betroffen als durch die auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet zunehmende, Polen innerhalb des sozia-

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Iistischen Lagers von seiner bisherigen Position verdrängende Bedeutung der DDR, was ihm übrigens auch seitens der Sowjetunion signalisiert und durch die anmaßenden Begehren der DDR immer wieder gezeigt wurde. Die Bedeutung dessen wird besonders deutlich wenn bedacht wird, daß auch das offizielle Polen besonders seit dem XX. KPdSU-Parteitag im Frühjahr 1956 die DDR bis weit in die sechziger Jahre !'Js ein überflüssiges Relikt des Stalinismus empfand, eine Überzeugung, die in der polnischen Gesellschaft nie ganz verschwand. Offiziellerseils wurde der Wert der DDR für Polen lange als gering angesehen 2 , obwohl sie gleichzeitig nach außen als Verteidigerin der eigenen Westgrenze durch die Nationale Volksannee an Eibe und Werra gepriesen wurde3 . Die nach außen so entschieden betonte Bedeutung der DDR für Polen wurde beispielsweise von Minister Franciszek Modrzewski gegenüber Botschafter Helmut Allardt noch Anfang April 1963 mit gegenteiligen, aber auch anbiedernden Äußerungen konterkariert, daß Polen eigentlich an der Existenz der DDR gar nichts gelegen sei4 , was Delegationen der DDR bei Besuchen in Polen auf niedrigerer, unverbindlicherer Ebene ebenso offen und schonungslos gesagt wurde, was sie ihrer Partei und Regierung berichteten 5 • In Ost-Berlin wurde das verständlicherweise als große Kränkung empfunden und schlug sich auf die Qualität der gegenseitigen Beziehungen nieder. Das Abkommen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe zwischen Polen und der DDR von Mitte März 1967 änderte daran so gut wie nichts. Die ideologisch zunehmend verbissene, lehrmeisterhafte und besserwisserische, dazu mißtrauische und grob anmaßende Politik der DDR sowie ein dementsprechendes Verhalten ihrer Vertreter gegenüber polnischen Gesprächspartnern verletzte wiederum das tradierte Selbstwertgefühl und den vermeintlichen moralischen Anspruch der Polen aus der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg grob und schürte die offizielle wie gesellschaftliche Abneigung gegenüber der DDR, auch wenn diese offiziell mit den propagandistischen Feststellungen kaschiert wurde, die DDR sei ein sozialistischer Bruderstaat und verläßlicher Freund, dessen Anliegen und Interessen Polen besonders gegenüber der Bundesrepublik voll und ganz wahrnehme, sich mithin der DDR gegenüber völlig loyal verhalte. Das war übrigens seit 1962/63 besonders bei der Berlin-Politik der DDR und der Verneinung und Bekämpfung der Hallstein-Doktrinder Fall6 , womit Polen aber sein eige2

Georg W Strobel, "Der Ausbau der polnischen Beziehungen zu Pankow". (S. Anm. 1),

s. 135 f.

J Zolnierz wolnosci, 6. 7. 1965. - Ferner wurde erklärt, daß "die Sicherheit der DDR die Sicherheit Polens ist". Vgl. Zbigniew Zaluski, "Obronnosc dawniej i dzis" (Die Verteidigung früher und heute), in: Wojsko ludowe, Warschau 1964, Nr. 7, S. 55) oder daß die militärische Stärke der DDR "auch unsere Stärke ist", vgl. Zolnierz wolnosci, 29.2. - I. 3. 1964. Zum Gesamtkomplex vgl. Georg W Strobel, Der Warschauer Vertrag und die Nationale Volksarmee, Bonn 1965 (Wehrpolitische Schriftenreihe, Nr. 18). 4 Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. 1963. Bearb. Von Mechtild Lindemann und llse Dororhee Pautsch, München 1994, Bd. I, S. 455. s Bericht vom 10. Januar 1962. Archiv des ZK der SED: IV-2/20-186.

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nes Renommee innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft in Konkurrenz zur DDR zu stärken suchte. Es gab in den DDR-Polen-Beziehungen eben zwei Gesichter und viel Heuchelei beiderseits, was notabene innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft keineswegs so selten war, wie die nach außen Brüderschaft und Freundschaft überschwenglich betonenden Bekundungen vermuten lassen könnten. Realität und Schein fielen im sozialistischen Lager eben weit auseinander. Eine Folge des das auch von der kommunistischen Führung legitimationsorientiert sehr betont gepflegte tradierte historische wie politische Vorreiter- und Selbstwertgefühl der Polen für das Abendland verletzenden und anmaßen-den Verhaltens der DDR-Vertreter war, solange die Position der DDR in der sozialistischen Gemeinschaft noch nicht gefestigt genug war, die sehr selbstbewußte Art und Weise des Auftretens der polnischen Partei- und Regierungsvertreter in den nichtöffentlichen Gesprächen und Verhandlungen. Es entsprach der offiziellen Einschätzung des Werts der DDR für Polen. Zudem war es demjenigen sehr ähnlich, wie es seit etwa 1971 I 72 seitens der DDR zunehmend gegenüber Polen eingenommen wurde und Polen später stören sollte, was den neuerdings zugänglich gewordenen Gesprächsprotokollen zu entnehmen ist. Schließlich verärgerte es damals die sich schon immer für besonders Iinien- und ideologietreu einschätzenden DDR-Vertreter sehr, besonders weil es von den wenig geachteten Polen kam, und bestimmte auch ihr späteres Verhalten gegenüber Polen. So entstanden beiderseits für das gegenseitige Verhältnis folgenreiche Verletzungen, die zu keiner Zeit bewältigt worden sind. Später, nachdem die Bedeutung der DDR innerhalb ihres politischen Lagers sich gefestigt hatte, trug das alles dazu bei, daß nicht nur die Einschätzung Polens, wie schon früher, sondern besonders das Verhalten gegenüber Polen sehr kritisch und nur wenig entgegenkommend wurde. In alledem trafen zwei unvereinbare gegenseitige Einschätzungen aufeinander: In der DDR wurden Polen und ihr Staat, ja sogar ihre Partei als die unzivilisierten, unzuverlässigen und in jeder Hinsicht unfähigen "Polacken" ohne jegliche Disziplin und Ordnung angesehen, so daß ihr Staat zur blanken "Walachei" werde. Die DDR galt in Polen vor allem wiederum als ideologisierte Nachfolgeein des historisch unterdrückenden und germanisierenden, deswegen aber schon immer verhaßten Preußen7 , was durch Äußerlichkeiten jenseits der Grenze auch noch bestätigt wurde. Insbesondere das konfrontationsbereite, außerordentlich selbstbewußte, ja herausfordernde Auftreten Gomulkas gegenüber Ulbricht war Zeugnis dessen. Zudem 6 Georg W Strobel, Deutschland - Polen. Wunsch und Wirklichkeit. Eine Dokumentation zum Problem der Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 und zur Frage der polnischen Vorbedingungen. Bonn, Bruxelles, New York, 2. erg. Auflage, 1971, S. 29f. 7 Georg W Strobel, "Die polnische ,Preußenkrankheit' und ihre politische lnstrumentalisierung", in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bonn, B. 53/97, S. 21 ff.; Georg W Strobel, Einige Probleme der Außenpolitik Polens. Abhängigkeiten zwischen der polnischen Politik gegenüber dem Westen und innerpolitischen Faktoren Polens und des sozialistischen Lagers. Berichte des BlOst, 42/1967, Köln 1967, S. 28f.

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war es Folge der Gomulka bei seiner Wiederkehr in Parteiwürden Mitte Oktober 1956 entgegengebrachten DDR-Einstellung, die ihn der Abtrünnigkeil und des Reformkommunismus bezichtigte, was übrigens eine auch in polnischen Kreisen an ihn gebundene latente Erwartung war und die DDR-Einstellung verständlicher macht. Der nachtragende Gomulka fühlte sich dadurch jedoch tief verletzt, was er Ulbricht fühlen ließ. Dem in Warschau neuerdings zugänglich gewordenen Archivmaterial ist zu entnehmen, wie Gomulka mit allem Stolz des verletzten Polen die von Ulbricht angestrebte Unterordnung Polens den Interessen der noch nicht einmal im eigenen Lager als vollwertig angesehenen DDR in einer von Polen angeregten Wirtschaftskooperation der drei westlichen sozialistischen Länder, dem sog. eisernen Dreieck, in dem Polen die Führung wahrzunehmen beabsichtigte, entschieden ablehnte, weil "ihr mehr an einer Zusammenarbeit interessiert sein müßtet als wir"8 • Daraufhin brach er weitere Gespräche hierzu mit der selbstbewußten, wenngleich realitätsfernen Feststellung ab, wie sich später herausstellen sollte, daß es "in dieser Situation keinerlei Sinn macht, die Gespräche fortzuführen" 9 . Das verärgerte wiederum Ulbricht tief und ließ ihn nur noch entschiedener auf seiner Absicht verharren, was wiederum Gomulka aufbrachte. Ein andermal, es war 1969, kränkte er Ulbricht bis ins Mark. Gomulka stellte ihm gegenüber provokant fest, daß es in zehn Jahren keine DDR mehr geben werde, was offenläßt, ob Gomulka den ihm persönlich sehr widerwärtigen Ulbricht nur ärgern wollte oder ob die polnische Führung damals wirklich an eine Wiedervereinigung in Freiheit gedacht habe, die Polen möglicherweise Vorteile bringen könnte. Immerhin vertrat Gomulka bereits bei seinem DDR-Besuch Mitte Oktober 1962 als einzig reale die Konzeption einer im geeigneten Augenblick zur Wiedervereinigung von DDR und Bundesrepublik führenden Konf6deration beider Staaten, was von den damaligen Überlegungen zur Konföderation beider Staaten im nationalen deutschen Interesse positiv abstach. Noch im April 1969 rief Gomulka derb und herrisch Ulbricht zur Ordnung, er solle "keine Dummheiten quatschen". Der von ihm gewählte Ausdruck "pieprzyc" geht ins Obszöne und ist beleidigend, dürfte also dem Dolmetscher einige Schwierigkeiten bereitet haben 10• Angesichts der zunehmend gewichtigeren Stellung der DDR innerhalb der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft bei sich parallel dazu zuspitzenden politischen Schwierigkeiten Polens, wie den Unruhen vom Dezember 1970 in Danzig, Gdingen, Elbing und Stettin, die mit Waffengewalt unterdrückt wurden 11 sowie s Archiwum Akt Nowych, Faszikel 2575, S. 197 ff., Warschau. 9 Ebenda. IO Mieczyslaw Tomala, Patrz~c na Niemcy. Od wrogo5ci do prozumienia 1945-1991 (Mit Blick auf Deutschland. Von der Feindschaft bis zur Verständigung), Warszawa 1997, S. 175. - Diese Bemerkung steht nicht in den Gesprächsnotizen, sondern wird auf Grund eigener Aufzeichnungen von Mieczyslaw Tomala. dem Dolmetscher Gomulkas. erinnert. II Grudzien przed Sierpniem. W XXV rocznic~ wydarzen grudniowych (Der Dezember vor dem August. Zum XXV. Jahrestag der Dezemberereignisse). Red. Lech Mazewski, Wojciech Turek, Gdansk 1996.

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den Unruhen in Radom 1976, die die Eisenbahnverbindungen zur Sowjetunion unterbrachen und zum Aufkommen der organisierten Oppositionsbewegung mit ihrer Einheit von Intellektuellen und Arbeitern führten sowie 1980 in der "Solidamosc" ausmünden sollten, wurde Polen von seiner Position einer peripheren Führungsmacht im sozialistischen Lager von der DDR abgelöst. Die Schwäche Polens gedieh auf diese Weise zur Stärke der DDR. Keiner der Gomulka nachfolgenden polnischen Parteiführer, weder Edward Gierek, der in Belgien aufgewachsene kommunistische Pragmatiker aus einer tiefreligiösen Familie, noch Kania, die simple Partei-Notlösung vom September 1980, und schon gar nicht Wojciech Jaruzelski, der Adelige, in der Kindheit von der Kirche geprägte, als Jugendlicher in sibirischer Verbannung, wo seine Eltern starben, gereifte kommunistische General, oder Mieczyslaw Rakowski, der Totengräber der kommunistischen Partei in Polen und geistreiche Journalistenfreund Bonner SPD-Größen, worüber er voller Genugtuung schreibt 12 , wagten jemals ähnliche Töne wie Gomulka. Sie verkrochen sich in sprichwörtlichen Mäuselöchern und überboten einander an Wohlverhalten, würdeloser Unterwürfigkeit und Anpassungsbereitschaft an die Vorstellungen der immer kaltschnäuziger und überheblicher vermittelten DDR-Erwartungen, wobei sie, wie ihren Memoiren 13 und offiziellen Dokumenten 14 zu entnehmen ist, trotzeigenem Stolz und der Überzeugung von einer moralischen Überlegenheit gegenüber der preußisch-deutschen DDR in einer dazu noch slawisch geprägten sozialistischen Staaten- und Wirtschaftsgemeinschaft, in der Deutsche eigentlich nichts zu suchen hätten, diesen schwer erträglichen Kotau vermeintlich zu machen hatten, obwohl sie darunter litten und sich tief gedemütigt fühlten. Innerlich unwillig, nach außen aber gehorsam und geduldig ließen sie sich die hochmütigen Belehrungen und die verletzende, grob anmaßende Kritik Honeckers gefallen, ohne zu widersprechen, dabei jedoch immer der eigenen politischen Schwäche in Staat und Gesellschaft gewärtig, was alles sie außerordentlich verbitterte und kränkte. Honeckers Vorstellungen von Polen waren ebenso wie diejenigen Ulbrichts vom DDR-Verständnis des polnischen "Frühlings im Oktober" 1956 bestimmt. Das von den polnischen Ereignissen produzierte tiefe Mißtrauen und die vielen Vorbehalte, die er hervorgerufen hatte, weil er direkt auch in das politische Leben der DDR eingriff15 , bestimmten über Jahrzehnte die Politik der DDR gegenüber Polen, 12 Mieczyslaw F. Rakowski, Zanim stan~ przed trybunalem (Bevor ich vor das Tribunal komme), o. 0., o. J., S 122, 147f. 13 Wojciech Jaruzelski, Stan wojenny dlaczego . .. (Warum der Kriegszustand . . . ). Warszawa 1992; Mieczyslaw Rakowski, Jak to si~ stalo (Wie das geschah), Warszawa 1991 ; Edward Gierek, Przerwana dekada (Die unterbrochene Dekade), Warszawa 1990. 14 Abdruck der Dokumente fortlaufend zwischen den Darlegungen: Mieczyslaw TonuJla, a. a. 0., s. Anm. 10. 15 Die Ökonomen Behrens, Kohlmey und Benary hatten versucht, Gedanken der polnischen Wirtschaftsreform noch vor dem polnischen ..Frühling im Oktober" 1956 und insbesondere danach in die DDR zu transportieren, was auf anderen Gebieten Harich und Havemann taten. Vgl. Georg W Strobel, Oskar Lange und die Reformbstrebungen (Anm. I); Georg W Strobel, Polens .,eigener Weg zum Sozialismus (Anm. I); Georg W Strobel, .,Die

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bestärkt durch die seit Ende 1970 wiederkehrenden inneren Schwierigkeiten Polens bei vermeintlicher Untätigkeit, ja von Affinität geprägter Nachsicht der staatstragenden kommunistischen Partei. Mental war es zwar einfältig und zeigte auch kein politisches Fingerspitzengefühl im Umgang miteinander. Doch unter dem von der DDR-Popaganda vermittelten Eindruck des Geschehens in Polen, das in Disziplinlosigkeit und Chaos ausmündete, verstärkte sich allenthalben die tradierte Überzeugung von der eigenen, deutschen Überlegenheit gegenüber Polen, den umgangssprachlichen "Polacken", die nur bemüht seien, die Gutwilligkeit der DDR und ihrer Bürger schamlos auszunutzen. Die ideologischen Zweifel und Vorbehalte in der DDR an Polen nahmen ihren Anfang beim Rückzug Gomulkas aus der sozialistischen Agrarpolitik einer Kollektivbewirtschaftung des Bodens, die er schon während seiner ersten Periode des Parteivorsitzes vor 1948 vertreten hatte, die nun zu einer Auflösung von rund 90 Prozent der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften innerhalb weniger Monate nach seiner Rückkehr an die Parteispitze geführt hat, während das "Bauernlegen" in der DDR gerade einen Höhepunkt erreicht hatte. In Polen wurde, was als eine folgenschwere ideologische Fehlentwicklung gedeutet wurde, das Attribut der Sozialisierung in der Landwirtschaft an die persönliche Zugehörigkeit der selbständig wirtschaftenden Bauern zu genos-senschaftlichen Organisationen unterschiedlicher, auch im Kapitalismus bekann-ter Art gebunden, wie Ein- und Verkaufsgenossenschaften. Damit wurde das Merkmal des Sozialismus im Agrarbereich vom Boden gelöst und an die wirtschaftende Person gebunden, was zweifellos eine Abweichung vom bisherigen Sozialismusverständnis darstellte. Für die Ideologen der DDR war dies völlig unannehmbar und stigmatisierte in ihrem Verständnis Polen, was sich politisch in den Beziehungen auszuwirken habe. Auch Gomulkas vertragliche Vereinbarungen mit der "polnischen Kirche", der Trägeein und Wahrerin der Nation in Zeiten des Niederganges in eigener und in der Überzeugung der Gesellschaft, was die Freilassung der internierten Primas Kardinal Stefan Wyszyiiski, nach nationaler Tradition des "Interrex Poloniae", und inhaftierter Bischöfe brachte, waren der DDR ein weiterer Dom im Auge. Die Kirche wurde, wie die DDR richtig bemängelte, politisch zwar aufgewertet, doch wurde dadurch die Akzeptanz für das kommunistische Regime in der Gesellschaft deutlich erhöht, was Gomulka treffsicher erkannt hatte, die DDR-Führung aber in ihrer Polen vermittelten Überzeugung, daß Gewalt ein besseres Mittel sei, sich die Kirche gefügig zu machen, wegen der anderen Stellung und Funktion der Kirche in Deutschland überhaupt nicht begriff. Die Kenntnisse in der DDR über die mentalitätshistorischen Besonderheiten Polens auch bei der nationalen Umsetzung des nationale Komponente in der kommunistischen Entwicklung Polens", in: Europa-Archiv, Frankfurt 1956, Nr. 22/23, S. 9317ff.; Kennzeichnend für das Geschehen ist der Streit zwischen Hermann Axen (Neues Deutschland, 27. 12. 1956) und Edda Werfel, Ehefrau des Chefredakteurs des theoretischen Parteiorgans ..Nowe drogi", die ihn mit ihrem Artikel (Przeglocd kulturalny, 7. II. 1956) ausgelöst hatte und der noch lange die Beziehungen belasten sollte.

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Kommunismus in die polnischen Verhältnisse waren und blieben auch künftig bruchstückhaft, obwohl sich die DDR immer wieder berufen fühlte, in die inneren Angelegenheiten Polens mit gutgemeintem "Rat" einzumischen, der in Polen als unangemessene und überflüssige, dazu auch noch deutsche Forderungen nicht ganz zu Unrecht aufgefaßt wurde, von denen es schon immer deutscherseits viel zu viele gegeben habe. Schon weit verständlicher aus ihrer Sicht störte die DDR die sich seit 1976 formierende und politisches Gewicht in der Gesellschaft gewinnende innerpolnische Opposition, die differenziert und sehr geschickt auf vielerlei Weise die Stellung der Partei und ihrer Ideologie untergrub. Die Aufgabe der Kollektivbewirtschaftung des Bodens beanstandete Honecker noch zwanzig Jahre später gegenüber dessen unmittelbarem Nachfolger Gierek, der versprechen mußte, hier nach DDR-Vorbild eine Wende herbeizuführen. Wahrend seiner Herrschaftsdekade erreichte Gierek jedoch nur eine Zunahme um 22 Produktionsgenossenschaften, was die DDR überhaupt nicht befriedigte sowie ihre abfälligen Urteile gegenüber dem unzuverlässigen, aber immerhin willfahrigen "Westler" Gierek festschrieb. In den Augen der DDR-Führung war schon Gomulka ein übler abgefeimter Reformist und blieb es, was nicht nur generell auf Polen, sondern auch auf alle seine Nachfolger abfärbte, so auch auf Gierek. Angesichts der eigenen Ideologie- und Linientreue war die DDR-Führung auch in den achtziger Jahren nicht imstande, Polen wegen alles dessen nicht anders als einen Hort des schon immer verderblichen Reformismus und ideologischen Revisionismus sowie antisozialistischer Kräfte und konterrevolutionärer Entwicklungen zu sehen, gegen die wegen der Affinität zu diesem allem offiziell völlig unzureichend vorgegangen werde. Damit war das Polen der achtziger Jahre für die DDR politisch ein für allemal abgestempelt. Nahezu seit ihrem Anfang regierte die DDR gegenüber Polen ideologisches Mißtrauen, was bis zu ihrem Untergang die Beziehungen zum östlichen Nachbarn prägte. So ist auch die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern in den achtziger Jahren von den Entwicklungen in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht zu trennen, obwohltrotzaller Dissonanzen nach außen unermüdlich die unverbrüchliche und unerschütterliche Freundschaft und sozialistische Brüderlichkeit beider betont wurden, was wiederum im Westen viele irrige Vorstellungen aufkommen ließ. Besonders Kania und Jaruzelski hätten nach DDR-Ansicht gegenüber der im August t 980 aufgekommenen und sich rapide entwickelnden unabhängigen und selbstbestimmten Gewerkschaft "Solidamosc" 16 spätestens Ende 1980 die Erfah16 Zur Solidarnase gibt es mittlerweile viele Veröffentlichgungen, die in der Beurteilung deren Politik und Ethik weit auseinandergehen. Als in diesem Sinne beispielhaft sind zu nennen: Jerzy Holzer. "Solidarität", die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, München 1985; Jozef Tischner. Ethik der Solidarität. Prinzipien einer neuen Hoffnung, Graz 1982; Melanie Tatur; Solidarnase als Modernisierungsbewegung. Sozialstruktur und Konflikt in Polen, Frankfurt 1987; Janina Staniszkis, Poland's Self-Limiting Revolution, Princeton 1984; 1imothy Garton Ash; The Polish Revolution: Solidarity 1980-1982, London 1983; Bohdan A. Osadczuk-Korab, "Solidarnosc". Glanz und Elend einer Gewerkschaftsbewegung, in: Alexander Uschakow (Hg.), Polen - das Ende der Erneuerung? Gesellschaft, Wirtschaft und

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rungen der DDR bei der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes von 1953 beherzigen und gegen die "Solidamosc" mit Gewalt vorgehen sollen, besonders weil es die polnische Führung ja auch schon gegenüber den aufbegehrenden Arbeitern im Dezember 1970 getan hatte. Damals geschah es allerdings mit der nunmehr nicht mehr zu wiederholenden Behauptung, es handele sich um politi-sche Feinde, die von Revisionisten und Revanchisten aufgewiegelt worden seien und angeführt werden, nach üblichem Sprachgebrauch also durch böse, von Vertriebeneninteressen bestimmte, in NS-Nähe anzusiedelnde Westdeutsche 17 . Da die polnischen Behörden im Herbst 1980 jedoch nichts gegen die "Solidamosc" unternahmen, deren Vertreter sich bei den Danziger Verhandlungen mit Regierungsabgesandten nach ersten solchen Versuchen unter Drohung des Abbruchs der Gespräche ausdrücklich verbaten, mit Revisionisten und Revanchisten in einen Topf geworfen zu werden, sie zudem mittlerweile eine millionenstarke Volksbewegung mit hohem ethischen Anspruch geworden war, was die DDR-Führung wiederum nicht realisieren wollte oder konnte, vermutete sie verschreckt, die polnische Partei- und Staatsführung sympathisiere bei der ihrer Meinung nach erwiesenen ideologischen Unzuverlässigkeit mit der neuen autonomen Gewerkschaftsbewegung, was aber zu keiner Zeit der Fall gewesen war. Im DDR-Verständnis stellte die "Solidamosc" eine Fronde von Konterrevolutionären dar, die das sozialistische Lager zu zerstören suche, was nicht einmal ganz falsch war, obwohl sie in ihrer überwiegenden Mehrheit politisch linksorientiert war, so daß im Interesse der Einheit und des Bestandes des sozialistischen Lagers von der DDR ein bewaffnetes Eingreifen der den polnischen Streitkräften vermeintlich ohnehin überlegenen Nationalen Volksarmee vorbereitet und schon weit vorangetrieben wurde, um in Polen einmal mehr "hart und kompromißlos" durchzugreifen. Das erwartete die DDR auch von den anderen sozialistischen Partnern, vorneweg von der Sowjetunion. Zwar wurde das den vorgeblich unzuverlässigen polnischen Gesprächspartnern nicht offenbart oder gar direkt angedroht, doch wurde es mit Hinweisen auf Manöver der sowjetischen Armee auf polnischem Boden und auf die eigene Bereitschaft, den Sozialismus immer und überall zu verteidigen, deutlich zu verstehen gegeben 18 . In Polen rechnete Kultur im Wandel, München 1982; Georg W. Strobel "Solidarität" und Augenmaß. Probleme politischer Optimierung und Maximierung, in: Osteuropa, Stuttgart 1983, S. A 176 ff. ; Georg W. Strobel, NSZZ ,.Solidarnosc". Beitrag zur Analyse der Organisation und politischen Wirkung einer sozialen Sammlungsbewegung, in: Dieter Bingen (Hg.), Polen 1980-1984. Dauerkrise oder Stabilisierung? Strukturen und Ereignisse in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, Baden-Baden 1985, S. 47 ff.; Georg W. Strobel, ,.Gewerkschaftssystem und Arbeiterinteressen in Polen", in: Aus Politk und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 39/86, Bonn 1986, S. 1 ff. 17 Die Erklärung, Revisionisten und Revanchisten seien Urheber der Unruhen in der zweiten Hälf-te Dezember 1970 wurde von den lokalen Rundfunkstationen in Danzig und Gdingen verbreitet. V gl. Georg W. Strobel, ,.Grudzien '70 oraz Solidarnosc w opinii niemieckiej" (Dezember 1970 und ,.Solidarnosc" im deutschen Meinungsbild), in: Grudzien przed Sierpniem, S. 218 (Anm. 11). 1s Mitte September 1980 äußerte Honecker gegenüber dem polnischen Abgesandten Politbüromitglied Zabiliski, der ihn über die polnischen Zustände informieren sollte, nachdem er

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man durchaus mit einer Intervention, ähnlich wie 1968 in der Tschechoslowakei, überschätzte jedoch die eigene Widerstandsfähigkeit deutlich. Trotz der Belastung des sozialistischen Polen durch die Geschehnisse um die "Solidamosc" und des großen Autoritätsverlustes der staatstragenden Partei und der Regierung in der Gesellschaft, wurden von der Partei- und Staatsführung die DDR-Ratschläge als eine unerwünschte, aber in der gegebenen Situation nicht zu vermeidende, auf alle Fälle aber unangemessene Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens empfunden, besonders auch weil der DDR schon vorher die von Polen erwogenen gewaltsamen Gegenmaßnahmen dargelegt worden waren, wobei schon damals - es war Herbst 1980 - die Ausrufung des Notstandes eine Rolle gespielt hatte. Ferner störte in Polen, daß es wieder einmal die "deutsche DDR" war, die sich als Lehrmeister aufspielte. In dieser außerordentlich diffizilen und gefährlichen Situation erfuhr besonders die DDR bei den selbstbewußten Polen viel Spott und noch größere Ablehnung als jemals vorher. Sie manifestierte sich in nichtachtenden, selbstsicheren Sprüche, die ihrerseits überheblich und maßlos überzogen waren 19• Der am I . Januar 1972 zwischen den beiden Ländern eingeführte visum- und zollfreie Grenzverkehr mit uneingeschränktem Devisentausch, der bis dato mehr als 120 Millionen Grenzübertritte gebracht hatte und von der DDR erklär-termaßen als eine Kompensation für das Fehlen eines freien Reiseverkehrs für DDR-Bürger gedacht war, wurde zur Verhinderung des Eindringens konter-revolutionärer Ideen aus Polen, wie Honecker Mitte Oktober 1980 öffentlich in Gera ankündigte, von der DDR zum 30. Oktober 1980 "vorübergehend" aufgehoben, was jedoch vertragswidrig war und Polen offiziell nicht einmal mitgeteilt wurde. Damit wurde die zur Zeit ihrer Öffnung liberalste Grenze Europas wieder geschlossen. Die Zahl der Visumerteilungen wurde von der DDR drastisch gesenkt und die Anträge sehr erschwert. Wegen der seit Jahren überhandnehmenden polnischen Spekulanten, die angesichts der seit 1978 in Polen rapide zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten immer ungenierter die DDR-Läden leerkauften und mit den Waren in Polen auf Trödelmärkten handelten - die Züge Richtung Polen wurden von der DDRBevölkerung bezeichnenderweise "Schmuggelzüge" genannt20 -,wurde die Grenzihn mit Fragen in die Enge getrieben hatte, daß die sozialistische Militärkoalition imstande sei, den Sozialismus überall wirkungsvoll zu schützen. Vgl. Michael Kubina, Manfred Wilke (Hg.), .,Hart und kompromißlos durchgreifen". Die SED contra Polen 1980 /81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995, S. 56ff. Gomulka hatte der DDR-Führung nie über den Weg getraut. Anfang Oktober 1969 fragte er beispielsweise bei seinem Besuch zum 20. Jahrestag der Gründung der DDR, währenddessen er unter den Festgästen isoliert war, seinen Dolmetscher Tomala, - in Polen redete man sich unter Parteigenossen in der 3. Person an -: .,Sagt mal, Ihr kennt sie doch gut, kann man ihnen wirklich trauen?" Vgl. Tomala (Anm. 10), S. 177. 19 In einem Wortspiel hieß es beispielsweise: .,Was wird es geben, wenn wir von links und rechts überfallen werden?- Erst das Vergnügen, gegen die DDR, dann ist die Pflicht an der Reihe, die Sowjetunion". 20 Namens des ZK-Sekretariats der SED schlug Botschafter Baumann polnischen Behörden bereits im August 1977 vor, gegen den .Jllegalen Handel" vorzugehen, wobei die .,Straf-

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schließung von den DDR-Bürgern, die sich durch die fragwürdigen Aktivitäten der Polen in ihrer Warenversorgung eingeschränkt und auch sonst grob belästigt fühlten, uneingeschränkt gut geheißen. Ähnliche Forderungen aus der DDR-Bevölkerung waren übrigens schon früher laut geworden. Auf dem Hintergrund steigender Aversionen gegenüber Polen war es örtlich zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen, was jedoch besonders Vertragsarbeiter traf, die an den fragwürdigen Aktivitäten ihrer Landsleute am allerwenigsten beteiligt waren. Besonders heftig waren die Übergriffe in Dresden, wo die Volkspolizei nur pro forma halbherzig eingriff, ohne die Polen in ihren Unterkünften, in die die Randalierer eingedrungen waren, nachhaltig zu schützen. Parallel dazu wurden die nach gegenseitigen Vereinbarungen in großer Zahl in der DDR beschäftigten polnische Arbeiter - ihre Zahl ging in die Zehntausende -, aber auch Studenten und Künstler allesamt nach Polen abgeschoben, ohne ihnen zur Regelung ihrer privaten Angelegenheiten genügend Zeit zu lassen. Zudem wurde die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit abgebrochen. Besonders in den wirtschaftlich zurückgebliebenen, dünn besiedelten grenznahen Regionen Polens hatte sie bis dahin erhebliche Entwicklungsimpulse vermittelt, die allerdings in Zentralpolen weitgehend unbekannt geblieben waren. Das Verhalten der DDR stieß in Polen auf große Verbitterung. Auch von offiziellen Stellen Polens wurde es als feindselig klassifiziert, wobei die loyalerweise gegenüber der Grundhaltung der sozialistischen Staats- und Wirtschaftsgemeinschaft unternommenen polnischen Versuche, die Stimmung in der Bevölkerung zu entschärfen, kaum Abhilfe schafften. Der Umstand, daß während der Monate der größten Versorgungsschwierigkeiten in der "Solidamosc"-Periode und danach, da die Läden sogar in Großstädten, wie Warschau, realiter leer standen, aus der DDR so gut wie keine wahrnehmbaren Hilfen gekommen waren, während die aus der Bundesrepublik kommenden mannigfaltigen Hilfs- und spontanen privaten Paketaktionen die schlimme Situation zu lindern halfen, vertiefte die Ablehnung der DDR und die Vorstellung, sie sei polenfeindlich, noch weiter. Das Ansehen der Bundesrepublik besserte sich hingegen, wenngleich nur vorübergehend, so daß das propagandistisch bis dahin aufgebaute Bild von der "bösen Bundesrepublik" und der "guten DDR" völlig ins Wanken geriet und die Bemühungen, die bundesdeutschen Hilfen als eine hinterhältige langfristige politische Strategie auszugeben, alles in allem erfolglos blieben, obwohl sie stellenweise, so bei Vortragsveranstaltungen in Universitäten im Oktober 1981, in den Diskussionen vorgebracht worden sind, - sogar in der Katholischen Universität Lublin, wo es von mir am allerwenigsten erwartet worden war. Offenbar wurden die Hilfszusagen Honeckers an polniverfahren gegenüber Bürgern Polens auf dem Gebiet der VR Polen stattzufinden hätten". Vgl. Archiwum Akt Nowych, Faszikel 3501, S. 172. Das ZK der PZPR betrachtete das zwar als ,,Randerscheinung des politisch-sozialen Annäherungsprozesses beider Volker". erklärte sich aber unter dem Druck der DDR. obwohl es in Polen keinen solchen Straftatbestand gab, einverstanden, gegen die "negativen Erscheinungen des illegalen Handels" vorzugehen. Vgl. Archiwum Akt Nowych, Faszikel 3507, S. 169.

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sehe Gesprächspartner nicht eingehalten, obwohl er anderes behauptete21 , wären sie doch notabene seiner Einschätzung der polnischen Situation zuwidergelaufen und seinen militärischen Eingreifplänen kontraproduktiv gewesen. Die Einführung des Kriegszustandes in Polen am 13. Dezember 1981 sowie die Verhaftungen und Internierungen wurden in der DDR als einzig richtiger Versuch der Heilung eines auch für die DDR gefährlichen Zustandes begrüßt. Die DDRPropaganda lobte sie in allen Medien überschwenglich und stellte sich hinter die Maßnahmen, was in der vorher voller böser Unterstellungen unnachsichtig kritisierten polnischen Partei- und Staatsführung möglicherweise sogar Genugtuung hervorrief, politisch nicht allein zu stehen. In der polnischen Gesellschaft steigerte sie die bisher schon entschiedene Ablehnung der DDR aber noch weiter. Langsam begann sie sich zu Haß zu wandeln, der stellenweise überband nahm, wie illegal erscheinende Oppositionsblätter, die halblegal vertrieben wurden, bezeugen. Von der DDR-Propaganda wurde das gegenseitige Verhältnis nach Einführung des Kriegszustandes Ende 1981, der der DDR als Lösungsmöglichkeit bereits ein Jahr früher avisiert worden war, völlig übergangslos erneut zu einer zutiefst freundschaftlichen Übereinstimmung und brüderlicher Einheit stilisiert, die als immerwährend gepriesen wurde. Doch es war auch in den offiziellen Beziehungen mittlerweile eine bemerkenswerte Abkühlung eingetreten, die sich nur langsam löste: zwischen 1980 und Mitte 1983 gab es keinerlei Treffen oder Gespräche zwischen beiden Partei- und Staatsführungen. Aber auch danach wurden sie seltener als vorher und fielen deutlich kühler aus, bezeichnenderweise seitens der DDR bei großer Anbiederungsbereitschaft der polnischen Gesprächspartner. Die tägliche Realität sahtrotz aller erneuten DDR-Beteuerungen von Freundschaft, Brüderlichkeit und ideologischer Übereinstimmung eben weniger erfreulich aus, als den Propagandalosungen hätte entnommen werden können. Die wieder zu Ferienaufenthalten eingeladenen polnischen Jugendlichen wurden so separiert, daß sie mit der DDRBevölkerung kaum in Berührung kamen, um nicht über die Wirklichkeit der pol21 Am 12. I. 1982 behauptete Honecker in einem Telefongespräch gegenüber Bundeskanzler Schmidt, Kinder und Jugendliche der DDR hätten 2,5 Millionen Hilfspakete nach Polen geschickt (vgl. Tomala (Anm. 10), S. 465), ohne daß dies nachvollziehbar ist, obwohl alle Pakete registriert worden sind. Für die aus der Bundesrepublik Deutschland allein im Jahre 1982 erhaltenen 9,5 Millionen privater Paketsendungen, die 100 000 t hochwertige Lebensmittel enthielten, berechneten die Postverwaltungen der DDR und Polens der Bundespost die ihnen zustehenden Gebührenanteile für die Beförderung und Verteilung der Pakete, obwohl alle Hilfspakete gebührenfrei entgegengenommen worden sind. Nur für Pakete, die an Institutionen, wie Waisenhäuser, Altenheime usw. adressiert waren, setzte die polnische Post zeitweilig für kurze Zeit die Gebührenansprüche aus. Darunter fiel jedoch eine relativ kleine Zahl privater Hilfspakete, die in ihrer weit überwiegenden Mehrheit an Privatadressen gingen. Die DDR leistete zu keinem Zeitpunkt einen solchen Gebührenverzicht, was ihr auf dem Hintergrund der Polenkrise Mehreinnahmen von mehreren Dutzend Millionen US-Dollar einbrachte, in denen abgerechnet wurde. Polens Fiskus verzeichnete dadurch eine zusätzliche Einnahme von 38,2 Millionen US-Dollar. Vgl. Georg W Strobel, ,,Die Entwicklung in Polen und die politische Konzepttindung des Westens", in: Beiträge zur Konfliktforschung, Köln 1984, Nr. 2, S. 86 f.

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nischen Ereignisse zu berichten, die in den DDR-Medien entstellt geschildert worden waren. Sie durften sich nur in geschlossenen Gruppen bewegen, meist von aufmerksamen und strengen Begleitern geführt, um jegliche Kontakte, und seien sie noch so zufällig und kurzfristig, zu verhindern. Stark beaufsichtigend verhielt man sich auch gegenüber den vorher ausgewiesenen Studenten, die nach einer neuerlichen Überprüfung an ihre DDR-Studienorte zurückkehren durften. Künstler wurden als grundsätzlich unzuverlässige Personen angesehen und daher in der Regel nicht mehr eingeladen, jedenfalls kaum zu längeren Aufenthalten, es sei denn, sie hätten sich seinerzeit der "Solidamosc" verweigert, und schon gar nicht zu Stipendienaufenthalten. Selbst von polnischen Offiziellen wurde das reglementierende DDR-Verhalten als Zeugnis ihrer antipolnischen Boshaftigkeit, von ihren Beteuerungen abweichender heimtückischer Scheinheiligkeit und Heuchelei verstanden, wie politisch hochstehende Persönlichkeiten in Gesprächen zu verstehen gaben. Nahezu die ganze erste Hälfte der achtziger Jahre trug durch ihr Geschehen infolge der schon bald wieder feindseligen, grob herabsetzenden DDR-Propaganda gegenüber Polen, die an die Zeit des "polnischen Frühlings im Oktober" 1956 erinnerte, auch zu einer deutlichen Zunahme der ohnehin schon überreichlich vorhandenen antipolnischen Stimmung in der DDR bei. Stellenweisen mündete sie immer wieder in gewalttätigen Exzessen gegen Polen aus, was bis über die Wiedervereinigung in den neuen Ländern erhalten blieb und das Verhältnis zwischen Polen und dem wiedervereinigten Deutschland vorübergehend nicht unerheblich belastete. Angesichts des gestiegenen Selbstbewußtseins und der politisch-ideologischen Emanzipation der DDR selbst gegenüber der Sowjetunion als Führungsmacht der sozialistischen Gemeinschaft und ihres auf diesem Hintergrund in der SED-Führung zunehmenden überheblichen Antisowjetismus war ein Teil der Kritik an Polen und dessen politischer Entwicklung zweifellos gegen die Sowjetunion gerichtet, die direkt nicht kritisiert werden konnte. Das galt ganz besonders für die Gorbatschow-Ära in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Wegen ihres uneinsichtigen, sturen Verhaltens und der ideologischen und sonstigen Besserwisserei wurde die DDR auch in der Sowjetunion immer unbeliebter. Besonders gegenüber dem eigensinnigen, unbelehrbaren Honecker hatte Gorbatschow seit dem ersten Zusammentreffen große Vorbehalte, die er auch Dritten, insbesondere Polen, die sich dadurch in ihrer Haltung bestätigt fühlten, unverhohlen zu erkennen gab. Er nannte Honecker nur noch geringschätzig "Starik" (seniler Greis). Erst im Zuge der anstehenden Wiedervereinigung kam es zu einer überraschenden Umkehr im Verhältnis DDR-Polen. Zur Sicherung der im polnischen Verständnis bei einer Wiedervereinigung bedrohten Oder-Neiße-Grenze wurden Gespräche mit der DDR-Führung häufiger, bei denen seitens der DDR Lösungsvorschläge für dieses Problem unterbreitet wurden, die in den die 2+4-Wiedervereinigungsgespräche begleitenden Verhandlungen mit der Bundes-republik über die Grenzlösung, eine der Voraussetzungen für die Wiederver-einigung, von Polen aufgegriffen wurden. Angesichts der aufgetauchten vermeintlich größer werdenden Gefahr durch ein wiedervereinigtes Deutschland sprachen sich im postkommunistischen Früh-

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jahr 1990 in Repräsentativumfragen bis zu 83 Prozent der befragten Polen gegen eine deutsche Wiedervereinigung und für ein Weiterbestehen der DDR als kleinerem Übel für Polen aus22, wobei sogar die weitere Stationierung sowjetischer Truppen als Sicherheitsgarantie nicht nur in Kauf genommen, sondern ausdrücklich erbeten wurde und zwar vornehmlich in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, in denen sich das Gefühl der Vorläufigkeit und Unsicherheit wieder auszubreiten begann23 . Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß zur Zeit dieser Umfragen und der Bitten an die für diese Entscheidung völlig unzuständigen Standortältesten der sowjetischen Truppen die DDR nicht mehr ein Staat Honneckers, sondern der demokratisch gewählten Volkskammer und ihrer Regierung war. Allerdings kann nicht als sicher angenommen werden, daß dieser Umstand bei den Befragungen eine wesentliche Rolle gespielt hat oder entsprechend dessen Bedeutung in das Verständnis der polnischen Gesellschaft gedrungen war, für die die neue DDR schon aus Gewohnheit die altbekannte DDR blieb. In diesen Monaten zeigte sich in Polen gegenüber der Wiedervereinigung Deutschlands ein Auseinanderfallen der offiziellen und der gesellschaftlichen Meinung. Ungefähr zur Zeit der Umfragen unterstützte die Regierung Polens bereits den Wiedervereinigungsprozeß Deutschlands. Bemerkenswerterweise widerstand sie dabei den französischen Wünschen in der Hoffnung auf die vermutlich kurz bevorstehende Ablehnung der Wiedervereinigung durch Rußland, wovon Frankreich fest ausging, durch eskalierende materielle Forderungen an die Bundesrepublik den Wiedervereinigungsprozeß bis zu diesem Zeitpunkt hinauszuzögern, um ihn auf diese Weise zu verhindern. Doch Polen war nicht bereit, auf Frankreichs Wunsch sich den Vorwurf einzuhandeln, es hätte den berechtigten Wunsch des deutschen Volkes zunichte gemacht, wobei Frankreich auch noch im Verborgenen geblieben wäre. Die DDR-Polen-Beziehungen wurden im Verlaufe der achtziger Jahre ferner von einer ganzen Reihe unterschiedlicher, aber politisch sehr ernstzunehmender Faktoren weiter belastet. So bemängelte Polen erfolglos immer wieder die Zufahrterschwernisse nach West-Berlin, die die DDR für Warenlieferungen schuf, inklusive der Erhöhung der Transitgebühren. Ein weiterer Streitpunkt waren ökologische Probleme, so wenig sich Polen andererseits um die eigene Umweltbelastung in Oberschlesien kümmerte. Polen beklagte die von den grenznahen industriellen DDR-Dreckschleudern verursachte ökologische Belastung, was ebenso ohne Er22 Stanislaw Lisiecki, Polen und Deutsche - Öffentliche Meinungen und Urteile unter besonderer Berücksichtigung der Bewohner grenznaher Gebiete, in: Deutsche und Polen. Zwischen Nationalismus und Toleranz (Friedrich-Ebert-Stiftung. Gesprächskreis Arbeit und Soziales, Nr. 19), Bonn 1993, S. 28 ff. 23 Besonders in niederschlesischen Städten, den Stationierungsorten sowjetischer Militärkräfte, wo es immer wieder zu Gewalttaten sowjetischer Soldaten kam, gegen die die polnischen Ordnungskräfte nicht einschreiten durften, so daß sich Einwohnerwehren mit stiller Zustimmung der polnischen Behörden bildeten, wurden die sowjetischen Standortältesten gebeten, wegen der deutschen Gefahr nicht abzuziehen. Die Bitten äußerten sowohl polnische Kommunalbehörden wie Bürgergruppen, die sich wenig früher durch sowjetische Soldaten bedroht gefühlt hatten. Darüber berichteten diverse Lokalzeitungen.

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folg blieb wie die beanstandeten ungesicherten Nukleartransporte quer durch Polen in die Wiederaufbereitungsanlagen der Sowjetunion. Besondere Streitpunkte ergaben sich aus zwei anderen politisch hochbrisanten Erscheinungen, die die Beziehungen während der ganzen achtziger Jahren außerordentlich belasteten. Es handelte sich dabei einerseits um die Nichteinhaltung vereinbarter Warenlieferungen, was freilich beide Seiten betraf. Die nicht eingehaltenen polnischen Steinkohlelieferungen von jährlich rund 1,5 Millionen Tonnen brachten die Planwirtschaft der DDR gehörig durcheinander und machten Kohleeinfuhren aus dem Westen erforderlich, die mit knappen Devisen bezahlt werden mußten. Aus diesem Grunde stellte die DDR Maschinen- und Ersatzteillieferungen nach Polen zeitweise gänzlich ein. Eine Rolle für das Verhalten Polens spielte der Umstand, daß es mit dem Verkauf seiner Steinkohle auf dem Weltmarkt die ihm dringend benötigten Devisen zu erwirtschaften trachtetete, um die Folgen des seit 1978 bis über die Mitte der achtziger Jahre jährlich unablässig sinkenden Sozialprodukts bei zeitweilig galoppierender Inflation zu minimieren, was trotzdem nicht gelang. Aus solchen wirtschaftlichen Gründen, die in der DDR nicht akzeptiert wurden, weil sie sie in erhebliche Schwierigkeiten stürzten, wurde das politische Klima zwischen beiden Ländern außerordentlich belastet. Zugleich gingen die polnischen Außenhandelsanteile in den achtziger Jahren sehr deutlich zurück, was den krisenhaften Niedergang Polens während dieses Jahrzehnts ebenso spiegelte, wie Polens größere Abhängigkeit von der Wirtschaftsleistung der DDR als der DDR von Polen. 24 In den gegenseitigen politischen Beziehungen wurden durch das vertragswidrige Verhalten Polens aber die DDR-Stereotypen über das unzuverlässige, unfähige und chaotische Polen, das auch eingegangene Verträge nicht respektiere, bestätigt, was die Ablehnung Polens noch vertiefte. Von besonderer Bedeutung wurde das Problem der "Friedensgrenze" an Oder und Lausitzer Neiße, das von der DDR auf eine Polen verunsichernde Weise in der Zeit seiner inneren Auseinandersetzungen mit der "Solidarnosc"-Volksbewegung aufgegriffen wurde. Die DDR glaubte, das Problem, das bereits 1956/57 im Gefolge des "polnischen Oktobers" eine Rolle gespielt hatte, nunmehr unter Ausnutzung der innen- und außenpolitischen Schwäche Polens im sozialistischen Lager zu ihren Gunsten lösen zu können. Damals wie jetzt ging es um Stettin, das entgegen dem Potsdamer Abkommen, aber nach sowjetischem Willen, der den Polen schon Anfang 1944 offenbart wurde, samt Hinterland lange vor Potsdam zu Polen geschlagen wurde, nunmehr noch ergänzt um das Problem der DDR-Seegrenze in der Pommersehen Bucht. Die Vorstellungen der DDR wurden 1957 durch einen Besuch Chruschtschows in Polen konterkariert, wobei er das "Polentum" der Stadt öffentlich bekundete und damit den Vorstellungen der DDR Einhalt gebot. Mitte 1957 garantierten daraufbin die Regierung der DDR und die SED in einer gemeinsamen Erklärung mit den polnischen Partnern erneut die Endgültigkeit der Oder24

Tomala (Anm. 10), S. 467.

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Neiße-Grenze, was zwar die unmittelbaren Spannungen entlud, polnischerseits aber das Mißtrauen gegenüber der DDR nicht beseitigte. Nun war die Situation wegen des in der sozialistischen Staaten· und Wirt· Schaftsgemeinschaft herrschenden Mißtrauens wegen der "Solidarnosc"-Bewegung und des von ihr verursachten inneren Zerfalls Polens nach DDR-Meinung sehr viel günstiger als 1956/57, so daß sie auszunutzen sei. Ohne Konsultierung oder auch nur Informierung Polens dehnte die DDR ihre Seegrenze in der Pommersehen Bucht auf 12 Seemeilen aus, wodurch der Seeverkehr nach Stettin behindert wurde und besonders dazu vorgesehene Wartezonen kontrolliert werden konnten. Das sollte eine Stettin-Lösung nach DDR·Vorstellungen herbeiführen. Danach sollte die Stadt mit ihrem östlich der Oder gelegenen Hafen entweder ganz zur DDR kommen, oder die DDR sollte zumindest ein weitgehendes Mitspracherecht in der Stadt und einen Freihafen eingeräumt erhalten. Trotz wiederboller polnischer Bemühungen in direkten Verhandlungen seit Mitte August 1983 wurden die Maßnahmen nicht zurückgenommen. 25 Daraufhin wurde in Polen überlegt, ähnlich wie 1956 zu verfahren und Gorbatschow, der Honecker nicht leiden konnte, nach Stettin einzuladen, um dessen Zugehörigkeit zu Polen zu demonstrieren. Das Vorgehen der DDR wurde von Polen als ein direkter Angriff auf die "Friedensgrenze" angesehen, wie ihn noch nicht einmal die "revisionistische" und ,,revanchistische" Bundesrepublik gewagt habe. Bei ihrer Maßnahme berief sich die DDR auf eine Änderung der Oder-NeiSeGrenze auf Usedom, die auf Wunsch Polens 1950 erfolgt war, um durch die Übernahme der jenseits der damaligen Grenze liegenden Wasserwerke die Wasserversorgung von Swinemünde sicherzustellen. Die DDR erhielt dafür einen entsprechenden Gebietsausgleich. Bei der Extrapolation der nachgebesserten Grenzziehung in die Pommersehe Bucht, die Grundlage der DDR-Seegrenzausweitung war, geriet der Seeweg nach Stettin in den Hoheitsbereich der DDR, so daß sie den Stettiner Hafen nach Belieben beaufsichtigen und manipulieren konnte, um die eigenen Grundvorstellungen durchzusetzen. Polen fühlte sich durch die DDR noch deswegen besonders unfreundlich behandelt, weil die DDR in der Lübecker Bucht gegenüber der Bundesrepublik ihre Seegrenze nicht nur nicht erweiterte, sondern zurückgenommen hatte, um den Seeverkehr in der Lübecker Bucht nicht zu behin· dern. Noch beim Treffen von Honecker - Jaruzelski in Hubertusstock bei Berlin Mitte September 1987 sollte mindestens eine Gleichbehandlung Polens mit der Bundesrepublik erreicht werden. Doch die Gespräche blieben erfolglos. Erst mit dem Untergang der DDR wurde der für Polen außerordentlich lästige Zustand geheilt. Für die nach außen freundschaftlichen und brüderlichen, in Wirklichkeit über Jahrzehnte und insbesondere in den achtziger Jahren immer angespannten, von gegenseitigen Vorbehalten und von Mißtrauen gezeichneten Beziehungen DDRPolen ist bezeichnend, daß der letzte DDR-Botschafter in Warschau, Jürgen van 25

Zum Gesamtkomplex vgl. ebenda, S. 477 f.

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Zwoll, am 3. Dezember 1989, kurz vor Verlassen seines Postens, im polnischen Fernsehen namens der neuen DDR-Regierung um Verzeihung für das DDR-Verhalten gegenüber Polen und dessen Bürgern bat. Er entschuldigte sich für alle Unannehmlichkeiten, die Polen in der Vergangenheit bereitet worden seien und für Beschimpfungen und unwürdige Behandlungen, die ihnen von DDR-Behörden sowie SED-Funktionären und -Hoheitsträgern angetan worden sind. Dabei traf er die für die gegenseitigen Beziehungen sehr bezeichnende Feststellung: ,,Ich distanziere mich völlig von allen diesen Exzessen, die meist auf Grund momentaner Emotionen, Nervosität und Aufregung entstanden seien, aber auch auf dem ungesunden Boden des Nationalismus". 26

26

Ebenda, S. 472.

Wandlungsprozesse in den Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion als Grundlage der Entwicklung von äußeren Handlungsspielräumen für die SED von 1955 I 56 bis zum Beginn der sechziger Jahre Von Michael Lemke I. Einleitung

Die Komplexität des Themas und der begrenzte Raum zwingen den Verf. zu einer stark verallgemeinemden Darstellungsweise. Auf den Forschungsstand kann im Rahmen des Beitrages nicht eingegangen werden. Doch erstaunt schon, daß, verglichen mit den zahlreichen Arbeiten über innen- und gesellschaftspolitische Probleme der Entwicklung in der DDR, Analysen von ostdeutschen Außenbeziehungen und äußeren Handlungsspielräumen aus historischer Sicht weitgehend fehlen. Der Analyse werden vier allgemeine Thesen vorangestellt. Sie charakterisieren die historische und politische Situation der DDR und die Grundlagen für die Bildung vor allem äußerer ostdeutscher Handlungsspielräume bis etwa 1955/56. Die Entwicklung der DDR vollzog sich in einem nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen internationalen Beziehungssystem, das wesentlich durch Ost-WestKonflikt, Kalten Krieg, machtpolitischen Bipolarismus, Blockbildung und konfrontativem Denken bestimmt wurde. Der "deutsche Sonderkonflikt" zwischen der Bundesrepublik und der DDR widerspiegelte die allgemeinen Merkmale des Kalten Krieges als besondere Phase des Ost-West-Konfliktes. Er besaß jedoch deutsche Spezifika, die in die weltweite Systemauseinandersetzung eingebracht wurden und insbesondere den europäischen Nachkriegsprozeß mitprägten. Die Deutschland- und Außenpolitik der SED wurde während der gesamten Zeit des Bestehens der DDR wesentlich von den Einflüssen der UdSSR als der Besatzungs-, Hegemonial- und Führungsmacht und der Bundesrepublik als den stärkeren und demokratisch legitimierten deutschen Teilstaat bestimmt. Beide Einflußfaktoren stellten die äußeren Hauptdeterminanen der Entwicklung von innerdeutschen und internationalen Beziehungen der DDR dar, die eigene Interessen und Ziele im Spannungsfeld von sowjetischer und westdeutscher Politik verwirklichen mußte. Sowjetische und ostdeutsche Macht- und Herrschaftsinteressen befanden sich prinzipiell in Übereinstimmung, während die der "herrschenden Klassen" in beiden deutschen Teilstaaten grundsätzlich kollidierten. Der sowjetische Einfluß

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war im wesentlichen grundlegend, definitiv und definitorisch, der bundesrepublikanische wirkte mehr korrigierend und modifizierend, und er bestimmte Tempo und Wirkungsgrad der Deutschland- und Außenpolitik der SED mit. Ausmaß und Intensität von Fremdbestimmung und Entscheidungsfreiheit hingen auch ab vom Verlauf der internationalen Beziehungen insgesamt und von verschiedenartigen bi-und multilateralen Icteraktionen. Darüber hinaus wirkte die dritte- innenpolitische - Hauptdeterminante der Deutschland- und Außenpolitik ebenfalls permanent: die innere Entwicklung in der DDR auf der Grundlage diktatorischer Macht, planwirtschaftlicher Ökonomie und egalitärer Sozialstrukturen. Die Beziehung zwischen UdSSR und DDR war kein einseitiges, sondern ein wechselseitiges, wenngleich asymmetrisches Abhängigkeitsverhältnis. Die DDR stand zwar unter dem politischen Kuratel der UdSSR, leistete ihr aber gerade deutschlandpolitisch unverzichtbare Dienste. Deren Außenpolitik stellte keine unveränderliche Größe dar. Zwar befand die KPdSU prinzipiell über den Kurs der SED, doch bildete die weitgehende Interessenharmonie der ungleichen Partner und der Umstand, daß sich die UdSSR lange eine endgültige deutschlandpolitische Option offenhielt, die Grundlage für eine taktische Beweglichkeit der SED-Politik. Die Sowjetisierung der SBZ/DDR war ebenfalls keine einseitige Übertragung des sowjetischen Modells auf ostdeutsche Verhältnisse, sondern zu einem guten Teil dessen freiwillige Übernahme durch deutsche Kommunisten zur Sicherung von Macht und Herrschaft der SED. Bis etwa 1955 I 56 stellten die Außenbeziehungen der DDR im wesentlichen eine Funktion der Gestaltung der Deutschlandpolitik der SED dar. Wenngleich deren ursprüngliches Hauptziel, die Wiederherstellung der deutschen Einheit durch die Übertragung der "antifaschistisch-demokratischen" Ordnung der DDR auf Westdeutschland, bereits in den frühen fünfziger Jahren einem ideologischen Langzeitprogramm zu weichen begonnen hatte, hielt die SED vorrangig aus innenpolitischen Gründen offiziell an der deutschen Einheit als politische Aufgabe fest. Doch besaß sie weder deutschlandpolitisch noch bei der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen mehr als operative und taktische Handlungsspielräume. Eine Außenpolitik im herkömmlichen Sinne 1 betrieb sie deshalb nicht oder nur - sehr eingegrenzt - als "Trittbrettfahrerin" der Sowjetunion. II. Paradigmenwechsel

Nach 1955 vollzog sich in der DDR der praktisch längst eingeleitete Paradigmenwechsel vom Ziel der Einheit zur Anerkennung der DDR als zweiten I Vgl. Wilhelm Grewe, Machtprojektionen und Rechtsschranken. Essays aus vier Jahrzehnten über Verfassungen, politische Systeme und internationale Strukturen, Baden-Baden 1991, S. 415. Grewe definiert Außenpolitik als "Gesamtheit aller über die eigenen Hoheitsgrenzen hinausgreifenden Aktivitäten, mit denen Staaten -oder andere im internationalen Kräftespiel handlungsfähige Organisationen - ihre Interessen wahren und ihre Ziele verfolgen."

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deutschen Staat auch offiziell. Die Ursachen dafür waren vorrangig exogener Natur: Die Bundesrepublik war der NATO und die DDR dem Warschauer Pakt beigetreten; im Juli 1955 hatte die UdSSR die "Zwei-Staaten-Theorie" verkündet und im September diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen. In diesem Zusammenhang stellte Bonn seinem bereits 1949 formulierten Alleinvertretungsanspruch die Hallsteindoktrin zur Verhinderung der internationalen Anerkennung der DDR zur Seite. Damit war der im engeren Sinne westliche Hauptfaktor der Entwicklung äußerer Handlungsspielräume der SED betimmt worden. Die Hallsteindoktrin und die Zwei-Staaten-Theorie bildeten politische Antagonismen. Doch determinierte letztere die sowjetische Deutschlandpolitik 1955 nicht eindeutig. Die "Theorie" signalisierte, daß die UdSSR nunmehr an der DDR als zweitem deutschen Staat und seinem sozialistischen Entwicklungsweg definitiv festzuhalten gedachte. Doch gab Moskau eine verbale Bereitschaft zu erkennen, einer Wiedervereinigung unter der Bedingung deutscher Neutralität und "innerdeutscher Gespräche" zuzustimmen. Für die Frage der Bildung von Handlungsmöglichkeiten der SED waren zwei politische Aktionen bedeutsam: 1. der formelle Vollzug der Einbeziehung der DDR in einen östlichen Militärpakt, was der SED zumindest die Aussicht auf mehr Partnerschaftlichkeit und Gleichberechtigung im europäischen sozialistischen Lager eröffnete und 2. der ostdeutsch-sowjetische Vertrag vom 20. September 1955. Formal stellte er das Pendant zum Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten dar. Insofern war er eine Art separater Ersatzfriedensvertrag der DDR mit der östlichen Hauptsiegermacht. Er brachte der DDR jedoch außer der formellen keine wirkliche Souveränität, wenngleich die Abschaffung des Amtes des Hohen Kommissars und von besatzungsrechtliehen Bestimmungen den Eindruck der Fremdbestimmung der DDR und ihrer protektoralen Kontrolle durch die Sowjetunion abschwächte. Die Notwendigkeit des Vertrages resultierte zum Zeitpunkt der Unterzeichnung auch weniger aus den Spezifika der bilateralen Beziehung als aus dem Umstand, daß die Bundesrepublik mit der Ratifizierung der Pariser Verträge und ihrem lokrafttreten (5. Mai 1955) weitgehend souverän geworden war und nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau ein derartiges Grundsatzabkommen vor allem aus Prestigegründen überfällig wurde. Dessen eigentlicher Wert für die SED lag in der Konstituierung einer formalen Grundlage für konkrete zweiseitige Abkommen. Jetzt konnte die Führung der SED auf eine kodifizierte Rechtsbasis verweisen und sowjetische Verpflichtungen nach dem Grundsatz pacta sunt servanda zumindest moralisch einfordern. Der Vertrag trug auch zur Schaffung einer psychologischen Grundlage für die Erringung von Handlungsspielräumen bei: Die SED verlor allmählich ihre Angst, daß die UdSSR die DDR aufgeben könnte. Für die sowjetische Führung ergab sich aus der "Zwei-Staaten-Theorie" objektiv die Konsequenz, über die Position der DDR in Mitteleuropa nachdenken und deren Funktion im eigenen Bündnis neu definieren zu müssen. Wahrend die Richtung

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einer Neubestimmung der DDR durch die KPdSU 1955 weder programmatisch noch politisch eindeutig war und vieles dem Selbstlauf überlassen blieb, besaß die SED ein klares Konzept. Ihr allgemeines Ziel war die forcierte Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR. Davon leitete sie die völkerrechtliche Anerkennung ihres Staates als die außenpolitische Hauptaufgabe ab. Das implizierte sowohl die Ablösung des Vorrangs der Deutschlandpolitik zugunsten des Primats der Gestaltung von Außenbeziehungen als auch eine damit verbundene Änderung der innerdeutschen Programmatik der SED: Nicht mehr die Beseitigung der Verhältnisse in der Bundesrepublik stand auf der Tagesordnung, sondern die Optimierung der Einflußnahme auf bestimmte Bereiche im deutschen Nachbarstaat Dessen sozialistische Umgestaltung geriet zum unverbindlichen Fernziel. Jetzt ging es um die Erringung von Positionsvorteilen bei der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden und international um die Beseitigung von Alleinvertretungsanspruch und Hallsteindoktrin. Die Lösung dieser bereits vor dem XX. Parteitag der KPdSU formulierten Aufgaben erforderte zwingend die Schaffung bzw., Erweiterung von äußeren Handlungsspielräumen der DDR/ SED.

111. Der XX. Parteitag der KPdSU und der Dissens um die .,friedliche Koexistenz" Die Beschlüsse des XX. Parteitages waren für die SED in dieser Beziehung ambivalent und problematisch. Einerseits war Ulbricht ein entschiedener Gegner einer Entstalinisierung, insofern sie antidiktatorische Reformen und eine politische Liberalisierung nach sich ziehen konnten, die aus seiner Sicht zur Destabilisierung der Verhältnisse im Ostblock sowie in der DDR und damit zum Machtverlust der SED führen mußten. Andererseits eröffneten das von Chruschtschow verkündete Prinzip der friedlichen Koexistenz, mehr noch die Relativierung des absoluten Führungsanspruchs der KpdSU, sowie die in Aussicht gestellte größere Eigenständigkeil für die Staaten und kommunistischen Führungen im Moskauer Machtbereich, eine Perspektive größerer Entscheidungsfreiheit. Auf die wichtige Frage der Auswirkungen der Verweigerung innerer Reformen auf die Bildung äußerer Handlungsspielräume kann hier nicht eingegangen werden. Wenngleich die sowjetischen Vorstellungen über die Gestaltung internationaler und innersystemischer Beziehungen den Interessen der SED entsprachen, sah Ulbricht schärfer als andere nationale kommunistische Führer, daß in Moskau Theorie und Praxis nicht identisch waren, und Chruschtschow keineswegs geneigt war, den Führungsanspruch von KPdSU und Sowjetunion wirklich in Frage zu stellen. Der geschickte Taktiker akzeptierte diesen Anspruch nüchtern als die Basis der Geltendmachung eigener Interessen und der Erweiterung von Handlungsspielräumen. Anläßlich der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder im November 1957 bestätigte er im Plenum coram publico, "daß die KPdSU an der Spitze aller kommunistischen Parteien steht. Das war immer unsere Meinung und anders haben wir uns das nie vorgestellt."2

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Ein ideologischer, letztendlich politisch wirkender Dissens zwischen der KPdSU und der SED entstand in der Frage der Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen. Der Grundsatz wurde von der Ostberliner Führung zwar für die Gestaltung internationaler Beziehungen als richtig, für das deutsch-deutsche Verhältnis jeoch als untauglich erachtet. Die Ablehnung resultierte auch aus dem Festhalten der Bundesrepublik an Alleinvertretungsrecht und Hallsteindoktrin. Doch viel mehr hätte eine Anerkennung des Prinzips friedlicher Koexistenz die Einmischung der SED in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik und damit die infiltrative und "missionarische" Westarbeit der DDR verboten. Im Auftrage der SED fonnulierte eine interne Arbeitsgruppe beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) ein ostdeutsches Interventionsrecht 3 Außenminister Lotbar Bolz fonnulierte die Auffassung der SED-Führung, daß es zwischen beiden deutschen Staaten keine Koexistenz und "keine vollständige Nichteinmischung" in die Entwicklung Westdeutschland geben könne.4 Damit bediente sich die SED eines konfrontativen Beziehungsprinzips, das mit dem von Moskau favorisierten Grundsatz konkurrierte. Dessen praktische Anwendung verdeutlichte ein auch methodisch relevantes Grundproblem der Erweiterung von äußeren Handlungsspielräumen. Im Spannungsfeld von sowjetischen und bundesrepublikanischen Interessen ließen sie sich im Verständnis des Politbüros prinzipiell nur durch eine, im Wesen konfrontative, Politik gegen Bonn und nur durch die Unabhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht erreichen. Das bedeutete praktisch eine noch stärkere Bindung an die UdSSR, was zwar die Möglichkeit einer Verringerung destabilisierender westlicher Einflußnahme in Aussicht stellte, aber die Gewinnung größerer Entscheidungsfreiheit gegenüber dem Einfluß der Hegemonialmacht noch schwieriger machte. Die SED erkannte, daß nach Lage der Dinge existentielle Freiräume nur durch eine Veränderung des Charakters der Beziehungen der DDR zur UdSSR gebildet werden könnten, nämlich durch die allmähliche Umwandlung von Unterordnung der SED in Partnerschaft und Gleichberechtigung. Die im Nachhinein erkennbare Konzeption der SED war es, dieses Ziel unter Ausnutzung aller Möglichkeiten schrittweise, aber im ganzen zügig zu erreichen. Dabei spielte das Beispiel Bundesrepublik und die innerdeutsche Konkurrenzsituation eine wichtige Rolle als "Katalysator". 2 Rede Ulbrichts auf der gemeinsamen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Ländern, Moskau, 14.- 16. II. 1957, in: Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Zentrales Parteiarchiv der SED (DY 30), IV 2/20/88, BI. 299. 3 Vgl. Papier der Rechtsabteilung des MfAA für die Tagung des Wissenschaftlichen Beirates (beim MfAA), 21. II. 1958, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Bestand Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (PA AA I MfAA), LS-A 4 I . 4 Vgl. "Protokoll zur Diskussion während der Tagung des Wissenschaftlichen Beirats am 21. November 1958", in: ebd.

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IV. Die DDR als "Schaufenster" des Sozialismus So bat Otto Grotewohl die Moskauer Führung nachdrücklich um Vertreter der DDR im gemeinsamen Oberkommando der Streitkräfte des Warschauer Paktes analog zur westdeutschen Präsenz in den Stäben der NATO. "Das ist eine wichtige Frage des Ansehens der DDR in bezug auf ihre Gleichberechtigung und ihre Souveränität. Innenpolitisch ist das notwendig zur Stärkung des Ansehens der Arbeiter- und Bauernmacht Jetzt ist es so, daß wir öffentlich die Existenz der Polizei zugeben [aber nicht von bewaffneten Streitkräften]. Selbstverständlich glaubt uns das kein Mensch."5 Walter Ulbricht wies bei der Legitimierung von Wünschen nach zusätzlichen Lieferungen von Rohstoffen für die Industrie und Lebensmitteln sowie nach politischen Präferenzen immer wieder auf die exponierte Lage der DDR an der ,,Nahtstelle zum Weltimperialismus" und auf deren besondere Anstrengungen im deutschen Sonderkonflikt sowie im "Klassenkampr' hin. Das verpflichte das sozialistische Lager zu besonderen Hilfeleistungen für die DDR. Der sozialistische deutsche Staat nehme nicht nur eigene Interessen, sondern die des ganzen Warschauer Paktes wahr. Er entwickelte damit ein wesentliches Argument, das ein anderes stützend zur Seite gestellt wurde: Wenn die UdSSR und die anderen Verbündeten nicht genügend Hilfe leisteten, gerate die sozialistische Entwicklung der DDR- letztendlich der Staat selbst- in große Gefahr. 6 Nik.ita Chruschtschow akzeptierte diese Argumentation nicht nur. Er entwickelte nach dem XX. Parteitag seine Konzeption des Ausbaus der DDR zum "Schaufenster" des gesamten realen Sozialismus. Der ostdeutsche Verbündete sollte - pars pro toto - für die Überlegenheit des Sozialismus stehen, ergo sei seine Stärkung auch Sache aller. So wiederholte er denn am 16. oder 17. Juli in Moskau, daß es für die DDR schwer sei, unter den Bedingungen des Systems der Lebensmittelrationierung, das auch "gleichzeitig eine Diskreditierung des Sozialismus (sei)", den ökonomischen Wettbewerb zu führen. Deshalb müßten alle Kräfte angespannt werden, "um am Beispiel der DDR die Überlegenheit des sozialistischen Systems an Hand von konkreten Fakten zu demonstrieren". Eben aus diesem Grunde müsse man der DDR die erbetene Hilfe gewähren. Mehr noch: Die Führung der SED brachte die KPdSU dazu, sich zum Konzept des forcierten Aufbaus der DDR zu bekennen. Das hieß vor allem, die "Kreditfähigkeit" der SED anzuerkennen. Im engeren Sinn bedeutete das tatsächlich, wie Grotewohl Mitte Juli 1956 feststellte, eine hohe Kreditierung der DDR-Wirtschaft - nämlich in Höhe von 7,1 Mrd. GoldrubeL "Die Gewährung dieser Summe bedeutet eine große Hilfe für die weitere Entwicklung der DDR", kommentierte der DDR-Ministerpräsident. Wenngleich dieser Kredit in der Folge nur teilweise gewährt und an Gegenleistungen gebunden wurde, war schon 5 Stellungnahme Grotewohls zum Schreiben des sowjetischen Außenministeriums "für den 6. I. 1956" (offenbar für die erst am 27./28. I. 1956 stattfindende Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages in Prag), in: SAPMO-BArch. NY 4090/301, BI. 321 f. 6 Vgl. u. a. das Schreiben von ZK der SED und Regierung der DDR an Chruschtschow und Bulganin, 19. 5. 1956, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/202/39, Bd. I.

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seine Inaussichtstellung Ausdruck einer weitgehenderen und im Vergleich mit früheren Zeiten großzügigeren DDR-Planung der UdSSR. Chruschtschow entwickelte seine Konzeption des Ausbaus der DDR zum "Schaufenster" des Sozialismus fort. Besondere Bedeutung maß er der Auslastung der Industriekapazitäten der DDR bei. 7 Überdies wurden die Stationierungskosten für die sowjetischen Truppen in der DDR verringert8 und ein neues Abkommen über die Uranproduktion im Rahmen der "Wismut" vereinbart. 9 Es brachte der DDR verschiedene Erleichterungen, wenngleich sich an der Übervorteilung der DDR prinzipiell wenig änderte. Doch fiel mit der Unterzeichnung eines Protokolls "über die Aufhebung der Kontrolle und Abnahme von Waren", am 15. Mai 1957 eine in der Öffentlichkeit kaum bekannte, die ostdeutsche Seite diskreditierende Bestimmung. Das Protokoll regelte die schrittweise Zurückziehung der in der DDR tätigen sowjetischen AbnahmeBevollmächtigten für ostdeutsche Export-Produkte in die Sowjetunion. Sie wurden bis zum 31. Dezember 1957 abberufen. 10 Die sowjetische "Schaufenster"-Konzeption und deren konkrete Umsetzung trugen bei allen Unzulänglichkeiten und Reibungsverlusten eindeutig zur Erweiterung der SED-Handlungsspielräume bei.

V. Die Funktion des Truppen-Stationierungsvertrages Sie resultierten nach 1956 aber auch aus politischen Veränderungen, die durch die vertragliche Fixierung der bilateralen Beziehungen eintraten. Die SED gedachte, das Grundsatzabkommen vom September 1955 nicht nur fonnal zu behandeln, sondern den von ihm gebildeten Rahmen zur Durchsetzung eigener Interessen mit Inhalten zu füllen und der UdSSR darüber hinaus Vertragstreue zu demonstrieren. Im Hintergrund stand die Überzeugung, daß offizielle Verträge mit der UdSSR innere Akzeptanz und internationale Reputation der DDR erhöhen würden. Zunächst erreichte die deutsche Seite in verschiedenen Verhandlungsrunden im Juli 1956 eine prinzipielle Zusage der UdSSR über eine Verbesserung ihrer vertragsrechtliehen Situation und über die Regelung wichtiger politischer und wirtschaftlicher Einzelfragen. Als das Kernstück eines in Angriff zu nehmenden vertraglichen Systems betrachtete die SED ein Abkommen über Regelungen im 7 .Jnformation über den Verlauf der Verhandlungen zwischen Regierungsdelegationen der DDR und der UdSSR vom 16. und 17. Juli 1956", in: PA AA/MfAA, A 6096, BI. 20. 8 Vgl. Protokoll über Fragen der Erweiterung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der UdSSR und über die Herabsetzung der Anteile der DDR für die Unterhaltung der sowjetischen Truppen in Deutschland, Juli 1956, in: SAPMO-BArch, NL 4090/471, BI. 344,351,360. 9 Vgl. Rainer Karlsch, Ungleiche Partner- Die vertraglichen Grundlagen des Uranbergbaus und die Verrechnung der Uranlieferungen, in: Rainer Karlsch/Hann Schröter, "Strahlende Vergangenheit". Studien zur Geschichte des Uranbergbaus der Wismut, St. Katharinen 1996, s. 275-284. 10 Vgl. ,,Bericht der Botschaft der DDR in der UdSSR für das Jahr 1957", 31. 12. 1957, in: PA AA/MfAA, A 117, BI. 23.

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Zusammenhang mit der Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR. Die UdSSR hatte nach Gründung des Warschauer Paktes ähnliche Übereinkommen mit denjenigen sozialistischen Staaten geschlossen, auf deren Territorien sowjetische militärische Verbände standen. Sie hielt einen Stationierungsvertrag mit der DDR für überflüssig, während eine Reihe von SED-Politikern vor allem mit Blick auf die innenpolitische Situation auf dessen Aushandlung drängte. Anlässe dafür boten immer wieder Fehlverhalten und Übergriffe der Sowjetarmee in der DDR. 11 Druck ging indirekt von der Bundesrepublik aus, die gleichartige Abkommen mit den drei Westmächten eingegangen war. Grotewohl erklärte bei internen Verhandlungen im Januar 1957 in Moskau, man müsse dem deutschen Volk zeigen, daß die Sowjetarmee "bei uns auf der Wacht für den Frieden steht und daß dabei die Rechte und Interessen der deutschen Bevölkerung in jeder Hinsicht geachtet und gesichert werden.'" 2 Am 27. April 1957 trat der am 12. März 1957 nach intensiven Verhandlungen abgeschlossene "Vertrag über die zeitweilige Stationierung sowjetischer Streitkräfte in der DDR" in Kraft. Damit verbunden konstituierte sich eine paritätische "gemischte Kommission" zur Durchführung und Kontrolle verschiedener Bestimmungen des Stationierungsvertrages. 13 Er bedeutete für die SED durch die Fixierung von Prinzipien der Stationierung, von Pflichten der Sowjetarmee und Kompetenzen der DDR, einen Fortschritt gegenüber dem ungeregelten Zustand der Truppenstationierung vor 1956 - der vertragslosen Zeit. VI. Das ostdeutsch-sowjetische Vertragssystem Die Führung der SED hatte im gleichen Zuge bilaterale Verhandlungen u. a. über die Lufthoheit der DDR, über einen Konsularvertrag, über ein Abkommen über die Rückgabe von Kulturgütern, aber auch über humanitäre Regelungen initiiert. Das Politbüro ersuchte die sowjetische Regierung vor allem, den Familien von Deutschen, die von Sowjetorganen verhaftet und verurteilt worden waren, darüber zu informieren, daß ,,Nachforschungen" im Gange seien. 14 Der mit dem Entwurf des außenpolitischen Teils der Rede Grotewohls beauftragte stellvertretende DDR-Außenminister Otto Winzer hatte in der Repatriierungsfrage empfohlen, nach einer Form zu suchen, ,.durch die sichergestellt ist, daß die betroffenen DeutII So kritisierte der Stellvertretende DDR-Außenminister Otto Winzer u. a. die von den Sowjets verursachten Manöverschäden, die illegale Inanspruchnahme von Wohnraum und die nicht genehmigte "Verlegung von bäuerlichen Gehöften". Winzer merkte verärgert an, die sowjetischen Truppen führten zu Weihnachten Manöverschießen durch, während gleichzeitig .,unsere ganze Argumentation auf ,Friede auf Erden' eingestellt ist." Vgl. Schreiben Winzers an Grotewohl, 28. 12. 1956, in: SAPMO-BArch, NY 4090/471, BI. 292. 12 Vgl. Manuskript der Rede Gratewohls zur Eröffnung der Verhandlungen in Moskau am 4. l. 1957, in: SAPMO-BArch, NY 4090/221, BI. 63-66. n Vgl. Bericht Änne Kundermanns (Leiterin der Abteilung UdSSR im MfAA), 3. 7. 1957, in: PA AA/ MfAA, A 76, BI. 11 . 14 Vgl. Manuskript der Rede Grotewohls (wie Anm. 12), BI. 63-66.

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sehen, die heute noch in der Sowjetunion sind, von Ihrem Recht auf Rückkehr in die DDR erfahren." 15 Grotewohl sprach sich in Moskau prononciert auch für Familienzusammenführungen aus. 16 Im ersten Halbjahr 1957 fanden intensive Verhandlungen zwischen beiden Seiten statt, deren Abschluß die SED deshalb befriedigte, weil in einer Vielzahl von Abkommen bislang ungelöste Probleme geregelt wurden und gleichzeitig die ,,Anerkennung der Souveränität der DDR durch die DDR" unterstrichen wurde 17 , wie das Politbüro feststellte. Ostberlin fühlte sich durch diese Entwicklung in seiner Politik der Herstellung der Gleichberechtigung von DDR und UdSSR bestätigt. 18 Während die Aushandlung u. a. von wissenschaftlich-technischen, von Verkehrs-, Sozial-, Rechtshilfe und Konsularabkommen relativ problemlos verlief und auch eine Vereinbarung über das immer wieder Unstimmigkeiten hervorrufende Problem der Kriegsgräberbetreuung zunächst keine größeren Schwierigkeiten zu bereiten schien, stieß die DDR in der Frage der Rückführung von Kulturgütern auf erhebliche Schwierigkeiten. Das MfAA drängte das Moskauer Außenministerium zu Entscheidungen. Es veranlaßte auch ein Schreiben Grotewohls an Chruschtschow zur "Beschleunigung" der Rückführung von "Beutekunst".19 Zwei Probleme zeigten sowohl die gewachsenen ostdeutschen Handlungsspielräume als auch deren Grenzen besonders deutlich. Zum einen handelte es sich um die Repatriierung von in der UdSSR lebenden ausreisewilligen Deutschen, zum anderen um die Ablösung der sowjetischen Berater in der DDR. VII. Das Problem der Repatrüerung Im ersten Fall engagierte sich die SED und ihr außenpolitischer Apparat nach dem XX. Parteitag auch deshalb so sehr, weil bundesdeutsche Stellen und die Bonner Botschaft in Moskau bei der praktischen Lösung des Problems eine harte Konkurrenz waren. Die Sowjetunion handelte in dieser Sache nicht aus eigenem Interesse und Antrieb. Sie hatte der Repatriierung prinzipiell zugestimmt, errichtete aber in der Praxis immer neue bürokratische Schranken. Die Moskauer Botschaft der DDR und das Berliner MfAA betrieben die Rückkehr der in Frage kommenden Deutschen vorsichtig, aber konsequent. So erhielt das sowjetische Außenministerium im Verlaufe des Jahres 1957 mehr als 900 Noten zu Einzelfällen, beantwortete sie aber "nur sehr vereinzelt". Die vom schweren Los der Betroffenen sichtbar Schreiben Winzers an Grotewohl, 22. 12. 1956, in: ebd., NY 4090/221, BI. 5. Vgl. Manuskript der Rede Gratewohls (wie Anm. 12), BI. 66 f. 17 Politbüro: ,,Einschätzung der neuen Vertragswerke mit der UdSSR", 12. 10. 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/21/406. 18 "Bericht der Botschaft der DDR in der UdSSR für das Jahr 1957", 31. 12. 1957, gez. Botschafter König, in: PA AA/MfAA, A 117, BI. 20. 19 Vgl. die Verbalnote des MfAA an die Botschaft der UdSSR in Ber1in, 31. 10. 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/20/1, und den ,,Bericht über die Erfüllung des Arbeitsplanes der Abteilung Sowjetunion für das I. Quartal 1958", 10. 4. 1958 (Kundermann) sowie den Arbeitsplan für das II. Quartal 1958, undatiert, in: PA AA I MfAA, A 77, BI. 13, 29. 1s

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beeindruckte Botschaft der DDR zeigte sich von der sowjetischen Seite enttäuscht und suchte die Schuld am Verzug diskret und richtig in der "mangelnden Arbeit der inneren Behörden" der Sowjetunion. Auch in der Frage der "Politemigranten", die einst vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen und nun zur Rückkehr nach Deutschland bereit waren, ergaben sich Schwierigkeiten. Die Botschaft registrierte eine große Zahl von sowjetischen Ablehnungen, die nur in wenigen Fällen begründet wurden.2° Die Diplomatie der DDR ließ sich jedoch nicht beirren. Zum einen besaß sie offensichtlich einen entsprechenden "Durchhalteauftrag" der Parteiführung und ein hohes Eigeninteresse an der Weiterverfolgung der Sache, zum anderen inzwischen "Ortskenntnis" und mehr Professionalität und Selbstbewußtsein. Es resultierte insgesamt aus den in der Tat wachsenden operativen Handlungsspielräumen der SED, aber auch aus dem Bewußtsein der "Souveränität" der DDR, wenngleich diese auch Fiktion blieb. Das gewichtige Eigeninteresse der SED resultierte in hohem Maße sowohl aus dem innerdeutschen Konkurrenzkampf als auch zunehmend aus innenpolitischen Ursachen. So berichtete das MfAA, daß die "jahrelange Verschleppung" von Repatriierungsanträgen seitens der UdSSR insbesondere in den Gemeinden und kleinen Städten der DDR, "wo nicht nur die Angehörigen, sondern breite Teile der Bevölkerung Kenntnis über diese Fälle haben", Verärgerung hervorrufe. "In solchen Kreisen findet dann auch die Bonner Propaganda Gehör, daß man in der Frage der Familienzusammenführung vom Standpunkt der Menschlichkeit usw. ausgehen muß. Darüber hinaus untergräbt die Verschleppung dieser Anträge bzw. die ungenügende Aufklärung der Ablehnung des jeweiligen Antrages zweifellos die Autorität der staatlichen Organe der DDR [ ... ] Die Betroffenen gewinnen teilweise den Eindruck, daß nicht die DDR und die UdSSR, sondern die Bundesrepublik ihnen persönlich entgegenkommen will. Die Verzögerung einer gerechten Regelung dieser Fragen stellt in gewissem Sinne auch eine Art Rechtsverletzung dar. Das führt zu politischen Schwankungen und zur Unsicherheit dieser Bürger, schafft gewisse Unruhemomente in ihrem Leben." Familientrennung und Verzögerung der Rückkehr hätten überdies Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität dieser Personen. "Unsererseits besteht auch im Hinblick auf das Arbeitskräfteproblem Interesse an einer positiven Regelung dieser Fragen."21

VIII. Die Frage des Abzugs sowjetischer Berater Ein wichtiges Beziehungsproblem, das die Widersprüchlichkeil der ostdeutschsowjetischen Beziehungen im Spannungsfeld von sowjetischen Interessen und Eigenständigkeil spiegelte, stellte die Frage des Abzugs der sowjetischen Berater dar. Angesichts der relativen Stabilisierung der DDR nach 1956 und der fortwährenden Anwesenheit sowjetischer Truppen benötigte die UdSSR das weitBericht der Botschaft der DDR (wie Anm. 10), BI. 37 f., 40. "Bericht über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR auf außenpolitischem Gebiet im Jahre 1957 bis zum Stichtag, 15. 9.", 26. 9. 1957, in: ebd., A 112, BI. 38. 20

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verzweigte Netz von administrierenden und kontrollierenden "Beratern" in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und gesellschaftlichem Leben der DDR nicht mehr. Die Sowjetunion reduzierte infolge eines Ersuchens Ulbrichts die ,,Berater" - mit Ausnahme der im militärischen und im Sicherheits-Bereich. 22 Doch zeigte sich das Politbüro befremdet, als das Präsidium der KPdSU Ende 1956 den gänzlichen Abzug der ,,Berater" beschloß. Diese Entscheidung kam der SED zu abrupt. Offenbar fürchtete die Parteiführung Turbulenzen und Einbrüche in der nach sowjetischem Vorbild funktionierenden Wirtschaft und im ökonomischen Apparat, wenn die Berater übergangslos abzögen. Einem "Bleibe"Antrag des Politbüros der SED gab die sowjetische Regierung nicht statt, so daß im Frühjahr 1957 der Abzug der Berater und Spezialisten aus den Fachministerien, unter Ausklammerung des Bereichs Kerntechnik und Kernforschung, begann. Nur in der NVA und bei der Polizei verblieben die Berater für eine Übergangszeit. Im Bereich des MfS wurde mit der UdSSR die Arbeit von "Verbindungsoffizieren" vereinbart. 23 Einerseits bedeutete der Abzug von sowjetischen Beratern und Spezialisten vielerorts einen fachlichen Verlust, der kompensiert werden mußte, andererseits war damit für die SED ein Abbau vormundschaftlicher Kontrollmöglichkeiten verbunden. Perspektivisch eröffneten sich durch den Abzug der ,,Berater'' neue Handlungsspielräume, die von der Sowjetunion Chruschtschows bewußt und gezielt gewährt wurden. Sie nahm die DDR nicht mehr nur als Vasallen, sondern zunehmend als einen Partner wahr. Die Moskauer Führung hatte die Abberufung aller "sowjetischen Berater und Konsulenten" mit folgender plausibler Begründung beschlossen: Für die UdSSR sei es schwierig, "die Tatigkeit eines jeden in der DDR beschäftigten sowjetischen Beraters oder Spezialisten im Blickfeld zu behalten. Diese Spezialisten sind zwar gute Fachleute auf ihrem Spezialgebiet, aber nicht alle von ihnen haben immer das richtige Verständnis für die politische Situation und die nationalen Besonderheiten der DDR. Deshalb sind gewisse Mißverständnisse nicht ausgeschlossen und das kann natürlich unseren brüderlichen Beziehungen nicht dienlich sein."24

IX. Der "Eigensinn" der Führung der DDR Insgesamt machte sich seit 1956- deutlicher im Jahre 1957- eine Erhöhung der Akzeptanz der SED durch die sowjetische Führung und eine damit verbundene allmähliche Vergrößerung von operativen Handlungsspielräumen für die DDR bemerkbar. Die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten - insbesondere die wissenschaftlich-technische Kooperation - verbesserte sich, die KPdSU informierte die SED über bestimmte Pläne und Projekte, vor allem aber über Gespräche 22 Vgl. Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 42 f. 23 Vgl. Beschlüsse des Politbüros, Protokoll 5/57, 29. I. 1957 und 41/58, 30. 9. 1958, in: SAPMO-BArch, DY 30, J IV 2/21525, BI. 3 und 2/21613, BI. 3. 24 Schreiben des ZK der KPdSU an das ZK der SED, 9. 9. 1958, in: ebd." J IV 2/202/28.

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mit westlichen Politikern nicht mehr nur formal, sondern auch inhaltlich.Z5 Die Meinung Ulbrichts wurde in Moskau gehört und- freilich im Rahmen sowjetischer Interessen - berücksichtigt. In der ,,Ära" Chruschtschow besaß die DDR - verglichen mit anderen Perioden ihrer Entwicklung - gegenüber der Sowjetunion die größten Handlungsspielräume. Nach 1956 artikulierte die SED in verschiedenen Fragen nicht nur von der Position der UdSSR abweichende Meinungen, sondern wagte auch Widerspruch. Er wurde im Prinzip dann laut, wenn die SED ihr Ziel der völkerrechtlichen Anerkennung und Gleichberechtigung bzw. der allmählichen Aufwertung der DDR durch eine "falsche" Politik oder durch eine zu geringe Unterstützung der Sowjetunion gefährdet sah. So wehrte sich die SED geradezu erbittert, als Moskau, im Widerspruch zu den bilateralen Absprachen, an die DDR das Ansinnen richtete, englischen Flugzeugen im Linienverkehr nach Moskau die Überfluggenehmigung ohne offizielle Vereinbarung Londons mit der DDR zu genehmigen. Das MfAA intervenierte beim Ministerpräsidenten. Man dürfe dem sowjetischen Ersuchen aus politischen Gründen nicht stattgeben. "Es wäre ein schwerer Schlag gegen unsere gesamte außenpolitische Arbeit, wenn wir unsere Souveränitätsrechte gerade in einem solchen Fall als eine Fiktion behandeln ließen. Es würde ein Präzedenzfall geschaffen, vor dessen Konsequenzen ich ausdrücklich wame"26, schrieb der stellvertretende DDR-Außenminister Sepp Schwab an Grotewohl. In der zweiten Berlinkrise (1958 bis 1963) kulminierten die ostdeutsch-sowjetischen Dissensen. Den Kern des signifikanten Konflikts bildete die Frage der Modi der Sicherung der Existenz der DDR und der Erweiterung ihrer Hoheitsrechte in Berlin. 27

X. Die Aufwertung der DDR und der SEDAlleinvertretungsanspruch im östlichen Bündnis Neue Handlungsspielräume für die SED ergaben sich auch durch eine Aufwertung der DDR im östlichen Bündnissystem. Zum einen wurde die DDR militärstrategisch zu einer vorgeschobenen Bastion gegen die NATO ausgebaut, zum anderen erlebte die ostdeutsche Wirtschaft nach 1956 eine kurze Periode relativer Stabilisierung und eines Aufschwungs verschiedener Industriezweige. Die im Vergleich mit anderen realsozialistischen Staaten deutlich höhere Wirtschaftskraft der DDR und ein damit einhergehendes größeres Gewicht der SED bei der Lösung von Problemen im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) erweiterte die MöglichVgl. Lemke, Die Berlinkrise, S. 160-168, 186. "Merkzettel" von Schwab für Grotewohl, 23. 7. 1956, in: PA AA/MfAA, A 44. Vgl. zur Problematik Lufthoheit auch: Vorlage für die Außenpolitische Kommission: Verbalnote an die UdSSR, undatien, wahrscheinlich Frühjahr 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/ 20/1. 27 Vgl. Michael Lemke, Die SED und die Berlin-Krise 1958 bis 1963, in: Gerhard Wettig (Hg.), Die sowjetische Deutschlandpolitik in der Ära Adenauer, Bonn 1997, S. 123 - 137 [= Rhöndorfer Gespräche, Bd. 16]. 25

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keiten der Durchsetzung von spezifischen ökonomischen Interessen der DDR. Im weiteren "mauserte" sich die SED angesichts des Versagens der kommunistischen Parteien in Polen und Ungarn zu einem ideologischen Musterknaben des Ostblocks, der anderen "Bruderstaaten" - Polen vor allem - die "wahre" und ,,reine" marxistische Lehre vermittelte und anderen Kommunisten ständig politische Beratung aufnötigte. 28 Die SED entwickelte sich in einem gewissen Maße zum europäischen Juniorpartner der Sowjetunion. Die Übereinstimmung mit der KPdSU in den wichtigen Fragen der Stabilisierung der SED-Herrschaft, der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR und des Umgangs mit der Bundesrepublik verstärkte nach dem XX. Parteitag einen systeminternen Alleinvertretungsanspruch der SED in allen Deutschland und die Anerkennung der DDR betreffenden Angelegenheiten. Sie versuchte, die Beziehungen der sozialistischen ostmittel- und südosteuropäischen Länder zur Bundesrepublik zu kontrollieren und sie zu Konsultationen mit der DDR vor der Aufnahme von Handelsbeziehungen zu Bonn zu bewegen. Immer wieder beschwerten sich SED-Politiker in Moskau über "nationale" Alleingänge, die im Verständnis der SED-Führung den gemeinsamen solidarischen Kurs zur Anerkennung der DDR beeinträchtigten. 29 XI. Die sozialistische Hilfe bei der SED-Anerkennungspolitik Der SED erwuchsen durch die politische und diplomatische Unterstützung der UdSSR in der internationalen Auseinandersetzung um die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zumindest ansatzweise Freiräume. Die von der Sowjetunion definierte Bündnisräson ließ ein prinzipielles Abgehen einzelner sozialistischer Länder von dem Leitsatz, daß die Staaten des gesamten sozialistischen Lagers auf diplomatischem Gebiet "in einer einheitlichen Front" stünden, nicht zu. Zwar gestattete Moskau im Vorfeld und in der unmittelbaren Folge des XX. Parteitages politische Initiativen formal, unterwarf sie aber der Abstimmung und Koordinierung im Warschauer Pakt. 30 Deutschlandpolitische Sonderwege unter Umgehung der Interessen der UdSSR und der SED verboten sich. Demgegenüber leisteten die Sowjetunion, aber auch Polen und die CSR, der DDR im diplomatischen Verkehr gute Dienste und halfen ihr bei verschiedenen Aktionen im Ausland. Die ersten Erfolge bei der Infragestellung der Hallsteindoktrin verdankte die SED - wie im Fall der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der DDR und Jugoslawien - der UdSSR? 1 Diese ließ der DDR bei der Ausgestaltung von intematio28 V gl. u. a. das Schreiben Peter Florins an Ulbricht, II. II. 1956, in: SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/20/157. 29 Vgl. "Aktenvennerk über die Beratung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der deutschen und der sowjetischen Delegation zu den Moskauer Konsultationen am 18. 7. 1963", in: ebd., J IV 2/202/133. 30 V gl. Schreiben des Außenministeriums der UdSSR an die Partei- und Staatsführung der DDR, 6. I. 1956, in: ebd., NY 4090/301, BI. 308. 31 Vgl. Lemke, Die Berlinkrise, S . 74 f.

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nalen Beziehungen, die naturgemäß sehr eingegrenzt waren, "lange Leine". Da die UdSSR zu erkennen gab, daß sie der DDR insbesondere bei der Entwicklung von Beziehungen zu ganz bestimmten Ländern helfen wolle, existierte hier eine gewisse Zielvorgabe. 32 Doch besaß die UdSSR nicht nur ein allgemeines Interesse an einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR, sondern offenbar auch an einer Form sozialistischer Arbeitsteilung in der Weltpolitik, die einer erstarkenden DDR Territorien zuwies, die als traditionelle deutsche Einflußgebiete bzw. - wie der Nahe Osten - als deutsch-freundlich galten. Eine Konzentration auf bestimmte Staaten der Welt war auch deshalb geboten, weil die DDR nur eine vergleichsweise geringe wirtschaftliche und politische Kraft besaß. Auch mußten die SED und ihre Verbündeten solche Staaten berücksichtigen, die in ihrer Region als Schlüsselländer einer Anerkennung der DDR galten. Insgesamt gelang es dem Ostblock nicht, die Hallsteindoktrin und damit die weitgehende Isolierung der DDR - trotz Anfangs- und Achtungserfolgen - zu durchbrechen. Im Gegenteil: Die seit 1955 forciert betriebene kräftezehrende Anerkennungspolitik reduzierte verschiedene Möglichkeiten für die Entwicklung äußerer Handlungsspielräume und vergeudete wirtschaftliche Ressourcen. Gerade in der Frage der Herstellung diplomatischer Beziehungen galt das Prinzip der Priorität der Politik gegenüber der Wirtschaft. XII. Schluß Dennoch erwuchsen der SED nach 1956 bescheidene äußere Handlungsmöglichkeiten auch aus internationalen Entwicklungen und aus dem Umstand, daß die DDR allmählich zu einem Faktor des europäischen Kräftegleichgewichts wurde. Die äußeren Handlungsspielräume der SED blieben, wenngleich sie sich in der Tendenz nach 1956 I 51 vergrößerten, gemessen an völkerrechtlichen Normen und im internationalen Vergleich gering. Sie erreichten im Untersuchungszeitraum nicht den Umfang und die Qualität, die die DDR als Subjekt des Völkerrechts benötigte (und gekennzeichnet hätte). Sie entsprachen somit dem Bedürfnis der SED nach äußerer Absicherung der inneren Entwicklung der ostdeutschen Republik nicht hinreichend. Die Frage, inwiefern der XX. Parteitag der KPdSU und die Ansätze einer Entstalinisierung positiv auf die Entwicklung äußerer Handlungsspielräume für die DDR gewirkt hat, ist vor allem anband der Gesamtentwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR seit 1949 zu beantworten. Die Analyse zeigt, daß qualitative Veränderungen aus den genannten Gründen bereits 1955, nicht erst im Frühjahr 1956, einsetzten. Wichtigstes allgemeines Ergebnis 32 Die Sowjetunion sagte der Führung der SED aktive Unterstützung bei der Entwicklung der Beziehungen der DDR insbesondere zu Indien, Finnland, Ägypten, Burma, Österreich, Syrien, Afghanistan, Schweden und der Schweiz sowie bei der Aufnahme in internationale Organisationen und Spezialorganisationen der UNO zu. Vgl. Schreiben des Außenministeriums der UdSSR (wie Anm. 30), BI. 315 f.

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der Entdogmatisierung der Beziehung der Hegemonialmacht zum "Satelliten" war die allmähliche Umwandlung von Subordinationsverhältnissen in partnerschaftliehe, jedoch nicht gleichberechtigte Beziehungen. Dazu trug ein vom XX. Parteitag ausgehender Impuls wesentlich bei. Er bewirkte vor allem, daß die SED insbesondere in wirtschaftlichen, nach 1957 auch in politischen Fragen stärker eigene Interessen artikulierte und versuchte, sie auch dann durchzusetzen, wenn der ostdeutschsowjetische Konsens im einzelnen in Frage gestellt wurde. Zwar lag die Entscheidungshoheit bei strittigen Problemen nach wie vor in Moskau, doch vergrößerte sich in der ,,Ära Chruschtschow" die Toleranzbereitschaft der sowjetischen Führung gegenüber der SED. Die gegenseitige nicht kongruente Abhängigkeit vergrößerte sich.

Zentralisierung und Instrumentalisierung der auswärtigen Kulturpolitik der DDR Ein anderer Aspekt der Frankreichpolitik der DDR 1949-1973 Von Ulrich Pfeil

I. Die Ausgangslage Die Beziehungen zwischen den politisch-gesellschaftlichen Kräften in der DDR und Frankreich stellen im Vergleich zu anderen westlichen Ländern eine Ausnahme dar. In keinem anderen Land fand der Ruf nach diplomatischer Anerkennung in den 50er und 60er Jahren so viel Resonanz wie in Frankreich. Gerade in intellektuellen Kreisen galt die DDR vielfach als das "bessere" Deutschland. Das antifaschistische Selbstverständnis der DDR verschaffte ihr besonders in Kreisen ehemaliger französischer Widerstandskämpfer Sympathien, die die staatlichen Stellen in Ost-Berlin für ihre Zwecke nutzen wollten. Diese Haltung war jedoch nur die eine Seite der Medaille, wie ein Mitarbeiter der" Gesellschaftfür kulturelle Verbindungen mit dem Ausland" (GfkVA) in einem Gespräch mit dem am College de France lehrenden Professor Jacques Nieolle erfahren mußte. Nieolle war Generalsekretär der "Association France-URSS" und hatte seit 1949 mehrere Reisen in die DDR unternommen. 1 Er gehörte zu den ersten Autoren, die sich in Frankreich mit der DDR beschäftigten2 und setzte sich für die "Popularisierung" des zweiten deutschen Staates ein. Damit war er für DDR-Stellen ein wichtiger Ansprechpartner in der auslandsinformatorischen Arbeit und der Sondierung über mögliche Kontakte nach Frankreich über das kommunistische Milieu hinaus. 3 Aus den Worten Nieolles geht hervor, daß die DDR in I Protokoll Nr. 115/50 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 16. Juni 1950; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3/115, 81.4; Protokoll Nr. 118/51 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 12. November 1951 ; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3/247, 81.4. 2 Jacques Nicolle: Naissance d'une Allemagne democratique, Paris 1951; ders.: La RDA vue par un temoin, Paris 1956. Letzeres Buch wurde in einer Auflagenhöhe von 3000 Exemplaren gedruckt. DieHälfte dieser Auflage kaufte die GfkVA auf und überreichte sie französischen Gästen, Messebesuchern und anderen Einzelpersonen während ihres Aufenthaltes in der DDR; Politisches Archiv des Auswärtigen Amts [PAdAA]. Bestand MfAA/ A 9504, BI. 173f. 3 Vgl. SAPMO-BArch DY 30/ IV 2/2.035/093.

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der französischen Provinz und in den ländlichen Bevölkerungsschichten in den 50er Jahren nur bedingt wahrgenommen wurde. Zwölf Jahre nach Kriegsende und acht Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und der DDR schien die Entstehung zweier deutscher Staaten nur unzureichend in das Bewußtsein vieler Franzosen gelangt zu sein.4 Ohne Unterschied würden die Deutschen weiterhin als ,.boche" gelten und von Versöhnungstendenzen wenig zu spüren sein. Diese Feststellung betreffe auch - so Nieolle-viele kommunistische Lokalpolitiker, die auf seine Arbeit nur sehr zurückhaltend reagierten, weil sie ein Engagement für Deutschland, auch wenn die DDR gemeint war, ablehnten. Nieolle sah es deshalb als seine Hauptaufgabe an, den Widerstand örtlicher Parteifunktionäre der PCF zu überwinden, um gemeinsam mit der Partei für die DDR zu werben. II. Die politischgesellschaftlichen Ansprechpartner in Frankreich In Paris stellte sich die Situation zu diesem Zeitpunkt etwas anders dar. Die kommunistische Presse, in erster Linie das PCP-Parteiorgan ,.l'Humaniti", war stets ein wichtiger Verbündeter bei der Vertretung von DDR-Interessen in Frankreich und zur Selbstdarstellung des zweiten deutschen Staates. 5 Sie präsentierte ihren Lesern ein ausführliches und positives Bild von der DDR. Für die Mehrzahl der Leser von ,.l'Humaniti" war die DDR oft nicht nur das "zweite", sondern das "bessere" Deutschland. Ähnlich wie die SED-Propaganda präsentierte die kommunistische Presse Frankreichs die Bundesrepublik als aggressivmilitaristischen und revisionistischen Nachfolgestaat Hitler-Deutschlands; in bezug auf die DDR ging sie in den 60er Jahren sogar soweit, ihre staatliche, politische und kulturelle Ordnung als Modell für ein zukünftiges Frankreich darzustellen. Verbindendes Element war oft der antifaschistische Gründungsmythos der DDR und der gemeinsame Kampf in der französischen Resistance gegen das nationalsozialistische Deutschland, an dem u. a. verschiedene späterer SED-Funktionäre teilgenommen hatten. Trotz aller Bemühungen war ,.l'Humanite" aber nur ein kleiner Ausgleich gegen die bürgerliche Presse Frankreichs, die die Geschehnisse in der Bundesrepublik und die Politik der jeweiligen Bundesregierung intensiv kommentierte, die DDR in ihrer Berichterstattung jedoch bis in die 70er Jahre eher stiefmütterlich behandelte. Im Mittelpunkt der Artikel in ,.u Monde" standen die Bemühungen der SED um Legitimierung und Konsolidierung der DDR und die trostlose Situation 4 Vgl. Aktennotiz über ein Gespräch zwischen Prof. Jacques Nieolle und Kurt Heiss v. 28.11.1957;SAPMO-BArchNY4062/lli,BI.l5 - l8. s Die SED revanchierte sich für die Arbeit von "1'Humanite". So stellte sie der Zeitung für ihre Redaktion in Straßburg Ersatzteile für die technische Ausrüstung zur Verfügung und lieferte 1962 ein halbautomatisches Gießwerk für den Preis von 80.000 Mark, eine Ausgabe, die sich PCF und SED teilten; Arbeitsprotokoll Nr. 19/61 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 2. 5. 1961; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3A/776; Arbeitsprotokoll Nr. 31/61 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 3. 7. 1961; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3A/791.

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der Wirtschaft bzw. der Lebensverhältnisse der Bevölkerung.6 Infolge dieses Ungleichgewichts war "Deutschland" in Frankreich lange synonym mit der Bundesrepublik.7 Die PCF und ihre Parteiorganisationen waren zu dieser Zeit die einzigen möglichen Ansprechpartner für die SED in Frankreich. Keine andere französische Partei war an Kontakten in die DDR in den 50er und 60er Jahren interessiert; einzig von Kommunisten dominierte Verbände engagierten sich für die Belange der SED und verschafften ihr eine begrenzte Öffentlichkeit in Frankreich, die die UlbrichtPartei für ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ziele zu nutzen gedachte. Die Kontakte beschränkten sich in der Anfangszeit dabei zumeist auf die höchsten Ebenen der jeweiligen Organisationen. Demonstrativ manifestierten sie wiederholt ihre enge Verbundenheit in sogenannten "Kampfbündnissen", die in den 50er Jahren als Mittel zum Protest gegen die Westintegration der Bundesrepublik eingesetzt wurden. PCF und SED schlossen am 27. Januar 1953 ein solches Bündnis, indem sie sich gegen die Aufnahme Deutschlands in ein militärisches Bündnis wandten. Am 14. und 15. Juni 1950 kamen CGT und FDGB in Berlin zusammen, um "eine wirksame Zusammenarbeit der französischen und deutschen Arbeiterklasse für die Erringung eines festen und dauerhaften Friedens, für den Kampf gegen die Wiedergeburt des Faschismus und für die Verteidigung der Lebensinteressen der Arbeiterschaft zu erreichen."8 In dem bereits am 13. Juni im Politbüro beschlossenen Abkommen 9 riefen beide Gewerkschaftsorganisationen zum Kampf gegen den Marshall-Plan sowie die NATO auf. Im Jahre 1953 hatte die FDJ mit ihren französischen Partnern ein "Kampfbündnis gegen die Pariser Verträge und die Remilitarisierung Westdeutschlands" vereinbart, das jedoch nur auf dem Papier bestand und inhaltslos blieb. 10 Beziehungen existierten darüber hinaus zwischen dem 1948 gegründeten ,,Deutschen Sportausschuß" (DS), der Vorgängerorganisation des "Deutschen Turn- und Sportbundes" (DTSB) und dem französischen Arbeitersportverband FSGT sowie zwischen den nationalen Friedenskomitees. 11 6 Vgl. Christian M. Schmitz: Zwischen Mythos und Aufklärung: Deutschland in der außenpolitischen Berichterstattung der Zeitung ,Le Monde' 1963 bis 1983, FrankfurtiM. 1990, S. 97f. 7 Vgl. Friedhelm B. Meyer zu Natrup: Die Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich, in: H.-J. Veen/ P. Weilemann (Hrsg.): Die Westpolitik der DDR. Beziehungen der DDR zu ausgewählten westlichen Industriestaaten in den 70er und 80er Jahren, Melle 1989, S. 56. s Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 94 I 50 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED v. 13. 6. 1950; SAPMO-BArch DY 30/IV 212194, B1.6. 9 V gl. auch Anlage Nr. 17 Für das Kampfbündnis der deutschen und französischen Gewerkschaften gegen den Schurnanplan" zum Protokoll Nr. 95 I 50 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED v. 20. 6. 1950; SAPMO-BArch DY 301IV 212195, 81.95. to Vgl. Analyse der Hauptabteilung I- Abt. Westeuropäische Länder- im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vorn 20. 8. 1955; PAdAA. Bestand MfAAI A 12056, BI. 27.

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Während sich die Beziehungen in den beschriebenen Beispielen auf den Delegationsaustausch beschränkten, bildeten die gewerkschaftlichen Verbindungen hierbei eine gewisse Ausnahme. CGT und FDGB beschlossen Partnerschaften zwischen regionalen Gewerkschaftsgruppen und ermöglichten französischen CGTMitgliedern und Kindern aus Arbeiterfamilien einen längeren Aufenthalt in der DDR. 12 Die beiden Gewerkschaftsorganisationen bemühten sich um einen Kulturaustausch zwischen beiden Ländern. So gastierte der .. Chorale Populaire de Paris" im Stahl- und Walzwerk Riesa im August 1955, 13 das gleichfalls Kontakte zum Pariser Volkskunstensemble ,.Juliot Curie" unterhielt. 14 Die Wahrnehmung der DDR und ihrer Kultur förderte gleichfalls der von dem Germanisten und Hochschullehrer Gilbert Badia in Zusammenarbeit mit Emile Bottigelli im Jahre 1952 gegründete .. Cercle Heinrich Heine ". 15 Ihm gehörten vor allem Germanisten, Historiker und Geographen an. Indem über ihn wiederholt Wissenschaftler und Schriftsteller aus der DDR eingeladen wurden, entwickelte er sich zum Ausgangspunkt für den kulturellen Austausch mit der DDR. Dank seiner Initiativen kamen Professoren, Schriftsteller und Künstler wie Anna Seghers (Oktober 1959), Hans Mayer (Januar 1960) und Stephan Hermlin nach Frankreich. Außerdem entstanden erste Kontakte zwischen der Sorbonne und den Universitäten in Ost-Berlin und Leipzig. 16 Über die GfkVA wurde dem Heine-Kreis eine Reihe von Materialien zur Popularisierung der DDR zugesandt, um ihn in seiner politischen Arbeit zu unterstützen. 17 Zur wichtigsten Partnerorganisation der DDR in Frankreich entwickelte sich die am 22. April 1958 auf Initiative der PCF gegründete "Echanges Franco-Allemands. Association franraise pour /es echanges culturels avec l'Allemagne d'aujourd'hui" (EFA), die für die diplomatische und gleichberechtigte Anerkennung des zweiten deutschen Staates eintrat. Die Gründungsvorbereitungen unter Führung von Roland Lenoir wurden von DDR-Seite mit großer Aufmerksamkeit 11 V gl. Information über den Stand der Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik zur Republik Frankreich vom I. September 1956; SAPMO-BArch NY 4090/490, Bl.220 - 223. 12 V gl. Documentation fran~;aise . Articles et documents, 2. 2. 1954. 13 Bericht über die Beziehungen der DDR zu Frankreich zwischen Mitte Juli 1955 und Ende September 1955; PAdAA. Bestand MfAA/ A 630, BI. 8. 14 V gl. Analyse der Hauptabteilung I - Abt. Westeuropäische Länder - im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 20. 8. 1955; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12056, BI. 19. 15 Vgl. Gilbert Badia: Les echanges culturels entre Ia France et Ia Republique Democratique Allemande, in: Allemagnes d'aujourd'hui 106 (1988), S. 114- 128. 16 Zudem lehrten ab 1952 fünf französische Lektoren an den Universitäten Berlin, Leipzig, Halle, Rostock und Greifswald in der Romanistik, die über die PCF vermittelt worden waren; vgl. Protokoll Nr. 137 I 52 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 4. 2. 1952; SAPMO-BArch DY 30 I J IV 2/3/266, Bl. l2. 17 V gl. zu den Materialien und Schriften PAdAA. Bestand MfAA I A 9504, B1.176 f.

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verfolgt und fanden zu Anfang nicht immer ihre Zustimmung. Das DDR-Außenministerium begegnete einer Zusammenfassung aller mit der DDR in Beziehung stehenden Organisationen mit Reserviertheit, weil ein solches Komitee sofort als eine Einrichtung der DDR erkannt worden wäre} 8 Sie befürchtete bei einem solchen Vorgehen, daß bestehende Kontakte zu bürgerlichen Kreisen Frankreichs gestört werden könnten und machte gleichfalls "Sicherheitsgründe" geltend. 19 In der Folgezeit nahm der Generalsekretär der GfkVA, Kurt Heiß, die Vorbereitungen unter seine Verantwortung und einigte sich mit den maßgeblichen Mitgliedern der PCF auf die Gründung eines Komitees, das sich aus den bereits bestehenden und noch neu zu bildenden Kreisen zusammensetzen sollte. Dem Komitee kam die Aufgabe zu, die Arbeit der verschiedenen Kreise im Hintergrund zu koordinieren.20 Damit war die Grundlage für Gründung der EFA gelegt, deren Statuten bei den zuständigen französischen Behörden registriert wurden. Seit November 1959 brachte die EFA ihre eigene Zeitschrift, die .,Rencontres franeo-alJemandes" heraus, die ihre Auflagenzahl zwischen 1963 und 1972 in etwa verdreifachen konnte. 21 Auch wenn die EFA eine von Kommunisten dominierte Gesellschaft war, so bemühte sie sich stets, in ihrer Selbstdarstellung einen überparteilichen Charakter zu demonstrieren: "Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft [ ... ] ist voll und ganz vereinbar mit der Mitgliedschaft und der Beteiligung an Initiativen anderer Gruppierungen. Die Gesellschaft richtet sich an alle Franzosen [ ... ].22 Diese Absicht drückt sich auch in ihrer Namensgebung aus, die ein Kompromiß zwischen linken und rechten Kräften in der Gesellschaft darstellte. Durch ihren neutralen Namen sollten bürgerliche Anhänger nicht abgeschreckt werden. In der Tat gelang es der EFA, die Forderung nach Anerkennung der DDR über den Kreis der französischen Kommunisten in die französische Gesellschaft hineinzutragen. Gaullisten, Sozialisten, Liberale und andere "progressive Kräfte" wie der ehemalige Ministerpräsident Edgar Faure, der gaullistische Minister Georges Gorse, der gaullistische Abgeordnete und Präsident der ,,Freundschaftsgruppe Frankreich-DDR" in der Nationalversammlung Roger Fosse oder der SorbonneProfessor Georges Castellan unterstützten 'die EFA und förderten ihre Popularität. Die EFA organisierte und unterstützte durch Stipendien die Reisen französischer 18 Vgl. Bericht des Länderreferats Frankreich im MfAA vom 23. I. 1958 über die Erfüllung des Perspektivplans des Landsreferats für das Jahr 1957; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12048. BI. 34. 19 V gl. Schreiben des MfAA an die GfkVA vom 31. 12. I 957; PAdAA. Bestand MfAA I A 9504, BI. 103 f. 2o Vgl. dazu Bericht vom 19. 2. 1958 über die Reise (31.1 - 10. 2. 1958) von Kurt Heiß nach Paris; PAdAA. Bestand MfAA/ A 9504, BI. 122-133. 21 Vgl. Evolution du Tirage du Bulletin ..Rencontres" von 1972; SAPMO-BArch DY 13/ 2068. 22 L'adhesion aI' Association [ ... ] est pleinement compatible avec J'adhesion et Ia participation aux initiatives d'autres groupements. L'Association s'adresse tous les Fran~ais [ . . . ]" ; Rencontres franco-allemandes I ( 1959). S. I.

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Schüler, Studenten, Gewerkschaftler und Sportler in die DDR, vermittelte französische Künstler und veranstaltete Deutsch-Sprachkurse in verschiedenen Industriegebieten Frankreichs.23 Sie entwickelte sich in den folgenden Jahren zur bedeutendsten nichtstaatlichen Organisation in Westeuropa, die sich für die Anerkennung der DDR einsetzte. 24 Zum ersten Präsidenten der Gesellschaft wurde der Mathematik-Professor Albert Chatelet gewählt, der ehemaliges Mitglied des Weltfriedensrates war. Weiterhin gehörten der EFA der ehemalige stellvertretende UNO-Generalsekretär, Henri Laugier, und Andre Hauriou (PSU), seit 1945 Mitglied der ersten französischen Nationalversammlung, an. Beide waren Professoren an der Sorbonne und übernahmen in der Folge die Präsidentschaft der EFA. Ihre Persönlichkeit stand für eine überparteiliche Ausrichtung und sollte die Autorität der EFA in der französischen Gesellschaft verbessern. Zwischen 1962 und 1969 wuchs die Zahl ihrer Mitglieder von 2000 auf9535?5 Innerhalb eines Jahres (1962/63) erhöhte sich die Zahl der regionalen EFA-Komitees in ganz Frankreich von 50 auf 100, die ihrerseits Städtepartnerschaften ins Leben riefen. Im Jahre 1961 bestanden 30 registrierte Städteverbindungen, von denen 7 von Stadtverwaltung zu Stadtverwaltung und 23 von Freundschaftskomitee zu Freundschaftskomitee abgeschlossen worden waren?6 Wichtig an diesen Kontakten war für die DDR, daß viele französische Abgeordnete gleichzeitig Bürgermeister bzw. Gemeindeabgeordnete waren. Die Ausdehnung der Beziehungen auf kommunaler Ebene diente folglich der Vorbereitung von Kontakten auf höherer Ebene, um zu einer Gleichstellung mit der Bundesrepublik zu gelangen. Die genannten Beispiele weisen darauf hin, daß die Sympathiewerbung "von unten" nicht ohne Erfolg war?7 Ihre größte Anhängerschaft fand die EFA in den industriellen Ballungszentren des Nordens und Ostens sowie im ,,roten Gürtel" um Paris?8 Auf einer Übereinkunft zwischen CGT, der EFA und der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Ost-Berlin (Deufra) aus dem Jahre 1963 beruhend, bemühte sich die EFA um die Gründung von Betriebskomitees in Frankreich (z. B. bei Peugeot, Renault, der Vgl. Neues Deutschland [ND], 5. 4. 1969. Vgl. Gerhard Kiersch: Frankreich und die DDR - Ein vergessener Bereich deutschfranzösischer Beziehungen, in: H. Elsenhans/G. Junne/G. Kiersch/8. Poll171llnn (Hrsg.): Frankreich-Europa-Weltpolitik (Festschrift für Gilbert Ziebura zum 65. Geburtstag), Opladen 1989, S. 150. 2~ Vgl. Erste Einschätzung des Verlaufs und der Ergebnisse des 5. Nationalkongresses der EFA arn 6.17. 5. 1972 in Lyon durch die Abt. Auslandsinformation v. 10. 5. 1972; SAPMOBArch DY 30/IV B2/2.028/12. 26 Aufstellung der Ländersektion Frankreich vom 4. 10. 1961 über Kontakte zu Politikern, Wissenschaftlern, Wirtschafts- und Handelsexperten, Institutionen in Frankreich; PAdAA. Bestand MfAA/C 380/73. 27 Vgl. .. La France et l'autre Allemagne", Temoignage chretien, 8. 10. 1964. 28 Jahresbericht der Deufra für 1962 vom 6. 2. 1963; SAPMO-BArch DY 30/IV A2/20/ 465. 23

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SNCF und der RATP), um ihren Einfluß auf die Industriearbeiter auszudehnen. Diese Aktionen hatten jedoch nicht den gewünschten Erfolg, was auch nicht zuletzt daran lag, daß der FDGB den DDR-Betrieben den direkten Kontakt mit ihren französischen Partnern untersagte.29 Der Vergleich mit der Bundesrepublik führte jedoch zu der Erkenntnis, daß die Situation weiterhin unbefriedigend sei und die DDR als zweiter deutscher Staat stärker in den Vordergrund zu treten habe. Auch insgesamt stellte die DDR-Seite 1963 eine noch unbefriedigende Entwicklung fest und erklärte es zu einem ihrer Hauptziele, das Bestehen zweier deutscher Staaten in Frankreich stärker zu ..popularisieren". 30 Besondere Anstrengungen unternahmen PCF, EFA und SED zur Feier des 20. Jahrestages der Gründung der DDR im Jahre 1969. Das Sekretariat des ZK der SED beschloß einen breiten Katalog für die auslandsinformatorische Arbeit. Durch die getroffenen Maßnahmen sollte die DDR in den Zielländern besser bekannt gemacht und die Bedingungen für die diplomatische Anerkennung und die Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten verbessert werden. Den Bonner Alleinvertretungsanspruch galt es als "permanente Kriegserklärung gegen die DDR offensiver zu entlarven."31 Zu solchen Aktionen gehörte auch die Entsendung einer Delegation der Stadt Leipzig aus Anlaß einer Messe in der Partnerstadt Lyon. Neben der Festigung und Erweiterung der seit 1964 bestehenden Beziehungen hatte die Delegation vor allem den Auftrag, für die diplomatische Anerkennung der DDR durch Frankreich zu werben.32 Auf welche Weise sich die lokalen Organisationen der EFA an der ,,Anerkennungsbewegung" beteiligten, verdeutlicht das Beispiel des Comite de Ia Moselle aus den Jahren 1968/1969. Zwischen diesem Comite und der Deufra in Magdeburg bestanden schon länger Verbindungen, die in diesen Jahren ausgebaut wurden. Um die Kenntnisse über die DDR auf französischer Seite zu verbessern, wurden verschiedene Delegationen in die DDR entsandt. Neben einer Frauen-, Lehrerund Resistancekämpferdelegation legten beide Seiten besonderen Wert auf die Entsendung von Kindem und Jugendlichen. 30 Jungen und Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren verbrachten jeweils drei Wochen in Almsfeld im Harz, und immerhin 91 Kinder fuhren für zwei Wochen an verschiedene Orte in der DDR und wurden teilweise von Familien aufgenommen. In den Departements Pas de Calais, Nord, Seine Maritime und in Paris hatte die Unterschriftenaktion zur Unterstützung der 29 Sekretariatsvorlage der Deufra über den Entwicklungsstand der Anerkennungsbewegung in Frankreich v. 23. 3. 1971; SAPMO-BArch NY 4072/235, 81.15/16; Information über die Entwicklung der Freundschaftsbewegung zur DDR in Frankreich v. 3. 9. 1975; SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED 35395. 30 Jahresbericht der Deufra für 1962 vom 6. 2. 1963; SAPMO-BArch DY 30/IV A2/20/ 465. 31 Vgl. Arbeitsprotokoll Nr. 16/68 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 28. 2. 1968; SAPMO-BArch DY 30/J IV 213A/1547. 32 Vgl. Arbeitsprotokoll Nr. 5/69 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 20. I. 1969; SAPMO-BArch DY 30/ J IV 213A/1688.

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diplomatischen Anerkennung der DDR besonderen Erfolg, wie Zahlen aus dem Jahr 1972 nachweisen. 33 Neben Reisen und Unterschriftenaktionen veranstalteten die lokalen EFA-Komitees zahlreiche Ausstellungen über die DDR. Thematische Briefmarkenausstellungen über "sozialistische" Architektur, den antifaschistischen Widerstand in Deutschland und Filme über die DDR wurden gezeigt, so daß die Mitgliederzahl der Comites deutlich anstieg und der Präsident von einer befriedigenden Entwicklung sprechen konnte. 34 Besonders aufwendig wurde von den lokalen EFA-Komitees der 20. Jahrestag der Gründung der DDR im Jahre 1969 begangen. Einen guten Einblick bietet dafür eine Dokumentation aus dem Departement Nord, in dem zahlreiche Ausstellungen und Empfange organisiert wurden. Neben Berichten über diese Veranstaltungen in den lokalen Zeitungen wurde diese Gelegenheit ebenfalls genutzt, um die Leser mit politischen Informationen und wirtschaftlichen Daten über die DDR zu versorgen. In einigen Städten formulierten die Komitees Schreiben für die diplomatische Anerkennung der DDR und schickten diese an Präsident Georges Pompidou und seinen Außenminister Maurice Schumann. 35 Zu Austauschfahrten kam es jedoch nur selten. Das lag nicht allein an den repressiven Ausreiseformalitäten der DDR, sondern auch an der Weigerung Frankreichs, EiDreisevisa für DDR-Bürger auszustellen. 36

10. Die institutionelle Verankerung der auswärtigen Kulturpolitik der DDR Im Zuge der Zentralisierung des Staats- und Parteiapparates begann die SED Anfang der 50er Jahre, ihre Kulturpolitik zu institutionalisieren und unter Parteikontrolle zu stellen, um sie zu einem "Instrument im Klassenkampf' zu machen. 37 Ausgangspunkt war dabei der III. Parteitag der SED vom 20.-24. Juli 1950, auf dem der erste Fünfjahresplan der neuen Planwirtschaft beschlossen wurde. Er sah die Übernahme des sowjetischen Wirtschaftssystems in seinen Gründzügen vor, verfestigte den Zentralismus und damit die Kontrolle über die Volkswirtschaft. Innerhalb dieser fünf Jahre wollte die DDR ihre Industrieproduktion nahezu verdoppeln, was jedoch ausschließlich durch eine Erhöhung der Arbeitsnormen und Lohnkürzungen in diesen Jahren zu erreichen war. 38 Daß Leistungssteigerung und Vgl. Petition nationale der EFA v. 20. 4. 1972; SAPMO-BArch DY 13/2068. Vgl. Compte rendu d'activites 1968-1969 du Comite de Ia Moselle; SAPMO-BArch DY 13/2070. 3~ Vgl. Le XXeme anniversaire de Ia R.D.A. dans le Nord; SAPMO-BArch DY 13/2068; vgl. auch DY 13/2069. 36 Vgl. Est-Republicain v. 2. 10. 1969. 37 Vgl. Jürgen Wink/er: Kulturpolitik, in: A. Herbst u. a. (Hrsg.): Die SED. Geschichte Organisation- Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 394 f. 38 Vgl. Dietrich Staritz: Geschichte der DDR, Frankfurt 1996, S. 50ff. 33

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gleichzeitiger Konsumverzicht in der Gesellschaft nicht unproblematisch war und ein Konfliktpotential in sich barg, war auch der SED bewußt, so daß sie neue Kulturaufgaben in den Plan einband. Damit verfolgte sie das Ziel, die ideologische Erziehungsarbeit zu verstärken, um die Akzeptanz der DDR-Bürger für die zu treffenden Maßnahmen zu steigern. 39 Welches besondere Gewicht und welche didaktische Funktion die Künste in der DDR einnehmen sollten, unterstreichen die Wortezweier führender SED-Politiker aus den 50er Jahren. Für den damaligen DDR-Ministerpräsidenten Otto Gratewohl waren ,,Literatur und bildende Künste der Politik untergeordnet", und die ,,Idee in der Kunst sollte der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen". 40 Der ZKSekretär Paul Wandel sagte im Juli 1955: .,Auch für die Genossen Künstler gelten die Beschlüsse unserer Partei."41 Diese funktionell verstandene Kulturpolitik setzte sich auch in den 60er Jahren unter der Leitung des führenden SED-Kulturpolitikers und Mitglied des Politbüros Alfred Kurella fort. Er verstand Kultur und Kunst als .,Waffe im Klassenkampf" und strebte nach einer .,totalitären" kulturpolitischen Orientierung und Anleitung. 42 Die Definition von Kultur im .,Kulturpolitischen Wörterbuch" unterstreicht die ideologische Ausrichtung der Kulturpolitik der SED: .,Gesamtheit der Grundsätze, Ziele, Aufgaben und Maßnahmen zur bewußten und planmäßigen Förderung der sozialistischen Kultur und ihrer Wechselbeziehungen mit den politischen, ökonomischen, sozialen, ideologischen u. a. Aufgaben der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung". 43 Dieses politisch-ideologische Verständnis von Kultur wurde auch zur Grundlage der auswärtigen Kulturpolitik, die inhaltlich und institutionell bis zum Ende der DDR unter der Ägide des vom SED-Politbüros stand.44 Der Tatigkeit der staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen lag stets ein einheitliches auslandskulturpolitisches Konzept zugrunde, das von den zuständigen Abteilungen des ZK der SED koordiniert wurde.45 Die auswärtige Kulturpolitik entwickelte sich so zu einem Instrument in einem ideologisch fixierten politischen Gesamtkonzept Gleichfalls ist sie nicht ohne die allgemeinen Zielsetzungen der außen- und deutschlandVgl. Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR 1945- 1990, Köln 1994, S. 34. Zit. nach: Magdalena Heider: Politik-Kultur-Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945 - 1954 in derSBZ/DDR, Köln 1993, S. 129. 41 Vgl. ND V. 26. 7. 1955. 42 V gl. Sirnone Barck: Das Dekadenz-Verdikt. Zur Konjunktur eines kulturpolitischen .,Kampfkonzepts" Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre, in: J. Kocka (Hrsg.): Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 330f. 43 Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 2 1978, S. 403. 44 Vgl. Hans Lindemann I Kurt Müller: Auswärtige Kulturpolitik der DDR. Die kulturelle Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1974, S. 94 f. 4~ Vgl. Johannes Kuppe: Internationale kulturelle Organisationen, in: W.R. Longenbucher u. a. (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland Deutsche Demokratische Republik im Kulturverg1eich, Stuttgart 1988, S. 283. 39

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politischen Bemühungen der SED zu verstehen. Einzig die auswärtige Kulturpolitik bot zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit, Kontakte zum Westen außerhalb des kommunistischen Milieus aufzubauen, um den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch "von unten" aufzuweichen. Sie war für die SED das wichtigste Werkzeug bei ihrem Kampf um die völkerrechtlichen Anerkennung als souveräner zweiter deutscher Staat und das wirksamste Mittel, um das Bild und damit die Grundvoraussetzungen für eine internationale Anerkennung der DDR zu verbessern. Elementarer Bezugspunkt waren dabei immer die kulturpolitischen Aktivitäten der Bundesrepublik in den jeweiligen Ländern, die wachsam beobachtet wurden und gegebenenfalls durch "Gegenaktionen" behinderten werden sollten.46 Künstler und Künstlergruppen wurden zu "Diplomaten" der DDR und durchbrachen wiederholt ihre internationale Isolierung. Sie sollten die positive Selbstdarstellung der DDR fOrdern und die Kontakte zu den sogenannten "fortschrittlichen" Kräften im westlichen Ausland anknüpfen und vertiefen. Die SED ging dabei von der Überlegenheit ihres politischen und gesellschaftlichen Systems sowie ihrer Kulturpolitik aus. Die folgenden kulturpolitischen Zielsetzungen aus dem Jahr 1969 unterstreichen diese These: ,,Die Entsendung von Ensembles der DDR in das nichtsozialistische Ausland stellt einen wesentlichen Bestandteil der kulturpolitischen Auslandsarbeit dar. Sie elfolgt auf der Grundlage der außenpolitischen Direktive und der finanziell abgesicherten kulturellen Maßnahmepläne. Sie entspricht der Aufgabe, die Mittel von Kunst und Kultur im internationalen Maßstab zu allseitigen Stärkung der DDR zu nutzen, um damit weitere Voraussetzungen für ihre uneingeschränkte völkerrechtliche Anerkennung zu schaffen. In diesem Sinne tragen Ensemble-Gastspiele dazu bei, die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa zu fördern. Sie beweisen gleichzeitig die Weltoffenheit der DDR im Geiste des proletarischen Internationalismus, des Humanismus und echter Volkelfreundschaft. Sie sind ein Bestandteil der ideologischen Offensive der DDR auf kulturellem Gebiet, vor allem im Kampf für die Zurückweisung der Alleinvertretungsanmaßung Westdeutschlands. Durch diese Form der Selbstdarstellung beweist die DDR die Überlegenheit der sozialistischen Kultur gegenüber dem manipulierten Kunstbetrieb im Kapitalismus."47

In einem Konzeptionspapier vom Februar 1972 wird als Aufgabe formuliert, "durch hohe künstlerische Leistungen die Überlegenheit der sozialistischen Entwicklung auf dem Gebiet der Kultur und der Pflege des kulturellen Erbes zu dokumentieren, die fortschrittlichen Kräfte dieser Länder in ihrem Kampf um Frieden und Sicherheit zu unterstützen, durch die Darlegung der Überlegenheit der sozialistischen Kulturentwicklung die kulturfeindliche Politik in den kapitalistischen Staaten zu entlarven."48 46 Vgl. Analyse der Hauptabteilung I- Abt. Westeuropäische Länder - im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 20. 8. 1955: PAdAA. Bestand MfAA/ A 12056, BI. 20. 47 Vgl. Konzeption des Ministeriums für Kultur vom 18. September 1969 für die Verhandlungen der Künstleragentur der DDR zur Entsendung von DDR-Ensembles in das nichtsozialistische Ausland 1970171, in: Arbeitsprotokoll Nr. 90/69 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 19. 11. 1969: SAPMO-BArch DY 30/J IV 213A/1813.

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Nur diese beiden Beispiele zeigen schon, daß es der SED in ihrer auswärtigen Kulturpolitik nie um einen Kulturaustausch ging. Grundlage war ein missionarischer Fortschrittsglaube in Verbindung mit einem klassenkämpferischen Denken, der den Blick auf die Varietäten der anderen Kultur verstellte. Wir stehen hier erneut vor Frage, wie die SED mit diesem Überlegenheitsdenken erwarten konnte, als willkommener kultureller Partner außerhalb des kommunistischen Milieus empfangen zu werden. Vieles deutet auf einen unbeirrbaren und tief verwurzelten Glauben der Kulturpolitiker auf die Überlegenheit und die Wirkungskraft des Sozialismus und seiner Kultur hin. Während die kulturellen Kontakte zum Ausland in der ersten Zeit unkoordiniert und ohne staatliche Unterstützung entstanden, sah die SED sehr schnell die Notwendigkeit, neben der inhaltlichen Vorgaben auch einen organisatorischen Rahmen zu schaffen. Entsprechend eines Beschlusses auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950 und unter maßgeblicher Einflußnahme der Sowjetunion erließ das Politbüro am 18. März 1952 die Weisung, die ,. Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland" (GfkVA) zu gründen, was am 7. Juni des gleichen Jahres geschah.49 Sie hatte die Aufgabe, die kulturellen Beziehungen mit den "volksdemokratischen" Ländern und der Volksrepublik China zu koordinieren. Dies beinhaltete zum einen, die "kulturellen Leistungen der anderen Völker im deutschen Volk" zu verbessern, zum anderen beabsichtigte die SED mit der Gründung dieser Gesellschaft, "die kulturellen Leistungen der Deutschen Demokratischen Republik" in den genannten Ländern zu "propagieren". Gleichzeitig war sie die Dachorganisation der in den 50er Jahren entstandenen Freundschaftsgesellschaften in der DDR wie u. a. die deutsch-polnische, die deutsch-tschechoslowakische oder die deutsch-ungarische Freundschaftsgesellschaft Offiziell unterstand die GfkVA dem Außenministerium der DDR, ihre Anweisungen erhielt sie jedoch von der Abteilung Internationale Verbindungen beim ZK der SED. Diese Organisationsform entsprach dem sowjetischen Vorbild und war Bestandteil der Sowjetisierung der Kulturpolitik in der SBZ/DDR.~ 0 Der Ministerrat der DDR bestätigte am 26. August 1954 eine neue Satzung, so daß das Präsidium der GfkVA beschloß, die kulturelle Auslandsarbeit mit dem nichtsozialistischen Ausland zu verstärken.51 Sie sollte zukünftig unter dem Motto "Pflege und Erhaltung einer humanistischen deutschen Kultur" stehen. 48 Vgl. Konzeption des Ministeriums für Kultur für die Verhandlungen der Künstleragentur der DDR zur Entsendung von DDR-Ensembles in das nichtsozialistische Ausland für das Jahr 1973 vorn 2. 2. 1972, in: Arbeitsprotokoll Nr. 12172 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 2. 2. 1972; SAPMO-BArch DY 30 I J IV 2/3A /2129. 49 Vgl. Anlage Nr. 3 zum Protokoll Nr. 160/52 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 15.Mai 1952; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3/289, BI. 36-48; Anlage Nr. 9 zum Protokoll Nr. 102 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 18. 3. 1952; SAPMO-BArch DY 30/IV 2/2/202, BI. 87-91. 50 Vgl. Anne Hartnwnn/Wolfram Eggeling: Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945-1953, Berlin 1998. 51 Vgl. Karl-Heinz Rienwnnl Michael Jonas: Außenpolitische Ambitionen contra weltpolitische Realitäten, in: Geschichte-Erziehung-Politik 9 ( 1995), S. 517.

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Durch die Maßnahme erhoffte man sich eine bessere Öffentlichkeitsarbeit im kulturellen Bereich und eine ausgedehntere Kontaktpflege zu einflußreichen Persönlichkeiten in den westlichen Ländern und der Dritten Welt, um somit die Chancen für die Anerkennung der DDR zu fördern. Neben Finnland sollte Frankreich einer der Hauptansprechpartner sein.52 Für die "sozialistischen Bruderstaaten" war fortan in erster Linie das 1954 gegründete Ministerium für Kultur zuständig.5 3 An der Arbeit der GfkVA konnte sich jeder DDR-Bürger als Mitglied beteiligen. Beiträge mußten nicht gezahlt werden, dafür wurde mehr symbolisch jährlich die Zahlung von I Mark gefordert. Durch die Mitgliedschaft war es dann möglich, an den Veranstaltungen der einzelnen Arbeitsgemeinschaften bzw. fachlichen Sektionen teilzunehmen. Die Finanzierung der GfkVA wurde vom Ministerium für auswärtige Angelegenheiten übernommen, das auch zusammen mit anderen Parteiunterorganisationen und Vertretern der Massenorganisationen für die Vorbereitung der Bildung der Gesellschaft verantwortlich war. Ihre Organisationsstrukturen orientierten sich noch an den Prinzipien des bürgerlichen Vereinsrechts. Von Anfang an plazierte die SED in die Unterabteilung "Organisation" Parteigenossen, die die Erfassung und Anleitung der Mitarbeiter der einzelnen Sektionen zu überprüfen und zu organisieren hatten und gleichzeitig für Kaderfragen verantwortlich waren. Die SED schlug als ersten Vorsitzenden des Präsidiums den Dramatiker Friedrich Wolf (1888- 1953) vor, der 1951/52 diesen Posten bei einer Vorläuferorganisation, der "Deutsch-polnischen Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft" bekleidet hatte. Er hatte 1928 in einem Aufruf an proletarische Schauspielergruppen das programmatische Schlagwort "Kunst ist Waffe" geprägt. 54 Vermutlich aus gesundheitlichen Gründen wurde diesem Vorschlag jedoch nicht entsprochen, so daß der Erziehungswissenschaftler Prof. Robert Alt zum ersten Präsidenten gewählt wurde. 55 Mit der Etablierung eines ersten organisatorischen Rahmens hatte die SED die Möglichkeit geschaffen, die auswärtige Kulturpolitik unter die Kontrolle der Partei zu stellen, ihre Vorbereitung und Durchführung zu bestimmen, um sie für ihre Belange zu gebrauchen. Dieses Ansinnen war auch bei den ersten Plänen zur Institutionalisierung der kulturellen Beziehungen mit Frankreich bestimmendes Moment. Seit 1955 plante s2 Vgl. Hansgert Peisert/JoluJnnes Kuppe: Kulturpolitik, auswärtige, in: WR. lAngenbucher u. a. (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-deutschen Wirklichkeit Bundesrepublik Deutschland - Deutsche Demokratische Republik im Kulturvergleich, Stuttgart 1988, S. 374. S3 Vgl. Andreas Herbst u. a. (Hrsg.): So funktionierte die DDR, Bd. I, Reinbek 1994, S. 342f. S4 Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin (Ost) 2 1978, S. 434. ss Alt war zwischen 1954 und 1958 Mitglied des ZKs der SED und wurde 1961 Vizepräsident der"Liga filr Vcilkerfreundschaft". 1975 erhielt er den Karl-Marx-Orden. Weiterhin gehörten dem Präsidium Prof. Gustav Seitz und Prof. Plachy an. Die Generalsekretäre waren Kari-Friedrich Wiese (1954-58), Kurt Heiss (1957-59) und Herbert Meyer (1959-1961); vgl. ND 133/8.6. 1952.

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die SED mit ihren traditionellen Partnern in Frankreich die Schaffung einer organisatorischen Basis in Form eines Arbeitskreises, um die kulturellen Beziehungen zu vertiefen und zu koordinieren. 5 6 Nachdem zunächst vorgesehen war, einen solchen Arbeitskreis in einer parallelen Aktion in Paris und Ost-Berlin zu gründen, konzentrierte sich die ostdeutsche Seite dann auf die Vorarbeiten bei ihren eigenen Organisationen, da von den französischen Partnern zu Anfang nur wenig Resonanz kam. Aus dem Entwurf eines Statuts für diesen Arbeitskreis geht hervor, daß er in erster Linie eine Reaktion auf die 1955 erfolgte Westintegration der Bundesrepublik war, aus der sich für die SED eine gesellschaftspolitische Herausforderung gegenüber Frankreich ergeben hatte, die sich aus der Konkurrenzsituation zur Bundesrepublik ergab: "Durch enge Zusammenarbeit auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet soll dem französischen Volk die Existenz eines neuen Deutschlands bewußt werden, eines Deutschlands ohne Militarismus, Chauvinismus und Revanchebestrebungen. Die Vertiefung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Völkern dient darum unmittelbar dem gemeinsamen Kampf der deutschen und französischen Werktätigen gegen die Pariser Verträge und die Wiederaufrüstung Westdeutschlands."" Der Arbeitskreis sollte keinen staatlichen oder halbstaatlichen Charakter besitzen, sondern nach außen hin als unabhängiges Komitee auftreten. Diesem Ansinnen entsprach, daß die Gründungsvorbereitungen vom "Kulturbund" und der GfkVA geleistet wurden und letzterer die Lenkung zugedacht war. Daß die Unabhängigkeit jedoch nur Schein war, wird aus der Absicht deutlich, daß das MfAA für die politische Anleitung vorgesehen war, "ohne jedoch in irgendeiner Form in diesem Komitee selbst in Erscheinung zu treten." 58 Angesprochen wurden Personen "aus allen Teilen Deutschlands", die die Zusammenarbeit mit Frankreich fördern und die Ziele sowie das Statut des Arbeitskreises anerkennen. Der gesamtdeutsche Gedanke war offiziell noch nicht aufgegeben worden. Die Leitung des Arbeitskreises sollte einem Präsidium aus bekannten Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens der DDR obliegen.59 In den vom "Kulturbund" zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten war eine Ecke mit französischer Literatur geplant, um ein "Propagandazentrum für französische Kultur im demokratischen Sektor von Berlin" zu schaffen. Weiterhin sollten Kontakte zum "Maison de France" in West-Berlin aufgenommen werden, um Persönlichkeiten aus Frankreich einladen zu können und um in den Besitz von französischen Filmen zu 56 Information über den Stand der Beziehungen zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 4. 5. 1956; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12058, BI. 4. 57 Entwurf für ein Statut des deutsch-französischen Arbeitskreises in der DDR vom 3. 10. 1956; PAdAA. Bestand MfAA/ A 9504, BI. 24 - 26. 58 Vgl. Analyse der Hauptabteilung I - Abt. Westeuropäische Länder - im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 20. 8. 1955; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12056, BI. 33. 59 Information über einige Maßnahmen zur Verstärkung der kulturellen Beziehungen mit Frankreich vom 8. 12. 1956; PAdAA. Bestand MfAA/ A 630, BI. 67-69.

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kommen. 60 Die Zusammenarbeit mit dem "Maison de France" zielte jedoch auf keine sektorenüberschreitenden Kulturarbeit Das französische Kulturinstitut war vielmehr Mittel zum Zweck, um die Attraktivität des Arbeitskreises zu erhöhen und ihm einen bessere Zulauf zu bescheren, der ihn auf diese Weise auch für staatliche kulturelle Institutionen in Frankreich interessant machen sollte. Die SED hatte bis zum Mauerbau mit Besorgnis beobachten müssen, daß eine große Anzahl von Personen aus dem kulturellen Milieu der DDR die Veranstaltungen des "Maison de France" besuchten und ihre Bibliothek, Ausstellungs- und Clubräume nutzten. Diese Kontakte entzogen sich jedoch der Kontrolle der SED-Organe, so daß sie diesen Einhalt gebieten wollte. 61 Der geplante Arbeitskreis sollte deshalb durch seine Erfolge als Gegengewicht zum französischen Kulturinstitut wirken und durch seine Tätigkeit dazu beitragen, daß Künstler und Kulturvertreter der DDR vom Besuch des "Maison de France" abgehalten werden. Es wäre deshalb verfehlt, von einer angestrebten Kooperation zu sprechen; vielmehr zielte der Aufbau dieses Arbeitskreises auf eine Teilung der kulturellen Beziehungen zu Frankreich in Berlin und bedeutete einen ersten Schritt in den Monopolisierungsbestrebungen seitens der SED. Schließlich wurde jedoch von der Gründung dieses Arbeitskreises abgesehen. 62 Das französische Kulturinstitut verweigerte sich der Zusammenarbeit mit der DDR nicht grundsätzlich, sah sich dabei aber als Institution mit einem kulturellen Auftrag für ganz Berlin. So hatte es im Jahre 1954 den Auftritt des Ensembles von Marcel Marceau in die DDR vermittelt und den ostdeutschen MusikwissenschaftIer, Prof. Beseler, zu einem Vortrag in das ,,Maison de France" eingeladen. Der Direktor des Hauses hatte m Jahre 1955 wiederholt über Mittelsmänner Kontakt zum Ministerium für Kultur, zur GfkVA und zum Romanischen Institut der Humboldt-Universität aufgenommen, um kulturelle und wissenschaftliche Kontakte anzuknüpfen. 63 Trotz kleiner Erfolge der auswärtigen Kulturpolitik der DDR kam die SED ihrem Ziel der internationalen Anerkennung außerhalb der sozialistischen Staatenwelt in den 50er Jahren nicht wesentlich näher und verstärkte deshalb Anfang der 60er Jahre ihre organisatorischen Aktivitäten. Nach der Gründung der "Deutsch60 Aktenvermerk vom 15. 6. 1956 über eine Besprechung in der Gesellschaft für Kulturelle Verbindungen mit dem Ausland in Fragen des Arbeitskreises Frankreich, Propagandazentrum und 14. Juli; PAdAA. Bestand MfAA/ A 9504, BI. 11/12. 61 Vgl. Analyse der Hauptabteilung I -Abt. Westeuropäische Länder- im MfAA über bestehende Verbindungen und Kontakte zwischen der DDR und der Republik Frankreich vom 20. 8. 1955; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12056, BI. 15/16. 62 Vgl. Stellungnahme vom 17. 9. 1957 zu den Ausarbeitungen der Presseabteilung über den Stand der Aufklärung über die DDR in Frankreich und Italien sowie die regelmäßige Information über die Lage in diesen Ländern bei uns; PAdAA. Bestand MfAA I A 9504, BI. 193-197. 63 Bericht über die Beziehungen der DDR zu Frankreich im Jahre 1955 vom 31 . I. 1956; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12058, BI. 13/14.

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Arabischen Gesellschaft" (1958) und der "Deutsch-Afrikanischen Gesellschaft" (1961) "zur Verbesserung der Auslandspropaganda der DDR"64 kam das Politbüro zur Einsicht, daß die GfkVA als einzige Partnerorganisation der im Ausland entstandenen Freundschaftsgesellschaften nicht mehr ausreichte und beschloß wenige Wochen vor dem Mauerbau, am 14. März 1961, "in einer Situation zugespitzten Klassenkampfes auf deutschem Boden"65 die Gründung der ,,Liga für Völkerfreundschaft der DDR". Der SED-Staat war in dieser Zeit weiter in die Defensive geraten, da die steigenden Flüchtlingszahlen und der Mauerbau vom 13. August 1961 vor dem Ausland ein Eingeständnis der eigenen Schwäche und der mangelnden Attraktivität im Vergleich zur Bundesrepublik waren. Es war deshalb dringendes Gebot, die Öffentlichkeitsarbeit im Ausland zu verbessern, um der DDR wieder ein größeres politisches Gewicht vor der Weltöffentlichkeit zu geben. Die Gründung der ,,Liga" stand gleichzeitig für einen Wechsel in der Deutschlandpolitik der SED. Nachdem sie in den 50er Jahren eine Wiedervereinigungspolitik betrieb und sich selbst als einzig wahren Vertreter nationaler deutscher Interessen präsentiert hatte, ging sie Ende um 1960 offiziell von dieser Politik ab und verstärkte ihre Bemühungen um die Stabilisierung und Konsolidierung der DDR. Die institutionelle Neuordnung der auswärtigen Kulturpolitik war deshalb mit dem Ziel verbunden, die DDR im Ausland als rechtmäßigen und souveränen deutschen Staat zu etablieren.66 Die Namensgebung ,,Liga für Völkerfreundschaft der DDR" war in diesem Zusammenhang äußeres Anzeichen für den Paradigmenwechsel in der Deutschlandpolitik. Gleiches gilt für das ständige Bemühen, die Nennung der Staatsbezeichnung "Deutsche Demokratische Republik" bei Auftritten von DDR-Künstlern im westlichen Ausland durchzusetzen, um auf diese Weise die Souveränität des "ersten sozialistischen Staates deutscher Nation" zu demonstrieren. Auch wenn die GfkVA aus organisatorischen Gründen noch einige Jahre bestehen blieb, kann die "Liga" als Nachfolgeorganisation der GfkVA bezeichnet werden. Sie wurde nach ihrer Gründung am 15. Dezember 1961 zur Dachorganisation für die nationalen Freundschaftsgesellschaften in der DDR und koordinierte fortan die auswärtige Kulturpolitik. 67 Die Hauptaufgabe der "Liga" war, so der DDR-Außenminister Otto Winzer im Jahre 1962, "für die Anerkennung der DDR im Ausland zu werben."68 Ihr Generalsekretär, Herbert Schönfeld (SED), schrieb 1971 über ihre Ziele: "Wir betrachten es als Legitimation, durch die Liga die 64 Vgl. Anlage Nr. 5 zum Protokoll Nr. 12/61 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 14. 3. 1961; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/2A/810, Bl.21/22. 6S Zit. nach A. Herbst 1994 (wie Anm. 52), S. 342. 66 Vgl. Johannes Kuppe: Die deutsch-deutschen Beziehungen aus der Sicht der DDR, in: W Weidenjeld/H. Zimmermann (Hrsg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989, S. 551-567. 67 Vgl. A. Herbst 1994 (wie Anm. 52), S. 600ff. 68 Hans End: Zweimal deutsche Außenpolitik. Internationale Dimensionen des innerdeutschen Konflikts 1949-1972, Köln 1973, S. 133.

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innen- und außenpolitischen Grundanliegen unseres Staates im Ausland öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen und zu vertreten."69 Die Neuorganisation der auswärtigen Kulturpolitik war gleichbedeutend mit der Aufgabe des bisherigen bürgerlichen Vereinsrechts. Nachdem zuvor jeder interessierte Bürger Mitglied werden konnte, war die Mitgliedschaft nun nur noch über Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Kollektive von Werktätigen, Institutionen oder Einrichtungen möglich, die die Mitglieder delegierten, um ausschließlich Persönlichkeiten aufzunehmen, die nachweislich "aktiv die Freundschaft zu anderen Volkern pflegten". Die Zusammensetzung des Präsidiums der "Liga" wurde vom Sekretariat des ZK der SED beschlossen. Es legte in Abstimmung mit dem ZK der SED die Richtlinien für die Arbeit fest und delegierte die Ausführung an das Sekretariat der "Liga". Die außenpolitische Kommission beim Politbüro des ZK der SED hatte die Arbeitspläne zu bestätigen und ihre Tätigkeit anzuleiten und zu kontrollieren. 70 Durch diese Organisationsstruktur hatte sich das ZK der SED die Kontrolle über ihre Arbeit gesichert und die Kontrollmechanismen verfeinert, was die wechselseitige Verknüpfung von Staat und Partei weiter verstärkte; gleichzeitig konnte die "Liga" aber im Ausland als nichtstaatliche Einrichtung auftreten und sich mit kulturpolitischen Mitteln für die Anerkennung der DDR und die Unterminierung der bundesrepublikanischen "Hallstein-Doktrin" einsetzen. Um sich einen pluralistischen Anstrich zu geben, wurden in der Öffentlichkeit gerne Politiker der CDU und anderer "bürgerlicher" Blockparteien in den Vordergrund geschoben. So wurde z. B. die Gründungsveranstaltung der "DeutschFranzösischen Gesellschaft" am 17. Februar 1962 vom stellvertretenden Präsidenten der Volkskammer und Vorsitzenden der CDU, August Bach, geleitet. 71 Gemäß den parteilichen Richtlinien und den politisch-ideologischen Zielen der "Liga für Völkerfreundschaft" sowie dem Beschluß der Außenpolitischen Kommission des ZK der SED wurde am 17. Februar 1962 die "Deutsch-Französische Gesellschaft in der DDR" gegründet. 72 Ihrem Präsidium gehörten namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Kultur an. Erster Präsident, den das Sekretariat der Gesellschaft wählte, wurde für den Zeitraum von 1962 bis 1964 der Rektor der Universität Leipzig (1950-1963), Prof. Dr. Georg Mayer (1892 - 1973).73 Er gehörte der SED an und war von 1950- 1967 Abgeordneter der Volkskammer. Die Horizont 50/1971. Vgl. Aufgaben und Zusammensetzung der Außenpolitischen Kommission beim Politbüro; Arbeitsprotokoll Nr. 2/63 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 5. 2. 1963; SAPMO-BArch DY 30/ J IV 2/2 A/946. 71 ND 49118. 2. 1962. n V gl. Anita M. Mallinckrodt: Die Selbstdarstellung der beiden deutschen Staaten im Ausland. "Image-Bildung" als Instrument der Außenpolitik, Köln 1980, S. 207 ff. 73 Vgl. zu einer Kurzbiographie Arbeitsprotokoll Nr. 71/62 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 5. 12. 1962; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3A/915; Arbeitsprotokoll Nr. 61/67 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 20. 12. 1967; SAPMO-BArch DY 30/ J IV 2/3A/1527. 69

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übrigen Mitglieder des Sekretariats wie auch alle neu aufzunehmenden Mitglieder hatten ehrenamtlichen Status. Zu ihnen gehörten u. a. Anna Seghers und Stephan Hermlin. Da Georg Mayer in Leipzig wohnte und wegen verschiedener Krankheiten das Präsidentenamt nur unzureichend ausfüllen konnte, bat er selbst um seine Entlassung. Das Sekretariat des ZK akzeptierte seinen Wunsch . Es sprach sich für eine politisch profilierte Persönlichkeit aus, die Frankreich kenne und die französische Sprache spreche. Nachdem anfanglieh der Vizepräsident August Bach vorgeschlagen worden war, wurde nach Rücksprache mit Albert Norden von diesem Beschluß abgesehen und Franz Dahlem (1892-1981) mit dieser Funktion betraut. Bach behielt jedoch die Position des Vizepräsidenten. 74 Von dieser Entscheidung versprach sich die Partei eine stärkere Politisierung der Gesellschaft und vermutlich eine stärkere Aktivität, da die SED sich genötigt sah, auf den Abschluß des Deutschfranzösischen Vertrages ihrerseits zu reagieren. Dahlem war 1892 in Rohrbach I Lothringen 75 geboren und zwischen 1928- 1933 Reichstagsabgeordneter für die KPD. Nach der ,,Machtergreifung" gehörte er bis 1937 zur Auslandsleitung der Partei in Paris und schloß sich 1937 der Internationalen Brigade in Spanien an. Die Jahre zwischen 1939 und 1942 verbrachte er in verschiedenen französischen Internierungslagern. Zwischen 1946 und 1953 war er Mitglied des Zentralkomitees der SED und für die Verbindung der Partei mit dem Westen verantwortlich. 76 Am 6. Mai 195377 wurde er wegen angeblicher "politischer Blindheit gegenüber der Tatigkeit imperialistischer Agenten und wegen nichtparteimäßigen Verhaltens zu seinen Fehlern" aus der Partei ausgeschlossen. Trotz seiner Rehabilitierung 1956 und der Wiederaufnahme in das ZK der SED im folgenden Jahr78 spielte Dahlem innerhalb der Machtstrukturen der SED fortan nur noch eine sekundäre Rolle. 79 Für die Arbeit in der Deufra war er jedoch von äußerster Wichtigkeit, da er dank seiner verschiedenen Frankreichaufenthalte und seines Kampfes in der ,.Resistan74 Vgl. Arbeitsprotokoll Nr. 46/64 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 2. 6. 1964; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3A/1.071. 75 Die beiden Brüder Dahlems lebten nach 1945 weiterhin in Lothringen. Einer von ihnen war Mitglied der PCF; Bericht über meine Reise nach Frankreich v. 26.3.- 16. 4. 1971; SAPMO-BArch NY 4072/235, BI. 121 ff. 76 Vgl. Anlage Nr. I zum Protokoll Nr. 3 der Politbürositzung des ZK der SED vom 15. 2. 1949; SAPMO-BArch DY 30/IV /2/2/3, BI. 4. 77 V gl. Protokoll Nr. 25/53 der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des ZK der SED v. 6. 5. 1953; SAPMO-BArchDY 30/J IV 2/2/279, Bl.l; DY 30/J IV 2/2/280, BI. 3-4. 78 Vgl. Bernd-Rainer Barth u.a. (Hrsg.): Wer war Wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, Frankfurt IM. 3 1995, S. 123f.; Le Monde, II. 7. 1964. 79 Charakteristisch dabei ist die Begründung für die Verleihung der Verdienstmedaille der DDR im August 1961 :"Genosse Dahlem machte gegenüber dem Gen. Anton Plenikowski, Staatssekretär beim Büro des Ministerpräsidenten, die Bemerkung, daß er des öfteren von Genossen gefragt wurde, warum er noch nicht mit der Verdienstmedaille der DDR ausgezeichnet worden sei"; vgl. Arbeitsprotokoll Nr. 46/61 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 6. 9. 1961; SAPMO-BArch DY 30/J IV 2/3A/812.

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ce" über gute Verbindungen nach Frankreich und besonders zum Kreis der Widerstandskämpfer verfügte. Seit jeher beruhte eine große Hoffnung der DDR auf der Verbindung zu ehemaligen Mitgliedern der .. Resistance" und ihren Organisationen, die die Deufra mit Hilfe des "Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR" ansprechen konnte. ,,Die Verbindungen mit Widerstandskämpfern sind von großer Bedeutung, da hier die Bereitschaft zur Freundschaft mit der DDR größer ist als in anderen Schichten des französischen Volkes" ,80 schrieb die Deufra 1963. Sie konnte hier auf die Tatigkeit führender SED-Politiker (Hermann Axen, Albert Norden, Ernst Scholz u. a.) in der französischen .. Resistance" anspielen und erhoffte sich dadurch eine größere Solidarität dieser Kreise mit der DDR. Dahlem seinerseits versprach eine Arbeit "in engster Abstimmung mit den zuständigen Organen des Zentralkomitees und der Regierung."81

Die Deufra hatte das Ziel, eine "breite, vielseitige und massenwirksame Erläuterung der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung der DDR" zu gewährleisten. Die SED erhoffte sich von der Deufra eine "Stärkung der internationalen Autorität der DDR und ihres Ansehens". 82 Sie sollte über kulturelle, wissenschaftliche, sportliche und handelspolitische Kontakte Beziehungen zu einflußreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Frankreichs herstellen und gemeinsam mit der EFA kulturelle Veranstaltungen über die DDR in Frankreich organisieren. Auf unterer Ebene förderte sie die Vermittlung der Einreise von Delegationen französischen Politiker, Wissenschaftler und anderer Berufsgruppen sowie gewährte zehn französischen Studenten jährlich das Studium für ein Semester in der DDR. Gleichzeitig und darin zeigt sich die Konkurrenzsituation zur Bundesrepublik, in der sich die SED stets sah, sollte die Deufra in Frankreich vor dem "westdeutschen Militarismus und Imperialismus" und der "aggressiven" Bonner Politik warnen: "Sie weist gegenüber der Propaganda Bonns - für eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland - darauf hin, daß es mit dem revanchistischen deutschen Militarismus keine Aussöhnung gibt und eine Aussöhnung zwischen dem deutschen und französischen Militarismus nicht erreichbar ist." Die Gründung der Deufra war damit eine direkte Reaktion auf den Ausbau der westdeutsch-französischen Kontakte, auf die die SED sich genötigt sah zu reagieren, wie aus einer Vorlage des MfAA für das SED-Politbüro vom August 1961 hervorgeht: "Schließlich müssen die großen Anstrengungen, die von Bonn gemacht werden, um Frankreich eng an seine aggressive revanchistische Politik zu binden, von unserer Seite mit einer Verstärkung unserer Auslandspropaganda in Frankreich beantwortet wer80 Vgl. Jahresbericht der Deufra für 1962 v. 6. 2. 1963; SAPMO-BArch DY 30/IV A2/ 20/465. 81 Brief von Franz Dahlem an Hermann Axen o.J. (v. 1964); SAPMO-BArch NY 4072/ 212, Bl.l6. 82 Vgl. Beschluß der Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED vom 31. I 0. 1961 zur Gründung einer Deutsch-Französischen Gesellschaft in der DDR, in: Protokoll und Arbeitsprotokoll Nr. 3/62 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 17. l. 1962; SAPMOBArch DY 30/J IV 2/31786; DY 30/J IV 213A/839.

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den."83 Die SED orientierte sich dialektisch in der Negation an der Bundesrepublik, was in den folgenden Jahren einer der wichtigsten Bestimmungsfaktoren für die auswärtige Kulturpolitik der DDR blieb. Damit war auch die Frankreichpolitik der SED auf kulturellem Sektor Deutschlandpolitik. Aus ihrer Sicht bestand dabei immer eine Dreiecksbeziehung, in der sich die DDR als gleichberechtigter Partner zu etablieren versuchte. Die Gründung und die Arbeit der Deufra entsprach dem oben angesprochenen Paradigmenwechsel in der Deutschland- und Außenpolitik der DDR. Nachdem die Frankreichpolitik der SED in den 50er Jahren das Ziel verfolgte, die Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern, galt es nun im Rahmen der äußeren Konsolidierung der DDR eine "Kampagne zur diplomatischen Anerkennung der DDR durch Frankreich" zu lancieren. Bezugspunkt blieb bei dieser Politik die Bundesrepublik, die durch die Unterzeichnung des Elysee-Vertrages 1963 eine außenpolitische Aufwertung erfahren hatte. Frankreich machte mit diesem Vertrag ein weiteres Mal deutlich, daß seine Prioritäten in der deutschen Frage bei der Bundesrepublik lagen. Die SED und damit auch die Deufra sahen es deshalb als ein wichtiges Bestreben an, die Wirksamkeit des Elysee-Vertrages zu "hemmen"84 Die Politik Adenauers und de Gaulies sollte unter Heranziehung von historischen Beispielen aus der Zwischenkriegszeit als die größte Gefahr für das französische Volk dargestellt werden. Diese Kampagne setzte auf eine Bewegung "von unten", um Druck auf die französische Regierung auszuüben. Die Diabolisierung der Bundesrepublik und die verschiedenen Gefahrenszenarien dienten somit dem Zweck, die DDR als Gegengewicht zu der wiedererstarkten Bundesrepublik zu präsentieren: .,Wir haben die Pflicht es [das französische Volk, U.P.] zu überzeugen, daß die Freundschaft mit der DDR den besten Traditionen des Friedenskampfes beider Völker entspricht. Die Geschichte kennt ähnliche Pakte wie Adenauer-de Gaulle, welche die Widersprüche verschleierten und den Krieg nicht verhinderten - das war deutlich so im Briand-Stresemann-Pakt. Solche Beispiele sollten aus der Geschichte nachgewiesen und dem frz. Volk übermittelt werden."85

Aus dem Statut der Deufra geht hervor, daß Vertreter der wissenschaftlichen, kulturellen, und gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen aus der DDR und Frankreich Mitglied werden konnten, soweit sie sich zu den Zielen der Gesellschaft bekannten und sie aktiv unterstützen wollten. Für Persönlichkeiten aus Frankreich und anderen Ländern bestand die Möglichkeit, durch das Präsidium der Deufra zu Freunden und bei "besonderen Verdiensten" zu Ehrenmitgliedern ernannt zu werden. Über die Mitgliedschaft entschied das Sekretariat auf Vorschlag 83 Vorlage der 5. Europäischen Abteilung - Sektion Frankreich - im MfAA vom 24. 8. 1961 für das Politbüro zur Gründung einer .,Deutsch-Französischen Gesellschaft in der DDR"; PAdAA. Bestand MfAA/ A 12093, BI. 6/7. 84 Vgl. zu den ersten Schritten der Deufra den Jahresbericht für das Jahr 1962 v. 6. 2. 1963; SAPMO-BArch DY 30/IV A2/20/465. ss Grundlagen zum Referat des Präsidenten anläßlich der Präsidiumstagung der DeutschFranzösischen Gesellschaft in der DDR am 4. Okt. 1962; SAPMO-BArch DY 13/1966.

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von mindestens zwei Präsidiumsmitgliedern. 86 Das Präsidium sollte sich ebenfalls aus Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens der DDR zusammensetzen. Gleichzeitig war es auch Franzosen möglich, Präsidiumsmitglied zu werden. 87 In der Praxis bestand die Deufra wie auch die anderen Freundschaftsgesellschaften ausschließlich aus dem Präsidium, das nach einem vom ZK der SED ausgearbeiteten Schlüssel von Mitgliedern der SED, der Blockparteien und der Massenverbände besetzt wurde. Gerade in der ersten Zeit ihres Bestehens wirkte sich die Besetzung des Präsidiums und des Sekretariats mit Mitgliedern aus den Führungsschichten von Partei und Massenorganisationen negativ auf die Arbeit der Deufra aus. Infolge der Ämterhäufung war es vielen Mitgliedern nur unregelmäßig möglich, an den Tagungen und Sitzungen teilzunehmen. So mußte die Deufra 1963 feststellen, daß es Präsidiumsmitglieder gab, die noch nie bei einer Veranstaltung oder Tagung zugegen waren oder auf Anschreiben der Deufra geantwortet hatten. Daraufhin wurde die Zusammensetzung des Sekretariats auf 10 Mitglieder erweitert, um bei den Sitzungen effektiver arbeiten zu können: "Die Erfahrungen besagen, daß etwa immer nur 50% der Mitglieder anwesend sind und mit 3 Sekretariatsmitgliedern ist eine produktive Arbeit kaum möglich." 88 Der Versuch der SED zur totalen Durchdringung sämtlicher staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen waren damit Grenzen gesetzt, die sich intrinsisch aus der Organisationsarbeit der SED ergaben. Die Monopolisierung der auswärtigen Kulturpolitik durch die SED und die Verteilung von Verantwortlichkeilen auf wenigen Schultern beeinträchtigten die Steuerungsfähigkeit durch die Partei. Das Mißtrauen gegenüber einer Organisationsform, die auf einem breiten gesellschaftlichen Sockel ruht, und die Konzentrierung der Arbeit auf einen kleinen Kreis von Kadern schmälerten die Effizienz und führten zumindest anfangs dazu, daß eine Vielzahl der Aufgaben nicht wahrgenommen werden konnten. Ob dies nur die Arbeit zeitweise paralysierte oder auch Handlungsspielräume für die Mitarbeiter der Organisationen gegenüber dem Führungsanspruch der SED schuf, ließ sich aus den Quellen nicht ermitteln. Als Reaktion auf diese Mißstände wurden innerhalb der Deufra Fachsektionen (z. B. PresseRundfunk, Dokumentation, Kultur und Volksbildung) gebildet, die als Verbindungsstelle ftir Kontakte zu Fachleuten in den Ministerien sowie den Parteien und Massenorganisationen angelegt waren. In die Arbeit wollte die SED vor allem "Vertreter der Intelligenz" einbeziehen, die bereits längere Zeit in Frankreich verbracht hatten. Sie erhoffte sich eine verstärkte Einbindung dieser Persönlichkeiten in das gesellschaftliche Leben der 86 Grundlagen zum Referat des Präsidenten anläßlich der Präsidiumstagung der DeutschFranzösischen Gesellschaft in der DDR am 4. Okt. 1962; SAPMO-BArch DY 1311966. K7 Vgl. Statut der "Deutsch-Französischen Gesellschaft in der DDR", in: Protokoll und Arbeitsprotokoll Nr. 3162 der Sitzung des Sekretariats des ZK der SED vom 17. I. 1962; SAPMO-BArch DY 30 I J IV 2131786; DY 30 I J IV 213A 1839. 88 Herbert Schönfeld (Generalsekretär der Liga ftir Völkerfreundschaft) auf der 2. Präsidiumstagung der Deufra vom 29. 4. 1963; SAPMO-BArch DY 1311966.

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DDR und schuf dadurch eine weitere Kontrollinstanz. Diese Maßnahme entsprach ganz dem Denken der meisten für die Kultur zuständigen Parteifunktionäre, die künstlerische Freiheit zumeist als Gefahr für den Bestand ihrer eigenen Machtposition verstanden und auf dem Deutungsmonopol der Partei in kulturellen Fragen bestanden. 89 Die SED konnte durch die Struktur der Deufra eine kontrollierende Position ausüben und sie in ihr außenpolitische Gesamtkonzept einbinden. Organisatorische und kulturelle Fragen mußten dem Primat von Politik und Ideologie und damit der Machtsicherung gehorchen. So geht u. a. aus einem internen Papier über die Beratungen zwischen der EFA und der Deufra vorn 2. Juni 1974 hervor, daß die SED Veränderungen im Präsidium der Deufra einleiten wollte, "um die notwendige Politisierung zu sichern." 90 An diesem Punkt lag der zentrale Unterschied zu ihrer Partnergesellschaft in Frankreich, der EFA, die zwar stets von Anhängern der PCF dominiert wurde, aber immer auch pluralistischen Charakter besaß. IV. Fazit Der institutionelle Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik der DDR reiht sich ein in die Geschichte und Funktion der Institutionenordnung im SED-Staat. Sie war von einem "hierarchisch und bürokratisch organisierten Anweisungs- und Zuteilungsverfahren in Partei und Staat" geprägt, wie R. Lepsius schreibt.91 Zu einem wichtigen Charakteristikum wurde, so zeigten auch die beschriebenen Organisationen, ihr Mangel an Öffentlichkeit. Sie stellten kein Forum einer legitimierten Interessenauseinandersetzung dar, sondern dienten der politischen und sozialen Disziplinierung und verstärkten trotz aller organisatorischer Unzulänglichkeiten das Machtmonopol der SED. Indem sie ihre Aufgaben und Ziele definierte, bestimmte bzw. lenkte, wollte sie das Entstehen von kulturellen Nischen außerhalb der Parteikompetenz verhindern. Sie unterdrückte auf diese Weise eine institutionelle Differenzierung und versprach sich davon eine zunehmende Legitimation ihrer Machtstellung. Auch wenn die SED nach außen versuchte, die Freundschaftsgesellschaften als überparteiliche und intermediäre Organisationen zu präsentieren, stand ihre innere Struktur in krassem Gegensatz dazu. Indem sie die Prinzipien des bürgerlichen Vereinsrechts abschaffte, wurden die ,,Liga für Völkerfreundschaft" und die Freundschaftsgesellschaften zu Kaderorganisationen, die eine pluralistische lnteressenartikulation nicht duldeten. Vielmehr förderten sie die Fusion von Staats- und Parteiapparat und den Rückzug der Bürger aus den öffentlichen Angelegenheiten. Ihre hierarchischen Strukturen, ihre Monopolstellung bei der Organisation der 89 Vgl. Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 610. 90 Vgl. SAPMO-BArch DY 30/vorl. SED 35395. 91 M. Rainer Lepsius: Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in: H. Kaelble u. a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 18.

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Aktivitäten und die Möglichkeit der SED-Führung zur direkten Intervention führten gleichzeitig zu einer Konformitätsbereitschaft ihrer Eliten und, so zeigen es die Jahresberichte der Deufra, zu einer Ritualisierung von öffentlicher Gestik und internem Schriftverkehr.

Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der DDR Von Istvan Nemeth und Andnis Kocsis

I. Die Beziehungen zwischen der DDR und den europäischen volksdemokratischen Staaten bis 1950 1945- 1946 brachten die ersten Ergebnisse der Demokratisierung und Entnazifizierung noch keine wesentlichen Veränderungen in der Beurteilung Deutschlands mit, und das Mißtrauen gegenüber Deutschland blieb weiterhin stark. Alldies wurde dadurch erklärt, daß sich die Aufmerksamkeit wegen der primitiven Existenzbedingungen auch in den anderen Ländern auf die Aufgaben der Nation richteten. Im Schutz der sowjetischen Militärverwaltung konnte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1945- 1946 die führende Rolle erringen, Nach der Vereinigung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 21.-22. April 1946 besaß die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) außer den engen Kontakten zur sowjetischen Besatzungsmacht keine Beziehungen zu anderen Ländern. Die erste internationale Kontaktaufnahme der SED erfolgte Anfang 1947, als ihre Delegation vom 30. Januar bis 7. Februar 1947 in Moskau einen Besuch abstattete. In das im September 1947 in Polen (Szklarska Poreba- Schreiberhau) als politische Koordinationsstelle gegründete Kommunistische Informationsbüro (Kominform) wurde die SED noch nicht einbezogen. Ihre Tatigkeit wurde aber durch die Delegationen der ungarischen, jugoslawischen und bulgarischen Arbeiterparteien am zweiten Kongreß der SED am 20. -24. September 1947 offiziell anerkannt. Besonders wurde die Bildung der Einheit der Arbeiterklasse gewürdigt. Im immer eindeutigeren Verlauf der Spaltung Deutschlands war die Sowjetunion um die Koordinierung ihrer Einflußzone bemüht: Auf die Nachricht der Einberufung der Londoner Sechsmächtekonferenz wurde mit der Einberung der Prager Konferenz der Außenminister von drei ehemaligen Mitgliedsstaaten der Alliierten (Polen, Tschechoslowakei und Jugoslawien) am 17.-18. Februar 1948 reagiert. Auf dieser ersten multinationalen Konferenz erhoben die drei Regierungen gegen die Bildung eines deutschen Sonderstaates Einspruch. Dieser könnte die europäischen Sicherheit und die Viermächtekontrolle Deutschlands unterhöhlen. Beim Kommentar der Prager Tagung der Außenminister tauchte ein neues Moment auf: Die von der SED geführte antifaschistisch-demokratische Bewegung begann, eine partnerschaftliehe Anerkennung zu finden. Durch die Spaltung des einheitlichen 41•

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deutschen Wirtschaftsraumes wurde die Rolle der SED, die als füllrende Macht Ostdeutschlands betrachtet werden konnte, aufgewertet. Otto Grotewohl und Max Fechner nahmen an einer internationalen Tagung zuerst auf dem Kongreß der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei (MSZDP) im März 1948 teil. Dieser Kongreß galt als letzte Vorbereitung, die zwei Arbeiterparteien Ungarns zu vereinigen. Ihre Kontaktaufnahme wurde durch die hochgradige Ähnlichkeit des ideologisch-politischen Überzeugung der beiden Parteien erleichtert, und es gab zwischen ihnen keine nationalen Mißtöne. Im Juni 1948 statteten Otto Gratewohl und Wilhelm Pieck Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und wieder Ungarn einen Besuch ab. Die Aufnahme der Beziehungen deutete eine neue Epoche an, in der die SED anfing, die Funktionen einer für die Staatsgewalt verantwortlichen Partei zu übernehmen. Außer der internationalen Orientierung dienten die Reisen zum Organisieren der gegenseitigen Wirtschaftshilfe. Die SED schloß mit allen erwähnten Ländern einen Handelsvertrag ab. Für Ostdeutschland war die Sicherung der polnischen Kohleneinfuhr außerordentlich wichtig: Auf Grund des im März 1948 abgeschlossenen Handelsvertrag gemäß vergrößerten sich die Kohlenlieferungen nach Sachsen 1948 um das Achtfache. In der letzten Phase der Teilung Deutschlands wurden die wirtschaftlichen Beziehungen Ostdeutschlands zur Sowjetunion und zu den Ländern Mittel- und Südosteuropas rasch ausgebaut. Ostdeutschland schloß sich aber komplizierter und langsamer an die Staatengemeinschaft an, als die anderen volksdemokratischen Länder. Trotz der Besatzungszonen und der dann erfolgten staatlichen Teilung blieb die Einheit Deutschlands bis Anfang der 1960er in der politischen Propaganda auf der Tagesordnung, und sie bremste die ostdeutsche Integration. Selbst das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den volksdemokratischen Ländern bzw. des Bündnissystems war im Bewußtsein der Bürger der DDR nicht eindeutig. Deswegen begann die SED, die Richtlinien der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und mit den volksdemokratischen Ländern auszuarbeiten und zu verwirklichen. Vorbild wurde immer mehr die Sowjetunion. Der erste außenpolitischen Auftritt der in der Staatengemeinschaft zusammengeschlossenen volksdemokratischen Länder fand auf der Warschauer Konferenz der Außenminister statt, wo sie gegen die Integration der Westzonen Deutschlands gemeinsam Einspruch erhoben. Gleichzeitig begann man, Ostdeutschland als eine Alternative zum Marshallplan in den sich immer eindeutiger gestaltenden wirtschaftlichen Ostblock stufenweise einzubeziehen. Auf Initiative sowjetischen Vertreter in den demokratischen Weltorganisationen wurden die Gewerkschaften in den Weltgewerkschaftsbund, der Demokratische Frauenbund in den Internationalen Demokratischen Frauenbund und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) in den Demokratischen Weltjugendbund aufgenommen. Diese Schritte trugen zur Milderung des Deutschenhasses und zur Aufhebung der internationalen Isolierung Deutschlands beträchtlich bei.

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Die SED startete einen außerordentlich schwierigen, stufenweisen Umerziehungsprozeß in bezug auf die Oder-Neiße-Grenze, der besonders von der polnischen öffentlichen Meinung wegen der deutschen Wiedergutmachungen, der Grenzfrage und der Vertreibung der Deutschen mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Im April 1948 wurden Erleichterungen für die am Wiederaufbau des Landes arbeitenden deutschen Gefangenen von der polnischen Seite angekündigt. Die Lager erhielten Selbstverwaltung, und eine politische Arbeit nahm seinen Anfang. Der Besuch der polnischen und tschechoslowakischen Delegationen auf der ersten Parteikonferenz der SED wies darauf hin, daß große Veränderungen in Bewegung gesetzt wurden. Mit der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR verbesserten sich die strategischen Positionen der Sowjetunion und der volksdemokratischen Länder. Die ersten Schritte dieser Länder richteten sich auf die politische Stärkung der DDR und auf die Normalisierung ihrer außenpolitischen Stellung. Bis April 1950 wurde die DDR durch alle volksdemokratischen Länder Europas und Asiens anerkannt. Im Juni 1950 gab die DDR dazu die Anregung, ihre Beziehungen zu Polen und zur Tschechoslowakei zu bereinigen. Am 6. Juli 1950 unterzeichnete sie einen Vertrag über die Oder-Neiße-Grenze in Warschau, in dem die DDR diese Linie als westliche Staatsgrenze Polens anerkannte. Die am 21. Juni 1950 in Prag unterzeichnete Erklärung deklarierte, daß die beiden Staaten gegenüber dem anderen keinerlei Anspruch auf Grenzberichtigungen und auf Gebietsabtretung haben, und ,.die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakischen Republik unabänderlich rechtmäßig und endgültig gelöst ist". Die Regierung der DDR erklärte dieses auch Ungarn, Rumänien und Bulgarien gegenüber in völkerrechtlich verbindlicher Form, daß ,.sie sich von allen agressiven Forderungen und Ansprüchen des deutschen Imperialismus abgegrenzt hat". Im August 1950 genehmigten die acht vertretenen Länder das Anliegen der DDR auf Aufnahme in den seit Januar 1949 bestehenden Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Das bedeutete die Stärkung der politischen Gleichberechtigung, so daß die Regierung der DDR als vollberechtigtes Mitglied auf die am 20.-21. Oktober 1950 in Prag veranstaltete Konferenz der Außenminister der volksdemokratischen Länder eingeladen wurde.

II. Das System der zwischenstaatlichen und zwischenparteilichen Beziehungen den Volksdemokratien in der stalinistischen Epoche Das System der zwischenstaatlichen und zwischenparteilichen Beziehungen der Volksdemokratien wurde duch die bis zum Äußersten betriebene dominante Rolle der politischen Rolle der UdSSR charakterisiert. In diesem politischen System wurden die kommunistischen Parteien in den Mittelpunkt gestellt. Wegen der ausschließlichen Machtstellung der Partei gab es keine Möglichkleit, eine eigenstän-

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dige politische Partei außer der KP zu organisieren. Diese Tatsache beruhte auf den Interessen der sowjetischen Vormundschaft. Die institutionelle und ideologische Einheitlichkeit setzte die unbedingte Annahme des sowjetischen Modells und der sowjetischen Führungsrolle voraus. Stalin wollte ausschließlich die Macht und den weltpolitischen Einfluß der Sowjetunion stärken, und er verlangte von den Volksdemokratien strenge Disziplin. Das Monopol der Beurteilung der jeweiligen Weltlage kam innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft der Partei und der Regierung der Sowjetunion zu. In diesem Verhältnis sorgten verfeinerte Mechanismen dafür, daß Stalin ohne besondere Anstrengungen in der Ausführung seiner Befehle sicher sein konnte. Die formalen Kontakte zwischen der Sowjetunion und den Volksdemokratien beruhten auf dem bilateralen Vertragssystem. Nach Meinung Stalins wurden die Beziehungen zwischen den Kleinstaaten nicht gebraucht; Moskau mußte zum einzigen Zentrum der Kommunikation werden. Aus dem Stil Stalins ergab es sich, daß die diplomatische Tätigkeit, die traditionelle Form der außenpolitischen Beziehungen, nur eine begleitende Rolle haben konnte. Wenn wir von den sowjetischen Botschaftern mit der Rolle eines "Statthalters" in den einzelnen verbündeten Staaten absehen, dann sehen wir, daß es zwischen den Außenministerien nur spärliche Kontakte gab. Die Person Stalin bedeutete den wichtigsten informellen Kontrollmechanismus im System der zwischenstaatlichen und zwischenparteilichen Beziehungen. Aus seiner Herrschaftspraxis und seinen Vorstellungen hervorgehend, wurden die Beziehungen durch den maßlosen Personenkult gekennzeichnet. All dies bewog die Führungskräfte der Volksdemokratien dazu, daß sie die möglichen Wünsche und Befehle Stalins in ihre Entscheidungen umsetzten. Die Einheit und das Prestige des sozialistischen Lagers, der ganzen kommunistischen Weltbewegung waren untrennbar mit dem persöhnlichen Ansehen Stalins verbunden. In der Stalinschen Praxis der unmittelbaren Konsultationen vermittelten diese persönlichen Treffen wichtige Entscheidungen. Auch durch die enge Zusammenarbeit der Ministerien für Staatssicherheit wurde die monolitische Einheit gesichert. Die Rolle des ungarischen Außenministeriums wurde vom Herbst 1947 bis Frühjahr 1989 auf die Ausführung der jeweiligen Parteientscheidungen vereinfacht, und diese widerspiegelten treu die außenpolitische Richtlinie Moskaus. Der politische Wille der Sowjetunion wurde vom Generalsekretär der Partei übermittelt. Die Sowjetunion stützte sich auf einen engen Kreis der kommunistischen Führungskräfte. Die ungarische Außenpolitik gab schon im Sommer 1947 die Vertretung der nationalen Interessen und den Schutz der in den Nachbarländern lebenden Ungarn auf. Die Ost-West-Teilung im Kalten Krieg und die ungarische "Bastei"Rolle in der Politik des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) gegen Jugoslawien verringerten das Maß der ungarischen Selbständigkeit auf das Niveau eines sowjetischen Mitgliedstaates. Die Sowjetunion integrierte Ungarn in die äußere Schutzzone, die ungarische Diplomatie löste sich in der internationalen Tätigkeit der sowjetischen Partei auf. Die Gestaltung der Außen- und Innenpolitik der ungarischen "Volksdemokratie" wurde ein Teil der internationalen kommu-

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nistischen Bewegung. Ungarn konnte diese Lage erst viele Jahre später infolge der Veränderung der internationalen politischen Umstände ändern. Die Führung der DDR konnte- abgesehen von den ersten Jahren nach der Gründung - bei innenpolitischen Entscheidungen weitestgehend autonom agieren, wenn auch Einfluß über sowjetischer Berater und die sowjetische Botschaft oder in direkten beiderseitigen Verhandlungen genommen wurde. Die Sowjetunion griff mit spektakulären Aktionen in innenpolitische Vorgänge in der DDR ein. In außenpolitischen Fragen wurde die sowjetische Hegemonie regelmäßig von der DDRFührung vertraglich bzw. in Absprachen anerkannt. Die "Freundschaft zur Sowjetunion" bildete eines der konstituierenden Grundprinzipien der DDR-Außenpolitik, und die Sowjetunion spielte auch bei den deutsch-deutschen Beziehungen eine entscheidende Rolle.

111. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und der DDR (1949-1985) Vor dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland der größte und bedeutendste Außenhandelspartner Ungarns. 1938 fand 28% der ungarischen Ausfuhr einen Markt in Deutschland, 2% der deutschen Einfuhr stammte aus Ungarn. Der Stromimport Deutschlands aus Ungarn erreichte 20%. Der Warenverkehr zwischen Ungarn und der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands startete gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges; die erste Vereinbarung über den Waren- und die Zahlungsverkehr kam 1949 zustande. Die Zusammenarbeit war bis zum Bestehen der DDR für die beiden Länder wichtig, und die Intensität des Außenhandels der beiden Länder pro Einwohner war sehr hoch. In bezug auf die Größe des Umsatzes rangierte Ungarn auf dem fünften Platz unter den Außenhandelspartnern der DDR, demgegenüber war die DDR der drittwichtigste Partner der ungarischen Wirtschaft. Mitte der l980er machte der ungarische Export 4,9% des Imports der DDR aus, und der Export der DDR verringerte sich auf 6,4% des ungarischen Imports. Der Außenhandel zwischen der DDR und Ungarn besaß Komplementärcharakter, der vor allem in den verschiedenen natürlichen Voraussetzungen wurzelte. In beiden Länder gibt verschiedene Bodenschätze, sie haben verschiedene klimatischen Verhältnisse, die verschiedenen Möglichkeiten für die Landwirtschaft schaffen. In der DDR waren die Braunkohlen- (und das von ihr erzeugte Brikett) und die Kalisalzvorräte (und die von ihr produzierten Düngemittel) sowie Bodenschätze für die Herstellung von Glas und Porzellan bedeutend. In Ungarn gibt es Bauxit (und durch seine Verarbeitung auch Lehmerde und Aluminium) sowie Mangan, Perlit und Kupfer. Das Klima der DDR ist zum Anbau von Futtergetreide und von Grünfutter und dadurch zur Viehzucht und zum Milchproduzieren geeignet. In Ungarn gibt es günstige Voraussetzungen für den Anbau von Weizen und Mais und für den Weinbau. Daneben spielte der verschiedene Produktionsaufbau der beiden Länder und die Spezialisierung auf verschiedene Produktionszweige innerhalb des

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Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) eine Rolle. Die Beförderungsdistanz übertraf die Entfernungen der anderen wichtigen Anschaffungs- und Verwertungsmärkte im großem Maße nicht. Die Beförderung mit Eisenbahnen wurde über die zum sozialistischen Block gehörende Tschechoslowakei abgewickelt. Mehr als die Hälfte der aus der DDR importierten Produkte konnte Ungarn aus anderen sozialistischen Ländern nicht anschaffen. Dazu gehörten die Werkzeugund Druckmaschinen, Maschinen für Gummi- und Kunststoffherstellung und bestimmte Produkte der Chemieindustrie. Außer dem durch Transfer-Rubel ausgeführten kontingentierten Handel wurden diese sog. harten Produkte durch die DDR - da ihre Ausfuhr nämlich stark beschränkt war - für konvertible Valuta gefördert. Parallel damit engte sich die Auswahl der landwirtschaftlichen Produkte Ungarns ein wegen des Ankaufs der landwirtschaftlichen Produktion der DDR sowie wegen des immer stärkenden sozialistischen Angebotes, aber Ungarn konnte weiterhin einige Produkte für westliche Währung anbieten. In dem ausgeglichenen, beiderseitigen Umsätzen der 1950er Jahre spielten die in die DDR beförderten landwirtschaftlichen Produkte Ungarns eine bedeutende Rolle; am Ende dieses Jahrzehntes verringerte sich allerdings ihr Prozentsatz auf 32%. Gleichzeitig damit erfolgte eine günstige Verhältnisveränderung für die besser verarbeiteten Lebensmittelprodukte. 1960 erreichte das Verhältnis der Investitions- und Dauerverbrauchsartikel in der ungarischen Ausfuhr 30%. Der ungarische Rohstoffexport (Bauxit, Lehmerde, Aluminium) erreichte 15%. Die Hälfte der Ausfuhr der DDR nach Ungarn stand bis zum Ende aus Maschinen und Industrieeinrichtungen: 30% des ungarischen Werkzeugmaschinenexports, die Maschinen für Leicht- und Lebensmittelindustrie und für die Landwirtschaft stammten aus der DDR. Die anderen wichtigen Warengruppen des Imports waren Grund- und Rohstoffe, die bedeutendsten Güter bildeten Braunkohlenbrikett, Kalisalz und bestimmte Artikel der Chemieindustrie. Die DDR betonte in den 1960er Jahren die Unvereinbarkeit des nationalen Interesses mit den tiefliegenden Kooperationsformen, deshalb beschränkte sich ihre Zusammenarbeit ausschließlich auf das primitive Harmonisieren der Reproduktionsprozesse. Gleichzeitig - dank vor allem des Zuwachses der Investitionen - erweiterte sich der Außenhandel zwischen den beiden Ländern besonders in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes. Von 1965 bis 1970 übertraf die Dynamik des Umsatzes in den beiden Ländern den Zuwachs des Umsatzes im Außenhandel, in bezug auf den laufenden Preis verdoppelte er sich. In der Struktur der ungarischen Ausfuhr trat keine wesentliche Umordnung ein. Trotz der Bestrebungen der DDR wuchs die Ausfuhr der Produkte der ungarischen Maschinenindustrie einigermaßen, und am Ende des Jahrzehntes erreichte sie 43,5%. Parallel damit verringerte sich die Ausfuhr der landwirtschaftlichen Produkte, wohingegen der Austausch von Verbrauchsartikeln bedeutend sank, mit einem Tiefpunkt von 1970 mit 4,3%.

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Auch im Aufbau des ungarischen Imports passierte keine wesentliche strukturelle Veränderung. Der Maschinenimport aus der DDR erreichte innerhalb des Warenverkehrs 55,4%, und es hing in großem Maße mit den großen Investitionen, die den Auftakt des neuen ungarischen Wirtschaftsmechanismus bildeten, zusammen. Die Rohstoffeinfuhr nach Ungarn verringerte sich kaum, aber der Import von Verbrauchsartikeln erreichte 1970 mit 15,3% das niedrigste Niveau dieser Periode. Der dynamische Warenverkehr in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und die verhältnismäßig stabile Preisstruktur machten es möglich, die ungarischen Ansprüche auf einem akzeptablen Niveau zu befriedigen. Der Zuwachs innerhalb der Maschinenbeförderung kann durch die zwischen den beiden Ländern langsam entfaltenden Spezialisierungsvereinbarungen erklärt werden. In dieser Periode der Zusammenarbeit wurde der Warenverkehr durch ungarische Passiva bis ans Ende gekennzeichnet. Dieses wurde aber durch die außer dem Warenverkehr stehenden Dienstleistungen (Touristik, Transit) ausgeglichen. Alldies charakterisierte den Außenhandel der beiden Länder. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erreichte die Dynamik der Handelsbeziehungen zwischen Ungarn und der DDR die Dynamik der vorhergehenden fünf Jahre . Die Jahresfluktuation des Warenverkehrs, die zu Spannungen in den Handelsbeziehungen führte, war das negative Ergebnis des lnvestitionswellentals, das den Veränderungen der Wirtschaftspolitik nachging. Wegen des "Investitionsstopps", der nach der Einstellung der neuen ungarischen Wirtschaftsführung auftrat, ging der Import von Maschinen und Einrichtungen 1972, aber besonders 1973 im bedeutenden Maße zurück, während die ungarische Wirtschaft ihre Exportverpflichtungen erfüllte. Dies führte zu einem Überschuß in der Zahlungsbilanz für die ungarische Seite, der durch die ungarische kooperative Zusammenarbeit in bezug auf landwirtschaftliche Maschinen weiter erhöht wurde. Aber die DDR steigerte 1974-1975 bedeutend ihre Lieferungen, und Mitte des Jahrzehntes wurde die Zahlungsbilanz der beiden Länder ausgeglichen. Für die Stabilität der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ungarn und der DDR war verantwortlich, daß 75-80% des Warenverkehrs aus sog. traditionellen Produkten bestand. Aber die Steigerung der Lieferungen wurde durch die Fülle des Bedarfs bzw. durch die Quantität des zur Verfügung stehenden Warenfonds begrenzt. Von 1976 bis 1980 wurden die grundsätzlichen Lieferungssolls erfüllt. Im Aufbau des ungarischen Exports ereignete sich keine bedeutende Umschichtung. Aber es ist bemerkenswert, daß die ungarischen Grundstoff- und Einzelteilelieferungen mit etwa 8-9% zunahmen, solange sich der Prozentsatz von Maschinen und Einrichtungen in gleichem Maße verringerte. Die Änderung des Prozentsatzes der landwirtschaftlichen Produkte und der Verbrauchsartikel schwankte um 2-3%, und seine Zusammensetzung zeigte keine wesentlichen Änderungen. Die Struktur des Exports der DDR zeigte noch größere Stabilität. Im Grunde genommen ereignete sich der größte Wandel in der Warenstruktur der beiden Länder

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auf Kosten der Maschinen und Maschineneinrichtungen. Das hatte mit dem Zuwachs des Nationaleinkommens der beiden Länder einen Zusammenhang. Im Warenverkehr spielte der Außenhandel mit Maschinen die wichtigste Rolle, dessen größte Gruppe aus den durch Spzialisierungszusammenarbeit und Kooperation hergestellten Fahrzeugen bestand. Durch das Vertiefen des kooperativen landwirtschaftlichen Maschinenbaus wurde aber auch der Handel mit landwirtschaftlichen Maschinen wichtig. In diesen zwei Produktgruppen wurde mehr als die Hälfte des Warenverkehrs der Maschinenindustrie realisiert. Einen großen Prozentsatz nahmen auch die für einander gelieferten kompletten Anlagen und Einrichtungen. Der Voranschlag des Warenverkehrs, der für die erste Hälfte der 1980er Jahre im Plankoordinierungsprotokoll unterzeichnet wurde, machte zu Preisen des Jahres 1980 7,4 Milliarde Rubel aus, davon war der ungarische Import 3,8 Milliarde, der ungarische Export 3,6 Milliarde Rubel. Die weltwirtschaftliehen Änderungen der 1980er Jahre (das Wachstumstempo der Volkswirtschaft der beiden Länder verringerten sich, sie orientierten sich im stärkeren Maße zu anderen Märkten, die internationalen Konstellationen wurden schwieriger) ließ auch die Beziehungen zwischen Ungarn und der DDR nicht unberührt, und die dynamische Entwicklung ging wie der Zuwachs weit hinter der vorangehenden Planperiode zurück. Der Außenhandelsvertrag der Jahre 1981-1985 ging nicht in Erfüllung, und er blieb mit 7% hinter dem geplanten. Für die ungarische Seite bedeutete es eine ungünstige Veränderung, daß die DDR ihren Kauf von Autobussen, Maschinen für Lebensmittelindustrie, Geräte, frisches und verarbeitetes Obst in starkem Maße verringerte. Gleichzeitig wuchs der Anspruch von der ungarischen Seite - vor allem wegen der eingeengten Einfuhrmöglichkeiten aus den entwickelten Industrieländern - in großem Maße für die bestimmten Produkte des Maschinenbaus der DDR. Der wirkliche Umsatz blieb nach und nach hinter den festgesteilen Kontingenten zurück In der bilateralen Zusammenarbeit bedeuteten die Zahlungsverpflichtungen der beiden Länder den entwickelten Industrieländern gegenüber und auch der konvertible Exportzwang oft ein Problem. In den gegenseitigen Beziehungen bevorugte die DDR in vielen Fällen die ungarischen Maschinenindustrie wegen ihres technischen und beruflichen Wissens gegenüber anderen sozialistischen Partnern. Trotzdem kam es auch vor, daß die beiden Länder im Falle der Veränderung ihrer Interessen - in diesem Sinn ging die DDR etwas voran - ihre marktgängigen Exportprodukte in guter Qualität nach ihren aktuellen Interessen auf dem Markt umgruppierten. Außerdem strebte die DDR in der Praxis der bilateralen Beziehungen konsequent nach der Anerkennung ihres technischen Niveaus; gleichzeitig nutzte die ungarische Seite - darunter vor allem die Maschinenindustrie - in geeigneter Weise die Vorteile, die sich aus dem höher entwickelten technischen Niveau der DDR ergaben. Nach den stockenden Verträgen über Herstellungsspezialisierung und Produktion der beiden Länder wurden moderne Waren und Produkte von

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höherem technischen Niveau im allgemeinen hergestellt, aber wegen der Verlangsamung der Entwicklung und des Mangels der weitreichenden Anwendung der modernen Technologie erreichten diese Produkte das Niveau des Welthandels nicht. Gleichzeitigt muß erwähnt werden, daß die ungarische Seite nur in beschränktem Maße Verknüpfungsmöglichkeiten zu dem in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in der DDR begonnenen kraftvollen Strukturwandel (Mikroelektronik, Robottechnik bzw. Programm von Materialersparnis) suchte. Keine bedeutenden Vorschritte wurden auf dem Bereich der Spezialisierungsund Herstellungskooperationen, die zu engeren wirtschaftlichen Kontakten zwischen den beiden Ländern hätten führen können, gemacht. Diese Kooperation wurde seitens der DDR durch die strenge Kontrolle der Wirtschaftsführung der Betriebe, seitens Ungarns durch die erstarkende Geltendmachung der Selbständigkeit der Unternehmen und der Verantwortlichkeit der Wirtschaftsführung begrenzt. So gelang es am wenigsten, auf dem für die beiden Länder wichtigsten Gebiet, also auf dem Gebiet der Maschinenindustrie, den Komplementärcharakter der wirtschaftlichen Beziehungen sich zu entfalten, die Parallelen verringerten in bedeutendem Maße die Möglichkeit der Zusammenarbeit. Mittlerweile vervierfachte sich das Volumen des Außenhandelsverkehrs zwischen Ungarn und der BRD von 1970 bis 1981 , ihre Größe wuchs von 1 Milliarde auf 4,6 Milliarde DM. Die Dynamik des Warenverkehrs war stärker im Export der BRD, der Import aus Ungarn war weniger dynamisch. Ungarn bedeutete im Gesamtexport der BRD 1970 0,42%, 1981 0,67%, im Gesamtimport der BRD erreichte Ungarn in denselben Jahren 0,48 bzw. 0,53%. Nach einer vorübergehenden Diskontinuität bzw. nach einer niedrigeren Intensität und stärkeren Jahresschwankungen entfalteten sich die Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD in stärkerem Maße. In den 1980er Jahren wurde die BRD gleich nach der Sowjetunion der zweitgrößte, die DDR der drittgrößte Handelspartner Ungarns, und diese machten zusammen 16-17% des ungarischen Außenhandels aus. Außerdem bedeutete die ungarische Ausfuhr in die zwei deutschen Staaten 10% des Nationaleinkommens Ungarns gegenüber dem 3% vor dem zweiten Weltkrieg. Historisch gesehen, wurzeln die Kultur, die Anschauung der technischen Intelligenz, der Führung der Industrie und der Facharbeiter Ungarns in unglaublich großem Maße in der deutschen Kultur. Innerhalb der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bedeutete diese Beziehung vor dem Ersten Weltkrieg für die ungarische Industrie eine überdurchschnittliche Entwicklung und verringerte den Rückstand hinter der vordersten Linie Europas. In der Zwischenkriegszeit nahm die ungarische Industrieführung wegen der intensiven Beziehungen zu Deutschland von der neuen Art der Organisierung der Technologie und der Industrie in den USA kaum oder keine Kenntnis, alldies führte zum Rückstand Ungrans. In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die politischen Voraussetzungen für die Entwicklung der Beziehungen zwischen Ungarn und der BRD ungünstig waren, bedeuteten trotzdem die technologische Basis und die historischen Wurzeln

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der technischen Intelligenz eigenartig den wichtigsten Stützpfeiler der Kontinuität der Beziehungen. Zwar waren die Generationen der ungarischen Fachmänner nach dem Zweiten Weltkrieg in bedauerlich geringem Maße der Zusammenarbeit mit den deutschsprachigen Ländern kundig, trotzdem kann behauptet werden, daß die ungarische Arbeitskraft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre von der DDR, von den 1980em von den Ländern der OECD vor allem in der BRD in größerem Maße Arbeit annahm. Literatur DDR-Handbuch. Bd. 1-2. Hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Köln 1985.

Fülöp, Mihlily I Sipos, Peter: Magyarorszag külpolitikaja a 20. szazadban. Aula, Budapest 1998. Judt, Mattbias (Hrsg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998. Ktidar, Beta: Magyarorszag gazdasagi kapcsolatai az NDK-va1 es az NSZK-val. In.: Kü1politika, 1986/1. S. 18-33. Ralovics, Peter: Magyarorszag es az NDK gazdasagi kapcsolatai. In.: Tervgazdasagi Forum, 1986/3. S. 125-131.

Ruf!, Mihaly: A magyar nagykövetseg jetentesei az 1961. evi berlini valsagr61. A berlini fal felepitese. In.: Multunk, 1997/4. s. 164-238. Seeber, Eva: Zu den Beziehungen zwischen der DDR und den europäischen volksdemokratischen Staaten bis 1950. In.: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1973/2. S. 141-164.

Die Häher-Gespräche Zur Herstellung der Kontakte des SED-Deutschlandpolitikers Herbert Häher zu Regierungs- und Oppositionskreisen der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Von Detlef Nakath

Die Geschichte der Deutschlandpolitik der SED bzw. der DDR sowie die Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen in der Ära Honecker war in den letzten Jahren Gegenstand verschiedenen wissenschaftlicher Untersuchungen bzw. von Dokumentenpublikationen. 1 Außerdem publizierten Politiker und Insider Erinnerungen über ihre Sicht und ihre Aktivitäten auf dem komplzierten Gebiet des innerdeutschen Verhältnisses. 2 Auch sowjetische Politiker, deren Wirken in unmittelbarem Zusammenhang mit der Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten stand, haben sich zu ihren damaligen Aktivitäten geäußert. 3 I Vgl. Peter Bender: Die "Neue Ostpolitk" und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung, München 1995; Karl-Rudolf Korte/DetlefNakath: Deutschlandpolitik. In: Die SED. Geschichte-Organisation-Politik, Ein Handbuch, hrsg. v. Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan!Jürgen Wink/er, Berlin 1997, S. 305ff.; Detlej Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan: Von Hubertosstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995; dieselben: Countdown zur deutschen Einheit. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen 1987- 1990, Berlin 1996; Heinrich Potthoff: Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995; derselbe: Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle, Darstellung und Dokumente, Bonn 1997; Andreas Vogtmeier: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozial-demokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996. 2 Vgl. Hermann Axen: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert, Berlin 19%; Egon Bahr: Zu meiner Zeit. München 19%; Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen. Berlin 1995; Detlej Nakath (Hrsg.): Deutschlandpolitiker der DDR erinnern sich. Berlin 1996; Jürgen Nitz: Länderspiel. Ein Insider-Report, Berlin 1995; Egon Winkelmann: Moskau, das war's. Erinnerungen des DDR-Botschafters in der Sowjetunion 1981 bis 1987, Berlin 1997; Brigitte Zimmermann!Hans-Dieter Schütt: OhnMacht. DDRFunktionäre sagen aus, Berlin 1992. 3 Valemin Falin: Politische Erinnerungen. München 1993; Wjatscheslaw Keworkow: Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Berlin 1995; Julij A. Kwizinskij: Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993; vgl. außerdem: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Die Häber-Protokolle. Schlaglichtger der SED-"Westpolitik" 1973 bis 1985, Berlin 1999.

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Detlef Nakath

Herbert Häher, langjähriger Leiter der Westabteilung des SED-Zentralkomitees und 1984/85 kurzfristiges Politbüromitg1ied, hat lange gezögert bis er sich in der Öffentlichkeit zu seiner früheren Tätigkeit als Beauftragter Honekkers für die politischen Beziehungen der SED zu den Parteien in der Bundesrepublik äußerte. 1997 erschienen mehrere umfangreiche Interviews, in denen Häher unter anderem die SED-Konzeption für die Gestaltung der Deutschlandpolitik sowie den Inhalt seiner nahezu zweihundert Gespräche mit bundesdeutschen Politikern aus heutiger Sicht reflektierte. 4 In verschiedenen Beständen der "Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv" sind mehr als sechzig Gesprächsvermerke bzw. Niederschriften aus der Amtszeit Herbert Hähers als Abteilungsleiter bzw. Politibüromitglied überliefert. Diese Dokumente befinden sich allerdings nicht in einem geschlossenen "Büro-Bestand" wie bei anderen SED-Politikern üblich, sondern mußten aus verschiedenen Beständen recherchiert werden. Dazu zählen die Überlieferungen des ,,Büro Honecker", des "Büro Axen", des "Büro Verner", des "Büro Mittag" sowie Hähers eigener Abteilung, der "Westabteilung" des SEDZentralkomitees. Die Westabteilung des SED-Zentralkomitees ist aufgrund eines Beschlusses des SED-Zentralsekretariates auf der Sitzung am 31. August 1948 gebildet worden.5 Sie hatte zunächst vor allem die Aufgabe, die Parteibeziehungen der SED zur KPD zu koordinieren bzw. nach deren Verbot aus der DDR operativ zu leiten. Unter den Bezeichnungen "Arbeitsbüro", "Abteilung 62" und "Abteilung 70" wirkte sie auch in den sechziger Jahren im wesentlichen als Anleitungsinstitution für die illegale KPD sowie die 1968 gebildete DKP. Später erhielt die Westabteilung den offiziellen Namen "Abteilung internationale Politik und Wirtschaft". 6 Herbert Häher begann nach seinem Amtsantritt als Abteilungsleiter Ende 1973 damit, die Struktur, Tätigkeit und politische Ausrichtung der "Westabteilung" grundlegend zu reformieren. Nach seinen Vorstellungen sollte die Westabteilung und ihr Abteilungsleiter zukünftig vor allem politisch agieren und sein Tätigkeitsgebiet auf die im Bundestag vertretenen Parteien erweitern. Die Situation der DDR hatte sich Anfang der siebziger Jahre erheblich gewandelt. Nachdem sich in Erfurt und Kassel im Frühjahr 1970 erstmals die beiden 4 Der Spiegel, 22/1997; Berliner Zeitung, 14./15. Juni 1997; Der Tagesspiegel, 2. Oktober 1997. s Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.1/226. Als Tagesordnungspunkt 26 weist das Sitzungsprotokoll die Bildung einer Westabteilung beim Zentralsekretariat der SED aus. 6 Als Abteilungsleiter fungienen Alfred Zeidler (1948/49), Richard Stahlmann (1949 52), Paul Vemer (1953-59), Arne Rehan (1959-63), Heinz Geggel (1963-73), Herben Häber (1973-85) und Gunter Rettner (1985-89). Vgl. Die SED. Geschichte-OrganisationPolitik, Ein Handbuch, S. 883 f. Zu den politischen Aktivitäten der Westabteilung des SEDZentralkomitees in den sechziger Jahren vgl. Jochen Staadt: Die geheime Westpolitik der SED 1960 bis 1970. Von der gesamtdeutschen Orientierung zur sozialistischen Nation, Berlin 1993.

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deutschen Regierungschefs zu Gipfelbegegnungen trafen7 , begannen nach Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtsabkommens vom 12. August 1970 Ende November 1970 deutsch-deutsche Sachgespräche über Fragen des Verkehrs und des Transits. Das Viermächteabkommen vom 3. September 1971 ebnete den Weg zum Transitabkommen vom 17. Dezember 1971 und dem Verkehrsvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik vom 26. Mai 1972. Höhepunkt dieser deutsch-deutschen Vertragsdiplomatie war zweifellos der am 21. Dezember 1972 in Berlin von Egon Bahr und Michael Kohl unterzeichnete Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten. Neun Monate später nahm die UNO sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR als Mitglieder auf. Die DDR war bis Ende 1973 von etwa 100 Staaten diplomatisch anerkannt worden. Honecker hatte in seinem außenpolitischen Programm des 8. SED-Parteitages unter anderem "die Aufnahme normaler Beziehungen entsprechend den Regeln des Völkerrechts auch zur BRD" gefordert.8 Dieses fünf Punkte umfassende Programm stammte aus der Feder von Herbeet Häher, der als damaliger stellvertretender Staatssekretär für westdeutsche Fragen an der Zuarbeit für das Honecker-Referat auf dem Parteitag mitgewirkt hatte. 9 Unmittelbar nach dem Parteitag übernahm der Honecker-Vertraute, Häher, die Funktion des Direktors des im Juli durch Fusion geschaffenen "Instituts für internationale Politik und Wirtschaft", um gut zwei Jahre später als ZK-Abteilungsleiter in die Deutschlandpolitik zurückzukehren. Hier wurde Häher schnell Honeckers wichtigster Mann für das komplizierte Gebiet der Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen zumal seine politischen Vorstellungen denen des SED-Chefs in der Deutschlandpolitik nahe kamen. Dazu gehörte auch eine enge Abstimmung mit den für die Deutschlandpolitik zuständigen Funktionäre in der KPdSU-Führung. Zu einer ersten wichtigen Beratung reiste Häher wenige Monate nach seinem Amtsantritt als ZK-Abteilungsleiter vom 5. bis 7. März 1974 nach Moskau, um dort mit ZK-Sekretär Boris Ponomarjow, zugleich Kandidat des Politbüros der KPdSU, sowie dem stellvertretenden Leiter der ZK-Abteilung Internationale Verbindungen, Wladim Sagladin, zu konferieren. Ponomarjow ließ sich bei dieser Gelegenheit die Position der SED zur sozialliberalen Regierung in der Bundesrepublik erläutern und vertrat die Ansicht, daß trotz aller "Passivität [ ... ] Brandt der einzige sei, der die Ostpolitik weiter betreiben könne". 10 Ponomatjow bezog sich dabei auf ein jüngst in Moskau mit 7 Vgl. DetlefNakath: Erfun und Kassel. Zu den Gesprächen zwischen dem BRD-Bundeskanzler Willy Brandt und dem DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph im Frühjahr 1970 (hefte zur ddr-geschichte, 24), Berlin 1995; ders.: Gewaltverzicht und Gleichberechtigung. Zur Parallelität der deutsch-sowjetischen Gespräche und der deutsch-deutschen Gipfeltreffen in Erfun und Kassel im Frühjahr 1970, in: Deutschland Archiv, 2/1998, S. 196 ff. s Protokoll der Verhandlungen des VIII. Paneitages der Sozialistischen Einheitspanei Deutschlands. 15. bis 19. Juni 1971 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin. Berlin 1971, Bd. 1, S. 54. 9 Vgl. Gespräch mit Herben Häber am 9. Juni 1997. IO SAPMO-BArch, DY 30/ J IV /10.02/16.

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Herbert Wehner geführtes Gespräch. Er ahnte nicht, daß Willy Brandt knapp drei Monate später wegen der Guillaume-Affäre am 6. Mai 1974 zurücktreten würde. In den Gesprächen mit Sagladin wurden die Probleme der Fortsetzung der Entspannungspolitik vertieft. Insbesondere in der .,prowestlischen Orientierung der FDP" sah man Probleme. .,Wenn Genscher Außenminister wird, könne sich die Lage verschlechtern, denn er befinde sich in der Nähe der CDU" befürchtete Sagladin. 11 Beide Politiker waren jedoch bereits im März 1974 der Ansicht, daß man auf einen denkbaren Regierungswechsel in Bonn vorbereitet sein müsse. Entscheidend für die weitere Tätigkeit Hähers war jedoch Sagladins Bemerkung über die Bonner Opposition: .,Die allgemeinen Einschätzungen der CDU seien bekannt, er wolle sie nicht wiederholen. Man müsse aber sehen, daß es auch in der CDU mehr realistisch denkende Kreise gebe, als wir das bisher zur Kenntnis genommen haben. Abgesehen von bestimmten Gesprächen, die von der Botschaft der UdSSR in Bonn mit CDU-Vertretern gelegentlich geführt würden, gäbe es keine Beziehungen und Kontakte. [ ... ] Genosse S. äußerte in diesem Zusammenhang: Hinsichtlich der CDU gäbe es bei ihnen ein ,Informationsdefizit'. Man kenne diese Partei zu wenig und auch nicht die Wege, wie man Kontakte herstellt und Einfluß nimmt." 12 Am Ende des Meinungsaustausches regte Sagladin .,weitere Konsultationsgespräche über die Situation in der BRD, insbesondere über die Lage in der SPD und in der CDU" an. 13 Für Honecker und seinen Vertrauten Herbert Häher war nach diesem Gespräch in Moskau klar, daß nunmehr der Versuch unternommen werden sollte, einen regelmäßigen Gesprächskontakt zur Bonner Oppositionspartei, der CDU, herzustellen. Dies würde das eigene Informationsbedürfnis für den Fall eines Regierungswechsels in der Bundesrepublik befriedigen und die SED-Spitze überdies gegenüber dem sowjetischen Politbüro stärken. Da man mit Vertretern der sozialliberalen Regierung offizielle Kontakte pflegte und außerdem Honecker über Rechtsanwalt Wolfgang Vogel eine inoffizielle Gesprächsebene zum SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner unterhielt, konnte Kontakte zur CDU aus SED-Sicht hilfreich sein um den Regierungsvertretern in Bonn nicht die Exklusivität in dieser Frage zu überlassen. Für die von Moskau gewollte und von der SED-Spitze nunmehr angestrebte Verbindung zur CDU-Führung kam Honecker und Häber ein Vorgang entgegen, der gerade erst wenige Monate zurücklag. Wahrend einer Veranstaltung des Instituts für Politik und Wirtschaft in Harnburg am 22./23. November 1973 hatte der CDUBundestagsabgeordnete und Bundesschatzmeister seiner Partei, Walther LeislerKiep, gegenüber dem DDR-Abgesandten Herbert Bertsch Gesprächsbereitschaft Ebenda. Ebenda. Als mögliche Gesprächspartner, denen Reisen in die Sowjetunion ermöglicht werden sollten, nannte Sagladin gegenüber Häber die CDU-Politiker Hans Katzer und Richard von Weizsäcker. 13 Ebenda. II

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signalisiert. Im Auftrage Honeckers übergab Rechtsanwalt Vogel ein am 17. Dezember 1973 datiertes fonnloses Infonnationspapier an Herbert Wehner. Darin hieß es unter Bezugnahme auf die Hamburger Veranstaltung: "Am Rande der Veranstaltung wurde der Vertreter der Interparlamentarischen Fraktion der DDR, Bertsch, von dem Schatzmeister der CDU und Bundestagsabgeordneten, LeislerKiep, angesprochen. Das Anliegen L-K. war es, den Vertreter der DDR darauf aufmerksam zu machen, daß die Opposition zu jeder Zeit bereit wäre, auch in der Hauptstadt der DDR mit kompetenten Vertretern Gespräche zu führen." 14 Honecker bat in dieser fonnlosen Botschaft an Wehner zu übennitteln, "welche Meinung er dazu hat und ob wir auf ein solches Anerbieten eingehen sollen". 15 Aus Wehners handschriftlichen Brief an Willy Brandt geht dessen sarkastische Reaktion gegenüber dem DDR-Emissär hervor. Am 22. Januar 1974 teilte er dem Bundeskanzler mit: "Ich habe auf eine entsprechende mündliche Frage kürzlich lakonisch geantwortet, daß ich doch wohl keinen ,Rat' geben könne, wie sie's mit den Leuten halten wollen, die am 10. und 17. Mai 1972 gezeigt hätten, wie sie zu beurteilen seien, daß ich mich aber nicht wundem würde, wenn sie auch dieses Spiel nicht verschmähten.'" 6 Wehner zweifelte offenbar nicht daran, daß die DDR-Führung die Möglichkeit eines Gesprächskontaktes zur CDU nutzen würde. Auf das Angebot Kieps kam man aufgrund "beiderseitigen Interesses" Anfang 1975 zurück. Am 15. Januar 1975 traf ZK-Abteilungsleiter Herbert Häber mit dem Abgesandten des Parteivorsitzenden Helmut Kohl 17 und des CDU-Generalsekretärs Kurt Biedenkopf in der Residenz des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in BerlinPankow zusammen. Im Mittelpunkt dieser Unterredung standen Fragen der Ostund Deutschlandpolitik. Kiep erklärte gegenüber Häber, "daß für die CDU die abgeschlossenen Verträge volle Gültigkeit besäßen und auch eine CDU I CSUBundesregierung sie als Grundlage für die Weiterentwicklung der Beziehungen betrachten würde". Es sollte das völkerrechtliche Grundprinzip des "pacta sunt servanda" gelten. Für Kohl und Eiedenkopf hätte laut Kiep "die Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion und zur DDR absolute Priorität vor den Beziehungen zu Peking". 18 Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Depositum Egon Bahr, 354. Ebenda. 16 Ebenda. Die schriftlich als Nonpaper an Wehner übergebene Anfrage Honeckers war dem SPD-Politiker bereits zuvor von Rechtsanwalt Vogel telefonisch durchgegeben worden. Greta Wehner notierte auf einem anliegenden Zettel zu Schreiben: "dies möchte Vogel nächstes Mal zurück haben. er (sie.) hatte es vor einer Zeit telef. durchgegeben. Er gab es noch mal zur Kenntnis wegen des CDU /CSU-Protestes zur Einladung des Bundespräs." (Ebenda.) Bei seinem Verweis auf den 10. und 17. Mai 1972 bezog sichWehnerauf die ablehnende Haltung der Union in der Ratifizierungsdebatte des Bundestages über die Verträge mit der Sowjetunion und Polen aus dem Jahre 1970. 17 Helmut Kohl ist nach dem arn 16. Mai 1973 wegen seiner gescheiterten Ostpolitik erklärten Verzicht von Rainer Barzel auf eine erneute Kandidatur arn 12. Juni 1973 zur CDUVorsitzenden gewählt worden. 14

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Unter vier Augen erfuhr Häber von K.iep, daß es bei führenden Persönlichkeiten der CDU "das große und ernsthafte Interesse" an Gesprächen mit der DDR gäbe. Er sei zu weiteren Gesprächen mit ihm bereit und wolle den Kontakt zu Häher halten. Bei einem Besuch in der Bundesrepublik würde er "gern einen Kreis prominenter CDU-Politiker zusammenrufen und eine vertrauliche Diskussion ermöglichen".19 Nach dieser ersten Begegnung zwischen ZK-Abteilungsleiter Häber und dem CDU-Präsidiumsmitglied K.iep folgten bis 1985 etwa 20 weitere zumeist interne Gespräche zwischen beiden Politikern. Zunächst jedoch reiste der CDU-Schatzmeister nach Moskau, um dort mit dem für die internationalen Verbindungen der KPdSU zuständigen Abteilungsleiter Wladim Sagladin zu konferieren. Über diese Unterredung liegt eine Gesprächsniederschrift vor, die in den Akten der "Sonderablage Stoph" des Bestandes des DDR-Ministerrates aufgefunden worden ist. Die Niederschrift ist der DDR-Führung von der sowjetischen Botschaft in Berlin zur Information übergeben worden. Honecker leitete sie an seine zuständigen Mitarbeiter weiter. Auch in diesem für die sowjetische Haltung gegenüber der Bonner Opposition wichtigen Begegnung am 6. Februar 1975 in Moskau wiederholte K.iep seine bereits in Berlin geäußerte Haltung zu ostpolitischen Vorstellungen der Union: "Die CDU I CSU würde, wenn sie an die Macht komme, die Angelegenheiten mit der Sowjetunion und deren Verbündeten auf der bereits vorhandenen Grundlage weiterführen, nur bedeutend besser, wirksamer als die Sozialdemokraten, insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen. Die CDU I CSU würde die geschlossenen Abkommen anerkennen und beabsichtige nicht, von den erzielten Vereinbarungen Abstand zu nehmen." 20 K.iep fuhr laut sowjetischem Gesprächsvermerk fort: "Hätte die CDU I CSU 1969 die Bundestagswahlen gewonnen, dann wäre gerade sie zum politischen Träger des Entspannungsgedankens geworden, sie hätte die Verträge mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern geschlossen. Dabei [ ... ] hätten wir das besser gemacht als die Sozialdemokraten."21 Auf sein drei Wochen zurückliegendes Gespräch mit Häher ging K.iep auch gegenüber Sagladin ein und vermerkte, daß darüber in der Presse zahlreiche Spekulationen angestellt worden seien. Seinem sowjetischen Gesprächspartner sagte K.iep, er habe in der DDR ,,klarzumachen versucht, daß die CDU I CSU kein schlechter Partner für die DDR sein werde". Er fügte hinzu: "Die Sozialdemokraten seien, 18 SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/10.02/19. Außerdem: SAPMO-BArch, DY 30/42 170. Kiep sah sich offenbar zu dieser Mitteilung veranlaßt, um eventuellen Irritationen in Moskau und Berlin wegen des China-Besuchs Kohls entgegenzuwirken. Kohl habe laut Kiep die Absicht gehabt zuerst nach Moskau zu reisen, erhielt jedoch zunächst keine Einladung. 19 Ebenda. 2o BArch Berlin, DA 5, 2310. 21 Ebenda.

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um offen zu sprechen, in vieler Hinsicht unbequem für die DDR. Sie seien ideologisch gefährlich. Die CDU I CSU jedoch werde für die DDR zwar der ,Prügelknabe' in ideologischpropagandistischer Hinsicht sein, aber in den praktischen Angelegenheiten ein ernst zunehmender Partner. Auf jeden Fall habe er aus seinen Gesprächen in Berlin den Eindruck gewonnen, daß die Führung der DDR nicht abgeneigt sei, mit der CDU/CSU zu tun zu haben."22 K.ieps Eindruck trog nicht, wie seine weiteren Gespräche mit Herbert Häber und anderen SED-Politikern zeigen sollten. Der von SED und KPdSU gewünschte Kontakt zur CDU in der Bundesrepublik war dank des Interesses aller beteiligten hergestellt. Das Interesse der Parteiführung der CDU im Konrad-Adenauer-Haus an solchen inoffiziellen Gespräche hatte der Schatzmeister der Partei bereits gegenüber seinen Gesprächspartnern deutlich gemacht. Sowohl in Ost-Berlin als auch in Moskau legte er im Gegensatz zu anders lautenden Medienberichten Wert auf die Feststellung, daß seine Reisen keineswegs privater Natur gewesen seien sondern im Auftrage des Parteivorsitzenden Helmut Kohl sowie des CDU-Generalsekretärs Kurt Siedenkopf erfolgten. Herbert Häber war zunächst ftir Walther Leisler-Kiep sowie später für zahlreiche namhafte Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien ein wichtiger und geschätzter Gesprächspartner. Den Politikern aus dem Westen war selbstverständlich bekannt, daß Häber als ZK-Abteilungsleiter keineswegs in untergeordnetem Auftrage agierte, sondern seine Direktiven zumeist direkt von SED-Chef Erich Honecker erhielt bzw. sie von ihm bestätigen ließ. Dieser hatte spätestens seit seinem überraschenden Gespräch mit Herbert Wehner am 31. Mai 1973 im Jagdschloß Hubertusstock am Werbellinsee 23 die Deutschlandpolitik der SED zur Chefsache erklärt und sah Häber als seinen Mann für die politischen Kontakte zu den Bonner Parteien, vor allem aber zur CDU, an. 24 Neben Häber agierten im Auftrage des SED-Chefs vor allem seit Ende der siebzigerJahreder Chef der "Kommerziellen Koordinierung", Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski in wirtschaftlichen und finanziellen Kontakten in die Bundesrepublik. Schalck wirkte zwar im Auftrage Honeckers, war jedoch über die im April 1974 gebildete "Arbeitsgruppe des Politbüros" für die Beziehungen zur BRD auch Politbüromitglied Güter Mittag und überdies dem MfS-Chef Erich Ebenda. Vgl. die Information über das Gespräch Honeckers mit Wehner in: Heinrich Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, S. 280ff. Außerdem: Klaus Wiegrefe/Carsten Tessmer: Deutschlandpolitik in der Krise. Herben Wehners Besuch in der DDR 1973. In: Deutschland Archiv, 6/ 1994, s. 600 ff. 24 Bereits vor seinem Treffen mit Wehner hatte Honecker persönlich in laufende deutschdeutsche Verhandlungen eingegriffen. Am 26. April 1972 traf er unmittelbar vor Abschluß der Verhandlungen zum deutsch-deutschen Verkehrsvertrag in Berlin mit Staatssekretär Egon Bahr zusammen. Ein weiters Gespräch beider Politiker fand am 7. September 1972 während der laufenden Grundlagenvertrag-Verhandlungen statt. Vgl. die Gesprächsvermerke in: Heinrich Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, S. 194 ff. und 217 ff. 22

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Mielke unterstellt. Nach Hähers erzwungenem Ausscheiden aus der SED-Führung hat sich Schalcks Bedeutung und sein Einfluß auf die Westbeziehungen der SED weiter erhöht. Neben Häher und Schalck hatte bereits seit den sechziger Jahren vor allem Rechtsanwalt Wolfgang Vogel im humanitären Bereich Kontakte zu wichtigen BRD-Politikem, darunter vor allem in Honeckers persönlichem Auftrag zu Herbert Wehner, unterhalten. 2~ Neben diesen informellen Kontakten in die Bundesrepublik koordinierte die seit 1970 unter der Leitung von Karl Seidel stehende ,,Abteilung BRD" des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR die "staatliche" Deutschlandpolitik der DDR und leitete die Aktivitäten der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn an.26 Hähers Wirken als ZK-Abteilungsleiter war Bestandteil der beim SED-Generalsekretär konzentrierten deutschlandpolitischen Aktivitäten. Politbüro bzw. Zentralkomitee wurden lediglich "im allgemeinen" bzw. stark dosiert über die Einzelheiten informiert. Neben Honecker und Häher waren lediglich Günter Mittag und die Mitglieder der von ihm kontrollierten ,,Arbeitsgruppe" sowie MfS-Chef Erich Mielke über die Einzelheiten informiert. Die Politik der SED bei der Gestaltung der Beziehungen zur Bundesrepublik, so wie sie Herbert Häher im Auftrage Honeckers konzipierte, orientierte sich einerseits an den politischen und wirtschaftlichen Interessen der DDR und war andererseits in die sowjetische Deutschlandpolitik eingebettet. Ohne die Zustimmung aus Moskau lief zumindest in den siebziger Jahren ftir die DDR kaum etwas.27 Erst später, vor allem nach dem Tode Breshnews im November 1982, unternahm Honecker auf Drängen seines deutschlandpolitischen Beraters Häber den Versuch sich bei der Gestaltung seiner Politik gegenüber der Bundesrepublik vorsichtig zu emanzipieren. Dabei wurde er jedoch regelmäßig von den drei sowjetischen Generalsekretären Andropow, Tschemenko und auch Gorbatschow und Verweis auf die Führungsrolle Moskaus "diszipliniert". Häher selbst hat rückblickend die Abhängigkeit der DDR-Politik von der sowjetischen Führungsmacht mit deutlichen Worten charakterisiert. Auf einer Konferenz aus Anlaß des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-deutschen GrundJagenvertrages sagte er: "Wir waren ein in einer sowjetischen Retorte entstandenes künstliches Geschöpf, dem Willen dessen ausgeliefert, der uns erzeugt hatte! So sind wir instrumentalisiert, benutzt worden als Vorfeld für die sowjetischen Stoßzs Vgl. Craig R. Whitney: Advokatus Diaboli. Wolfgang Vogel -Anwalt zwischen Ost und West, Berlin 1993. 26 Vgl. Hans Schind/er: Deutsche Diplomaten in Deutschland - Fakten und Erinnerungen. In: Detlef Nakilth: Deutschlandpolitiker der DDR erinnern sich. Berlin 1994, S. 285 ff. 27 Vgl. zur Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion in der Deutschlandpolitik am Beginn der Regierungszeit Willy Brandts: Detlef Nak.ath: Gewaltverzicht und Gleichberechtigung. Zur Parallelität der deutsch-sowjetischen Gespräche und der Gipfeltreffen von Erfurt und Kassel im Frühjahr 1970, in: Deutschland Archiv, 2 I 1998, S. 196 ff.

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anneen, als Wirtschaftsfaktor, dessen man sich nach eigenem Gutdünken bediente, als Figur im außenpolitischen Spiel zum Nutzen großrussischer imperialer Ambitionen, getarnt durch die rote Fahne. Niemals sind wir Verbündete oder gar gleichberechtigte Partner gewesen. Das mußten sowohl W. Ulbricht als auch E. Honecker erleben. Solange sie jeweils folgsam im Gleichschritt mit der Moskauer Generallinie marschierten, waren sie gut gelitten und wurden sogar gepriesen. In dem Augenblick jedoch in dem sie vorn Kurs abwichen und eigenständig zu handeln begannen, standen sie über kurz oder lang zur Disposition."28 Als Häber im September 1973 sein Amt als ZK-Abteilungsleiter angetreten hatte, war ihm diese knapp 25 Jahre später beschriebene Grundkonstellation sicherlich bereits klar. Er hat sie lediglich anders wahrgenommen und überdies den Versuch unternommen, vor dem Hintergrund der nunmehr vollzogenen weltweiten diplomatischen Anerkennung der DDR zu einer "in Grenzen" eigenständigen Außen- und Deutschlandpolitik überzugehen. Sein von Honecker gebilligtes Konzept sah die ausdrückliche Einbeziehung der Unionsparteien in die Westkontakte der SED vor. Zwar war Häber auch ftir die Beziehungen der SED zu den Bruderparteien DKP und SEW sowie den in deren Umfeld agierenden Organisationen zuständig, er hat jedoch von Anfang an diese Kontakte als Pflichtübung angesehen und ihnen kaum politisch relevante Bedeutung beigemessen. Ziel seines Agierens war es, die SED auch als Partei gegenüber den politischen Parteien der Bundesrepublik gesprächs- und politikfähig zu machen. Dies ist ihm in den gut zehn Jahren seiner Tätigkeit im SED-Zentralkomitee wenn auch mit unterschiedliche Erfolg gelungen. Etwa sechs Monate nach seiner ersten Begegnung mit Wallher Leisler-Kiep in Berlin folgte Häber arn 26. Juni 1975 einer Einladung des CDU-Schatzmeisters zu einem Gespräch ins Bonner Abgeordnetenhaus des Bundestages?9 Erneut verwies Kiep, daß er "in allen grundsätzlichen Fragen" mit Parteichef Kohl und Generalsekretär Siedenkopf "einer Meinung" wäre. Beide Politiker tauschten sich über die Ergebnisse des jüngsten CDU-Parteitages aus. Kohl sei gestärkt aus dem Parteitag hervorgegangen. Nach Kieps Ansicht könne "das Ergebnis des Parteitages [ ... ] Strauß nicht angenehm sein". Die Rede des CSU-Vorsitzenden auf dem Parteitag 28 Herbert Häher: Persönliche Anmerkungen zum Verhältnis zwischen den Führungen der SED und der KPdSU. In: Jürgen Hofmann/Detlef Nakath: Konflikt- Konfrontation- Kooperation. Deutsch-deutsche Beziehungen in vierzig Jahren Zweistaatlichkeit, Schkeuditz 1998, S. 128. 29 Zuvor war Häber am 14. Mai 1975 erneut mit Wladim Sagladin zusammengetroffen. Bei dieser Gelegenheit informierte der sowjetische ZK-Abteilungsleiter über die Vorstellungen der KPdSU eine Arbeitsgruppe beider Parteien ,,zur Beratung von Problemen der Entwicklung in der BRD" zu bilden. Von sowjetischer Seite wurde die ZK-Mitarbeiter Schachnasarow, Modschalin und Jeschow als Mitglieder der Arbeitsgruppe benannt. Zunächst sollte das taktische Vorgehen beider Parteien in Hinblick auf die Bundestagswahl 1976 sowie Möglichkeiten der Unterstützung der DKP thematisiert werden. Zur ersten Sitzung lud die KPdSU in der zweiten Junihälfte nach Moskau ein (SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/ 202/491).

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der Schwesterpartei sei eher eine "Verteidigungsrede" gewesen und habe sich von der Rede in Sonthofen unterschieden. 30 Außerdem besprachen beide Politiker Themen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten. Kiep empfahl dringend eine Begegnung zwischen Bundeskanzler Schmidt und SED-Chef Honecker am Rande der Abschlußsitzung der Europäischen Sicherheitskonferenz Ende Juli I Anfang August 1975 in Helsinki um die entstandenen Schwierigkeiten im Verhältnis beider deutscher Staaten zueinander zu überwinden. Drei Wochen später traf Häber am 14. Juli 1975 in Berlin mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin unter vier Augen zusammen und besprach mit Günter Gaus Eckpunkte für die geplante deutsch-deutsche Gipfelbegegnung in der finnischen Hauptstadt. Nach Gaus' Ansicht sollte die Begegnung zwischen Honecker und Schmidt "nicht nur gut verlaufen, sondern auch positive Wirkungen haben. Dazu sei es allerdings notwendig, daß beide Seiten Schlußfolgerungen aus den Ereignissen des vergangeneo Jahres ziehen." 31 Nach übereinstimmender Ansicht von Häber und Gaus sollte die Gipfelbegegnung "in ihrem Ergebnis positiv verlaufen". Honecker und Schmidt trafen nach erfolgreichen Vorbereitungen in Helsinki zweimal, am 30. Juli und am I. August 1975, zusammen. 32 Im Ergebnis dieser Begegnungen hatte sich das deutsch-deutsche Verhältnis wieder verbessert. Die Gipfelbegegnung wirkte sich zumindest kurzfristig positiv auf die laufenden Detailverhandlungen aus, wenngleich der nahende Wahlkampf in der Bundesrepublik den Bewegungsspielraum der Regierungskoalition im Verhältnis zur DDR bald einschränkten sollte. 33 Dennoch führten Häber und Kiep ihre internen Gespräche weiter. Der unterdessen als Finanzminister in die Landesregierung Niedersachsen eingetretene Bundesschatzmeister der CDU besuchte am 14. und 15. März 1976 die Leipziger Frühjahrsmesse und traf am Vormittag des 15. März im Leipziger Interhotel "Am Ring" mit Herbert Häber zu einem politischen Gespräch zusammen. Dieses Treffen wurde, wie aus einer "Hausmitteilung" Häbers an Honecker vom 15. März 1976 hervorgeht, als "zufälliges völlig inoffizielles Zusammentreffen" arrangiert. 34 SAPMO-BArch, DY 30, 37075/1. SAPMO-BArch, DY 30 I J IV 2/202/491 . Gaus verwies auf den Briefwechsel und den Austausch mündlicher Botschaften zwischen Honecker und Schmidt vom Herbst 1974. Diese Dokumente sind abgedruckt in Heinrich Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, Dokumente 19 bis 23. 32 Vgl. die Gesprächsvermerke beider Seiten in: Ebenda, S. 329 ff. 33 Am 3. Oktober 1976 fanden in der Bundesrepublik Bundestagswahlen statt. Die Regierungskoalition konnte eine knappe Mehrheit erreichen, obwohl die Unionsparteien die stärkste Fraktion im Bundestag bildeten. 34 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/10.02119. Honecker vermerkte auf Hähers Mitteilung lediglich handschriftlich "Einverstanden EH. 18. 3. 76". 30 31

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Bei dieser Gelegenheit erläuterte IGep die politischen Konsequenzen aus seinem Ministeramt in Niedersachsen: ,,Mit Niedersachsen habe Kohl gegenüber Strauß gewonnen. Albrecht und Kiep haben offenkundig die Absicht, in Hannover eine Art Zentrum der CDU-Politik gegen das Münchner CSU-Zentrum zu schaffen" notierte Häber. 35 Neben verschiedenen außenpolitischen Themen besprachen beide Politiker die Situation bei der Vorbereitung der Bundestagswahlen aus der Sicht der CDU und daraus entstehende personelle Konsequenzen. IGep legte Wert darauf festzustellen, daß der Kontakt zu Häber auch in seiner Zeit als niedersächsischer Finanzminister weiter bestehen bleiben sollte. Parallel dazu gingen auch Gespräche mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Berlin, Günter Gaus, weiter. Am 13. April 1976 thematisierten beide Politiker anläßlich eines gemeinsamen Abendessens in der Residenz von Gaus die Situation in der DDR kurz vor Beginn des 9. SED-Parteitages sowie die politische Lage in der Bundesrepublik im Bundestagswahlkampf Dabei warf Gaus laut Häher-Information die Frage auf, ob "die SED auch weiterhin am Fortbestand der SPD/FDP-Koalition in Bonn interessiert sei oder ob im Interesse eines ,klareren Feindbildes' künftig eine CDU-geftihrte Bundesregierung als günstiger angesehen werde". Häber entgegnete, daß "die Entscheidung darüber, wer in Bonn regiert, in der Bundesrepublik fallt". Er machte jedoch deutlich, daß die DDR an der Fortexistenz der sozialliberalen Koalition großes Interesse habe. Gaus informierte bei dieser Gelegenheit, daß der Bundeskanzler ihn beauftragt habe, während der Sommermonate und in der Zeit des Hauptwahlkampfes im Amte zu bleiben und auf Urlaub in dieser Zeit zu verzichten. Er solle laut Helmut Schmidt "darüber nachdenken und durch seine Anwesenheit mithelfen, um die zu erwartenden ,Wahlkampfschäden' im Verhältnis zur DDR so gering wie möglich zu halten". Gaus erklärte weiter: ,,Bundeskanzler Schmidt rechnet damit, daß angesichts des Auftretens der CDU /CSU und der von CDU-Politikem begonnenen Kampagne über die Frage der Menschenrechte in der DDR bei uns ein negativer Eindruck über die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten entstehen und scharfe Reaktionen herausgefordert werden könnten." Gaus solle "immer parat stehen, um mögliche Mißverständnisse aufzuklären".36 Dies tat der Ständige Vertreter auch, als er am 2. August 1976 dem Vizeaußenminister der DDR, Kurt Nier, ein Schreiben von Bundeskanzler Helmut Schmidt an SED-Generalsekretär Erich Honecker übergab und dazu "mündliche Erläuterungen" vortrug. 37 Gegenstand dieses Briefes war der Protest des Bundeskanzlers zu Zwischenfallen an der deutsch-deutschen Grenze. In den "mündlichen Erläuterungen" ließ Schmidt über den Gegenstand des Protestes hinaus Honecker wissen, daß er bei der im Oktober bevorstehenden Bundestagswahl "eine Bestätigung der Ebenda. Außerdem SAPMO-BArch, DY 30, vor!. SED 37075/1. SAPMO-BArch, DY 30/ I IV 2/202/491. 37 Vgl. Text des Schreibens von Helmut Schmidt an Erich Honecker, datiert am 28. Juli 1976, und ,,mündliche Erläuterungen" in: Heinrich Potthoff: Bonn und Ost-Berlin, S. 356 ff. ls

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sozialliberalen Koalition und seine erneute Beauftragung im Amt" erwarte. Überdies ließ der Bundeskanzler mitteilen, daß er nach der Wahl in der Lage sei, "über den Fortgang der Normalisierung zu sprechen". 38 Herbert Häher hatte unterdessen seine zukünftig regelmäßig zwei bis dreimal im Jahr anzutretende Informationsreise in die Bundesrepublik im Zeitraum vom 22. April bis 5. Mai 1976 durchgeführt?9 Bis zu seinem kurzzeitigen Aufstieg ins SED-Politbüro 1984 hatte Häher mindestens zwölf derartige Informationsreisen unternommen. Während bei seinen ersten Reise es noch schwierig war hochrangige Bonner Politiker als Gesprächspartner zu gewinnen, veränderte sich die Lage ab 1978 erheblich. Zu Hähers Gesprächspartnern während seiner Informationsreisen gehörten die Unionspolitiker Walther Leisler-K.iep, Richard von Weizsäcker, Heinrich Windelen, Ottfried Henning, Gerhard Stoltenberg, Peter Lorenz, Norbert Blüm, Olaf von Wrangel, Ernst Albrecht, Birgit Breuel und Walter Wallmann. Häher sprach mit den SPD-Politikern Egon Bahr, Hans Koschnick, Karl Liedtke, Eugen Selbmann, Hans-Jürgen Wischnewski, Gerhard Jahn, Hans Büchler, Gunter Huonker, Horst Ehmke, Holger Börner, Karsten Voigt und Oskar Lafontaine sowie den FDP-Politikern Hans-Günter Hoppe, Uwe Ronneburger, Kurt Spitzmüller, William Born, Günter Verheugen40, Torsten Wolfgramm und Wolfgang Mischnick.41 Diese Gespräche im internen Kreise boten beiden Seiten die Möglichkeit zum Meinungsaustausch und zur Diskussion kontroverser Fragen. Im Gegensatz zu den Begegnungen von BRD-Politikern mit Erich Honecker, bei denen zumeist die übereinstimmenden Positionen im Mittelpunkt standen und eine gewisse Harmonie demonstriert worden ist, dienten die Gespräche mit Häher vor allem dem Darlegen unterschiedlicher Positionen sowie dem Transport von Überlegungen und bilateralen Projekten. Man war beiderseits nicht gezwungen Ergebnisse zu präsentieren und konnte somit wesentlich offener diskutieren. Dies nahmen die Vertreter aller daran beteiligten Parteien gern wahr. Auch in den späten siebziger und den achtziger Jahre blieb für die SED jedoch die Abstimmung ihrer Deutschlandpolitik mit der KPdSU-Führung unerläßlich. 38

Ebenda, S. 359.

Bei diesen lnformationsreisen, die von Herbert Häber persönlich, von der Westabteilung des SED-Zentralkomitees sowie der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn vorbereitet worden sind, traf der ZK-Abteilungsleiter mit zahlreichen Politikern der im Bundestag vertretenen Parteien zusammen. Außerdem fanden zumeist auch Begegnungen mit DKP-Vertretern statt. Über diese Reisen und den Inhalt der Gespräche liegen umfangreiche Informationsvermerke vor, die Honecker persönlich sowie weiteren Politbüromitgliedern vorgelegt worden sind. 39

40 Günter Verheugen bis zur ..Bonner Wende" im Herbst 1982 Mitglied der FDP und übte u. a. die Funktion des Generalsekretärs der Partei aus. Danach wechselte er in die SPD über. 41 Ein erheblicher Teil der Vermerke über die Häher-Gespräche während der Reisen in die Bundesrepublik bzw. in Berlin und Leipzig sind an verschiedenen Stellen der SED-Überlieferung in den Akten der SAPMO aufgefunden worden.

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Insbesondere wichtige politische Ereignisse in der Bundesrepublik bzw. wesentlich Fragen der deutsch-deutschen Beziehungen wurden regelmäßig beraten. So reiste Herbeet Häber wenige Wochen nach der Bundestagswahl Anfang November 1976 nach Moskau und traf dort mit seinem Partner Wadim Sagladin zusammen. Aus Häbers Informationsvermerk wird deutlich, daß sich in der Frage der Wahleinschätzung die Auffassungen von SED und KPdSU nicht unterschieden. Nach Sagladin bestünde "in der BRD eine noch labilere Situation" als zuvor. Die Position der Koalition sei schwächer geworden und "der Druck von rechts werde stärker, auch durch das Wirken der FDP innerhalb der Koalition". Beide Gesprächspartner schlußfolgerten, daß damit "das Feld für die Tätigkeit der Regierung enger geworden" sei. Es gehe nunmehr darum, schlußfolgerte Sagladin, "unter diesen Bedingungen alles Positive zu erhalten, was im Hinblick auf die BRD im Kampf um friedliche Koexistenz erreicht worden ist. Aber es werde schwieriger."42 In der Einschätzung der CDU hatte sich die ursprünglich sowjetische Position verändert. "Was die CDU /CSU betrifft", so Sagladin, "sei auch sie auf der Suche nach neuen Ideen. Die heutige CDU besitze nur noch wenig Ähnlichkeit mit der alten CDU". Es sei "der Versuch erkennbar, einen modernen reformistischen Konservatismus zu entwickeln. Das aber gehe an die Wurzeln der Sozialdemokratie". 43 Bei diesen Gesprächsinhalten zeigte sich, daß Häbers Ansatz, die Gesprächskanäle nicht auf sozialliberale Vertreter zu verengen und auch konservative Politiker in den Informationsdialog einzubeziehen, in Moskau erste Wirkung erzielt hatte. Häber, der seinen Politikansatz im Auftrage des SED-Generalsekretär praktizierte, sah sich für seine weitere Tatigkeit bestätigt. Die Deutschlandpolitik der SED mußte, daß zeigte das Wahlergebnis vom Oktober 1976, zukünftig auch mit anderen Regierungskonstellationen in Bonn rechnen. Auch in Moskau ging man nunmehr davon aus, daß in absehbarer Zeit wieder mit CDU und CSU als Regierungsparteien in der Bundesrepublik gerechnet werden müsse. Im Zentralkomitee der KPdSU war jedoch das Informationsbedürfnis über die Unionsparteien noch immer relativ groß. ZK-Mitarbeiter Jeschow, in der Abteilung Internationale Verbindungen der KPdSU zuständig für die Bundesrepublik, nahm im März 1977 als Beobachter am 25. CDU-Parteitag in Düsseldorf teil. Auf seiner Rückreise traf Jeschow in Berlin mit Herbeet Häber zu einem Informationsgespräch zusammen. Dabei stellte sich heraus, daß die KPdSU-Führung bei der Einschätzung der politischen Rolle der Unionsparteien auf die Unterstützung der von Häber geleiteten Westabteilung der SED angewiesen war. Jeschows Bewertung des CDU-Parteitages "ging nicht über das hinaus, was uns bereits bekannt ist", schrieb Häber in seiner "Hausmitteilung" an Honecker. Jeschow benutzte das Gespräch mit Häber um diesem "Grüße von Herrn Wallher Leisler-Kiep, der erneut mit großer Mehrheit und ohne Gegenkandidat zum Bundesschatzmeister der CDU gewählt wurde und weiterhin als Finanzminister in Niedersachsen tätig ist", zu 42

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SAPMO-BArch, DY 30/ J IV 2/10.02/16. Ebenda.

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übermitteln. Kiep bat seinen sowjetischen Gesprächspartner eine Einladung zur Hannover-Messe 1977 an Herbeet Häher zu übermitteln. "Er würde es begrüßen, mit mir nach einem Jahr Unterbrechung wieder einen Meinungsaustausch führen zu können. Auf jeden Fall sei ich in Hannover jederzeit willkommen", ließ Kiep den ZK-Abteilungsleiter wissen.44 Das letzte Mal waren Häher und Kiep während der Leipziger Frühjahrsmesse im März 1976 zusammengetroffen. Zu einem Besuch der Hannover-Messe durch Häher im April 1976 warestrotz Einladung Kieps noch nicht gekommen. Diesmal nahm Häher mit ausdrücklicher Genehmigung von SED-Generalsekretär Honecker die Einladung des niedersächsischen Finanzminister wahr. Er traf zu Beginn einer mehrtägigen Informationsreise in die Bundesrepublik am 19. April 1977 mit Walther Leisler-Kiep in dessen Arbeitszimmer im Gebäude des niedersächsischen Finanzministeriums zu einem Frühstück zusammen. In diesem Gespräch kritisierte Häher Positionen der Union auf ihrem jüngsten Parteitag, die "revanchistischen Charakter" trügen und "gegen die abgeschlossenen Verträge gerichtet" seien. Diese politische Linie würde "hinter den Grundlagenvertrag zurückführen" und damit "alles Erreichte in Frage stellen". Seine verbale Attacke richtete sich vor allem gegen die der SED-Führung höchst unbequeme Menschenrechtsdiskussion, die vor allem an Korb 3 der Schlußakte von Helsinki anknüpfte. Kieps Position dazu gab Häher mit folgenden Worten wieder: "Es stimme, daß die Deutschlandpolitik derzeit in der Union die Domäne einiger Leute sei, die nicht mehr zu ändern sind. Er nannte Marx, Abelein und Reddemann. Als ich darauf hinwies, daß der Vorsitzende Kohl die gleichen Töne von sich gibt, schwieg Kiep. Ich fragte, ob bestimmte Kräfte in der CDU dahin arbeiten, daß Kohl sich abwirtschaftet. Kiep widersprach nicht. Im Unterschied zu früheren Gesprächen gab es diesmal von seiten Kieps keinerlei positive Bemerkungen zum Parteivorsitzenden Kohl."45 Auf die Ost- und Deutschlandpolitik einer potentiellen CDU-Regierung angesprochen meinte der niedersächsische Finanzminister: "Eine von der CDU geführte Bundesregierung werde die Verträge einhalten. Sie könne sie gar nicht umschmeißen." Er fügte hinzu: ,,Im Falle einer CDU-Regierung werden wir Vertragstreue Partner vorfinden."46 Weiterhin besprachen beide Politiker die innen- und wirtschaftspolitische Situation in der Bundesrepublik sowie die Chancen der potentiellen CDU-Kandidaten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker bei der Bundespräsidentenwahl 1979. Kiep teilte Häher weiter mit, daß er beabsichtige im Mai 1977 mit seiner Familie privat die DDR zu besuchen. Er wolle in Berlin Station machen und dann Erfurt und den Harz besuchen. Für seinen Aufenthalt in Berlin äußerte er Interesse an politischen Gesprächen. Zu dem von Kiep gewünschten politischen Gesprächen kam es am Abend des 18. Mai 1977 in der Residenz des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in

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SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/10.02/16. SAPMO-BArch, DY 30, vorl. SED, 37075/1.

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Ebenda.

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Berlin.47 Herbert Häber war erneut der wichtigste Gesprächspartner für Kiep. Weiterhin nahmen auf Einladung von Günter Gaus KoKo-Chef Alexander SchalckGolodkowski und MfAA-Abteilungsleiter Kar! Seidel teil. Erneut sprach sich der CDUSchatzmeister für eine "vernünftige Weiterentwicklung der Beziehungen" zur DDR aus und wurde dabei von Gaus unterstützt. Weiterhin setzte er sich für die Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten ein und schlug Schalck die Herstellung von Kontakten zwischen der Norddeutschen Landesbank in Hannover und der Staatsbank der DDR sowie Gespräche über einen Energieverbund unter Einbeziehung Westberlins vor. Unter vier Augen teilte Kiep gegenüber Häber mit, daß er im Juli nach Moskau reisen werde, um dort erneut mit ZK-Abteiungsleiter Wladim Sagladin zusammenzutreffen.48 Über Kieps Gespräche in Moskau liegen bisher keine Informationen vor. Man kann jedoch davon ausgehen, daß sich der niedersächsische Finanzminister auch in der sowjetischen Hauptstadt erneut positiv zu den Ostverträgen geäußert hat. Einer als "Streng vertraulich!" gekennzeichneten Information des sowjetischen Botschafters in Berlin, P.A. Abrassimow, an SED-Chef Erich Honecker zufolge war die Kiep-Reise in die DDR im Mai und auch nach Moskau im Juli 1971 mit dem Bundeskanzleramt abgesprochen. 49 Nach sowjetischer Information erfolgten die Reisen Kieps "auf Initiative der sogenannten ,Linken' in der CDU, die für die Ausarbeitung der ,Ostpolitik' durch die Partei eintreten. [ . .. ] Das Ziel seiner Reise bestand im ,Sondieren', um zu ergründen, ob die Führung der DDR an einer weiteren Entspannung in den Beziehungen zur BRD interessiert sei, sowie in Erfahrung zu bringen, wie kompetent die Personen sind, die sich unmittelbar mit dem Problem der Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten befassen."50 Laut Kieps Bericht an das Bonner Innenministerium, so Abrassimow, sei die DDR-Führung "an der Fortsetzung der Verhandlungen interessiert. Hemmender Faktor sei in dieser Frage die Position der Sowjetunion, die ,kein großes Interesse an der Aktivierung der Verhandlungen zeige.'" Weiterhin schätze Kiep ein, "daß die offiziellen Vertreter der DDR, die an der Lösung der Fragen beteiligt sind, die mit den Verhandlungen mit der BRD verbunden sind, kompetente Menschen seien, die dieses Problem ernst nehmen." 5 1 Zwischen 1975 und 1977 ist der Gesprächskontakt zwischen ZK-Abteilungsleiter Herbert Häber und dem CDU-Schatzmeister und Präsidiumsmitglied seiner Partei sowie niedersächsischem Finanzminister Walther Leisler-Kiep hergestellt worden. Beide Seiten nutzten die später folgenden zahlreichen Gespräche zwi47 An gleicher Stelle war Kiep am 15. Januar 1975 zum ersten Mal mit ZK-Abteilungsleiter Häber zusammengetroffen. Damals wurde Häher von Vizeaußenminister Horst Grunert, dem Abteilungsleiter im MfAA, Kar! Seidel sowie dem stellvertretenden Vorsitzenden der Ost-CDU, Wolfgang Heyl, begleitet. 48 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/202/491. 49 Dies hatte Kiep auch in seinem Vier-Augen-Gespräch mit Herbert Häher mitgeteilt. w SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/202/491. s1 Ehenda.

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sehen beiden Politikern, um sich über die Ziele und Absichten der jeweils anderen Seite zu informieren. Hähers Ziel bestand seit 1974 darin die Parteikontakte der SED auch zu den Unionsparteien in der Bundesrepublik zu öffnen. Dies ist ihm bis zu seinem politisch erzwungenen Ausscheiden aus seinen Funktionen im Herbst 1985 mit Erfolg gelungen. Beide Seiten profitierten von diesem informellen Kontakt: Während der DDR von einem hochrangigen CDU-Politiker bestätigt wurde, daß auch bei einem Regierungswechsel in Bonn sich die Ostpolitik einer unionsgeführten Regierung kaum ändern würde und man beabsichtige, den Grundlagenvertrag mit der DDR und die Vereinbarungen mit der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei einzuhalten, ermöglichte der Gesprächskontakt der CDU im Osten ins Gespräch zu kommen. Dies waren vertrauensbildende Maßnahmen, die es Bundeskanzler Helmut Kohl nach der "Bonner Wende" im Herbst 1982 ermöglichten unmittelbar an die Ostpolitik der Regierung von Helmut Schmidt anzuknüpfen und die laufenden Verhandlungen mit der Sowjetunion und der DDR ergebnisorientiert weiterzuführen.

Reaktionen der DDR auf die Oktober-Ereignisse in Polen im Jahre 1956 Von Krzysztof Ruchniewicz*

Das Jahr 1956 ist ein Schlüsseldatum für die Geschichte der kommunistischen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas, es ist der Höhepunkt des "Tauwetters", das nach Stalins Tod (1953) eingesetzt hatte. In Polen und Ungarn sahen sich die regierenden kommunistischen Parteien einer offenen Legitimationskrise gegenüber. In Ungarn fühne diese Krise zum antikommunistischen Aufstand und zur sowjetischen Intervention. Auf diese Weise wurden die Grenzen des "Tauwetters" deutlich markiert. In Polen wandelte sich die Situation von einem Aufstand gegen die Regierung (Juni-Aufstand in Posen 1956) in eine Vertiefung der Liberalisierung und Machtübernahme durch Gomulka, der das Vertrauen des eigenen Volkes als Opfer des Stalinismus hatte (Oktober 1956). Die Ereignisse des Jahres 1956 sagen viel über den Zusammenhalt des kommunistischen Blocks und dessen Methoden der Machtsicherung. Zum Ausbruch der gesellschaftlichen Unzufriedenheit kam es in der DDR nicht, aber auch hier war die innenpolitische Lage angespannt. Ulbrichts Verbleib an der Parteispitze in einem Moment, in dem andere kommunistische Parteichefs der stalinistischen Phase abgesetzt worden waren, schien gefährdet zu sein. Das Gespenst des Wiederholens der Ereignisse von 1953 war für die SED real und erklärt die Ängste vor Liberalisierungen in den anderen Ostblockstaaten. Dies galt vor allem in bezug auf die Veränderungen im benachbarten Polen. Die Hauptfragen für meinen Aufsatz lauteten daher: Wie ging Ulbricht bzw. die SED-Führung mit dieser potentiell gefährlichen Situation um? Wie wirkte sie sich auf die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen zu dieser Zeit aus? Und schließlich ist zu fragen, wie die Bevölkerung die politischen Veränderungen aufnahm. War auch in der DDR etwas von dem "polnischen Frühling im Oktober" zu spüren? Ich beschränke mich in der folgenden Darstellung auf die Ereignisse des sog. "Polnischen Oktobers" im engeren Sinne, also auf die Ereignisse von Oktober bis Dezember 1956 und damit auf den Höhepunkt des polnischen Tauwetters. Die Ereignisse, die unmittelbar mit dem 8. Plenum des ZK der PVAP, der Rückkehr Gomutkas an die Macht sowie den Massendemonstrationen in den letzten drei Monaten des Jahres 1956 zusammenhingen, stehen im Zentrum der vorliegenden • Für die sprachliche Überarbeitung danke ich Frau Stefani Sonntag aus Sielefeld sehr herzlich.

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Arbeit. Die Darstellung der Reaktionen der DDR-Machthaber auf die bereits seit 1955 einsetzende politische Liberalisierung in Polen oder auf den Arbeiteraufstand in Posen im Juni 1956 bedürfte einer eigenen Analyse und würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. 1 Zur Erläuterung der Situation unmittelbar vor dem Oktober 1956 sei hier lediglich angemerkt: Die SED hatte die Zerschlagung des Arbeiteraufstandes im Juni 1956 in Posen mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen. Die Niederschlagung des Aufstandes in Polen wurde mit dem gewaltsamen Ende des Volksaufstandes in der DDR im Juni 1953 verglichen, und auch in Polen -ebenso wie 1953 in der DDR- wurde "der Westen" für diesen neuen ,Putsch' bzw. für die ,Verschwörung' verantwortlich gemacht. Demgegenüber wurde die Zunahme der Pressefreiheit in Polen im Jahre 1956 scharf kritisiert. In der bisherigen Forschungsliteratur ist die Frage, wie die Führungsspitze der DDR einerseits und die Bevölkerung andererseits auf die Oktober-Ereignisse in Polen reagierten, kaum thematisiert worden. Die bestehenden Quellensammlungen zu den deutsch-polnischen Beziehungen, die vor 1989 erschienen sind, endeten entweder im Jahre 1955 oder klammerten den Oktober 1956 völlig aus? In westdeutschen Darstellungen zu den Beziehungen zwischen Polen und der DDR nach 1949 wird das Jahr 1956 nur am Rande berücksichtigt? Zudem stützen sich diese Arbeiten auf Auswertungen der DDR-Presse und bieten allenfalls einen ersten Zugang zum Thema. Obwohl diese ersten Arbeiten z. T. zahlreiche sachliche Fehler enthalten - dies gilt insbesondere für die Arbeit von Sikora - werden sie von manchen Forschern bis heute kritiklos zitiert,4 wobei allerdings hinzuzufügen ist, daß einige Thesen von Bontschek und Sikora lange Zeit wegen mangelnden Zugangs zu den Archiven in der DDR und in Polen nicht überprüft werden konnten. I Mit diesen Fragen beschäftigte ich mich in meinen anderen Arbeiten: K. Ruchniewicz. Berlin i Bonn patrza na pazdziernik 1956 r. w Polsee (Berlin und Bonn schauen auf den Oktober 1956 in Polen), in: Polska 1944/45-1989. Polska 1956- pr6ba nowego spojrzenia. Studia i materialy 3, Warszawa 1997, S. 63 - 78 und ders., Niemiecka Republika Demokratyczna wobec wydarzen poznanskich w czerwcu 1956 r. (Das Verhältnis der DDR gegenüber den Ereignissen in Posen im Juni 1956), in: Wroclawskie Studia z Historii Najnowszej, hrsg. von W Wrzesinski, Bd. 6, Wroclaw 1998, S. 135-152. 2 Vgl. Die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen. Dokumente und Materialien 1949- 1955, Berlin 1986; Polen, Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze, hrsg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte in Verbindung mit der Deutsch-Polnischen Historiker-Kommission, Bd. I, Berlin 1959. 3 Vgl. F. Bontschek, Die Volksrepublik Polen und die DDR: Ihre Beziehungen und ihre Probleme, Köln 1975; F. Sikora, Sozialistische Solidarität und nationale Interessen. Polen. Tschechoslowakei. DDR, Köln 1977. 4 Letztens gab Ch. KleBman nach F. Sikora ein falsches Datum des Auftrittes von Wl. Gomulka auf dem 8. Plenum in "Neues Deutschland" an, das in seinen Ausftihrungen eine wichtige Rolle gespielt hat. Vgl. Ch. Kleßmann, Die politischen Beziehungen zwischen der DDR und der VR Polen ( 1949 bis 1989), in: Die lange Nachkriegszeit. Deutschland und die Polen von 1945 bis 1991, unter der Redaktion von A. Reich, R. Maier, Braunschweig 1995, S. 89 (Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, Bd. 22/ XIV).

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In der DDR war - ebenso wie in Polen vor dem Systemwechsel - eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Oktober 1956 politisch nicht opportun. In der umfangreichsten polnischen Abhandlung zu den Beziehungen zwischen Polen, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, die von Mieczyslaw Tomala Ende der 80er Jahre vorgelegt worden ist, werden die Ereignisse des Jahres 1956 und ihr Einfluß auf die Beziehungen der drei Länder kaum erwähnt. 5 Das Jahr 1989 bedeutet für die Erforschung der Beziehungen zwischen Polen und der DDR eine deutliche Zäsur. Die Aufhebung der Zensur, die Auflösung der DDR sowie die Öffnung der Archive dieses Staates schufen gute Bedingungen für die Aufnahme neuer Forschungsprojekte zu den Beziehungen zwischen der DDR und Polen in den 50er Jahren. Erste deutschsprachige Arbeiten, die auf der Basis der verbesserten Quellenlage entstanden sind, liegen bereits vor. 6 Zur Diskussion meldeten sich auch Historiker aus der ehern. DDR? Eine sehr wertvolle Ergänzung zu den wissenschaftlichen Darstellungen sind die nach der Wende publizierten Quellensammlungen8 und die Memoiren der leitenden Funktionäre der SED sowie der politischen Gegner von Waller Ulbricht. 9 Auch in Polen sind nach dem Systemwechsel Abhandlungen zum Thema erschienen, so z. B. die Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten von E. Cziomer 10 oder der Aufsatz von Kozik 11 über die Rezeption des polnischen s M. Tomala begnügte sich mit folgender Feststellung: .,Veränderungen, die sich in Polen im Oktober 1956, aber auch in der DDR ereigneten, stießen anfänglich auf kein volles Verständnis". Er erläuterte jedoch nicht, wie dieser Mangel an Verständnis zu erklären war; auch die Fußnote zu diesem Satz gibt keine näheren Erläuterungen dazu. Vgl. M. ToiTUlla, Warszawa-Berlin-Bonn (1944-1980), Szczecin 1987, S. 118 und Fußnote 51. 6 Vgl. B. lhme-Tuchel, Das .,nördliche Dreieck". Die Beziehungen zwischen der DDR, der Tschechoslowakei und Polen in den Jahren 1954 bis 1962, Köln 1994 sowie zahlreiche Aufsätze; P. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ /DDR und in Polen 1945- 1956, Göttingen 1998. 7 Vgl. A. Mitter, Ressentiments und ..proletarischer Internationalismus": Die Einstellung der DDR gegenüber der VR Polen, in: Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9. bis 11. Dezember 1992 GörlitzZgorzelec, hrsg. von F. Grucza, Warschau 1994, S. 76-82; A. Mitter, S. Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1995, S. 163-297. s Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates 1949-1961, hrsg. von D. Hoffmann, K.-H. Hoffmann, K.-H. Schmidt, P. Skyba, München 1993, S. 233- 277; ..Hoffnung kann enttäuscht werden". Ernst Bloch in Leipzig, dokumentiert und kommentiert von V. Caysa, P. Caysa, K. D. Eiehier und E. Uhl, Frankfurt IM . 1992; Texte zur Krise des Sozialismus, Berlin 1990. 9 E. Wollweber, Aus Erinnerungen. Ein Porträt Walter Ulbrichts, in: .,Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung", 32 (1990), S. 350 - 378; K. Schirdewan, Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur, gegen stalinistische, dogmatische Politik, 2. Aufl., Berlin 1994; W Janka. Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek 1990; W Harich. Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993. 10 E. Cziomer, Historia Niemiec 1945 - 1991. Zarys rozwoju problemu niemieckiego od podzialu do jednosci, Krakow 1992.

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Oktobers in der DDR-Gesellschaft. Kozik hat als einer der ersten Forscher das Archivmaterial des ZK der SED ausgewertet. In keiner der vorhandenen Arbeiten wird allerdings versucht, das Verhältnis zwischen der DDR und Polen im Jahre 1956 auf der Basis der heute zugänglichen deutschen und polnischen Akten darzustellen. 12 Dies zu tun ist Aufgabe des vorliegenden Aufsatzes. 13 Zur Gliederung: In einem ersten Schritt werde ich mich mit den politisch-diplomatischen Reaktionen Ulbrichts bzw. der SED auf den Machtwechsel in Polen im Oktober 1956 beschäftigen. Daran schließt sich eine Analyse der Pressepolitik der SED und der Berichterstattung über die Ereignisse in Polen von Oktober bis Dezember 1956 im "Neuen Deutschland" an. Den Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf diese Ereignisse werde ich mich im letzten Teil dieser Arbeit widmen.

I. Politisch-diplomatische Reaktionen Ulbrichts und der SED Die Vorbereitungen zum 8. Plenum des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) sowie dessen Verlauf wurden von der SED mit großen Vorbehalten beobachtet und sogar als möglicher Beginn einer Konterrevolution in Polen gewertet.14 Einen Tag vor dem Beginn des 8. Plenums, am Morgen des 18. Oktobers, notierte der Zweite Sekretär der polnischen Botschaft, J. Pierzchala, zur sowjetischen Truppenbewegung: ,,Auf dem Rückweg von Greifswald stießen wir auf der Autobahn in der Nähe Berlins auf eine kilometerlange Waffentransportkolonne der UdSSR, die von Tanks patrouilliert wurde und in Richtung Norden fuhr. Wie wir später erfuhren, wurde am selben Tag die DDR-Armee alarmiert, am Samstag morgen wurde bis auf Widerruf der Sicherheitsdienst mobilisiert und am Samstag II Z. Kozik, Echa polskiego Pazdziemika w spoleczenstwie NRD, in: "Rocznik PolskoNiemiecki", Warszawa 1995, S. 7-41. 12 Sogar die Aufsätze, die in Deutschland anläßlich des 40. Jahrestages der Oktober-Ereignisse in Polen 1956 publizien wurden, beschäftigen sind nicht mit der detaillienen Darstellung dieser Vorgänge. Vgl./. Kircheisen (Hrsg.), Tauwetter ohne Frühling. Das Jahr 1956 im Spiegel der blockinternen Wandlungen und internationalen Krisen, Berlin 1995; Das Jahr 1956 in Osteuropa, hrsg. von H. H. Hahn und H. Olschowsky, Berlin 1996. 13 Der vorliegende Aufsatz stellt die verändene Fassung des Beitrags, der während einer Tagung über die Oktober-Ereignisse 1956 in den West- und Nordgebieten Polens in Mierki bei Olsztyn/Polen im September 1996 vorgestellt wurde, dar. Vgl. K. Ruchniewicz, Niemiecka Republika Demokratyczna wobec wydarzen pazdziernikowych 1956 r. w Polsce, in: Pazdziernik 1956 na Ziemiach Zachodnich i Polnocnych. Materialy seminarium naukowego. Mierki kolo Olsztyna, wrzesien 1996, hrsg. von W. Wrzesinski, Wroclaw 1997, S. 139162. 14 Vgl. Notatka sluzbowa II sekretarza ambasady PRL w Berlinie, ob. Pierzchaly z dnia 26. 10. 1956 (Dienstliche Mitteilung des 2. Sekretärs der Botschaft der VRP, Genosse Pierzchala vom 26. 10. 1956), Archiwum Ministerstwa Spraw Zagranicznych (seitdem A MSZ), Depanament IV, 10/378/42. Siehe auch Wollweber, op. cit., S. 363.

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morgen erschienen bewaffnete ,Kampfgruppen' und die Verbände der ,Gesellschaft für Sport und Technik' auf den Straßen". 15 Bewegungen sowjetischer Truppen gab es auch in den Grenzgebieten - in Cottbus, Frankfurt an der Oder und Hoyerswerda. 16 Muß man also aufgrund dieser Truppenmobilisierungen davon ausgehen, daß sich nicht nur die UdSSR, sondern auch die DDR auf eine Intervention in Polen vorbereitete? Nicht alle Umstände dieser Vorbereitungen sind ausreichend erforscht.17 Selbst wenn man nicht davon ausgeht, daß es um Vorbereitungen zur Pazifizierung des ,von Meuterei bedrohten Bruderlandes' ging, so bleibt zumindest festzuhalten, daß die Regierungen beider Länder durch teilweise Mobilmachung ihrer Truppen den Bürgern der DDR Macht und Entschlossenheit demonstrieren und diese vor Unruhen warnen wollten. Man könnte auch annehmen, daß die Unterstützung für eine mögliche Intervention der UdSSR in Polen ein Versuch [der DDRRegierung] war, den negativen Eindruck der Unzuverlässigkeit, den der Juni-Aufstand 1953 hinterlassen hatte, zu relativieren. Auf jeden Fall war diese Intervention dazu geeignet, die SED selbst zu stärken, weil es ihre "Linientreue" unterstrich. Über die unerwartete Anreise der sowjetischen Delegation des ZK der KPdSU zum 8. Plenum nach Warschau wurde das ZK der SED mit Schreiben vom 19. 10. infonniert. Dieses Schreiben beinhaltete allgemeine Gründe für diesen Besuch. Die .,deutlichen Meinungsverschiedenheiten" innerhalb der Leitung der PVAP bei grundlegenden Fragen der Außen- und Innenpolitik der Partei und des Staates sowie der personellen Veränderungen in der Partei, hätten die Führung im Kreml beunruhigt, so hieß es. Die Lage Polens im Zentrum Europas und die Bedeutung dieses Landes für den ganzen sozialistischen Block, vor allem für die UdSSR, habe die sowjetische Führung zur Entsendung einer Delegation nach Polen gezwungen, um diese Schwierigkeiten zu klären. 18 An der Delegation nahmen die Mitglieder des Präsidiums des ZK der KPdSU N. Chruschtschow, L. Kaganowitsch, A. Mikojan und W. Molotow teil. Über die Ankunft des Oberbefehlshabers der Warschauer-Pakt-Staaten, I. Koniew, und der anderen sowjetischen Generäle wurde nicht infonniert. Diese unvollständige Infonnation wurde später im Organ der SED ,,Neues Deutschland" veröffentlicht. 19 Auf die Frage, ob die Unterrichtung der SED-Führung über den bevorstehenden Besuch Chruschtschows in Warschau etwas Außergewöhnliches war und über den normalen Rahmen der Berichterstat1s Notatka sluzbowa II sekretarza ambasady PRL w 8erlinie . . .• op. cit. Vgl. Kozik. op. cit., S. 20-22. 17 Z. 8. sprechen A. Mitter und S. Wolle aufgrund der STASI-Akten nur über eine Möglichkeit zur Intervention der sowjetischen Truppen, die die SED-Führung befürworten würde. Vgl. Mitter. Wolle, op. cit., S. 262. Dagegen läßt 8. Ihme-Tuchel, die die Akten des Auswärtigen Amtes der UdSSR gesichtet hat, die Vorbereitungen zur Intervention in Polen aus dem Gebiet der DDR aus. Vgi.Ihme-Tuchel, op. cit., S. 133 und 134. 18 Vgl. SAPM0-8Arch ZPA, J VI 2/202/386 8d. 1. 19 Siehe Besprechungen zwischen der KPdSU und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Chruschtschow, Kaganowitsch, Mikojan und Molotow kamen nach Warschau, in: ,,Neues Deutschland", Nr. 252 vom 21. 10. 1956, S. 1. 16

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tung der KPdSU über eigene Schritte hinausging, kann erst beantwortet werden, wenn man nach Akteneinsicht sagen kann, ob auch andere Staatschefs der Ostblockstaaten, wie z. B. der Tschechoslowakei, ähnliche Briefe bekommen haben. Es ist durchaus möglich, daß das Schreiben die SED-Führung beruhigen und beweisen sollte, daß die weitere Entwicklung der Situation in Polen von den sowjetischen Führern ernstgenommen wird.2° Die Ergebnisse des 8. Plenums der PVAP beurteilte W. Ulbricht negativ. Genauere Informationen über den Verlauf der Ereignisse erhielt Ulbricht vom Minister für Staatssicherheit, Ernst Wollweber, der sich zur Zeit des 8. Plenums wegen eines Kuraufenthaltes zufällig in Polen aufhielt. Wollweber hatte Gespräche mit einigen Mitgliedern des ZK der PVAP geführt, über die er Ulbricht informierte. Offenbar war Ulbricht - abgesehen von wenigen Informationen zur Rede Gomulkas und zu den Beschlüssen des 8. Plenums- über Einzelheiten nicht im Bilde. Erst am 23. I 0. übermittelten die Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Warschau, in Abwesenheit des Botschafters Heymann21 , Fragmente der Rede Gomulkas in deutscher Übersetzung. Sie stammten aus der zum Druck vorbereiteten Nummer der Zeitschrift für die deutsche Minderheit in Polen, der ,,Arbeiterstimme".22 Die Reaktion Ulbrichts auf den Bericht Wollwebers war sehr heftig. Was sich abspiele, so der Erste Sekretär im Gespräch mit Wollweber, sei unerhört: ,.Die polnische Staatssicherheit hat vollkommen versagt. Der Innenminister, von dem du ja etwas hältst, ist sogar ein Gomuka-Mann. Man hat Gomulka gestattet, seine Rede im Radio zu halten und damit über ganz Polen zu verbreiten. Damit ist die Sache entschieden".23 Auf die Frage seines Ministers, was hätte geschehen sollen, antwortete Ulbricht kurz: ,,Die Staatssicherheit hätte verhindern müssen, daß die Gomulka-Rede verbreitet wird. Solange das nicht nach außen gedrungen wäre, hätte man noch vieles in Polen verhindern können. Durch die Rundfunkübertragung und die Veröffentlichung [der Rede Gomulkas- Anm. des Verf.) ist alles in Bewegung gekommen, und vielleicht gibt es überhaupt kein Halten mehr. Wir haben Maßnahmen getroffen für alle Fälle".24 Die Reaktion Ulbrichts war also sehr nervös. Außerdem bestätigt diese Äußerung Ulbrichts, daß Gegenmaßnahmen geplant waren. Ob es sich dabei um die oben erwähnte Bereitschaft zur Intervention handelte, ist schwer zu beantworten. 20 B. Ihrne-Tuehel behauptet, daß das ZK der KPTsch gleichlautendes Schreiben erhalten hat. Vgl.lhme-Tuchel, op. cit., S. 134, Fußnote 63. 21 Wahrscheinlich war er zur dieser Zeit in Berlin, um einen Bericht über die Vorgänge in Polen dem ZK der SED abzustatten. 22 Die polnische Botschaft in Berlin informierte, daß das .,Aktiv des Außenministeriums schon am Montag [d. h. am 23. 10- Anm. des Verf.] den Text der Rede Gomulkas in Deutsch besaß". Am selben Tag fand dort die Diskussion darüber statt. Wahrscheinlich handelt es sich um die von der Botschaft der DDR in Warschau übersandte Übersetzung. Vgl. ferner .,Notatka sluzbowa II Sekretarza Ambasady PRL w Berlinie, op. cit. 23 Wollweber. op. cit., S. 363. 24 Ibidem, S. 363-364.

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Wollweber versuchte Ulbricht zu beruhigen: "Diese Maßnahmen nutzen gar nichts. Die Schlacht muß in Polen gewonnen werden. Außerdem gibt es in Polen gute Kommunisten. Die Frage des Sieges der Konterrevolution ist gar nicht entschieden. Man muß jetzt alle Kräfte stützen, die bereit sind, die Konterrevolution zu bekämpfen. Und man muß es tun mit Gomulka"?5 Die Argumentation von Wollweber überzeugte Ulbricht nicht. In dieser Situation verwundert nur, daß sich das Politbüro der SED nicht zu einer Sondersitzung zu den Vorgängen in Polen - ähnlich etwa wie anläßlich der Krise in Poznan/Posen im Juni 1956 - entschied?6 Der Grund für den Verzicht könnten die Ereignisse in Ungarn sein, die als gefährlicher eingestuft wurden. Eine ähnliche Einstellung wie Ulbricht vertrat der Großteil der SED-Funktionäre. Das Mißtrauen gegenüber Polen veranlaßte sie dazu, sowohl die Berichte der polnischen Presse und des Rundfunks als auch die der westlichen Medien als ,verdächtig' einzustufen. Der Sekretär der SED in Leipzig soll auf der Versammlung des Parteiaktivs gesagt haben: "Unsere Quellen über die Situation in Polen sind Moskau und ,Neues Deutschland', und nicht Warschau, RIAS und BBC. Wir sind nicht von Polen abhängig und mit der Politik der dortigen Partei nicht einverstanden. [ ... ] Nach dem Tod Bieruts [1956 - Anm. des Verf.], der von den Volksmassen in Polen sehr geliebt wurde, kamen Menschen mit feindlicher Ideologie zu Wort, es zeigten sich Spaltungserscheinungen." Hierin sei, so der SED-Sekretär weiter, der Hintergrund ftir das 8. Plenum zu sehen. 27 In dieser Äußerung fallt auf, daß die offiziellen polnischen Äußerungen aus Warschau in einem Atemzug mit westlichen, "feindlichen" Sendem genannt werden. In Zusammenhang mit der unsicheren Situation in Polen gab es in DDR- Regierungskreisen Stimmen, die die Unantastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze sowie die Berechtigung der Übergabe der ehemaligen deutschen Ostgebiete an Polen in Frage stellten. Diese Meinung - bisher ein öffentliches Tabuthema - wurde von einem Großteil der DDR-Gesellschaft geteilt.28 Ein historischer Anspruch Polens Ibidem, S. 364. S. ferner K. Ruchniewicz, Niemiecka Republika Demokratyczna ... , op. cit., S. 136. 27 .,Notatka z 30. ll. 1956" (Die Mitteilung vom 30. li. 1956), A MSZ, Departament IV, 10/378/42 Bd. 2. 28 Über diese Meinung berichtete die polnische Botschaft in Berlin. Der GroBteil der deutschen Gesellschaft, so der Vorsitzende der Fraktion des LDPD in der Volkskammer, Rudolf Agsten, sei immer noch gegenüber Polen negativ eingestellt. Und weiter: ,,Die meistreaktionäre Stimmung im Verhältnis zu Polen herrscht bei den Umsiedlern und dem Kleinbürgertum; sie sind gegen die Festlegung der Grenze zwischen Polen und der DDR an der Oder und NeiBe. Diese Leute verheimlichen ihre Abneigung, sogar Feindschaft gegenüber Polen nicht [ ... )". Agsten betonte mehrmals, daß .,wir Polen keine Ahnung haben, wie schwer es fällt, sich mit den Leuten über die Freundschaft zwischen Polen und der DDR zu unterhalten" Es sei leichter, fügte er noch hinzu, die Freundschaft zwischen der UdSSR und der DDR zu propagieren . .,Notatka sluzbowa z rozmowy z Rudolfem Agstenem, przewodniczacym frakcji LDPD w Izbie Ludowej na przyjeciu w dniu II. 06. 1956 wydanym przez rzad NRD na czesc delegacji KRLD, 22. 06. 1956" (Eine dienstliche Mitteilung über das Gespräch mit Rudolf 2~

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auf den Besitz dieser Gebiete wurde negiert, demgegenüber wurden ideologisch begründete Besitzansprüche erhoben. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Regierung der DDR hatte ihr keine Sympathien in der eigenen Gesellschaft gebracht. Sollten sich Veränderungen des politischen Systems in Polen ergeben, so lautete die Argumentation, so müsse man auch über eine Veränderung der Grenzen nachdenken. In diesem Sinne äußerte sich Wollweber im Gespräch mit Ulbricht im Oktober 1956: ,,Im Moment müssen wir meiner Ansicht nach - solange nicht gesichert ist, daß die Konterrevolution nicht siegt - aufhören mit den ständigen Erklärungen über den Schutz der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR und die sowjetischen Truppen in der DDR." Und Wollweber fügte noch hinzu: ,,Man kann jetzt bei antisowjetischen Elementen in Polen nicht den Eindruck entstehen lassen, daß sie sich austoben können, und gleichzeitig wird ihre Westgrenze unter allen Umständen geschützt". 29 Die Grenzfrage wurde sehr oft in Verbindung gebracht mit der Lieferung polnischer Kohle an die DDR. Es wurde Polen vorgeworfen, Kohle bevorzugt an die Bundesrepublik und nicht an die DDR zu liefern, obwohl diese doch die für Polen günstige Grenze an Oder und Neiße garantiere. Eine abschließende Beurteilung der Reaktion der DDR-Führungsspitze auf die Ereignisse des Polnischen Oktobers enthält eine spätere Mitteilung des polnischen Außenministeriums vorn Juni 1957, die anläßlich des Besuches der polnischen Delegation in der DDR geschrieben worden ist. "Die Reaktion der leitenden Parteiund Regierungskreise auf das 8. Plenum war kühl, manchmal abweisend. Die Partei- und Regierungsleitung der DDR, die über die Ereignisse in Polen nicht schweigen konnte, versuchte in gewissem Sinne die neue PVAP-Leitung zu diskreditieren, indem sie Zweifel an der weiteren sozialistischen Entwicklung unseres Landes äußerte. Und so sollte Genosse Ulbricht, der eine Rede auf einem Treffen der Chefredakteure der DDR-Presse gehalten hat, gesagt haben: [ ... ]man muß überlegen, ob die Konterrevolution auf kaltem Wege nicht gesiegt hätte (Information erhalten aus vertraulicher Quelle). In den offiziellen Äußerungen der Führung der DDR wurden diejenigen scharf angegriffen, die die Unabhängigkeit der Länder der Volksdemokratie, die Wahrung der Selbständigkeit und des nationalen Weges zum Sozialismus gefordert haben".30 Zu betonen ist, daß derartig "scharfe Äußerungen" auch noch Mitte 1957 gernacht wurden. Agsten, den Vorsitzenden der Fraktion des LDPD in der Volkskammer, während des Empfanges am 11 . 06. 1956 organisiert durch die Regierung der DDR auf Ehren der Delegation aus Nordkorea, 22. 06. 1956), A MSZ, 10/377/42. S. ferner: G. Christopeit, Die Vertriebenen im Gründungsjahr der DDR - Versuch einer Standortbestimmung anhand ihrer Lage im Land Brandenburg 1949, in: 50 Jahre Flucht und Vertreibung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Westzonen I Bundesrepublik und der SBZ/DDR, hrsg. von M. Wille, Magdeburg 1997, S. 256-270. 29 Wollweber, op. eil., S. 363. 30 "Notatka infonnacyjna w sprawach wynikajacych ze stosunku miedzy Polska a Nie· miecka Republika Demokratyczna (Eine Mitteilung betreffs der aus dem Verhältnis zwischen Polen und der Deutschen Demokratischen Republik resultierenden Probleme), A MSZ, Departament IV, 10/463/48.

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Nicht nur Gomulkas Ankündigungen weiterer ,Entstalinisierungs '-Reformen, sondern auch die Person des Ersten Sekretärs der PVAP weckten bei Ulbricht Unsicherheit und Antipathie. Die beiden Politiker unterschieden sich in vielerlei Hinsicht. Gomulka gehörte während des Krieges kommunistischen Verbänden an, die im besetzten Polen im Einsatz waren, Ulbricht dagegen lebte in den Jahren 1938-45 im Exil in der UdSSR? 1 Der polnische Politiker propagierte nach dem Zweiten Weltkrieg "den polnischen Weg zum Sozialismus", und dafür wurde er 1948 aller Posten enthoben und aus der Partei ausgeschlossen. Der Erste Sekretär der SED versuchte, sein Land nach sowjetischem Muster umzugestalten. Gomulka forderte von der UdSSR ein Bündnis auf partnerschaftlieber Grundlage (innere Souveränität, Regulierung der wirtschaftlichen Fragen, Anerkennung gewisser Be;sonderheiten in der polnischen Entwicklung), Ulbricht dagegen war in stärkerem Maße abhängig von der UdSSR - allein vom Willen des Kreml hing nicht nur das Herrschaftssystem, sondern auch die Existenz des zweiten deutschen Staates ab. Gomulka war ein Häftling des Stalinismus, dessen politische Vorstellungen als ,abweichlerisch' verurteilt worden waren. Der Erste Sekretär der SED war Mitglied der stalinistischen Regierung, er gehörte in der Zeit nach dem Treffen in Szklarska PorebaI Schreiberhau und der Gründung des Kominform 1947 zu den erklärten Gegnern Titos und Gomulkas. 32 Aufgrund der Absetzung Gomulkas wegen mangelnder "Linientreue" und aufgrund seiner späteren Verhaftung galt er der SED als ,verdächtig'. Dies sahen auch die Mitarbeiter der polnischen Botschaft. ,Jm Gespräch mit den Mitarbeitern des Außenministeriums (Wenk, Kinigkeit) wurde die Ansicht vertreten, daß seine[Gomuikas, Anm. d. Verf.] jetzige Wahl zum Erste Sekretär irgendwie ein schlechtes Licht auf unser ZK wirft. [ ... ] Man muß annehmen, daß [diese Meinung - Anm. des Verf.] belauscht wurde, die als eine aktuelle Information von oben vermittelt wurde". 33 Dies ist ein anderer Unterschied in der Beurteilung, an den man sich in Zusammenhang mit den Oktober-Ereignissen in Polen erinnern muß. In den ersten Monaten nach der Machtübernahme erfreute sich Gomulka großer Unterstützung in der polnischen Bevölkerung, worüber die Botschaft der DDR in Warschau mehrmals berichtete.34 Ulbricht besaß diese Unterstützung nicht und versuchte, sie mit Hilfe der sowjetischen Truppen zu erzwingen. Auch dies beeinträchtigte in den ersten Monaten nach dem 8. Plenum 31 Über Ulbricht siehe ferner: C. Stern, Ulbricht, Eine politische Biographie, Köln/Berlin 1963; F. Sumpf. Walter Ulbricht, in: DDR. Wer war wer. Ein biographisches Lexikon, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 461-462. 32 Vgl. das Referat Ulbrichts: ,.Die theoretische und praktische Bedeutung der Entschließung des Informationsbüros der Kommunistischen Parteien über die Lage in der KP Jugoslawiens" auf der 13. Tagung des Parteivorstandes der SED (15. 09. 1948), in: Entscheidungen der SED 1948. Aus den Stenographischen Niederschriften der 10. bis 15. Tagung des Parteivorstandes der SED, hrsg. von T. Friedrich, Ch. Hübner, H. Mayer und K. Wolf, Ber1in 1995, S. 311-333. S. auch E. W Gnijfke, Jahre mit Ulbricht, Köln 1966, S. 340-341. 33 "Notatka sluzbowa II sekretarza ambasadzy PRL w Berlinie ...", op. cit. 34 Vgl. .,VIII. Plenum der PZPR", Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (seitdem SAPMO im Bundesarchiv), J IV 2/202-368, Bd. I.

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das Verhältnis der beiden Politiker zueinander. Die Versuche, dieses schlechte Verhältnis langfristig zu verändern, schlugen fehl, obwohl Gomulka seine liberale Politik sehr früh aufgab. Dies bestätigen die Dokumente aus den späteren Jahren. 3s Um die These vom Beginn einer Konterrevolution in Polen aufrechtzuerhalten, notierten die Mitarbeiter der Botschaft der DDR alle Fälle von Demonstrationen, die in Polen Ende Oktober organisiert wurden. Über manche Demonstrationen berichtete auch ,,Neues Deutschland", wobei interessante Unterschiede zur Berichterstattung der Botschaftsmitarbeiter auffallen. Ein Mitarbeiter der Botschaft, M. Schmid, war beispielsweise Zeuge einer Demonstration in Wroclaw/Breslau. ,,In den Abendstunden des 22. 10. 1956, kurz vor Beginn des Theaters, erfolgte eine große Demonstration von ca. 10-15.000 Menschen, vorwiegend Studenten und Jugendliche; in Sprechchören wurde gerufen: ,Raus mit den Russen! ' ,Wir wollen Souveränität!' ,Nieder mit Rokossowski!' Die Straßenschilder, die den Namen Rokossowskis und sowjetische Namen trugen, wurden entfernt. [ ... ] Die Demonstration hat ungefähr 30-40 Minuten gedauert. Es gab keine Zwischenfälle".36 Zwei Tage später, am 24. 10, berichtete das ,,Neue Deutschland" über dieselbe Demonstration. Das SED-Organ berief sich auf polnische Zeitungsberichte. Schon der Titel dieses Berichtes "Feindliche Provokation in Wroclaw" ließ die darin enthaltene Bewertung der Ereignisse erkennen. 37 Für die Organisation der ,,Provokationen" wurden "nationalistische" und "antisowjetische" Elemente verantwortlich gemacht. Dem Bericht zufolge verurteilte die Bevölkerung Breslaus diese Demonstration. Allerdings verwundert die Tatsache, daß in diesem Bericht weder Demonstrantenzahlen genannt werden noch über von den Demonstranten skandierte Parolen berichtet wird 38 . Auf diese Weise wurde dem Zeitungsleser in der DDR eine Bewertung vermittelt, die die Ereignisse in Polen nicht nur als gegen die eigene Partei und Regierung, sondern auch als gegen die UdSSR gerichtet sah. Um über die Ereignisse in Polen und Ungarn aufzuklären, organisierte die SEDFührung zahlreiche Treffen mit den Sekretären der unteren Parteiebenen. Über diese Treffen unterrichtete die polnische Botschaft in Berlin ihre Zentrale. Der Erste Sekretär der Botschaft, St. Kopa, schrieb: "Genosse Neumann [Erster Sekretär der SED-BL Berlin- Anm. des Verf.] wandte sich vor Beginn des Referats über die polnischen Angelegenheiten mit der Bitte an die Versammelten, in der Diskussion keine Fragen der Art: ,Wer ist Genosse Gomulka?' und ,Was hat er in der letzten Zeit gemacht?' zu stellen." 39 Bei der Analyse der Situation in Polen kon3S Beispiele der großen Distanz der beiden Politiker zueinander nennt der langjährige Dolmetscher Gomulkas, E. Weit, in seinem Buch: Ostblock intern. 13 Jahre Dolmetscher für die polnische Partei- und Staatsführung, Harnburg 1970. 36 "Brief eines Mitarbeiters der Botschaft der DDR in Warschau an den Botschafter der DDR in Warschau, Heymann, vom 23. 10. 1956", PAAA, Bestand MfAA, A 3815. 37 Vgl. Feindliche Provokation in Wroclaw, in: ,,Neues Deutschland", Nr. 254, 24. 10. 1956, s. 2. 38 Diese Zahl hat Schmidt in dem obigen Bericht angegeben.

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zentrierte sich Neumann auf Wirtschaftsfragen. Er stellte fest, daß die Situation in Polen sehr schwer und mit der Situation in der DDR nicht vergleichbar sei. An dieser Stelle fragte er, ob ,.unsere Produktionsgenossenschaften schlecht sind, ob unsere LPG's schlecht arbeiten?". Naumann weiter: .,Wenn dort in Polen schlecht gewirtschaftet wurde, dürfen wir feststellen, daß in der DDR schlechte Wirtschaft sei?". 40 An diesem Treffen nahmen 1500 Sekretäre der Grundorganisationen der SED teil. Es verwundert, daß keiner der Teilnehmer Fragen gestellt hat. Nach dem Abschluß des Treffens trafen sich jedoch kleine Gruppen, in denen die Veränderungen in Polen lebhaft diskutiert wurden.

II. Pressepolitik der SED und otlbielle Berichterstattung in der DDR-Presse Die durch die Entwicklung der Ereignisse in Polen und deren Einfluß auf die eigene Bevölkerung beunruhigte Führung der DDR flüchtete sich in eine Politik bewußter Desinformation. Diese Politik wurde begleitet von einer Einschränkung des Zugangs zu polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Am 19.10. wurde die Zustellung polnischer Zeitungen an Abonnenten in der DDR ftir einige Tage eingestellt. Von diesen Maßnahmen waren auch die Parteifunktionäre betroffen.41 Im Dezember 1956 informierte die polnische Botschaft ihre Zentrale darüber, daß die DDR-Post die Annahme von Abonnements auf polnische Presseprodukte verweigerte. "Diese Zeitungen werden nur an Kiosken verkauft. In dieser Situation geben die hiesigen Machthaber nur die Exemplare der polnischen Presse in die Hände der Leser, die sie für angebracht halten. Und das bedeutet, daß die polnische Presse ab dem neuen Jahr faktisch nicht mehr zugänglich sein wird". 42 In dieser Situation eines Informationsmonopols über die Ereignisse in Polen gewannen die Zeitungen der DDR, vor allem das Hauptpresseorgan der SED ,,Neues Deutschland", an Bedeutung. Allerdings konnte die Bevölkerung in der DDR aus ,ihrer' Presse sehr wenig über die Vorgänge im Nachbarland erfahren.43 Die DDR39 "Notatka sluzbowa Stanislawa Kopy z dnia 25. 10. 1956" (Dienstliche Mitteilung von Stanislaw Kopa vom 25. 10. 1956), A MSZ, Departament IV, 10/378/42. 40 lbidem. 41 Vgl. "Notatka z 30. 11. 1956" (Mitteilung vom 30. 11. 1956), A MSZ, Departament IV, 10/378/42 Bd. 2. 42 ,.Notatka informacyjna II-go sekretarza ambasady PRL w Berlinie, J. Pierzchaly z 6. 12. 1956" (Mitteilung des Zweiten Sekretärs der polnischen Botschaft in Berlin, J. Pierzchala, vom 6. 12. 1956), A MSZ. Departament IV, 10/731/79. 43 Es ist bemerkenswert, daß das keine neue Situation war. Die Klagen der polnischen Seite über das geringe Interesse der DDR-Presse an den polnischen Angelegenheiten waren schon 1954 zu hören. Vgl. ,.Notatka sluzbowa ob. Jakubowskiej z rozmowy z ob. Krahnem, redaktorem dzialu zagranicznego ,Neues Deutschland' z 8. 12. 1956" (Dienstliche Mitteilung von Gen. Jakubowska über das Gespräch mit dem Redakteur der Auslandsabteilung des ,Neuen Deutschland', Gen. Krahn vom 8. 12. 1956, A MSZ, Departament IV, 10/319/36.

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Presse infonnierte zwar über die wichtigsten Ereignisse, dies aber sehr allgemein und ohne Kommentare. 44 Am 20. 10. informierte "Neues Deutschland" auf der Seite 5 über den Beginn des 8. Plenums.45 Beiläufig wurden die Hauptziele des Plenums vorgestellt. Zum ersten Mal wurden die neuen Mitglieder des ZK mit Namen genannt, darunter Wladyslaw Gomulka, aber ohne Foto und ohne Informationen zur Person. In der Sonntagsausgabe des ,,Neuen Deutschland" vom 2 I. I 0. wurde auf der ersten Seite die Ankunft einer sowjetischen Delegation in Polen bekanntgegeben. 46 Der Bericht ging über die üblichen Floskeln zur ,freundschaftlichen Atmosphäre' der Gespräche nicht hinaus. Die Zeitung informierte auch über die Einladung der polnischen Genossen zu weiteren Gesprächen nach Moskau. Die zahlreichen Kundgebungen, die sowohl für die Person Gomutkas als auch für die Resolutionen des 8. Plenums Unterstützung demonstrierten, wurden überhaupt nicht erwähnt. Das Presseorgan der SED begnügte sich allein mit der Feststellung, daß "die polnische Öffentlichkeit die bedeutungsvolle Plenartagung mit starker Anteilnahme verfolgt. [ ... ] In den Parteiorganisationen finden Aussprachen und Diskussionen statt". 47 Noch am 20. 10. wurden den Redakteuren der in Ost-Berlin herausgegebenen Zeitungen Anweisungen zur Berichterstattung über polnische Angelegenheiten erteilt. Bis auf Widerruf wurde die Veröffentlichung jeglicher Materialien aus polnischen Quellen verboten.48 Es wurde eine zentrale Zensur auf alle Mitteilungen der Warschauer Korrespondenten eingeführt. Kommentare zu den polnischen Ereignissen durften nur nach der sowjetischen Presseagentur TASS zitiert werden. In Übereinstimmung mit diesen Anweisungen druckte das ,,Neue Deutschland" einen aggressiven Artikel des Organs des ZK der KPdSU "Prawda" nach, in dem die polnische Presse für den "Verzicht auf den sozialistischen Weg" und ein "offenes Liebäugeln mit bürgerlichen Elementen" kritisiert wurde. Im Namen der unzufriedenen, ,breiten Masse' der Werktätigen der Volksrepublik Polen forderte der sowjetische Autor dieses Artikels, daß die "alle Hemmungen verlierenden Revisionisten und Kapitulanten, die die polnische Presse für ihre schmutzigen Ziele mißbrauchen, zur Ordnung gerufen werden" .49 Die Redakteure des Zentralorgans der SED hielten die Veröffentlichung der Repliken von Zofia Artymowska und Jerzy Putrament auf die Vorwürfe des Kremls, die im Zentralorgan der PVAP "Trybuna 44 Man kann der Meinung von F. Bontschek und F. Sikora nicht zustimmen, daß die Presse der DDR nur sporadisch über die Ereignisse in Polen berichtete. Auch das von beiden Autoren genannte Datum der Publikation der Rede Gomulkas im "Neuen Deutschland" (am 28. 10.!) stimmt nicht. Vgl. Bontschek, op. cit., S. 32; Sikora, op. cit., S. 142. 4s Tagung des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in: ,,Neues Deutschland", Nr. 251, 20. 10. 1956, S. 5. 46 Besprechungen zwischen der KPdSU und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, op. cit.

Plenartagung fortgesetzt, in: ,,Neues Deutschland", Nr. 252,21. 10. 1956, S. I. Ferner s. Mitter, Wolle, op. cit., S. 262. 49 Antisozialistische Äußerungen in der polnischen Presse. Artikel des Warschauer "Prawda"-Korrespondenten vom 20. Oktober, in: "Neues Deutschland", Nr. 252,21. 10. 1956. 47

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Ludu" am 21. 10. erschienen, für nicht angemessen. Einen Tag später kam es in Ost-Berlin zu einem kleinen Skandal. Die dort erscheinende Illustrierte Abendzeitung "Berliner Zeitung am Abend" veröffentlichte Material über die Vorgänge in Polen und druckte es mit einem Foto von W. Gomulka auf der ersten Seite. Am Nachmittag begann der Verkauf dieser Ausgabe. Der unerwartete Einspruch der Machthaber der DDR, die zuvor den Druck gebilligt hatten, war der Grund für die Entfernung der Zeitung aus den Kiosken. Die gesamte Auflage von 200.000 Exemplaren wurde eingestampft.5° Die von der DDR-Führung unternommenen Maßnahmen zur Bekämpfung des ,polnischen Bazillus' wurden von einem Teil der DDRJournalisten verurteilt. Der Zweite Sekretär der polnischen Botschaft in Berlin, Pierzchala, bemerkte dazu: "Die Journalisten beklagten sich über die Haltung des ZK der SED zur polnischen Frage, [ihrer Meinung nach- Anm. des Verf.] wird die Presse von diesem Thema ferngehalten, indem sie eine Atmosphäre der Abwartung und Reserve über diese Angelegenheiten schur'. 51 "Neues Deutschland" reagierte sehr aggressiv auf die Berichte der westlichen - vor allem der westdeutschen Presse über die Ereignisse in Polen. Der westdeutschen Presse wurde Mangel an Objektivität in der Darstellung der Fakten, der Versuch, Polen von der Sowjetunion und den sozialistischen Ländern abzuspalten und schließlich die Propagierung der Marktwirtschaft vorgeworfen. 52 Auf den Vorschlag von Bundeskanzler Adenauer, Beziehungen zum "freien Polen" aufzunehmen, antwortete "Neues Deutschland" am 24. 10. mit dem Artikel: "Wenn die Abhängigen über die Unabhängigkeit reden". 53 Es lohnt sich, diesem Artikel größere Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist dort von der Suche jedes Volkes nach einem Weg zum Sozialismus die Rede. Allerdings schlägt dieser Artikel eine besondere Interpretation dieses Weges vor: "Aber das Große unserer Zeit besteht eben darin, daß jedes Volk diesen Weg in engster Freundschaft und Zusammenarbeit mit den Ländern beschreitet, die bereits den Sozialismus errichtet haben. Kein Volk braucht heute allein zum Sozialismus zu gehen, nachdem die russischen Arbeiter und Bauern, geführt von der Partei Lenins, vor 39 Jahren im großen Oktober uns allen den Weg gewiesen haben".54 Die Suche Polens nach eigenen Lösungen wurde als Versuch der Abkehr von der kommunistischen Tradition und der Nichtberücksichtigung der Erfahrungen der schon existierenden sozialistischen Staaten, vor allem der UdSSR, gewertet. Die "wahren Absichten" der westlichen Länder, hauptsächlich der Bundesrepublik, sollten in einer dem Artikel beigefügten Karikatur entlarvt werden. In ihr ist ein so Vgl. ,,Notatka sluzbowa II sekretarza ambasady PRL w Berlinie, ob. Pierzchaly" (Dienstliche Mitteilung des Zweiten Sekretärs der polnischen Botschaft in Berlin, Gen. Pierzcha1a), A MSZ, Departament IV, 10378/42; Ost-Berlin schweigt über Warschau, in: "Süddeutsche Zeitung", Nr. 255, 24. 10. 1956 sowie Mitter, Wolle, op. cit., S. 262. st "Notatka sluzbowa II sekretarza ambasady PRL w Berlinie, ob. Pierzchaly", op. cit. s2 Vgl. Konterrevolutionäre Spekulationen um Volkspolen, in: "Neues Deutschland", Nr. 252, 21. 10. 1956, S. 5. 53 Vgl. Wenn die Abhängigen über die Unabhängigkeit reden, in: "Neues Deutschland", Nr. 234, 24. 10. 1956, S. 2. 54 Ibidem.

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Wolf dargestellt, der eine Peitsche in der Hand hält - ein Symbol der Macht und Unterordnung. Auf dieser Peitsche ist das Wort "Kapitalismus" zu lesen. Der Wolf leckt sich die Zunge beim Gedanken an den zukünftigen Bissen. Das Tier- gestattet: mit einem gut geschnittenen Frack, mit Manschettenknöpfen, auf denen Hakenkreuze zu erkennen sind, sowie mit einem Beutel mit US-Dollars. Die Unterschrift lautet: Die ,,Freiheit" Polens liegt mir besonders am Herzen. 55

Die "Freiheit" Polens liegt mir besonders am Herzen

Zeichnung: Berg

Gomulkas Rede auf dem 8. Plenum wurde erst am 25. 10. in stark verkürzter Form im ,,Neuen Deutschland" gedruckt. s6 Selbst ein flüchtiger Vergleich der Übersetzung mit dem Original läßt die große Willkür erkennen, mit der die Rede des polnischen Politikers wiedergegeben wurde. Die Redaktion des ,,Neuen Deutschlands" veränderte alle Zwischentite157 und nahm drastische Kürzungen Vgl. "Neues Deutschland", Nr. 254, 24. 10. 1956, S. 2. Vgl. Aus der Rede W. Gomutkas auf dem 8. Plenum des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in: "Neues Deutschland", Nr. 255,25. 10. 1956, S. 5. 57 In den vom "Neues Deutschland" publizierten Fragmenten der Rede Gomulkas auf dem 8. Plenum konnte man folgende Kapitelüberschriften finden: Probleme der Volkswirtschaft, 55

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vor, ohne diese kenntlich zu machen. Die Einleitung, große Teile der Kapitel "Zu den Ergebnissen des 6-Jahres-Plans" und ,,Eine negative Bilanz der landwirtschaftlichen Politik", das Kapitel .,Die Lehren von Posen" sowie weite Passagen des Kapitels "Wir müssen der Arbeiterklasse die ganze Wahrheit sagen" wurden gestrichen. Außerdem wurde das ganze Kapitel "Anordnung der Industrie und materiellen Anreize", wesentliche Teile der Kapitel "Unterschiedliche Formen der Produktionsgemeinschaft sind unser Weg zum Sozialismus auf dem Lande", "Unser Verhältnis gegenüber der KPdSU und der UdSSR", "Über das System des Personenkultes", "Wir dürfen nicht zulassen, daß der Prozeß der Demokratisierung gegen den Staat ausgenutzt wird", "Die Partei muß geschlossen und einheitlich sein" und "Damit der Sejm zum höchsten Staatsorgan wird" ausgelassen. Alle Passagen, die Fragen der Souveränität, der Demokratisierung innenpolitischer Entscheidungsfindung, der Arbeiterräte, der Selbstverwaltung landwirtschaftlicher Betriebe betrafen oder an der vorangegangenen Epoche Kritik übten, wurden entfernt. Im folgenden einige Beispiele: Im Kapitel "Unser Verhältnis zur KPdSU und zur UdSSR" sprach Gomulka u. a. über verschiedene Wege zum Sozialimus (im deutschen Text befindet sich das unten zitierte Fragment im Kapitel "Brüderliche Beziehungen zum sozialistischen Lager"). "Das, was im Sozialismus unveränderlich ist, führt zur Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die Wege zur Erreichung dieses Zieles können verschieden sein und sind es auch. Sie sind durch verschiedenartige Umstände der Zeit und des Ortes bedingt. Verschieden kann auch das Modell des Sozialismus sein. Es kann so sein, wie es in der Sowjetunion geschaffen wurde, man kann es so gestalten, wie wir es in Jugoslawien sehen, und es kann auch noch anders sein. Nur auf dem Weg der Erfahrungen und Erfolge verschiedener, den Sozialismus erbauender Länder kann das unter den gegebenen Bedingungen beste Modell des Sozialismus entstehen. Im deutschen Text wird über "das beste Beispiel des Sozialismus unter gegebenen Bedingungen" gesprochen. 58 Im Kapitel "Wir dürfen nicht zulassen, daß der Prozeß der Demokratisierung gegen den Staat ausgenutzt wird". Im deutschen Text befindet sich das nachfolgende Fragment in dem Kapitel: "Feste Freundschaft zur UdSSR") stellte Gomulka fest: "Wenn in der Vergangenheit nicht alles so war, wie es unserer Ansicht nach zwischen unserer Partei und der KPdSU sowie zwischen Polen und der Sowjetunion hätte sein müssen - so gehört das unwiderruflich der Vergangenheit an. Wenn es auf diesem oder jenem Gebiete unseres Lebens Dinge gibt, die noch einer Regelung bedürfen - dann muß dies freundschaftlich und ruhig getan Arbeitsproduktivität steigern, Änderungen der Preispolitik, Festigung der LPG, Brüderliche Beziehungen zum sozialistischen Lager, Kampf gegen Personenkult, Feste Freundschaft zur UdSSR, Bessere Arbeit des Sejm und Worte an die Jugend. Vgl. Aus der Rede W. Gomulkas ... ,ibidem. ss Zit. nach: Rede des Genossen Wladyslaw Gomulka auf der VIII. Plenartagung des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in: ,,Arbeiterstimme", Nr. 212, 24. 10. 1956, S. 4. Vgl. auch: Przemowienie Wladyslawa Gomulki na VIIIplenum KC PZPR (Die Rede Wladyslaw Gomulkas auf dem 8. Plenum des ZK der PVAP), in: "Nowe Drogi", Nr. 10, Oktober 1956, S. 38.

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werden. Ein solches Verhalten sollte nämlich die Beziehungen zwischen den Parteien und den Staaten des sozialistischen Lagers kennzeichnen. Wenn aber jemand denkt, daß es gelingen werde, in Polen eine antisowjetische Stimmung zu entfachen, dann täuscht er sich gewaltig, wir werden es nicht erlauben, daß den Lebensinteressen des polnischen Volkes und der Sache des Autbaus des Sozialismus in Polen Schaden zugefügt wird". 59 Und das letzte Beispiel: Im Kapitel "Die Partei muß geschlossen und einheitlich sein"60 führte Gomulka aus: "Damit die Partei energisch ihre Aufgaben erfüllen und an der Spitze des Demokratisierungsprozesses stehen kann, muß sie vor allem geschlossen und einig sein und muß auch in ihren Reihen, in ihrem Leben, voll und ganz die Grundsätze des demokratischen Zentralismus anwenden. Sie muß in ihrer Arbeit diese Grundsätze streng einhalten, die in der These über die Leninschen Normen des Parteilebens enthalten sind. Diese Grundsätze wurden auch in der Vergangenheit schon proklamiert, doch wich die Praxis oft erheblich davon ab. An der Spitze dieser Grundsätze müßte die Wahl der Parteileitungen stehen, ferner die Öffentlichkeit des Parteilebens, das Recht auf Beibehaltung abweichender Meinungen, solange der Grundsatz, daß die Beschlüsse der Mehrheit alle Parteimitglieder verpflichten, eingehalten wird". 61 Ähnlich wurde die Resolution des 8. Plenums des ZK der PVAP unter dem Titel: "Über die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Partei" behandelt, die im ,,Neuen Deutschland" am 27. 10. unter dem Titel: "Aufgaben in Volkspolen" veröffentlicht wurden. 62 Diese Resolution wurde ebenfalls stark verkürzt gedruckt. Alle Fragmente, die sich mit der Demokratisierung des Lebens in Polen, mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie mit den Fehlern der vergangenen Epoche beschäftigten, wurden gestrichen. Im Gegensatz zum Originaltext, der keine Zwischentitel enthielt, fügte die Redaktion des ,,Neuen Deutschland" folgende Zwischentitel in den Resolutionstext ein: "Die innerparteilichen Fragen", "Zur Initiative der Werktätigen", "Weitere Demokratisierung des staatlichen Lebens", ,,Zu einigen wirtschaftlichen Problemen" und "Polen - ein fester Bestandteil des sozialistischen Lagers". Viele Schlüsselstellen, wie z. B. der Abschnitt über die private Landwirtschaft, kleine private Betriebe, die Arbeiterselbstverwaltungen, die Gründung der Obersten Kontrollkammer sowie die Einführung einer Wahlmöglichkeit bei der Kandidatenwahl für den Sejm blieben unerwähnt. Überraschenderweise wird allerdings aus dem letzten Teil der polnischen Resolution, in dem von verschiedenen Wegen zum Sozialismus die Rede ist, zitiert. 63 Das Zitat wurde 59 Rede des Genossen Wladyslaw Gomulka, op. cit., S. 5. Vgl. auch Przemowienie Wladyslawa Gomulki, op. cit., S. 42. 60 Im deutschen Text befindet sich das nachfolgende Fragment im Kapitel: "Feste Freundschaft mit der UdSSR". 61 Rede des Genossen Wladyslaw Gomulka, op. cit. , S. 5. Vgl. auch Przemowienie Wladyslawa Gomulki, op. cit., S. 43. 62 Aufgaben in Volkspolen. Aus der Resolution des 8. Plenums des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, in: "Neues Deutschland", Nr. 257,27. 10. 1956, S. 5.

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jedoch aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen. Die im Original enthaltene Kritik des "mechanischen Kopierens und der Übernahme von Vorbildern und Formen, die in den anderen Ländern angewandt wurden" sowie die Betonung, daß verschiedene Wege zum Sozialimus möglich seien, waren im deutschen Text nicht mehr enthalten. "Die Beziehungen zwischen den Parteien und Staaten", so heißt es in der Resolution, "sollten auf dem Prinzip der internationalen Solidarität, auf gegenseitigem Vertrauen und Gleichheit der Rechte, auf gegenseitiger Hilfe sowie gegenseitiger, freundschaftlicher Kritik, wenn solche notwendig wird, auf vernünftigen und aus dem Geist der Freundschaft und des Sozialismus resultierenden Lösungen aller Streitfragen aufbauen". 64 Den Text der häufig zitierten Rede, die Gomulka am 24. Oktober auf dem Warschauer Paradeplatz (Plac Defilad) vor über I 00.000 Menschen hielt, hat das ,,Neue Deutschland" nicht abgedruckt. Man beschränkte sich auf eine umfangreiche Besprechung. 65 Zitiert wurden ausschließlich Sätze über die Notwendigkeit zur Festigung der polnischsowjetischen Freundschaft. In den folgenden Tagen druckte das Presseorgan der SED eine ganze Reihe von Stellungnahmen aus der Bevölkerung der DDR auf die Ereignisse in Polen. Verschiedene Aussagen von Arbeitern wurden z. B. unter dem Titel: "Arbeitersolidarität gegen imperialistische Umtriebe" gesammelt. 66 Darüber hinaus wurde ein Bericht über ein Treffen der ZK-Mitglieder W. Ulbricht, H. Matern und K. Schirdewan mit den Arbeitern der Berliner-Werke gedruckt, das die Ereignisse in Polen und Ungarn zum Thema hatte. 67 Auf die Frage eines Arbeiters, weswegen die 63 Es handelt sich um folgendes Fragment der Resolution: "Die Bande, die die sozialistischen Länder verbinden, entstammen den gemeinsamen Bestrebungen und dem gemeinsamen Ziel - dem Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus. Diese Bande schließen nicht nur die volle Souveränität und Unabhängigkeit jedes Landes und jeder Nation in der Wahl des geeignetsten Weges aus, sondern setzen sie im Gegenteil voraus -, eines Wegs, der am besten zu seinen historischen Bedingungen paßt, wie auch in der Wahl der Methoden des Aufbaus eines neuen, höheren Systems". Zit. nach Aufgaben in Volkspolen .. . , S. 13. 64 Zit. nach: 0 aktualnych zadaniach politycznych i gospodarczych partii. Uchwala VIII Plenum KC PZPR (Über die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Aufgaben der Partei. Resolution des 8. Plenums des ZK der PVAP), in: "Nowe Drogi", 1956, Nr. 10, S. 13. 6S Vgl. Machtvolles Bekenntnis zur Partei, in: "Neues Deutschland", Nr. 255, 25. I 0. I 956,

s. 5.

66 V gl. Arbeitersolidarität gegen imperialistische Umtriebe. Arbeiter der DDR und CSR an ihre Kollegen in Ungarn und Polen. Berliner Kampfgruppen sind wachsam, in: "Neues Deutschland", Nr. 256, 25. 10. 1956, S. I. In dem Aufsatz wurde die Äußerung des Bohrers aus den Kirow-Werken in Leipzig, Wilhelm Hardt, veröffentlicht. Er stellte folgendes fest: "Die Arbeiter Polens werden nicht dulden, daß dort faschistische oder kapitalistische Elemente wieder ans Ruder kommen. Die westlichen Metropolisten und ihre Helfershelfer stekken ja überall dort ihre schmutzigen Finger hinein, wo sie Morgenluft wittern. Aber ich denke - fügte Hardt hinzu -da werden sie sich bei der polnischen Arbeiterklasse verrechnen". 67 Vgl. Parteiführer beantworteten Fragen der Arbeiter. Walter Ulbricht, Hermann Matern und Karl Schirdewann sprachen mit Berliner Arbeitern über die politische Lage, in: "Neues Deutschland", Nr. 258,28. 10. 1956, S. I.

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Presse über die Ereignisse in Polen so unvollständig berichte, antwortete Schirdewan: .,Wir mußten die Entwicklung in Polen erst genau kennenlernen und konnten erst, nachdem uns von den polnischen Genossen die Beschlüsse des Zentralkomitees bekanntgegeben wurden, bei uns mit der Veröffentlichung dieser Materialien beginnen. Es ist nicht die Aufgabe unserer Presse, mit der Westpresse in einem Wettbewerb um die größte Nachrichtensensation zu treten. Die Westpresse handelt verantwortungslos. Sie hat die Aufgabe, zu hetzen, die Tatsachen der Entwicklung zu verleugnen und sie im Sinne ihrer Wunschträume zu verdrehen". 68 Schirdewan sprach auch die Entfernung der Nummer der .,BZ am Abend" an und äußerte Kritik an der Entscheidung der .,Parteifunktionäre". Seiner Meinung nach habe es keinen überzeugenden Grund gegeben, eine solche Entscheidung zu treffen. Man kann diese Äußerung als erstes Anzeichen für den späteren Konflikt zwischen Schirdewan und Ulbricht werten. Die Frage der Unvollständigkeit der DDR-Presse in der Berichterstattung über die Oktober-Ereignisse in Polen wurde während einer öffentlichen Diskussion aufgenommen, die Anfang November im Berliner Finanzministerium stattfand. Ein Bericht über diese Diskussion wurde nur in der polnischen Presse veröffentlicht. Der Fernsehredakteur F. Schnitzler versuchte- stellvertretend für die DDR-Journalisten - dieses Verhalten folgendermaßen zu erklären: .,Wir hatten keine Informationen aus eigenen Quellen, und wir durften und wollten nicht zulassen, daß lügenhafte Informationen im Stil der Westpresse verbreitet werden". 69 John Peet, einer der West-Journalisten, erklärte daraufhin, er könne eine solche Haltung nicht verstehen, weil ADN und ,,Neues Deutschland" eigene Korrespondenten in Warschau hätten. Zudem habe die .,Trybuna Ludu" den Text der Rede bereits am 22. I0. gedruckt, das Organ der SED dagegen erst drei Tage später und nur in Auszügen. Ferner merkte Peet an, daß diese Pressepolitik zur Folge gehabt habe, daß Tausende von Menschen, die an den Ereignissen in Polen sehr interessiert gewesen seien, den Radiosender RIAS gehört hätten. Der Auftritt Peets wurde mit Beifall aufgenommen. Danach ergriff der Stellvertretende Vorsitzende des Radiokomitees, Eisler, das Wort und verteidigte die Entscheidung des ZK der SED . .,Wir kannten die Beschlüsse des ZK der PVAP nicht, wir kannten nur den Text der Rede Gomulkas. Es gibt doch mehr Mitglieder des PB. Wir wußten nicht, was die anderen Mitglieder des ZK der PVAP meinten, wie man die Ereignisse in Polen verstehen und kommentieren sollte". 70 Peet meldete sich zwar erneut zu Wort, aber die Vorsitzende der Versammlung unterbrach die Diskussion und wechselte das Thema. Nach zehn Minuten kam jedoch einer der Diskussionsteilnehmer auf das oben angesprochene Thema zurück. Seine Äußerungen geben die Atmosphäre jener Versammlung treffend wieder: .,Als ehrlicher Sozialist und Mitglied der FDJ meine ich, daß Ibidem. Za granica o polskich sprawach. Publiczna dyskusja w NRD (Im Ausland über die polnischen Angelegenheiten. Offentliehe Diskussion in der DDR), in: .,Sztandar Mlodych", Nr. 275, 16. II. 1956. 10 Ibidem. 68

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es kein ,Tabu' in unserer Presse geben darf, doch es gibt immer noch viele solcher ,Tabus'. Ich weiß, daß unsere Republik viele Feinde hat, daß sie vor ihren Feinden geschützt werden muß, aber nicht auf dem Weg, daß wir keine Informationen bekommen oder als Narren betrachtet werden. Warum habt Ihr kein Vertrauen zu den Lesern, warum denkt ihr, daß wir immer vorgekauten Brei serviert bekommen müssen, daß wir allein nicht in der Lage sind, eigene Schlüsse aus einer guten Information zu ziehen? Ihr sagt, ihr hättet keine offiziellen Informationen über Polen gehabt. Aber ist das Parteiorgan "Trybuna Ludu" keine offizielle Quelle?"71 Ende Oktober dominierten die Ereignisse in Ungarn das "Neue Deutschland". Die Niederwerfung des Aufstandes, die mit vielen Fotos illustriert wurde, sollte die Bevölkerung in der DDR offensichtlich vor eigenem Radikalismus warnen. Es ist verständlich, daß der Erfolg der "friedlichen" Reformen in Polen propagandistisch nicht ausgenutzt werden konnte. Die polnischen Angelegenheiten fanden in der Presse der DDR in Zusammenhang mit dem Besuch der polnischen Regierungs- und Parteidelegation in Moskau Mitte November 1956 wieder Aufmerksamkeit. Hierzu ein Fragment des politischen Berichtes der Polnischen Botschaft in Berlin: "Die Presse der DDR informierte und informiert auch die SED auf eine zurückhaltende und tendenziöse Weise über die Veränderungen, die in Polen stattfinden. Aus den in unserer Presse veröffentlichten Materialien wurden und werden nur die Fragmente veröffentlicht, die der dogmatischen Linie der Politik der SED entsprechen. Die Informationen über die polnischen Angelegenheiten wurden auf hintere Zeitungsseiten verdrängt".72 Die Darstellungsweise der polnischen Angelegenheiten im Oktober 1956 in der Presse einiger kommunistischer Parteien, auch der SED, war Gegenstand eines Aufsatzes von Edda Werfel in ,,Przeglad Zachodni" Anfang November 1956.73 Er war der Auslöser für eine ganze Reihe von aggressiven Artikeln in der Presse der DDR. Werfel warf der Presse der DDR willkürliche und sinnentstellende Kürzungen der Reden polnischer Politiker (vor allem Gomulkas) und der Resolutionen des ZK der PVAP vor. Diese Veränderungen seien ohne Rücksprache mit den polnischen Machthabern, allerdings in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der SED erfolgt. Scharfe Worte der Kritik richtete Werfel an den Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, der sich auf der 17. Sitzung der Volkskammer gegen den Prozeß der Liberalisierung in Polen ausgesprochen hatte. Gratewohl setzte die Liberalisierungen mit einer Rückkehr zum Kapitalismus gleich. Er beschäftigte sich außerdem vergleichend mit den Parteien der kommunistischen Staaten, wobei er feststellte, daß "Partei und Regierung der DDR von solchen fruchtlosen Streite11

Ibidem.

n "Raport politczny ambasady Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w Berlinie za okres od

I. 09. 1956 do 15. 03. 1957" (Politischer Bericht der Botschaft der Polnischen Volksrepublik in Berlin für den Zeitraum vom I. 09. 1956 bis zum 15. 03. 1957), A MSZ, Departament IV,

10/371141.

73 V gl. E. Werfel, Do towarzyszy bratnich partii (An die Genossen der Bruderparteien), in: "Przeglad Kulturalny", Nr. 44, 1.11. -7. 11. 1956.

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reien, die in Polen und Ungarn zustande kamen, frei waren. [ ... ]".74 Werfe! kommentierte ironisch: "Wir gratulieren der Partei der DDR, daß sie frei ist von derartigen Streitereien", und sie fuhr fort: ,,Ich erlaube mir darauf zu antworten, daß unsere eher fruchtbar waren und unsere Partei, obwohl sie Demokratie fordert, keine Einführung des Kapitalismus verfolgt. Dagegen möchte sie den Sozialismus wieder einführen, weil der Sozialismus sowohl den Begriff Demokratie als auch den Begriff der Freiheit beinhaltet".75 Der Artikel endete mit der Feststellung, daß das, was sich I 956 ereignet habe, keine ,,fruchtlosen Streitereien" seien, es sei vielmehr eine Revolution. "Wer sich der Revolution entgegenstellt, der befürwortet die Konterrevolution".76 Der Aufsatz von Werfe! rief viele Kontroversen hervor und war sogar Gegenstand von Diskussionen zwischen der PVAP und der SED im Dezember 1956. Der Chefredakteur des ,,Neuen Deutschland", Herman Axen, derjenige, den Werfe! in dem Text am meisten kritisierte, hatte Ende November eine Replik auf ihren Aufsatz geschrieben. 77 Zu dieser Replik hatten ihn sicherlich auch die zahlreichen westdeutschen Artikel gereizt, die Werfels Aufsatz ebenfalls viel Aufmerksamkeit geschenkt hatten.78 Axen sah in dieser Reaktion eine "Hetze gegen die Arbeiter- und Bauern-Macht in der DDR und die SED". Axens Empörung entzündete sich vor allem an Werfels Beurteilung der Oktober-Ereignisse, insbesondere an deren Behauptung, in Polen habe eine Revolution stattgefunden. Axens Vorwürfe blieben nicht ohne Echo. In den nächsten Tagen erschienen in der polnischen Presse einige Kommentare, die die Thesen des Artikels von Werfe! verteidigten und die Replik vom Chefredakteur des ,,Neuen Deutschland" verurteilten.79 "Was erfahren wir über die Genossin Werfe!?" fragte Wieslaw Gornicki in einer der Kommentare. "Nicht mehr und nicht weniger als das: Sie ist 1. Fälscherin des Marxismus-Leninismus, 2. Skribentin, 3. Schreierin, 4. Spalterin in der Arbeiterbewegung, 5. ein Schädling der proletarischen Solidarität, 6. Mensch in einer verdächtigen Gesellschaft, 7. Schädlicher Mensch, 8. Werberin mit falschem Pathos, 74 Ibidem. 1s Ibidem. 76 Ibidem. 77 H. Axen, Gegen die Verfälschung des Marxismus-Leninismus und Tendenzen der Spaltung der Arbeiterbewegung. Eine Antwort auf den Artikel, ,.An die Genossen der Bruderparteien", von E. Werfe! (..Przeglad Kulturalny", Nr. 44), in: ,.Neues Deutschland", Nr. 282, 27. I I. 1956. 78 Der Aufsatz von Werfe! war durch verschiedene Zeitungen in der Bundesrepublik Deutschland kommentiert, wie z. B. W Günzel, Warschau tadelt Ostberlin. Heftige Kritik an den ,.Genossen der Bruderparteien", in ,.Die Welt", Nr. 269, 15. 11. 1956. S. 3; A. Korab, Warschau kritisiert stalinistische Parteien. Auch die SED mußte Unangenehmes aus Polen vernehmen, in: ,.Tagesspiegel", 17. II. 1956. 79 Vgl. W Gornicki, ,.Skryba" Werflowa i ,.teretyk" Axen, czyli jak nie nalezy prowadzic dyskusji (Der ,.Skribent" Werfe! und der ,.Theoretiker" Axen, also wie man die Diskussion nicht führen darf), in: ..Sztandar Mlodych, Nr. 2. 12. 1956, S. 4; J. Majski, Odpowiedz Hermannowi Axenowi (Die Antwort an Hermann Axen), in: ,,Przeglad Kulturalny", Nr. 49, 6. 12- 12. 12. 1956; S. Arski, Opiania i fakty (Meinungen und Fakten), in: ,,Zycie Warszawy", Nr. 294, 7. 12. 1956.

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9. Verleumderinder KPdSU, 10. Skribentin, die das Wörterbuch aus dem Arsenal der imperialistischen Propaganda benutzt, 11. Lügnerin, 12. Privater Mensch, der die unverzeihliche Einmischung in die Angelegenheiten der anderen Parteien zuläßt". 80 Anfang Dezember erschien unter dem Titel "Die marxistisch-leninistische Partei - die führende Kraft des Volkes" der nächste antipolnische Artikel im ,,Neuen Deutschland", diesmal von der Redakteurin der Parteischule beim ZK der SED, Hanna Wolf. 81 Wolf polemisierte gegen Artikel aus der polnischen Presse. Sie kritisierte vor allem einen Artikel von Jerzy Kossak, Eligiusz Lasota und Witold Wirpsza unter dem Titel: "Führer oder Verwalter".82 Die Autoren fordern in diesem Artikel u. a. Reformen in der Partei, die dem "Bürokratismus" ein Ende machen sollten. Ferner ging es um die Zulassung lokaler Parteiorganisationen (dolow partyjnych) sowie um die Verselbständigung der Parteiführer. Wolf dagegen bezeichnete die Forderungen der Verfasser als naiv und als Beleidigung der Parteiführung. Die Ereignisse in Ungarn würden zeigen, was passieren könnte, wenn eine lokale Parteiorganisation ("oddolna" organizacja)- wie z. B. der Petöfiklub83 - beschlösse, für die ganze Partei zu entscheiden. Sie warf den Autoren vor, daß sie unter dem Banner des Kampfes gegen den Stalinismus (ihrer Meinung nach war es ein seit Jahren durch die imperialistische Propaganda benutztes Schlagwort) gegen die leninschen Parteiprinzipien (leninowskie zasady partyjne) kämpfen. Wolf bezeichnete den Juni-Aufstand 1956 in Polen weiterhin als faschistischen Putsch. Auch dieser Artikel fand großes Interesse in der westdeutschen Presse, weckte allerdings nicht mehr so viele Emotionen wie der Artikel von Axen.84 In den Artikeln von Axen und Wolf, insbesondere an der übermäßigen Kritik an der polnischen Presse, kann man eine panikartige Beunruhigung über die OktoberVeränderungen in Polen erkennen. Die in polnischen Zeitungen publizierten kritischen Texte über die Arbeit der Partei, die polnisch-sowjetischen Beziehungen sowie die Probleme des Stalinismus riefen den Widerstand der deutschen Seite hervor. In deren Augen bedeutete allein die Veröffentlichung dieser Texte eine Konterrevolution und einen Bruch mit der marxistischen Doktrin. Man befürchtete eine Loslösung Polens vom sozialistischen Block. Aus dieser Überzeugung resultierte so Grornicki, op. cit., S. 4. 8t H. Wolf, Die marxistisch-leninistische Partei - die führende Kraft des Volkes. Einige Bemerkungen zu einem Artikel in der polnischen Zeitschrift "Po prostu", in: "Neues Deutschland". Nr. 288, 4. 12. 1956, S. 5. 82 Vgl. J. Kossak, E. Lasota und W. Wirpsza, Przywodca czy administrator (Führer oder Verwalter), in: ,,Po prostu", Nr. 45, 4 . 11. 1956, S. 2. 83 Studentischer Diskussionszirkel in Budapest 1956, der sich nach dem Freiheitsdichter der Revolution 1848/49 "Petöfi-Klub" nannte. Vgl. J. K. Hoensch, Ungarn. Geschichte. Politik. Wirtschaft, Hannover 1991, S. 130. 84 Vgl. Neue SED-Attacke gegen Polen. Leiterin der Parteischule polemisiert gegen AntiStalinisten, in ,,Die Welt", Nr. 283, 3. 12. 1956; Vorwürfe gegen Warschau, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Nr. 282, 3. 12. 1956. 44 Timmermann

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sicherlich der anklagende Ton dieser Artikel. Für eine freie Auseinandersetzung mit polnischen Positionen gab es in der DDR-Presse keinen Raum. Deren Ermahnungen richteten sich insofern nicht allein an die polnischen Journalisten, sondern indirekt auch an die polnische Partei- und Staatsführung. Gleichzeitig stilisierten sich die Autoren -und deren Vorgesetzte - zu ,Wachtern der Reinheit der marxistischen Doktrin'. Pawel Beylin hierzu: ,,Dieser Ton resultierte daraus, daß in der Arbeiterbewegung lange Zeit keine freie Diskussion stattgefunden hat. Es wurde ausschließlich mit dem Feind diskutiert, und zwar in Form von Beschimpfungen. Der Übergang von Beleidigungen zu einem sachlichen und kulturellen Austausch unter Freunden ist, wie sich herausgestellt hat, keine leichte Sache, selbst für manche sehr verantwortungsbewußte Genossen".85 Die Auseinandersetzung zwischen der DDR und Polen offenbarte die Unterschiede in der Betrachtung des Marxismus in diesen beiden Ländern.

111. Reaktionen in der Bevölkerung Die Oktober-Ereignisse in Polen riefen bei weiten Teilen der Bevölkerung der DDR ein lebhaftes Interesse hervor. Viele wollten nicht riur umfassend über das 8. Plenum informiert werden, sondern dachten darüber hinaus über Reformmöglichkeiten im eigenen Land nach. Dies gilt insbesondere für die Intellektuellen. Viele in der DDR hegten die Hoffnung, daß es eine Chance geben würde, selbst die Initiative zu übernehmen und die Parteiführung zu einer Revision ihrer Politik und sogar zu personellen Veränderungen in der Zusammensetzung der Führung zu zwingen. Gerade die letztgenannte Tendenz war besonders gefährlich für die DDR-Führung und wurde mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Da die Presse in der DDR über die Ereignisse in Polen wenig berichtete und die Machthaber dieses Staates in der Zeit des 8. Plenums das Abonnieren polnischer Zeitungen und Zeitschriften verboten, gab es viele Beispiele dafür, daß polnische Artikel abgeschrieben wurden, die zuvor im Polnischen Kultunentrum in Berlin ausgeliehen worden waren. Die deutsche Ausgabe der Rede von W. Gomulka auf dem 8. Plenum aus der Breslauer ,,Arbeiterstimme" wurde zu einem ,Bestseller'. 86 Die polnische Botschaft in Berlin berichtete der Zentrale sehr oft über Klagen von DDR-Bürgern über ,ihre' Presse, die entweder über die Situation in Polen konsequent schwieg oder die polnischen Ereignisse verzerrt darstellte. Diese Situation rief große Unzufriedenheit hervor. Es wurden ausführliche Informationen über die Vorgänge im Nachbarland verlangt. Derartige Forderungen wurden von seiten einiger Betriebsbelegschaften, vor allem aber von Studenten vorgetragen, die sogar ss P. Beylin, 0 rzetelna polem.ike w ruchu robotniczym (Um redliche Polemik in der Arbeiterbewegung), in: .,Przeglad Zachodni", Nr. 285, 6. 12. 1956. 86 Der vollständige Text der Rede W. Gomulkas wurde in der ,,Arbeiterstimme" in zwei Teilen veröffentlicht. Vgl. Rede des Genossen Wladyslaw Gomulka, T. I, in: .,Arbeiterstimme", Nr. 211,23. 10. 1956, S. I, 2 und T. 2, Nr. 212,24. 10. 1956, S. 2-5 .

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mit Demonstrationen drohten. Eine Folge der staatlichen Informationspolitik in der DDR war die Zunahme von Diskussionen, die insbesondere nach den tragischen Ereignissen in Ungarn über den Rahmen von Betrieben und Parteiinstanzen hinausgingen. Dazu bemerkte die polnische Botschaft in Berlin: ,,Es wird allgemein die Meinung vertreten, daß - vor dem Hintergrund der Bedrohung der DDR durch die BRD - der Prozeß der innenpolitischen Veränderungen in der DDR nicht so stürmisch wie in Polen verlaufen sollte, da dies sicherlich zu einem Krieg zwischen der UdSSR und dem Westen (Intervention der UdSSR in Ungarn) führen könnte". 87 Besonders heftige Diskussionen fanden an den Universitäten in Rostock, Halle, Leipzig, Jena, Weimar und Berlin, vor allem aber an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee statt. Die Ereignisse in Polen und Ungarn gaben Anlaß, auch über die Situation in der DDR öffentlich nachzudenken. Ende Oktober formulierten Studenten erstmals politische Forderungen, u. a. zur Frage der Wiedervereinigung Deutschlands. In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober wurde an der Wandtafel der FDJ im physikalischen Institut der Humboldt-Universität in Berlin ein "Aufruf an alle Studenten" angebracht. In diesem Aufruf war u. a. zu lesen: ,,Es gibt keine Macht der Welt, die daran interessiert ist, dem deutschen Volk seine Freiheit, Unabhängigkeit und sein geeintes Vaterland zurückzugeben. Allein wir Deutschen selbst können und müssen dieses große Ziel erzwingen [ . . . ]. Die letzten Ereignisse in Polen und Ungarn zeigen mit aller Deutlichkeit, daß dieser Kampf nicht aussichtslos sein wird [ ... ]. Studenten! Verweigert die Tätigkeit in der kommunistischen Zwangsorganisation FDJ. Nutzt die Gelegenheit der Ausbildung an Waffen der OST [GTS - Gesellschaft für Sport und Technik - Anm. des Verf.], [ ... ] Zieht die Lehren aus dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Die Masse der Bevölkerung wartet nur auf eine Initiative von oben". 88 Außerdem wurde objektive und schnelle Information durch die Presse, Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts sowie Zulassung von unabhängigen Studentenorganisationen gefordert. In einer Analyse des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR war zu lesen: "Aus fast allen [ ... ) Hochschulen zeigen sich Versuche der Studenten - teilweise unterstützt durch Professoren - die Auseinandersetzungen in der Volksrepublik Polen und Ungarn ftir Forderungen an die Führung der SED und den Staat auszunutzen. In Versammlungen, Diskussionen und vereinzelt auch in Resolutionen und Schreiben wird - oft im Einverständnis mit den FDJ-Leitungen - verlangt: ,Änderungen im Hochschulbetrieb, nämlich vor allem Gründung einer ,unabhängigen' 87 "Raport polityczny ambasady polskiej Rzeczypospolitej Ludowej w Derlinie za okres od I. 09. 1956 do 15. 03. 1957" (Politischer Bericht der Botschaft der PRL in Berlin ftir den Zeitraum vom I. 09. 1956 bis zum 15. 03. 1957), A MSZ, Departament IV Niemcy, 10/371/ 41. Vgl. auch "Notatka informacyjna w sprawach wynikajacych ze stosunkow miedzy Polska a Niemiecka Republika Demokratyczna" (lnformationsmitteilung in der aus den Beziehungen zwischen Polen und der DDR resultierenden Beziehungen), A MSZ, Departament IV, 10/463/48. 88 Zit. nach Mitter, Wolle, op. cit., S. 264-265.

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Studentenorganisation, Auflösung der FDJ-Hochschulgruppen, Abschaffung des obligatorischen gesellschaftlichen Grundstudiums und des Unterrichts in der russischen Sprache'. Heftige Angriffe richten sich besonders gegen die Berichterstattung der demokratischen Presse [ .. . ).Die Mehrzahl der Studenten- auch die Mitglieder der SED - orientieren sich nach der Westpresse und vor allem nach den Meldungen des RIAS. Die Hochschulleitungen der SED und FDJ sind nur selten in der Lage, der feindlichen Argumentation entgegenzuwirken. Wie nach dem XX. Parteitag der KPdSU. verstärkten sich die Äußerungen gegen das Führungskollektiv der SED, besonders gegen W. Ulbricht, dessen Rücktritt wiederholt gefordert wird". 89 Anfang November stellten die Studenten der Humboldt-Universität einen neuen Forderungskatalog auf. Zu den vorher genannten kamen noch folgende hinzu: studentischer Austausch mit der BRD, freier Reiseverkehr, unbeschränkter Zugang zur Westliteratur. Den Versuch, diese Forderungen an das Staatssekretariat ftir Hochschulwesen weiterzugeben, wurde durch Intervention der Polizei unterbunden. Ab Mitte November reagierte die Partei u. a. mit Relegierungen von Studenten. Auch Hochschullehrer fielen der ,Säuberungsaktion' zum Opfer. Am 29. 11. wurde der Philosoph Wolfgang Harich verhaftet, der eine Arbeit über einen ,deutschen Weg zum Sozialismus' verfaßt hatte. 90 Auch der Philosoph Ernst Bloch wurde für die Verbreitung ,nicht-orthodoxen' Gedankenguts mit Entzug der Publikationserlaubnis bestraft.91 Sanktionen wurden weiterhin gegen den Botschafter der DDR in Polen, Stefan Heymann, verhängt. Dieser wurde im März 1957 wegen ,.mangelhafter Berichterstattung über die politischen Ereignisse in der Volksrepublik" abberufen92. Hintergrund dieser Abberufung war eine Äußerung Heymanns vor dem Parteiaktiv der Botschaft der DDR in Warschau am 16. 11. 1956. Heymann hatte festgestellt, daß die ,.Botschaft in ihrer Arbeit eine Reihe Erfolge erzielt hat, besonders daß es uns gelungen ist, in einer sehr kritischen Situation eine richtige Einstellung zu den internationalen Ereignissen und den Geschehnissen in der VRP zu erreichen und daß es gelungen ist, diese Einstellung auch Berlin gegenüber durchzusetzen. Es ist daher zu keiner Trübung der Beziehungen unserer Republik zur Volksrepublik Polen gekommen".93 Nach Meinung des stellvertretenden Außenministers Otto Winzer habe Heymann zu unrecht unterstellt, daß es, wäre es nach dem Willen Ibidem, S. 265-266. Vgl. W Harich. Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus, in: ders., Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Berlin 1993. Siehe auch: SED und Intellektuelle in der DDR in den fünfziger Jahren. Kulturbund-Protokolle, hrsg. von M. Heiderund K. Thöns, Köln 1990, S. 61-65; K. W. Fricke, Opposition und Widerstand. Ein politischer Report, Köln 1984, S. 121-123; Mitter. Wolle, op. cit., S. 272-273; Kozik, op. cit., S. 3440. 91 .. Hoffnung kann enttäuscht werden". Ernst Bloch in Leipzig, dokumentiert und kommentiert von V. Caysa, P. Caysa, K.-D. Eiehier und E. Uhl, Frankfurt/Main 1992, S. 42 ff. 92 Vgl. ..DDR"- Botschafter aus Warschau abberufen, in ,,Die Brücke", 16. 02. 1957. 93 .,Unverzügliche Abberufung von Botschafter Heymann", SAPMO-BArch ZPA, J IV 2/ 202- 386/ Bd. I. 89

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,Berlins' - also der Regierung oder des Außenministeriums - gegangen, zu einer Trübung der Beziehungen unserer Republik zur Volksrepublik Polen gekommen wäre. Hierin liege, so Winzer, sowohl eine Verletzung der selbstverständlichen Pflichten Heymanns als Botschafter der Republik als auch ein großer Verstoß gegen die Politik von Partei und Regierung. 94 Die in den Archiven der ehemaligen DDR aufbewahrten Berichte des Botschafters Heymann, vor allem diejenigen aus der Zeit nach dem Oktober 1956, bestätigen dessen Entwicklung von einem kommunistischen Dogmatiker zu einem kommunistischen Reformer, der die Fortschritte in der Liberalisierung des politischen Lebens in Polen unterstützte. Die Machthaber der DDR versuchten auf verschiedene Weise die Gesellschaft vor der ,Infizierung' mit dem ,polnischen Bazillus' zu schützen. Die Streitkräfte der DDR, die Sicherheitsdienste und andere paramilitärische Organisationen wurden mobilisiert und in jederzeitige Einsatzbereitschaft versetzt. Alle ,inoffiziellen' Informationen über die Ereignisse in Polen wurden bekämpft, Kontakte zwischen beiden Ländern, vor allem die Reisemöglichkeiten, wurden erheblich eingeschränkt und die Zollkontrollen an der Grenze verschärft. Von diesen Restriktionen war auch die polnische Botschaft in Berlin betroffen. Auf der Politbürotagung Anfang November wurde ein Beschluß zur Einschränkung der Einreise aus Polen gefaßt. 95 Im Aktenvermerk, der zu dieser Sitzung vorgelegt wurde, heißt es: ,,Ende Oktober 1956 hatte Genossin Kundennano eine Unterredung mit der Genossin Rentmeister vom Ministerium für Kultur und dem Genossen Wiese von der Gesellschaft für kulturelle Verbindungen. In dieser Besprechung wurde festgelegt, daß bis auf weiteres die Einreisen aus der Volksrepublik Polen und Ungarn in die DDR auf ein Minimum beschränkt werden müssen und nur zugelassen werden dürfen, wenn es sich um Einhaltung wichtiger Vertragsverpflichtungen handelt. In solchen Fällen muß jedoch eine gute politische Betreuung der Einreisenden durch uns gewährleistet sein [Hervorhebung des Verf.]. Betreffend Ausreisen wurde vereinbart, daß diese ebenfalls auf ein Minimum zu beschränken sind und nur politisch qualifizierte Personen zu entsenden sind". 96 Die Folgen dieses Beschlusses waren bald spürbar. Die polnische Botschaft berichtete in den nächsten Monaten sehr oft über Einreiseverweigerungen oder Schwierigkeiten, auf die Polen während ihres Aufenthaltes in der DDR stießen.97 Ähnliche Probleme hatten auch Bürger der DDR, vor allem Jugendliche, Vgl. ibidem. Vgl. "Aktenvermerk", SAPMO-BArch ZPA, IV 2/2/508. 96 Ibidem. 97 Manchmal waren diese Restriktionen sehr drastisch. So heißt es etwa in einer Notiz der polnischen Botschaft in Berlin an die Zentrale: ,,Einer Gruppe von Studenten aus der Technischen Hochschule in Lodz, die kurz vorher auf eigene Kosten eine Gruppe von 40 Professoren und Studenten aus der DDR bei sich zu Gast hatten, wurde Anfang November dieses Jahres [1956- Anm. des Verf.] das Einreisevisum in die DDR verweigert, wohin sie von ihren deutschen Kollegen eingeladen worden waren. Besonders in der Botschaft der DDR in Warschau wurden den Studenten erklärt, daß von ihrer 43 Personen zählenden Gruppe nur 94 9S

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die nach Polen fahren wollten. Am 4. 12. 1956 überreichte die Botschaft der DDR dem polnischen Außenministerium eine Note über die Einführung eines Einreisevisums für polnische Einreisende in die DDR. Dieser Beschluß war durch das Präsidium des Ministerrates der DDR am 29. 11. gefaßt worden.98 Weitere Beschlüsse des Präsidiums des Ministerrates der DDR betrafen nicht nur Privatpersonen, sondern auch Personen mit Dienst- oder Diplomatenpässen. Die neuen Maßnahmen wurden mit der Notwendigkeit zur Verstärkung der Wachsamkeit der DDR angesichts der gegenwärtigen politischen Situation und der besonderen Lage der DDR begründet. Noch Mitte November wurde die polnische Botschaft in Berlin informiert, daß sich alle Journalisten nach der Ankunft in Berlin beim Presseverband zu melden hätten. Diese Regelung zielte auf eine Aufenthaltskontrolle für polnische Journalisten in der DDR. Die negative Einstellung der Machthaber in der DDR gegenüber den Ereignissen in Polen drückte sich auch in der Einschränkung der Kontakte zwischen den Bürgern der DDR und Polens aus. Dr. Hermann, ein Polonist an der Humboldt-Universität in Berlin, informierte die polnische Botschaft über die Schickanierung und Verfolgung von Bürgern, die sich für Polen interessierten. Für jegliche Form von Zusammenarbeit mit Polen, bzw. für jede Form des Gedankenaustausches mit polnischen Bürgern, wurden Sanktionen angedroht. Die polnische Botschaft berichtete mit Beunruhigung über die drastische Abnahme von Besuchern der polnischen Botschaft. Dazu der 2. Sekretär der Botschaft, J. Pierzchala, im Dezember 1956: "Sogar sog. gute Bekannte bitten, daß wir sie nicht anrufen, weil sie denken, daß die Gespräche abgehört werden und die Machthaber in der DDR wissen, mit wem sich die Mitarbeiter der Botschaft treffen". 99 Auch die Besucherzahlen im Polnischen Kulturzentrum nahmen ab. Diese Situation war Gegenstand eines Gesprächs des polnischen Botschafters in der DDR, Roman Piotrowski, mit Ulbricht Anfang Januar 1957. Bei diesem Treffen warf Ulbricht den Botschaftsmitarbeitern vor, wesentliche Aufgaben der Botschaft vernachlässigt zu haben. Er zog daraus die Konsequenz, jegliche Kontakte zu polnischen Delegationen zukünftig über das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten oder das ZK der SED zu kontrollieren. Die Botschaft sollte Delegationen polnischer Staatsbehörden an die MfAA, Delegationen von sonstigen Organisationen dagegen an das ZK der SED weiterleiten. Darüber hinaus wurde der Botschaft untersagt, Kontakte zwischen Warschau und der Polnischen Militärmission in West-Berlin zu vermitteln. Polnischen Journalisten, die nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik fahren wollten, wurde jeglicher Aufenthalt in der DDR verboten. Nach Einschätzung des Botschafters 4 Personen reisen dürfen, weil die DDR-Machthaber die Einreisen aus Polen bremsen müssen". Zit. nach ,,Aktenvermerk vom 30. II. 1956", A MSZ, 10/378/42, t. 2. 98 Damit wurde der Beschluß von Anfang 1956 rückgängig gemacht, der die Visumspflicht aufgehoben hatte. 99 ,,Notatka infonnacyjna II-go Sekratarza Ambasady PRL w Berlinie, J. Pierzchaly, z dnia 6. 12. 1956" (lnfonnationsmitteilung des Zweiten Sekretärs der Botschaft der PVR in Berlin, J. Pierzchala vom 6. 12. 1956), A MSZ 101731/79.

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Piotrowski führte dieses Gespräch, das er in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Zentrale in einem .freundschaftlichen Geiste' durchführen sollte, um die Situation zu klären, eher zu einer Verschärfung der Situation. Trotz scheinbarer Offenheit und Entgegenkommen hatte es den Charakter eines Diktats von Bedingungen, auf die sich die Zusammenarbeit unserer Botschaft mit der DDR stützen sollte". 100 Die beträchtlichen Einschränkungen, die der Arbeit der polnischen Botschaft in Berlin auferlegt wurden, stellten die Erfüllung vieler ihrer Aufgaben in Frage. In dieser Situation schlug die Abteilung IV des polnischen Auswärtigen Amtes sogar eine Verringerung des Botschaftspersonals in Berlin vor. Dieser Vorschlag wurde von der Ressortleitung im polnischen Außenministerium nicht akzeptiert. Allerdings wurden andere Vorschläge der Abteilung angenommen, die das Ziel verfolgten, .,Unstimmigkeiten mit der deutschen Seite in jedem Fall zu vermeiden und die Isolation der Botschaft zu verhindern. Ohne mit der deutschen Seite darüber zu streiten, ob die uns aufgezwungenen Einschränkungen sinnvoll waren, sollten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, den Kontakt mit der Bevölkerung in der DDR aufrechtzuerhalten". 101 Die Ereignisse in Polen im Jahre 1956 hatten eine große Bedeutung für die Beziehungen zwischen der VRP und der DDR. Im Laufe der Monate fiel die Fassade der üblichen offiziellen Parolen und der Freundschaftsbeschwörungen der sozialistischen Bruderländer in sich zusammen. Die Probleme, die die Nachbarn miteinander hatten und tatsächlich bestehende, bis dahin von der floskelhaften Beschwörung der Freundschaft zwischen sozialistischen Bruderländern überlagerte Vorbehalte und Aversionen traten in den Vordergrund. Der Einfluß der poststalinistischen Veränderungen in Polen beschränkte sich nicht nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Gesellschaft in der DDR hatte wahrscheinlich zum ersten Mal die Möglichkeit, Polen mit anderen Augen zu sehen. Die Kriegserfahrungen waren nicht mehr die einzige Gemeinsamkeit der beiden Völker. Immer öfter wurde die Meinung vertreten, daß die Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebenssituation und auf Freiheit im gesellschaftlichen Leben die Menschen in verschiedenen Staaten beleben kann. Das Interesse für den Verlauf der Ereignisse in Polen war besonders innerhalb der Intelligenz sichtbar. Studenten, Hochschullehrer und Intellektuelle begrüßten die Zunahme der Diskussionsfreiheit in Polen im Laufe des Jahres 1956. Für sie war auch der kulturelle Aufschwung während des .,Tauwetters" sehr attraktiv. Die politischen Veränderungen in Polen zeigten, daß es möglich war, grundlegende Reformen im Staat auf einem friedlichen Weg durchzuführen, ohne die Prinzipien des Sozialismus aufzugeben, daß derartige Reformen sogar im Namen dieser Prinzipien gefordert werden konnten. Die Intellektuellen erkannten die Diskrepanz zwischen der Berichterstattung der eigenen Medien in der DDR und derjenigen nicht nur aus dem westlichen Ausland, sondern nun auch der polnischen. In dieser Situation konnte die Partei nicht alles mit einer ,imperialistischen 1oo ,,Notatka z dnia 12. 01. 1957 r. Seisie tajne" (Aktenvennerk vom 12. 01. 1957. Streng geheim), A MSZ 101731179. 101 .,Notatka z dnia 18. 01. 1957" (Aktenvennerk vom 18. 01. 1957, A MSZ 101731179.

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Verschwörung' oder mit ,propagandistischen Lügen' erklären. Letztlich kam es zu einer Teilniederlage des Informationsmonopols in der DDR. Eine weitere indirekte Auswirkung der polnischen Ereignisse auf die Bevölkerung in der DDR war eine gesteigerte Wahrnehmung der Fehler und Verbrechen der eigenen Regierung. Nur ein Teil der DDR-Führung begegnete den zunehmenden Reformforderungen der eigenen Bevölkerung mit Verständnis. Innerhalb der SED zeigten sich Spaltungstendenzen. An der Spitze der Gegner Ulbrichts und seines harten Kurses standen K. Schirdewan, G. Ziller, E. Wollweber u. a.m. Allerdings wurden die neu erwachten Hoffnungen sehr schnell durch den Staatsapparat enttäuscht. Die äußeren Ereignissen - die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn - trugen zu einer Festigung der Position Ulbrichts bei, denn in dieser Situation hatte der Kreml kein Interesse an Veränderungen in der DDR. Ulbricht und dessen Anhänger garantierten eine sichere Westgrenze des Ostblockes. Das war entscheidend. Die in den folgenden Monaten durchgeführte Säuberung in der Partei beruhigte die Situation etwas. Eine dauerhafte Folge der Ereignisse von 1956 war, wie es scheint, eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen. Im folgenden Jahr wurden zwar einige Schritte unternommen, diese Entwicklung zurückzudrehen. Dabei spielte die Veränderung der Politik Gomutkas im Laufe diesen Jahres, d. h. die Abkehr vom Geist des "Oktobers", eine große Rolle. Ulbricht begrüßte diese Veränderung, was er Anfang 1958 auf folgende Weise zum Ausdruck brachte: "[ ... ] Recht hatte der alte Heraklit, der gesagt hat, daß alles fließt. In den Beziehungen zwischen uns ist sehr viel Wasser geflossen, schmutziges und sauberes und nun gilt es, nur einer Sache unsere Zeit zu widmen - dem gemeinsamen Bau des Sozialismus". 102 Wie die folgenden Jahrzehnte deutlich gezeigt haben, reichte die Zusammenarbeit der ersten Sekretäre und deren politische und wirtschaftliche Manöver nicht aus, um den oben erwähnten "gemeinsamen Bau des Sozialismus" zu verwirklichen. 1956 wurden in den Bewohnern von Posen, Warschau, Berlin und Budapest Hoffnungen geweckt, die nicht zu unterdrücken waren. Dies ist das wichtigste Ergebnis der Ereignisse 1956 für die Geschichte Ostmitteleuropas.

102 ,,List ambasadora R. Piotrowskiego z dnia 8. 01. 1958 do ministra spraw zagranicznych A. Rapackiego" (Brief des Botschafters R. Piotrowski vom 8. 0 I. 1958 an den Außenminister A. Rapacki), A MSZ 23177/9.

Die 2+4-Verhandlungen aus der Sicht eines Zeitzeugen Von Hans Misselwitz

Am Abend des 18. März 1990, nach Bekanntwerden des Ergebnisses der ersten freien Wahlen in der DDR, erklärte Stefan Heym, ein bekannter Kritiker des SEDRegimes, die DDR zur .,Fußnote der Weltgeschichte". Bundeskanzler Kohl stellte am Tag danach fest, die DDR-Bürger hätten sich .,ohne jeden Zweifel für die Einheit Deutschlands entschieden" 1• Offen war nicht mehr das .,Ob", sondern nur noch das .,Wann und Wie" der deutschen Einheit. Das letzte, kürzeste Kapitel der Geschichte der DDR hatte begonnen Im folgenden will ich versuchen, die außenpolitischen Grundpositionen der letzten DDR-Regierung nachzuzeichnen, der ich als Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium angehörte und die ich bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen vertrat. Dieser Beitrag kann weder beanspruchen, eine vollständige Darstellung aller außenpolitischen Aktivitäten dieser Regierung zu sein, noch beruht er auf auf einem nachträglichen Quellenstudium und der Würdigung aller zu diesem Thema bisher erschienenen Literatur. Es ist der rückblickende Beitrag eines Beteiligten und für die DDR-Seite Mitverantwortlichen bis zum Ende der Koalitionsbildung der SPD am 20. August 1990.

I. Der begrenzte politische Spielraum der letzten DDR-Regierung Zum Verständnis des ostdeutschen Beitrages zu den 2+4-Verhandlungen müssen zunächst einige grundlegende Tatsachen, die der Außenpolitik der letzten DDRRegierung vorgegeben waren, in den Blick genommen werden. Sie definierten den Rahmen und den Handlungsspielraum der DDR im Prozeß der staatlichen Einigung nach innen wie nach außen. Die deutsche Frage war schon vor dem Zustandekommen einer demokratisch legitimierten Regierung von den Menschen in der DDR auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt worden. Unabhängig von der Regierung galt das Drängen der Bevölkerung auf schnelle Einigung als eine Tatsache, der sich die Politik unterzuordnen hatte. I Ansprache von Bundeskanzler Dr. Kohl zur Eröffnung der Konferenz für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa in Bonn am 19. 3. 1990, In: Bulletin, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 37, 20. 3. 90, S. 285 ff.

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Nach der Bildung der Regierung de Maiziere diente das Argument, die Bevölkerung dränge auf eine schnelle Wiedervereinigung, praktisch zwei Zwecken: - außenpolitisch, insbesondere an die Adresse der Sowjetunion gerichtet, als Hinweis darauf, daß jede Verzögerung bedeute, sich mit vollendeten Tatsachen abfinden zu müssen; - innenpolitisch als Hebel gegen Vorstellungen in der DDR-Volkskammer und in der DDR-Regierung, im Zusammenhang mit der Einigung von der Bundesrepublik Zugeständnisse für bestimmte Neuregelungen in ganz Deutschland oder Sonderregelungen für den Osten durchzusetzen. Ob das Argument tatsächlich die damalige Meinung in der DDR-Bevölkerung richtig widerspiegelt, mag bezweifelt werden. Nach einer vom Außenministerium der DDR im Juni 1990 beauftragten Umfrage befürwortete die große Mehrheit der Ostdeutschen (94%) die deutsche Vereinigung, doch entgegen der veröffentlichten Meinung meinten 54% der Bevölkerung der DDR, der Prozeß liefe schon zu schnell. Nur eine kleine Minderheit (8%) drängte zu der Zeit im Osten auf Beschleunigung. 2 Politisch stand allerdings außer Zweifel, daß die DDR-Regierung allein und gegen den Willen der Bundesregierung nicht in der Lage war, ein anderes zeitliches Szenario für die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands durchzusetzen. Insofern war der letztlich eingeschlagene Weg altemativlos. Die entscheidenden Weichenstellungen und die Festlegung des Verfahrens zur Lösung der "äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten" 3 , der sogenannte "2+4-Mechanismus", erfolgten zu einer Zeit, als die DDR praktisch ohne eine legitimierte Regierung und damit ohne Einfluß auf die Regelungen war. Bonn hatte schon im Februar die Initiative im deutschen Einigungsprozeß übernommen, nachdem Bundeskanzler Kohl am 10. Februar 1990 von Generalsekretär Gorbatschow in Moskau die Zusage erhielt, "daß die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird und daß es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen"4. Obwohl diese Zusage nicht über diejenige hinausging, die Modrow einige Tage zuvor erhalten hatte, wurde sie angesichts des Wahlkampfes in der DDR als eigentlicher Durchbruch inszeniert. Seitdem ließ Bonn keinen Zweifel darüber 2 Vgl. Umfrage vom Juni 1990 des Unabhängigen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung Berlin, Studie zur Meinung der DDR-Bürger über einige Aspekte des deutschdeutschen Einigungsprozesses, Berlin I Leipzig 1990. 3 Die sogenannte "Ottawa-Formel" vom 13. 2. 1990, vereinbart zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich, der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten auf der OpenSkies-Konferenz. Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 27, 20. 2. 1990, S. 215. 4 Presseerklärung von Bundeskanzler Dr. Kohl zum Treffen mit Präsident Gorbatschow am 10. 2. 1990, in: Deutschland Archiv 3/1990, S. 474.

Die 2+4-Verhandlungen aus der Sicht eines Zeitzeugen

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aufkommen, wer in deutschlandpolitischen Fragen nach außen zuständig war. Der Runde Tisch der DDR faßte zwar am 20. Februar 1990 noch einen Beschluß zur Deutschlandpolitik, konnte jedoch keine konstruktive Position mehr formulieren'. Auch ein Memorandum des Außenministeriums der DDR an alle KSZE-Staaten6 vom 23. Februar 1990 blieb ohne Resonanz. Der Modus der Herstellung der deutschen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik bedeutete, daß allein die Institutionen und die Ordnung der Bundesrepublik im vereinten Deutschland bestehen bleiben würden und die DDR ihre Selbstabschaffung beschließt. Das politische Kräfteverhältnis war nach dem Wahlsieg der CDU und ihrer Partner vom 18. März 1990 in der DDR vorentschieden. Der von der CDU und von Teilen der SPD favorisierte Weg des Beitritts der DDR zum Bundesgebiet nach Artikel 23 des damaligen Grundgesetzes und die desolate Wirtschaftslage in der DDR drängten auf schnelle Vereinbarungen mit der Bundesrepublik über eine Wirtschafts- und Währungsunion und im Gefolge dessen auf eine weitgehenden Rechtsangleichung in der DDR an das bundesdeutsches Recht. Diese Aufgabe war nur in einer großen Koalition unter Einschluß der SPD möglich. Die SPD, die zunächst von einem sogenannten "gestreckten Weg zur deutschen Einheit" unter Berufung auf Artikel 146 des Grundgesetzes ausgehen wollte, hatte zu einer Zusammenarbeit auf Regierungsebene nur die Alternative, als Hemmschuh der Einheit von der Regierung vorgeführt zu werden. Der Koalitionskompromiß hieß dann: Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach vorausgehender vertraglicher Vereinbarung. Ministerpräsident Lotbar de Maiziere beschrieb das in seiner Regierungserklärung mit dem Satz: "Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig wie nötig sein."7 Das Dilemma dieser Position bestand jedoch darin, daß jeder erfolgreiche Schritt der Umsetzung dieser Politik zugleich die Aufgabe eines Stückes eigener Souveränität bedeutete. Das Ende der Währungssouveränität durch die Einführung der DM ging logischerweise mit dem Verlust finanzpolitischer und damit auch politischer Souveränität einher.8

s Im Beschluß des Runden Tisches zur Deutschlandpolitik vom 20. 2. 1990 heißt es zum Beispiel: "1. Eine NATO-Mitgliedschaft des zukünftigen Deutschlands wird grundsätzlich abgelehnt. Ein entmilitarisierter Status eines künftigen einheitlichen deutschen Staates wird angestrebt." und "3. Der Anschluß der DDR oder einzelner Länder an die Bundesrepublik durch eine Ausweitung des Geltungsbereiches des Grundgesetzes der BRD nach Artikel 23 wird abgelehnt." Vgl. H. Herles, Hg., Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn 1990, S. 168. 6 ,,Zur Einbettung der Vereinigung beider deutscher Staaten in den gesamteuropäischen Einigungsprozeß". Memorandum des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR an die KSZE-Mitgliedsstaaten vom 23. 2. 1990. In: Außenpolitische Korrespondenz, hrsg. vom MfAA, 9. 3. 1990, S. 58 f. 7 Regierungserklärung des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik vom 9. 4. 1990, in: Deutschland Archiv 5/1990, S. 795-805.

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II. Außenpolitische Grundpositionen der Regierung de Maiziere Die von der Fünf-Parteien-Koalition unter Lothar de Maiziere vereinbarten "Außen- und Sicherheitspolitischen Grundpositionen" waren von der Auffassung getragen, daß sich die deutsche Vereinigung in einen gesamteuropäischen Einigungsprozeß einfügt und der Schaffung eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssystems Impulse verleiht. Übereinstimmung herrschte darüber, daß der deutsche Einigungsprozeß die Ablösung der existierenden Militärblöcke befördern soll zugunsten eines nach einer Übergangszeit im Rahmen der KSZE zu schaffenden Sicherheitssystems. 9 Eine Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO wurde "an eine sich in ihren militärischen Funktionen verändernde NATO" ("ohne Forward Defense, Flexible Response und Nuclear First Strike Option") für eine .,Übergangszeit" gebunden. 10 Das Gebiet der DDR sollte in der Übergangszeit keine der NATO unterstellten Truppen beherbergen. 11 Bei den Koalitionsverhandlungen existierten in sicherheitspolitischen Fragen nur wenige Unterschiede zwischen den Hauptverhandlungspartnern aus der ostdeutschen CDU und SPD. So war die CDU auch bereit, der Forderung nach Abzug der Atomwaffen von deutschem Boden zuzustimmen. 12 Die Frage einer künftigen NATOMitgliedschaft mußte in der DDR nicht nur problematisiert, sondern auch als Bedingung für die deutsche Einheit offengehalten werden. Erstens hatten für die DDR-Politik .,die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, deren Einbindung in die gesamteuropäische Integration und die Absicherung gegen die Risiken der Vereinigung Priorität" 13 • Dem ordnete sich für die DDR die Frage der Bündnismitgliedschaft naturgemäß unter. Die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands konnte folglich nur als Möglichkeit und unter Berücksichtigung der Fragen der Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR nach einer Übergangsfrist eingeräumt werden. Zweitens war die DDR noch Mitglied im Warschauer Vertrag und konnte eine schnelle Herauslösung aus diesem Pakt nur mit Zustimmung der Sowjetunion vollziehen, also nicht ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion (und der anderen Vertragspartner). 8 Vgl. Rede des Finanzministers der DDR, W. Romberg, In: Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode, Sondertagung (8.Tagung), 21. 5. 1990, S. 211. 9 Vgl. Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFP, BFD, F.D.P.) und der SPD vom 12. 4. 1990, Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen, insbesondere 2.1.; 2.3.; 2.4.; 3.1. und 3.2. 10 Vgl. ibid. Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen 3.2. II Vgl. ibid. Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen 3.3. 12 Vgl. ibid. Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen 5.7. 13 Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFP, BFD, F.D.P.) und der SPD vom 12. 4. 1990, Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen I.

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Die zentrale sicherheitspolitische Frage war folglich aus Sicht der DDR, trotz der bekannten Pro-NATO-Position des Westens, eine für die Sowjetunion akzeptable Regelung über das Gebiet der DDR zu erreichen, die gleichzeitig eine staatliche Vereinigung von DDR und BRD erlaubten. Die zentrale außenpolitische Frage stellte sich für die DDR vor allem in Bezug auf die Bewahrung guter Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarn und speziell gegenüber Polen. Insbesondere die Frage der Anerkennung der bestehenden polnischen Westgrenze, die für die DDR längst gelöst war, trat erneut in den Vordergrund. Die Koalitionsvereinbarung der Regierung de Maiziere nahm zwar die Anregung für die Abgabe parlamentarischer Erklärungen in der Grenzfrage auf, legte aber darüberhinaus fest: "Der jetzt bestehende Grenzverlauf wird in einem Grenzvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und Polen paraphiert.." 14 Damit legte sich die DDR hinsichtlich der Garantie der deutsch-polnischen Grenze auf ein Entgegenkommen gegenüber Polen fest. Ein besonderes Gewicht kommt in diesem Zusammenhang der mit Unterstützung aller Fraktionen abgegebenen Erklärung der Volkskammer zur "Verantwortung der Deutschen in der DDR gegenüber der Geschichte" zu. Zur konstituierenden Sitzung am 12. April 1990 bekannten sich die frei gewählten Parlamentarier der DDR zur deutschen Verantwortung angesichts des Holocaust gegenüber Israel, zur Versöhnung mit den Volkern der Sowjetunion, zur Mitschuld an der Niederschlagung des Prager Frühlings und zur Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze. 15 111. Ministerrunden: Die Strategie des kleinsten gemeinsamen Nenners 1. Kein Friedensvertrag Am 4. Mai 1990, dem Tag vor dem I. Außenministertreffen im Rahmen der 2+4-Gespräche traf der DDR-Außenminister Meckel zu einem Gespräch mit Außenminister Genscher zusammen. Dieses Treffen war das zweite nach einem inoffiziellen Antrittsbesuch Meckels bei seinem Bonner Kollegen am 24. April. Genscher ließ dem nur halb so alten DDR-Minister den Vortritt und äußert sich schließlich nur in einem Punkt klar und definitiv: in der Ablehnung des von den Sowjets geforderten "Friedensvertrages" oder einer "friedensvertraglichen Regelung" als Bezeichnung für das bei den Sechsergesprächen auszuhandelnde abschließende 2+4-Dokument. Die Nachkriegszeit sei definitiv zu Ende. Die alten Rechnungen sollten nicht wieder eröffnet werden. 14 Grundsätze der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den Liberalen (DFP, BFD, F.D.P.) und der SPD vom 12. 4. 1990, Außen- und sicherheitspolitische Grundpositionen 2.2. 1s Vgl. Deutschland Archiv 5/1990, S. 794 f.

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Die DDR-Vertretung stimmte dem zu. Nach unserem Verständnis sollte Deutschland im Prozeß der Vereinigung souverän seine Verantwortung vor der Geschichte einlösen und vor aller Welt zeigen, daß ein neues Kapitel deutscher Geschichte beginnen kann: Sowohl hinsichtlich der Anerkennung der Grenzen mit seinen Nachbarn als auch durch seinen Beitrag für eine europäische Friedensordnung. Die DDR regte zum Beispiel eine gemeinsame Initiative beider deutscher Staaten noch in diesem Sommer 1990 im Hinblick auf einseitige Abrüstungsschritte und Truppenbegrenzungen an. Eine Politik gemeinsamer Erklärungen und Festlegungen sollte verhindern, daß das, was sowohl im deutschdeutschen Konsens lag, als auch von allen Seiten als selbstverständliche Voraussetzungen angesehen wurde, schließlich als von außen auferlegte Bestimmungen erscheinen könnte. Also ging die Rede davon, kein neues "Versailles", sondern ein Abkommen zwischen souveränen und gleichberechtigten Partnern der Zukunft zu entwerfen. Die Herstellung der vollen Souveränität Deutschlands im Zusammenhang mit der staatlichen Vereinigung bedeutete aus der Sicht der DDR, die Chance wahrzunehmen, Deutschlands Einbindung in die Strukturen der europäischen Sicherheit von Anfang an als freie Entscheidung zu begründen und damit jeder Furcht vor künftigen deutschen Sonderwegen den Boden zu entziehen. Beim Treffen mit USAußenminister Baker am seihen 4. Mai 1990 in seiner Hotel-Residenz in Königswinter ließ sich dieser ebenso vernehmen: Ziel der 2+4-Verhandlungen sei es, einen Sonderstatus für Deutschland zu verhindem (,,No singling out of Germany''). 2. Die Formulierung des territorialen Status quo

Außenminister Baker definierte in eben jener ersten Begegnung als Antwort auf die DDR-Position einer vorbehaltlosen Anerkennung der polnischen Grenze den territorialen Status quo der Vier Mächte für das künftige vereinigte Deutschland: Es bestehe aus der BRD, der DDR und Berlin. Es erübrige sich damit jede weitere "Grenzfrage", wenn alle an den Verhandlungen beteiligten Seiten dies im Vertrag festlegten. In der DDR-Delegation löste dieser Ansatz Verwunderung aus: Wenn wir Deutschen zulassen sollten, daß der 2+4-Vertrag das Mittel ist, die künftigen deutschen Grenzen zu definieren, haben wir doch einen Friedensvertrag verdient. Statt durch eine freie, souveräne Vorleistung diese Frage gegenüber allen unseren Nachbarn endgültig zu klären, ließen wir uns an das Band einer Vier-Mächte-Garantie binden. Wir meinten deshalb noch mehr, die Westdeutschen zu einem gemeinsamen Vorgehen überreden zu müssen. Außenminister Meckel sprach deshalb am 5. Mai vor den versammelten Ministern vom Willen der Regierung der DDR, "den Wunsch ihrer Bevölkerung nach rascher Vereinigung mit den legitimen Interessen der Nachbarn in Einklang zu bringen", wodurch für die DDR die völkerrechtliche Anerkennung der heutigen Westgrenze Polens Vorrang habe: "Die Grenzfrage ist

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eine, die die Deutschen souverän mit ihren Nachbarn trilateral klären sollen. Deutschland wird seine Friedensfahigkeit unter Beweis stellen." 16 3. Die Regelung der Fristen

Aus der Sicht der DDR sollte das anzustrebende Abkommen von Anfang an als freie Selbstbindung der beiden deutschen Staaten ein besonderes Gewicht erhalten. Dazu mußten die essentiellen Fragen noch vor der staatlichen Vereinigung zumindest im Sinne eines Rahmen- bzw. Richtungsentscheids geklärt werden. Diese DDR-Position stand im Gegensatz zu dem von Außenminister Schewardnadse in Bonn eingebrachten Gedanken einer Entkoppelung des innerdeutschen Vereinigungsprozesses von der Lösung der sogenannten "äußeren Aspekte". Schewardnadse zielte mit seinem Vorschlag auf eine "Synchronisierung der Lösung der deutschen Frage mit der Entwicklung neuer Strukturen der gesamteuropäischen Sicherheit". Er wollte die alte Nachkriegs-Bindung Deutschlands nutzen, um es auf neuer Stufe in Europa einzubinden. Die Bonner Delegation reagierte zunächst offen auf den Schewardnadse-Vorschlag, gab er doch eine Lösung für Genschers Hauptsorge, der Tempoverlust im deutschen Einigungsprozeß könne "die Einheit sauer werden lassen" 17 . Auf dem 2. Außenministertreffen in Berlin arn 22. Juni 1990 wiederholte Schewardnadse zunächst seine Forderung nach einer 5-jährigen Übergangsperiode unter Beibehaltung der jeweiligen vertraglichen Bindungen Ost und Westdeutschlands (Doppelmitgliedschaft, bleibende alliierte Stationierungsrechte), um anschließend vor der Öffentlichkeit zu verkünden, daß die Klärung der äußeren Aspekte der Vereinigung Deutschlands vor dem KSZE-Gipfel, der auf November 1990vorgezogen werden sollte, abzuschließen sei. 18 Schewardnadse hatte somit ganz nebenbei in die vom Westen vorgeschlagene Zeitplanung eingewilligt. Bis November 1990 sollte es zu einer abschließenden Regelung kommen. Die Zeit arbeitete für die sogenannte "schlanke Lösung" Genschers.

16 Zitiert nach dem Manuskript der Rede des Außenministers der DDR, Markus Meckel, am 5. 5. 1990 in Bonn. 17 So umschrieb Genscher sein Hauptargument für die Beschleunigung der Herstellung der deutschen Einheit in einem Gespräch mit dem DDR-Außenminister Meckel am I. 6. 1990 in Berlin. 18 Zitiert nach dem "Bericht über das zweite Treffen im Rahmen 2+4 auf Ministerebene am 22. Juni 1990 in Berlin" des Minsteriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR vom 22. 6. 1990 (Manuskript).

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IV. Beamtentreffen Die sogenannten "Beamtentreffen" im Rahmen der 2+4-Gespräche fanden im Wechsel in Bonn und Ost-Berlin seit dem 14. März 1990 statt. Die Vertretung der DDR durch die neue frei gewählte Regierung geschah zum ersten Mal auf dem zweiten Treffen am 30. April in Berlin-Niederschönhausen, in der es um die Klärung der Tagesordnung der Verhandlungen und die Struktur einer möglichen abschließenden völkerrechtlichen Regelung ging. Deutlich wurde schon bei diesem Treffen die Grundkonstellation der Verhandlungen: Die westlichen Unterhändler verweigerten jede Ausweitung des Kataloges der Regelungen über eine Minimallösung hinaus. Auf französischen Vorschlag hin, der daraufhin am 22. Mai in Bonn vorgelegt wurde, hieß es,"das Dokument soll mit einer politischen Erklärung beginnen und daran anschließend eine Reihe von Rechtsinstrumenten enthalten, die ( 1) die Einheit Deutschlands durch die Vereinigung von BRD, DDR und Berlin, (2) die Beendigung des bisherigen Status für Berlin und (3) die Bekräftigung der Souveränität des vereinten Deutschlands und die Ablösung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten" bestätigen. Weitere Rechtsakte sollten sein: Der deutsch-polnische Vertrag über die Westgrenze Polens und eine Mitteilung über jene Bestimmungen der Verfassung des künftigen Deutschlands, die die Endgültigkeit der deutschen Grenzen bestätigen." 19 Die Ausklammerung sämtlicher Sicherheitsfragen durch die westlichen Teilnehmer hatte einen klaren Grund: Nach der Vereinigung würde die Bundesrepublik im Sinne aller eingegangenen Verpflichtungen und Verträge (ausgenommen derer, die die Vier-Mächte-Verantwortlichkeilen berühren) fortbestehen. Es gab also keinen Regelungsbedarf. Dagegen widersprach der fränzösische Verhandlungsrahmen aber auch der Bonner Verhandlungslinie, die einen deutsch-polnischen Vertrag an einem Zeitpunkt nach der Vereinigung, also nicht als Bestandteil der 2+4-Regelungen sehen wollte. Dagegen wurde in diesem Fall die Auffassung der DDR unterstützt. Die DDR drängte darüberhinaus auf Vereinbarungen, die die Anerkennung der besatzungsrechtliehen Maßnahmen auf ihrem Territorium und eine sicherheitspolitische Weichenstellung für ganz Europa beinhalten sollten, um der Sowjetunion die Zustimmung zur deutschen Vereinigung zu ermöglichen. Die Sowjetunion strebte zunächst eine "Paketlösung" an, in der unter den von Frankreich als "Rechtsinstrumente" bezeichneten Bestandteilen Regelungen zum politisch-militärischen Status des künftigen Deutschlands aufgenommen würden. Die Bundesrepublik lehnte die Aufnahme solcher Regelungen im Zusammenhang von 2+4 strikt ab. Sie räumte aber ein, über die Nichtausdehnung von NATO19 Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Niederschrift zum 3. Treffen im Rahmen 2+4 auf Beamtenebene am 22. 5. 1990 in Bonn vom 25. 5. 1990.

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Strukturen auf das Gebiet der ehemaligen DDR und über einen zeitlich befristeten Verbleib der sowjetischen Truppen in der DDR gesondert zu verhandeln. Bei der Liste der zu behandelnden Fragen kamen die versammelten Beamten im Verlaufe von 6 Treffen vor der Pariser Außenministerkonferenz am 17. Juli auf einen Katalog von 20 Themen. Die DDR hatte davon 10 Aufgaben eingebracht, die neben den allgemein akzeptierten vier Hauptelementen eines 2+4-Dokuments (Präambel, Grenzfragen, Berlin, Ablösung der Vier-Mächte-Rechte) als Protokollzusätze zum Dokument folgende souveräne deutsche Erklärungen enthalten sollten: (1) zur Grenzfrage,

(2) über den politisch-militärischen Status des DDR-Gebietes, (3) über die Obergrenzen deutscher Streitkräfte, (4) über den Verzicht auf ABC-Waffen, (5) über einen deutsch-sowjetischen Truppenstationierungsvertrag. In der Präambel des abschließenden Dokumentes sollten Elemente zur Kenntnis genommen werden: Aussagen über Veränderungen der NATO und eine Erklärung über die Neuregelung der Beziehungen zwischen NATO und Warschauer Pakt. 20 Am 19. Juli 1990 nahm ich vor dem Austritt aus der DDR-Regierung im darauffolgenden Monat zum letzten Mal an einem Beamtentreffen teil. Die Arbeit an der Liste der Themen konnte unter Bezugnahme auf die erfolgten bilateralen Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR im Kaukasus und unter Hinweis auf die NATO-Erklärung von London weitgehend abgeschlossen werden. Allein in der Frage der Regelung der Präsenz sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der DDR in einem vereinten Deutschland konnte die DDR der westdeutschen Variante nicht zustimmen, und drängte weiter auf eine trilaterale Vereinbarung mit der UdSSR. Wegen der damit unmittelbar berührten Interessen der ostdeutschen Bevölkerung gestaltete sich die Frage der Mitbeteiligung der DDR zu einem Prüfstein für die Respektierung der DDR-Vertretung. Die Weigerung der Bundesrepublik, eine trilaterale Vereinbarung zu suchen, führte zunächst zu einem Kompromiß gefunden, der besagte, über das Verfahren zur Ausarbeitung eines Abkommens sollten sich die BRD, die DDR und die Sowjetunion außerhalb der Tagesordnung einigen. Tatsächlich beauftragte Ministerpräsident de Maiziere noch seine Außen- und Verteidigungsminister, Verhandlungen über die sowjetische Truppenstationierung vorzubereiten. Anfang August zog de Maiziere das Mandat ohne Begründung zurück?' 20 Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Abt. 1, UA Europäische Einigungsprozesse, Bericht über das 6. Treffen im Rahmen von 2+4 auf Beamtenebene am 3./4. 7. 1990 in Berlin, 4. 7. 1990, Anlage II. 21 In einem internen Arbeitspapier, Betr. Abwicklung des sowjetischen Truppenabzuges aus der DDR, Ressortbesprechung am I. 8. 1990, 201-363.14 SOW, Bonn, 30. 7. 1990 heißt es unter "Verhandlungspartner": .,CheffiK (= Chef des Bundeskanzleramtes) sieht vor, daß DDR-Vertreter grundsätzlich nicht an den Verhandlungen teilnehmen." 45 Timmermann

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V. Ostdeutsche Übergangsidentität Die DDR hatte nicht nur aus geographischen Gründen, sondern auch aus der Sicht einer mehr als 40-jährigen unfreiwilligen Partnerschaft im Ostblock ein besonderes Erbe in den Vereinigungsprozeß mit einzubringen. Sie verstand ihre Situation in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn und verdankte sie nicht zuletzt auch der Reformpolitik der Sowjetunion seit 1985 Neben dem Vermächtnis der jüngsten demokratischen Revolutionen galt es die geschichtliche Bedeutung der Existenz der DDR für den Osten im Blick zu behalten. Die DDR war aus östlicher Sicht solange der "Friedensstaat", also der im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs folgenden territorialen Status quo in Osteuropa, bis sie diese Bedeutung im Gefolge der westdeutschen Ostpolitik seit 1970 mehr und mehr verlor. Die praktische Anerkennung jener Friedensgarantie, den die DDR zu verbürgen hatte, nämlich die Unantastbarkeit der Grenzen im Osten, raubte der DDR eine Säule ihres historischen Rechts. Die Fortsetzung der Ostpolitik durch Kohl und Genscher nach 1982 versicherte die Sowjets in der Einschätzung, daß die Deutschen verläßliche Partner in Europa geworden waren. Das Interesse der sowjetischen Deutschlandpolitik wandte sich deshalb unter Gorbatschow konsequent dem potenteren Deutschland zu. Der enthusiastische Empfang für Gorbatschow im Juni 1989 in der Bundesrepublik zeigte den Sowjets, daß die deutsch-sowjetische Freundschaft, den DDR-Bürgern als Dogma verordnet, kein Monopol der DDR mehr war. Deutsch-sowjetische Zusammenarbeit war ohne die DDR möglich geworden. Das war das logische Ende der DDR, die Bedingung für die Preisgabe Ostdeutschlands durch die Sowjetunion. Zwei Prinzipien lassen sich aus dieser historisch-geographischen Perspektive für die DDR-Außenpolitik nach 1989 ableiten: Erstens: Die Existenz der DDR war Bestandteil einer Nachkriegsordnung, die für die Völker Mittel- und Osteuropas die Garantie eines neuen territorialen Status begründete. Der neue territoriale Status des vereinten Deutschland durfte keine neue Infragestellung der territorialen Integrität seiner osteuropäischen Nachbarn bedeuten. Dieses Prinzip begründete die besondere politische Bedeutung der Frage der polnischen Westgrenze für die DDR-Außenpolitik 1990. Zweitens: Die deutsche Vereinigung war möglich geworden als ein Element der demokratischen Bewegung Osteuropas "zurück nach Europa". Der Gedanke, daß die deutsche Vereinigung ein Bestandteil der europäischen Vereinigung ist, muß als Vermächtnis der Teilung Deutschlands, jenem wichtigsten Symbol der früheren Teilung Europas, verstanden werden. Dieses Prinzip begründet die Bedeutung einer gesamteuropäischen Integrationspolitk, die sich 1990 für die DDR-Außenpolitik im Versuch der Stärkung und Einbindung der KSZE in die Folgeprobleme der deutschen Vereinigung niederschlug.

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l. Nachtrag zur Grenzfrage

Wie schon weiter oben ausgeführt, herrschte in der DDR durch alle Fraktionen des frei gewählten Parlamentes Übereinstimmung darüber, daß die bestehende deutsch-polnische Grenze an Oder und Neiße endgültig sei. Polens Wunsch nach Einbeziehung in die 2+4-Gespräche begründete sich auf dem Mandat der OttawaFormel, Verhandlungen einschließlich "Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten" zu führen. 22 In diesem Zusammenhang ist die Entscheidung von DDR-Außenminister Meckel zu sehen, seinen ersten offiziellen Besuch nach dem Amtsantritt in Warschau abzustatten. Bei den Gesprächen am 23. April 1990 formulierte Mekkel die Grundposition der DDR-Ostpolitik: ,,Die deutsche Vereinigung darf nicht zu Lasten der berechtigten Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn im Osten erfolgen." Die DDR unterstützte Polens Wunsch an einer Teilnahme an den 2+4Gesprächen und sagte zu, sich auch für eine Tagung der Minister in Warschau einzusetzen. Polen konnte unter einer vertraglichen Regelung der Grenzfrage nicht nur die formelle Bestätigung der Aussagen des Görlitzer Vertrages von 1950 mit der DDR und des Warschauer Vertrages von 1970 mit der Bundesrepublik verstehen. Die Bundesrepublik hatte dagegen immer die Auffassung vertreten, daß eine endgültige Regelung der deutschen Grenzen einer friedensvertragliehen Regelung für Deutschland vorbehalten bleibt. 23 Deshalb drängte Polen entweder auf eine Beteiligung an den 2+4-Verhandlungen im Sinne der Mitunterzeichnung einer friedensvertraglichen Regelung, oder wenigstens auf eine dem abschließenden Dokument zu implementierende vertragliche Grenzregelung. Am 3. Mai fand in Warschau ein erstes trilaterales Gespräch zwischen der Bundesrepublik, der DDR und Polen über einen deutsch-polnischen Vertrag statt. Nach Ansicht der Bundesrepublik sollte zwar über einen Text zum Grenzvertrag verhandelt werden, einen Vertragsabschluß lehnte Sonnjedoch vor der deutschen Vereinigung ab. Stattdessen sollten feierliche Deklarationen der beiden deutschen Parlamente den Polen die nötige Gewißheit geben. Polen bestand auf förmlichen Verhandlungen und der Paraphierung eines Vertrages, dessen Text von den an den 2+4-Gesprächen beteiligten zur Kenntnis genommen werden sollte. Die am 3. Mai 1990 in Warschau vereinbarten trilateralen Gespräche über einen Grenzvertrag hatten allerdings ein kurzes Leben. Am 18. Mai traf man sich nochmal in Bonn und

.zu

22 Polens Premier Mazowiecki äußerte am 9. 3. 1990 in Le Monde: • Beginn dieser Konferenz müßte es einen besonderen Gesprächskreis geben, der der Sicherheit der deutschen Nachbarn gewidmet ist; an diesem Gesprächskreis wollen wir teilnehmen. Wenn es Zeit ist, die Nachkriegsperiode abzuschließen, dann muß Polen seine Alliiertenrechte geltend machen und sein Wort mitreden." 23 Grundlage ist Artikel 7,1 des ,,Deutschlandvertrages" vom 23. 10. 1954: "The Signatory States are agreed that an essential aim of their common policy is a peace settlement for the whole of Germany ... They further agree that the final determination of the boundaries of Germany must await such settlement." Vgl. United States Department of State, Documents on Germany 1944- 1985, Dpt. of State Publication 9446, S. 427 f. 45*

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am 29. Mai fand das letzte der trilateralen Gespräche in Berlin statt. Die DDR hatte zum Schluß einen Kompromißentwurf unterbreitet, der die polnischen Forderungen nach Präzision und einen Hinweis auf die abschließende Regelung über Deutschland im Rahmen von 2+4 aufnahm, aber weitergehende polnische Wünsche hinsichtlich einer Änderung der bisherigen deutschen Rechtssprechung nicht enthielt. Der Vertreter der Bundesrepublik sah sich aber nicht im Stande, diesem Kompromiß zuzustimmen. Auf dem 2+4-Beamtentreffen am 9. Juni in Berlin setzte sich die Bundesrepublik mit der Ablehnung weiterer trilateraler Verhandlungen durch, indem sie allerdings in die Bindung des vereinten Deutschlands durch mehrere Bestimmungen des abschließenden 2+4-Vertrages einwilligte. Abgelehnt wurde von Bonn eine Zusage der Änderung des Verfassungsartikels zum deutschen Staatsbürgerschaftsrecht (Artikel 116). Am 4. Juli tagte die 2+4-Beamtenrunde in Anwesenheit eines polnischen Vertreters. Die polnische Seite akzeptierte zwar, daß es keinen Grenzvertrag vor der deutschen Vereinigung geben werde, drängte dafür jetzt umso stärker auf eine zeitliche Koppelung des Inkrafttretens der abschließenden Regelung über Deutschland mit einem deutsch-polnischen Abkommen. Auf dem Außenministertreffen von Paris am 17. Juli erreichte der polnische Außenminister Skubiszewski, daß die Bundesrepublik, die kein Junktim zwischen 2+4-Vertrag und Grenzvertrag akzeptieren wollte, Zusagen über einen zeitlichen Zusammenhang einräumen mußte. Eine Sperrklausel der Vier Mächte versicherte die Polen, daß keine andere Regelung der Grenzfrage durch eine Seite in Frage kommen darf.24

2. Das Dreieck Berlin-Warschau-Prag: Eine gemeinsame KSZE-Initiative

DDR-Außenminister Meckel hatte auf seiner Rede vor dem Europarat in Straßburg am 9. Mai 1990 festgestellt, die DDR werde, ,.im Vereinigungsprozeß nach Westen schauend, seinen Nachbarn im Osten nicht den Rücken kehren." 2s Erste Kontakte zu Polen und zur CSFR zeigten schon Anfang Mai, daß beide Länder großes Interesse hatten, nicht nur über die sich abzeichnenden Probleme in der Folge des deutschen Einigungsprozesses zu sprechen, sondern daß sie vor allem über allgemeine Fragen der europäischen Zusammenarbeit und Sicherheit ins Gespräch kommen wollten. Der Prager Außenminister Dienstbier hatte am 6. April 1990 ein Memorandum über die Bildung einer "Europäischen Sicherheitskommission" im Rahmen der KSZE an alle KSZE-Staaten weitergeleitet. Zuvor schon hatte Warschau die Idee eines ,,Rates für Europäische Zusammenarbeit" entwik24 Erklärung zu Protokoll, von der französischen Präsidentschaft aufgestellt: ..Die Vier Mächte erklären, daß der Charakter der Grenzen Deutschlands durch keine auswärtigen Umstände oder Ereignisse in Frage gestellt werden kann." Übermittelt von der Botschaft der Französischen Republik, 23. 7. 1990, S. 2. 2s Rede von Außenminister Mecke1, Europarat, 9. 5. 1990, S. 2.

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kelt. Beide Staaten standen vor dem Dilemma, sich zwar aus dem Warschauer Vertragsbündnis zurückziehen, ohne jedoch zwischen die Fronten geraten zu wollen. Die stärkere Einbindung in zu schaffende KSZE-Strukturen sollte einen Übergang aus den existierenden Blöcken heraus in das System eines "konförderativen Europas" ermöglichen. Am 9. Mai bot die DDR einen Vermittlungsvorschlag zur Harmonisierung der wichtigsten Elemente des CSFR-Modells und des polnischen Modells an. Am 12. Mai kam es in Berlin zu trilateralen Konsultationen zwischen hochrangigen Beamten aus Polen, der CSFR und der DDR. Die drei Seiten vereinbaren eine gemeinsame Initiative für eine Schaffung von KSZE-Institutionen, die als blockübergreifende Sicherheitsstrukturen der regelmäßigen Konsultation (Rat der Außenminister), der Konfliktvorbeugung und -verhütung und der Verifikation dienen sollen. Am 27. und 28. Mai trafen in Prag alle drei Seiten wieder zusammen und vereinbarten ein gemeinsames Papier, das von den drei Außenministern am 5. Juni auf der KSZE-Konferenz in Kopenhagen unterzeichnet werden sollte. Die CSFR beabsichtigte, Vertreter aller KSZE-Staaten zum 20. Juni 1990 nach Prag einzuladen und die gemeinsame Initiative in Vorbereitung des KSZE-Gipfeltreffens einzubringen. Diese Initiative erwiesen sich aus westlicher Sicht als unnötig. Auf dem Washingtoner Gipfel vom 30. und 31. Mai 1990 zwischen Bush und Gorbatschow war klar geworden, daß letzterer sich einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands nicht ernstlich mehr entgegenstemmen würde. Die KSZE als Bindeglied ftir eine neue Sicherheitsordnung in Europa war nicht länger wirklich vonnöten, wenn man mit Deutschland in der Nato weiterleben konnte. VI. Einige abschließende Bemerkungen Der "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland", der "Zwei-Plus-Vier-Vertrag" vom 12. September 1990, hat die Wiederherstellung der vollen Souveränität für Deutschland geregelt. Daß an erster Stelle des Vertragswerkes die endgültige Regelung der deutsch-polnischen Grenze steht, ist kein Zufall. An die Stelle der seit der Potsdamer Konferenz von 1945 herrschenden rechtlichen Unverbindlichkeit war die Macht des Faktischen getreten. Die nichtförmliche Zustimmung der Westmächte zur polnischen Westgrenze konnte niemals anders verstanden werden, als daß diese einer Westverschiebung Polens, wie sie in Teheran von Churchill bereits akzeptiert wurde, zustimmten. Die Bundesrepublik ging in ihrer Rechtsauffassung zur Grenzfrage allerdings immer von der Formel von "Deutschland in den Jahren 1937" des Londoner Protokolls vom 12. September 1944 aus und behauptete wegen der Nichtbeteiligung Deutschlands bei den Potsdamer Beschlüssen deren für Deutschland nicht bindende Wirkung. Das hat die Bundesrepublik im Warschauer Vertrag und im Moskauer Vertrag mit entsprechenden Vorbehaltsklauseln im Hinblick auf einen ausstehen-

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den Friedensvertrag unterstrichen. Gleichwohl hat die Bundesrepublik im Warschauer Vertrag die Gebietshoheit Polens über die vormals deutschen Ostgebiete außer Nordostpreußen anerkannt und damit faktisch die territoriale Souveränität Polens über diese Gebiete. Die Lösung dieser Frage war nach westdeutschem Verständnis nicht deshalb kompliziert, weil sie die Wiedervereinigung Deutschlands, also eine handlungsfähige Staatsorganisation Deutschlands nach dem 3. Oktober 1990, voraussetzte, sondern weil sie nach der bis dahin gepflegten Rechtsauffassung bedeutet hätte, mit Polen über die Abtretung eines Gebietes zu beschließen, daß es bis dahin als okkupiert, also völkerrechtswidrig besetzt hielt. Dies war natürlich auch für Polen unannehmbar und für Deutschland, nüchtern betrachtet, eine juristische wie politische Sackgasse. Weder der Westen noch Polen, die UdSSR und die DDR wären bereit gwesen, unter diesen Voraussetzungen dem ,,Zwei-Plus-Vier-Vertrag" zuzustimmen. Die Lösung dieses Problems dürfte in einem einzigen Wort des "Zwei-PlusVier-Vertrages" stecken: die existierende deutsch-polnische Grenze wird bestätigt.26 Bestätigung ist ein juristisch absolut unscharfer Begriff. Statt Anerkennung, was hieße, die deutsche Seite würde einer nach ihrem Verständnis völkerrechtswidrigen Situation zustimmen, was zu jeder Zeit von nachfolgenden Regierungen widerrufbar wäre, bestätigt die Bundesrepublik die Grenze und konzediert allerdings im Gegenzug Polen im Grenzvertrag vom 14. November 1990 einen Grenzverlauf unter Nennung des Görlitzer Vertrages von 1950 und den nachfolgenden Rechtsakten. Das heißt: Polen hat sich diese Grenze weder ersessen noch sie ungesetzlich behauptet, sondern seit 1950 auf völkerrechtlicher Grundlage seine territoriale Souveränität bis zur Oder-Neiße-Linie ausgeübt. Die Verhandlungen zum 2+4- Vertrag wurden nach sechs Monaten abgeschlossen, ziemlich genau jene Zeitspanne umfassend, in der die DDR von einer demokratisch gewählten Regierung regiert wurde. Obwohl dieses letzte Kapitel der Epoche der deutschen Nachkriegsgeschichte nur noch eine Episode war, weisen die mit der Regelung der sogenannnten "außeren Aspekte" der deutschen Vereinigung gefundenen Lösungen über diese kurze Phase weit in die Zukunft hinaus. Sie haben im Sinne des Volkerrechts dauerhafte Bedeutung für die deutsche Politik und eine Friedensordnung in Europa. Zu Recht läßt sich jener eher technisch betitelte Vertragsabschluß, der geläufig als "Zwei-Plus-Vier-Vertrag" bezeichnet wird, als historisch bezeichnen. Historisch, weil er im Blick auf die Vergangenheit abschließende Regelungen für die seit der Potsdamer Konferenz 1945 offenen Fragen der Zukunft Deutschlands beinhaltet. Und auch historisch, weil er für das vereinte Deutschland als souverä26 Brand, Christoph-Matthias: Souveränität für Deutschland. Grundlagen, Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990. Köln 1993, s. 256-262.

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nen Staat in Europa zugleich eine völkerrechtlich verankerte Magna Charta seiner künftigen Außenpolitik darstellt. Der Vertrag selbst geht auf die Geschichte nur marginal ein: Ein historischer Rückbezug erscheint im eigentlichen Vertragstext nur in der Präambel, in der die vertragschließenden Seiten lediglich vom "Bewußtsein, das ihre V