Massenmedien und Alterität 9783964563071

Mit transdisziplinären Beiträgen aus Romanistik,Anglistik, Philosophie, Soziologie, Psychologie, Medienwissenschaft und

142 13 28MB

German Pages 308 Year 2004

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Inhalt
Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität
Debatte über Massenmedien und Alterität
Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität
„Alterität" von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen
Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien
MPB - müsica populär brasileira: Identität und Alterität einer populären Gattung
Wenn der Andere ein X-beliebiger ist: Die neuen Protagonisten des Fernsehspektakels
Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien
Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina", ein Kapitel der brasilianischen Miniserie Mulher
Telenovela und Alterität
Der Körper als das Andere der Medien?
Doppelte Alterität
Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen
Selbstthematisierung als Alterität zwischen Normalisierung und Individualisierung: Geburtsblindheit im Medienzeitalter
Die Konstruktion alternativer Identitäten durch die Rekonstruktion der Vergangenheit in den populären amerikanischen Spielfilmgattungen Fantasy und Science Fiction
Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert: Überlegungen zur Revue des Deux Mondes und ihrer Rezeption in Lateinamerika
Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit
Die intermediale Passage der Gattungen
Video, Melodrama & der 11. September 2001
Recommend Papers

Massenmedien und Alterität
 9783964563071

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Massenmedien und Alterität Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Hrsg.)

MEDIAmericana Kultur- und medienwissenschaftliche Studien zu Lateinamerika Postkolonialismus, Gender und Medien sind die Referenzpunkte einer kulturwissenschaftlichen Theoriedebatte, an der die Lateinamerika-Foischung seit längerem maßgeblichen Anteil hat. MEDIAmericana versteht sich in diesem Sinne als Diskussionsforum für neuere kultur- und medienwissenschaftliche Theorieansätze im Bereich der Lateinamerikanistik. Ziel der Reihe ist der Versuch, zwischen den Extrempositionen einer als alternativlos betrachteten Globalisierung' einerseits sowie des Rückzugs auf die Wahrheitsansprüche des spezialisierten Fachwissens andererseits neue Wege aufzuzeigen. Zu den Ausgangspunkten der Reihe gehört das Postulat der Überwindung totalisierender und dualistischer Denkschemata, nicht weniger jedoch der Standpunkt einer radikalen Territorialisierung des Wissens. Diese Forderungen sind keineswegs gleichbedeutend mit postmoderner Beliebigkeit, sondern gehören umgekehrt zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Fundierung kritischer Denkansätze im Bereich der Kulturwissenschaften überhaupt. Darüber hinausgehend verdient das semiotische Potential der Kategorie der Gattung besondere Beachtung. Mit dieser Kategorie kann es - ähnlich wie mit dem zur Zeit vieldiskutierten Thema des Körpers - gelingen, dem Wahrheitsanspruch einer technologiezentrierten Medienwissenschaft diskurskritisch entgegenzutreten, ist doch die phänomenologische Komplexität von Zeichenprozessen und ihr Verhältnis zu Identität, Alterität und Differenz ein konstitutives Moment dieser Begriffe. Abgesehen vom Aufgabengebiet der Literatur im traditionellen Sinne, versteht sich die Reihe deshalb als Forum für Arbeiten, die sich den Medien aus dezidiert kulturwissenschaftlicher Sicht zuwenden.

Herausgeber: Walter Bruno Berg (Freiburg im Breisgau) Vittoria Borsö (Düsseldorf)

Wissenschaftlicher Beirat: Carlos Monsiváis (México, D.F.) Jorge Dubatti (Buenos Aires) Joäo César de Castro Rocha (Rio de Janeiro) Lisa Block de Behar (Montevideo)

Massenmedien und Alterität

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Hrsg.)

Vervuert • Frankfurt/Main • 2004

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der DFG

Alle Rechte vorbehalten © Vervuert, 2004 Wielandstr. 40 - D-60318 Frankfurt am Main Tel.: +49 69 597 46 17 Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 3-86527-106-5 Umschlagfoto: Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer Umschlagentwurf: Michael Ackermann Impreso en España por Impresión Digital Davinci Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO 9706 Depósito legal: M-9912-2004

Inhalt Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.): Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

7

Debatte über Massenmedien und Alterität mit Stellungnahmen von: Manfred Engelbert Vittoria Borsö Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer Walter Bruno Berg

24 26 30 32

Vittoria Borsö (Düsseldorf): Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität

36

Ellen Spielmann (Berlin): „Alterität" von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

66

Joachim Fischer (Dresden): Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien

78

Walter Bruno Berg (Freiburg i. Br.): MPB - mtisica populär brasileira: Identität und Alterität einer populären Gattung

87

Gemma Larregola i Bonastre (Barcelona): Wenn der Andere ein X-beliebiger ist. Die neuen Protagonisten des Femsehspektakels

102

Claudius Armbruster (Köln): Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

111

Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.): Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina", ein Kapitel der brasilianischen Miniserie Mulher

129

Joachim Michael (Freiburg i. Br.): Telenovela und Alterität

139

Dierk Spreen (Berlin / Darmstadt): Der Körper als das Andere der Medien?

159

Rainer Marten (Freiburg i. Br.): Doppelte Alterität

166

Johannes Bittner (Freiburg i. Br.): Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

174

Maria Borcsa (Freiburg i. Br.): Selbstthematisierung als Alterität zwischen Normalisierung und Individualisierung: Geburtsblindheit im Medienzeitalter

198

Hilary Dannenberg (Freiburg i. Br.): Die Konstruktion alternativer Identitäten durch die Rekonstruktion der Vergangenheit in den populären amerikanischen Spielfilmgattungen Fantasy und Science Fiction

211

Annette Paatz (Göttingen): Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert: Überlegungen zur Revue des Deux Mondes und ihrer Rezeption in Lateinamerika

229

Charles Feitosa (Rio de Janeiro): Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit

239

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.): Die intermediale Passage der Gattungen

247

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.): Video, Melodrama & der 11. September 2001

297

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.)

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität Die vorliegenden Beiträge sind das Ergebnis des gleichnamigen Kolloquiums, das wir im Rahmen des Freiburger Sonderforschungsbereichs 541 Identitäten und Alteritäten Mitte 1999 durchführten.1 Ausgangspunkt von Tagung und Sammelband ist die Einsicht, dass die Frage nach Identität und Alterität in der heutigen „Gesellschaft des Spektakels" unter Einbeziehung der Medien zu stellen ist. Zu den wichtigsten konzeptionellen Leitideen des SFB 541 gehörte indessen der Grundsatz, „die Dynamik von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen von der Seite der Alterität her anzugehen" (DFG-Antragsbuch 1997, S. 11). Auf der Grundlage dieses innovativen Ansatzes sollte daher der von uns geplante Workshop die Bedeutung von Alterität untersuchen und dies am Beispiel der Massenmedien illustrieren. Der kontroverse Verlauf des Workshops, der im vorliegenden Band in Form der Debatte und perspektivierter Kurzbesprechungen der Vorträge festgehalten ist, hat deutlich gemacht, dass die Analyse von (massen-)medienbezogener Alterität sowohl einer epistemologischen Herangehensweise als auch einer angemessenen Gattungstheorie bedarf. Ohne einen kritischen Begriff postmoderner Gattungen beispielsweise läuft die Debatte Gefahr, den jeweiligen Medien einen identitären Begriff der Medialität zu unterstellen, der -auf der Suche nach außermedialer Alterität- nunmehr die metaphorologische „Nicht-Identität" der Medien verkennt. Ein derart strapazierter Begriff der Medialität lässt sich aus medientheoretischer Sicht und insbesondere in Folge der Zäsur der digitalen Medien nicht mehr halten.2 Aus diesem Grund haben wir mit Hilfe der Gattungen die „Welthaltigkeit" der Medien neu zu fassen versucht. Das Ergebnis ist eine ausführliche Studie zur intermedialen Passage der Gattungen, in der die wechselseitige Bedingung von Gattung und Medium eigens untersucht wird. Zur Überprüfung des analytischen Gewinns, den wir durch diesen Ansatz erzielen können, dient eine abschließende Studie, in der wir uns aus transdisziplinärer Perspektive dem massenmedialen Bedrohungsszenario in Folge des 11. September 2001 zuwenden.

1

2

Walter Bruno Berg sei für seine spontane Unterstützung des Workshops gedankt. Für die Mithilfe bei Organisation und Durchführung danken wir insbesondere Olivia C. Diaz Perez. Achim Brückner und Marcelo Backes gilt unser Dank für kritische Lektüren und Anne Wigger vom Verlag Vervuert für die sorgfaltige Betreuung des Manuskripts. Bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bedanken wir uns für die großzügige Finanzierung des Kolloquiums und die Übernahme der Druckkosten des vorliegenden Bandes. Zu Metaphorologie und Zäsur der Medien, vgl. Tholen 2002 u. 2004.

8

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

1. Massenmedien Warum gerade Massenmedien? Solange man Alterität in den Massenmedien lediglich im Sinne von Stereotypen des Anderen sucht (Geschlechter, Ausgegrenzte, Ausländer, Monster usw.), leuchtet die Fragestellung sofort ein und ist auch ein beliebter Gegenstand entsprechender Untersuchungen. Geht man jedoch von einem differenzierten Begriff von Alterität im Sinne einer Alteritätsphilosophie aus, so scheinen ,kulturindustrielle' Massenmedien und Alterität in eklatantem Widerspruch zu stehen. Denn was hat beispielsweise der Anspruch des Anderen nach Lévinas mit dem Stereotyp des Anderen in einem mexikanischen TV-Melodram gemein? 1.1. Gegensatz „Masse" vs. „Subjekt" Der in der Tradition der Frankfurter Schule mit dem Begriff der Massenmedien verknüpfte Gegensatz zwischen Masse und Subjekt geht auf eine lange Tradition der Massenpsychologie zurück. Ende des 19. Jh. charakterisierte Gustave Le Bon die Masse als den menschlichen Zustand, in dem der Einzelne seine Individualität verliert. Damit legte Le Bon den Grundstein für das Verständnis der Masse als Regression des Subjekts in ein Affektstadium, in dem es vom Triebhaft-Unbewussten überwältigt wird. Innerhalb dieser romanischen Schule der Massenpsychologie verbindet José Ortega y Gasset die Aussagen der Kollektivpsychologie mit einer allgemeinen Kulturkritik. Die Vermassung wird bei ihm zum negativen Signum der Moderne. Damit wird der grundlegende Gedanke der Homogenisierung der Einzelnen in der Masse auf dem Niveau des Durchschnittsmenschen festgeschrieben. Dieser kollektive Verlust personaler Eigentlichkeit gilt als Kulturverfall, von dem sich die Eliten abzusetzen haben. Damit ist der Begriff der Masse in sozio-kultureller Hinsicht auf die Vernichtung von Differenz festgelegt. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer pointieren diese Entfremdungskritik am massifizierten Konsumenten der „Kulturindustrie": Einem solchen Konsumenten kommt seine Identität eines auf „Aufklärung" ausgerichteten Subjekts abhanden. Massenmedien „verdummen" das Publikum aufgrund von „Standardisierung" und Serienproduktion, die „Immergleichheit" und „Schematismus" hervorbringen.3 Die Funktion der Massenmedien wird schließlich als die einer „Anti-Aufklärung"4 bestimmt.

3

4

„Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden" (Hokheimer/Adorno 1998: 132; vgl. Adorno 1977: 337-345). „Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins" (Adorno 1977: 345).

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

9

Gegenüber dieser Kulturkritik ist mit neueren kulturtheoretischen Ansätzen einzuwenden, dass Kultur auf „Standardisierungen" beruht (vgl. Hansen 1995: 30-120). Die Hervorbringung von Standards ist als Funktion von Kultur aufzufassen und nicht als Gegensatz zu Kultur oder gar als Zeichen von Unkultur. Wie präsent die Tradition des Entfremdungsdiskurses jedoch auch noch in der gegenwärtigen Kulturkritik ist, beweist der Vorwurf von niemandem geringeren als Julio Ortega, wenn er von den „kulturell verarmten Bevölkerungsgruppen" in Lateinamerika behauptet: „sie besitzen eine durch die Massenmedien ersetzte Identität, ihre Sprache ist entfremdet, die Kompensation [für ihre Entbehrungen] illusorisch".5 Peter Sloterdijk hat ein halbes Jahrhundert nach der Dialektik der Aufklärung deutlich gemacht, dass der Begriff der Masse im Grunde ein Verachtungsbegriff ist - und wohl auch bleibt. Moderne Gesellschaften werden von Kulturkämpfen um Anerkennung geprägt bzw. zeichnen sich durch Konflikte zwischen verachteten und verachtenden sozialen Gruppen aus. In diesem Sinne versteht Sloterdijk das große „Projekt der Moderne" -die Subjektwerdung der Masse- als das Ringen des sozial „Nichtigen" und „Uninteressanten" um Anerkennung. Indem die verachtete Masse jedoch zur Verächterin des Besonderen wird, macht sie sich daran, alle sozialen und kulturellen Unterschiede zu zerstören. Ihr Werk ist die Massenkultur, in der Identität im Sinne von Indifferenz herrscht. Masse wird letztlich zu einer psychopolitischen Haltung, das Vornehme zu eliminieren. Sloterdijk vollzieht so eine nietzscheanische Zuspitzung am Begriff: Trotz ihres Siegeszuges bleibt die Masse Masse, verächtlich ist ihre Verachtung der künstlerischen Ausnahme (Sloterdijk 2000). Gemma Larregola i Bonastres Ausfuhrungen im vorliegenden Band über das „Neo-Fernsehen" scheinen diese kulturkritische Skepsis hinsichtlich der einebnenden Tendenz der Massenkultur und ihrer Eliminierung des Besonderen zu bestätigen. Die Autorin beschreibt, wie das Fernsehen seit den 1990er Jahren dazu übergegangen ist, auch auf thematischer Ebene das Gewöhnliche, Alltägliche durchzusetzen: Der Andere der Neotelevision ist kein Außergewöhnlicher mehr, sondern ein „X-beliebiger", der nun zum Protagonisten der Fernseherzählungen wird. Damit scheint es auch inhaltlich keinen Anderen sondern nur Denselben zu geben. Jedoch wird hierbei umso deutlicher, dass der „Massenmensch" zwar „gewöhnlich", aber nicht ununterschieden ist. Bei allen voyeuristischen und erniedrigenden Aspekten geht das Fernsehen heute darin auf, deutlich zu machen, dass auch der imbedeutendste „Massenmensch" aus individuellen Lebensentwürfen und -geschichten besteht. Ohne in den „egalitären Affekt" der Moderne (Sloterdijk 2000: 70) zu verfallen, so wäre daher dennoch der Begriff der Masse auf seine zeitbedingten Implikationen 5

„Por cierto, en estos grupos culturalmente pauperizados es visible una falta de identidad: poseen la identidad sustituida de los medios de comunicación masiva, el lenguaje alienado, la compensación ilusoria" (Ortega 1988: 213).

10

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

zu überprüfen. Beispielsweise könnte mit Charles Feitosa im vorliegenden Band gefragt werden, ob die „Masse" nicht das Andere des Schönen in einer Ästhetik des Geistes darstellt. Ist die Masse als das Übermaß an Menschenmaterial, das sich der Formung widersetzt und im Chaotischen verharrt, nicht der Gegensatz zur Ordnungskraft des Geistes, dem das Schöne entspringt?6 Ist dies dann nicht der Gegensatz des Menschlichen? Zu fragen wäre also, zu welchen Ergebnissen man gelangen kann, wenn man die Medien nicht aufgrund eines Identitätsdenkens untersucht, das zum einen auf die Aufklärung von Individuen und zum anderen auf die Indifferenzierung einer Einheitskultur ausgerichtet ist? Hierbei wären insbesondere der Subjekt- sowie der Differenzbegriff der Medientheorie zu überdenken. 1.2. Alternativen zu „Masse" und

„Massenmedien"

Eine erste Alternative zum Topos der „Gemeinheit" der Medienmassen (Sloterdijk 2000: 19) wäre der systemtheoretische Ansatz von Niklas Luhmann. Massenmedien werden hier als autonomes Teilsystem der Gesellschaft problematisiert und folgen aus der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft. Die Vorstellung des Wirkens einer unsichtbaren Macht hinter den Massenmedien verweist Luhmann daher in den Bereich der „Mythologie der Moderne" (Luhmann 21996: 126). Anhand technischer Mittel der Vervielfältigung verbreiten Massenmedien Kommunikation und dienen der Zirkulation des Wissens in der Gesellschaft.7 Luhmann untersucht die Massenmedien daher im Hinblick auf die „Realität ihrer Realitätskonstruktion". Es geht ihm ausdrücklich nicht darum, wie die Massenmedien die Realität verzerren, denn dies würde „den alten Essenzkosmos" voraussetzen. Als Alternative verbleibt lediglich der Vergleich mit anderen Realitätskonstruktionen (Luhmann 2 1996: 20). Zu präzisieren wäre hier aus unserer Sicht, dass es sich um einen kritischen Kontrast massenmedialer Realitätskonstrukte mit denen anderer Medien handeln müsste. Luhmann geht weiter davon aus, dass das massenmedial vermittelte Wissen zwar zu bezweifeln ist, es dennoch für weitere Kommunikation die Voraussetzungen bildet, „die nicht eigens mitkommuniziert werden müssen". Massenmedien erzeugen somit eine „Hintergrundrealität" von der ausgegangen werden kann. Ihre gesellschaftliche Funktion liegt folglich nicht in der Summe der bereitgestellten Informationen sondern in dem durch die Rezeption dieser Informationen erzeugten Gedächtnis. Dieses beruht darauf, dass Realitätsannahmen als bekannt vorausgesetzt 6

7

Vgl. Feitosas Beschreibung des Stellenwerts des Hässlichen in einer Ästhetik, in der dieses das Andere des Schönen ist: „Dieser Mangel an Form -oder dieses Übermaß an Materiewäre aus traditioneller Sicht ein Zeichen des Unvermögens des Geistes, die Rohheit oder die Grausamkeit des Sinnlichen zu bearbeiten, zu vermenschlichen und zu domestizieren" (Feitosa, S. 241). „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien" (Luhmann21996: 9).

Zum Verhältnis von Massenmedien undAlterität

11

werden können. Entscheidend ist folglich, dass Massenmedien kein Wissen auf Nichtwissende übertragen sondern einen gemeinsamen Horizont stiften, vor dem sich Kommunikation entfalten kann (Luhmann 21996: 120-121). Dabei handelt es sich keineswegs um kohärente Realitätskonstruktionen. Massenmedien widersprechen und diskreditieren sich. Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien kann folglich nach Luhmann nicht ohne deren Nutzung durch die Rezipienten bestimmt werden: Diese werden zu Beobachtern der massenmedialen Beobachtungen und nehmen die auftretenden Widersprüche selbst als Realität wahr.8 Bei den Rezipienten ist insofern von eigenen subjektiven Systemen auszugehen, die zwischen Selbstund Fremdreferenz unterscheiden, und die die Kommunikate der Massenmedien daher nicht unreflektiert absorbieren. Auch in neueren lateinamerikanischen Theorieansätzen werden eine kulturelle Degradation und ein Verlust kultureller Authentizität im Zusammenhang mit den Massenmedien bestritten. Der Begriff der „Masse" wird entweder aufgewertet, wie bei Jesús Martín-Barbero -und zwar im Sinne eines kulturellen bzw. sozialen Subjekts (vgl. Martín-Barbero 1987: 134-135)-, oder aber grundsätzlich in Frage gestellt, wie bei Gilberto Velho, der es vorzieht, von „komplexen Gesellschaften" zu sprechen.9 Auch im Hinblick auf das Medium der so genannten Massenliteratur wird ein wertendes „Defizit-Theorem", das in Kunst und Unkunst zu unterscheiden erlaubt, abgelehnt, wie bei Götz Großklaus, der vorschlägt, es durch ein „DifferenzTheorem" zu ersetzen (vgl. Großklaus 21997: 223). Annette Paatz argumentiert im vorliegenden Band anhand eines historischen Fallbeispiels, dass Massenmedien trotz der ihnen eigenen asymmetrischen Kommunikation das Rezeptionsverhalten des Publikums nicht zwangsläufig prädeterminieren. Sie zeigt mit ihrer Untersuchung, wie die französische Zeitschrift Revue des Deux Mondes im 19. Jh. trotz ihrer Deplatzierung Lateinamerikas als einer minderwertigen Alterität von lateinamerikanischen Intellektuelle einer davon losgelösten Rezeption unterzogen wird. Diese Intellektuellen nutzen das Medium im Gegensatz zu seiner eurozentrischen Tendenz, um eine eigenständige kulturelle Identität zu entwerfen. Maria Borcsa setzt sich mit der Ausübung kultureller Dominanz durch die Massenmedien und mit ihren sozialen 8

9

Wir lernen nur, das Beobachten zu beobachten und bei zu erwartenden Divergenzen den Konflikt selbst als Realität zu erleben. Je mehr Information, desto größer die Unsicherheit und desto größer auch die Versuchung, eine eigene Meinung zu behaupten, sich mit ihr zu identifizieren und es dabei zu belassen (Luhmann21996: 126). „A comunicado de massas também é heterogénea de varios modos, impedindo que se fale em um movimento único e avassalador. Além do mais, ela é produzida dentro de urna cultura e sociedade, nao se constituindo em um fenómeno alienígena, por mais que se possa criticar os excessos dos enlatados americanos. [...] além de as mensagens e influencias nro serem homogéneas e unidirecionais, os individuos e grupos movem-se em uma rede de papéis e significados que faz con que a recep9äo seja diferenciada, e as interpretares heterogéneas. Logo, estamos lidando com um mapa dinámico, de múltiplos planos e em permanente mudaba" (Velho: 1994: 68).

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

12

Markierungen von Alterität auseinander. Dabei weist sie am Beispiel der Geburtsblinden auf die Ambivalenz zwischen der Nutzung der Massenmedien durch den Einzelnen und seiner „Vemutzung" durch diese Medien hin. Claudius Armbruster untersucht in dieser Hinsicht die Darstellung des indigenen Anderen in der brasilianischen Kulturgeschichte und macht auf die zwangsläufig mediale Bedingtheit dieser Repräsentationen aufmerksam. Dabei zeigt er, dass dieser Andere in den Massenmedien nur „in immer neuen hybriden Bildern und nicht-anzestralen Ikonen" überleben kann (Armbruster, S. 127 f.). Bezogen auf Identität lässt sich hingegen feststellen, dass dem Begriff von „Masse" das Konzept einer ,Nicht-Identität' oder .negativen Identität' in Bezug auf ein mündiges Subjekt zugrunde liegt. Aus den gegenseitigen Implikationen von „Masse" und „Massenmedien" folgt nun unserer Ansicht nach, dass auch dem Begriff der „Massenmedien" ein solcher negativer Identitätsbegriff eigen ist. Seine zunehmende Infragestellung lässt die Notwendigkeit einer Medientheorie der Alterität deutlich werden. Im vorliegenden Band beispielsweise diskutiert Dierk Spreen ausgehend von der romantischen Medientheorie Adam Müllers die Geburt der modernen Gesellschaft als mediale Relationalisierung der Körper im Dienste von politischer Ökonomie und Kriegsführung. Das moderne Subjekt ist in dieser Perspektive immer schon in die medialen Netze eingefasst, in denen es lediglich „Knoten" bildet. Sein Körper gleicht damit einer „relationalen Verdichtung" und kann nur als Schnittstelle, in der sich soziale Vermittlung realisiert, überhaupt historisch in Erscheinung treten.

2.

Alterität

Der Versuch, Massenmedien und Alterität zusammenzudenken, bedeutet nicht, den Begriff der Identität aufzugeben. Identität und Alterität können nicht unabhängig voneinander gedacht werden, sondern nur in einer grundsätzlichen Interdependenz. Diese Interdependenz kann phänomenologisch als Relationalität bestimmt werden. In diesem Sinn werden das ,»Andere" und die „Welt" nicht als Objekte sondern als „Relationen" aufgefasst und entsprechend das „Subjekt" als „Netz von Beziehungen".10 Die Interdependenz von Identität und Alterität kann aus phänomenologischer Sicht verdeutlicht werden am Beispiel des „Fremden": Bernhard Waldenfels weist darauf hin, dass Husserl „Fremdheit" als eine besondere Art der Zugänglichkeit bestimmt, und zwar als das Paradox der „Zugänglichkeit eines Unzugänglichen" 10

Zur relationalistischen Phänomenologie bei Enzo Paci, der Leben und Denken grundsätzlich als Relationalitäten und Menschen als „Beziehungszentren" versteht, siehe Cristin 1995: 35-44; vgl. hierzu auch den Ausblick auf den Relationalismus, den Waldenfels 1997: 85 gibt.

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

13

(vgl. Waidenfels 1997: 26). Sofern Fremdheit hierbei als eine besondere Form der Alterität betrachtet werden kann, lässt sich für die allgemeineren Fälle von Identität und Alterität schließen, dass auch diesen spezifische Zugänglichkeiten bzw. Relation a l s t e n zugrunde hegen. Sie sind metarelational als Relationen von Relationen zu bestimmen, insofern Identität und Alterität nicht nur zueinander Relationen bilden, sondern jeweils für sich bereits Relationalitäten konstituieren. Die methodologische Prämisse der Relationalst von Alterität im Bereich der Massenmedien sieht Differenzierungen auf verschiedenen Niveaus vor. So ist z.B. die Frage nach der Alterität individueller Rezipienten zu unterscheiden von deijenigen nach der Alterität eines Publikums, von Regionen, Ethnien, Staaten, Nationen usw. Insbesondere aber ist aufzuzeigen, wie den verschiedenen Verwendungen des Begriffs der Alterität unterschiedliche Modelle von Relationalst zugrunde liegen: 2.1. Synonyme Alterität Die synonyme Alterität liegt vor, wenn Alterität tendenziell als eine andere Identität aufgefasst wird. Die beiden Begriffe Identität und Alterität werden hierbei im Grunde synonym verwendet und unterscheiden sich nur durch den arbiträren bzw. motivierten Blickwinkel des Sprechenden. Der analytische Aspekt, der sich aus dieser Begriffsverwendung ergibt, ist die imagologische Herausarbeitung von Stereotypen.11 Der synonymen bzw. formalen Konzeption12 von Alterität hegt ein Einheitsdenken zugrunde, das Identität als individuell-kollektive Autonomie versteht und dazu tendiert, die Dimension der Relationalitat zu vernachlässigen. Die Kritik der Massenmedien als Medien, die vornehmlich Stereotypen hervorbringen würden, läuft dabei Gefahr, der Stereotypisierung als Zirkelschluss aufzusitzen, zumal, wenn die Massenmedien auf der Grundlage einer Dichotomie von Kultur-Unkultur selbst zu Stereotypen werden. Verkannt wird auch die Frage der Relationalst, wobei der phänomenologische Zusammenhang von Sachverhalt und Zugangsart unberücksichtigt bleibt. Dies wird deutlich im Sonderfall, wenn in scheinbarer Reziprozität beide Seiten betrachtet werden, so als spiele der eigene Standort keine Rolle, was z.B. typisch ist für die reziproke Untersuchung deutsch-französischer Medienbilder.13 2.2. Doppelte Alterität Eine auf die soziale und lebensweltliche Dimension des Selbst ausgerichtete doppelte Alterität behandelt Rainer Marten im vorliegenden Band. Er unterscheidet diese vom „anderen Anderen" (dem Tod) und dem „ganz Anderen" (totaliter aliter / 11

Als Beispiel für die Untersuchung massenmedial konstituierter Stereotypen, vgl. Bassewitz 1990. 12 Zur formalen Alterität, vgl. auch die Argumentation von Lévinas unter 2.8. Transzendentale Alterität, S. 17. 13 Vgl. z.B. Faul 1993: 305-334.

14

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Gott), die zusammen mit dem „(einfach) Anderen" eine dreifache Alterität ergeben, die er im gegebenen Kontext aber nicht weiter thematisieren möchte. Mit doppelter Alterität meint er daher eine Unterscheidung, die den letztgenannten (einfachen) Anderen betrifft. Sie besteht Marten zufolge „für das praktisch positionierte Selbst negativ formuliert- darin, nicht der Andere und nicht das Andere zu sein", so dass die Andersheit sowohl auf der Ebene des Subjekts als auch des Objekts anliegt und somit eine doppelte Alterität ergibt: Das je eigene Selbst ist dazu ausersehen, das Eine im Verhältnis zum Anderen zu sein, sowohl zum Anderen, mit dem es Geistigkeit und Sprachlichkeit teilt, als auch zum Anderen, mit dem es Sinnlichkeit und Körperlichkeit teilt. Für diese Differenzierung der einen und anderen Andersheit ist das Selbst, das beide braucht, um seinen lebensbefähigenden Halt und Einhalt zu finden, die zentrale Figur [...]. (Marten, S. 169)

Marten differenziert so den relationalen Charakter jeder Identität bzw. die Konstitution des Selbst aufgrund einer „initialen Alterität", die er als dialogische und ästhetische Alterität unterscheidet. Gemeint ist damit letztlich, dass das Selbst nicht nur auf das dialogische Wechselspiel mit dem Anderen angewiesen ist sondern auch auf das Wechselspiel der Wahrnehmung mit Anderem. 2.3. Relative Alterität Hierbei handelt es sich um die stets gesehene bzw. mitgedachte Notwendigkeit einer komplementären Alterität der Identität. Die Relativität dieses Alteritätsmodells sollte jedoch nicht mit Relationalität verwechselt werden: Während „relational" bedeutet, dass etwas in Bezug auf anderes zu bestimmen ist, bedeutet „relativ" lediglich, dass es nur für mich oder für uns so ist, nicht aber schlechthin (vgl. Waidenfels 1997: 37). Das Andere konstituiert sich durch eine Abgrenzung vom Selbst, dessen Relationalität jedoch ausgeblendet wird - das Selbst ist gewissermaßen das Ganze nach Abzug des Anderen, wobei das Andere ein arbiträres Konstrukt bleibt. In diesem Sinne fungieren Schwarze in den USA nach Toni Morrison als invertierende Spiegel, die den weißen Nordamerikanern ihre Identität gegeben hätten (vgl. Ortega 1997: 26). Ein weiteres Beispiel für einen relativen Alteritätsbegriff bietet Octavio Paz in seinen Essays über Mexiko, wenn er argumentiert, dass dieses durch seine Andersheit gegenüber den USA konstituiert sei. In dieser Argumentation fungieren die USA als der „Andere" („el otro"), der in seiner Andersartigkeit die Eigenheit begründet: „Die Vereinigten Staaten sind die Negierung dessen, was wir vom 16. bis 18. Jh. waren und von dem, was seit dem 19. Jh. viele unter uns gerne sähen, dass wir es wären".14 14

„Los Estados Unidos son la negación de lo que fuimos en los siglos XVI, XVII, XVIII y de lo que, desde el XIX, muchos entre nosotros querrían que fuésemos" (Paz 1987: 414).

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

15

2.4. Dynamisch-prozessuale Alterität Ein über die relative Alterität hinausgehendes Modell liegt dann vor, wenn diese dynamisiert wird, das heißt, Wechselwirkungen und Entwicklungen der Relation zwischen Identität und Alterität berücksichtigt werden. Hierbei droht jedoch die Gefahr einer Vereinnahmung der Alterität bis hin zu ihrem Verschwinden. Ortega z.B. hebt bei Carlos Fuentes auf die Prozessualität einer ursprungslosen Identität ab, deren Merkmal Aktualität ist.15 2.5. Dialektische Alterität Die prozessuale Alterität kann übergehen in eine dialektische, bei der es zu einer Synthese aus Identität und Alterität kommt. Der dialektische Prozess fuhrt in der Aufhebung von Alterität auf einer höheren hierarchischen Ebene zu einer neuen Identität. In der Aufhebung der Relation von Identität und Alterität kommt es zur Herausbildung einer neuen Relation, die ihrerseits dialektisch sein kann. Die Probleme der dialektischen Alterität liegen im Bereich von Inkorporation, Assimilation und Vermischung, jedenfalls dann, wenn sie ausschließlich auf die versöhnende Einheit eines synthetischen Dritten abzielen, dessen Relationalität keine Rolle mehr spielt. Gilberto Freyre beschreibt beispielsweise die „formafäo brasileira", die Herausbildung der „brasilianischen Gesellschaft", als die einer „hybriden Kultur", d.h. als einen „Prozess des Ausgleichs" von „Antagonismen", u.a. der „europäischen", „amerindianischen" und „afrikanischen" „Kulturen", die die neue Gesellschaft konstituieren. Bezeichnend ist, dass diese „Antagonismen" nicht zuletzt durch die „Rassenmischung" „harmonisiert" würden. Freyres Modell der brasilianischen „Hybridität" ist somit als eines zu verstehen, in dem unterschiedliche ,^Antagonismen" in einer Synthese und Vermischimg aufgehen.16

15 16

„La identidad es procesal pero su contenido es actual" (Ortega 1997: 32). „Considerada de modo geral, a formafäo brasileira tem sido, na verdade [...] um processo de equilibrio de antagonismos. [...] É verdade que agindo sempre, entre tantos antagonismos contundentes, amortecendo-lhes o choque ou harmonizando-os, condiföes de confraternizado e de mobilidade social peculiares ao Brasil: a miscigenaiäo, dispersäo da heran9a [...]" (vgl. Freyre 422001: 125). - Als eindrucksvolles Beispiel für einen dialektischen Alteritätsbegriff können auch Wolfgang Matzats Lateinamerikanische Identitätsentwürfe (vgl. Matzat 1996) gelten. Matzat betont zwar die intertextuelle und intermediale Verfasstheit des essayistischen Identitätsdiskurses (Matzat 1996: 9), doch tut er dies mit Blick auf den Begriff der transculturación von Ángel Rama, der selbst eine vertröstende' Synthese ist und sich letztlich nur wenig hilfreich erweist, die Eigendynamik oder Kreativität der Identitätsentwürfe zu beschreiben.

16

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

2.6. Tertiäre Alterität Dieser Begriff von Alterität trägt dem Umstand Rechnung, dass die Relationalst von Identität und Alterität nicht auf eine Bipolarität beschränkt ist, sondern notwendig durch weitere Relationen konstituiert wird. Augenfällig erscheint dies insbesondere im Bereich der kollektiven Identität/Alterität, in dem ein „Wir" erst dann entsteht, wenn die Relation eines „Ich" zu einem „Anderen" in Bezug auf einen „Dritten" gebildet wird. Dieser Dritte kann verschiedene Funktionen innehaben: er kann der Fremde sein, der Feind, der Schiedsrichter, der Sündenbock, usw.17 Joachim Fischer wendet die Figur des Dritten im vorliegenden Band aus sozialtheoretischer Sicht auf die Massenmedien an und verspricht sich davon eine „minimale Revision" der sozial- und kommunikationstheoretischen Hintergrundkonzepte im Sinne eines Paradigmenwechsels: Es geht ihm dabei um die Überwindung eines dyadischen Denkens sowohl in der Medientheorie sowie in der Alteritätsdebatte. Die Ergänzung der Dyade von Identität und Alterität durch die Figur des Dritten heißt daher für ihn, „den Dritten zwischen Alterität und Pluralität zu schieben, das ist einen Schritt zurück aus der Vielheit oder der Masse zu machen, in die die dyadischen Modelle zu rasch und unvermittelt übergehen" (Fischer, S. 80). Für unsere Fragestellung ist hierbei besonders relevant, dass die Masse für Fischer gegenüber dem Dritten keine funktionale Erweiterung mit sich bringt: Der Dritte ist ein weiterer Anderer neben dem Anderen in einem konstitutiven Sinn, d.h. sein Auftauchen ruft Effekte hervor, die ein nochmaliger Anderer - z.B. ein Vierter oder Fünfter - nicht auslöst [...] während ab dem Vierten sich dyadische und tertiäre Konstellationen wiederholen, vervielfältigen und überlagern hin zu einer strukturierten Polyvalenz komplexer Sozialität. (Fischer, S. 81)

Zu fragen wäre hier, ob der nochmalige oder massenhaft Andere nicht doch funktionell andersartige Relationalitäten im Sinne qualitativer (und nicht nur quantitativer) Komplexitätssteigerung eröffnet: Ist nicht die funktionelle Nicht-Unterscheidbarkeit vom Dritten eines Vierten und Fünften just eine Umschreibung der negativen R i n nen-Indifferenz" der Masse? Doch sollte hier nicht vorschnell darüber hinweggegangen werden, dass Fischer mit Blick auf die Massenmedien lediglich geltend machen möchte, dass die triadische Konstellation auch dann in Kraft bleibt, „wenn massenhaft für einander abwesend Andere an vielzahlige mediale Dritte Ansprüche stellen" (Fischer, S. 83 f.). Insbesondere aber macht eine triadische Medientheorie im Sinne Fischers darauf aufmerksam, dass die Kritik an der Unterordnung des Anderen in Folge der identitätsdefinierenden Gewalt der Massenmedien auf die „Dyadenutopie" einer unverstellten Kommunikation zurückgeht.

17

Vgl. in diesem Sinne Waidenfels 1997: 114-117 und Fischer 2000.

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

17

2.7. Plurale Alterität Hierbei geht es um einen Begriff, der die Plurirelationalität von Alterität im Sinne eines Modells höherer Komplexität aushält, ohne diese auf eine synthetische Identität zurückzuführen. Zur Debatte steht ein „postmoderner Begriff von Identität"18, mit dem plurale Identitäten19 als Alterität gedacht werden.20 Ein literarischer Entwurf einer Alterität, die eine dezentrierende Vielzahl von Relationalitäten ins Spiel bringt, die unterschiedliche Identitäten bilden und diese nicht zu einer neuen Einheit zusammenfuhrt oder reintegriert, ist Fernando Pessoas heterotopisch-beunruhigende Heteronymie. Die Schriftsteller Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos, Bernardo Soares, Fernando Pessoa (und unzählige Subheteronyme) machen deutlich, dass das einheitliche Individuum Fernando Pessoa eine Fiktion bzw. ein Ich ist, das aus Anderen besteht. Die individuelle Dimension der Heteronyme steht zudem im Kontext einer kulturtheoretischen Auseinandersetzung mit Portugal, wodurch sie für ein kulturelles Modell einer polyrelationalen Alterität zusätzlich interessant wird. In diesem Sinne zeigt Hilary Dannenberg anhand einer Reihe von Einzelanalysen im vorliegenden Band, wie sich auch der Hollywoodfilm immer stärker der Pluralisierung von Identitäten angenommen hat. Durch die Gegenüberstellung multipler Formen des Selbst wird sich das Subjekt auf der Ebene des Plots zunehmend fremd.

18

„la noción postmoderna de identidad" (Ortega 1997: 18). Ortega führt die Plurirelationalität weiterhin zurück auf eine „plurale Identität" im Singular („la identidad pluralizada", Ortega 1997: 18). Für ihn ist Identität schließlich „nichts anderes als eine der uneingelösten Versprechungen der Moderne" („La identidad, al final de cuentas, no es sólo otra de las promesas incumplidas de la modernidad", Ortega 1997: 32). Sein Identitätsbegriff weist über einen synonymen, reziproken oder lediglich dynamischen Alteritätsbegriff hinaus, wenn er auf die Bedeutung der Frage nach der Identität (in Richtung der Relationalität) abhebt: „Im gegenwärtigen Begriff von Identität ist auch der Teil des anderen enthalten, der nicht nur Träger einer anderen Identität ist, sondern die Frage nach unserer Identität, nach dem Begriff einer Identität, der uns wechselseitig konstruiert." („En la noción actual de identidad habita también la parte del otro, que no es meramente el portador de otra identidad, sino la pregunta por nuestra identidad, por la noción de identidad que nos construye mutuamente", Ortega 1997: 18). 20 Vgl. Walter Bruno Berg und sein im Zusammenhang von literarischen Gattungsmischungen in Lateinamerika entwickeltes Konzept von Alterität als einer „ex-zentrische[n] Identität, einer Identität, die, in gewisser Weise, ,doppelköpfig' ist, die sich aufgrund eines doppelten Subjekts konstituiert, einer Beziehung gegenüber dem Zentrum. [...] Polyperspektive und Pluridimensionalität sind dem Modell der Alterität inhärent" („una identidad ex-céntrica, una identidad, en cierta medida, 'bicéfala', que se constituye justamente a partir de un doble sujeto, una relación, pues, constituida frente-al-centro. [...] La poliperspectiva y la pluridimensionalidad son inherentes al modelo de la alteridad" (Berg 1999). 19

18

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

2.8. Transzendentale Alterität Emmanuel Lévinas -dessen Werk mit der Philosophie der Alterität wie kein anderes verbunden ist- scheint uns schließlich gerade auch im Hinblick auf die Massenmedien unverzichtbar zu sein. Zweifelsohne hat die absolute -oder transzendentaleAlterität eine bemerkenswerte Spur in den Werken Jacques Derridas und JeanFrançois Lyotards hinterlassen. Doch es soll hier abschließend nicht um die Berührungspunkte der Philosophie dieser drei französischen Denker gehen (vgl. Taureck 1997: 93-97), sondern darum, zu zeigen, wie ein kulturell basierter AlteritätsbegrifF von Lévinas selbst ins Spiel gebracht wird, und zwar in den beiden in Entre nous (1991) kompilierten Essays „Détermination philosophique de l'idee de culture" (1983/86) und „De l'unicité" (1986). Der letztgenannte Essay ist für unsere Argumentation von besonderem Interesse, insofern er mit einer Bemerkung über „l'individue et son appartenance à un genre au genre humain" (Lévinas 1991: 195) beginnt, in der der Mensch als formale Gattung angesprochen wird. Lévinas weist daraufhin, dass innerhalb der formalen Ordnung der Gattung des Menschen ein jedes Individuum ein Anderer ist für den Anderen. Diese formale Alterität ist eine allgemeingültige und austauschbare innerhalb der Gemeinschaft der Gattung. Sie entspricht der schlichten Andersheit, die wir in Abschnitt 2.1 als synonyme Alterität bezeichnen. Zweifelsohne ist eine solche formale Logik fragwürdig, zumal, wenn sie sich auf eine Gattungszugehörigkeit beruft.21 Lévinas belässt es jedoch nicht bei dieser Ausgangsunterscheidung, sondern entwickelt -wie auch Derrida- ein präsenz-kritisches Konzept von Alterität. Schließlich enthüllt sich die Transzendenz Lévinas zufolge in einer Spur -dem Antlitz des Anderen-, und es ist diese Spur, welche die Gattung des Menschen durch die vorgängige Abwesenheit des Anderen (vor allem in der Sprache) übersteigt. Das Konzept der Alterität ist bei Lévinas daher weder auf die Gattung des Menschen beschränkt, noch auf diejenige eines höchsten Gottes. So gesehen erscheint es ungerechtfertigt, Lévinas' absolute Alterität alleine mit der absoluten Form der Idee des Göttlichen zu verbinden, wie es sich in der Exklusivität des Antlitzes manifestiert.22 Das Antlitz ist hierbei nur eine der Metaphern der Abwesenheit, obschon allem Anschein nach die wichtigste, weil sie sich auf Spuren oder Markierungen des menschlichen Körper bezieht. Auf keinen Fall aber ist sie die einzige Spur, die Lévinas zulässt. In „Détermination philosophique de l'idée de culture" finden wir eine Kritik des abendländischen Kulturbegriffs, demzufolge Kultur als Immanenz 21

22

Vgl. hierzu die Kritik Derridas am Konzept der Zugehörigkeit zu Gattungen (vgl. Michael/ Schäffauer, S. 288). Eine solche Reduktion der Alterität Lévinas' findet man beispielsweise gegen Ende der Topographie des Fremden von Bernhard Waidenfels. Dort kritisiert Waidenfels Lévinas' Beschränkung der Alterität auf das menschliche Wesen, weil er davon ausgeht, dass sie auch aus einer anderen Haltung gegenüber der Natur hervorgehen könne (cf. Waidenfels 1997: 180).

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

19

aufgefaßt wird. Ihr stellt Lévinas die Idee einer Kultur als Transzendenz gegenüber - zu der er ausdrücklich die Alterität der Natur als wesentlichen Gedanken hinzuzählt. Auf diese Weise entwickelt Lévinas seine Idee einer Kultur weiter, die aufhört, „de se confirmer dans son identité en absorbant l'autre de la Nature ou en s'y exprimant, mais de mettre en question cette identité même" (Lévinas 1991: 193). Für Lévinas besteht die Kultur nicht in der Reduktion des Anderen auf den Einen, sondern in der Kultivierung der Transzendenz als solcher. Lévinas spielt eine bedeutende Rolle in Ellen Spielmanns „kleinen Geschichte der Alterität" im vorliegenden Band. Spielmann beschreibt als wichtigste Stationen des Begriffs seine philosophische Fundierung in den 1940er Jahren durch französische Denker und seine zentrale Funktion in der postkolonialen Theorie gut vierzig Jahre später. Sie zeigt dabei auf, dass Alterität ausgehend nicht zuletzt von Lévinas' transzendentaler Konzeption durch das postkoloniale Denken eine deutliche Akzentverschiebung erfahrt und schließlich dazu dient, Phänomene im Zusammenhang kultureller Globalisierung wie Migration und Deterritorialisierung von Kulturen zu beschreiben und zu analysieren. Schließlich untersucht sie die „Lücke bzw. Verspätung" der Alteritätsdebatte in Lateinamerika: Spielmann fuhrt sie auf die Dominanz des Konzepts des „mestizaje" zurück, denn mit ihm bzw. mit der Vorstellung der gegenseitigen Vermischung der Kulturen in Lateinamerika habe sich immer schon eine Aufwertung der nationalen Kulturen verbunden, die eine konsequente Auseinandersetzung mit Alterität verhindert hat. 2.9. Alterität und Medien Wie Spielmann andeutet, haben sich jedoch unter dem Eindruck der Globalisierung in Lateinamerika neue kulturtheoretische Ansätze herausgebildet. Jesús MartínBarbero und Néstor García Canclini gehen von ständigen Kreuzungen von Tradition und Moderne in Lateinamerika im Sinne einer „multitemporalen Heterogenität" aus, die sie insbesondere im Kontext der Massenmedien beobachten.23 Massenmedien werden hierbei als kultureller Anachronismus aufgefasst, in dem die Moderne sich zu ihrer Etablierung verbündet mit Formen traditioneller Popularkultur, die sie vorgibt zu ersetzen. In diesem Zusammenhang diskutieren „Diskurse des Hybriden" insbesondere im Bereich der Massenmedien „Verknüpfungsformen des Pluralen", die nicht in Vermischungen auf neue Einheiten zurückfuhrbar sind (vgl. Schneider 1997: 44). Bei Hybridisierungen im Bereich der Massenmedien handelt es sich um die Kreuzungen verschiedener Medien, Gattungen, Codes und Traditionen. Der bereits angesprochene Beitrag Larrègola i Bonastres im vorliegenden Band macht in diesem Sinne deutlich, dass den Massenmedien eine kulturelle Dynamik eigen ist,

23

Vgl. Martín-Barbero 1987 sowie Garcia Canclini 21995.

20

Joachim Michael/Markus Klaus Schäffauer

die sich als konsequente Hybridisierung unterschiedlichster Gattungen beschreiben lässt.24 Anknüpfend an lateinamerikanische Erfahrungen der Postmoderne bezieht sich Vittoria Borsö in ihrem Beitrag im vorliegenden Band auf Carlos Monsiväis, wenn sie Massenmedien als „epistemologischen Ort" bestimmt. Sie unterscheidet zwei Formen von Massenmedien: die Vermittlung gesellschaftlichen Sinns als erfahrungsloser Information auf der einen Seite und der Konstitution eines instabilen ,Ausdrucksraums von Alteritäten und Differenzen" auf der anderen. Letzteres versteht sie mit Monsiväis als Entfesselung transkultureller, die nationale Essenz aushöhlender Kräfte, die die Geschichte als medienkulturellen Transformationsprozess erscheinen lässt. Mit der Zerstreuung geht somit immer auch ein subversives Potential einher, das beim Publikum sich verselbständigende und anti-ideologische Tendenzen der Ironie und des Humors freisetzt. Mit Blick auf Monsiväis schwindet insofern die Kluft zwischen Massenkultur und Kunst, als diese die Massenmedien als „Ermöglichungsbedingung ästhetischer Formen" ernst nimmt. Gemeint ist die Erfahrung, dass Massenmedien neue Modi der Wahrnehmung einleiten. Es geht hierbei um die Beobachtung Benjamins, dass das Sehen durch die Apparate neu ausgerichtet wird. Die Andersheit des technischen Blicks affiziert jedoch das Subjekt, das sich beispielsweise nicht mehr vor dem betrachteten Objekt sammelt sondern sich angesichts schockartiger Sinneswahrnehmungen zerstreut. Die Reproduzierbarkeit des Augenblicks in der Fotografie nimmt dem Ding nicht nur seine Autorität sondern entgrenzt Gegenwart und Vergangenheit zugleich und zeugt von etwas, das nicht darstellbar ist. Mit den Massenmedien verbindet sich somit immer auch die Erfahrung von Nicht-Übereinstimmung und Differenz, die nicht repräsentierbar aber in der medialen „Materialität" eingeschrieben ist. Wichtig für den Zusammenhang von Medien und Alterität ist hierbei Borsös Unterscheidung zwischen Alterität und Differenz. Alterität kann mit Levinas kein unmittelbares Objekt der Erkenntnis sein, ohne dass seine Andersheit verloren ginge. Was Alterität erhält, ist die Differenz, verstanden als unabgeschlossener Prozess des Differierens.25 Zu nennen sind im Kontext der Auseinandersetzung um Massenidentität und Medien schließlich die telematischen Medien. In ihnen zeichnet sich ab,26 dass „Massenmedien" neue kommunikative Relationalitäten wie etwa Bidirektionalität oder ganz allgemein telematische Interaktivität hervorbringen. Johannes Bittner beschreibt das Internet im vorliegenden Band als „hybrides Medium", das die kom24

Zur Instabilität der Gattungen in der Medienkultur siehe auch unseren Beitrag „Die intermediale Passage der Gattungen" in diesem Sammelband. 25 Analog hierzu versuchen Walter Bruno Berg und Joachim Michael in ihren Beiträgen zum vorliegenden Band zu zeigen, wie anhand konkreter Beispiele Phänomene differierender Alterität im Diesseits der Medien analysiert werden können. 26 Zu Telematik vgl. die Essays des tschechisch-brasilianischen Kommunikologen Vilem Flusser 1998a u. 1998b sowie Krämer 1998.

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

21

munikativen Möglichkeiten der herkömmlichen massenmedialen Rezeptionsmedien mit den Interaktionsmöglichkeiten direkter interpersonaler Kommunikation kombiniert. Er kommt zum Schluss, dass das neue Medium die Relationen zwischen Identität und Alterität neu strukturiert, und zwar im Sinne einer Aufwertung des Anderen, auf den die virtuelle Identität noch stärker als ihr Pendant im „real life" angewiesen ist. Die Utopie eines hologrammatischen Supermediums ä la Morel,27 welches das Subjekt ebenso ganzheitlich wie testamentarisch projiziert, gehört damit jedoch noch lange nicht der medienarchäologischen Vergangenheit an. Dies wird, darf man virtualitätsverliebten Science-Fiction-Filmen wie Matrix Glauben schenken, auch niemals der Fall sein, insofern alle Medien testamentarische Züge tragen.28 Doch steht als neue medienkulturhistorische Etappe zu erwarten, dass sich mit den digitalen Medien -und insbesondere aufgrund telematischer Netze- das Verhältnis von Medium und „Masse" von Grund auf umgestalten wird.29

27 28

29

Vgl. La invención de Morel (1941, zu dt.: Morels Erfindung) von Adolfo Bioy Casares. Mit Blick auf die Ökonomie des Todes, die den Wunsch nach subjektiver Präsenz in Folge der medialen Abweichung einer solchen Präsenz begründet, weist Derrida darauf hin, dass alle Schrift testamentarisch sei (vgl. Derrida 1967: 100). Vgl. hierzu die kritische Auseinandersetzung von Josef Wehner 1997.

22

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Bibliographie Adorno, Theodor W. (1977): „Resümee der Kulturindustrie" in: Gesammelte Schriften, Band 10.1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 337-345 Bassewitz, Susanne von (1990): Stereotypen und Massenmedien. Zum Deutschlandbild in französischen Tageszeitungen. Wiesbaden: Dt. Universitäts-Verlag Berg, Walter Bruno (1999): „Identidad y alteridad en América Latina: ¿un problema de género (literario)?"; in: Bremer, Thomas; Schütz, Susanne (Hg.): América Latina: cruce de culturas y sociedades. La dimensión histórica y la globalización futura. IIo Congreso Europeo de Latinoamericanistas. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, ISBN 3860 10-539-6 (CD-Rom) Cristin, Renato (1995): „Zur Geschichte der Phänomenologie in Italien", in: ders. (Hg.): Phänomenologie in Italien. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 35-44 Derrida, Jacques (1967): De la grammatologie. Paris: Minuit Faul, Erwin (1993): „Selbstbilder und Fremdbilder in der deutschen und französischen Fernsehberichterstattung" in: Koch, Ursula E. et al. (Hg.): Deutsch-französische Medienbilder. München: Fischer, S. 305-334 Flusser, Vilém (1998a) [1974]: „Für eine Phänomenologie des Femsehens" in: ders.: Medienkultur. Frankfurt /M.: Fischer, S. 103-123 — (1998b): „Auf dem Weg zur telematischen Informationsgesellschaft" in: ders.: Medienkultur. Frankfurt/M.: Fischer, S. 141-182 Fischer, Joachim (2000): „Der Dritte. Zur Anthropologie der Intersubjektivität" in: Eßbach, Wolfgang (Hg.): wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Ergon: Würzburg, S. 103-136 Freyre, Gilberto (422001): Casa Grande & Senzala. Introdugäo ä historia da sociedade patriarcal do Brasil. Rio de Janeiro: Ed. Record García Canclini, Néstor (21995): Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. Buenos Aires: Ed. Sudamericana Großklaus, Götz (21997): Medien - Zeit; Medien - Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne. Frankfurt /M.: Suhrkamp Hansen, Klaus P. (1995): Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Francke Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1998): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Fischer Krämer, Sybille (Hg.) (1998): Medien - Computer - Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt/M.: Suhrkamp Lévinas, Emmanuel (1991): Entre nous: essais sur lepenser-ä-l'autre. Paris: Grasset Luhmann, Niklas (21996): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag Martín-Barbero, Jesús (1987): De los medios a las mediaciones. Comunicación, cultura y hegemonía. México: Gustavo Gili Matzat, Wolfgang (1996): Lateinamerikanische Identitätsentwürfe. Tübingen: Narr Ortega, Julio (1988): „Una identidad plural" in: ders.: Crítica de la identidad. La pregunta por el Perú en su literatura. México: FDCE, S. 212-217 Ortega, Julio (1997): „Identidad y postmodernidad en América Latina", in: ders.: El principio radical de lo nuevo. Postmodernidad, identidad y novela en América Latina. México: FDCE, S. 15-33 Paz, Octavio (1987): „El espejo indiscreto", in: Paz, Octavio; Schneider, Luis Mario (Hg.): México en la obra de Octavio Paz. Bd. 1: El peregrino en su patria. Historia y política de México. México: FDCE, S. 413-435

Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität

23

Schneider, Irmela (1997): „Von der Vielsprachigkeit zur ,Kunst der Hybridation'. Diskurse des Hybriden", in: Schneider, Irmela; Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur. Medien - Netze - Künste. Köln: Wienand, S. 13-66 Sloterdijk, Peter (2000): Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt /M.: Suhrkamp Taureck, Bernhard H. F. (21997): Emmanuel Lévinas zur Einjuhrung. Hamburg: Junius Tholen, Georg Christoph (2002): Die Zäsur der Medien: kulturphilosophische Konturen. Frankfurt/M.: Suhrkamp — (2004): „Die Passage der Medien: Zäsur und Metapher" in: Berg, Walter Bruno et al. (Hg.): Fliegende Bilder, fliehende Texte. Identität und Alterität im Kontext von Medien und Gattungen. Vervuert: Frankfurt /M. Velho, Gilberto (1994): Projeto metamorfose. Antropología das Sociedades Complexas. Rio de Janeiro: Zahar Ed. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Frankfurt /M.: Suhrkamp Wehner, Josef (1997): Das Ende der Massenkultur? Visionen und Wirklichkeit der neuen Medien. Frankfurt /M.: Campus-Verlag

Debatte über Massenmedien und Alterität mit Stellungnahmen von: Manfred Engelbert Vittoria Borsò Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer Walter Bruno Berg

Manfred Engelbert (Göttingen)

Zusammenfassende Überlegungen zum Workshop „Massenmedien und Alterität" Zunächst noch einmal herzlichen Dank an die Veranstalter, die eine „belebende Art von Andersheit" (Marten) zugelassen haben, die sich in der Vielfalt der Gegenstände und Ansätze ebenso wie in der offenen Diskussion ausdrückte. Die Grundfrage für mich bleibt allerdings -bei aller Sympathie für die theoretisch und ja wohl auch praktisch gemeinte Spitze gegen „falsches Einheitsdenken" und das Konzept der , Alterität" als „Gegenmittel" gegen Denken (und Handeln) in Dichotomien-, wie sich die theoretisch postulierte „offene Pluralität" des „Alteritätsdenkens" (Zusammenfassung Fischer) zur Gefahr der Unverbindlichkeit und einer soziale Ungerechtigkeit zumindest tolerierenden Praxis ins theoretische und praktische Verhältnis setzt. Dieser Anspruch auf Einlösung einer „besonderen Verantwortung" der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wird in der „Zielsetzung" des gesamten SFB deutlich formuliert. Die Spannweite der Diskussion zwischen ontologischer „doppelter Alterität" unter „Abstraktion von Ungleichheiten" (Marten) und dem Versuch des verantworteten Umgangs mit einer genau bestimmten „leiblichen" und „sozialen" Alterität (Borcsa) wurde im Verlauf des Workshops zwar sichtbar, nicht jedoch konstruktiv überbrückt. Vielleicht könnte der „Tertiaritäts"-Gedanke Fischers einen Beitrag dazu leisten, wenn der Begriff des „Dritten" resolut auf gesellschaftliche Interessen bezogen würde und die Eigeninteressen des Forschenden als „unsichtbarer Dritter" ständig beachtet würden. Die Frage nach dem cui bono und damit die Einforderung einer sozial wertenden ideologiekritischen Analyse sind meiner Meinung nach unerlässlich, wenn vor allem die Geisteswissenschaften nicht in vollkommener Be-

Debatte über Massenmedien und Alterität

25

langlosigkeit resignieren wollen. Es gibt kein Vorbeikommen an den Dichotomien Leben/Tod, Reichtum/Armut, Eröffnung/Beschränkung von Lebensmöglichkeiten usf. Gerade wenn wir nicht ,31inde zwangsweise über eine Straße fuhren" wollen, müssen wir aus unseren Ergebnissen -kein Platz für autochthone Kultur im brasilianischen Fernsehen (Armbruster); kritische Erkenntnisse dürfen zwar allgemeinabstrakt formuliert, „im Einzelfall", sprich: konkret, jedoch nicht verwendet werden (Schäffauer); das Internet wie die Reality-Show als Kompensationsmaschinen für mangelnde menschliche Aufmerksamkeit (Bittner, Larregola)- praktische Konsequenzen ziehen oder sie jedenfalls von Politikern einfordern. Es kommt nicht nur darauf an, die Erscheinungsweisen von .Alterität" in Massenmedien zu bestimmen, sondern auch darauf, deren Ursachen auf den Grund zu gehen und die Medien(praxis) gegebenenfalls (bei Feststellung degradierender, ausschließender Handhabung) zu verändern. Vor allem Geisteswissenschaftler (Ästhetiker) müssen in ihren Analysen darauf achten, dass sie nicht durch die eine oder andere Hintertür überlieferte Maßstäbe und Kanones entgegen theoretisch postulierter Offenheit wieder einfuhren. Die Unterscheidung von Elite- und Massenkultur („Höhenkamm- und Massenkultur" Berg) ist eine Dichotomie, die es aufzulösen gilt. Sie ist Ausdruck von gesellschaftlich ungerecht verteilten Zugangsmöglichkeiten zu schöpferischen, eigentlich menschlichen Tätigkeiten im Rahmen einer ungerecht organisierten Gesamtgesellschaft. Die Ersetzung von „Defizit" durch „Differenz" als Unterscheidungskriterium von „Elitekultur" und „Massenkultur" reicht offensichtlich nicht aus, um die Negativwertung von letzterer auszuschließen und „Elitekultur" unter den heutigen Bedingungen eben nur als eine Variante von Massenkultur zu begreifen. (Leben wir nicht überhaupt in einer Einheitskultur, deren ideologieträchtiges Spezifikum gerade die Behauptung nur unterschiedlicher Perspektiven als wesentlicher Differenzmerkmale ist?) Auch eine „Vernutzung" (Borcsa) von „Popularkultur" unter deren vorgeblicher Anerkennung ist zu vermeiden. Ob es sich beim Melodram jemals um eine solche gehandelt hat, wäre zu klären. Ich würde dazu neigen, sie eher als eine mittelschichtspezifische Variante von Massenkultur zu sehen (Manuel Puigs literarische Analysen gehen in diese Richtung). Jedenfalls ist die spezifisch brasilianische Variante von Por Amor (Michael) doch wohl eine höchst artifizielle und interessierte Konstruktion für „das Volk" (?) und nicht des Volkes. Beide Kulturen müssen sich jedoch am Wertungskriterium ihrer allgemeinen Menschlichkeit messen - ein Maßstab der sicherlich seinerseits immer nur relativ sein kann, aber trotzdem der einzige ist, um Fortschritte auf dem Weg zu einer global menschenwürdigen Gesellschaft zu machen. Von größter Wichtigkeit scheint mir im Übrigen die Frage der Zugänglichkeit der Massenmedien in archivierter Form zu sein. Unzulänglichkeit der Archivierung, Zugang nur unter privatwirtschaftlichen Aspekten, gepaart mit „Verachtung" als

26

Engelbert / Borsd / Michael / Schäffauer / Berg

historischem, sozialem, ästhetischen Dokument seitens der Fachwissenschaften machen einen Großteil unseres kulturellen Gedächtnisses zu einem Instrument der Beherrschung unserer Vergangenheit (v. Hodenberg). Total recall (Dannenberg) ist in dieser Hinsicht die Schreckensvision einer Vemutzung/Manipulation von verdinglichter (daher vielleicht eher austauschbarer als multipler) „Identität". Gerade bekomme ich ein Interview der taz mit Terry Eagleton in die Hände (29. Juni 1999, S. 15). Ich zitiere dessen Schluss lieber als mich selbst (in Festschrift Garscha): „Ich denke, unser heutiges Dilemma -und das hat der Kosovo-Krieg gezeigt- besteht darin, dass wir universalistische Konzepte brauchen. Aber eben gerade nicht jene, die wir haben. Wir müssen das anders denken". Also: auch „Marx" steht zur Disposition. Und der Kapitalismus ist kein Schicksal.

Vittoria Borsö (Düsseldorf)

Überlegungen zu Ergebnissen und zu theoretischen Fragestellungen des Workshops In Bezug auf Massenmedien, Alterität und Gattungen, den drei zentralen, in vielen Beiträgen miteinander verbundenen Bereichen, hat der Workshop zu interessanten Einsichten gefuhrt: Es ging um die system- und diskursanalytische Bestimmung des Massenmediums in postindustriellen Gesellschaften (z.T. im Vergleich zu den Massenmedien in der historischen Moderne anhand von Benjamin und Kracauer). Die Funktionsbestimmung der Mediatisierungsprozesse unterschied (mit Jakobson und Barthes) zwischen der phatischen (kommunikativen) Funktion des Mediums auf der einen Seite (der Zeichenkörper fungiert als durchsichtiger Kanal für die Vermittlung der Botschaft) und der selbstreferentiell-poetischen Funktion auf der anderen Seite (Betonung des Stofflichen im Medium). Ersteres entspricht der Ästhetik der Mimesis und den alphabetisierten Aufschreibsystemen um 1800 (Kittler); zweites ist in der Phänomenologie und Ästhetik der Hoch- und Spätmoderne (von der Malerei des Impressionismus zur Nouvelle Vague) sowie im heterogenen Raum neuer (globaler) Technologien zu situieren (Borsö). Hier kommt die Stofflichkeit des Mediums ins Zentrum; die Botschaft ist nur über die mediale Konstitution zu ermitteln (McLuhans Diktum: „the medium is the message"). Sozialwissenschaftlich wurde die tertiäre Struktur der Medien hervorgehoben (Joachim Fischer). Im Medium als Tertium der Kommunikation wurde auch der Ort des exzentrischen Blickes festgelegt. Die Diskussion ergab jedoch: Die tertiäre Struktur der Kommunikation ist einerseits seit Bühler ein „common sense" der Linguistik bzw. der semiotischen Gesellschafts- und Kulturtheorien; andererseits hatte man den Eindruck, dass in ihrer tertiären Funktion die Medien den Ort des privilegierten (sozialwissenschaftli-

Debatte über Massenmedien und Alterität

27

chen) Beobachters meinen sollten. Jedenfalls kann Konsens darin gefunden werden, dass seit den modernen Technologien das Soziale (und seit den elektronischen Medien auch der Körper) in der medialen Zirkulation zu finden ist. Mit diskursanalytischen Strategien beschrieb Dierk Spreen unter Bezug auf Adam Müller die medialen Mobilisierungsstrategien des Sozialen, die in Deutschland u.a. die Sprachlosigkeit durch eine Beredsamkeit ersetzen sollen, die von Waffentechnologien determiniert ist. Dem epistemologischen (Fischer) und sozialen (Spreen) Totalitarismus der Medien kann eigentlich nur durch eine Theorie (und der Ethik) der Alterität Einhalt geboten werden. Die Beiträge zur Alterität haben die Totalität des Sozialen durchaus in ihre Grenzen gewiesen: Die philosophische Grundlegung der Alterität durch Rainer Marten sah diese Kategorie zwar als dem Sozialen und Weltlichen zugehörig (im Unterschied zu den erkenntnistheoretischen Begriffen von „Differentialität" und „Equalität"). Alterität impliziert aber Vorgängigkeit des Anderen als Initialzünder des Dialogs, ein Dialog, der allerdings nicht die endlose Stärkung des Subjektes, sondern vielmehr seine (auch psychoanalytisch zu denkende) Depotenzierung impliziert. Der Tod des Anderen Menschen bestimmt das Bewusstsein der Endlichkeit als zentrales Moment der Alteritätserfahrung. Hier sind Anklänge an die Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas erkennbar, der auch die Funktion des Anderen in der (poststrukturalen) französischen Philosophie nicht unwesentlich beeinflusst hat (Lyotard und Derrida werden dies erst später zugeben1). Wie komplex die Epistemologie der Alterität ist, zeigte Ellen Spielmann anhand der schweren Wege von der Affirmation des Selbst zum Platz des Anderen bis hin zum heutigen Bau von „Autobahnen" zur Alterität, etwa mittels postkolonialer Theorien, insbesondere in Folge der Impulse von Homi Bhabha. Auf diesem Weg wurde die Bedeutung einer ausgehend vom Platz des Anderen konzipierte Frage nach der Alterität deutlich, einen Platz, den sowohl Lateinamerika (im Verhältnis zu Europa) als auch Frauen (im Verhältnis zum patriarchalen Zentrum) besetzen. Beide Funktionen der Alterität dienen noch in den späten 40er Jahren (insbesondere Jean Paul Sartre, später Octavio Paz' „otredad") zur Stärkung des Subjektes und zur Erweiterung der Vernunft. Eine erste Öffnung fuhren feministische Theorien herbei, die vom Platz des Anderen auf die westliche Geschichte schauend, auch die Geschichte der Gewaltakte zu sehen bekommen, die das Verhältnis von Identität und Alterität bestimmt haben. Die eigentliche epistemologische Wende geht aber auf die Diskurstheorie von Michel Foucault zurück. Seit der Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique (1961 u. 1972) wissen wir, dass der Wahnsinn der Normzustand der Vernunft ist (sein kann). Auf der Basis von Foucault konzipiert Homi Bhabha Alterität und Identität nicht mehr als Oppositionssystem, sondern als eine paradoxe Figur: Alterität ist der Normzustand der Identität. Je mehr man die Identität (puristisch) 1

Vgl. Beiträge in Logique de l'étique. Revue: Rue Descartes 7, 1993.

28

Engelbert / Borsö / Michael / Schäffauer / Berg

abgrenzen möchte, desto mehr ist man von der Alterität durchdrungen und konstituiert, oder umgekehrt. Hier findet sich ein ausgezeichneter Anschluss an das Phänomen der hybriden Gattungen, die im Zentrum verschiedener thematischer Referate standen. Walter B. Berg sprach bei der „Música popular brasileira" von einem „Intermedium", d.h. einem Zwischenraum zwischen verschiedenen Medien, bei dem nicht die Identität spricht, sondern die Alterität aufleuchtet (als Verweisüberschuss auf das jeweils andere Medium). Damit ließen solche hybriden Gattungen Raum für den Ausdruck von Existenzerfahrungen der Alterität, wie sie in Lateinamerika den Normzustand der Identität darstellen. Trotz unterschiedlicher historischer und ideologischer Perspektivierung zeigten alle thematischen Referate zu verschiedenen massenmedialen Gattungen in Brasilien, insbesondere zur telenovela (Claudius Armbruster, Markus Klaus Schäffauer, Joachim Michael) die wissenschaftliche Dignität von Massenprodukten. Dass die medienbezogene Frage auch literarhistorisch ertragreich ist, das Interesse an der vergessenen Gattung der Zeitschriften schärft und ihre Bedeutung für den kulturellen Transfer offenbart, zeigte der Beitrag von Annette Paatz. Ideologiekritisch sind die indianistischen und exotistischen Ikonen, die die Visibilität der Anderen verhindern, etwa im Diskurs der zeitgenössischen Massenmedien zu betonen (Armbruster). Andererseits gibt es engagierte Filmemacher wie Sanjinés (Engelbert), die den Anderen sichtbar zu machen versuchen, wenn auch im Augenblick des Scheiterns des gesellschaftlichen Dialogs. Die Frage nach der Darstellbarkeit des Anderen müsste indes -so das Ergebnis der Diskussion- die medientheoretischen und alteritätsphilosophischen Fragestellungen implizieren. Das Andere zeigt sich prinzipiell nicht, es bewohnt aber die Identität, was an den Rissen und Widersprüchen erkennbar wird, die jedoch erst in der Vermittlung, in der Mediatisierung, in der Rhetorik der Konstruktion, in der Dichte der Stofflichkeit des Mediums sichtbar werden. Dies wissen wir seit den Analysen der Massenmedien bei Walter Benjamin („Die Photographie" im Passagen-Werk, Kracauer, Das Ornament der Masse). Dies ist aber auch ein zentrales Theorem sowohl bei Martín-Barberos Analyse des Beitrags der Massenmedien im Hinblick auf die Schnittstellen zwischen Elite und Masse in Lateinamerika, als auch bei der von Benjamin und Foucault ausgehenden Theorie des Hybriden nach Hohmi Bhabha. Ein interessantes Ergebnis war die noch nicht hinreichend analysierte, jedoch ggf. mit obigen Ansätzen anzunähernde Tatsache, dass sich insbesondere in den neuen Formen massenmedialer Kommunikation allmählich eine Monstranz des Grotesken, des Hässlichen, des Abnormalen und der intimsten Emotionen etabliert hat. Auf die Derealisierung des Sozialen (durch virtuelle Kommunikationsmedien) antworten die Massenmedien mit einer realen Konsistenz der Bilderwelt. Aktuelle Romane junger Schriftsteller in Spanien (Generación de los noventa) und Italien {Generazione „Under 25") zeigen eine Oberflächenrhetorik ohne hermeneutische Tiefe, eine Präsenz ohne Abwesenheit, die auf „abjekte" Subjekte hindeuten, für die

Debatte über Massenmedien und Alterität

29

möglicherweise die Begriffe von Identität und Alterität funktionslos geworden sind (Borsö). Durch die Rhetorik der Massenmedien gibt sich das soziale Imaginäre zu erkennen, etwa in hybriden Fernsehgattungen wie z.B. Infoshows (Gemma Larregola i Bonastre). Auch die neuen Medien, wie das Internet, bedürften einer neuen Definition des Subjektes und des Anderen. Bittner machte klar, dass der Platz des Subjektes im Internet durch eine potentiell unendliche Zahl von „Nicknames" besetzt wird. Die Virtualität des Subjektes und der Kommunikation stärkt die Position des Anderen, ein Resultat, das im Zusammenhang mit der (poststrukturalen) These der Depotenzierung des Subjektes durch ein vorgängig konzipiertes Anderes zu analysieren wäre. Das Subjekt setzt in der interpersonalen Kommunikation des Internets nicht den Anderen, wie in der Identitätsphilosophie, sondern muss warten, vom anderen angesprochen (angeschrieben) zu werden. Die multiple virtuelle Subjektivität im Internet wäre ggf. zu vergleichen mit dem Phänomen der multiplen Identität, dem die amerikanischen Filmgattungen „fantasy" und „science fiction" gewidmet sind (Hilary Dannenberg). Im Unterschied zur multiplen Identität, die schon in der Vormoderne den Akt des Schreibens begleitet, handelt es sich bei den „postmodernen" multiplen Identitätsfiktionen nicht um alternative Welten, sondern um eine Kontiguität des Differenten innerhalb einer Welt, innerhalb derselben Ordnungsgrenzen. Mobilisierungsschübe erhielt die Diskussion besonders durch die Auseinandersetzung mit Formen der negativen Alterität, die durch die Massenmedien und die virtuellen Netze in den Raum sozialer Identitäten einbrechen. Dies war z.B. der Fall bei dem (paradigmatischen, metaphorischen) Verfahren der Inszenierung des sozialen Imaginären (Kastration heterogener Sexualität, vgl. Schäffauers Beispiel der „Frauenklinik", der brasilianischen telenovelä), bei der „Normalisierung" von Behinderten (Maria Borcsa), oder auch bei der Konzeption einer Ontologie, die sich in den Ort des Nicht-Seins (Tod), der Nicht-Identität, des Nicht-Ästhetischen einschreibt. Die „andere Ontologie" wäre eine Ontologie des Seins „wie es sich zeigt", damit eine Ontologie und eine Ästhetik des Scheiterns, ohne Kompensationsformen der Bedrohung oder Verletzung durch das Hässliche zu suchen (Charles Feitosa) eine durch Georges Bataille durchaus konzipierte Philosophie und Ästhetik, die jedoch bisher das Landlose der Disziplin der Philosophie darstellt. Nur in solchen Momenten war es im Workshop möglich, die Frage der Alterität als kritische Frage nach den fundierenden Kategorien der eigenen Identität zu konzipieren, und nicht allein als (paternalistischen) Versuch zu gestalten, den Anderen/die Anderen an den Platz der Identität anzunähern (z.B. die Invidenten an den Platz der [vermeintlich normalen] Sehenden). Die Mobilität der Massenmedien ist allerdings erneut ein suggestives Dispositiv für die phatische Annäherung des Anderen an das Eigene. Auch dies haben die Beiträge und die Diskussionen überdeutlich gezeigt.

30

Engelbert / Borsò / Michael / Schäffauer / Berg

Joachim Michael & Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.)

Kommentar zu den Zusammenfassungen im Hinblick auf die Konzeption des Workshops Großer Dank gilt Vittoria Borsò und Manfred Engelbert für ihre schriftlichen Zusammenfassungen des Workshops. Dass die Abschlussdiskussion auf ein anderes Medium ,vertagt' wurde, ist unter anderem auch darauf zurückzufuhren, dass das Diskussionsbedürfiiis im Verlauf des Workshops stärker war als die Disziplin, den zeitlichen Rahmen einzuhalten. Die beiden Zusammenfassungen sind insofern der beste Beweis dafür, dass der Workshop erfolgreich eine Diskussion über Massenmedien und Alterität angeregt hat, die über die zeitlichen und konzeptionellen Grenzen eines Workshops hinausgeht. Der Workshop stellte hohe Anforderungen an die Teilnehmerinnen, die sich nicht nur aus ihrem Fachbereich heraus mit dem Zusammenhang von Massenmedien und Alterität auseinanderzusetzen hatten sondern aufgrund der ausgeprägten Interdisziplinarität auch mit den Herangehensweisen anderer Disziplinen. Verbindend für die einzelnen Beiträge war aus diesem Grund ihre Diskrepanz. Vittoria Borsò und Manfred Engelbert haben die schwierige Aufgabe, die unterschiedlichen Beiträge zusammenzufassen, dankenswerterweise übernommen und in einer Art und Weise gelöst, die wiederum stark divergiert. Unsere Aufgabe sehen wir nun nicht darin, den vorliegenden Versionen eine weitere hinzuzufügen, sondern diese aus der Sicht unserer Konzeption des Workshops zu kommentieren. Gegenüber dem phänomenologischen Konzept der Alterität als Pluralität von Relationalsten, das wir in unserem Exposé skizziert haben (vgl. „Einleitung", S. 7-23), wurde während des Workshops eine Reihe weiterer Kategorien von Alterität in Beziehung zu Massenmedien diskutiert. Manfred Engelbert vertritt in seiner Zusammenfassung beispielsweise ein Konzept von Alterität, das Eigeninteressen und soziale Verantwortung der Forschenden nicht zuletzt gegenüber den Medien miteinbezieht. Vittoria Borsò hingegen fordert eine Philosophie bzw. eine Ethik der Alterität, die mit einer Untersuchung der „Stofflichkeit" der Medien zu verbinden sei. Das ,Andere" ist nach Borsò nicht darstellbar sondern weist allenfalls in den „stofflichen" ,Rissen" der Identität auf sich hin. Dies impliziert, dass Massenmedien nicht per se Alterität ausschließen. Vielmehr ist in einzelnen Fallstudien die materielle Konsistenz von massenmedialen Identitätskonstitutionen zu überprüfen. Wie diese Art von Einzelstudien in die Praxis umgesetzt werden kann, war jedoch Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen während des Workshops. Die Diskussion um die Beispiele massenmedialer Formen von Alterität und deren Analyse zeigte, wie unscharf die analytischen Kategorien von „Stofflichkeit" und Medialität derzeit noch sind.

Debatte über Massenmedien und Alterität

31

Wenn Alterität die Massenmedien „bewohnt", ist sie nicht als mediale Konstruktion, sondern alleine vermöge medialer (De-)Konstruktion zu verstehen. Darüber hinaus ist festzuhalten, wie problematisch es aus kulturtheoretischer Sicht ist, den Ort des Anderen außerhalb der Medien zu bestimmen. Die Spur des Anderen impliziert allerdings einen geweiteten Begriff von ,Medium' (analog zum weiter gefassten Begriff von ,Schrift' in der Grammatologie Derridas). Zu fragen ist im Zusammenhang mit einer „anderen Ontologie" oder einer phänomenologischen ,Ontologie des Anderen', inwieweit die Zugänglichkeit des Anderen, der mit seinem Anspruch spezifischen Medien stets vorausgeht, nur über (andere) Medien gewährleistet werden kann. Das radikale Argument der Unzugänglichkeit oder Unsichtbarkeit des Anderen verabsolutiert diesen oder aber legt in verallgemeinernder Weise zugrunde, dass der Andere in grundsätzlicher Weise ein „Fremder" sei (bzw. ein ,absolut Anderer'). Selbst das Scheitern des Versuchs, den Ansprüchen des Anderen gerecht zu werden, das einen anderen Umgang mit Medien impliziert, kann so gesehen nur von anderen Medien aus erfahren werden. Dieses Problem betrifft in besonderer Weise inklusive Medien, die sich von vorneherein durch intermediale Relationalitäten konstituieren. Ebenso wenig wie der Andere ist auch die ,Masse' außerhalb von Medien zu denken. Sie tritt als .Produkt' von audiovisuellen ,Ein-Weg-Medien' auf und wäre konsequent als historisch-mediales Phänomen zu präzisieren. Das Auftreten der ,Masse', das als ,massenhaftes Auftreten von Anderen' Ansprüche an die Medien stellt, verlangt daher im Kontext einer Theorie medialer Relationalität nach Antworten, die über die historischen Identitätspostulate, die den ,Massen' anhaften, hinausgehen. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass das ,Ein-Weg'-Konzept der ,Masse' durch die Multidirektionalität des Internets durchkreuzt wird. Erschüttert werden die Identitätspostulate der ,Masse' zusätzlich durch einen Begriff der Gattungen als topologische Schnittstelle zwischen Individuum und Massenmedien einerseits und zwischen dem Selbst und dem ,(in)dividuellen' bzw. ,massenhaften' Anderen (Hybridität) andererseits. Gattungen verweisen insofern als relationale Modelle ebenso auf Selbstheit wie auf andere Gattungen, Medien und .Ästhetiken" und (de-)konstruieren damit die Relationalitäten ebenso von Identität wie von Alterität. Aus diesem Grund sehen wir in den Gattungen eine in der Medientheorie bislang ungenügend beachtete analytische Kategorie, die die aufgezeigte Lücke des Untersuchungsansatzes des „Stofflichen" innerhalb einer Medientheorie der Alterität schließen könnte. Vielleicht lässt sich einiges, was in der gegenwärtigen Mediendiskussion sich an Unbehagen über die Zugangsart der vorfindlichen Medientheorien einstellt, dadurch erklären, dass zu sehr die Medien und zu wenig die Gattungen als topologische Schnittstellen zwischen dem Selbst und dem Anderen beachtet werden.

32

Engelbert / Borso / Michael / Schäffauer / Berg

Walter Bruno Berg (Freiburg i. Br.)

Explikation einer Medien-Theorie Herzlichen Dank für die vorstehend veröffentlichten Zusammenfassungen und Stellungnahmen von Vittoria Borsö (VB) und Manfred Engelbert (ME), die den Polylog des Workshops noch einmal mit neuen Akzenten versehen - Akzenten, die Fragestellungen berühren, die während unserer zweitägigen Debatten angesprochen, aber vor allem aber auch offen geblieben sind. Zu den Lücken und offen gebliebenen Fragen gehört insbesondere die Explikation einer Medien-Theorie. Um meine eigene Stellungnahme hierzu zu begründen, sei zunächst an einige bekannte Sachverhalte erinnert: Schlüsseltexte des poststrukturalen Denkens (Derridas Grammatologie oder Foucaults Les mots et les choses) enthalten zahlreiche Querverweise und Rückbezüge auf die Kantische Erkenntniskritik. Die romanische Übersetzung des Begriffs einer transzendentalen Reflexion durch epistemologie (also „Erkenntnistheorie"), wie sie sich allenthalben eingebürgert hat, ist jedoch missverständlich. Es geht Kant keineswegs um eine bloße „Theorie der Erkenntnis", also die Darlegung eines begrifflichen Zusammenhangs zur Erschließung, Beschreibung und Analyse eines empirischen Gegenstandsbereichs - so wie der Neukantianismus die Kantische Erkenntniskritik in der Tat hat interpretieren wollen und sie damit philosophisch trivialisiert hat. Denn „Erkenntnistheorie" in diesem Sinne ist nicht mehr und nicht weniger als das sine qua non jeglicher wissenschaftlicher Forschung. Kants Reflexion bezieht sich dagegen auf die schlechthin notwendigen, unverzichtbaren und universellen Bedingungen, unter denen empirische Erkenntnis überhaupt stehen muss. Insofern geht es bei Kant also um eine Erörterung der Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erfahrung - eine Formel, die von den erwähnten Klassikern des Poststrukturalismus im Übrigen immer wieder aufgegriffen wird. Diese Bedingungen sind, Kant zufolge, notwendigerweise a priori gegeben. Derrida und Foucault sind sich der Tragweite ihres expliziten Bezugs auf die Kantische Erkenntniskritik durchaus bewusst. So findet sich in der Grammatologie die Überlegung, an der Derrida trotz aller damit verbundenen Missverständnisse glaubt, festhalten zu müssen, dass der „letzte", mithin a priori gegebene Grund der „architrace" die Geschichte sei. Foucault verweist an einem ähnlichen Wendepunkt seiner Überlegungen darauf, dass der Ansatz einer stringent durchgeführten Diskursanalyse auf so etwas wie den Standpunkt eines „absoluten Positivismus" zurückverweise. Es erübrigt sich zu erwähnen, wie problematisch der bei beiden Denkern vorfindliche Verweis auf ein der Geschichte zugrundeliegendes (oder mit ihr zusammenfallendes) „Apriori" ist, wenn gerade jene Instanz, die bei Kant den zentralen Bezugspunkt aller Erkenntniskritik darstellt - das „transzendentale Ich" - der Dekonstruktion anheimfallt. Die Ambivalenz, in die der Dekonstruktivismus hineingerät, sofern er sich als eine para-

Debatte über Massenmedien undAlterität

33

doxe Fortführung des Transzendentalismus begreift, lässt sich beschreiben als der unaufgelöste -unauflösbare!- Gegensatz zwischen einer auf Universalität und Notwendigkeit abzielenden Reflexionshaltung und der Position eines nicht weniger unbedingten Empirismus (bzw. „Positivismus" nach Foucault!) andererseits. Einige Beiträge zum Workshop, soweit sie sich von theoretischen Überlegungen im spezifischen Sinne leiten ließen (Beiträge von Borsö, Spielmann, Spreen, Fischer), zeigen, wie sehr die gegenwärtige „medientheoretische" Reflexion von dieser Ambivalenz mitbestimmt ist. Um es vorweg zu sagen: Es handelt sich um eine „Ambivalenz", die in der Sache liegt, die es zu verhandeln gilt, keineswegs also um eine Zweideutigkeit, die durch eine Revision der Prämissen oder gar eine bloße Klärung der Begriffe aus der Welt zu schaffen wäre. Sowohl Borsö's „medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität" als auch Spielmanns Einladung zum „begriffsgeschichtlichen Surfen" waren während des Workshops bereits zentral mit dieser Ambivalenz beschäftigt; Vittoria Borsö hat sie in ihren „Überlegungen zu den Ergebnissen des Workshops" in dankenswerter Weise erneut auf den Punkt gebracht. Während Manfred Engelbert in seiner Zusammenfassung die „Grundfrage" stellt, „wie sich die theoretisch postulierte ,offene Pluralität' des ,A1teritätsdenkens' (Zusammenfassung Fischer) zur Gefahr der Unverbindlichkeit und einer soziale Ungerechtigkeit zumindest tolerierenden Praxis ins theoretische und praktische Verhältnis setzt" und damit die Frage einer Medientheorie eher ins zweite Glied versetzt -wenn nicht gar für irrelevant erklärt-, weist Borsö ihrerseits auf die „system- und diskursanalytische Bestimmung des Massenmediums in postindustriellen Gesellschaften" als eines zentralen Themas des Workshops hin. Sie erinnert an Funktionsbestimmungen der „Mediatisierungsprozesse" bei Jakobson, Barthes, Kittler und McLuhan, skizziert in groben Zügen eine Geschichte dieser Mediatisierungen von „den alphabetisierten Aufschreibsystemen um 1800" bis zur Filmästhetik der Nouvelle Vague bzw. dem „heterogenen Raum neuer (globaler) Technologien" und erwähnt die in einigen Diskussionsbeiträgen angeklungene Unterstellung, die von Fischer analysierte „Tertiarität" der Medien entspreche dem „Ort des privilegierten (sozialwissenschaftlichen) Beobachters". Diese in wenigen Sätzen angerissene Geschichte der Medien entspricht dem Versuch -wenn ich Borsö richtig verstehe-, nicht nur eine „positive" Geschichte der Medien von 1800 bis zur Gegenwart zu skizzieren, sondern zugleich auch zu postulieren, dass die Frage nach den Medien für diesen Zeitraum eine in kulturgeschichtlicher Hinsicht privilegierte Frage ist, eine Frage von gewissermaßen epistemologischer (im kantischen Sinne: „transzendentaler") Valenz. Die Medien sind in dieser Hinsicht nicht nur „Medien" der Erkenntnis und Wahrnehmung, sondern sie sind Kategorien und Formen möglicher Erkenntnis, die als solche den mediatisierten Inhalten nicht nur erkenntnistheoretisch vorgelagert sind, sondern diese selbst in ihrem Wesen immer schon mitbestimmen. McLuhans bekanntes Diktum und Baudrillards apokalyptisches Medienpanorama gehören zu den am weitesten fortgeschrittenen Positionen auf diesem

34

Engelbert / Borsö / Michael / Schäffauer / Berg

Feld. Medientheorie einerseits also als „Epistemologie" mit transzendentalistischuniversellem Anspruch; Medientheorie andererseits als ein Verfahren empirischer Deskription: Vittoria Borsö macht die Spannung deutlich in ihrem Verweis auf die „Oberflächenrhetorik ohne hermeneutische Tiefe", wie sie in aktuellen Romanen junger Schriftsteller in Spanien und Italien zu finden sei, „eine Präsenz ohne Abwesenheit, die auf „abjekte" Subjekte hindeuten, für die möglicherweise die Begriffe von Identität und Alterität funktionslos geworden sind." Dies ist natürlich zunächst einmal ein Befund von lediglich „empirischer" Tragweite; zu fragen bleibt allerdings -eine Frage, die von Vittoria Borsö selbst offen gehalten wird-, inwieweit man diesem Befund nicht in ähnlicher Weise wie seinerzeit den, »Analysen der Massenmedien bei Walter Benjamin („Die Photographie" im Passagen-Werk) eine für die Zeitdiagnostik paradigmatische Funktion einräumen sollte. Wenn die „epistemologische" Dignität der Medien zur Debatte steht, so lässt sich ihr Verhältnis zu den übrigen Bereichen der Kulturwissenschaften offenbar nicht nur als ein iater-disziplinäres bezeichnen. Was auf dem Spiel steht, ist vielmehr die folgende Alternative: Auf der einen Seite eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Medien (soziologisch, psychologisch, historisch, kommunikationstheoretisch, etc.), die ihre Gegenstände beschreibt ohne Berücksichtigung der den Medien innewohnenden „epistemologischen" Funktion. Die entsprechenden Disziplinen laufen dann wohl Gefahr, den je eigenen Standpunkt zu verabsolutieren. Undurchschaut werden sie selber zu Werkzeugen der Wirklichkeitsmodellierenden Macht der Medien. Vittoria Borsö scheut nicht davor zurück, in ihrer Zusammenfassung hierfür das starke Wort „Totalitarismus" zu verwenden. Auf der anderen Seite wäre eine Position zu denken, die den Anspruch erhebt, die transzendentale Funktion der Medientheorie ihrerseits „aus den Angeln zu heben". Vittoria Borsö wörtlich: „Dem epistemologischen (Fischer) und sozialen (Spreen) Totalitarismus der Medien kann eigentlich nur durch eine Theorie (und der Ethik) der Alterität Einhalt geboten werden". Hier findet die für die Veranstalter des Workshops eigentlich befremdliche Tatsache eine Erklärung, dass mehrere Referenten trotz des Generalthemas „Massenmedien und Alterität" für letztere offenbar ein größeres Maß an Sympathie und analytischem Scharfsinn an den Tag legten als für die „Medien" selbst. Es verdient Beachtung, dass es die beiden Philosophen waren, die Positionen dieser Art vertraten. Rainer Martens Ausführungen zur „Doppelten Alterität" und Charles Feitosas Reflexionen zur „Alterität der Hässlichkeit" verstanden sich als phänomenologisch-ontologische Analysen unter bemerkenswert klarer Ausklammerung einer spezifischen „historischen" oder „kulturgeschichtlichen" Sichtweise der Phänomene. Folgt man dieser Position, so gewinnt das Generalthema des Workshops eine unverhofft neue Dimension: „Massenmedien und Alterität" wäre dann nicht einfach die Frage nach der Alterität in den Medien, sondern gleichbedeutend mit dem Postulat einer „anderen Ontologie", einer Ontologie und ,Ästhetik des Scheiterns" -so formuliert Vittoria Borsö mit Bezug auf den Vortrag von

Debatte über Massenmedien und Alterität

35

Charles Feitosa-, die darauf verzichtet, „Kompensationsformen der Bedrohung oder Verletzung durch das Hässliche zu suchen". Der transzendentale Ort dieser Ontotogie wäre notwendigerweise jenseits der Medien zu situieren. Er wäre der Bezugspunkt, von dem her dem drohenden „Totalitarismus der Medien [...] Einhalt geboten" bzw. ein neuer, alternativer Gebrauch der Medien initiiert werden könnte, der die Chance böte, der allzeit gegenwärtigen Gefahr der Einverleibung des Anderen durch die identitätsstiflende Gewalt der Medien entgegenzuwirken. Ob es einen wissenschaftlichen Ort gibt, an dem sich die hier als Hypothese formulierte Ontologie des Anderen mit dem Konzept jener Handlungswissenschaft, wie sie in Engelberts zusammenfassenden Bemerkungen postuliert wird, verbinden lässt, scheint nach dem Verlauf der Diskussionen eher problematisch. Wo sich beide zu treffen scheinen, ist das Postulat eines jenseits der totalisierenden Medienwelt anzusetzenden ontologischen Ortes. Während jene -so der Tenor der „medientheoretischer Anmerkungen" von Borso- die transzendentale Reflexion der Medientheorie jedoch gewissermaßen bereits hinter sich hat, steht sie dem „ideologiekritischen" Ansatz, den Engelbert vorschlägt, noch bevor. Die Geschichte der politischen Regime des 20. Jh. (aller Couleurs!) ist in dieser Hinsicht nicht gerade ein ermutigendes Beispiel für eine Strategie der Vermeidung der fatalen Duplizität medialer und politischer Totalitarismen.

Vittoria Borsò (Düsseldorf)

Medienkultur: Medientheoretische Anmerkungen zur Phänomenologie der Alterität Der Zusammenhang von Massenmedien, Alterität und Gattungen bringt eine interessante Perspektive im Hinblick auf das Medium hervor, nämlich die Problematisierung des Mediums in seinem Bezug auf die Alterität. Welche Funktion hat das Medium für das Erscheinen von Alterität? Welcher Status kommt der Alterität für die Funktion des Mediums zu? Es geht hier also nicht darum, wie Alterität durch Massenmedien dargestellt wird, sondern um die Bestimmung des epistemologischen Ortes, an dem ihr wechselseitiger Bezug fruchtbar ist. Derartige Fragen werden ausgehend von den in der Moderne durch die technologischen Medien und Massenmedien herbeigeführten Veränderungen zu behandeln sein. Der Begriff des ,Mediums' wird heute in der Kommunikationswissenschaft auf die apparativen Speicher bezogen, die die soziale Kommunikation bestimmen. Auch die Kulturwissenschaft hat die Medien in ihrer technischen Verfasstheit thematisiert und zum Ausgangspunkt für die historische und systematische Revision von Kultur gemacht. Maßgeblich waren hier die bahnbrechenden Arbeiten von Friedrich Kittler. Der Vorteil von Kittlers Position ist die Konstruktion einer historischen Erinnerung unabhängig von der Kohärenz der Mythen des Humanismus und den großen Erzählungen des Abendlandes in der alphabetisierten Gesellschaft. Dies war eines der Ziele von Friedrich Kittlers archäologischer Vorgehensweise. Medien gelten dabei nicht als externe Mechanismen der Speicherung und der Informationsvermittlung, sondern als Dispositive, d.h. Aggregate von Regeln und Determinanten, die nicht nur das Umfeld einer bestehenden Botschaft sind, sondern diese bestimmen und Macht auf die damit befassten Institutionen ausüben. Kulturelle Artefakte werden deshalb nicht im Sinne transparenter Bilder oder Dokumente sozialer Phänomene verstanden. Sie sind vielmehr vom Medium konstituiert und informieren deshalb über das Medium selbst als historisches Apriori sozialer Phänomene. Mit dem Apriori der Medien als technologische Determinanten kultureller Artefakte lassen Kittler und die medienmaterialistischen Theoretiker die stillschweigenden humanistischen Präsuppositionen von Kommunikationstheorien hinter sich. So ist zum Beispiel zu verstehen, dass Kittler die linguistischen Kommunikationsmodelle von Bühler bis Jakobson durch das mathematische Modell von Shannon ersetzt. Mit den technologischen Aprioris kommt man zur Beobachtung kultureller Artefakte als

Medienkultur

37

emergenten Ereignissen. Denn Artefakte sind nicht als diskrete1 Entitäten vorgegeben. Sie werden vielmehr erst dann zum differentiellen Zeichen, wenn sie durch das Medium vermittelt werden, in dem sich symbolische Formen konkretisieren. Bei diesen Ansätzen gilt das Medium nicht als externer Speicher eines sich außerhalb gesellschaftlich oder individuell- konstituierenden Sinns. Das Medium ist also nicht der Träger einer ihm externen Ontologie der Gesellschaft. Es ist vielmehr die phänomenologische Ermöglichungsbedingung von Sinn und von einer erst im Medium emergenten Botschaft. Damit impliziert eine medienmaterialistische Position auch eine grundlegende phänomenologische Fragestellung, die das Medium als Vermittlungsinstanz erfasst. Gilt mit Hegel die Vermittlung im Sinne der Synthesis zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein, so zeigt die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts, insbesondere mit Maurice Merleau-Ponty, dass die Vermittlung nicht ohne die Differenz zwischen Sprache, Subjekt und Welt denkbar ist. So ist auch für Merleau-Ponty der Körper ein Medium, das mit der Differenz zwischen Innen und Außen konfrontiert und zugleich diese als Schwelle überwindet. Die Analyse des Dispositivs des Auges durch Maurice Merleau-Ponty, Michel Foucault und Jacques Lacan steht in diesem Zusammenhang und offenbart, wie zentral die Frage der Alterität für die Funktionsbestimmung der Medien ist.2 Selbstverständlich gibt die Einsicht in die phänomenale Medialität des Körpers keine instrumentelle und methodische Perspektive auf die Medien, wie McLuhans weit gefasster Medienbegriff dagegen suggeriert hatte. Eine Medienanalyse muss verschiedene technologische Bedingungen medienmaterialistisch voneinander unterscheiden. Doch ist der Grundsatz bedeutsam, dass das Medium die Ermöglichungsbedingung für die Entstehung von Sinn und Erkenntnis ist. Folgt man diesem Grundsatz, so erkennt man in der Botschaft auch die Vermittlungsfiinktion des Mediums und die Beziehung des Sinns zu seiner Differenz. Die Konstellationen von Subjektivität, Identität und Alterität sind also vom Medium ihrer Konkretisierung abhängig. Versuchen wir die anfangs gestellten Fragen nach den Erscheinungsbedingungen von Alterität im Medium und nach dem Status der Alterität für das Medium zu prä1

2

,Diskret' wird hier im mathematischen Sinne verwendet. In diesem Sinne meint ,diskret' jene Zahlenwerte, die durch endliche Intervalle voneinander getrennt stehen. Für die phänomenologische Problematisierung der Visualität ist die Philosophie von Maurice Merleau-Ponty grundlegend (1964), auf die die dekonstruktivistische Arbeit an der Wahrnehmung seitens des Nouveau Roman zurückgeht, wie auch die Unterscheidung zwischen „Augen" und „Blick" durch Jacques Lacan, oder die Unterscheidung zwischen „Studium" und „punctum" in Roland Barthes' La chambre claire. Zu nennen wären auch die Entgrenzung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt seitens der französischen Philosophie von Gilles Deleuze, die Dekonstruktion der Gleichsetzung von Vernunft und Sichtbarkeit durch Derrida, die Aufdeckung der Allianz von Sichtbarkeit und Macht bei Foucault und die Interpretation derselben im Sinne der phallo-oculo-zentristischen Grundlagen der abendländischen Philosophie durch Luce Irigaray, um nur einige zu erwähnen.

38

Vittoria Borsò

zisieren. Wie Foucault, der erst vom Ort der ausgeschlossenen Differenz aus die Ausschlusspraktiken der Macht beobachten konnte, so gilt auch das Interesse von Kittler und seiner materialistischen Medienarchäologie den Konfigurationen der apparativen Dispositive und der Offenlegung der Performanzen der Macht. Wie für Foucault ist auch für Kittler die Alterität kein Untersuchungsgegenstand. Tatsächlich kann Alterität im Sinne von Differenz kein direkter Gegenstand der Erkenntnis sein. Sobald ,Alterität" zum epistemischen Objekt wird, wie Emmanuel Lévinas eindringlich gezeigt hat (1987), wird ihre Andersheit, ihre Differenz,3 zerstört; sie wird zum System der Identität reduziert. Spuren der Differenz werden nur indirekt zugänglich. Es bedarf einer phänomenologischen Problematisierung, die nach der Funktion des Mediums für die Wahrnehmung der Differenz fragt. Diese Frage betrifft also das Gebiet der Aisthesis im ursprünglichen Sinne, sie ist eine ästhetische Frage.4 So muss man, fragt man nach dem Verhältnis von Alterität und Medien, das medienmaterialistische Paradigma, das die Kulturwissenschaft als ernst zu nehmende Alternative zur empirischen Kommunikationswissenschaft vorschlägt, um die Dimension des Ästhetischen ergänzen. Bei meiner Fragestellung betone ich deshalb eine Akzentverschiebung in Bezug auf die ästhetische Dimension der medialen Vermittlung. Diese Ergänzung dürfte in der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft auch ein Desiderat und eine Chance darstellen. Medienästhetik heißt folgerichtig nicht ein Repertoire normativer und elitärer Formen des Mediengebrauchs. Vielmehr geht es um die Medienformen und um jene technologischen Bedingungen und Funktionen, durch die eine mediale Botschaft, ein mediales Bild generiert und wahrgenommen werden, und es geht auch um ihre historischen Transformationen. Nehmen wir eine im phänomenologischen Sinne ästhetische Perspektive an, so können wir die oben erwähnten zwei Paradigmen der medienwissenschaftlichen Untersuchung (empirisch und ästhetisch) als zwei sich wechselseitig ergänzende Seiten einer Medaille verstehen. Von der Ambivalenz des Mediums zeugt auch die sich mit der Moderne entwickelnde Debatte: einerseits das Vertrauen in das Modernisierungspotential und in die empirische Evidenz der durch technische Apparate vermittelten Bilder des Realen, also Vertrauen in die Präsenz des Sinns im medialen 3

4

Zur terminologischen Klärung: Ich unterscheide im Folgenden zwischen Alterität und Differenz. Den Begriff der .Differenz' benutze ich im Sinne von différance, d.h. im Sinne eines unabschließbaren Prozesses des Differierens (Derrida 1967), während mit,Alterität' der Fall gemeint ist, in dem die Differenz bei der binomischen Distinktion von Identität und Alterität zum Stillstand kommt. Die Alterität wäre dabei eine Projektion des Anderen vom System des Eigenen aus. Im Sinne von Emmanuel Lévinas (1987) und Bernhard Waidenfels besteht auch zwischen dem Anderen und dem Fremden ein Unterschied; ersteres ist enthalten im kognitiven System des Eigenen, letzteres ist eine Andersheit, die den Horizont des Verstehens überschreitet (Bernhard Waldenfels 1997). Mit Bezug auf Husserl, Plessner und Merleau-Ponty spricht Waidenfels von ,Ästhesiologie' (Waldenfels 1999: 57).

Medienkultur

39

Bild; andererseits ein Krisendiskurs der Massenmedien im Sinne des Authentizitätsund Sinnverlusts. Das Misstrauen Adornos hinsichtlich des Ästhetikverlustes durch die Massenmedien wurde gerade durch die Festlegung eines mimetisch verbürgten, transzendentalen Sinns des fotografischen Bildes geschürt. Das ästhetische Problem der Massenmedien bleibt ungelöst, solange Ästhetik als Sonderfall der Kommunikation und nicht als Grundbedingung des Wahrnehmens verbunden mit dem Medium der Vermittlung gilt. Letzteres scheint mir die Position zu sein, die auch heute relevant ist. Denn die Realität ist, wie die bahnbrechende These von Walter Benjamin hinsichtlich der Massenmedien gezeigt hat, seit den technologischen Medien auch und vor allem Realität des Mediums und nicht der Referenz. Die Ambivalenz des Massenmediums zwischen Empirie und Ästhetik hat Walter Benjamin mit seiner Analyse der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes in eine produktive Paradoxie aufgelöst. Diese Ambivalenz bedarf einer doppelten Perspektive auf die Medien als Konstitutionsbedingungen empirischer Fakten und -nur scheinbar paradoxerweise- als Ermöglichungsbedingung ästhetischer Formen. Ästhetische Medienformen, zu denen seit Benjamin die Massenmedien gehören, geben Auskunft über die Gesellschaft und die Welt, in der wir leben. Aus den technologischen Massenmedien schöpft die Kunst die Möglichkeit des emanzipatorischen Umgangs mit der sozialen Wirklichkeit; dies hat Walter Benjamin am emblematischen Beispiel von Charly Chaplin gezeigt.5 Denn Massenmedien ermöglichen es, die gewohnten Einstellungen zu „entgrenzen" und neue Formen der Wahrnehmung einzuleiten. In dieser These liegt die Chance einer auf Benjamins Verständnis von Massenmedien zurückgehenden Medienästhetik. In der aktuellen Diskussion hat sich der ambivalente Status des Mediums in unterschiedliche theoretische und methodologische Positionen aufgelöst. Auf der einen Seite ist die auf empirischen Grundlagen der Sozialwissenschaft gründende Kommunikationswissenschaft zu nennen, die die Evidenz der technologisch vermittelten Information voraussetzt und sich um die Bedingungen der Verbreitung kümmert oder -mit einer pragmatischen Wende- die Wirkung des Mediums als wirklichkeitskonstituierend reflektiert, die mediale „Wirklichkeit" als starken Begriff konzipiert und die Dignität des Faktums durch die pragmatische Wirksamkeit begründet ohne deren Vermittlung zu problematisieren.6 Operativer Konstruktivismus bzw. Pragma5

6

Für den Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" verwende ich im Folgenden die zweite Fassung aus Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 1,2,1978; hier: S. 496. Mike Sandbothe favorisiert z.B. einen historisch-kontingenten, mit soziopolitischen Voraussetzungen arbeitenden Pragmatismus als alternatives Paradigma zu einem auf ganzheitliche Wirklichkeitserkenntnis ausgerichteten Theoretizismus, zu dem nach Meinung des Autors die Medienphilosophie von Sybille Krämer gehört (vgl. Sandbothe 2001: 145). Die

40

Vittoria Borsò

tismus und empirische bzw. mathematisch-informatische Kommunikationstheorie bewegen sich dabei in einem -nicht notwendigerweise reflektierten- einseitig abgesteckten Aufgabenbereich. Auf der anderen Seite geht es um eine kulturwissenschaftliche Analyse der differenziellen und konstitutiven Funktion der Medien, insbesondere in der archäologischen Dimension, die Kittler eingeleitet hat. Auf die Notwendigkeit einer ästhetischen Akzentuierung medienmaterialistischer Perspektiven habe ich hingewiesen. Ich möchte im Folgenden nach dem Status der Alterität in beiden Ansätzen zur Medienanalyse fragen. Das Massenmedium steht im Zusammenhang mit der Konfiguration der Moderne,7 deren Signatur die Veränderungen in der Erfahrung und Konzeption der Zeit ist. Der schockartige Bruch mit der Vergangenheit leitet u.a. die Erfahrung der Alterität ein, wie Walter Benjamin in seiner Interpretation von Marcel Prousts A la recherche du temps perdu und der Fotografie postuliert.8 Das erinnernde Ich verfügt nicht vollständig über seine Vergangenheit, so dass „Moderne" auch einen Krisendiskuis der Gegenwart bedeutet.9 Wie bei der mémoire involontaire, der unwillkürlichen Reminiszenz, die Alterität in das Subjekt einbricht, so ist die Gegenwart schon durch die Reproduzierbarkeit instabil geworden. Sie kann nur als Bezüglichkeit der Zeiten erfasst werden. Deshalb macht das technologische Reproduktionsmedium im zeitlichen Fluss auch die Differenz zwischen Zeitstellen sichtbar. Dies ist eine Hauptthesen in der Analyse der Fotografie von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer.

1. Der „ andere " Blick der Massenmedien: Die Ästhetik des Materials bei Walter Benjamin und Siegfried Kracauer Im Reproduktionsaufsatz, in der Kleinen Geschichte der Photographie und den Einträgen zur Fotografie aus dem Passagen-Werk finden wir eine Theorie der Mas-

7

8

9

Frage der Differenz wird in dem von Sandbothe favorisierten Pragmatismus kommunikationstheoretischer und konstruktivistischer Prägung nicht berücksichtigt. Es besteht -etwa bei Habermas und Beck- ein Konsens darüber, dass ,Moderne' in diesem Zusammenhang die durch die technologischen Medien wie die Fotografie und weitere Aufzeichnungsapparate veränderten kontextuellen Bedingungen meint und damit eine Konfiguration, die im 19. Jahrhundert einsetzt. Ein solcher Begriff von Moderne impliziert die ,Postmoderne' als (vorläufig) letzte Modernisierung der Semantik von Moderne. Als Leser von Baudelaire und Proust betont Walter Benjamin die unaufholbare Differenz der Vergangenheit und kritisiert Henri Bergson, weil er mit dem vitalistischen Konzept der Intuition die Zeitigung des Erinnems durchgestrichen habe (vgl. Benjamins „Über einige Motive bei Baudelaire", 1978, S. 643; vgl. auch Ursula Link-Heer 1988). Der Krisendiskurs der Moderne kennzeichnet sich u.a. dadurch, dass das Erzählen das Kainsmal der differance (Derrida) in sich trägt, so auch Müller-Funk anhand der Rezeption der einflussreichen Medienkritik Benjamins (vgl. Müller-Funk 2002:22).

Medienkultur

41

senmedien, deren Relevanz bis heute andauert. Bei diesem intensiv kommentierten Essay werde ich besonders auf die Transformation des Blicks durch die Massenmedien und damit auf die kreativen Aspekte im Zusammenhang mit Massenmedien eingehen: Die mediale Kunst transformiert den Blick, sie öffnet ihn fur fremde Räume: So könnte das „Neue" des Massenmediums charakterisiert werden, das uns hier interessiert. Denn der Blick wird apparatengerichtet, und dies bringt „völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein" (Benjamin 1978a: 500), so Benjamin mit einem Zitat von Rudolf Arnheim. Im Paragraphen zur Filmmontage geht Benjamin z.B. auf die Montage im weiteren Sinne ein: Kinematografische mise en scène, d.h. technisches Arrangement vor der Kamera und découpage vor allem in Bezug auf Großaufnahme und Kamerabewegungen wie z.B. Zeitlupeaufnahmen (Benjamin 1978a: 498-499). Benjamin betont die Andersheit des Blicks des Apparats. Statt bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein zu bringen, entdeckt der Blick der Kamera im Bekannten das ganz Unbekannte. Sowohl im Reproduktionsessay wie auch in der Kleinen Geschichte der Photographie10 weist Benjamin auf das fotografische Bild oder auf die kinematografische Großauftiahme wie auf einen menschenleeren „Tatort" hin, mit dem z.B. die Fotografie von Atget oft verglichen wird. Am Tatort befindet sich die Tat nur als Indiz, kann aber nicht in die Präsenz der Bildfläche geholt werden.11 So ist die Fotografie keine Botschaft, sondern die Zeugenschaft von etwas, das nicht im Bildraum repräsentiert werden kann. Dies hat mit ihrer Zeitkonstellation und mit dem Schock im Betrachter zu tun. Der „neue Blick" der Apparaturen (Benjamin 1977: 379-380) löst das Bild aus seinem Zusammenhang in der Ordnung der Dinge.12 Deshalb wird die Fotografie mit den Ruinen verglichen, die von der historischen Kontinuität losgelöst sind. Sie müssen allegorisch und autoreflexiv gelesen werden, wie Benjamin im Trauerspiel zeigt. Die Zeugenschaft der Fotografie ist die Zeugenschaft einer Differenz, die nicht repräsentierbar, aber im Material eingeschrieben ist. Die Differenz gerinnt nicht zum Abbild der Alterität als Gegenbegriff von Identität; sie wird vom Medium selbst bezeugt und bleibt abwesend auf der Repräsentations- und Bildfläche. Die Zeugenschaft der Fotografie ist die Zeugenschaft des Mediums.13 Wichtig fur unsere Überlegungen erscheint mir die These der Veränderung der Wirklichkeit durch den 10

Für die „Kleine Geschichte der Photographie" verwende ich die Ausgabe in Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 11,1, 1977, S. 368-385. 11 Vgl. Kleine Geschichte der Photographie, 1977, S. 385. Die Fotografie bedürfe einer Beschriftung, will der Fotograf, den Benjamin mit einem Auguren vergleicht, verstanden werden. 12 Dies betonen eine Reihe von Autoren im Zusammenhang mit der Großaufnahme und der Fotografie, von Pierre Kast zu Pascal Bonitzer, zu Roland Barthes und Gilles Deleuze (vgl. Borsö 2003). 13 Dies ist wichtig für die Gedächtnistheorie von Walter Benjamin, die nicht die Kontinuität des Gedächtnisses, sondern gerade die Risse, Sprünge und Leerstellen als Zeugen der Differenz des Vergangenen betont (vgl. Borsö 2001).

42

Vittoria Borsò

apparaturgerichteten Blick. Denn genau dieser „neue" Blick bringt nicht allein das Unbekannte, sondern insbesondere die revolutionäre Chance des Neuen, Anderen, hervor.14 Benjamin betont anhand des Zitats von Arnheim, dass mit dem apparaturengerichteten Blick völlig neue „Strukturbildungen der Materie" zum Vorschein kommen. Dabei ist die materialistische Komponente der Äußerung ernst zu nehmen. Denn es geht nicht um Schöpfungen durch das menschliche Auge oder die menschliche Fantasie im romantischen Sinne. Vielmehr handelt es sich um das in der Materialität der Bildfläche vom menschlichen Auge autonom erscheinende Reale, und zwar als topologische Differenz von der Konstellation der Identität. Die phänomenologische Reduktion der gewöhnlichen Blickeinstellung wird durch den Schock erzeugt, den der apparategerichtete Blick im Betrachter verursacht, weil die Dinge kontextlos sind und getrennt von der Ordnung im gesellschaftlichen Diskurs erscheinen. Die Strukturveränderung des Materials bringt aber auch andere Räume im Material hervor, die mit dem fremden Blick der Kamera entstehen und den Betrachter irritieren, verletzen, ja „punktieren", wie dies Roland Barthes in La chambre claire für das „punctum" gezeigt hat. Zu der revolutionären Kraft der Reproduzierbarkeit gehört deshalb der Prozess des Entwurfs „anderer" Räume, und dieser Prozess ist ein wichtiger Aspekt der emanzipatorischen Funktion des Massenmediums.15 Denn neben den bekannten Argumenten hinsichtlich des Verlustes des Originals und der Autorität des Kunstwerkes, geht es für Benjamin auch um den Verlust der Autorität des Dings an sich, d.h. einer empirisch verstandenen Gegenständlichkeit, ein Moment, auf das gleich zu Beginn des Essays hingewiesen wird (Benjamin 1978a: 476). Ähnliches gilt für die Zeit: Dem Reproduzierten kommt eine wichtigere Funktion als dem Original zu. Das Reproduzierte entgrenzt die Gegenwart, die zu einer Schwelle wird, aber auch die Vergangenheit, deren Gegenständlichkeit außerhalb der Bildfläche bleibt und nur als Spur enthalten ist.16 14

Auch im Zusammenhang mit dem Kino sieht Benjamin die Bedeutung der technischen Apparaturen darin, dass das durch die Kamera Zerstückelte nach neuen Gesetzen zusammengefugt werden muss. Dieses Prinzip ist im Kino Bunuels und in seinen Essays zur découpage zentral (vgl. Borsò 1994a). Bei einem Vergleich zwischen dem Blick des Malers und des Kameramanns betont Benjamin erneut diesen Befund: Der Maler habe einen Blick auf die Totale, der Kameramann auf ein vielfaltig Zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammenfinden (Benjamin 1978a: 496). Die moderne Malerei (Kubismus, Futurismus, Surrealismus) erprobt ebendies. Benjamin kritisiert zu Recht auch die unsinnige Debatte über das Primat zwischen Malerei und Fotografie bzw. Film. Allerdings rechnet er der klassischen Kunst, die die „Totale" anstrebt, eine geringere zukünftige Chance zu. 15 Mit,anderen Räumen' beziehe ich mich durchaus auf Foucaults „Heterotopien" (1994, Bd. IV, S. 752-775). Die bekanntere Linie der Argumentation Benjamins betrifft eben die emanzipatorische Wirkung des Verlustes der Aura und der autoritativen Tradition. 16 Dieser Aspekt gibt erhebliche Impulse für die Geschichtsschreibung. Denn während das Konzept des Originals eine statische und kontinuierliche Tradition annehmen lässt, fordert das Reproduzierte die Aktualisierung, d.h. die Anpassung an neue Kontexte, so dass die

Medienkultur

43

Auch hier sind für uns die mit dem Blick verbundenen Akzente interessant. Mit dem Massenmedium ändert sich die Wahrnehmungshaltung des Betrachters, der sich nicht mehr individuell vor einem Bild innerlich versammelt, sondern sich als Masse zerstreuen lässt, ein Moment, das schon die modernen Museen, aber ganz besonders die Architektur (etwa die Passagen), mit sich bringen. Benjamin betont z.B. die Haltung des Kinopublikums als „Examinator, doch ein Zerstreuter" (Benjamin 1978a: 505). Zerstreuung ist hier durchaus im Sinne der Streuung der Sinneswahrnehmungen gemeint. Die mit dem Schock und den neuen Wahrnehmungsbedingungen für den Betrachter entstehenden Aufgaben seien „auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation" (Benjamin 1978a: 495), gar nicht zu lösen. Sie erfordern und fördern die taktile Rezeption. ,Zerstreuung' meint auch Dissemination, denn der Aufhahmeapparat und die Technologie des Films machen die Phänomenologie eines einzigen Standpunkts unmöglich (Benjamin 1978a: 495). Alle diese Aspekte der Reproduzierbarkeit fördern im Massenmedium eine Ästhetik der Alterität, die in der Materialität des Bildes als Differenz erscheint. Dies steht gewiss im Zusammenhang mit dem ZeitbegrifF, den Benjamin u.a. an der Schockerinnerung und an dem spektralen Bild der „mémoire involontaire" verdeutlicht. Die Gegenwart des erinnerten Bilds, wie auch die Gegenwart der Fotografie ist eine Schwelle, ein Nicht-mehr-und-noch-nicht-Gewesenes. Das Jetzt der Erinnerung und der Fotografie ist in der Wieder-Holung nur als Differenz zu erfahren. Sie ist die Anwesenheit der Abwesenheit, die Präsenz des Spektrums, ein Moment, auf dem auch Marcel Proust in Le temps retrouvé insistiert. Diese Thesen haben eine implizite Bildästhetik. Sie betonen die Markierung der Differenzen in der Materialität und im Bildraum, etwa im Sinne kontextlos zusammengefügter Fragmente, die ihre eigene Zeitkonstellation in sich tragen. Das Medium gibt Zeugenschaft von der Differenz der Zeiten. Im Essay „Die Photographie" aus dem Passagen-Werk gibt Benjamin Beispiele für die Relevanz der Materialität des Mediums, denn durch die Montage wird die Differenz im Material hervorgehoben. Neben den zahlreichen Einsichten zum Vergleich von Malerei und Fotografie bzw. Film (Reproduzierbarkeit 1978a: 496) und neben den Hinweisen auf die Irritation des Mimesisprinzips durch die Reproduzierbarkeit der Fotografie, finden wir auch Beispiele der Selbstinszenierung der Materialität in Folge der Zeichenmontage. Wie an zahlreichen Stellen zitiert Benjamin unter dem Stichwort „Hausmannisierung" aus dem Buch der Soziologin Gisela Freund La fotographie au point de vue sociologique, und zwar aus dem Paragraf „Die Säule: das Emblem der ,allgemeinen Bildung'":

Überlieferung bereits auch Transformation bedeutet (Benjamin 1978a: 476). Zu den Impulsen Benjamins hinsichtlich der Theorie des Gedächtnisses (vgl. Pethes 1999 und Borsö 2001).

44

Vittoria Borsò

Les accessoires caractéristiques d'un atelier photographique de 1865 sont la colonne, le rideau et le guéridon. Là se tient, appuyé, assis ou debout, le sujet à photographier, en pied, en demi-grandeur ou en buste. Le fond est élargi, conformément au rang social du modèle, par des accessoires élargis, symboliques et pittoresques.17

Dieses Bild lässt sich nach den hier vorgestellten Paradigmen lesen: Im Sinne einer phatischen Funktion der Requisiten, die die Transparenz des Bildes, d.h. die Transzendentalität des Sinnes im Bild annehmen lassen (vgl. weiter unten Abschnitt 3), oder im Sinne einer Materialität des Mediums, das die Differenz bezeugt (Abschnitt 5). Benjamin selbst wählt das Zitat so aus, dass auf beide Funktionen angespielt wird. Zunächst auf die Artifizialität der Requisiten, die Säule, den Vorhang und den Tisch, dessen Name „Guéridon" zugleich auf die Pose hinweist, handelt es sich doch bei „Guéridon" nicht nur um die Bezeichnung eines Fin de s/èc/e-Tisches, sondern auch um einen Typus aus der Tradition der Farce.18 Es sind Versatzstücke, die aus dem Zusammenhang gezogen sind, und als Reste im Raum stehen. Zugleich bezieht sich dieses Bild -man möchte meinen, in ironischer Weise- auf die phatische Funktion des Bildes und des symbolischen Sinns der Requisiten, eine Lektüre, die den Sinn als Mimesis einer sozialen Rolle versteht und die Korrespondenz als „Natürlichkeit" ausgibt. Eine solche Deutung des Bildes wird möglich, wenn man die symbolische Funktion der Requisiten als Entsprechung zu einem Original („conformément au rang social du modèle") zu lesen bereit ist. Diese Deutung übersieht den Fragmentcharakter der Requisiten, die Inszenierung auf der Bildfläche und favorisiert einen abstrakten, gesellschaftlichen und diskursiven Sinn. Die Montage der Zitate verstärkt den ironischen Charakter und die Artifizialität des Abbildes einer historischen Zeit, an der man unschwer den Historismus des Fin de siècle erkennt. Interessante Argumente finden sich auch in Siegfried Kracauers Fotografie-Essay.19 In diesem werden ein kommerzielles Foto der Filmdiva und das über 60 Jahre alte Foto der damals jungen Großmutter verglichen. Ersteres ist das Bild der Zeit, die sich als ewige Gegenwart gibt, zweiteres ist vielmehr ein Zeitbild, möchten wir mit Bezug auf Deleuzes Begriff des Zeitbilds zusammenfassen. Kracauer betont bei dem auf ein Massenpublikum gerichteten Foto der Filmdiva die „lückenlose Erscheinimg", die schon in der Pose und in den „von der Kamera gewissenhaft aufgezählten Details" erkennbar wird, die „richtig im Raum" sitzen (1990: 83). Im Ornament des Massenbildes liegt auch das materielle Abbild des Dekors einer Zeit, die sich selbst als ewige Gegenwart ausgibt. Die von Kracauer betonte „Lückenlosigkeit" der Pose übernimmt die Funktion des Ritus, den auch Benjamin im Starkult des Kinos be17

Manuskript von Gisela Freund, S. 106, zitiert in: Benjamin, „Passagen-Werk", Gesammelte Schriften Bd. V, 2,1982, S. 831. 18 Auch als „Guelidon" zu finden. Der Begriff ist nach dem Petit Robert seit 1615 bekannt. 19 Zitiert aus den Aufsätzen 1927-1931, herausgegeben von Inka Mülder-Bach, Bd. V.2, 1990, No. 78, S. 83-98.

Medienkultur

45

obachtet. Das Argument beider Autoren ist analog: Der Ritus kompensiert den Verlust der Aura und ist ein Mittel der illusionären Vorstellung des Kinos, sich als „natürlich" zu geben, die Re-Produktion zu verdecken, damit aber auch dem Betrachter die Chancen zur Emanzipation mimetischer Illusionen zu nehmen (Benjamin 1978a: 495). Anders, so Kracauer, verhält es sich mit der 60 Jahre alten Fotografie der Großmutter. Sie zeichnet sich gerade durch die Lücken aus, die trotz der Inszenierung des Dekors und der Pose aus der Kontextlosigkeit der Momentaufiiahme im Verhältnis zu einer Biografíe herrühren, über die das Bild nichts aussagt (1990: 90). Die Details im Hintergrund, insbesondere aber das Lächeln des Mädchens sind stumm für den 60 Jahre später lebenden Betrachter. Zwar lässt sich die Zeit der Entstehung erkennen, aber als „archäologisches Mannequin" und als ein „Augenblick der verflossenen Zeit". So Kracauer: Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft. Zwar ist die Zeit nicht mit fotografiert wie das Lächeln oder die Chignons, aber die Fotografie selber, so dünkt ihnen, ist eine Darstellung der Zeit. (Kracauer 1990: 84).

Der Zeitgebundenheit der Fotografie entspricht genau die der Mode, so Kracauer mit einer durch die Kursivschrift markierten direkten Anspielung auf Charles Baudelaire. Und genau den Bindestrich zwischen den Zeiten betont Kracauer in der Wieder-Holung der Fotografie, wenn er auf das Foto der Großmutter zurückkommt: „Die Fotografie wird zum Gespenst, weil die Kostümpuppe gelebt hat" (Kracauer 1990: 91). Die Materialität dieses Satzes markiert die Differenz von zwei Zeiten in der Wahrnehmung des Bildes: In der Jetzt-Rezeption erscheint das Mädchen wie eine Kostümpuppe, die aber in der Zeit, die abgebildet wird, gelebt hat. Daher wird die Fotografie zum Gespenst, was Roland Barthes -ohne, dass er sich in La Chambre claire explizit auf Benjamin und Kracauer bezieht- ebenso deutlich betont. Diese Wahrnehmung entspricht der Erinnerung, die wir weiter oben in Zusammenhang mit der „mémoire involontaire" angesprochen haben. Anders verhält sich dagegen das Divabild: „Das aus der Anschauung unserer gefeierten Diva geschöpfte Gedächtnisbild aber bricht durch die Wand der Ähnlichkeit in die Fotografie herein und verleiht ihr so einige Transparenz" (Kracauer 1990: 90).20 Wie Benjamin betont auch Kracauer die archäologische Indizstruktur des fotografischen Bildes im Gegensatz zur „natürlichen" Erscheinung des Kunstwerkes.21 Der Bild-

20

21

Es entspricht vielmehr dem Gedächtnis, das wir mit Jan und Aleida Assmann als das „kulturelle Gedächtnis" bezeichnen können. Zur Kritik der Konzeption von Aleida Assmann hinsichtlich der geringeren Bedeutung der Differenz vgl. Borsö 2001. Kracauer vergleicht die Anordnung der Dinge in der Fotografie mit der in der Schrift Kafkas: „In den Werken Franz Kafkas [...] zerschlägt [das freigesetzte Bewusstsein] die natürliche Realität und verstellt die Bruchstücke gegeneinander. Die Unordnung des in der

46

Vittoria Borsò

räum der Fotografíe zeigt ein „Nebeneinander verdinglichter Erscheinungen", die keine Deutung von sich aus suggerieren. Die Fotografie verstreue vielmehr die Elemente. Sie ist nicht Träger einer Deutung, wie dies das Kunstwerk noch ist, sondern die Bedeutung der Gegenstände entsteht aus der Raumerscheinung selbst.22 „Die Fotografie bewahrt nicht die transparenten Züge eines Gegenstandes, sondern nimmt ihn von beliebigen Standorten als räumliches Kontinuum auf' (Kracauer 1990: 89). Der apparategerichtete Blick des Massenmediums bringt potentiell die Möglichkeit mit sich, andere Räume als die Räume der Identität, der Sichtbarkeit in der Ordnung der Dinge, zu denken. Zu Recht ist durch Roland Barthes und seine Interpreten die Fotografie mit der écriture verglichen worden. Insofern das Medium der Schrift mit der Reproduzierbarkeit und Wiederholung definiert wird, ist tatsächlich die Fotografie die écriture, die mit der Technologie des fotografischen Bildes entsteht. Auch das Kino ist mit der Schrift verglichen worden, und zwar nicht nur im Sinne einer intermedialen Übertragung der literarischen Autorenschaft auf die Institution des Kinos,23 sondern als Schrift der Zeitbilder. Das Zeitkontinuum ist also das Wesen des kinematografischen Mediums, das allerdings erst nach seiner Emanzipation vom Aktionsfilm zum Zeitbild findet.24 Benjamin und Kracauer sehen im apparategerichteten Auge der Massenmedien die Phänomenologie „anderer Räume", die durch die Differenz im Material zur Erscheinung treten. Wir werden im Folgenden die derzeitigen Paradigmen der Medienanalyse auf den Status der Differenz im Medienbegriff hin befragen sowie, angeregt von den Überlegungen zum Blick und zur „anderen Topographie" der Massenmedien, die Topographien des Sichtbaren und das ihnen inhärente Verhältnis zur Alterität und Differenz analysieren.

Fotographie gespiegelten Abfalls kann nicht deutlicher klargestellt werden als durch die Aufhebung jeder gewohnten Beziehung zwischen den Naturelementen" (Kracauer 1990: 97). 22 So Kracauer: „ D e n n in dem Kunstwerk wird die Bedeutung des Gegenstandes zur Raumerscheinung, während in der Photographie die Raumerscheinung eines Gegenstandes seine Bedeutung ist" (Kracauer 1990: 88). 23 Vgl. die Interpretation des Postulats von Astruc durch Jochen Mecke (1999). 24 Das Kino ist das Medium für die Darstellung der Zeit par excellence, so Deleuze (1985). Aber auch schon Kracauer weist auf die von Rudolf Harms in seinem Buch Philosophie des Films zitierte Äußerung von E.A. Dupont hin: „Das Wesen des Films ist bis zu einem gewissen Grade das Wesen der Zeit" (Kracauer 1990: 89). Kracauer selbst sieht die Fotografie als eine Funktion der fließenden Zeit, allerdings räumt er ein, dass sich die sachliche Funktion der Fotografie ändert, je nachdem ob sie dem Bereich der Gegenwart oder der Vergangenheit angehört (Kracauer 1990: 89).

Medienkultur

AI

Von einer im Medium verorteten Differenz geht die einleuchtende Analyse der Sprach- und Medienphilosophie des 20. Jahrhunderts durch Sybille Krämer in Bezug auf das zweite von ihr vorgestellte Paradigma aus: Es handelt sich um jenes Paradigma, für das Medien sinnkonstitutiv sind, ein Paradigma also, das die Transzendentalität des Mediums und nicht die des Sinnes (einer etwaigen medienexternen Wirklichkeit) postuliert, wie dagegen die so genannte „Zwei-Weltentheorie". Zum ersten Paradigma gehören die Systemtheorie von Niklas Luhmann ebenso wie u.a. die Theorie der Differenz von Jacques Derrida und Jacques Lacan und die der Performanz von Judith Butler. Allen gemeinsam ist die Emergenz des Sinns im Medium. Deshalb geht Sybille Krämer für dieses Paradigma von der (auf Fritz Heider zurückgehenden) Unterscheidung von Form und Medium bei Luhmann aus. Das Medium ist nach Luhmann das unsichtbare, indifferenzielle Substrat, das erst durch die Begegnung mit der Form sichtbar wird, die emergente Form und auch ihre Kontingenz und Veränderlichkeit mitbestimmt (Luhmann 1997: 190). Luhmann geht von der Zeitlichkeit und damit von der Differenz aus, auch wenn die Differenz in seiner auf die soziale Kommunikation gerichteten Analyse keine dominante Rolle mehr spielt. Wir haben aber mit diesen zwei Paradigmen, bei denen Krämer die Frage der Alterität nicht ins Zentrum stellt, tatsächlich zwei verschiedene Konstellationen des Verhältnisses von Medium und Alterität bzw. Differenz, die ich im Folgenden näher betrachten möchte.

2. Das Medium als externer Speicher. Identität und Alterität als dialektisches Paar Ich werde hier zunächst auf die Positionen eingehen, die der Differenz keine fundierende Funktion zuschreiben. Es handelt sich um die von Sybille Krämer genannten Zwei-Welten-Theorien. Für diese ist Sprache ein Regelwerk und ein Kompetenzsystem. Mit diesem Begriff wird jenes Zeichenverständnis bezeichnet, das auch für die Phänomenologie von Edmund Husserl und den Strukturalismus Saussures zutrifft, demzufolge Sprachsysteme ein Regelwerk für die Repräsentation eines außersprachlichen Wissens sind. Für diese Theorien, die die Evidenz der Gegenwart des Sinns postulieren,25 sind Medien für die Sinnkonstitution unbedeutend; sie fungieren 25

Obwohl er den Weg zum Differenzdenken sowie zur Thematisierung des Realen und seiner Darstellungsweisen aufweist, führt Husserl, so Waldenfels, Standort und Leibgebundenheit auf das Hier und Jetzt des Subjekts zurück. Die Gegenwart wird absolut gesetzt und auf diese stützt sich die Transzendentalität des Sinns, wie Derrida kritisch ausführt (vgl. Derrida 1967). Husserls methodischer Zweifel gründet auf bestehenden Ordnungen und „natürlichen Einstellungen" (Waidenfels 1997: 55). Die Alterität des Leibes kommt in der Gegenwart des kognitiven Subjekts zum Stillstand. Darauf geht das Zeitkonzept szientistischer Modelle zurück, die der klassischen Metaphysik zuzuordnen sind, wie auch

48

Vittoria Borsò

als Speicher im Sinne einer Plattform für die korrekte Anwendung der Regeln der Sprache als eines Kompetenzsystems. Die Kommunikation basiert auf einem medienextem generierten Sinn.26 Deshalb bleibt in dieser Konzeption die Rolle der Medialität an sich, als Konstituent der Botschaft, unbedeutend. Medien dienen der Zirkulation und Verbreitung. Sie sind auch Garanten der potentiell gelingenden apparategestützten gesellschaftlichen Modernisierung. In einer solchen, als Kompetenzsprache verstandenen Kommunikation, die ich szientistisch nennen möchte, sind Alterität und Zeitlichkeit keine fundierenden Funktionen. Dies lässt sich anhand der topologischen Bedingungen der Kommunikationsinstanzen nachweisen. Die Topographie dieser Konstellation basiert auf einer binomischen und homogenen Raumordnung, wie sie der Strukturalismus postuliert. Die Differenz ist ein Distinktionsmerkmal, das zwischen Identischem und Verschiedenem trennt. Unreflektiert bleibt hier z.B. die Paradoxie der Demarkationen von Innen und Außen, von Eigenem und Fremden, die Jacques Derrida im Zusammenhang von Klassifikationen der Gattungen postuliert hat (1980), eine Paradoxie, die von der Phänomenologie der Zeitlichkeit und der Differenz herrührt und bedenkt, dass der Innenraum nicht homogen, sondern durch die angrenzenden Räume „kontaminiert" wird, ja das Ausgegrenzte einschließt. Was heißt Kommunikation und was heißt Alterität für eine szientistische Kommunikationstheorie, die -wie die Zwei-Welten-Modelle- auf der Stabilität der Gegenwart gründet? Alterität und Identität werden zwar als von einander abhängige und veränderliche, doch in sich distinkte Entitäten konzipiert. Sie sind das dialektische Paar von mehr oder weniger komplexen gesellschaftlichen Systemen. Eine derartige Topographie scheint mir im symbolischen Interaktionismus vorzuliegen, wie er sich in der Folge von George Herbert Mead und Erving Gof&nann in der Sozialwissenschaft etabliert hat. Die wechselseitige Abhängigkeit von Identität und Alterität wird dabei im Sinne eines idealtypischen Modells der kommunikativen Komplementarität postuliert;27 Alterität ist eine Funktion der Komplexitäts- und Kompetenzsteigerung des szientistisch-struktural konzipierten Kom28 munikationssystems. Die wichtigste Rolle des Mediums ist deshalb die phatische

26

27

28

Wolfgang Müller-Funk für den Strukturalismus feststellt. Während einerseits solche Theorien einen Raum des zeitlos Gültigen postulieren, bricht andererseits in diesen Raum die Erfahrung von Zeitlichkeit ein, eine Erfahrung, die die Moderne des 20. Jahrhunderts dadurch radikalisierte, dass sie die „aristotelischen Konsonanzen aufgebrochen hat" (vgl. Müller-Funk 2002: 76). Vgl. Krämer 2001. In Bezug auf das Problem der Medialität beim kulturellen Gedächtnis vgl. Borsö 2001. Innen- und Außenperspektive, Selbst- und Fremdbild dienen dazu, im Handeln des Individuums und „in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben" (Abels 1998: 196). Der Begriff ,phatisch' bezeichnet im Sinne des Jakobson'schen Kommunikationsmodells die auf den Kommunikationskanal bezogene Funktion. Ausgehend vom mathematischen Modell des Informationstheoretikers Claude Elwood Shannon bezieht Friedrich Kittler die

Medienkultur

49

Funktion, welche den Kanal für die Dekodierung, Kommunikation und den Zugewinn von Daten sichert. Medien und neue Technologien fungieren als technische Verbreitungsdispositive sozialer Sinnsysteme; die phatische Funktion der Apparate sichert die interaktive Informationsvermittlung. Wir können unsere eingangs gestellte Frage über das Verhältnis von Alterität und Medium folgendermaßen beantworten: Identität und Alterität sind hier das dialektische Paar eines Kompetenzsystems bestehend aus Rollen und Handlungsregeln. Subjektivität, wie auch Identität und Alterität sind Bestandteile von Interaktivität. Die Medialität erschöpft sich in der Rolle der Medien als externe Hilfsmittel des symbolisch konstituierten, sozialen Kompetenzsystems Kommunikation. Systemspezifische Kompetenzen und Interessen bedienen sich der neuen Medientechnologien und bestimmen den Vollzug kommunikationspolitischer Operationen.29 Die Totalität des signifikanten Raums erschöpft sich im Raum der -wie komplex und vielfältig auch immer konzipierten- Identität. Die Differenz des Anderen hat keinen Ort, wie dies Bernhard Waldenfels im Zusammenhang mit den Räumen der Identität konstatiert. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Identität und Alterität gründet hier auf einer stabilen und homogenen zeiträumlichen Ordnung. Es ist die Ordnung der Diskurse und der von diesen bestimmten Repräsentationen. Wir benötigen einen anderen Zugang, wenn wir den Ort der Alterität als Differenz konzipieren wollen. Die Homogenität des Raums eines medialen Kompetenzsystems wird deutlicher, wenn wir die Visualität, den privilegierten Ort der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt problematisieren. Wir wollen deshalb nachstehend diese im Abendland mächtige Scharnierstelle zwischen Subjekt und Differenz näher betrachten.

3. Die Materialität des Mediums und die Problematisierung der Sichtbarkeit Die phänomenologische Analyse der Visualität zeigte, dass die Räume des Sehenden und des Gesehenen nicht homolog sind, wie dies für die Identität angenommen wird. Edmund Husserl hat in seiner V. Cartesianischen Meditation anhand des Bilds phatische Funktion auf die Aufschreibesysteme um 1800, für die die PhonozentrismusThese von Derrida zutrifft. Es muss daran erinnert werden, dass die phatische Funktion auch in technologischen Medien nur eine der Funktionen der medialen Kommunikation ist, eine Funktion, die in kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen verabsolutiert wird, wenn z.B. die Aufmerksamkeit lediglich auf den „Kanal" und die Distributionseinrichtungen bzw. Kommunikationsinstrumente gelenkt wird (Schmidt/Zurstiege 2000: 74 f.). Für die Ausdifferenzierung von Medienkunst muss, wie im Folgenden dargelegt, z.B. die poetische Funktion berücksichtigt werden. 29 Zu diesem Problem vgl. Schmidt/Zurstiege 2000: 78 f.

50

Vittoria Borsò

,Analyse der Empfindungen" von Emst Mach die Alterität des Leibes „entdeckt". Tatsächlich illustriert das Bild von Mach die Unmöglichkeit, die gesamte Konstellation des Blickes, d.h. die zwei heterogenen Räume des Sehenden und des Gesehenen, zur gleichen Zeit zu fokussieren. Das sehende Subjekt und das gesehene Objekt können sich nicht denselben Repräsentationsraum teilen,30 weil der Raum des Sehenden und der des Gesehenen einander heterogen sind, so die phänomenologische Entdeckung von Husserl.31 Husserl selbst wird diese Spur nicht weiter verfolgen; erst Maurice Merleau-Ponty wird auf den heterogenen Raum der Sichtbarkeit eingehen, nämlich auf die Fremdheit des Leibes, und darauf, dass die Sichtbarkeit das chiastische Ereignis zwischen dem sehenden Auge und dem Objekt des Blickes ist. Auf dieser Basis wird auch Jacques Lacan zwischen dem Auge als Dispositiv kultureller Deutungen, für das der Leib die Differenz darstellt, und dem Blick unterscheiden. Der Blick ist ein Ereignis, das mit der Differenz im Subjekt konfrontiert.32

30

Der Umriss des Gemäldes konstituiert die Silhouette eines Kopfes. Im Inneren dieses Umrisses, dort wo sich das Gesicht befinden sollte, werden zwei Ebenen dargestellt, die von einem Fenster getrennt sind: Jenseits des Fensters sehen wir eine in zentraler Perspektive realistisch dargestellte Landschaft; diesseits des Fensters ist das Innere eines Zimmers abgebildet, in dem sich ein liegender und in Richtung Fenster blickender Mann befindet. Dessen Gesicht ist wiederum nur zum Teil im Blickfeld des Bildbetrachters, jedenfalls ist sein Auge nicht sichtbar. Der Betrachter zweiten Grades, der Zuschauer des Bildes, sieht also nur das, was das abgebildete Subjekt sieht, nicht jedoch seinen Blick. Der Betrachter wird gewahr, dass er beides nicht auf einmal fokussieren kann: das Gesehene und den Blick des Sehenden. Die jenseits des Fensters sichtbare realistische Landschaft ist eine Projektion des kulturellen Auges, das selbst blind ist (der Blick befindet sich nicht im Gesichtsfeld des Gemäldes). Auf der Metaebene wird mit diesem Bild die Blindheit im Auge des Betrachters reflektiert. Das Bild von Mach zeigt das, was das objektive Sehen verdeckt. 31 Ich beziehe mich auf den Satz Husserls:,»Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege". Waidenfels betont die merkwürdige Verschränkung zweier Reden und Sichtweisen (Waldenfels 1995: 11). Diese paradoxe Wendung verbindet Waldenfels mit dem Satz Rimbauds: „Je est un autre". Der Leib ist jenes Fremde, das als „ein Anderer" dem Ich das Wort aus dem Mund, den Blick aus den Augen nimmt (Waldenfels 1995: 11). Vgl. Waldenfels' anregende Analyse des Leibes als phänomenologische „Umschlagstelle" (Waldenfels 1999: 50). 32 Vgl. Jacques Lacan, Seminaire XI. Jacques Lacan unterscheidet im Medium, durch das die Blicke vermittelt werden, zwei miteinander verbundene Dimensionen, die die Einstellung des Betrachters bedingen: den Bildschirm und die Rahmung. Bildschirm und Rahmen, und damit die Einstellung zum Gegenstand, werden erst in Verbindung mit einem selbstbezüglichen Material (mit selbstbezüglichen ästhetischen Formen und Inszenierungen) sichtbar. Wird die Einstellung erkennbar, so ist der Blick potentiell selbstreflexiv und beweglich. Bleiben Bildschirm und Rahmung unsichtbar, so sieht das Auge nach dem Blickregime der dem Medium mitgegebenen (gesellschaftlichen) Einstellungen. Auf der Grundlage dieser Modi (das dem Medium aufgegebenen Auge und der aktive und selbstreflexive Blick) analysiert Ziiek die Blickregie des Hollywood-Kinos (Slavoj Zizek 2000). In den Bildwissenschaften (u.a. Hans Belting 1990; Gottfried Boehm 1995; Wolfgang Kemp 1996) schlägt z.B. Gottfried Boehm den Begriff vom „erinnernden Sehen" für den Fall vor, dass

Medienkultur

51

Als Darstellung einer Urszenerie der Konstellation des Blickes illustriert das Bild von Mach die Konstellationen der Sichtbarkeit: die heterogene Gerichtetheit von Subjekt und Objekt, die Rahmung durch die kulturellen Konfigurationen und die Fremdheit des Leibs dieser Rahmung gegenüber. Anhand der Sichtbarkeit ist deshalb zwischen drei Modi der Repräsentation zu unterscheiden, wie dies Bernhard Waldenfels vorschlägt:33 zwischen den Repräsentationen, die das Geschaute so vergegenwärtigen, dass die Differenz von Schauendem und Geschautem wie auch zwischen Bild und Ding zum Verschwinden kommt; den Metarepräsentationen, d.h. Repräsentationen, die sich als Repräsentationen zu erkennen geben und die Topographie der Identität offen legen; schließlich dem fremden Blick. Während bei ersteren der Fremdheit des Blickes kein Raum gegeben wird, rüttelt die Sichtbarkeit im dritten Fall, den Waidenfels in Bezug auf Foucaults Denken von Außen beschreibt,34 an dem Fundament der Ordnung des Sichtbaren selbst, d.h. an Zeit und Raum. Fremde Blicke kommen nicht im Raum vor, sie eröffnen vielmehr Räume.35 Diese Unterscheidung ist wichtig für die Frage nach dem Verhältnis von Differenz und Medien. Kommen wir auf den eben behandelten Fall der Zwei-Welten-Theorien zurück. Wenn man von der Analyse der Sichtbarkeit ausgeht, so ist die obengenannte „Repräsentation" die Stütze einer im Sinne eines medialen Kompetenzsystems konzipierten Kommunikation. Das Bild bringt hierbei die Differenz zum Verschwinden und fungiert wie ein transparenter Bildschirm im mimetischen Sinne, ein Bildschirm, der als phatisches Mittel und als durchsichtiges, an sich unbedeutendes Fenster zur Welt dient. Die Sichtbarkeit dieser topologischen Konstellation fallt mit der okulozentristischen Tradition des Abendlandes zusammen. Der Okulozentrismus setzt nicht nur ein teleologisch konzipiertes Raum-Zeitkontinuum voraus, sondern auch eine Einheitlichkeit des Raums, wie Bernhard Waidenfels konstatiert. Denn die Sichtbarkeit ist hier durch eine hierarchische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Identität und Alterität geregelt.36 Sie fungiert als Plattform für die Ermächtigung des Subjektes, das sich durch visuelle Homologisierung des Raums den Anderen aneignet, sich selbst als selbstidentisch erkennt und die Differenz ins Außen projiziert. Der Blick geht in der Ordnung der Diskurse auf. Sicht-

33 34

35 36

„das Sehen seiner selbst ansichtig wird", und zwar beeinflusst durch die medialen Veränderungen der Formen. Vgl. Bernhard Waidenfels, besonders 1999: 106 f. Vgl. Michel Foucault: „La pensée du dehors" (Dits et écrits 1994, Bd. I). Siehe auch Waldenfels, der sich besonders auf S. 524 bezieht (Waldenfels 1999: 113). Waldenfels 1999: 127. Vgl. auch die Kritik Zizeks hinsichtlich eines Subjekts, das als „simple Opposition zwischen Subjekt und Objekt" konzipiert ist, so Ziäek zum Begriff der Wahrnehmung als Aktualisierung von emotionalen und kognitiven Prädispositionen seitens des „gemeinen" Betrachters einer kinematographischen „Realität" in kognitivistischen Kommunikationstheorien (Post-Theory, hrsg. v. David Bordwell und Noel Carroll. Madison 1996, zit. nach Ziiek: Lacan, S. 22-23).

52

Vittoria Borsò

barkeit und Bildordnung entsprechen sich, und dies suggeriert die Natürlichkeit dieser Ordnung. Denn „Unsichtbarkeit" verweist in diesem Fall nicht auf einen fremden, irritierenden Raum. Die Abwesenheit des Gesehenen bedeutet vielmehr noch nicht Gesehenes, d.h. die Noch-Nicht-Anwesenheit eines prinzipiell Sichtbaren und Gegenwärtigen. Folgerichtig heißt hier , Sehen' lediglich Wiedersehen und Wiederfinden. Dass die moderne Kunst die vermeintliche visuelle Kompetenz des Subjektes verletzen will, um diese Konstellation zu entgrenzen und zur Differenz zu öffnen, zeigen mehrere Gründungsfiguren der Moderne.37 Eine dieser Figurationen ist die berühmte Einstellung aus Le chien andalou von Dali und Bunuel, bei der gezeigt wird, wie ein Messer einen Schnitt mitten in den Augapfel eines Menschen vollzieht, ein Bild, das selbst dann beunruhigt, wenn man weiß, dass es sich lediglich um ein Tierauge handelt. Verschiedene Sichtbarkeiten entsprechen verschiedenen Bildästhetiken. Die moderne Kunst sucht die Transgression der Ordnung des Sichtbaren, wie aus verschiedenen Schriften über das Auge im Kontext des Surrealismus, insbesondere seitens „dissidenter" Autoren wie Georges Bataille,38 hervorgeht. Der topologischen Konstellation, die wir mit Waldenfels „Repräsentation" genannt haben, entspricht dagegen eine mimetische Ästhetik des Bildes. Die Materialität des Bildraums ist für eine solche Ästhetik der durchsichtige Vermittler eines Bildgedankens, deren Sichtbarkeit nach der Ordnung der Diskurse organisiert ist und einen mit dem Subjekt homogenen Raum bildet. Es ist eine Ästhetik, die die Evidenz des Bildgedankens nach der Ordnung der gesellschaftlichen Kommunikation sucht. Das Ereignis der Oberfläche des Bildraums wie das Ereignis der poetischen Funktion der Sprache und

37

38

Die Infragestellung der Sichtbarkeit hat mit der Differenz und mit einem veränderten Verhältnis zur Zeitlichkeit zu tun. Noch vor Deleuze hatte der Cineast und Theoretiker Pascal Bonitzer die Zeitlichkeit als die spezifische Eigenschaft des Kinos erkannt und eine Präfiguration des Kinos im veränderten Verhältnis zur Zeitlichkeit seitens der barocken Kunst festgestellt, z.B. anhand des Bildes des Heiligen Jeronimus von Albrecht Dürer. Die Zeit breche durch den schrägen Lichtstrahl auf den Heiligen aus dem vom Rahmen gegebenen „off' in das Bild ein. Dadurch portraitiere das Bild den Heiligen in einem besonderen Augenblick, was auf die Zeitlichkeit aufmerksam mache (vgl. Bonitzer 1985). Neben „Histoire de l'œil" von Georges Bataille (Œuvres Complètes, Bd. I) ist auf den in der Zeitschrift Documents (No. 4, Septembre 1929) erschienenen Artikel zu „Œil" hinzuweisen. Dieser Essay ist der Teil des „Dictionnaire", mit dem Bataille eine Art „extraction lexicographique", d.h. eine Entnahme der Organe aus ihrem scheinbar „natürlichen", organischen Zusammenhang vollziehen wollte. Ahnlich ist auch der Text ,JLe gros orteil" zu verstehen. Batailles (wie auch Artauds) Anliegen war es, durch die Annäherung heterogener Dinge in der Sprache auch die in der kulturellen Anatomie des Abendlandes bestehenden Hierarchien zwischen dem Kopf als dem höherwertigen Sitz der Vernunft einerseits und den Sinnen andererseits zu dekonstruieren und eine offene Topographie des Körpers nachzuzeichnen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Essays von Denis Hollier, insbesondere auf „L'œil pinéal" (Hollier 1993: 157 f.).

Medienkultur

53

ihre potentielle Differenz sind dabei sekundärer Natur. Einer solchen Ästhetik entspricht z.B. jenes kinematographische Bild, das Gilles Deleuze als eine Funktion der narrativen Kinoästhetik ansieht und im Zusammenhang mit dem Bewegungsbild nach dem Vorbild des Hollywood-Kinos charakterisiert. In diesem steht die Zeit im Dienste einer chronologischen Abfolge von Zeitsegmenten, die die narrative Logik der Bewegung und der Montage bestimmen. Die Zeit ist von einem homogenen, segmentierten Raum abhängig. Dagegen hat die Analyse des Blicks in den Essays Benjamins und Kracauers sowie die Phänomenologie der Differenz das Interesse für die Autonomie der Bildmaterialität und des Ereignisses des Bildraums gefordert.39 Im Bildraum kann sich der fremde Blick zu einer anderen Topologie öffnen, die nicht in die Ordnimg des Sichtbaren einzuholen ist. Wir werden sehen, dass die Massenmedien, sofern sie nicht der phatischen Funktion der Informationsverbreitung untergeordnet werden, diesen Blick erprobt, wenn nicht überhaupt initiiert haben.

4. Identität, Differenz und das Medium als Vermittler und Sinnkonstituent Für eine Theorie des Mediums, die in der Vermittlung eine Differenz zwischen Phänomen und Sprache sieht, sind Alterität und Identität nicht als binomisches Strukturprinzip, sondern als eine in der Zeitlichkeit bestehende, unaufschließbare Differenz konzipiert. Sinn gilt nicht mehr als Analogon zur Welt. Er kommt vielmehr als ein Prozess im Medium zur Erscheinung. Sybille Krämer hat die Konsequenzen für die Sprachphilosophie dargestellt. Ich möchte auf die topologischen Aspekte des Verhältnisses von Identität, Alterität und Medien und auf die Dimension der Sichtbarkeit eingehen. Die Konzeption eines mit der Dichotomie von Innen und Außen bestehenden geometrischen Raums wird hier durch einen anthropologischen Raum im Sinne Merleau-Pontys ersetzt. In diesem stehen Subjekt und Welt mittels der Körperlichkeit in Beziehung zueinander, ohne dass ihre Heterogenität in eine Homo39

Michel Foucault kritisiert die Reduktion der Bildmanifestation auf den Traumgedanken durch die Traumdeutung (1992). Auch Lyotard optiert in seiner Dissertation (Discours, Figure 1971) fur die Bildmanifestation gegen die Vorherrschaft des Bildgedankens. In der Materialität des Bildes sei die Tätigkeit des Traumsubjekts aufgehoben, das auf die Zensur reagiert und sich als optisch bestimmtes vis-à-vis dramatisch konstituiert und durch die Traumarbeit materiell am Leben erhält. Anstelle von „Bedeutung" und „Diskurs" lenkt deshalb Lyotard die Aufmerksamkeit auf „Text" und „Figur". Lyotard betont die Opazität des Zeichens, d.h. die Intransitivität der Figur hinsichtlich der Sichtbarkeit und der Erkenntnis des Anderen (eine Qualität, die dagegen dem Symbol zugeschrieben wird): „Ce n'est pas la Création en tant que chose épaisse qui marque, qui recueille l'altérité, c'est d'être sourd à la révélation, le visible n'est pas ce qui se manifeste en se réservant dans son verso, il est seulement un écran d'apparences, il n'est pas paraître, mais buit couvrant une voix" (Lyotard 1971: 13).

54

Vittoria Borsò

logie überfuhrt werden kann. Die Differenz von „Einstellung" und fremder Leiblichkeit, die den Blick konstituiert, wird nicht durch den homologen Raum der Identität zum Verschwinden gebracht. Die Differenz durchsetzt vielmehr die raum-zeitlichen Konstellationen, und die Gegenwart ist eine Schwelle (wie wir schon mit Benjamin beobachten konnten). Die Gegenwart ist eine Form der Bezüglichkeit zwischen den Zeiten, der Bezüglichkeit zur Alterität im Sinne der Differenz. Gilles Deleuze hat mit seinen Analysen zu L 'image-temps (1985)40 auf die temporalisierte Struktur der Wahrnehmung hingewiesen und auch eine andere Theorie des Bilds eingeleitet. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt wird bei der image-temps nicht durch eine statische, raum-zeitliche Konstellation geregelt, sondern ist vom Zeitfluss der Erfahrung abhängig, einem Zeitfluss, der seit der Moderne auch die Differenz im Subjekt einschreibt. In der Gegenwart ist kein gegenwärtigender Blick auf die Gegenwart des Anderen, der Welt, mögüch, wie dies die erste Position postuliert.41 Wirklichkeit konkretisiert sich im Darstellen, im Sagen, wie Merleau-Ponty und Lévinas hervorheben werden, d.h. in der medialen Vermittlung. Diese selbstreflexive Potenz des Mediums, die Benjamin in der Analyse der Reproduzierbarkeit hervorhebt und die die moderne Kunst entfaltet, entgrenzt die „natürliche Einstellung".42 Ich möchte hier auf die Selbstreflexivität des Mediums eingehen, auf das schon Jakobson im Zusammenhang mit der poetischen Funktion der Sprache hingewiesen hat und das mit Begriff der mise ert abyme von Lucien Dällenbach das zentrale Moment des Nouveau Roman darstellt. Es handelt sich um jene Konstellation, in der die Materialität des Mediums nicht in dominanter Weise der phatischen Funktion unterliegt und der Verbreitung von Information dient.43 Die Textmaterialität ist dabei mehr als nur Träger einer persuasiven Botschaft. Die Vermittlungsfunktion geht nicht in der

40

41

42 43

Auch Böhme/Matussek/Müller nehmen Bezug auf Deleuzes Analyse des Unterschieds zwischen dem Bewegungsbild des traditionellen Action-Kinos und dem Zeitbild des experimentellen Kinos. Das Bewegungsbild führte mit seiner äußeren Angepasstheit an die kinematographische Illusion der Alltagswahrnehmung zu einer Stilllegung der Erinnerungsaktivität, während das Zeitbild unkonventioneller Filme (z.B. von Godard, Resnais) gerade durch das Anhalten der äußeren Bewegung die innere Zeit erlebbar macht (Böhme/ Matussek/Müller 2001: 163). Vgl. Autrement que dire, autrement que être, wo Lévinas von einer Kernspaltung von allem sich selbst Identischen spricht, von einer „Différence-sans-fond-commun", basierend auf der Temporalisierung der Zeit. Die u.a. auf die jüdischen Grundlagen zurückgehende Differenz von Sinn und Präsenz ist ein zentrales Moment der Philosophie Lévinas', die auch für Lyotard und Derrida zentral ist (vgl. Petitdemange/Rolland 1986). Vgl. Körner 2002. In einem Aufsatz mit dem Titel „Visualisation et langage" kritisiert Roland Barthes die Interpretation des Bildes im Sinne der Koiné-Annahme seiner Ikonizität, als sei die Ikonizität eine supralinguistische, anthropologische Konstante mit unmittelbarer semantischer Evidenz. Barthes spricht von der Akkulturation des Bildes, die dann eintritt, wenn man das Bild den sozialen Diskursen und dem diskursiven Denken zuordnet. Eine solche Funktion des Bildes nennt Barthes eine Art sozialen Wehrdienstes (vgl. Barthes 1967).

Medienkultur

55

Informationsverbreitung auf. Die Medialität der Vermittlung wird -wie es in der modernen Kunst programmatisch geschieht- vielmehr zu einem opaken Spiegel, der den Blick auf sich selbst zurückwirft, ohne eine „natürliche" Transitivität zur Welt vorzuspiegeln. Dies hat mit der Einschreibung der Differenz in die Materialität des Mediums und mit der Temporalisierung der Vermittlung zu tun. Beides fuhrt zu jener paradoxen Sprache des Körpers und der Subjektivität, die Bernhard Waldenfels bei seiner Besprechung der Entdeckung des Leibes durch Husserl (mit Bezug auf Arthur Rimbauds Satz ,je est un autre") betont hat. So hat die Einschreibung der Differenz in der Sprache der Moderne die Signatur gegeben. Bedenkt man die Differenz, so kann das Medium nicht allein als externer Speicher zur transparenten Sinnübertragung und Sinnverbreitung verstanden werden. Das Medium macht vielmehr die Bedingungen der Vermittlung selbst sieht- und erkennbar. Erst unter diesen medientheoretischen Voraussetzungen können wir die Frage präzisieren, unter welchen Bedingungen die Materialität des Mediums das Erscheinen von Alterität möglich macht. Walter Benjamin gewinnt schon aus der Analyse der paradoxalen raum-zeitlichen Ordnung der Erinnerung in der mémoire involontaire von Marcel Proust Einsicht in die Materialität des Mediums. Die Materialität ist schon deswegen kein transparenter Kanal mehr, weil der Riss zur Vergangenheit nicht mehr zu heilen ist und die Pluralisierung gesellschaftlicher Deutungen keine eindeutige Transitivität zur sozialen Botschaft mehr ermöglicht. In der Moderne, so Benjamin im Passagenwerk, durchkreuzt die Alterität in doppelter Weise die Identität: räumlich und zeitlich Fremdes bewohnen den Menschen. Diese These wird, wie wir gesehen haben, u.a. in Zusammenhang mit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks entwickelt. Der tote Maschinenrhythmus ist der Rhythmus der Apparate, der zu Brüchen in der Wahrnehmung des Menschen führt.

5. Massenmedien, Reproduktion und écriture: Wider das Missverständnis eines elitären Begriffs der Schrift Nach der Konzeption von Jacques Derrida und Roland Barthes definiert sich auch das Medium der Schrift durch die Reproduzierbarkeit und Wiederholbarkeit. Deshalb schreiben sich im Raum der Schrift auch die Zeit und die Differenz ein. Als Phänomen der Zeitlichkeit ist die Schrift stets die Re-Produktion vergangener Spuren und eines nicht-ursprünglichen Ursprungs.44 In der Schrift wird also das Verhältnis des Subjektes zur Differenz ausgehandelt. Aus diesem Grunde sind die Zeichen der Schrift nicht etwa Träger einer „parole pleine, présentée à soi et maîtresse de

44

Derrida 1967: 303.

56

Vittoria Borsò

soi".45 Dieses Prinzip ist besonders bedeutsam im Zusammenhang mit dem Körper. Andernorts habe ich die Fruchtbarkeit der phänomenologischen Fragestellung der Schrift als einer medialen Form dargestellt,46 die sich von der phatischen Transparenz der sozialen Kommunikation und dem diskursiven Wissen unterscheidet, das Denida nach dem phonozentrischen Modell beschreibt. Die Form der écriture im Medium der Schrift zeigt im Material der Buchstaben einen (poetischen) Überschuss, der ein metasprachliches Potenzial impliziert, aber auch Ambiguitäten erzeugt. Im Sinne einer solchen Form, also einer dynamischen Textualität, deren Prozesse durch eine verzeitigte Lektüre des Textes erst performativ konstituiert werden, sind in der Schrift Friktionen der Ordnung des Sichtbaren im Sinne der Ordnung der Diskurse zu finden, wie auch Spuren abwesender, widerstreitender Texte. Dies zeigt auch die Intertextualitätsforschung seit Julia Kristeva. Der Raum der Schrift ist insoweit ein „anderer Raum", als sich Subjektivität aber auch Differenzen und Alteritäten, etwa die ausgegrenzte Körperlichkeit und die ausgegrenzten Räume des Kulturellen, einschreiben. Ist für das szientistisch-kommunikationstheoretische Paradigma, das wir eingangs kommentiert haben, die Komplexität des Materials eine Stärkung der phatischen Potenz des Mediums, das auch noch einen vielstimmigen Sinn kodieren kann, so fuhrt die Beachtung der Temporalisierung des Sagens, des Darstellens, zur Wahrnehmung der Paradoxie von Sprache und der Ambiguität von Sinn.47 Dass dieser Begriff von Schrift nicht allein elitär sein muss, lässt sich zum Beispiel anhand der Schriften des mexikanischen Mediensoziologen, Essayisten und Schriftstellers Carlos Monsiväis darstellen.

6. Alterität und Massenmedien. Die Ästhetik der Schrift nach den Massenmedien Der Sprung in das Medienzeitalter war das Skandalon Walter Benjamins zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist jener Sprung, den der kolumbianische Medientheoretiker Jesús Martín-Barbero zu einer neuen Theorie der Mediation durch die Massenmedien gefuhrt hat, eine Position, die die Performanz des Massenmediums für die Entstehung neuer gesellschaftlicher Strukturen betont. Dieser Quantensprung fuhrt zu einer der heutigen globalen Welt angemessenen, beweglichen Epistemologie. Während sich die Autonomie des Dichters der historischen Moderne auf der Basis einer ideologischen Opposition zur Masse zu konstituieren glaubte, steht seit Benjamins Reproduktionsessay diese Autonomie nicht mehr im Gegensatz zur Technik und der Massengesellschaft. Vielmehr wird sie mit den Mitteln der Technik gewonnen, die 45 46 47

Derrida 1967: 296. Vgl. Borsö 2003. Vgl. auch den Oralitäts- und SchriftlichkeitsbegrifF von Barthes (1981) und meine entsprechende Analyse dazu (Borsö 2001).

Medienkultur

57

zwar den Verlust der Aura herbeiführen, aber auch die Chance einer die sozialen Diskurse irritierenden Montage als Grundlage eines apparategerichteten Blicks geben. Die technische Montage offenbart die Konstruiertheit, Nachträglichkeit und Bedingtheit der Oppositionssysteme wie Identität und Alterität, die die Syntax zwischen den Dingen und der Sprache aufrechterhalten. Die massenmediale Schrift, die „andere Materialitäten" hervorbringt, kann in vielen Fällen als heterotopische Schrift bezeichnet werden, deren Modell für Michel Foucault die chinesischen Enzyklopädie von Borges darstellt (vgl. Foucault 1966). Dies zu sehen, bedeutet ein nomadisches Bewusstsein, das nicht allein die Überkreuzung von Identität und Alterität erkennt, sondern die Bewegung zwischen den Differenzen vollzieht.48 Die Medien sind Quellen der Produktion neuer ästhetischer Formen, so dass die Reproduktionstechnik nicht notwendigerweise das Ende der Kunst herbeiführt, wie Adorno meinte. Derartige Implikationen des performativen Moments der Massenmedien sind entscheidend für die Topologie des Subjektes.49 In diesem Zusammenhang hat Jesús Martín-Barbero die Spuren von Walter Benjamin im Denken der Differenz und der Perfomativität deutlich gemacht. Im Zusammenhang mit dem unorthodoxen Wissen, das im Ansatz von Walter Benjamin impliziert ist, meint Martín-Barbero: [Es] un mundo descentrado, performativo, ambivalente, y un imaginario corporal a la vez traza del destino y el goce; pasó también por la 'cultura del motín', las procesiones bufas, las canciones obscenas, y la 'economía moral' de la plebe en que se basaron los primeros movimientos obreros. (Martín-Barbero 2000: 19).

Eine solche massenmediale Kultur hat eine ungemeine Transformationskraft. Sie konstituiert eine kulturelle Topographie, die einer „zona de litigio", oder einem „museo improbable"50 gleicht, wie es Carlos Monsiváis formuliert hat. Tatsächlich

48

Es ist eine kulturelle Situation, in der man den kulturellen Raum nicht von einem Zentrum aus denkt, sondern vom Standort derjenigen aus, die an den Rändern leben und den Rand zum Prinzip ihrer Denkfreiheit machen (vgl. Martín-Barbero 2000). 49 Der Sprecher von Monsiváis' Chroniken hat ein nomadisches Bewusstsein, das nicht allein zur Überkreuzung von Identität und Alterität gelangt, sondern auch die Bewegung zwischen den Differenzen vollzieht und Differenzen beweglich werden lässt. 30 Die akustische Modularisierung (Materialität) von Erzähltexten ist ein Charakteristikum der mexikanischen Crónicas, einer mit der modernen Stadt zusammenhängenden Gattungshybride (zwischen Roman, Essay, Tagebuch, Reportage). Die Crónicas stellenfragmentarischeSinnbezüge her, thematisieren Nebensächliches und Ephemeres und sind Momentaufnahmen vergangener Ereignisse, die das Prinzip des Zufalls im Dargestellten und in der Darstellung behaupten. Sie benutzen dokumentarisches Material (Fotografie, Tonbandmitschnitte, Videokamera) oft als Gegendiskurs zum ironisch zitierten offiziellen Diskurs. Die zitierten mündlichen Reden, erzählen in Dissenz zueinander und ironisieren sich wechselseitig. Die Oppositionslogik, wie die von Masse gegen Elite, Volk gegen Herrschende usw. wird aufgehoben. Das Marginali-

58

Vittoria Borsò

ist der Blick des massenmedialen Schriftstellers, in dessen Schrift die Differenzen materialisiert werden, nicht panoptisch. Dafür sind die Schriften Monsiváis' seit seinen Crónicas der 70er Jahren ein herausragendes Beispiel. Der Sprecher schaut nicht aus einer sicheren Höhe in einen globalen Raum hinein.51 Der Ort, von dem aus Monsiváis schreibt, situiert sich vielmehr inmitten des massenmedialen Raums. In seinen Skizzen von México D.F. befindet sich der Sprecher mitten in der Menge der Stimmen; seine Position im Raum ist beweglich. Nicht einen souveränen Blick auf den globalen Raum entdecken wir also in diesen Chroniken. Vielmehr befinden sich Blick und Ohr auf einer Höhe mit den vielen Menschen der Stadt; die Sinne sind offen, empfanglich für die dissonanten Differenzen, aber auch für die Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Er blickt nicht von einem olympischen Ort auf geopolitische Territorien, die durch die Imagination des Schriftstellers überschritten werden. Vielmehr sind die Transformationen dem Kulturellen selbst immanent. Im Vorwort von Los rituales del caos beschreibt Monsiváis mit Bezug auf Guy Debord (1992) die doppelte Funktion der Massenmedien. Die Massenmedien erzeugen einerseits das Spektakel, bei dem das Auge dem Medium anvertraut ist („Fíjate en la pantalla", 29) und in dem das Subjekt dem Konsum und der Industrialisierung der Bilder unterworfen ist. Diesen Fall nennt Monsiváis „el falso caos". Dieses Chaos ist nicht befreiend, sondern normalisierend. Es bedient sich der Mittel des Spektakels, um eine Art Diktatur der elektronischen Faszination unter der Ökonomie des Konsums zu etablieren. Auf der anderen Seite geht es dem Schriftsteller um das „wahre Chaos", bei dem der Mensch nicht an die Erlösungsutopie des Konsums und seiner Ordnung glaubt, ,41o imagina detrás de cada show los altares consagrados al orden" (Monsiváis 1995: 16). Statt der Verheißung einer Erlösung werden hier kulturelle Kräfte entfesselt, die Monsiváis -ebenfalls mit Bezug auf Debord— das Vergnügen und die fluide Sprache der Anti-Ideologie nennt. Vergnügen heißt auf Spanisch „diversión", ein Wort, das die gleiche Wurzel wie „diversidad" und „divergencia" hat. Vergnügen und Flüssigwerden der Sprache sind Effekte des Lachens, betont der Schriftsteller: Ironie, Humor, Entspannung - ein Begriff, der der von Benjamin erwähnten Zerstreuung durch die Massenmedien nahe kommt. Die Fluidität der Sprache Monsiváis' wird vom akustischen Rhythmus und den Registern der Oralität gesteigert. Im inszenierten kulturellen Raum ist nicht das Auge das zentrale Organ der Wahrnehmung, worauf auch Benjamin hingewiesen hat. Denn das Auge verortet die Masse, grenzt sie ein. Die Dynamik des Textes Monsiváis' ist dagegen

51

sierte fungiert als perspektivischer Fokus, um das Zentrum anders zu beleuchten (vgl. Borsö 1994b). Die Präsenz eines solchen Panoptikums habe ich dagegen in der Literatur von Carlos Fuentes nachzuweisen versucht (Borsö 2002).

Medienkultur

59

jene, die —wie in Deleuzes rhizomatischem Modell— de-markiert und Zwischenräume schafft. Massenmedien sind ein epistemologischer Ort. So wird auch Carlos Monsiväis selbst nicht müde, für seinen Begriff von „cultura populär" die Bedeutung der Massenmedien hervorzuheben. Das Medium ist mehr als ein ästhetischer Kanon. Die Medien des 20. Jahrhunderts, das Kino, das Fernsehen, die Rockmusik, die Videoclips haben nationale Mythen modernisiert, zugleich internationalisiert und damit verändert. Dies ist die Hauptthese der medienhistorischen Kulturgeschichte, die (mit dem Premio Anagrama de Ensayo ausgezeichnet) unter dem Titel Aires de familia im Jahre 2000 erscheint. Die kulturellen Konzeptionen von Monsiväis haben mit epistemologischen Moden —von der Alteritäts- zur Hybriditätsdiskussion- nichts zu tun, obgleich postkoloniale Theorien durchaus zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Der epistemologische Ort von Carlos Monsiväis' Soziologie und Kulturanalyse der Massenmedien ist eine moderne Medientheorie, die von Anfang an in seiner „escritura", seiner Ironie und seinen Sprachspielen erkennbar wird. War das Kino der individuelle Raum von kollektiven Träumen, so ist nach den 80er Jahren das Fernsehen das Medium der Inszenierung globaler Spektakel.52 Das Kreative an massenmedialen Ereignissen ist dabei die transkulturelle Dynamik, die die nationale Monumentalität und ihre hegemoniale Gewalt zu Fall bringt.53 Die Transformationsprozesse der Moderne werden in Aires de familia dargestellt. Es sind Transformationen, die nicht der Imagination des Schriftstellers entspringen, sondern von den Massenmedien, ihren Bilden und ihren Migrationen verantwortet werden.54 Durch das Medium Kino ergibt sich z.B. ein Quantensprung: Die tägliche Assimilation von „Geschmack" und „Stil" anderer Völker macht bewusst, dass Traditionen ein internationales Phänomen sind. Aires de familia ist die Geschichte der internationalen, transkulturellen und transmedialen Bewegungen der Massen in Lateinamerika. Die historische Kohärenz ist nicht durch die Geschichte der Nation, des Geistes (wie im 19. Jahrhundert), der Zivilgesellschaft oder der Intellektuellen (wie im 20. Jahrhundert) gegeben, allesamt Konzepte, 52

53

54

Dies ist Thema einer weiteren Chronik von Massenereignissen, bei der es um weltweite Femsehübertragungen von Fußball geht. Hier ist die Stimmung ebenso global wie lokal. Intemationalität und mit Nationalismen durchdrungene Mythologien werden zugleich evoziert. Dank der Massenmedien vermögen Kulturen, einen je partikulären Akzent, z.B. des „barrio", mit internationalen, grenzüberschreitenden Bewegungen zu verbinden. Nationale Mythen sind zwar auch darin nicht auszurotten, doch weiden sie durch den Witz der Alltagskulturen gleichsam demontiert. Es geht z.B. um die Migrationen des Kinos als Phänomen des Borderlandes zwischen Kalifornien und Mexiko. Gegenüber Hollywood empfindet man zwar Respekt, aber die Anpassung an die technologischen und kulturellen Determinanten verschiedener lateinamerikanischer Länder und der äußerst lebendige Dialog mit dem nationalen Publikum ändern auch die Gesetze Hollywoods.

60

Vittoria Borsò

die Verortungen und Ausgrenzungen verantwortet haben (als „gleba", „vulgo", „populacho" etc.). Die Kohärenz der Geschichte Monsiväis' liegt vielmehr in der Suche nach den kulturellen und medialen Transformationen innerhalb von und zwischen Kulturen, denn erst aus diesen entspringen kulturelle und soziale Kräfte. „Massenkultur" heißt also jener durch die massenmediale Kommunikation geöffnete, dynamische Raum zwischen den Kulturen. Die ausgehend von diesen Räumen geschriebene Kulturgeschichte Mexikos ist weit entfernt von der offiziellen, sakralisierten Kultur der Dichterfürsten, von der Moralisierung der Armut und der Gewalt, vom Epos der mexicanidad und deren tragischer Auslegung in der Figur der soledad und ihrer Mythen. Hier ist der Dichter nicht autonom in Bezug auf die Masse und steht nicht im Gegensatz zur Technik und Massengesellschaft. Vielmehr wird die Kreativität aus den Mitteln der Technik gewonnen, die zwar den Verlust der (elitären) Aura herbeiführen, aber -etwa durch die technische Montage- die Chance der Irritation und Transformation offizieller Diskurse eröf&en. Gattungen, Identitäten, Geschichte, Elite- und Massenkultur erscheinen dann als zufallige und variable Verortungen.

7. Massenmedien und Alterität: Ein Ausblick Die Medialität der (ikonischen, akustischen und schriftlichen) Zeichen steht prinzipiell im Zusammenhang mit zwei Formen des Mediums Sprache: einerseits mit einer Form, die gesellschaftlichen Sinn vermittelt und in der mündlichen oder geschriebenen Rede mediumsspezifische Aktualisierungen der phonozentrischen Form der Sprache und ihrer phatischen Funktion betont - hier leistet die Massenmedialisierung der Verbreitung erfahrungsloser Informationen Vorschub, wie Walter Benjamin in Zusammenhang mit der Entstehung des Massenjournalismus meinte; andererseits mit einer Form, die zum Ausdrucksraum von Alteritäten und Differenzen wird.55 Diese Formen sind natürlich nur heuristisch zu trennen und ändern ihre Funktionen je nach dem Medium, mit dem sie zusammentreffen. Im Roman kann z.B. der Einschub oraler Stimmen als Indiz und als Metapher einer irreduziblen Eigenheit fungieren, die nicht Identität, sondern vielmehr ein partikuläres Idiom ist, das die Differenz einschreibt. Diese Stimmen können fremde, kontingente und zufallige Alteritäten markieren, die in symbolische Sinneinheiten, in Identitätssysteme einbrechen und diese perturbieren.56

55 56

In Zusammenhang mit dem Gedächtnis vgl. Borsö 2001. In diesem Sinne habe ich auch bei Monsiväis z.B. zwischen dem akustischen Modus der Oralität als Differenz zur Schrift und einer Oralität unterschieden, die phatische und rhetorische Stütze der öffentlichen, politischen Rede sein kann (vgl. Borsö 1997).

Medienkultur

61

Die Differenz ist mit dem semiotisch-szientistisch konzipierten System symbolischer Generierung und Speicherung von Sinn nicht ganz zu erfassen. Tatsächlich interpretiert die Kommunikationswissenschaft die Innovationsschübe als technologische Steigerung der Kommunikation.57 Die Stärkung der phatischen Funktion bei der Informationsvermittlung38 gilt als solidarisierendes und stabilisierendes Moment. So beruft sich die Forschung zu den technologischen Medien, insbesondere zum Transmedium Internet, immer mehr auf pragmatische Ansätze. Man fragt sich dabei, ob nicht kommunikationswissenschaftliche Utopien, die die Steigerung der Informationsmenge mit dem Zuwachs an kommunikativer Kompetenz von Individuen und Gesellschaften gleichsetzen, nicht einen Normalisierungseffekt59 auf die kulturellen Differenzen heutiger postindustrieller Gesellschaften haben. Je mehr die neuen Technologien Hybride produzieren, d.h. topographisch und zeitlich Fremdes aneinander binden und Heterogenes entstehen lassen, desto mehr wird das Heterogene durch die These der Informationsverbreitung in medial vernetzten Gesellschaften diskursiv und epistemologisch reguliert. Eine ähnliche Rolle haben Ende des 19. Jahrhunderts nationale Mythen übernommen. Sie haben dazu beigetragen, die vom Historismus herbeigeführte Pluialisierung der Vergangenheit60 zu normalisieren. In Opposition zum kommunikationswissenschaftlichen Optimismus wird von Seiten der Kunst gefragt, ob nicht ein politisch gewollter Realfunktionalismus die kritikwürdigen Aspekte der Konvergenz vergessen lässt. Meint ,Medienkonvergenz' die Dominanz der phatischen Funktion im Sinne der Steigerung der Informationsver57

Hier wird das Innovationspotenzial formal-technischer Spezifika der neuen Medien abermals als Steigerung der Kommunikation eingeschätzt: Potenziell (fast) unendliche Reproduzierbarkeit, Wiederholbarkeit, Vermittlung in Echtzeit und interaktive Kommunikation, Kombinierbarkeit und Weiterverarbeitung von Zeichen, Beschleunigung der Prozesse und der Verbindungen, damit inhaltlich der Zuwachs der Angebote für die Nutzer, Steigerung der Kreativität und des Bild- und Informationsangebotes, wobei mit Hilfe des Internets jedes in einer zugänglichen Datenbank abgelegte Werk in Echtzeit abgerufen werden kann. Wegen der Wiederholbarkeit und Echtzeit wird das Internet als ein neues Medium der Vertrauenssolidarität, Interaktivität und Positionierung realer Kontexte eingestuft. Vgl. europa.eu.int/ISPO/convergencegp/workdoc/1284en.html. 58 Die Telepräsenz suggeriert visuelle, akustische, taktile Evidenzen, die als funktionalinhaltliche, d.h. kognitive Charakteristika fur die /ace-/o-/ace-Kommunikation gedeutet werden. 59 Wie Jürgen Link eindrucksvoll gezeigt hat, ist der Medienkonsum ein mächtiges Normalisierungsdispositiv, das Material montiert, um „den perfekten Effekt eines zufalligen Samples zu suggerieren": „Die flexibel-normalistische Struktur eines exemplarisch eindimensionalen Diskurs-Mix aus dem, was weiterhin Politik heißt, aus Verkehrsnachrichten, Wetter, Wirtschaft, aus Populärwissenschaft, Geschichte, .Kultur' (besonders ,Theater') und immer und immer wieder Sport kommt ohne jede .satirische' oder .ironische' Überzeugung aus" (Link 1997: 67). 60 Vgl. den Aufsatz von Ulrich Schulz-Buschhaus zu Bourget und Barrés (Schulz-Buschhaus 2000).

62

Vittoria Borsò

mittlung, so birgt dies auch die Gefahr, dass wegen des Verschwindens der Unterscheidungen zwischen Diensten auch Inhalte homologisiert werden. Die steigende Konzentration von Kapital und Marktmacht61 und die daraus folgende Transformation der Kunst in Cyberspektakel und Megaindustrie steht überdies gegen das freie Spiel kreativer Entwicklungen in artistischer und technischer Hinsicht. Dass Walter Benjamin auch dies vorweggenommen hat, sehen wir im Reproduktionsessay: „Der Film antwortet auf das Einschrumpfen der Aura mit einem künstlichen Aufbau der ,personality' ausserhalb des Ateliers. Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht" (Benjamin 1978a: 492) - eine angemessene Beschreibung der Ästhetik des Spektakels, die heute auch die Mediatisierung der Politik bestimmt.62

61

Vgl. Ute Bernhardt (1999): Monopoly. Zu den ökonomischen Hintergründen der Medienkonvergenz (www.sommerakademie.de/1999/bernhardt.html). Zur Austreibung der Differenz aus dem Spektakel virtueller Bilder vgl. Baudrillard 1994. 62 Vgl. die Analyse des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer 2001.

Medienkultur

63

Bibliographie Abels, Heinz (1998): Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie. Opladen; Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Barthes, Roland (1981): „De la parole à l'écriture", in: ders.: Le grain de la voix: entretiens 1962-1980. Paris: Gallimard, S. 10-13 — (1989): La chambre claire. Paris: Gallimard — (1996): „Visualisation et langage", in: Œuvres complètes, Bd. IL Paris, S. 112-116 Baudrillard, Jean; Guillaume, Marc (1994): Figures de l'altérité. Paris: Descartes & Cie Belting, Hans (1990): Bild und Kult. München: Beck Benjamin, Walter (1977): „Kleine Geschichte der Photographie", in: Tiedemann, Rolf; Schweppenhausen Hertmann (Hg.): Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 11,1. Frankfurt IM..-. Suhrkamp, S. 368-385 — (1978a): „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hernnann (Hg.): Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 1,2. Frankfurt /M.: Suhrkamp, S. 471-508 — (1978b): „Über einige Motive bei Baudelaire", in: Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Herrmann (Hg.): Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 1,2. Frankfurt /M.: Suhrkamp, S. 605-653 — (1982): „Das Passagen-Werk", Tiedemann, Rolf; Schweppenhäuser, Hertmann (Hg.): Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. V,2. Frankfurt M.: Suhrkamp, S. 655-1063 Bernhardt, Ute (1999): Monopoly. Zu den ökonomischen Hintergründen der Medienkonvergenz. WWW-Dokument: www.sommerakademie.de/1999/pdf/bernhardt.pdf (zuletzt aufgesucht: 20.07.2003) Boehm, Gottfried (1995): Was ist ein Bild? München: Fink Böhme, Hartmut; Matussek, Peter; Müller, Lothar (2001): Orientierung Kulturwissenschaft: was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Bonitzer, Pascal (1985): Décadrage. Peinture et cinéma. Paris: Ed. de L'Etoile Borsò, Vittoria (1994a): „ L u i s Buñuel: Film, Intermedialität und Moderne", in: Link-Heer, Ursula; Roloff, Volker (Hg.): Buiiuel. Film - Literatur - Intermedialität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 159-179 — (1994b): „Mexikanische .Crónicas' zwischen Erzählung und Geschichte - Kulturtheoretische Überlegungen zur Dekonstruktion von Historiographie und nationalen Identitätsbildem", in: Scharlau, Birgit (Hg.): Lateinamerika Denken. Tübingen: Stauffenburg, S. 278-296 — (1997): „De la ontologia de la oralidad a la modulación oral de la escritura. Problemas de la oralidad en México: un análisis discursivo", in: Berg, Walter Bruno; Schäffauer, Markus Klaus (Hg.): Oralidad y Argentinidad: estudios sobre la función del lenguaje hablado en la literatura argentina. Tübingen: Gunter Narr, S. 122-139 — (2001): „Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität", in: Borsò, Vittoria; Krumeich, Gerd; Witte, Bernd (Hg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart: Metzler, S. 23-53 — (2002): „Carlos Fuentes - ,peregrino entre dos mundos'. Zur Archäologie des 20. Jahrhunderts", in: Leinen, Frank (Hg.): Literarische Begegnungen. Romanische Studien zur kulturellen Identität, Differenz und Alterität. Berlin: Erich Schmidt, S. 299-318

64

Vittoria Borsò

— (2003) : „Schriftkörper und Bildmaterialität - Narrative Inszenierungen und Visualität bei Gustave Flauberts ,Salammbô'", in: Hrachovec, Herbert; Mueller-Funk, Wolfgang; Wagner, Birgit (Hg.): Narrationen im medialen Wandel (im Druck) Debord, Guy (1992): La Société du Spectacle. Paris: Gallimard Deleuze, Gilles (1983): L'image-mouvement. Paris: Minuit — (1985): L'image-temps. Paris: Minuit Derrida, Jacques (1967): L'écriture et la différence. Paris: Seuil — (1980): „La loi du genre", in: Glyph. Textual Studies 7, S. 176-201 Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Paris: Gallimard — (1994): Dits et Ecrits. Hrsg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. I-IV. Paris: Gallimard Hollier, Denis (1993): La prise de la Concorde suivi de Les dimanches de la vie. Essais sur Georges Bataille. Paris: Gallimard Kemp, Wolfgang (\996): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter. Köln: Oktogon Kittler, Friedrich (1995): Aufschreibesysteme 1800 -1900. München: Fink Körner, Hans (2002): „,Keine Benennungen'. Wols: Bildmaterial, BildbegrifF und die .richtige Einstellung' des Betrachters", in: Hülsen-Esch, Andrea von; Carqué, Bernd; Arasse, Daniel (Hg.): Die deutsch-französische Kolloquienreihe zu , Methodik der Bildinterpretation' 1998-2000, Bd. I-n. Göttingen: Wallstein, S. 259-303 Kracauer, Siegfried (1990): Aufsätze 1927-1931. Hrsg. v. Inka Mülder-Bach, Bd. V.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp Krämer, Sybille (2001): Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt /M.: Suhrkamp Lacan. Jacques (1980): „Die Spaltung von Auge und Blick", in: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI. Ölten: Walter, S. 73-126 Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übersetzung von Wolfgang Nikolaus Krewani, München: Karl Alber Link, Jürgen (1997): Versuch über den Normalismus. Opladen: Westdt. Verlag Link-Heer, Ursula (1988): Prousts ,A la recherche du temps perdu' und die Form der Autobiographie. Amsterdam: Grüner Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt /M.: Suhrkamp Lyotard, Jean-François (1971): Discours, Figure. Paris: Klincksieck Martín-Barbero, Jesús (2000): „Mis encuentros con Walter Benjamin", in: Constelaciones de la Comunicación. Fundación Walter Benjamin. Ciencias de la Comunicación, Bd. I. Madrid: Iberoamericana, S. 16-23 Mecke, Jochen (1999): „Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformation des Films", in: Mecke, Jochen; Roloff, Volker (Hg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen: Stauffenburg, S. 97-123 Merleau-Ponty, Maurice (1964): Le visible et l'invisible. Paris: Gallimard Meyer, Thomas (2001): Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien. Frankfurt/M.: Suhrkamp Monsiváis, Carlos (1995): Los rituales del caos. México: Era. — (2000): Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina. Barcelona: Anagrama Müller-Funk, Wolfgang (2002): Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien; New York: Springer Pethes, Nicolas (1999): Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Dekonstruktion nach Walter Benjamin. Tübingen: Niemeyer Petitdemange, Guy; Rolland, Jacques (1986): Autrement que savoir. Emmanuel Lévinas. Paris: Osiris Sandbothe, Mike (2001): Pragmatische Medienphilosophie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft

Medienkultur

65

Schmidt, Siegfried J.; Zurstiege, Guido (2000): Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Schulz-Buschhaus, Ulrich (2000): „Fin de siècle und Choc der Multiplizität", in: Borsô, Vittoria; Goldammer, Björn (Hg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. BadenBaden: Nomos, S. 149-163 Waldenfels, Bernhard (1995): „Nähe und Fremde des Leibes", in: Behrens, Rudolf; Galle, Roland (Hg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 11-24 — (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M.: Suhrkamp — (1999): Sinnesschwellen. Frankfurt /M.: Suhrkamp Ziiek, Slavoj (2000): Lacan in Hollywood. Wien: Turia & Kant

Ellen Spielmann (Berlin)

„Alterität" von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen Die Moderne wohnte, wie bekannt ist, im Hotel Abgrund. Ich verfolge eine andere Karte. Wie komme ich zur la Place de l'Alterité? Dorthin führten Ende der 40er Jahre drei Hauptstraßen, die später Ende der 50er Jahre verbreitert wurden und dann seit Anfang der 60er Jahre durch Autobahnen und Helicopterservice ersetzt wurden. Die Hauptstraßen heißen L'être et néant (1943) von Jean Paul Sartre, Le temps et l'autre (1946) von Emmanuel Lévinas und Le deuxième sexe (1949) von Simone de Beauvoir. Die Verbreiterungen begannen mit Jacques Lacan, seit der Aufsehen erregenden Rede beim Psychoanalytischen Kongress in Rom 1953 und Frantz Fanon zwischen Peau noire, masques blancs (1952) und Les damnés de la terre (1958). Als Ingenieure der Autobahn sind in erster Linie Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha, die Protagonisten postkolonialer Studien und Theorie zu nennen. Überfliegen wir mit Gayatri Spivak la Place de l'Alterité: Sie bemerkt 1989, eingeladen, sich zu den Themen Identité, alterité, métissage: centre et périphérie anlässlich der Kunstausstellung Magiciens de la terre im Centre Pompidou in Paris zu äußern, dass Alterität als Begriff im Englischen erst Mitte der 80er Jahre aus dem Französischen übernommen wird, durch die wieder aufgenommene Diskussion über die Arbeiten von Emmanuel Lévinas.1 Zu unterstreichen ist die beträchtliche Verspätung, der Zeitraum von vierzig Jahren. Erstaunlich ist auch das Moment unbewussten Umgangs seitens der Wissenschaftler: So betitelt der Anthropologe Johannes Fabian 1983 seine bemerkenswerte Studie Time and the Othef mit dem gleichen Titel wie Lévinas, allerdings ohne sich Rechenschaft abzulegen. Nebenbei bemerkt: Auch Gayatri Spivak kommt mit einiger Verspätung am Hauptplatz d'Alterité an. Sie nimmt sich Lévinas Begriff des Ganz-Anderen, „le tout-autre" vor, genauer Lévinas Warnruf, dass das Ganz-Andere nicht zum Selben/Eigenen werden kann. Lévinas fuhrt in Le temps et l'autre aus, dass der Andere die Zukunft sei, die Beziehung zum Anderen die Beziehung zur Zukunft sei. Und er definiert den Anderen nicht durch die Zukunft, sondern die Zukunft durch den Anderen, da gerade die Zukunft des Todes in seiner totalen Andersheit bestehe.3 Dass 1 2 3

Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Outside in the Teaching Machine, New York: Routledge 1993, S. 212. Der vollständige Titel lautet: Time and the Other: How Anthropology Makes its Object, erschien in New York: Columbia UP. Vgl. Emmanuel Lévinas: Le temps et l'autre, Paris: PUF 1979, S. 63.

Alterität" von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

67

das Andere, das wir erzählen, begreifen, beherrschen -argumentiert Lévinas- sich mit demselben über einen Mechanismus, dem „Spiegelstadium" -der Situation faceà face avec autruf- vereinigt und festigt. Gemeint ist das von Jacques Lacan ausgearbeitete und formulierte Konzept des stade du miroir. Emmanuel Lévinas' Warnung - s o Gayatri Spivak- knüpft sich an die Forderung, dass vor „Ontologie" oder „transzendentaler Phänomenologie" eine Ethik der Ethik des tout autre vorzuschalten ist.5 Denkt man Lévinas Diskurs über den Anderen zu Ende, wie es in der Neulektüre seiner Arbeiten in den 80er Jahren vorgeschlagen wurde,6 fordert er eine radikale Großzügigkeit im Moment der Annäherung in dem Dasselbe sich auf das Andere zu bewegt. Weitergedacht fordert es eine Undankbarkeit vom Anderen.7 Gayatri Spivaks Überfliegen der Place de l'Alterité 1989, anlässlich der Aufforderung den Begriff zu kommentieren, macht einzig Halt beim Bereich subalternity. Sie definiert ihn als Bereich, der (noch) nicht von der Dynamik von Politik, politischer Kultur, Kulturpolitik, Kultur für Politik bestimmt ist. Subalternen Subjekten wird, so das Hauptargument ihrer Kritik an avancierten westlich-philosophischen Diskursen, keine Subjektpositionen zugestanden. In ihrer Arbeit situiert Spivak subalternity als arena of judgement or testing, weil, so argumentiert sie, weder die Logiken parlamentarischer Demokratie, noch sozialistischer Planung, noch die kultureller Identität greifen. Sie beschreibt den Bereich subalternity so: This space is not „uncontaminated" by the West, and certainly not „apart" by collective social choice. Although cultural or political institutions, by definition, do not give them any support for them to be constituted as social agency of judgement, for my own work. [...] Therefore I will say no more than that is for us a space of anxiety. It is also a space of a genuine aporia of history. Both culturalism and the politics of the nation-state will transform this ambiguous place.8

Im Folgenden geht es zum einen um eine Genealogie des philosophischen Begriffs Alterität, eine unmittelbare Auseinandersetzung und Beschreibung der einzelnen Etappen, bzw. konkret um die Frage: Was ist Alterität Mitte der 40er Jahre? Dabei lege ich zum anderen das Gewicht auf das Mittelbare: Im Heranziehen anderer Debatten wird eine Metaebene der Alteritätsdiskurse eingeführt. Jean Paul Sartre hat drei Jahre vor Emmanuel Lévinas mit L'être et néant, seinem ersten philosophischen Buch, eine Phänomenologie des Anderen und der Alterität entwickelt. Sie konstituiert sich auf der Ebene der Individuen im Rahmen exi4 5 6

7

8

Lévinas 1979, S. 68. Spivak 1993, S. 212. Vgl. die Beiträge von u.a. Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida, Luce Irigaray in Rereading Lévinas 1989, hrsg. von Robert Bernasconi; Simon Critchley, Bloomington: Indiana UP. Vgl. Jacques Derrida: „At this very moment in this work here I am", in: Re-reading Lévinas, 1989, S. 11-48; hier: S. 46. Spivak 1993, S. 213-214.

68

Ellen Spielmann

stenzialistischer Philosophie. Dazu hat er die Hegeische Dialektik von Herr und Knecht zugespitzt und neu formuliert. Die Beziehung von Herr und Sklave ist eine Konstante in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts: Durch das Begriffspaar „mâitre et esclave" werden Friedrich Hegels „Herr und Knecht" und Friedrich Nietzsches „Herr und Sklave" vereinheitlicht, so dass eine doppelte Begriffsklaviatur entsteht mit deren Hilfe der eine gegen den anderen ausgespielt wird. Sartre tritt für ein starkes Subjekt ein, das zur Erkenntnis befähigt und mit einem Bewusstsein (Geist) ausgestattet ist, den Anderen mit zudenken. Was ist Alterität 1943 für Sartre? Er argumentiert universalistisch, dass der Andere immer eine Drohung, Infragestellung meiner Erfahrung darstelle, ausgestattet sei mit der Macht, mich zu objektivieren und mich zur Selbstobjektivierung zu bringen. Selbstverständlich ist diese Dynamik zwischen dem Selben und dem Anderen reziprok zu denken.9 Sartres strenge Ontologie trennt zwischen Bewusstsein und Körper, sie bewegt sich ganz in den Grenzen der Metaphysik. Zweifellos ist Sartre ein Klassiker und insofern zu zelebrieren, was im Jahr 2000 mit einem halben Dutzend neuer Publikationen über ihn auch tatsächlich geschieht, allem voran mit Bernard-Henri Lévys Le siècle de Sartre, der zum Bestseller wurde.10 Gleichzeitig stimme ich Lektüren zu, die am Ende von L'être et néant konstatieren, die Ontologie Sartres für misslungen zu halten: denn selbst auf der letzten Seite des Buches wird man noch nicht wissen, was das Sein und was das Nichts ist und wie sie zueinander stehen.11 Sartres Ontologie veranlasst Octavio Paz das Konzept der otredad mit El laberinto de la soledad (1950)12 in die spanische Sprache einzuführen. Mitte der 50er Jahre bringen Intellektuelle in Buenos Aires die Zeitschrift „Contorno" auf den Existenzialismus-Kurs Sartres,13 um nur zwei Beispiele aus Lateinamerika zu nennen. Mitte der 40er Jahre dient, so lässt sich resümieren, die existenzialistische Hegelinterpretation zur Erweiterung der Vernunft und des Verständnisses darüber, „was in uns und in Anderen vor und über der Vernunft liegt" - wie es Maurice MerleauPonty formuliert.14 Simone de Beauvoir wird meist mit Sartre auf einer Linie gesehen. Doch unterscheidet sich ihr Alteritäts-Konzept von dem Sartres. Worin genau liegen die Dif9

Jean Paul Sartre: L'être et néant, Paris: Gallimard, Troisième Partie „Le Pour-autrui", 1949, S. 275-503. 10 Das Buch erschien 1999 in Paris bei Grasset. 11 Vincent Descombes: Le même et l'autre. Quarante-cinq ans de philosophie fraçaise (19331978), Paris: Ed. Minuit 1986, S. 66. 12 Paz' Klassiker wurde erst 1970 ins Deutsche übersetzt. 13 Vgl. Contorno, selección D. Viflas, I. Vinas, J.J. Sebreli y otros, ausgewählt von Carlos Mangone u. Jorge Warley, Buenos Aires: Centro Editor de América Latina. 14 Vgl. Descombes, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe, Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt /M.: Suhrkamp 1981, S. 124.

,.Alterität " von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

69

ferenzen? Simone de Beauvoir nimmt die Kategorie des Anderen auf, erklärt sie wie Sartre- zur Kategorie des Bewusstseins: das Andere fundiert menschliches Bewusstsein. Ihr großes Verdienst ist, und da geht sie weit über Sartre hinaus, Alterität in seiner kulturkritischen Funktion zu verstehen. Das geschieht im Rahmen ihrer Analysen über das Trennende -und nicht die Differenz- der Geschlechter, über das Verhältnis von Macht und Unterdrückung. Für Simone de Beauvoir existieren Frauen als Andere. Sie ist die erste, die Emmanuel Lévinas Hierarchisierung und Festschreibung der Geschlechter-Asymmetrie kritisiert, wie es nach ihr Luce Irigaray, Jacques Derrida und Gayatri Spivak taten. Gegen Lévinas fuhrt sie ins Feld: Je suppose que M. Lévinas n'oublie pas que la femme est aussi pour soi conscience. Mais il est frappant qu'il adopte délibérément un point de vue d'homme sans signales la réciprocité du sujet et de l'objet. Quand il écrit que la femme est mystère, il sous-entend qu'elle est mystère pour l'homme. Si bien que cette description que se veut objective est en fait une affirmation du privilège masculin.15 Zwar sind Frauen in der Definition von de Beauvoir -wie oft bemerkt wurde- das Negativ der Männer, der Mangel. Wesentlich für das Verständnis ist, dass das Nichts in Gestalt der Negativität bei französischen Hegelianern anders als in Deutschland, die Gestalt der Freiheit bedeutet. Doch nimmt die Autorin bei der Geschlechtszuschreibung eine entscheidende Verschiebung vor: Für de Beauvoir bezeichnet Geschlechtsidentität nicht ein „substantiell Seiendes", sondern eine kulturell und geschichtliche Größe. Die Interpretationen von Simone de Beauvoirs Arbeiten folgen vorwiegend der einen Linie: Sie trete fur das Recht der Frau ein, ein existenzialistisches Subjekt zu werden und für ihre Einschließung in eine abstrakte Universalität. Doch beinhaltet ihre Position auch eine grundlegende Kritik an der Entleiblichung des abstrakten maskulinen Erkenntnissubjekts, wie Judith Butler 1986 in „Sex and Gender in Beauvoirs's Second Sex"16 bemerkt. De Beauvoir reformuliert die HerT-Knecht-Dialektik unter den Vorzeichen der nicht wechselseitigen Geschlechter-Asymmetrie. Simone de Beauvoir betont gleich zu Beginn von Le deuxième sexe, der weibliche Körper müsse für die Frauen „Situation" und „Instrument" der Freiheit sein - und nicht eine definierende und einschränkende Wesenheit. Doch ist „Situation" hier im Sinn des Existenzialismus zu begreifen. Simone de Beauvoirs Theorie der Leiblichkeit reproduziert letztlich den Geist-Körper Dualismus, trotz des Versuchs zu einer Synthese der Begriffe zu kommen. Gayatri Spivak beurteilt Simone de Beauvoirs Versuch, Leiblichkeit -geknüpft an die Figur der Mutter- als Instrument einzusetzen, positiv, um diesen Schritt dann zu dekonstruieren. In dem Essay „French Feminism Revisited" schreibt Spivak: 15 16

Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe I, Paris: Gallimard 1961, S. 16. In: Yale French Studies, Simone de Beavoir: Witness to a Century, Nr. 72, Winter 1986,

S. 35-49.

70

Ellen Spielmann

I read with sympathy, though against the grain, Beauvoir's figure of the Mother provides an asymmetrical site of passage with the possibility of a strong framing of propriation that has been protected from a philosophical anthropology, yet not preserved in transcendental talk. (Spivak 1993: 151)

In Le deuxième sexe wird 1949 in einer Fußnote die Arbeit eines gewissen Dr. Lacan erwähnt. Seine Theorie der Konstituierung des Subjekts -bekannt als das „Spiegelstadium"-, die er erstmals 1936 auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Marienbad vorgetragen hatte, war nur einem kleinen Kreis französischer Intellektueller bekannt, folglich ein Geheimtipp. Ende der 40er Jahre tritt ein Psychiater und Arzt aus Martinique auf den Plan: Frantz Fanon. Er erweitert die Hauptstraße de l'Alterité hin zu einem analytischen Modell kolonialer Erfahrung. Schon mit Peau noire, masques blancs (1952) überflügelt er seine französischen Meisterdenker. Sartre geht im Vorwort zu Les damnés de la terre (1958) so weit zu sagen, Fanon führe uns den Westen vor, entblöße die westliche Zivilisation wie bei einem striptease.17 Was ist Alterität bei Frantz Fanon? Wie operiert er mit dem Begriff? Er überträgt die von Simone de Beauvoir beschriebene Trennung und Asymmetrie der Geschlechter auf die Rassenbeziehungen. Der entscheidende Schritt ist: Er wandelt das Konzept des Anderen -als Bewusstsein bildend im Sinne von Sartre und de Beauvoir- mit Hilfe des psychoanalytischen Instrumentariums ab, um das koloniale Subjekt zu beschreiben und zu verorten. Fanon stützt sich bekanntermaßen auf Lacans „Spiegelstadium", er schreibt: Wenn man diesen von Lacan beschriebenen Prozess verstanden hat, besteht kein Zweifel mehr daran, dass der wahre andere des Weißen der Schwarze ist und bleibt. Und umgekehrt. Doch er wendet gleichzeitig ein: Nur, wird beim Weißen der andere auf der Ebene 18 des Körperbildes wahrgenommen, absolut als das Nicht-Ich.

Fanon verweist auf die Grenzen psychoanalytischer Kategorien, wenn er sie anwendet und gleichzeitig das Gewicht historischer und ökonomischer Realitäten bei der Diagnose der kolonialen Situation zur Sprache bringt. Wie bei Simone de Beauvoir in Bezug auf die Frauen ist bei Fanon in Bezug auf die Rasse der Körper als „Situation" und „Instrument" das normative Ideal. In seiner Analyse des Kolonialismus schlussfolgert er, dass der Leib als Instrument der Freiheit eingesetzt ist. Fanon setzt Freiheit mit Bewusstsein gleich, ausgestattet mit der Fähigkeit, Zweifel auszudrücken. Er nimmt die Irrtümer seines Meisters in den Blick und bemerkt: Jean Paul Sartre hat vergessen, dass der Neger anders an seinem Körper leidet als der Weiße. [Er fügt hinzu:] Auch wenn Sartres Studien über die Existenz des anderen richtig bleiben (insofern ja das Sein und das Nichts entfremdetes Bewusstsein beschreiben), so erweist sich doch ihre Anwendung auf ein Negerbewusstsein als falsch. Weil der Weiße nicht nur der andere ist, sondern der -reale oder imaginäre- Herr. (Fanon 1985: 100) 17 18

Frantz Fanon: Les damnés de la terre, Paris: Maspero 1962. Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 178.

,.Alterität " von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

71

Fanon prägt am Ende von Peau noire, masques blancs den Ausdruck der , Alterität des Sprungs". Damit greift die Problematik „gespaltenen Bewußtseins", des double consciousness auf, die von dem schwarzen Intellektuellen William. E.B. Du Bois 1903 formuliert wurde: [it] is a peculiar sensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one's self through the eyes of others, of measuring one's soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity. One ever feels this twoness, - an American, a Negro: two souls, two thoughts, two unreconciled strivings.19 Gemeint ist die double-bind-SitazAion schwarzer Amerikaner. Du Bois' Antwort ist eindeutig: Dem Druck, sich zu assimilieren -to bleach his Negro soul- widersteht er. Das hält auch Fanon fur die richtige Strategie. Er antizipierte heutige Überlegungen im Hinblick auf Kultur als „performative field and in his focus on the body, which is at the center of his ideas of political agency and cultural practise".20 Von großem Interesse fur die heutigen Debatten ist seine Haltung zur Rolle der Gewalt in der Politik der Dekolonisierung. Fanon erklärt 1958 zum Zeitpunkt des Algerienkriegs: „Le colonialisme français est une force de guerre, et il faut l'abattre par la force. Nulle diplomatie, mil génie politique, nulle habilité ne pourrant en venir à bout".21 Diese Auffassung löst unter „main-stream"-Theoretikem der Alterité Irritationen aus. Tzvetan Todorov beispielsweise betrachtet das „heilende" Moment von Gewalt-Reaktionen und Rache mit Argwohn. In La conquête de l'Amérique. La question de l'autre (1982) bemerkt er: Der Kolonialismus ist abgeschafft. [...] Zahlreiche Racheakte wurden und werden immer noch an den Bürgern der früheren Kolonialmächte verübt, obwohl deren einziges persönliches Verbrechen oft nur darin besteht, der jeweiligen Nation anzugehören; die Engländer, die Amerikaner, die Franzosen werden also durchaus von ihren ehemaligen Kolonisierten für kollektiv verantwortlich gehalten. [...] Würde Europa seinerseits von den Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerika kolonisiert (davon sind wir weit entfernt, ich weiß), so wäre dies vielleicht eine Art süßer Rache, aber als die ideale Lösung könnte ich es kaum betrachten. [...] Seit 350 Jahren [...] hat sich Westeuropa [...] bemüht, den anderen zu assimilieren, die äußere Alterität zu beseitigen, und das ist ihm auch weitgehend gelungen. Seine Lebensweise und seine Wertvorstellungen haben sich auf der ganzen Welt ausgebreitet [...] die Kolonisierten haben unsere Sitten übernommen und sich bekleidet. Dieser außergewöhnliche Erfolg ist unter anderem einem spezifischen Merkmal unserer Zivilisation zu verdanken, das man lange Zeit für das Merkmal des Menschen schlechthin gehalten hatte, bis dann sein häufiges Auftreten bei den Abendländern zum 19

William E.B. Du Bois: „The Souls of Black Folk" (1903), in: Three Negro Classics. New York: Avon Books 1965, S. 213-390; hier: S. 215. 20 Vgl. Homi Bhabha: „Translator Translated", Interview von W.J.T. Mitchel mit Homi Bhabha, in: Artforum, März 1998, S. 115. 21 Der Beitrag erschien erstmals in: El Mondjamid, Nr. 21, 1. April 1958. Vgl. Frantz Fanon: Pour la Révolution Africaine. Écrits politique, Paris: Maspero 1969, S. 101.

72

Ellen Spielmann

Beweis für ihre naturgegebene Superiorität wurde: Es ist paradoxerweise die Fähigkeit der Europäer, die anderen zu verstehen.22

In der Philosophie, der sozialen Anthropologie der 40er und 50er Jahre sowie im Bereich der Psychoanalyse fungiert das Andere als Grenze, um Vernunft und Erkenntnisse, das Irrationale zu verstehen zu erweitern. Die Erfahrung von Alterität der Frauen -wie wir angeführt haben-, des Primitiven, des Verrückten, des Wahnsinnigen, der die Grenze der Vernunft überschreitet oder des Wilden, der ihr vorausgeht, werden erforscht. Erst die Generation von 1960 erteilt endlich den Integrationsbemühungen des Anderen in erweiterte Vernunft eine Absage, bemerkt Vincent Descombes.23 Die bisherigen Versuche, das Heterogene aufzuheben, dem Unsinnigen Sinn zu geben, das Andere in die Sprache des Selben zu übersetzen, erfahrt eine schockartige Umorientierung. Michel Foucault tritt auf die Place de l'Alterité und schreibt eine Geschichte der Psychiatrie, die auf den Punkt gebracht lauten kann: Der Psychiater redet vom Wahnsinnigen, der Wahnsinnige aber redet nicht. Das Phänomen des Wahnsinns hegt -wie Foucault behauptet- in der Kette von Teilungen der Vernunft an deren Ursprung die zwischen dem Selben und dem Anderen liegt.24 Mit der epistemologischen Wende, die mit der Einfuhrung poststrukturalistischer Diskurstheorien insbesondere Foucaults einhergeht, stellt sich die Problematik der Alterität auf neue Weise. Die Wege sind eine Revision der Konzeption des Subjekts und die Problematik der Repräsentation des Anderen. Jacques Derridas dekonstruktivistische Lektüre von Emmanuel Lévinas in „Violence et Métaphysique" nimmt die Phänomenologie und Ontologie Martin Heideggers und Edmund Husserls in den Blick, die Alterité ignorieren. Die Konsequenz für Lévinas Ethik, die er nicht kritisiert, sondern deren Funktionieren bzw. Nicht-Funktionieren er vorfuhrt, ist eine zweifache: La conséquence en serait double, a) Ne pensant pas l'autre, elles n'ont pas le temps. N'ayant pas le temps, elles n'ont pas l'histoire. L'altérité absolue des instants, sans laquelle il n'y aurait pas de temps, ne peut être produite -constituée- dans l'identité du sujet ou de l'existant. Elle vient au temps par autrui. Bergson et Heidegger l'auraient ignoré, Husserl encore davantage, b) Plus gravement, se priver de l'autre (non par quelque sevrage, en s'en séparant, ce qui est justement se rapporter à lui, le respecter, mais en l'ignorant, c'est-à-dire en le connaissant, en l'identifiant, en l'assimilant), se priver de l'autre, c'est s'enfermer dans une solitude... et réprimer la transcendance éthique. En effet, 22

Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 290; hier: S. 292. 23 Descombes 1981, S. 130. Zu erwähnen ist, dass meine kleine Geschichte der Alterité strukturalistische Positionen ausblendet. Im Strukturalismus wird der Ursprung des Sinns nicht mehr wie in der Phänomenologie im Individuum gesucht, sondern in der Sprache selbst, dem symbolischen Band zwischen Subjekt und Signifikant. 24 Michel Foucault: Folie et déraison, Paris: Plön 1961; ders.: Histoire de la folie à l'âge classique, Paris: Gallimard 1972.

,.Alterität " von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

73

si la tradition parménidienne -nous savons maintenant ce que cela veut dire pour Lévinas- ignore l'irréductible solitude de Inexistant", elle ignore par la même le rapport à l'autre.25

Nachdem ich nun weitgehend Vorgehen und Positionen der einzelnen Etappen referiert habe, wäre zu zeigen, dass ebenso interessant wie ihre Projekte der Archäologie des Wissens, der Genealogie und der Dekonstruktion Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre, das ist, was die vermeintlichen, Anderen" mit ihnen gemacht haben. Angelpunkt ist die Öffnung der Diskurstheorien für die Stimmen derjenigen, die als die Anderen konstituiert wurden. In erster Linie denke ich an die postmoderne Anthropologie, beispielsweise die Arbeiten von James Clifford, die 1984 aus dem Seminar Writing Culture von Santa Fé hervorgegangen sind. Es findet ein Prozess der Selbstethnologisierung statt. Im Zuge der „Krise der anthropologischen Autorität" sah sich der Beobachter veranlasst, beim Beobachten auch sich selbst als Beobachter zu sehen.26 Ob in Deutschland das Malheur der Volkskunde, aus der die empirische Kulturwissenschaft hervorgegangen ist, überwunden werden kann, ist nach wie vor fraglich. Obwohl in den 60er Jahren eine Abgrenzung und Revision der Interpretationsmodelle traditioneller Volkskunde begann und damit die dringliche kritische Überprüfung der Wissenschaftsdisziplin vor allem wegen ihrer Rolle als tragende Kraft der Politik und Kultur des Nationalsozialismus -immerhin hatte sie den Volksbegriff der Nazis gewissermaßen produziert- blieb sie lange Zeit auf der Ebene ideologiekritischer Analysen stehen. Die notwendige Neubestimmung von Objekt und Feld, einschließlich der Revision methodologischen Vorgehens, etwa die Trennung von beschreibender Wissenschaft auf der einen Seite und beschriebene Realität auf der anderen Seite, fand nicht bzw. nur in einzelnen Arbeiten statt. Unter diesen Vorzeichen war an einen Anschluss an die internationalen Debatten, geschweige denn an die Herausbildung und Institutionalisierung der Disziplin Kulturwissenschaften nicht zu denken. Die bereits angeführte Entdeckung US-amerikanischer postmoderner Anthropologie, „Kultur als Text" zu verstehen und damit die Schreibpraxis und die Konstituierung des Anthropologen einzubeziehen, fand in Deutschland Ende der 80er Jahre statt, zu einem Zeitpunkt als die hermeneutische Methode in den USA schon im Kreuzverhör stand. Das Problem liegt nicht allein in dem verspäteten Interesse an internationalen Debatten, auch nicht in der Frage der Repräsentation als vielmehr in der Aufarbeitung der Geschichte der Disziplin und ihrer Methoden, einem Theoriedefizit. Der beschriebene Paradigmenwechsel in diskurstheoretischen Ansätzen zur Öffnung für die Stimmen deijenigen, die als die Anderen konstituiert wurden, zu kommen, hat

25

Jacques Derrida: „Violence et métaphysique", in: ders.: L'écriture et la différence, Paris: Seuil 1967, S. 135-136. 26 Vgl. James Clifford/George Marcus (Hg.): Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: UP 1986.

74

Ellen Spielmann

nur zum Teil stattgefunden. Eklatantes Beispiel ist das nach wie vor vorherrschende Verständnis und Missverständnis bei der Aneignung und Übersetzung der philosophischen Kategorie Alterité. Le même et l'autre mit „das Eigene und das Fremde" zu übersetzen -wie es in Deutschland im akademisch-universitären Feld mit wenigen Ausnahmen fast durchgängig vorkommt- verkennt so ziemlich das Dialogische der Alterität. Ein besonderes Feld innovativer Analyse sind die Theoriebildungen der kolonialen Diskurse. Das Schlüsselwort postkolonialer Theorie ist das Andere und Alterität. Ihr wichtigster Ingenieur ist Edward Said. Er hat mit Orientalism (1978) ein Analysemodell entwickelt und gezeigt wie Selbstbeschreibung, -definition durch die Übernahme von Stereotypen westlicher Zivilisation funktioniert. Der Orient als Europas „cultural constestant" und „one of it's deepest and most recurring images of the Other".27 Said fuhrt in seinen Untersuchungen über imperiale Vergangenheit und postimperiale Gegenwart mit Foucaults theoretischem Modell vor, wie Wissen und Macht ineinander greifen und wie in dieser engen Austauschbeziehungen imperiale Kontrolle und europäische Expansionspolitik erfolgreich funktioniert. Er verknüpft Foucaults theoretischen Ansatz mit der von Sartre neu formulierten Hegeischen Herr-Knecht-Beziehung, die in die Dichotomie Desselben und des Anderen übertragen wurde. Said argumentiert, dass die koloniale Beziehung zwischen Kolonisierer und Kolonisiertem, dem marginalen Anderen, eine nicht wechselseitige hierarchische Beziehung ist: Wissen bzw. Konstruktion von Wissen über den Anderen ermöglicht Repräsentation, Aneignung des Anderen und verschafft und legitimiert das Recht willkürlicher Bestimmung und Kontrolle - j e nach eigenen ökonomischen und (geo-)politischen Interessen- diese gegenüber dem Anderen durchzusetzen. In Culture and Imperialism (1993) schreibt er: In time, culture comes to be associated often aggressively, with the nation or the state; this differentiates „us" from „them", almost always with some degree of xenophobia. Culture in this sense is a source of identity, and a rather combative one at that, as we see in recent „returns" to culture and tradition. These „returns" accompany rigorous codes of intellectual and moral behavior that are opposed to the permissiveness associated with such relatively liberal philosophies as multiculturalism and hybridity. In the formerly colonized world, these „returns" have produced varieties of religious and nationalist fundamentalism.28

In der von Edward Said begründeten Disziplin lassen sich die Arbeiten von Homi Bhabha situieren.29 Die Verwendung der Begriffe Other/Alterity erlebt zwischen zwei Schlüsseltexten „The Other Question" (1983) und Post-colonial Criticism 27 28 29

Edward Said: Orientalism, New York: Vintage Books, 1979, S. 1. Edward Said: Culture and Imperialism, New York: Knopf, 1993, S. XIII. Vgl. Ellen Spielmann: „Mimikry Man in a Hybrid Age? A talk with Homi Bhabha", Berlin 7.6.1997, in: Nana Badenberg; Florian Nelle; Ellen Spielmann (Hg.): Exzentrische Räume, Festschrift fit r Carlos Rincön, Stuttgart: Akademischer Verlag 2000, S. 433-438.

Alterität" von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

75

(1992) einen Wandel. Im Ersten ist Alterity als Prozess an ein Mimikry Konzept geknüpft, das aus seiner Lacan-Lektüre hervorgeht. Der Versuch einer Positionsverschiebung und Wirkung des kolonialen Subjekts durch die Bewegung des Wiederholens, der Iteration und Abwandlung. Denn, so argumentiert Bhabha, „the colonial stereotype is a complex, ambivalent, contradictory mode of representation, as anxious as it is assertive, and demands not only that we extend our critical and political objectives but that we change the object of analysis itself. 3 0 Im zweiten Text spielt der Prozess der Alterity eine entscheidende, aber modifizierte Rolle. Er definiert die postkoloniale Perspektive als zwingend und notwendig: „The postcolonial perspective forces us to rethink the profound limitations of a consensual and collusive 'liberal' sense of cultural community". Welche Rolle spielt Alterität in postkolonialer Perspektive? Bhabha schreibt Alterität Hebelwirkung zu, weil -so argumentiert er-: „It insists that cultural and political identity are constructed through a process of alterity". Die entscheidende Gewichtung seiner Ausführung ist folgende: Questions of race and cultural differences overlay issues of sexuality and gender and overdetermine the social alliances of class and democratic socialism. The time for 'assimilating' minorities to holistic and organic notions of culture value has dramatically passed. The very language of cultural community needs to be rethought from a post-colonial perspective.31

Homi Bhabha öffnet mit dieser Akzentverschiebung den Weg um „nationale Alteritäten", „Migration" im Zeichen der De-territorialisierung zu denken. Es scheint als ob die analytische Kategorie Alterität -wie auch Differenz- mit der neuen Etappe kultureller Globalisierung seit Mitte der 80er Jahre an Gewicht verliert. Um Phänomene, beispielsweise „Travelling Culture" im Zuge zunehmender Migration, Internationalisierung der Kulturen genauer zu beschreiben und zu analysieren, sind neue Begriffe auf den Plan getreten. Das aktuelle Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse kultureller Prozesse umfasst Kategorien, Konzepte und Modelle: Übersetzung, Hybridisierung, Recycling und Anthropophagie. Mit ihrem metaphorischem Charakter können sie dazu dienen die Formen der Zirkulation, Aneignung und den Konsum von Kultur zu bestimmen.32 In Arbeiten Ende der 90er Jahre tritt Alterität im Kontext von Fragen der Zeitlichkeit, Geschichte und Erinnerung auf den Plan. 30 31

32

Homi Bhabha: „The Other Question", in: Screen 24, Nr. 6, 1983, S18-35; hier: S.22. Homi Bhabha in: Stephen Greenblatt; Giles Gunn (Hg.): Redrawing the Boundaries: The Transformation of English and American Literary Studies, New York, MLA, 1992, S. 437465; hier: S. 441. Am 26.-27.6.1998 fand in Berlin unter der Leitung von Prof. Carlos Rincón vom Lateinamerika-Institut der FU-Berlin ein Internationales Symposium zum Thema, „Kulturaneignung heute: Recycling, Kannibalismus, Hybridisierung, Translatio" statt. Einige der Überlegungen und Thesen dieses Beitrags sind der Vorbereitung und Durchfuhrung des Symposiums verdankt.

76

Ellen Spielmann

Johannes Fabian thematisiert 1999 in seinem Essay „Remembering the Other: Knowledge and Recognition in the Exploration of Central Africa" Gedächtnis und Alterität, genauer die Konstruktion von Alterität. Ihn interessiert die Rolle des Erinnern bei der Wissensproduktion über andere Kulturen und Gesellschaften.33 Bleibt die Frage nach der Alteritätsdebatte in Lateinamerika. Sie konzentriert sich auf die Prospero und Caliban Debatte, die von Roberto Fernandez Retamar aufgenommen wurde. 1971 im Zuge der post-revolutionären Krise, als die Identität der Kubaner massiv in Frage stand, ausgelöst durch die Padilla Affare, nahm sich Fernández Retamar die Geschichte von Kolonisierer und Kolonisiertem, von Prospero und Caliban zur Lösung des Problems -zur Schaffung eines „wir"- wieder auf. Fernández Retamar bleibt in seiner Neu-Lektüre in der Dichotomie Kolonialisierung/Anti-Kolonialisierung bzw. Imperialismus/Anti-Imperialismus, der Andere sind die USA, verhaftet. Der Verdienst hegt in der Umkehrung der Oppositionsbeziehung von Prospero und Caliban zu einer Aufwertung der eigenen Kultur zu kommen. In „Nuestra América y Occidente" (1976) unterstreicht er die Idee, dass die wahren Lateinamerikaner „keine Europäer sind" und er erklärt: es decir „occidentales" [...] Los grandes enclaves indígenas de nuestra América [...] no requieren argumentar esa realidad obvia: herederos directos de las primeras víctimas de lo que Martí llamó „civilización devastadora", sobreviven a la destrucción de sus civilizaciones como pruebas vivientes de la bárbara irrupción de otra civilización en estas tierras.34

Bei der Verkehrung der Seiten bleibt Fernández Retamars Alteritätsbegriff auf der bloßen Stufe der Reproduktion des Anderen. Dazu beziehen seine auf das nationale festgeschriebenen Reflexionen Fanons psychoanalytisches Konzept nicht ein. Calibán y otros ensayos. Nuestra América y el mundo (1976) ist der einzige in Umlauf gebrachte und in den USA 1989 mit einer Einführung von Fredric Jameson übersetzte Text, der zu Recht als eindimensional anti-westlicher Beitrag zur Alteritätdebatte kritisiert wird, auch wenn er den Begriff „postoccidentalismo" einbringt. Jamesons Interesse für Literatur aus der so genannten „Dritten-Welt" geht auf 1986 zurück, als Jameson kurzerhand alle Werke dieser Literatur, in grober Vereinfachung, als nationale Allegorien gelesen hat.35 Im Vorwort zu Fernández Retamars Caliban wird Jamesons Strategie des sich Einschreibens in die Debatte offenkundig. Es dient dazu, Caliban zu einem Text der Artikulation von kultureller Differenz zu machen und gleichzeitig, sich zum Postkolonialismustheoretiker zu verwandeln. Überlegungen in eine andere Richtung kommen von Seiten des Befreiungstheologen Enrique Dussel. Er unterstreicht die Notwendigkeit, einen „otro latinoamericano" zu

33

Erschienen in: Cultural Inquiry, Vol.26, Nr. 1, 1999, S. 49-69; hier: S. 50. Erschienen in: Casa de las Americas, Nr. 98, S. 36-57; hier: S. 51. 35 Fredric Jameson: „Third World Literature in the Era of Multinational Capitalism", in: Social Text, Nr. 15, 1986, S. 65-88. 34

,.Alterität " von Sartre bis Bhabha: ein begriffsgeschichtliches Surfen

77

postulieren und argumentiert, dass diese Erfordernis ethischen Gründen entspricht.36 Das Problem besteht darin, dass nicht präzisiert wird, welches die konkreten historischen Voraussetzungen für die Agens dieses „otro" sind und wie die soziale Realisierung aussehen soll. Darüber hinaus gibt es einen weißen Fleck in der Konzeption von Dussels theologischer Warte aus: Die Frauen als ,ändere" verschwinden von jeglichem Horizont.37 Die offensichtliche Lücke bzw. Verspätung in der Alteritätsdebatte38 in Lateinamerika lässt sich mit der Stärke und Präsenz des Konzepts der „mestizaje" erklären. Mestizaje als Akt, den „indio" als ,»Anderen" aufzuwerten, indem er in Synthese mit dem Spanier, dem anderen Anderen auf eine Stufe gestellt wird. Die Synthese und Aufwertung der eigenen, nationalen Kultur blockierte Alterität zu durchdenken und konzeptualisieren. Im Zuge der neuen Etappe kultureller Globalisierung haben sich Veränderungen und Verlagerungen in der Debatte vollzogen. Markant wird dies auf dem Gebiet der Kulturtheorien zu Lateinamerika in der der Versuch neuer Kartographien unternommen wird.39

36

Enrique Dussel: Caminos de la liberación latinoamericana, Bd. 2: Teología de la liberación y ética, Buenos Aires: Latinoamérica Libros 1988; Gilberto Pérez Villacampa: „Evolución de la metafísica de la alteridad de Enrique Dussel: de la profecía al humanismo real", in: Revista cubana de ciencias sociales, Nr. 17, 1974, S. 62-70. 37 Marta Zapata: „Filosofia de la liberación y liberación de la mujer", in: Debate Feminista, Vol. 16, 1997, S. 69-97. Eine ausfuhrlichere Fassung des Beitrags erschien unter dem Titel Filosofia de la liberación y liberación de la mujer. La relación de los géneros en la filosofia ética de Enrique Dussel am Lateinamerika Institut, Freie Universität Berlin (ohne Datum). 38 1996 erscheint das Themenheft „Otredad" der Debate Feminista, das der Frage nachgeht: „cómo asume al otro, al diferente, al extraño", Vol. 13, April 1996, S. IV. 39 Vgl. Roman de la Campa: „Latinoamérica y sus nuevos cartógrafos: Discurso poscolonial, diásporas intelectuales y enunciación fronteriza", in: Mabel Morana (Hg.): Crítica cultural y teoría literaria latinoamericana, Revista Iberoamericana, Nr. 176-177, 1996, S. 697-717.

Joachim Fischer (Dresden)

Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien 1. Massenmedien

undAlterität

Hinter den Kategorien „Massenmedien und Alterität" stecken sozialtheoretische Konzepte. Die gilt es hier aufzudecken - in der Absicht, der ambitionierten kulturwissenschaftlichen Forschung entlang dieser Leitbegriffe durch eine minimale Revision der Sozialtheorie einen Effet zu verleihen. Wenn man nämlich die Sozialtheorie systematisch um die Figur des Dritten erweitert, können Massenmedien und Alterität bzw. Massenmedien auf Alterität hin anders beobachtet werden als in ihren gängigen dyadischen Rekonstruktionen. Dabei ist mit dem Dritten ausdrücklich nicht „das" Dritte (Sprache, Diskurs, System etc.) gemeint, sondern „der" Dritte als Figur. „Massenmedien" sind sozialtheoretisch ein Fall menschlicher Kommunikation. Kommunikationstheoretisch erscheint klar, dass sich in diesem Fall -im Unterschied zur face-to-face- Situation unter Anwesenden- abwesende Menschen durch Kunstgriffe der Technik einander erreichbar machen und sich in dieser Mediatisierung verändern. Die „Schrift" war und bleibt der exorbitante Fall einer Medialität, weil gegenüber dieser abstrakten Vermitteltheit alle neueren Massenmedien lautliche Vernehmbarkeit (Rundfunk) und partielle Sichtbarkeit (Televisión), d.i. die Leibkörperlichkeit unter Bedingungen der Abwesenheit zugänglich machen und in der Tendenz eindeutig - gegenüber der Schrift - um die Simulation der Präsenzkommunikation ringen. Für die „Realität der Massenmedien" „entscheidend ist auf alle Fälle: dass keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfanger stattfinden kann" (Luhmann 1995: 6). Gleich ob nun dieser Prozess als Informationsübertragung und -Verarbeitung auf der Basis eines gemeinsamen Codes, oder bei größerem Spielraum des Rezipienten- als jeweilige Konstruktionsleistung von Sender und Hörer, Autor und Leser verstanden wird, immer wird das massenmediale Phänomen der Verbreitung und Vervielfältigung elementarer Botschaften auf eine kommunikative Minimalkonstellation zurückgeführt: Sender -Botschaft/CodeEmpfänger unter Bedingungen der Abwesenheit (Krippendorf 1994). Sozialtheoretisch ist die Medientheorie hinsichtlich des elementaren Figurenpersonals um dyadische Modelle gebaut. Innerhalb eines anderen Theoriekontextes sind „Alterität und Identität" ebenfalls ein Fall dyadischer Figuration. Auch wenn diese Kategorien von Beginn an auf der

Figuren und Funktionen der Tertiarität

79

Ebene materialer Differenzen (sex/gender, Ethnizität etc.) und in kollektiver Ausprägung -,,us vs. them"- als Machtverhältnis von Fremd- und Selbstbildern (Frauen im Verhältnis zum patriarchalischen Zentrum, Lateinamerika vs. Europa) ausgearbeitet werden, geht das Kategorienpaar auf eine elementare Intersubjektivitätskonstellation zurück: das Verhältnis von Selbst und Anderem, ego und alter ego, Ich und Du. Hinter allen Alteritätstheorien steckt ein dezidiert dyadisches Intersubjektivitätsmodell, allerdings mit der paradoxen und genuin kritischen Pointe, dass hier gegenüber allen Subjekttheorien eine Vorgängigkeit des Anderen impliziert wird als Initialzünder des Dialogs, einer Kommunikation, die nicht auf die Selbstanerkenntnis und Selbststärkung des Einen gegenüber dem Anderen hinausläuft, sondern seine kritische Depotenzierung, indem er in sich die Andersheit des Anderen als Relationalität entdeckt und zulässt (Lévinas 1994). Wenn man jetzt in einem medientheoretischen Rahmen beide Konzepte, das der „Massenmedien" und das der „Alteritätsforschung", zusammenschließen will, um die hartnäckige Spur ausgegrenzter Alterität in der medial gestifteten Identitätsgewalt geschichtlicher und gegenwärtiger Gesellschaften zu erforschen, könnte man eine minimale Revision der sozialtheoretischen Hintergrundkonzepte berücksichtigen. Das möchte ich hier vorschlagen, in zwei schlichten Operationen: Zunächst geht es um die denkökonomische Erweiterung des Intersubjektivitätsund Kommunikationsmodells um eine weitere Figur: den Dritten. Das Modell „Sender-Hörer" und das Modell „Identität-Alterität" muss um eine weitere Figur bereichert werden, um analytisch komplett zu werden. „Es gibt einen Dritten vor dem Anderen" (Serres 1991). Hat man die Figuren und Funktionen der Tertiarität operativ in die Sozialtheorie eingeholt, kann man sagen: Medien -als das gesellschaftstheoretisch relevante Phänomen telematischer Gesellschaft- sind sozialtheoretisch ein Fall tertiärer Kommunikation, und erst unter dieser Voraussetzung greift eine spezifische Identitäts-/Alteritätsproblematik bzw. -erforschung der Massenmedien.

2. Der Andere und der Dritte. Zum Paradigmenwechsel innerhalb der Sozialtheorie Intersubjektivitätstheoretische Überlegungen bilden implizit oder explizit die Basis aller Kultur- und Sozialwissenschaften, und zwar sowohl für ihren Gegenstandsbereich als auch für die Frage des methodischen Zuganges. Diese sozialtheoretische Frage -in was für Möglichkeiten und Grenzen sind menschliche Lebewesen durcheinander überhaupt ins Verhältnis gesetzt, wie konstituieren Menschen sich und ihr Verhältnis zu- und gegeneinander- ist unterschieden von einer gesellschaftstheoretischen Frage: In welcher konkreten Formation leben Menschen unter bestimmten (modernen) Bedingungen. Die Sozialtheorie ist dominant zunächst Reflexionsgeschichte des „Anderen", entfaltet ihre folgenreichen Modelle also entlang der Dyade.

80

Joachim Fischer

Das ist deutlich in der Rekonstruktion der Anerkennungsdialektik bei Hegel, in der symbolisch vermittelten Interaktion bei Mead, in der systemstiftenden „doppelten Kontingenz" zwischen ego und alter ego bei Parsons und Luhmann, in der B e gegnung" als dialogischem Geschehen zwischen „Ich und Du" bei Buber, in der „Spur des Anderen", die über sein irreduzibles Antlitz den Einen verpflichtet, bei Lévinas. Diese Intersubjektivitätstheorien rekurrieren dabei je auf elementare dyadische Figurationen wie Kampf (Hegel), Vertrauen (z.B. Luhmann), Kooperation (Mead), Tausch, Liebe, Fürsorge (z.B. Lévinas). Und tatsächlich ist die menschliche Kommunikations- und Intersubjektivitätskonstellation immer auch dyadisch strukturiert, so in der geschlechtlichen Paarung oder in der Säugling-Mutter-Dyade. Aber schon hier, im Tausch elementarer Botschaften und Anerkennungsprozesse, kommt das Kind, wenn es denn da ist, zwischen den Liebenden, wie immer sie sich zueinander stellen, zur Erscheinung, und zwischen Kind und Mutter fallt der Schatten des Vaters, zur Verstörung und Erleichterung beider (Fivaz-Depeursinge/CorbozWarnery 2001; Haesler 1999). „Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten", lässt Goethe in den Wahlverwandtschaften als Autor nicht den Erzähler, sondern eine Figur sagen, die er zwischen sich und den Leser schiebt (Wahlverwandschaften, 1. Kap.). Intersubjektivitätstheoretisch ist der Dritte eine anthropologische Größe katexochen, abwesend und anwesend zugleich, die Ordnung durch Exklusion und Inklusion haltend und unterlaufend, eine wertungsambivalente Figur. Sozialtheoretisch ist also festzuhalten, dass Intersubjektivität immer schon auch triadisch strukturiert ist, dass die dyadischen Figuren latent trianguliert sind. In der sozialtheoretischen Grundlegung der Kultur- und Sozialwissenschaften erscheint es insofern sinnvoll, mit dem Einen, dem Anderen und der dritten Figur zugleich anzusetzen, so dass vom Ansatz aus, vom Beginn an eine elementare Konstellation direkter und indirekter Verhältnisse in den Blick gerät. „Bei einer Verbindung zu dreien wirkt jedes einzelne Element als Zwischeninstanz der beiden anderen und zeigt die Tendenz einer solchen, sowohl zu verbinden wie zu trennen" (Simmel 1968). Eine sozialtheoretisch relevante Reflexion auf die Figuren und Funktionen des Dritten gibt es bereits in G. Simmeis formaler Soziologie der Zweier- und Dreierverbindungen, bei Freuds Familientheorie ödipaler Konstellation (Freud 1930), in Theodor Litts Sozialphilosophie des Beobachters (Litt 1926), Fragmente, die man untereinander verknüpfen und mit neueren Tendenzen bei Sartre, Serres, Luhmann und Lévinas bündeln muss, um einen Vorgriff auf einen Paradigmenwechsel in der Sozialtheorie zu erreichen.1 Identität und Alterität um die dritte Figur zu ergänzen, d.i. einen Schritt über die Dyade hinaus zu gehen, heißt zugleich, den Dritten zwischen Alterität und Pluralität zu schieben, d.i. einen Schritt zurück aus der Vielheit

1

Sozialtheoretisch relevante Synopsen und Verdichtungen zur Figur des Dritten bei Caplow (1968), Ruskin (1971), Siep (1979), Hartmann (1981), Waldenfels (1997).

Figuren und Funktionen der Tertiarität

81

oder der Masse zu machen, in die die dyadischen Modelle zu rasch und unvermittelt übergehen. Der Dritte ist ein weiterer Anderer neben dem Anderen in einem konstitutiven Sinn, d.h. sein Auftauchen ruft Effekte hervor, die ein nochmaliger Anderer -z.B. ein Vierter oder Fünfter- nicht auslöst. Der Dritte ist eine Sozialkategorie, weil sein Erscheinen neuartige Figurationen und Funktionen erzeugt, während ab dem Vierten sich dyadische und tertiäre Konstellationen wiederholen, vervielfältigen und überlagern hin zu einer strukturierten Polyvalenz komplexer Sozialität. Die Sprache reflektiert in ihrem strategischen Kern, dem System der Personalpronomen, diesen kategorialen Status des Dritten, wenn sie in Sprechsituationen die elementaren Kommunikationsrollen verteilen lässt: Ich, Du, Er bzw. Sie bzw. Es, Wir, Ihr, Sie. (Elias 1978) „Ich" markiert die Identitätsposition, „Du" die Alteritätsposition, „Es" die Objektposition. Den Anderen in der zweiten Person als „Du" ansprechen heißt, ihn dezidiert nicht als Objekt „Es" nehmen. Nun wird aber zusätzlich der Mensch in der dritten Person -„Er/Sie"- vom Sprecher anders erfasst als das „Du" -nämlich in seiner potentiellen Abwesenheit-, zugleich aber auch definitiv anders als eine Sache -„Es"-, nämlich personal: Sonst bedürfte es der Unterscheidung „Es//Er, Sie" nicht. Die Schlüsselrolle der dritten Person im System der Personalpronomen wird aber erst im Übergang zur Pluralität sichtbar. Von „Ich" und „Du" ist -als Ausdruck einer Kooperation oder des Konfliktes- das „Wir" erreichbar, mehr aber nicht. Um das System der Personalpronomen mit seinen IndividualStellen „Er, Sie" und Pluralstellen „Ihr", „Sie" auszuschöpfen, ist hingegen die dritte Positionsfigur notwendig: Wir sehen „ihn" an, oder „Ihr" seht mich an, oder beiseite gesprochen: jetzt sehen „sie" mich an. Zugleich ist die dritte Position hinreichend: Ein Vierter oder Fünfter bringen nur Modifikationen des Bekannten. Erschließt sich so über den sprachlichen Stellenplan denkökonomisch das Minimum des figurativen Dritten, so erschließt die Phänomenologie eine Fülle von Figuren und Funktionen, die durch die Kategorie des Dritten zusammengehalten wird. Das Spektrum umfasst nicht nur den Zuschauer bzw. Beobachter, sondern auch den Übersetzer; nicht nur den Boten, sondern auch den Verräter; nicht nur den Intriganten, sondern auch den Vermittler; nicht nur den Mediator, sondern auch den Arbiter, den (Schieds-)Richter, nicht nur den Rivalen, sondern auch den begünstigten, lachenden Dritten, nicht nur den Hierarchen, sondern auch den Sündenbock, den ausgeschlossenen tertius miserabilis. Einer Sozialtheorie, der es um die konstitutive Funktion der Intersubjektivität sowohl für die Subjektbildung als auch für die Sozialitätsbildung geht, erschließt sich der Funktionswert des Dritten, wenn man seine formale Schlüsselstellung mit seinem Figurenreichtum zusammenhält. Bringt die Dyade mit ihrer „Reziprozität der Perspektiven" für die Subjektkonstitution eine erste Dezentrierung der elementaren Selbstvertrautheit, so bringt der erblickte Blick des Dritten auf beide erst das „Verhältnis", die Reziprozität selbst, vor Augen und ist damit Katalysator des distanzierenden Vergleichs, den das Subjekt nun in sich ausbilden kann. Zugleich macht es im wechselseitigen Blick zwischen Dritten und

82

Joachim Fischer

Anderen und dem darin möglichen Einverständnis und Bündnis die existentiale Erfahrung des Ausgeschlossenseins der eigenen Position aus einer Beziehung, mit der es nun rechnen muss. Der Dritte ist Bedingung der Exklusions- und Einsamkeitserfahrung, des Inklusions- und Zugehörigkeitsbegehrens. Auf der anderen Seite ist der Dritte für alle komplexe Sozialitätsbildung ausschlaggebend, weil sich -intersubjektivitätstheoretisch gesehen- in ihm der Übergang von der Interaktion zur Institution ereignet. Zwei können eine Regel verabreden, nach der sie ihr Verhalten orientieren, bis hin zur gewohnheitsmäßigen Abgestimmtheit; doch können sie sie als personale Urheber auch ändern. In einer SozioLogik löst erst der Dritte, der ihre Regel übernimmt, die Beziehung von diesen Personen ab und objektiviert sie ihnen gegenüber, ohne nun seinerseits die Regel zu „haben" (Litt 1926; Berger/Luckmann 1969). Man sieht an dieser Schlüsselstelle den sozialtheoretischen Untergrund von System- bzw. Diskurstheorien der Gesellschaft. Erst durch die Figur des Dritten bildet sich Relationalität: „es" kursiert, im Kursierenden ist der „Diskurs" da; „es" läuft, in der „Anschlussfahigkeit" des Dritten ist das „System" da. Genau gesehen sind System- (Luhmann) und Diskurstheorien (Foucault) beides Theorien sozialer Systeme, die eine in der vor- und außersprachlichen Dimension („Sinn") fundiert, die andere in der Sprachlichkeit fixiert („Diskurs"): Jedes Mal aber sind systemhafte Züge des Sozialen angesprochen: Ganzes/Teile, System/Umwelt, Selbstreferentialität: „Etwas" bildet sich in Selbsterzeugung und Selbstbeobachtung. Sozialtheoretisch ist es die in der Figur des Dritten inkarnierte abgelöste „Relationalität", die für die dyadischen Akteure bedeutet: es läuft, es kursiert, ich kann nichts mehr machen, ich brauche nichts mehr zu machen. Die sozialtheoretische Erschließung der „Systeme" und „Diskurse", die nur unter Voraussetzung der Figur des Dritten möglich ist, bietet den Vorteil, das Ereignishafte von System und Diskurs im Blick zu halten: Umgedreht, von losgelösten, vorgegebenen Regeln einer systemischen oder diskursiven Institution her gesehen, inkarniert sich nämlich das abgelöste Regelwerk in den unhintergehbaren Interaktionssituationen im Zweifelsfall im Spruch und der Entscheidung eines konkreten Dritten, der den Ausschlag gibt. Hat man die Sozialtheorie soweit als eine komplette Anthropologie der Intersubjektivität expliziert, lässt sich auch der prinzipielle Anschluss an die Gesellschaftstheorie finden (Fischer 2000). Eine bipolar angelegte Sozialtheorie kann zwar Tausch, Moral, Liebe, Fürsorge, Vertrauen als Kernzonen komplexer Vergesellschaftung rekonstruieren, hat aber Schwierigkeiten, Markt, Recht, Politik als gleichursprüngliche Kemfelder auszuweisen: Letztere haben nämlich eine triadische Grundfiguration und erscheinen somit aus dem Ansatz dyadischer Modelle als etwas Sekundäres, Parasitäres, Entfremdetes. Eine komplettierte Sozialtheorie hingegen ermöglicht zu zeigen, dass Gesellschaften von Beginn an etwas aus den dyadischen und den triadischen Figurationen machen, sich in ihnen strukturieren und stufen, materiale Felder nach ihnen ordnen. Selbst Dritte als Störgrößen werden in ihrer

Figuren und Funktionen der Tertiarität

83

Funktionalität entdeckt und eingehegt in produktive Faktoren verwandelt. Im Recht stellen Gesellschaften den schiedsrichternden Dritten systemhaft auf Dauer (statt Moral), in der Politik den eingeschlossenen/ausgeschlossenen Dritten (statt Freundschaft), in der marktförmigen Organisation der Ökonomie den begünstigten Dritten der Konkurrenz, den „lachenden" Dritten (statt Tausch).

3. Medien als Fall von Tertiarität, Alterität, Identität Jede Beschäftigung mit Massenmedien unterstellt dabei eine elementare Konstellation der Kommunikation. Innerhalb einer revidierten Sozialtheorie lässt sich nun eine Redefinition der Massenmedien vorschlagen. Statt entlang des Sender-Hörer, Produzenten-Rezipienten-Modells soll hier die Grundfiguration der Massenmedien als eine durch den Dritten vermittelte Konstellation verstanden werden. Dabei kann die triadische Struktur des Kommunikationsgeschehens, wie sie in der semiotischen Kultur- und Sozialwissenschaft seit Bühler und Peirce als „Drittheit" der Zeichenrelation gängig ist, nicht mit der hier gemeinten Tertiarität einer dritten Figur verwechselt werden. So gesehen, drängt sich eine kommunikative Urszene der Medien auf. Es ist die Konstellation, in der ein Bote, ein Sendbote, eine Information, eine Botschaft zwischen Abwesenden, zwischen ego und alter ego überträgt. Ego und alter ego sind in diesem Fall räumlich getrennt, räumlich zerstreut, zudem tendenziell eher einsam und tendenziell verschieden. Mindestens vorausgesetzt für die Massenmedien ist kommunikativ also ein Auftraggeber und ein Empfänger, dazwischen der Bote. Die einschlägigen Mythologien der vielzahligen Engel, Figuren in der Zwischenzone zwischen Gott und Menschen, und des einen Hermes, des Gottes der Wege und Kreuzungen, der Botschaften und Händler, sind von Serres als unbedingt zutreffend für eine komplexe Kommunikationstheorie in einem Medienzeitalter reaktiviert worden (Serres 1991). Es gibt eine Variante dieser mediatisierenden Urszene. Es ist die teichoskopische Konstellation, in der ein erhöht stehender Beobachter (der Mauerschauer) zweien im Vordergrund über Handlungen und Ereignisse berichtet, die diese nicht sehen können. Das Medium als spezifische Konfiguration des Sozialen, als gesellschaftlich relevanter institutioneller Mechanismus, bildet sich, wenn diese zwei Dreierfigurationen kombiniert und auf Dauer gestellt werden. Medial heißt dann, die Kommunikation zwischen zwei Abwesenden verläuft wiederkehrend über einen Dritten, und dieser Dritte versorgt sie auch über ihnen unbekannte Dinge mit gleichlautenden Botschaften, die er von sich aus besorgt hat. Die sozialtheoretische Rekonstruktion bedeutet nicht, zu verwischen, dass Massenmedien durch Vervielfältigung der Sender/Boten/Rezipienten, alles apparativ verstärkt, der Fall der großen Zahl, des großen Publikums sind. Die denkökonomi-

84

Joachim Fischer

sehe These einer sozialtheoretischen Grundlegung ist nur, dass in aller Massenmedialität, wenn massenhaft für einander abwesende Andere an vielzahlige mediale Dritte Ansprüche stellen und sie in Anspruch nehmen, die triadische Konstellation in Kraft bleibt. Damit hat man ein elementares analytisches Potential bezogen auf die Medien, und kann, in die Figur der Tertiarität eingelassen, auch das Verhältnis von Identität und Alterität thematisieren. Zunächst ist der mediale Dritte bzw. der Dritte als Medium immer der „Übermittler" im Verhältnis von zueinander Abwesenden. Er setzt die Botschaften zwischen Abwesenden in Wort und Bild, er montiert Bilder und Worte. Diese Position, so harmlos sie aussieht, ist der Ursprung der folgenreichen Differenz von Information und Meinung, die die Selbstbeschreibung der Medien konstant begleitet. Der Übermittler einer Botschaft zwischen ego und alter ego hat die Möglichkeit, zwischen der zu übermittelnden Sache und dem zu übermittelnden Ton, der Perspektive auf die Sache, zu akzentuieren, Neutralität oder Engagement zu pflegen. Weil Auftraggeber und Rezipient sich niemals sicher sein können, im medialen Dritten den neutralen Botschafter oder den sinnerzeugenden Agenten vor sich zu haben, der sich selbst ins Spiel setzt, erfinden sie unaufhörlich Kontrollmechanismen des Mediums. Gleichzeitig ist der mediale Dritte immer bereits der „lachende Dritte", und das in zweierlei Hinsicht. Er ist zunächst schlicht begünstigt von ihrer gegenseitigen Schwererreichbarkeit, er profitiert davon, dass sie sich nicht unvermittelt begegnen. Darüber hinaus wird er der „unterhaltende" Dritte, wenn er in sich die Kraft des Mediums entdeckt, ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zu sein. Wenn menschliche Kommunikation überhaupt ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit ist (Flusser), gegen die Erwartung, dass jeder sterben wird und für sich allein stirbt, dann macht sich der mediale Dritte zum besonderen Kunstgriff, in dem er in seiner vielfaltigen Vermittlung von Botschaften, Berichten und Fiktionen Einsamkeit und Tod vergessen lässt. Im Zentrum des Ethos des medialen Dritten steht aber die Aufgabe, „Vermittler" zu sein. Die Abwesenden sind einander Unbekannte, Fremde. Er überwindet die Distanz, er führt die einander Fremden und voreinander Ängstlichen durch abgestimmte Botschaften und Berichte zusammen, er macht sie miteinander bekannt. Seine Botschaften standardisieren und typisieren Auftraggeber und Empfanger reziprok füreinander, so dass die Abwesenden anschlussfahig füreinander werden und sind. Indem er ihre Werbebotschaften vermittelt, schließt er sie in ihrer Verschiedenheit sogar füreinander auf. Wer vermittelt, trennt zugleich. „Vermitteln" heißt, sich als „mittelstück zwischen unvermittelte dinge einschieben" (Grimmsches Wörterbuch), und d.h. zu verbinden und zu distanzieren. Der mediale Dritte hat jederzeit das Potential des Zwiststifters. Der Dritte konturiert den Auftraggeber, stiftet mit ihm zusammen eine Identität, die keinen Platz für Stimme und Sichtbarkeit des Anderen lässt, der bloß

Figuren und Funktionen der Tertiarität

85

empfangt. Via Medialität hetzt er die Abwesenden gegeneinander auf oder den einen gegen den Anderen. Er stiftet durch seine Botschaften und Berichte Vor-urteile, bevor der eine den Anderen kennen lernt und kennen könnte. Als Propagandist, als Manipulator formiert er in der Information mich gegen dich, er verzerrt. Insofern ist der mediale Dritte immer auch eine Umkippfigur. Der Dritte als Medium ist Schuld, er ist konstitutionell der Sündenbock. Wenn die Abwesenden face to face, unvermittelt im Anspruch des Antlitzes einander begegnen könnten, könnten sie das Medium boykottieren. In dieser Möglichkeit sitzt der Ursprung der Medienkritik als Kritik am medialen Dritten. Er hat die ihm aufgetragene Information mit seiner Meinung vermischt, das lässt sich jetzt zwischen den anwesenden ego und alter ego richtig stellen. Er hat uns zerstreut und abgelenkt, uns durch seine Aufmerksamkeit heischenden Geschichten in der Zerstreuung fixiert, dabei könnten wir uns -ihn umgehend- vor unserem Tod in die Arme fallen. Er hat uns in seiner „Vermittlung" typisiert, ausgeglichen, einander angeglichen, standardisiert, uns eine uns selbst entfremdende Sprache verliehen und damit in unserem je individuellen Reichtum verarmt, wogegen in unmittelbarer Ich-Du-Begegnung je unsere unverstellte Authentizität erscheinen könnte. Schließlich hat er unsere Differenz übertrieben, uns in die Vorurteilsfeindschaft getrieben; wir sind aber keine Monster, unabhängig von ihm können wir uns als Menschen erkennen. Dass die Medienkritik der (einseitigen oder wechselseitigen) Einverleibung des Anderen in die identitätsdefinierende Gewalt der Massenmedien sozialtheoretisch gesehen strukturell der restituierten dyadischen Situation entspringt, bestätigt indirekt die tertiäre Struktur des Mediums. Einerseits benutzt die Gesellschaft diese Tertiarität in der Medienförmigkeit ihres Aufbaus wie in der Marktförmigkeit, in der Rechts- wie in der Politikformigkeit ihrer Abläufe. Zugleich unterhegen diese tertiären Strukturen strukturell notwendig der dyadischen Dauerkritik, im Bild der unverstellten Kommunikation, des gerechten Tausches, der die wechselseitige Anerkennung gewährleistenden Moral, der spannungsreichen Vertrautheit, die dem Einen wie dem Anderen den je-deinigen Platz lässt. Alteritätsforschung mit Bezug auf Massenmedien nimmt diese Dyadenutopie als Kritik an der tertiären Medialität auf und beobachtet die Medien in Stellvertretung der ständig gefährdeten, invisiblen oder verzerrten Alterität. Dabei privilegiert sie den „Hybriden" (Bhabha 2000). Der Beobachter nicht in den, sondern der Medien von einem anderen Teilsystem aus -der Wissenschaft- ist nun erneut in die tertiären Figurationen in konkreten Gesellschaften verstrickt. Die Vermutung ist, dass nur eine soziologische Theorie, die zwischen Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie unterscheidet und sie verknüpft, passendes Distanzpotential zur Beobachtung wiederum dieser Konstellation aufbringen könnte.

86

Joachim Fischer

Bibliographie Berger, Peter; Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: S. Fischer Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg Breger, Claudia/Döring, Tobias (Hg.) (1998): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi Caplow, Theodore (1968): Two Against One. Coalitions in Triads. New Jersey: Prentice Hall Elias, Norbert (1978): „Die Fürwörterserie als Figurationsmodell", in: Was ist Soziologie? München: Juventa Verlag, S. 132-145 Fischer, Joachim (2000): „Der Dritte. Zur Anthropologie der Intersubjektivität", in: Essbach, Wolfgang (Hg.): wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg: Ergon, S. 103-136 Fivaz-Depeursinge, Elisabeth; Corboz-Warnery, Antoinette (2001): Das primäre Dreieck. Vater, Mutter und Kind aus entwicklungstheoretisch-systemischer Sicht. Heidelberg: Auer Freud, Sigmund (1930): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag Haesler, Ludwig (1999): „Die Struktur der Triangularität und ihre grundlegende Bedeutung für Sprache und Denken sowie für die menschliche Kultur", in: Gast, Lilli; Koerner, Jürgen (Hg.): Psychoanalytische Anthropologie, Bd. 2: Ödipales Denken in der Psychoanalyse. Tübingen: Edition diskord, S. 62-93 Hartmann, Klaus (1981): Politische Philosophie. Freiburg: Alber 1981 Krippendorf, Klaus (1994): „Der verschwundene Bote. Metaphern und Modelle der Kommunikation", in: Merten, Klaus; Schmidt, Siegfried J.; Weichsenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 79-113 Lévinas, Emmanuel (1983): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg/München: Alber 1983 Litt, Theodor (1926): Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie. Leipzig: Teubner Luhmann, Niklas (1995): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag Ruskin, Michael (1971): „Structural and unconscious implications of the dyad and the triad: An essay in theoretical intégration; Dürkheim, Simmel, Freud", in: The Sociological Review, Vol. 19, S. 179-201 Sartre, Jean Paul (1967): Kritik der dialektischen Vernunft, Bd. I: Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Hamburg: Rowohlt Serres, Michel (1991): Hermes I. Kommunikation. Berlin: Merve Siep, Ludwig (1979): Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg: Alber Simmel, Georg (1968): „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe", in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: de Gruyter, S. 32-100, spez. 73-94 Waidenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Frankfurt /M.: Suhrkamp, S. 114-126

Walter Bruno Berg (Freiburg i. Br.)

MPB - müsica populär brasileira: Identität und Alterität einer populären Gattung 1. Was ist „MPB"? Die „musica populär brasileira" ist nicht das, was sie zu sein scheint, wenn man den Begriff wörtlich ins Deutsche übersetzt - „brasilianische Volksmusik". Doch die richtige Benennung des Phänomens ist kein reines Sprachproblem. Auch Brasilianer tun sich schwer mit einer zufrieden stellenden Definition. Gern nehmen sie Zuflucht zu einer Abkürzung - „MPB"' - , gleichsam, als ob die Abkürzung mehr Sicherheit böte, den fraglichen Inhalt zu transportieren, als das ausgeschriebene Syntagma. Aber natürlich ist die MPB auch Volksmusik. Von ihr, der überlieferten brasilianischen Popular-Musik -„samba", „bossa nova", „chöro", etc.- übernimmt sie das musikalische Material, einen Teil der Instrumentierung, das Prinzip der Einheit von Text und Musik. Fo/fomusik ist die MPB jedoch vor allem aufgrund ihrer massenweisen Verbreitung. Kein Zweifel: die MPB ist eine „populäre" Gattung, ein Phänomen der zeitgenössischen Massenkultur, unabtrennbar vom alles durchdringenden Einfluss der Massenmedien Rundfunk, Femsehen, CD. Wie im Jazz, im französischen Chanson bzw. wie im Bereich der so genannten Höhenkammkultur gilt jedoch das Prinzip individueller Autorenschaft. Zweifellos gehört die „müsica populär brasileira" zu den wichtigsten Symbolträgem der brasilianischen Gegenwartskultur. Die These als solche kann hier natürlich nicht bewiesen, sondern muss als Tatsache und Prämisse vorausgesetzt werden. Der Gegenstand meiner Untersuchung ist dementsprechend eingeschränkt. Er betrifft die spezifische Form und Qualität jenes Identitätsmodells, das uns in der MPB -oder doch zumindest in einigen ihrer Produkte- entgegentritt, näherhin die Frage, inwieweit sich dieses Modell von vergleichbaren Identitätsmodellen (auch in Lateinamerika) dadurch unterscheidet, dass ihm nicht die Prämisse der Selbigkeit (oder „Selbst-Identität"), sondern der Andersheit („Alterität") zugrunde liegt. Was hierunter zu verstehen ist, will ich an einem einzigen konkreten Beispiel untersuchen, dem dennoch zweifellos ein repräsentativer Charakter zukommt. Es handelt sich um die Jubiläums-CD der tropicalismoBewegung, „Tropicälia 2" von Gilberte Gil und Caetano Veloso aus dem Jahre 1993. Die CD enthält 12 Titel. Sie alle vorzustellen, ist in dem hier vorgegebenen Rahmen unmöglich. Ich beschränke mich auf die Untersuchimg der ersten 6 Titel. 1

Vgl. Cabrai 1996.

88

Walter Bruno Berg

Sie bilden ein Syntagma, eine Sinneinheit, schon aufgrund ihrer bloßen -keinesfalls arbiträren- Abfolge und Reihung. Hören wir einmal hinein:

2. „Rap popcreto " „Quem?", also „wer?", ruft eine einzelne Stimme. „Quem?", antwortet eine zweite, andere Stimme ein Quart höher in aggressivem Tonfall. „Quem?", ein dritte Stimme, ein Sext tiefer im „bei canto"-Ton. Die Andeutung eines F-Dur-Dreiklangs in erster Umkehrung. Eine Querflöte spielt eine Coda. Weitere Stimmen intervenieren, nun außerhalb der klassischen Kadenz, dann ein Chor von „Quem"-Sängern. Die Stimmen sind verzerrt, erschallen von links und von rechts, bewegen sich gleichsam sichtbar durch die gesamte Breite des stereophonen Raumes. Angstvolle „Quem?"Repetitionen auf hoher Stimmlage, Frauen oder Kinderstimmen, oder die Nadel einer schadhaften Schallplatte, die nicht von der Stelle kommt. Bruchstücke von Melodien, aleatorisch einsetzende und wieder abbrechende Rhythmen, verschiedene Schlaginstrumente, schließlich die Andeutung eines traditionellen Klanges oder einer Melodie, unterbrochen von neuen, artifiziellen, abstrakten, „gesampelten" oder elektronisch erzeugten Klanggebilden; zwischendurch -wie auf verlorenem Postenein gezupftes Cello, einige feierlich angeschlagene Akkorde auf dem Klavier; dann wieder das polyphone „quem?"; schließlich Großstadtgeräusche, gleichsam das Ende eines akustischen Albtraums; Bewegungen vorbeifahrender Fahrzeuge, sichtbar gemacht erneut durch die Möglichkeiten der Stereophonie; eine Autohupe in der Ferne; dann der zweite Teil der „Quem?"-Variationen. Ich breche ab... Was soll das? werden Sie fragen. Ist das ein repräsentatives Stück der MPB? Ich kann darauf nur antworten, dass es sich auf der von mir besprochenen CD befindet, und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft zweier anderer Songs, deren IdentitätsKonnotationen mit relativer Eindeutigkeit bestimmbar sind: „Nossa gente" (Nr. 3), einem Lied von Roque Carvalho, einem Vertreter der Schwärzen-Bewegung „Olodum" aus Bahia, und „Wait until tomorrow" (Nr. 5), ein Stück des legendären USamerikanischen Gitarristen Jimmy Hendrix. Beide Stücke stammen von fremden Autoren, widersprechen also gerade der eben aufgestellten Regel, nach der wir es in der MPB normalerweise mit einer Einheit von Interpret und Autor zu tun haben. Hier also die geradezu demonstrative Interpretation zweier Song von anderen Autoren. In der Mitte zwischen beiden dann das Stück „Rap popcreto" mit der provokativen Frage „quem?", „wer bin ich?", „wer ist es?" Für dieses Stück endlich zeichnet verantwortlich der Autor „Caetano Veloso". Die Botschaft lässt an Transparenz also kaum etwas zu wünschen übrig. Liest man sie im Sinne unserer Fragestellung, so erhält man auf die Identitätsfrage „quem?", die Caetano in Nr. 4 explizit intoniert, in Nr. 3 die Antwort „Olodum" und in Nr. 5 die Antwort .Jimmy Hendrix". Man muss das, so meine ich, ganz wörtlich

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

89

nehmen. In keinem der beiden Fälle handelt sich um den Fall einer -bei Musikern sehr verbreiteten, ja konventionalisierten- „Hommage", bei der die beiden Subjekte -das die Würdigung aussprechende und das sie empfangende Subjekt, um nicht zu sagen: „Objekt" der Würdigung- ja streng voneinander getrennt bleiben. Ebenso wenig handelt es sich um die Gattung des „pastiche", bei welchem Subjekt und Objekt der ästhetischen Nachahmung den Gesetzen der Gattung gemäß durch das Mittel der Ironie zueinander in Distanz gesetzt werden. Der vorliegende Fall „Nossa gente" und „Wait until tomorrow"- liegt jedoch offenbar anders. Wenn es in „Nossa gente" heißt, „vou me juntar ao olodum que e da alegria, e denominado de Vulcäo", wenn Caetano und Gil in „Wait until tomorrow" dreimal repetierend insistieren „We don't have to wait til tomorrow", so meinen sie dies offenbar nicht nur ernst, sondern sind auch in musikalisch-ästhetischer Hinsicht bemüht, das jeweilige Lebens- und Identitätsgefuhl der zitierten Bewegung in unverfälschter, ja distanzloser Weise zu reproduzieren. Sehen wir uns dies etwas näher an.

3. „Nossagente" A B

A, BI C B2 A3

Avisa lá que eu vou chegar mais tarde, o yé vou me juntar ao olodum que é da alegria é denominado de vulcao o estampido ecoou nos quatro cantos do mundo em menos de um minuto: em segundos nossa gente é quem bem diz é quem mais danfa os gringos se afinavam na folia. os deuses igualando todo o encanto toda a transa os rataplas dos tambores gratiñcam quem fica nao pensa em voltar afeifáo á primeira vista o beijo — batom que nao vai mais soltar a expressáo do rosto identifica avisa lá avisa lá avisa lá o o avisa lá que eu vou

Der musikalische Aufbau des Songs ist von großer Einfachheit, ja Konventionalität. Charakteristisch für das Stück ist zunächst einmal der schnelle Samba-ReggaeRhythmus,2 wie ihn Caetano den unzähligen Musikgruppen in Bahia nachempfunden hat. Es fehlt in der Besetzung allerdings die dort übliche große Trommel, deren Markierungsfunktion für den Grundrhythmus hier vom elektronischen Bass übernommen wird. Natürlich lässt sich der Samba-Reggae auch als schneller Tanz- oder 2

Ich danke Paulo Colares für den Hinweis.

90

Walter Bruno Berg

Marschrhythmus interpretieren. Er wird zu Beginn mit zwei Takten des dominierenden Schlagzeugs intoniert. Damit ist nicht nur der Grundrhythmus, sondern auch ein für den Text bzw. das gesamte Lied verbindliches Grundmetrum definiert. Sämtliche Teile des Stückes sind immer wieder durch diese Grundeinheit teilbar bzw. lassen sich auffassen als ein Vielfaches von ihm. So besteht jede der insgesamt 15 Verse des Textes musikalisch aus zwei Takten. Die sieben Teile des Liedes -nennen wir sie „A - B - Ai - Bi - C - B 2 - A3"— bestehen ihrerseits aus je zwei Versen, also 4 Takten; eine Ausnahme bildet lediglich Teil B, der drei Zeilen umfasst. An den erstmaligen Vortrag des Textes schließt sich ein 8-taktiges Zwischenspiel an, dem Chorstimmen beigemischt sind. Dann wird der gesamte Text unverändert wiederholt. Die einzige Veränderung besteht darin, dass A 3 nun statt zweimal (wie im ersten „Durchgang") dreimal wiederholt wird. Der Coda-Charakter von A3 wird damit unterstrichen. Es schließt sich ein reiner Instrumentalteil an, der 3 x 8 Takte umfasst und seinerseits durch eine 4-taktige Coda abgeschlossen wird. Die im Textteil stereotype Bassfigur wird hier leicht variiert. Charakteristisch ist jedoch die Intervention zweier Solotrompeten mit Ansätzen zu improvisatorischer Verselbständigung. In melodischer und harmonischer Hinsicht ist die Konventionalität des Stückes sehr viel offensichtlicher. Melodische Eigenständigkeit hat allenfalls die als Auftakt zu verstehende Eingangs-Quart („avisa lä que eu vou chegar mais tarde..."). Wir kennen sie im europäischen Bereich als so genannte Jagd-Quart. Sie entspricht semantisch aufs beste dem Appellcharakter des ersten Satzes „avisa lä que..." Doch die Funktion des Auftaktes beschränkt sich darauf, zum Grundton (d.h. zur c-mollTonica) hinzuführen, der in diesem ersten Takt sieben Mal „ferialtonartig" repetiert wird, um dann wiederum nach G, zur Dominanten also, abzufallen. Die hierdurch erzeugte harmonische Spannimg wird jedoch nicht genutzt, um zur Tonica zurückzukehren, sondern wird zweideutig nach b aufgelöst, der Moll-Terz der GDur-Dominante. Harmonisch gesehen befinden wir uns damit im zweiten Takt durchgängig in g-moll. Was es mit diesem - i m harmonischen Syntagma an dieser Stelle nicht recht erklärbaren- g-moll auf sich hat, wird nach erneutem G-Auftakt im zweiten Teil ab Takt 5 deutlich: Der Auftakt G -gedeutet als g-moll-Tonica- leitet über zu dem um einen Halbton höher gelegenen As,3 welches seinerseits sowohl als Terz zu f-moll als auch als Tonica zu As-Dur gedeutet werden kann. Diese Lesbzw. Hörart legt es jedoch nahe, die bisher Undefinierte kleine Terz B-G, die den

3

Von C, dem Grundton der c-moll-Tonleiter, aus gedeutet, entspricht das as hier genau der Definition des so genannten supersemitonium modi -also der erhöhten Quint in der Molltonleiter-, einer Art Erkennungszeichen für den so genannten Moll-Modus. Er tritt gerne in Verbindung auf mit dem subsemitonium modi (vgl. Riemann 1919: 1162) auf, dem charakteristischen Leitton vor dem Grundton. Mozarts berühmte c-moll-Fuge im „Kyrie" des Requiem ist das populärste Beispiel dieser Kompositionsregel. (Für den Hinweis danke ich Ivo Ignaz Berg.)

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

91

zweiten Takt beherrscht, nunmehr als erste Umkehrung eines Es-Dur-Dreiklangs zu verstehen. Es-Dur jedoch ist nichts anderes als die Dominante zu As-Dur, ebenso wie As-Dur als parallele Dur-Tonart zur Unterdominante f-moll (bezogen auf cmoll) aufgefasst werden kann. M.a.W.: In harmonischer Hinsicht bedient sich die Musik in den ersten zwölf Takten in weitestgehender Weise des Phänomens der Dur-Moll-Verwandtschaft (c-moll -» Es-Dur; f-moll As-Dur). Das Ergebnis des simplen Verwechslungsspiels ist jedoch in beiden Fällen das gleiche: Unweigerlich führt uns das Auftakt-G zurück zur „Tonica", sei es, wir deuten diese im Sinne von Teil A als c-moll, sei es, wir folgen der Verwechslungslogik von Teil B und deuten sie als As-Dur. Anders ausgedrückt: Die harmonische Substanz ist reduziert auf die Mittel der klassischen Kadenz. Dem entspricht die Simplizität der Melodiefuhrung, die um das Grundgerüst von 4 Tönen kreist: C - b - as - G. Es handelt sich um die Anfangstöne der vier A-Teile,4 allerdings in folgender Reihenfolge: C - b- G- as (G). Anhand solch einfacher Schemata lässt sich trefflich musizieren und improvisieren. Die Meister der Barockmusik haben es vorgemacht. Sie nannten diese Form „Chaconne". Werfen wir noch einen Blick auf den Text. Das lyrische Ich verkündet seine Solidarität mit der Olodum-Bewegung. So heißt es in den Eingangsversen, und so bekräftigt dies der Refrain: ,,Avisa lä que eu vou [...] me juntar ao olodum". Inhalt des Textes ist des Weiteren die Inbeziehungsetzung von Charakteristika des Olodum zu Momenten brasilianischer „Identität": Olodum -will man dem Sänger Glauben schenken- spiegelt aufs beste die im traditionellen brasilianischen Selbstbild („ufanismo"5) enthaltenen Werte von Lebensfreude („e da alegria / e denominado de vulcäo") und Herzlichkeit („afeifäo ä primeira vista" wäre demnach zu verstehen als Anspielung auf Chico de Buarques berühmten Begriff der „cordialidade"), jene Superlative von Tanz- und Sangesfreude („nossa gente e quem bem diz e quem mais dan^a"), die ihren Höhepunkt finden im orgiastischen Erleben von Sexualität („o beijo - batom que näo vai mais soltar / a expressäo do rosto identifica"). Es ist eine Identität, die nach dem Höchsten strebt („os deuses igualando todo o encanto toda a transa") und die dennoch darauf bedacht bleibt, das Eigene zu konstruieren auf der Grundlage der Exklusion des Fremden. „Os gringos se afinavam na folia",6 heißt es 4

5

6

Ich spreche von vier A-Teilen, da der vermeintlich selbständig(er)e C-Teil harmonisch genau dem Gerüst der übrigen A-Teil entspricht und lediglich in melodische Hinsicht den Ferialton der übrigen A-Teile variiert. Die Kritik des „ufanismo" kommt nicht nur „von außen". Zu den schärfsten /««erbrasilianischen Kritiken gehört der Roman O triste fim de Polycarpo Quaresma von Alfonso Henriques de Lima Barreto (1911); zum Begriff vgl. Buarque de Holanda 1996 und César de Castro Rocha 1998. Die „folia" ist nach Auskunft des Aurélio "na Península Ibérica, [urna] danfa viva, ao som do pandeiro, adufe e canto". Des Weiteren heißt es, dass es sich um eine "forma musical espanhola" handelt "que, por seu estilo e construfäo, se aproxima da chacona ou da passacale e se presta fácilmente á variapäo instrumental" (Diccionário Aurélio Electrónico,

92

Walter Bruno Berg

deshalb, während unterstrichen wird, dass „os ratapläs dos tambores gratificam / quem fica näo pensa em voltar". Wie weit wird der kritische' Hörer dieser Identitäts-Konstruktion zu folgen bereit sein? Alles kommt offenbar darauf an, inwieweit besagter Hörer darauf vorbereitet ist, die zahlreichen ästhetischen Provokationen auch dieses Liedes produktiv, d.h. sinnbildend, zu verarbeiten. Nichts wird ihm dabei abgenommen: Eine Lektüre, die das Lied als distanzlose Hommage an die Olodum-Bewegung interpretiert, wäre ohne Zweifel im Recht. Rhythmus, Harmonie, Melodie und Text - sie alle zielen in die gleiche Richtung, konstruieren die unverfängliche Identität des schwarzen Brasilianers. Sieht man jedoch genauer hin -was in den vorstehenden Zeilen versucht wurde-, so wird deutlich, dass eigentlich nur die Bereiche „Rhythmus" und „Text" identitätskonstituierende Funktionen im strengen Sinne erfüllen. Nur sie sind eindeutig, auch auf der materiellen Zeichenebene, auf den brasilianischen Kontext bezogen. Harmonie und Melodie dagegen erfüllen vornehmlich rhetorische Funktionen. Sie sind bezogen auf die durchschnittlichen Hörgewohnheiten eines okzidentalen Rezipienten. So findet sich die appellative Eingangs-Quart auch in berühmten anderen Identitätstexten, so z.B. der Marseillaise. Ebenfalls treffen wir hier -im Mittelteil der Hymne- den spannungsvollen Wechsel von Dur zu Moll, der jedoch auch hier, obwohl er -im Unterschied zu „Nossa gente"- teilweise durch den Text motiviert zu sein scheint, kompositorisch auf die Funktion einer Kadenz beschränkt bleibt, deren einzige Aufgabe darin besteht, zum Refrain bzw. zum im fortissimo wiederholten Anfangsteil zurückzuführen. Somit ergibt sich als Resultat unserer Lektüre, dass sich die Annahme einer bruchlosen Anverwandlung des musikalisch-ästhetisch manifestierten Lebens- und

7

Versäo 2.0). Um die volle Konnotationen des Verses zu verstehen, bedarf es jedoch gewissermaßen kulturellen Insider-Wissens: So findet sich die Tradition der in der Wörterbucheintragung erwähnten Modellfiinktion der „folia" als Variationsform (wie sie die Chaconne und die Passacaglia verwenden!) z.B. in Corellis berühmtem Virtuosenstück (für Blockflöte) „La foglia" aufs beste repräsentiert. Weniger bekannt ist jedoch eine historische Deszendenz andere Art: Die hispmo-amerikanische Form der folia gilt in der Musikwissenschaft als Modell und Vorform der Sarabande, die in unzähligen Barock-Suiten europäischem Geist anverwandelt wurde. Nur Kenner wissen, dass der in feierlich-langsamem 3/4Rhythmus daherkommenden Sarabande in Wirklichkeit ein ob seiner obszön-erotischen Bewegungen eigentlich verpönter lateinamerikanischer Tanz zugrunde liegt. (Auch für diesen sachkundigen Hinweis danke ich Ivo Ignaz Berg.) Man kann sich das augenzwinkernde Lächeln Caetanos leicht vorstellen -setzen wir einmal voraus, dass er um diese Zusammenhänge gewusst hat, als er das Lied kreierte-, wenn er in dem erwähnten Vers ein Identitätszeichen brasilianischer crioulos -die „folia"von der nicht weniger erotisch-lasziven Samba-Reggae, die hier als alternatives Identitätszeichen der Kultur der brasilianischen Schwarzen präsentiert wird, künstlich zu unterscheiden trachtet. In der Tat sind wir der Ansicht, dass die MPB den kritischen Hörer nicht nur voraussetzt, sondern ihn, wie im vorliegenden Lied, auch eigens provoziert.

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

93

Identitätsgefuhls der Olodum-Bewegung in „Nossa gente" nicht aufrecht erhalten lässt. Mag diese Anverwandlung auf der ideologisch-diskursiven sowie der rhythmischen Ebene auch noch so sehr ihren Rückhalt finden, so bedarf sie auf der Ebene von Melodie und Harmonie offenbar des Rekurses auf entscheidende Elemente kultureller Alterität,8 ein Vorgang, der umso schwerer wiegt, als der damit implizierte Verweis auf die scheinbaren Universalien der abendländischen Musik die exklusive Kulturidentität der MPB ins Zwielicht rückt. - Werfen wir nun einen Blick auf „Wait until tomorrow".

4. „ Wait until tomorrow " Auch in „Wait until tomorrow" haben wir es zu tun mit dem Fall einer in ästhetischer Hinsicht scheinbar distanzlosen Anverwandlung des Anderen. Die im Text angedeutete Geschichte des schmachtenden Liebhabers auf der Leiter im Garten der ihn abweisenden Geliebten hat in ihrer vagen Ce/esftMa-Reminiszenz universelle Züge, doch die Erzählung ist zugespitzt auf den hämmernd und litaneihaft wiederholten Refrain „I think we better wait until tomorrow". Dank des unverfälschten, von einer ganzen Rock-Generation kodifizierten Jimmy Hendrix-Sounds erhält der Refrain den Stellenwert einer -wenn der Ausdruck erlaubt ist- musikalischen Ikone des kollektiven Frusts der 68er-Generation, die ihre abhanden gekommenen Ideale im Refrain des für immer auf morgen verschobenen Liebesglücks besingt. Auch das also ist „Caetano und Gil". Wem die Interpretation zu weit geht, dem bleibt die musikalisch-ästhetische Ebene. Wie seinerzeit Miles Davis sind Caetano & Gil vom Genie des früh verstorbenen Jimmy Hendrix nicht nur überzeugt, sondern zweifellos tief beeinflusst. Über Jimmy Hendrix gelangt der verzerrte Gitarren-Sound des Amerikaners nach Brasilien und wird zu einem integrierenden Bestandteil einer neuen „müsica populär". Dies zumindest ist auch eine Botschaft des Stückes.

8

Gemeint sind die „klassische" Kadenz sowie die Quintverwandtschaft, welche im Hinblick auf die im Diskurs vorausgesetzte exklusive Kultur-Identität der Musik der brasilianischen Schwarzen zweifellos die Funktion der „Alterität" erfüllen. Die Universalität der Quintverwandtschaft gehört zu den Glaubenssätzen der „klassischen" Harmonielehre, als deren theoretischer Begründer Hugo Riemann gelten kann: „Die kontrapunktische und harmonische Musik führte allmählich zur Erkenntnis der Bedeutung der konsonanten Dreiklänge; Zarlino (1558) erkannte bereits die gegensätzliche Struktur des Durakkords und des Mollakkords, Rameau (1722) sprach zuerst aus, dass wir auch einfache Melodien stets im Sinne von Harmonien hören, und dass alle dissonanten Zusammenklänge im Sinne konsonanter Akkorde verstanden, von ihnen abgeleitet, auf sie bezogen werden. Ja, er begriff auch bereits, dass es nur drei Funktionen der Harmonie gibt, die der Tonika, der Dominante und Subdominante, und dass Modulation nicht anderes ist als ein Wechsel dieser Funktionen" (Riemann 1919:463).

94

Walter Bruno Berg

Zwei weitere Beispiele der CD, die die ideologische und ästhetische Spannweite der Möglichkeiten, die sich hier eröflhen, aufs beste demonstrieren, sollen im Folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich um die beiden Eingangs-Songs „Haiti" und „Cinema novo".

5. Haiti „Haiti" gehört zu der in den 70er Jahren außerordentlich populären Gattung des Protest-Songs. Konstitutiv für die Gattung ist die Struktur der „denuncia", die Aufdeckung sozialer Missstände auf der Grundlage eines selbstbewusst-kritischen Subjekts. Die Identität des kritischen Bewusstseins ist -in der Sprache der Hegeischen Dialektik gesprochen- das Resultat der Negation der Negation. Kritik als die Negation der wahrgenommenen Negativität der Welt bedeutet die Aufspaltung die Welt gemäß den Kategorien falschen und richtigen Bewusstseins; auf der einen Seite die Identität selbstbewusster Kritik, auf der anderen die Alterität der entfremdeten Welt. Dem naheliegenden Einwand eines der Struktur zugrunde liegenden fundamentalen Idealismus pflegt das kritische Bewusstsein mit dem Hinweis auf die von der Kritik postulierte Einheit von Theorie und Praxis zu begegnen und gewinnt dadurch noch zusätzlich an rhetorisch-utopischem Potential. Haiti Quando vocé for convidado pra subir no adro da Fundafäo Casa de Jorge Amado Pra ver do alto a fila de soldados, quase todos pretos Dando porrada na nuca de malandros pretos De ladröes mulatos E outros quase brancos Tratados como pretos Só pra mostrar aos outros quase pretos (E sao quase todos pretos) E aos quase brancos pobres como pretos Como é que pretos, pobres e mulatos E quase brancos quase pretos de täo pobres sao tratados E nao importa se olhos do mundo inteiro possam estar por um momento voltados para o largo Onde os escravos eram castigados E hoje um batuque, um batuque com a pureza de meninos uniformizados De escola segundária em dia de parada E a grandeza épica de um povo em forma9äo Nos atrai, nos deslumhra e estimula

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

Nao importa nada Nem o tra90 do sobrado, nem a lente do Fantástico Nem o disco de Paul Simon Ninguém Ninguém é cidadáo Se voce for ver a festa do Peló E se voce nao for Pense no Haití Reze pelo Haití O Haití é aqui O Haití nào é aqui E na TV se voce vir um deputado em pànico Mal dissimulado Diante de qualquer, mas qualquer mesmo Qualquer qualquer Plano de educafào Que pareja fácil Que pare9a fácil e rápido E vá representar urna ameafa de democratiza9ào do ensino de primeiro grau E se esse mesmo deputado defender a ado?ao da pena capital E o venerável cardeal disser que vé tanto espirito no feto E nenhum no marginal E se, ao furar o sinal, o velho sinal vermelho habitual Notar um homem mijando na esquina da rúa sobre um saco brilhante de lixo do Leblon E quando ouvir o silencio sorridente de Sào Paulo diante da chacina 1 1 1 presos indefesos Mas presos sào quase todos pretos Ou quase pretos Ou quase brancos quase pretos de tao pobres E pobres sao como podres E todos sabem como se tratam os pretos E quando voce for dar urna volta no Caribe E quando for trepar sem camisinha E apresentar sua participafào inteligente no bloqueio a Cuba Pense no Haiti Reze pelo Haiti O Haiti é aqui O Haiti nào é aqui (Música: Gilberto Gii e Caetano Veloso / Letra: Caetano Veloso)

95

96

Walter Bruno Berg

Angesichts der eindeutig denunziatorischen Botschaft des Textes erfüllt „Haiti" eigentlich alle Vorgaben der Gattung. Thema des Textes ist der scharfe soziale Antagonismus, der die brasilianische Gesellschaft immer noch spaltet. Soziale Gründe sind es, die auch dem zugrunde liegen, was traditionellerweise Rassismus heißt: Wenn Schwarze in ihrer Mehrzahl arm sind, so werden Arme in der Regel wie Schwarze behandelt. Unterschiedslos werden Schwarze, arme Weiße oder Mulatten Opfer staatlicher Gewalt. Die ungerechten Verhältnisse werden stabilisiert durch althergebrachte Ideologien: Kardinäle fordern den Schutz des ungeborenen Lebens; Abgeordnete die Anwendung der Todesstrafe und verhindern die Demokratisierung der Bildung. Die Botschaft ist nicht neu, wird man sagen müssen, auch wenn sie „wahr" ist. Wer ist es, der sie verkündet? Wiederum: „Quem?" Eine monoton psalmodierende Stimme, Rap in mezzoforte, genau und eindringlich artikuliert, aber ohne Höhepunkte, weder musikalisch noch semantisch. Dazu -als Begleitung- abermals ein auf seine Grundelemente (Gitarre, Bass und Schlagzeug) reduzierter „Samba-Reggae"-Rhythmus, ebenfalls monoton gleichbleibend, lediglich gegen Ende ein wenig an rhythmischer Intensität gewinnend. Monotonie, einmal als Strukturelement identifiziert, findet sich wieder auf textueller Ebene: als der touristische Blick des im Text explizit apostrophierten „Du"; als die ewige Wiederkehr staatlicher Unterdrückung; als die Rituale obrigkeitsstaatlicher und nationalistischer Rhetorik; als die Egalisierung von SchwarzSein und Armut. Monotonie schließlich auch auf der Ebene der Makroform: die Symmetrie zweier Strophen, erkennbar durch die notengetreue Wiederholung des musikalischen Anfangs, vor allem aber dank des durch sanften Chorgesang hervorgehobenen Refrains: „Se voce for ver a festa do Pelö9 / e se voce näo for / Pense no Haiti / reze pelo Haiti / O Haiti e aqui / o Haiti näo e aqui". Haiti, die schwärzeste aller lateinamerikanischen Diktaturen im doppelten Sinne dieses Wortes, ist überall, auch in Brasilien, das sich offizieller Ideologie zufolge gern in der Rolle eines fortschrittlichen Musterlandes gefallt. Soweit die Botschaft des Liedes, eine Botschaft, von der die Identität des protestierenden Subjekts allerdings nicht unberührt bleibt. So erzeugt das universelle, auf allen ästhetischen Ebenen des Liedes realisierte Motiv der Monotonie eine eigenständige Sinnebene, durch die die Identität der expliziten Protest-Botschaft gewissermaßen beständig durch ihr Anderes affiziert wird. Wie im Refrain Affirmation und Negation unvermittelt nebeneinander stehen, so ist auch das protestierende Subjekt gleichsam doppelt kodiert. Richtiges und falsches Bewusstsein sind nicht länger voneinander zu trennen; revolutionäre Utopie und die Antizipation ihres Scheiterns, der Heroismus der Tat

9

Die Festa do Pelo zu Ehren des Säo Joäo gehört zu den Touristenattraktionen von Salvador. Zwei Verse weiter reimt sich „Pelö" mit der lediglich anders betonten Präposition „pelo (Haiti)". Die Figur der Paronomasie unterstreicht ironisch die hier intendierte kritische Umkehrung der Perspektiven.

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

97

und die Trauer der aufgeschobenen Versöhnung wohnen eng beieinander, bilden die zweite Seiten des einen, des engagierten Subjekts.

6. Cinema novo Abschließend noch einige Bemerkungen zum Alteritäts-Modell in „Cinema novo". Im Unterschied zu „Wait until tomorrow" handelt es sich hier in der Tat um eine „Hommage", eine musikalische Würdigung der großen brasilianischen Kino-Bewegung der 70er Jahre, international bekannt geworden vor allem durch den genialen Regisseur Glauber Rocha (1939-1981). Alterität ist manifestiert -gemäß des avantgardistischen Anthropophagie-Konzepts von Oswald de Andrade 10 - als Geste der Appropriation, als Geste, indessen, gegenseitiger Appropriation: „O filme quis dizer «eu sou o samba»"; später: „o samba quis dizer: eu sou cinema" (also: „Der Film wollte sagen: «Ich bin die Samba»"; „die Samba wollte sagen: «ich bin Film»"). Aber die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks „querer dizer" ist im Portugiesischen ebenso verflacht wie im Deutschen: „will sagen" heißt nichts anderes als „bedeutet". Wir haben es mithin zu tun mit einer Identitäts-Formel: Der Film behauptet „Musik" zu sein; die Musik behauptet umgekehrt, „Film" zu sein. Sehen wir zunächst, bevor wir weitergehen, dass die Formel im Lied vielfach wiederholt wird; insgesamt findet sie sich an sechs verschiedenen Stellen: 0 filme quis dizer: eu sou o samba (1) o samba quis dizer, o samba quis dizer: eu sou cinema (30) o filme disse: eu quero ser poema (33) Ou mais: quero ser filme e filme-filme (34) o samba agora diz: eu sou a luz (38)

Quero ser velho, de nove eterno, quero ser novo de novo / Quero ser ganga bruta e clara gema / eu sou o samba, viva o cinema - viva o cinema novo (46)

10

Vgl. Oswald de Andrade: Manifestó de Antropofagia (1928).

Der Film wollte sagen: Ich bin die Samba die Samba wollte sagen: ich bin Film der Film wollte sagen: ich will Gedicht sein oder mehr noch: ich will Film, nichts anders als Film sein die Samba behauptet nun: ich bin das Licht Ich will alt sein, ewig neu, will neu sein vom Neuesten / will reines Gestein sein und das Gelbe vom Ei / ich bin die Samba und der Film - es lebe der Neue Film

98

Walter Bruno Berg

Die explizite Botschaft des Liedes ist also eine Aussage zur kulturellen Identität. Von der traditionellen Identitäts-Formel „A = A" unterscheidet sich diese Botschaft durch die Formulierung „A = B". „A = B" ist jedoch nichts anderes als die Struktur der Metapher - die Affirmation einer Identität als McAMdentität bzw. als Alterität.11 Natürlich sprechen Samba und Film zunächst einmal nur von sich selbst, von ihrer eigenen Identität. Hier bestimmen sie das Wesen des eigenen Mediums als InterMedium, als Allegorie des jeweils Anderen. Der Gestus der Einverleibung des Anderen, der für die MPB und den Neuen brasilianischen Film kennzeichnend ist, bleibt jedoch nicht beschränkt auf diesen jeweils konkreten medialen Anderen. In beiden Fällen handelt es sich vielmehr um einen im Prinzip unendlichen Prozess: „o filme disse: eu quero ser poema"; „o samba agora diz: eu sou a luz". Und weiter: [E o samba agora diz:] eu sou a luz Da lira do delirio, da alforria de Xica De toda a nudez de india de flor de Macabeia, de asa branca

[Und die Samba sagt nun:] ich bin das Licht Der Lyra des Deliriums, der Befreiung der Xica Aller Nacktheit der indianischen Blüte der Makabea, des weißen Flügels

Die Identität der Samba ist die im Prinzip unendliche Einverleibung der Gesamtheit der kulturellen Signifikanten. Eben hierin besteht jedoch auch die poetische Struktur des Films, den dieser sich selbst zuspricht mit dem Ziel, dadurch immer mehr Film zu werden nach dem Motto „quero ser filme e filme-filme". Ich schließe mit einem Blick zurück auf die musikalische Ebene: Die akkumulierende Klimax der kulturellen Einverleibung ist manifest im immer stärker in den Vordergrund tretenden Crescendo des Samba- bzw. Bossa Nova-Rhythmus. Der Zuhörer wird gewissermaßen in die Position eines Zuschauers einer vorbeiziehenden Karnevals-Gruppe versetzt. Dennoch: Die Musik wird nicht zum Selbstzweck; ihre Identität ist die karnevaleske Identität der Allegorie, nicht zu verwechseln mit jenem Brasilien-Klischee, das uns in jedem Reisebüro entgegentritt und das die brasilianische Tourismusbranche zu vermarkten nicht müde wird: dem leichtgeschürzten, selbstidentischen Karneval in Rio; das Wesen der von Caetano und Gil gemeinten Brasilien-Kultur dagegen ist das kulturelle Andere: „eu so o samba [...] viva o cinema novo".

7. Alterität und Medien Ziel dieser abschließenden Bemerkungen ist weder die Entwicklung einer allgemein verbindlichen Medien-Theorie noch die Diskussion eines umfassenden AlteritätsBegriffs. Jene im Verlauf des Kolloquiums immer wieder angeklungene philosophi11

Vgl. Ricoeur (1975), vor allem Kapitel VII: „Métaphore et référence" (S. 273-321).

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

99

sehe Radikalposition, derzufolge wirkliches Alteritäts-Denken den ihm gemäßen Ort nur im puren Jenseits der Medien zu fmden vermöchte, kann angesichts des konkreten Kulturphänomens „MPB" nur ins Leere greifen. Eine MPB ohne Synthesizer, ohne Videoclips und ohne massenhafte Verbreitung wäre nicht mehr jene MPB, um die es hier geht. Im Rahmen der Prämissen der vorstehenden Untersuchung lässt sich die Alteritätsfrage mithin nicht „von außen" -also von einem „absoluten", gewissermaßen Medien-freien Ort- an die MPB herantragen. Sie ist vielmehr eine Frage, die sich sinnvollerweise nur konkret an die MPB als Medium selbst richten lässt. Ihr Gegenstand ist die Analyse der Mittel und Strategien, mit Hilfe derer es der MPB gelingt, Alterität innerhalb der durch die Gattung bzw. der Grenzen der der Gattung immanenten Medien-Praxis effektiv zu artikulieren. Blicken wir gemäß dieser Perspektive kurz zurück: Identität, brasilianische Identität, besser gesagt, das immer noch ungelöste Problem brasilianischer Identität - das ist zweifellos das beherrschende, in allen Songs in immer wieder neuen Variationen wiederkehrende Grundmotiv von Tropicälia 2. Schon die Unterschiedlichkeiten der Antworten, die in den einzelnen Songs gegeben werden, zeigt jedoch, dass es sich um eine Identität handelt, der die Beziehung zum Anderen12 wesenseigen ist. Mit großer Deutlichkeit ließ sich dies in „Nossa gente" zeigen, einem Song, dessen eigentliche Botschaft, die distanzlose Anverwandlung der afro-brasilianischen Identität, es sich gleichwohl nicht nehmen lässt, daherzukommen im harmonischen Gewand der traditionellen Quintverwandtschaft. „Cinema Novo" und „Wait until tomorrow" konstruieren die Beziehung zum Anderen als ein inter-mediales Modell auf der einen, als eine inter-kulturelle Beziehung auf der anderen Seite. Ließ sich die „ E i n v e r l e i b u n g " des durch Glauber Rocha repräsentierten Mediums „cinema novo" bzw. des Gitarren-Sounds von Jimmy Hendrix jedoch noch zureichend mit einem euphorisch rezipierten AnthropophagieBegriff ä la Oswald de Andrade interpretieren, so ist diese Möglichkeit in „Haiti" offenbar nicht mehr gegeben. Wenn der Refrain immer wieder beschwört: „O Haiti e aqui, o Haiti näo e aqui", so kommt diese paradoxe Identitätszuschreibung einer Aufkündigung von Identität überhaupt gleich. „Haiti", das politische und kulturelle Andere, mit dem das brasilianische Subjekt identisch zu sein behauptet, ist durch seine soziale und historische Entwicklung in einer so radikalen Weise beschädigt oder, mit Marx zu sprechen, sich selbst entfremdet-, dass „Identität" in diesem Falle höchstens noch in Form von Solidarität zu verwirklichen wäre. Wenn die Aussage des Refrains: Haiti e aqui nun gleichwohl gelten sollte -denn in der Tat: auch in Brasilien leben Schwarze (bzw. die ihnen sozial gleichgestellen armen Weißen!) mitunter in vergleichbarer Verhältnissen wie in Haiti!-, so lässt sich diese Aussage nur dann sinnvoll interpretieren, wenn wir voraussetzen, dass die hiermit implizierte 12

Vgl. den einführenden Beitrag von Michael/Schäffauer in diesem Band, S. 9 ff.

100

Walter Bruno Berg

Identitäts-Formel zugleich einen Hinweis enthält auf das Phänomen einer gleichzeitig affirmierten, wesensmäßigen Nicht-Identität. „Rap popcreto" fugt diesem Gedanken, wie wir sahen, eine neue Dimension hinzu. Erstmals wird in diesem Song die Identitätsfrage explizit gestellt: „quem?" „Rap", das ist -als Gattung der Pop-Music- die Nostalgie der Authentizität konnotierenden Stimme. Gegenüber der Verfremdung der Melodie (wie im „wirklichen" Lied) und der Artifizialität der begleitenden Instrumente enthält der Sprech-Gesang gewissermaßen noch ein letztes Versprechen der Botschaft eines konkreten Subjekts. „Rap popcreto" dagegen enthält den Hinweis auf die beliebige Reproduzierbarkeit oder besser gesagt: Produzierbarkeit- der Stimme im Zeichen von Syntheziser und Mainboard bereits im Titel, der „Rap" und „Pop" nach Machart der „poesia concreto" zu einer artifiziell-neuen Gattung montiert. Vollends ist natürlich auch die Frage „Quem?", auf die sich unsere Analyse bislang vor allem bezogen hat, in einem gewissen Sinne eigentlich nur eine Scheinfrage, denn sie fuhrt die Antwort, die sie zu suchen vorgibt, ja immer schon mit sich. „Quem?", „wer spricht?" - natürlich die „gesampelte", elektronisch verfugbar gemachte Stimme, das Subjekt in der konkreten Alterität beliebiger Reproduzierbarkeit.13 Anders als in den übrigen Songs erhält die Identitätsfrage hier also keine diskursiv formulierbare Antwort mehr. Die Antwort besteht vielmehr nur in der echoartig variierten, medial verzerrten Wiederholung der Frage selbst. Dies ist natürlich die Antwort. Wer bis zum vierten Song noch geglaubt hatte, die Frage „quem?" erhalte eine diskursiv gültige Antwort, dem wird hier die Stimme des Mediums selbst entgegengehalten. Die Inhalte dessen, was wir als Antworten auf die Fülle unserer Identitätsfragen erhalten, sind immer nur die medial übermittelten bzw. verzerrten Versionen der Fragestellungen selbst... Die medienästhetische Reflexivität und Luzidität Caetanos in „Rap popcreto" ist zweifellos erstaunlich. Man würde jedoch zu weit gehen, erläge man der Versuchung, sie zu einer bündigen Medien- Theorie auszuformulieren, um sie auf die übrigen Songs zu übertragen. Caetanos ästhetische Auseinandersetzung mit dem Anderen ist gerade deshalb überzeugend, da sie sich jeder dogmatischen Festlegung verweigert. Die Pole, zwischen denen sie sich bewegt, sind bestimmt durch die mimetisch exakte Affirmation fremder Modelle auf der einen sowie dem kritisch akzentuierten Verweis auf der anderen Seite, der die mediale Bedingtheit jedweder Identitätszuschreibung kritisch destruiert. Handelt es sich im ersten Fall um das Phänomen von Identitäts-Zuschreibungen, so liegt es nahe, für den zweiten Fall den Begriff Alteritäts-Zuschreibung zu verwenden.

13

In Analogie zur Argumentation Walter Benjamins in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit besteht die Diagnosefunktion von „Quem?" mithin darin, hinsichtlich des Subjekts den Verlust der Aura der Substantialität zu konstatieren.

MPB - Identität und Alterität einer populären Gattung

101

Bibliographie Berg, Walter Bruno (1996): „Vom Fegefeuer des Anderen zum Paradies die Eigenen: die Suche nach dem Stil und die Rolle des Pastiche bei Proust", in: Ingenschay, Dieter; Pfeiffer, Helmut (Hg.): Marcel Proust und die Kritik. Frankfurt /M.; Leipzig: Insel Verlag, S. 11-37 Buarque de Holanda, Sérgio (1996): Raizes do Brasil. Sao Paulo: Companhia das letras Cabrai, Sérgio (1996): A MPB na era do ràdio. Säo Paulo: Editora Moderna Rocha, Joäo César de Castro, (1998): Literatura e cordialidade. O público e o privado na cultura brasileira. Rio de Janeiro: Editora da Universidade do Estado de Rio de Janeiro Ricoeur, Paul (1975): La métaphore vive. Paris: Seuil Riemann, Hugo (1919): Musik Lexikon. Berlin: Max Hesses Verlag Veloso, Caetano; Gil, Gilberto (1993): Tropicália 2. PolyGram

Gemma Larregola i Bonastre (Barcelona)

Wenn der Andere ein X-beliebiger ist: Die neuen Protagonisten des Fernsehspektakels Die Untersuchung der aktuellen Programmgitter des Fernsehens weist deutlich auf die Zunahme eines Phänomens hin, das sich immer weiter konsolidiert und als tendenzielle programmatische Linie erscheint: die Spektakularisierung sowohl der Form als auch der Behandlung der Inhalte. Auch die Subjekte des neuen Spektakels sind neu. Das Neo-Fernsehen führt als Protagonisten seiner Geschichten ganz gewöhnliche Leute ein, wodurch sich das Fernsehen in das Reich der „X-beliebigen" verwandelt. Dies mag zwar nicht neu sein im Fall von Gattungen wie der telenovela, aber es ist sehr wohl ein neues Phänomen bei Genres wie der Info-Show, der DocuSoap und auch der Nachrichtensendung. Dabei handelt es sich um Gattungen, die einen hohen Anteil am Programm des gegenwärtigen Fernsehens für sich beanspruchen. Und warum ausgerechnet gewöhnliche Leute? Warum gerade private Lebensgeschichten? Warum tauschten wir das Kriterium der Berühmtheit gegen das der Unbekanntheit ein, um unsere Protagonisten auszuwählen? Zweifelsohne geben unter anderem das Maß der Identifikation des Publikums und seine Programmtreue Anhaltspunkte zur Erklärung dieses Phänomens. Um genauer auf diesen Sachverhalt einzugehen, erscheint es notwendig, uns der jüngeren Geschichte des Fernsehens in Europa zuzuwenden, die sich von dem Moment an abzeichnet, als das Fernsehen dereguliert wird. Zusammen mit dem technischen Wandel bildet die Deregulierung einen Schlüsselfaktor für den Übergang vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Sowohl das Aufkommen des gemischten Fernsehsystems, das die Regeln für das Wettbewerbsszenarium setzt, als auch der unaufhaltsame technische Fortschritt, der den Zugang zu einem breiten Fernsehangebot sowie die Zunahme an Bildschirmdiensten gewährleistet, sind grundlegend für den Wandel des Femsehsystems, durch den diese historische Evolution zum Vorschein kommt. Inmitten dieser eher architektonischen Neustrukturierung macht sich auch ein Wandel in der Formatierung der Inhalte und in der Rolle bemerkbar, die verschiedenen Makrogattungen in Bezug auf das Programmgitter spielen. Dazu gehört die Suche nach neuen Formeln, Strategien und Positionierungsrichtlinien, um sich im intensiven Wettbewerb durchzusetzen oder, wie in einigen Fällen, um schlicht zu überleben.

Wenn der Andere ein X-beliebiger ist

103

In dem Amalgam der verschiedenen Bedingungen, das die allgemeine Tendenz der neo-televisiven Sendungen bestimmt, lassen sich dennoch einzelne Faktoren ausmachen: spektakuläre Behandlung der Themen, niedrige Kosten, Gattungsvielfalt, Antworten auf das flache Spektakel, Befriedigung von eher emotional und partizipativ geprägten Konsumentenansprüchen, vorgeblicher Dienst an der Gesellschaft und soziale Partizipation. All diesen Bedingungen versucht eine Gattung gerecht zu werden, die sich in diesem Stadium des Fernsehens als Standarte hervortut: die Info-Show. Die Info-Show überzieht die Programmgitter des Fernsehens mit einer zunehmend sentimentalisierten Spektakularisierung. Sie tut dies ausgehend von einem programmatischen Spiel, in dem sich Information und Show miteinander vermengen. Dieser Cocktail gestaltet sich als tendenzielles Phänomen, das sich quer über alle europäischen Programmgitter der letzten Jahrzehnte erstreckt, und das nach leichten Schwankungen bei der Suche nach einer endgültigen Positionierung heute stärker denn je in der Entwicklung der Neotelevision eine steile Tendenz nach oben aufweist.

1. Was ist die Info-Show? Die Benennung „Info-Show" entspricht einem Bedürfnis nach Klassifizierung von Sendungen, die zu Beginn lediglich als hybrid bezeichnet werden, aber bald differenzielle Merkmale aufwiesen, die ausreichend deutlich und spezifisch waren, um diesem Eigennamen der Gattung gerecht zu werden. Der nordamerikanische Begriff für diesen Typ von Sendungen ist Infotainment. In Europa hat sich jedoch InfoShow durchgesetzt. Die Info-Show subsummiert in ihren Formeln Elemente von Sendungen aus den Bereichen Information, Fiktion und Unterhaltung. Sie stellt einen neuen Modus dar, wie sich die Information präsentiert: In Bezug auf ihre formale Erscheinung wird die Information selber zum Spektakel und lässt als Protagonisten ihrer erzählten Geschichten gewöhnliche Leute zu, wodurch sie das Fernsehen in das Reich der „Xbeliebigen" verwandelt. Die Info-Show modernisiert auch die Behandlung der Information im Medium des Fernsehens, die sich jahrelang übermäßig den Formen verpflichtete, die sie vom Print- und Radiojournalismus erbte. Derart konstituieren sich im Inneren dieser Makrogattung drei Genres mit unterschiedlichen Formeln. Die Fernsehdebatte distanziert sich von der klassischen Strenge, die sie ihrer Gestaltung durch die Gattung der Information verdankt, und führt dynamisierende Elemente, anregendere Szenarien und als bedeutsamste Neuerung die Präsenz des Publikums ein. Vor allem jedoch ist die Fernsehdebatte darauf aus, ein Schauspiel abzugeben, das oftmals entwürdigend ist, ausgehend vom Streit unter den Gästen,

104

Gemma Larregola i Bonastre

die überzeichnete Charaktere darstellen und gegensätzliche Meinungen zu ein und demselben Thema vertreten. Die Talk-Show ist eine weitere Gattung der Info-Show, die fast bis zu den Anfängen des Fernsehens zurückgeht. Im Neo-Femsehen verzeichnet sie ebenfalls tiefgreifende Veränderungen. Die Talk-Show sucht das Spektakel im Wort. Die Gesprächsbeiträge der Gäste werden vom Moderator geleitet, wobei ihre Worte einen Argumentationsfaden stricken, der schon im Vorfeld festgelegt wurde. Alle tragen zur Bestätigung der These bei, von der der Moderator ausgeht. Häufig gibt der Talk vor, ein offenes Fenster für Publikumsbeschwerden zu sein, aber nur sehr selten kommt die Beschwerde fuhrende Person dazu, dasjenige darzulegen, was sie wirklich bewegt. Der Star jedoch unter den Gattungen des Makrogenres Info-Show ist die RealityShow. Das ist ein Sendungstyp, der den Alltag zum Spektakel macht, der Emotionen zur Schau stellt, der sich an Schmerz und Unglück ergötzt und alle Arten von Elend durchspielt. Dieses Phänomen wurde auf den paradoxen Namen Wahrheits-Fernsehen getauft und mit einer Vielzahl anderer Etiketten versehen wie z.B. Telerealität, Telemüll oder der bereits erwähnte Begriff Reality-Show. Auch bei diesem Genre sind die Szenarien beschwörend, die Anwesenheit des Publikums als Kulisse ist geradezu obligatorisch, und die Hauptrolle der gewöhnlichen Menschen ist das Merkmal, das sich am stärksten abhebt. Oftmals kommt dem anwesenden Publikum die Funktion zu, die fernsehenden Zuschauer widerzuspiegeln. Die Regie hat dann die Aufgabe, gerade jene Träne, die versteckt das Weite sucht bzw. jene traurigen oder erschreckten Augen im Vollbild einzufangen, mit denen sich das Publikum zu Hause identifiziert. Das anwesende Publikum ist die Verkörperung der Zuschauer zu Hause. Mit diesem „Anderen" identifizieren sich die Zuschauer, während sie aufmerksam dem „ A n d e r e n " zuhören, der gerade eine Geschichte erzählt, die zumindest ergreifend ist. Auf diese Weise wird ein Prozess der Identifikation mit dem in Gang gesetzt, der sich identifiziert. Ein anderes Merkmal, das allen diesen Gattungen gemeinsam ist, ist die zentrale Figur des Moderator/Journalisten/Stars, der den Reden ihren amtlichen Charakter verleiht und den Diskurs mit seinem wannen Wort anführt, was der Sendung ihre einmalige Identität verleiht und eine Atmosphäre der unmittelbaren Zuschaueransprache erschafft. Diese Figur bindet die Zuschauer an die Sendung und hält ihre Aufmerksamkeit während der ganzen Sendedauer wach, die sich über zwei Stunden hinweg zu erstrecken pflegt. Und so dient sie sich als sanftes Stimmchen des Gewissens an.

2. Die Entwicklung des Phänomens Info-Show Die Explosion der Reality-Show in ihren gegenwärtigen Dimensionen lässt sich ungefähr auf das Jahr 1987 datieren. Dies ist das Jahr, in dem Senderäume wie Un-

105

Wenn der Andere ein X-beliebiger ist

solved Mysteries in den USA und Un giorno en pretura bzw. Telefono giallo in Italien populär wurden. Für gewöhnlich werden diese Sendungen für etwas originell US-Amerikanisches gehalten, aber den Tatsachen entspricht, dass ein multilateraler Austausch von Formaten herrscht. Diese Gattung expandiert eher aufgrund evolutiver Faktoren des Mediums selbst als aufgrund der Kopie von Modellen, deren Erfolg bereits auf der anderen Seite des Atlantiks erprobt wurde, auch wenn die Übernahme einer Erfolgsformel sehr wohl eine weit verbreitete Taktik im Hinblick auf andere Formate ist. Es sei auf einige unterschiedliche Dominanten auf beiden Kontinenten hingewiesen. In den US-amerikanischen Reality-Shows lässt sich beispielsweise ein stärkerer Einsatz des Komplexes Emotion-Aktion beobachten als in den europäischen. Insbesondere die romanischen Varianten weisen einen stärkeren Rekurs auf die Mechanismen Emotion-AfFekt auf, die uns erlauben, in dem „Anderen", dem X-beliebigen, der auf dem Bildschirm erscheint, ein Spiegelbild dessen zu erkennen, was wir sind, was wir nicht sind, oder einfach was ein jeder sein könnte. In Europa tritt das Phänomen im Hinblick auf die Programmstrategien deutlicher in Erscheinung als in den USA. Die angesprochnen Sendungen belegen die bevorzugten Sendeplätze der prime time und erreichen hervorragende Zuschauerergebnisse, die einen Marktanteil von 40% in Europa übertreffen. In den USA dagegen kommen die meistgesehenen auf einen share von gut 20%. Die Untersuchung der Entwicklung der Info-Show in Europa zeigt, dass dieses Makrogenre seit 1990 ein spektakuläres Wachstum verzeichnet und in all diesen Ländern einen beträchtlichen Raum in den Programmgittern erobert.

Europe. Infoshow Evolution -1990-1994-1998- (%) Euromonitor

France

Germany

Italy

Spain

UK

Das Genre wird ebenso von öffentlichen wie von privaten Sendern ins Programm genommen. Dies ist eine Tendenz, die in den USA nicht anzutreffen ist, da dort das öffentliche Fernsehen PBS die Info-Show beiseite lässt.

106

Gemma Larregola i Bonastre

Auf quantitativer Ebene teilt es eine fuhrende Rolle mit den dominanten Makrogattungen: Fiktion und Information. Die Stellung der Info-Show schwankt in allen untersuchten Ländern, wie wir sahen, zwischen dem dritten und vierten Platz. Das Phänomen ist beachtlich, wenn wir bedenken, dass ihr quantitatives Gewicht im Paläo-Femsehen verschwindend gering war. Auf qualitativer Ebene nimmt das Gewicht der Info-Show noch größere Dimensionen an, da sie das Programmgitter mit einer neuen Formel infiltriert, deren Auswirkungen bis zur Gestaltung des Makro-Fernsehprogramms und sogar bis zur Auffassung darüber reichen, welche Funktionen das Medium überhaupt wahrnehmen soll. Die Makrogattung stellt eine Neuerung insbesondere in der europäischen Fernsehlandschaft dar, die sich unter der dreifachen didaktischen Ausrichtung des öffentlichen Dienstes entwickelte: Information, Bildung und Unterhaltung. Im Kontext des Zahlenwerks, das wir gesehen haben, ist die Gattung, die am häufigsten ins Programm aufgenommen wird, die Reality-Show. Die in den Anfangszeiten aufgestellten Reality-Shows bewegten sich grundsätzlich in einer Umgebung, die sich durch Tragik und Gefühle bzw. Erschütterung des Zuschauers angesichts fremder Trauer auszeichnete; sie drehten sich um „den Verschwundenen", „den Verunglückten", „den Verlassenen". In einer zweiten Phase treten Sendungen auf, in denen sich das Traurige mit dem Jovialen vermischt, die Freude ist nicht mehr auf den Zufall angewiesen, einen geliebten Menschen aufzufinden. Stattdessen wird der Appell an die Hoffnung durch eine vorbestimmte Belohnung ersetzt, derer sich die Produktionsequipe annimmt, um sie auf der Bühne auf einem goldenen Tablett zu überreichen. Jedermann wird hier mit dem beschert, wovon er immer schon träumte: mit einer Reise, einem Wagen oder einem T-Shirt mit der Unterschrift seines Lieblingsfußballers. Die Reality-Show nimmt die Gestalt eines wahrscheinlichen Berichtes an, der mittels der diskursiven Strategie des Spektakels dargeboten wird, mit einem „Herrn irgendjemand" in der Hauptrolle, mit dem sie dem Anspruch auf Partizipation Genüge leistet. Sie appelliert an die Empfindsamkeit und gebiert sich somit als eine Art Annäherung an fremde Gefühle, zumeist allerdings extreme wie Schmerz oder Freude. Eine ihrer wichtigsten Grundlagen ist der Mythos des Fensters zur Welt. Das Fernsehgerät preist sich somit als Direktverbindimg zur Realität an. Diese Realität bringt uns dazu, uns über den Fernseher mit dem Nachbarn zu verknüpfen und uns für die fremden Geschichten deijeniger zu interessieren, die sogar Verachtung trifft, wenn sie über die Straße gehen. Die Studiokulisse verleiht ihnen Wirklichkeit, eine fiktionalisierte Wirklichkeit. Die Geschichten realer Protagonisten gehen von der Wirklichkeit aus, um sie zu fiktionalisieren und in ein Spektakel zu verwandeln. Die Reality-Shows nähern sich unverblümt fremden Gefühlen. Mit einer halben Stunde Gala versuchen sie, die Mühe vieler Jahre eines einfachen Lebens zu kompensieren. Sie verschenken Momente der Freude, ohne den Grund der individuellen

Wenn der Andere ein X-beliebiger ist

107

Problematiken auszuloten, da von einzelnen Fällen niemals auf das Soziale geschlossen wird. Das interessiert die Info-Show nicht. Diese Art von Sendungen erfreuen sich ungeachtet der sozialen Debatten, die sie hervorrufen, einer breiten Akzeptanz seitens des Publikums. In Europa betrifft die Zustimmung zu diesem Makrogenre ebenso die Produktionen öffentlicher Sender wie die der Privaten. In nicht geringem Maße ist ihre Nutzung als Anti-Krisen-Mittel erkennbar. Die Bannkraft der Realities hat ihre eigenen Grenzen deutlich überschritten. Im Augenblick fallt es bereits schwer zu unterscheiden, was eine Reality ist, und was ein Talk, da alle diese Gattungen ihre reine Form verloren haben und an der Quelle der Reality-Shows tranken. Aber die Reality hat nicht nur ihre Nachbargattungen angesteckt, sondern hat einen Großteil der Fernsehgenres ihren Stempel aus Partikularismen, Spektakel und Emotion aufgedrückt.

3. Worauf richtet sich die Treue der Zuschauer? Die Fähigkeit, die Treue der Zuschauer an sich zu binden, ist einer der Schlüssel für den Erfolg einer solchen Aufmachung von Fernsehsendungen. Dieser Erfolg kommt bereits nicht mehr nur den Info-Show-Sendungen zugute sondern auch solchen Fernsehgattungen, die unterschiedlichste Themen behandeln, dabei jedoch narrative Strategien der Info-Show verwenden. Ein klares Beispiel hierfür sind der neue Typ von Informationssendungen, der sich in den europäischen Fernsehnetzwerken ausbreitet und die relativ neuen Docu-Soaps. Die Fernsehanstalten scheinen diesen Formaten einen Teil des Privilegs zugestanden zu haben, das vormals der strikten Information vorbehalten war. Für gewöhnlich werden mittlerweile dieselben Nachrichtenthemen von beiden Makrogattungen aufbereitet: von der Information und der Info-Show. In den täglichen Nachrichten erscheinen Beiträge zu privaten und ergreifenden Geschichten. Insbesondere in der Bestimmimg der Selektionskriterien für Nachrichten ist ein Wandel eingetreten. Vormals war das überragende Ausmaß ein klares Kriterium, jetzt kann das Geringste und Geheimste ein Grund für die Auswahl sein. Ebenso trifft dies für das Alltägliche, das Gewöhnliche und das Menschliche zu. Auf diese Weise wird versucht, eine größere Nähe zum Publikum aufzubauen. Nun setzt sich eine Verbindung aus den beiden klassischen Modi durch, wie man fremde Geschichten angeht: Die eine besteht in einem realistischen Fokus, die der Information eigen ist, die andere in einem Vorgehen mittels Repräsentation, die der Fiktion eigen ist. Die Formeln, die beide Vorgehensweisen zu einer Einheit zusammenführen, legen eine neue Form der Wirklichkeitskonstruktion an den Tag, die in vielen Fällen die TeleErniedrigung gefährlich streift. Aber man kann ihren hohen Anziehungswert nicht leugnen.

108

Gemma Larrégola i Bonastre

Auf dieser Linie liegt auch die andere, bereits angekündigte Gattung: die DocuSoap. Es handelt sich dabei um ein Genre, das die informative Behandlung eines Themas, die dem Dokumentarfilm eigen ist, mit der serialisierten Präsentation individueller Geschichten vermischt, die in ein gewöhnliches Thema eingetaucht sind. Als ein Beispiel hierfür, das vielleicht die Pioniersendung des Genres ist, dient die britische Docu-Soap Driving School. Wie kommt eine ganze Reihe von realen Personen mit dem Prozess zurecht, den Führerschein zu machen, der für fast alle eine halbwegs traumatische Situation darstellt? Wie entwickeln sich ihre Fahrkenntnisse? Wie entwickelt sich ihr Gemütszustand von Tag zu Tag? Was ist das Witzige, das ihnen passiert? Kommen sie durch? Fortsetzung folgt... Die Mischung dieser unterschiedlichen Fragen kreiert jenen Typ serialisierter Dokumentation, in der eine private Geschichte schließlich beginnt, interessant zu werden. Der Identifikationsprozess des Publikums mit dem Thema ist evident. Die offensichtlichste Strategie in Bezug auf den Inhalt, die Aufmerksamkeit auf die Sendung zu lenken, besteht in der Auswahl des Themas, das entweder allgemeines Interesse erweckt oder Erwartungen bzw. Erinnerungen hervorruft. In Bezug auf die Form liegt ein Schlüssel der Zustimmung zur Docu-Soap im Rückgriff auf ein Genre, dessen Erfolg sicher ist, die serialisierte Fiktion. Trotz des kurzen Zeitraums, währenddessen diese Gattung auf Sendung ist, sind mittlerweile unterschiedliche Typen von Docu-Soaps entstanden. Es gibt solche, die sich über ihre Protagonisten lustig machen und solche, die mit ihren Protagonisten lachen. Die Nuancierungen innerhalb des Genres erweisen sich als substantielle Differenzen. Wir begegnen also auch unter diesen Sendungen solchen, die wir als „seriös" und solchen, die wir als beinahe erniedrigend einstufen können. In Spanien hatte die Docu-Soap Bellvitge Hospital unter der Regie von Francesc Escribano und Joan Ubeda großen Erfolg. Sie wurde Tag für Tag auf TV3 ausgestrahlt, d.h. von dem autonomen katalanischen Kanal. Ihr Thema sind die verschiedenen Geschichten, die sich in einem großen Krankenhaus ereignen können. Die Figur, die verloren geht, als sie von einem Fenster zum anderen ging, der frisch gebackene Arzt, die Rohheit der Ankündigung einer tödlichen Krankheit und die Sanftheit der Gespräche der Großeltern, deren Wohnsitz sich im Grunde mittlerweile von ihrem Heimatdorf in das Hospital verlagert hat. All dies sind Mikrogeschichten, die im Endeffekt eine globale Geschichte zusammenschneidern, die Rechenschaft darüber abgibt, was ein großes Krankenhaus heutzutage ist, das sich in das öffentliche Gesundheitssystem in Spanien eingliedert. Die Möglichkeit, dass sich Zuschauer über solche Geschichten mit der Sendung identifizieren, ist, wie gesagt, nicht zu leugnen. Die Auswahl des Themas garantiert die Annäherung an ein großes Publikum: Es handelt sich um ein Thema allgemeinen Interesses. Die episodenhafte Dosierung des Fortgangs der einzelnen Geschichten setzt tendenziell den Rückgriff auf eines der erfolgreichsten Formate des aktuellen Fernsehens voraus: die serialisierte Femsehfiktion.

Wenn der Andere ein X-beliebiger ist

109

Der Typ Fiktion, der dem Medium Fernsehen am ehesten entspricht, die Serie, durchzieht seit 1995 die Programmausrichtung eines großen Anteils der europäischen networks, was sich in einer klaren Tendenz zugunsten dieses Sendeformats niederschlägt. Und innerhalb dieser Tendenz macht sich eine Subtendenz hin zur Eigenproduktion bemerkbar. Der Wert dieses Formats ist heute im Hinblick auf die Zusammenstellung des Programmgitters klar identifizierbar, da es zu einem hohen Prozentsatz von diesem Sendetyp durchsetzt wird. Auch bei diesem Genre stellt sich das Phänomen der Identifikation mit dem , Anderen" ein, den wir auf dem Bildschirm sehen: Manchmal aufgrund des Interesses, sein zu können wir er; ein andermal, weil man nicht so sein will wie eine der konkreten Figuren... Bei dieser Art von Fiktion artikuliert sich jedoch am Ende aufgrund von Zustimmung oder von Ablehnung- die Vorstellung einer Idealfigur, einer Seinsform, die sich durch das soziale Gewebe verbreitet. So bilden sich schließlich Stereotypen aus, die es erlauben, in den geschlossenen Kreis folgender Fragen zu gelangen: Handelt es sich um Modelle, die der Gesellschaft entnommen sind? Oder geht es um Modelle, die sich in der Gesellschaft spiegeln? Die Antworten auf diese Fragen sind wiederum nicht einfach und hängen von einer Anzahl von Variablen ab wie z.B. all jenen, die in der Konfiguration des menschlichen Wesens bzw. der Gesellschaft zum Tragen kommen. In diesen Sendungen spielt der Prozess der Vorhersage eine unabdingbare Rolle. In ihm findet sich der Zuschauer wieder. Der Grad an Vorhersehbarkeit dessen, was geschehen wird, leitet sich von der Mischung aus Unterhaltung und der Frage ab, die jeder sich selbst stellt: Was würde ich tun? Oder was würde ich mir wünschen, was diese Figur unternehmen soll? Beide Weisen, mit der Handlung der Serie umzugehen, gehen in die Bemessung des Vorhersehbarkeitsfaktors als eine der Variablen ein, die den Grad bestimmen, inwieweit die Zuschauer sich in eine Fragment für Fragment erzählte Geschichte mittels einer täglichen Dosis an Überlegungen und Intrigen einbringen. Zuguterletzt dürfen wir den neuen Typus informativer Dokumentarfilme nicht vergessen, die ebenfalls mit einem klaren Raum in den Programmgittem produziert werden. Es handelt sich um jene Geschichten, die in der ersten Person erzählt werden, und die in dieser ersten Person und in ihrem Privatleben zentriert sind. Dadurch, dass sie ihre alltäglichen Beschäftigungen zeigen, stricken diese Erzählungen mittels notwendiger Elemente (Kontext, Geschichte...) eine Geschichte mit hohem Informationsgehalt. Wie sollte man sie benennen? „Kreative Dokumentationen", gewiss. Offensichtlich sind sie dies. Aber welcher Zusatz könnte ihre Katalogisierung verdeutlichen? „Dokumentationen des Privaten"? Vielleicht ist dies eine Lösung. Unbestritten haben wir es ein weiteres Mal mit der Rückkehr zum Partikulären bzw. zum Persönlichen als Mittelpunkt des Interesses zu tun. Es handelt sich um eine Strategie, die den Durst des Voyeurs nährt, der sich auf sein Sofa zu Hause setzt, als ob er durch ein Schlüsselloch blickte. Nicht zu vergessen ist dabei der

110

Gemma Larrégola i Bonastre

Identifikationsprozess des Publikums, der vom Interesse gegenüber dem Menschlichen geleitet wird. Dieses Interesse taucht einmal mehr auf, und bei so viel Evidenz ist es nicht länger zu leugnen. Es kann sein, dass der televisive „Andere" ein „Xbeliebiger" ist, aber diese „X-beliebigen" einzusetzen, ist unkompliziert, rentabel und fuhrt derzeit zum sicheren Erfolg dieses neuen Fernsehspektakels.

Bibliographie Die Daten, die im vorliegenden Beitrag Verwendung fanden, wurden den Berichten entnommen, die EUROMONITOR regelmäßig durchführt. Dabei handelt es sich um ein Zentrum zur Beobachtung der Fernsehprogramme in Europa und in den USA, das vom Inhaber des Lehrstuhls für audiovisuelle Kommunikation und Werbung an der Universidad Autónoma de Barcelona, Prof. Dr. Emili Prado, geleitet wird, in dessen Forschungsteam die Autorin Gemma Larrégola arbeitet.1

1

Der Beitrag mit dem ursprünglichen Titel „Cuando el otro es el cualquiera. Los nuevos protagonistas del espectáculo televisivo" wurde von Joachim Michael und Markus Klaus Schäffauer ins Deutsche übersetzt.

Claudius Armbruster (Köln)

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien Indios in Brasilien symbolisieren bis heute Fremdheit im Schoß des Eigenen. Wie einst in der portugiesischen Kolonie, wo sie nach langem Disput in Kirche und Staat von Sklaven zu Untertanen der portugiesischen Krone wurden, so machte in der Mitte des 19. Jahrhunderts das unabhängige Kaiserreich Brasilien die überlebenden Indios symbolisch zum Teil der eigenen Nation. Ihre Fremdheit war immer weniger bedrohlich, die symbolische Integration und Domestizierung dieser Fremdheit erfolgte durch verschiedene Medien und Gattungen. Im Folgenden soll an Beispielen aus drei Epochen und verschiedenen Medien und Gattungen der Prozess der Integration und Reduktion von Alterität untersucht werden. Am portugiesisch-brasilianischen Beispiel lässt sich dabei die Einschmelzung von Alterität in nationale Identität jenseits staiTer Dichotomien besonders gut beobachten und erfassen, wenn man Kultur- und Literaturgeschichte als Mediengeschichte begreift, wobei historisch und rezeptionsästhetisch jeweils verschiedene Bestimmungen von Elite- und Massenkultur Anwendung finden können.

1. Die Portugiesen entdecken die Anderen Der portugiesisch-brasilianische Diskurs über die indigenen Kulturen in Brasilien beginnt mit der Entdeckung und Eroberung der Terra de Vera Cruz. Der für die Portugiesen Andere, der Ureinwohner der neu entdeckten Welt, erscheint in der Alten Welt im Medium der Schrift und fast gleichzeitig zur Schau gestellt durch Präsentation bei Hofe und Umzügen. Der Brief des Teilnehmers an der Entdeckungsfahrt von Pedro Älvares Cabral an den portugiesischen König ist der von europäischer Schrift gesetzte Anfangspunkt der Beschreibung des Anderen. Sein Verfasser, der Augenzeuge Pero Vaz de Caminha berichtet am 1.5.1500 König Manuel über die Entdeckung neuer Landstriche und anderer, sehr fremder Menschen. Die Carta do Achamento, der Findungsbrief also, mit dem die Beschreibung der „ganz" Anderen im Medium der Schrift beginnt, ist ursprünglich als pragmatischer Text für einen einzigen Adressaten und vielleicht auch seinen Hofstaat intendiert. Gedruckt und damit einer breiteren Rezeption zugänglich wurde dieser Brief erst 1817, also wenige Jahre vor der Unabhängigkeit Brasiliens 1822. Brasilianische Historiker und Literaturhistoriker bezeichneten auf der Suche nach einer eigenen

112

Claudius Armbruster

schriftlich fixierten Identität die Carta de Pero Vaz de Caminha oft als „Geburtsoder Taufurkunde Brasiliens", doch ist sie eher ein Musterbeispiel der in Brasilien geschriebenen portugiesischen Entdeckungs-, Eroberungs- und Kolonialliteratur. In dem Brief berichtet der portugiesische Chronist seinem König über die „ganz" Anderen, die Indios, und natürlich auch über das Land, seine Beschaffenheit, seine Flora und Fauna. Die Indios, auf die die Portugiesen treffen, sind für sie die ganz Fremden. Trotzdem nennt Caminha sie zunächst „homens", oder „homens da terra", sodann „gente", wovon er die Eigenen, „a gente, nossa" abhebt. Nur wenn er sich über einige der Indios ärgert, setzt er sie mit dem Begriff „gente bestial" (tierische Leute) herab. Zwar lebten sie wie wilde Tiere, doch seien ihre Körper äußerst sauber, wohlgenährt und schön. Von Anfang an überrascht und fasziniert ihn das Aussehen und vor allem die Nacktheit der Indiomädchen: Ali andavam entre eles tres ou quatro mofas, muito novas e muito gentis, com cabelos muito pretos e compridos, caidos pelas espäduas, e suas vergonhas täo altas e täo cerradinhas e täo limpas das cabeleiras que, de as muito bem olharmos, näo tinhamos nenhuma vergonha. (Caminha 1500: 82)

Caminha war ungeheuer fasziniert von der Scham (vergonha) der Indiofrauen, die er detailliert beschreibt und anmerkt, dass die eigenen, d.h. die portugiesischen Frauen, mit der Form und Sauberkeit dieser Körperpartie nicht mithalten könnten. Bei den Männern schätzt er ebenfalls die unschuldige Nacktheit, ihre rotbraune Haut und die „guten und wohlgeformten Gesichter und Nasen": A feifäo deles e parda, algo avermelhada; de bons rostos e bons narizes. Em geral säo bem feitos. Andam nus, sem cobertura alguma. Näo fazem o menor caso de cobrir ou mostrar vergonhas, e nisso säo täo inocentes como quando mostram o rosto. (Caminha 1500: 74)

Natürlich musste ihm auffallen, dass einige der Indios in der durchbohrten Unterlippe echte Knochen von -wie er sagt- der Größe einer Baumwollspindel trugen: Ambos os dois traziam o läbio de baixo furado e metido nele um osso branco e realmente osso, do comprimento de uma mäo travessa, e da grossura de um fiiso de algodäo, agudo na ponta como um furador. (Caminha 1500: 74)

Ausfuhrlich beschreibt er die Farben der Körperbemalung und die geometrischen Motive. Relativ unvoreingenommen und kaum wertend, zumindest aber selten abwertend kommt er immer wieder auf die Nacktheit der Frauen zu sprechen, wenngleich es der Anstand und der Respekt vor dem König, an den der Brief sich ja richtete, gebot, darauf nicht näher oder derber einzugehen. Nichtsdestoweniger bahnt sich eine beobachtende, um nicht zu sagen voyeuristische Perspektive mitunter einen Weg in das portugiesische Bild der Urbrasilianerin: Die Portugiesen beobachten eine der Indiofrauen, der sie ein Tuch gaben, damit sie sich zur Messe bede-

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

113

cke. Von der jungen Frau sagt Caminha, sie habe sich wenig darum geschert, es beim Hinsetzen auszubreiten: Entre todos estes que hoje vieram näo veio mais que uma mulher, 11109a, a qual esteve sempre à missa e a quem deram um pano para que se cobrisse; e o puseram em volta dela. Todavia, ao sentar-se, näo se lembrava de o estender muito para se cobrir. Assim, Senhor, a inocència desta gente é tal que a de Adào näo seria maior, com respeito ao pudor. (Caminha 1500: 97) Nacktheit ist also zunächst das überraschende und interessanteste Zeichen der Fremdheit, der Unschuld oder des Urzustandes, aber auch der tabula rasa. Denn die Indios haben nach Pero Vaz de Caminha keinerlei Glauben und Kultur, sie sind „nackt" auch im kulturellen und religiösen Sinn, gute Wilde, denen der Herr gute Körper und schöne Gesichter gab. Der Diskurs der Entdecker und Eroberer konstituiert hier Fremdheit als einen kulturlosen Zustand und die Fremden als nur durch Natur und noch nicht durch Kultur bestimmte Wesen. In diese tabula rasa gelte es möglichst bald den christlichen Glauben einzuschreiben. Die Alterität des Anderen, des ganz Fremden, wird zum Teil ausgehalten und relativ genau auf der phänomenologischen Ebene geschildert, ohne Denunziation und auch weitgehend vorurteilsfrei. Dabei stehen grammatisch die „eles" (sie) als Fremde dem ,410s", dem „wir" des portugiesischen Berichterstatters gegenüber. Fremdheit wird zunächst erträglich durch das sich konstituierende Bild des Guten Wilden, doch wird die Fremdheit der Domestizierung anheimgestellt. Gegen Ende des Schreibens bestimmt immer mehr eine europäische missio den Diskurs: Im Vordergrund steht für Caminha prospektiv die Aufgabe der Bekehrung der Guten Wilden. Domestizierung und Beherrschung bedeutet in den Grenzen des kolonialen Projekts natürlich auch Integration: Die „guten" Fremden können in Caminhas Vorstellung Teil der Christenheit werden: Parece-me gente de tal inocència que, se nós entendéssemos a sua fala e eles a nossa, seriam logo cristàos, visto que nào tèm nem entendem creila alguma, segundo as aparèncias. (Caminha 1500: 97) Im Medium der Schrift und in der Gattung des Briefes lässt Pero Vaz de Caminha also recht viel Fremdheit für sich und auch für seinen König zu. Natürlich dominiert immer wieder der Vergleich mit dem heimischen Portugal, doch scheint dies eine erkenntnisnotwendige Herausstellung der Alterität zu sein. Fremdheit kann in Vergleichen zum Eigenen besser beschrieben werden. Als Gattung ist die Carta des Pero Vaz ein Brief, ein ursprünglich pragmatisch intendierter Text, natürlich auch eine Art testimònio, Zeugnis der ersten portugiesisch-europäischen Begegnimg mit den Anderen in der Neuen Welt. Vergleicht man die Repräsentation des Anderen im Medium der Schrift des ersten portugiesischen Chronisten auf brasilianischem Boden mit späteren bildlichen

114

Claudius Armbruster

Darstellungen des 16. Jahrhunderts, so wird deutlich, wie objektiv und „fremdenfreundlich" die Darstellungen von Pero Vaz de Caminha waren. Große Distanz besteht zwischen ihm und den Schilderungen und Holzschnitten in Hans von Stadens 1557 in Marburg erschienenem Buch Wahrhaftige Historia der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresserleute, die immer wieder die vermeintlichen Kannibalen als Schreckensbild herausstellte. Bei von Staden steht die Visibilität der Indios im Dienst der perspektivischen Zentrierung auf die eigene Person. Die vermeintlichen Anthropophagen dienen der Überhöhung der eigenen Abenteuer in der Fremde und mit den Fremden. Andere multimediale Ereignisse des 16. Jahrhunderts, die in Verbindung stehen mit den Entdeckungsfahrten nach Amerika, steigerten sprunghaft und farbenprächtig die Visibilität der Anderen, förderten aber nicht den offenen Umgang mit der Alterität. Die Indianerschauen, die mit der Rückkehr von Kolumbus' erster Expedition und der Zurschaustellung von sieben Arawak-Indios in Sevilla und Lissabon begannen, inszenierten Alterität spektakulär und domestizierten sie gleichzeitig in ihrem zirzensisch-prozessionshaften Charakter. Dem portugiesischen König Manuel, dem Adressaten der Carta des Pero Vaz de Caminha, wurden im Jahr 1500 von dem Seefahrer Gaspar Corte-Real etwa fünfzig nordamerikanische Indios präsentiert, in der Mitte des Jahrhunderts entwickelten sich in Rouen und Bordeaux große mediale Ereignisse, Mischungen von ethnographisch-geographischem Szenarium, Zirkustheater, Prozession und Karnevalsumzug, in deren Mittelpunkt amerikanische Indios standen. Aus dem Umfeld einer dieser Schauen ging dann, in der Form von Montaignes schriftlichen Essais (1582), vor allem dem Kapitel „Des Cannibales", die europäische Selbstreflexion und die vielleicht weitestgehende literarische Beschäftigung mit der Alterität im 16. Jahrhundert hervor. Erst der Medien- und Gattungswechsel zurück zur philosophischen Schrift ermöglichte ein sich öffnendes Eingehen auf die Alterität, die durch die unmittelbare und triste Visibilität der zur Schau gestellten amerikanischen Menschen verhindert worden war.

2. Grammatik, Theater und Katechese - die Jesuiten und die Alterität Im Vergleich zu dem „Findungsbrief' des portugiesischen Expeditionsteilnehmers und den Essais des französischen Philosophen Michel de Montaigne haben wir es bei den folgenden Gattungen und Medien, die Alterität „verhandeln", eindeutig mit interessensgeleiteten Schriften und medialen Ereignissen zu tun: Der Lehrdialog des Begründers der Jesuitenmission in Brasilien, Antonio da Nobrega, leitet mit seinem Diälogo sobre a conversäo do gentio, vermutlich 1557 verfasst, und zahlreichen Briefen die Tradition der informativ und didaktisch orientierten Jesuitenliteratur in Brasilien ein. Teilweise kommt es dabei zu einer Abkehr vom Bild des nur Guten

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

115

Wilden in einer viel versprechenden Neuen Welt, wie es Pero Vaz de Caminha mitbegründet hatte. Die Gattung der jesuitischen Informations- und Missionsliteratur soll zunächst die Eigenen, d.h. die Europäer, auf die Begegnung mit den Anderen, den Indios vorbereiten. Man könnte in ihr also bis zu einem gewissen, geringen Grad auch interkulturelle Literatur vermuten, wäre da nicht das vorrangige Ziel der Missionierung, Christianisierung und eben auch Domestizierung. Die Anderen, ihre Sprache und schriftlose Kultur, werden zunehmend in Schrift gebannt. Ihre Sprachen werden erforscht, vor allem in José de Anchietas Arte da gramática da lingua mais usada na costa do Brasil aus dem Jahr 1595. Mit Anchieta beginnt sowohl die Beschreibung, Systematisierung und Verschriftung oraler indigener Sprache und Tradition als auch deren Inbesitznahme und Instrumentalisierung. Aber auch Integration und Kommunikation mit dem Fremden und Anverwandlung des Fremden zum Eigenen entspringen hier: Die lingua geral auf der Basis des indigenen Tupis und Guaranis stellt durch Verschriftung, Grammatikalisierung und Reduzierung im kolonialen Brasilien die sprachliche Brücke zwischen Indigenen und Fremden her: Als lingua brasilica wird sie etwa zweihundert Jahre lang, zwischen 1550 bis 1750 nicht nur von Indios verschiedener Stämme, sondern auch von Siedlern und aus Afrika verschleppten Sklaven gesprochen. Die Grammatik als Grundlage interkultureller Kommunikation dient zunächst dem Verstehen der Fremden und ihrer fremden Sprachen, dann aber auch zur Reduktion der Fremdheit und Homogenisierung der fremden Vielheit in der Katechese. Ausgestattet mit Informationen über die Indios, ihre Sprachen, Religionen und Kulturen konnte das bereits in dem „FindungsbrieP ins Auge gefasste Katecheseprojekt beginnen. Katechese muss dabei sowohl als Integrationsversuch des Fremden in die portugiesische (iberische) Christengemeinschaft, als auch als Domestizierung und Unterwerfung des Fremden unter das Eigene verstanden werden. Doch zur Christianisierung, Domestizierung und Integration der Anderen reichten die deskriptiv-skripturalen jesuitischen Informations- und Kommunikationsmedien -dies zeigt den Jesuiten die tägliche Begegnung mit den Fremden- nicht mehr aus. Europäische Religion und europäische Rituale waren allein mit pragmatischen Medien und Gattungen den Fremden in der Fremde nicht zu vermitteln. In dieser Sicht erscheinen Musik und Theater, vor allem das auto sacramental, als neue interkulturelle Medien, wo Identität und Alterität in bestimmten Grenzen neu verhandelt werden. Dieses Missionstheater, „teatro escolar" oder „teatro evangelizador" genannt, entwickelte Anchieta zu einem wirksamen Medienverbund. Die autos als mittelalterliche, aus Portugal stammende Gattung kommen im Rahmen eines großen pädagogisch-politischen Projekts, der Katechese, in der Neuen Welt zum Einsatz. Es handelt sich also im weitesten Sinne um interessengeleitete, ja wohl auch engagierte Theaterprojekte. Innerhalb dieses Theaters waren dann auch die Anderen und ihre

116

Claudius Armbruster

Kultur zunächst Publikum und Objekt, später konnten sie auch mitspielen. Die autos fanden vor allem in den aldeias, den Jesuitenmissionen, Verwendung und erlaubten eine Partizipation der Indios in Gesang und Spiel, als Engel oder Dämonen, in der Ausstattung und Gestaltung der Prozessionen, Bühnen und Kirchen. In die iberische Gattung finden also neue, indigene oder autochthone Elemente Eingang, farbenprächtige Tänze in Federschmuck, Verse in der indigen basierten lingua geral, Dämonen und Rhythmen durchziehen die iberisch-religiöse Gattung auto sacramentai. Sie repräsentieren die Fremdheit und bereiten gleichzeitig der Domestizierung und der Reduktion von Fremdheit den Boden. Im vielleicht wichtigsten Stück von José de Anchietas Missionstheater, dem Auto Representado na Festa de Säo Lourenqo, 1587 im heutigen Niterói uraufgeführt, sind die meisten Verse auf Tupi: Das in fünf Akte unterteilte Stück weist 1.493 Verse auf: 876 in Tupi, 595 in Spanisch, einen in Guarani und 40 in Portugiesisch. Bunt gemischt finden sich indianische, koloniale und antike Figuren, etwa die Heiligen Sebastian und Laurentius, die Römer Diocletian und Valerianus. Im Streit zwischen Gut und Böse bleibt den indianischen Figuren vor allem die Rolle der Teufel, die zahlreichen indianischen Elemente, Tanz, Krieg, Anthropophagie und wilde Ehe dienen als Negativbeispiele: Minha lei é muito bela; nào quero que os homens a lancem fora, näo quero que os homens a fafam cessar. Quero muitissimo todas as aldeias destruir. Coisa muito boa é urna grande bebedeira ficar vomitando cauim. Isso é que deve ser bem amado, isso realmente! Afirmamos que isso é que deve ser festejado. Sào famosos esses mofacaras, que säo uns beberròes. O que esgota verdadeiramente o cauim esse é o fazedor de mal, querendo guerra sempre. (Anchieta 1987: 7)

Ausfuhrlich lässt Anchieta einen der drei Teufel, sein „Programm" zur Zerstörung der Siedlung darstellen. Es besteht aus indianischen Fragmenten in einer pejorativen Darstellung indigener Kulturen.

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

117

A danfa e que 6 boa, enfeitar-se, aveimelhar-se, emplumar-se, tingir-se com urucu as pernas, pretejar-se, fumar, ficar fazendo feiti9os... [•••]

Enraivecer-se, tracidar gente, comer um ao outro, prender tapuias, a mancebia, o desejo sensual, a alcovitice, a prostituif äo - näo quero que ninguem os deixe. Por causa disso, visito os aposentos dos indios, dizendo: - „que acreditem em mim". Vem em väo para me afastar os ditos „padres", hoje, proclamando a lei de Deus. (Anchieta 1987: 7-8) Bei aller iberozentrischer Ablehnung indigener Kultur gibt es durchaus auch einen positiven partizipativen Aspekt im ideologischen Theater der Jesuiten: Mit den Indios und für sie schreibt Anchieta autos, wo auch die Engel in Tupi singen und beten. Zum einen integriert Anchieta Fremdheit, zum anderen verurteilt er sie und möchte sie als Teufelswerk verbannt sehen. Das oszillierende Verhandeln der Alterität prägt das Missionstheater: Europäisch bleibt Anchieta den Zielen der Kolonie, den autos von Gil Vicente, dem mittelalterlichen cancioneiro und der Rhetorik des Barocks verhaftet,1 mythisch fixiert er die Indianer als Wilde, die durch seine didaktischen Dramen zu Zivilisierten werden sollen. Der portugiesische Katholizismus stellt dabei die Basis für die interkulturelle Brücke zum Fremden, dem Indigenen dar, auch für das „Symbolswitching". Mittlerfiguren wie Engel, das Weihwasser und der Rosenkranz, Exvotos, Heiligenfiguren

1

Bosi (1992: 64) versucht aufzuzeigen, wie sich Anchieta aus dem Mythenschatz der Indios bedient, wie er im Inneren der Tupiliteratur nach Parallelen zu altiberischen Volksweisen sucht. Methodisch freilich ist auch Bosis kritische Methode nicht ohne Schwächen: Zwar arbeitet er interdisziplinär mit den Rekonstitutionen von indianischen Erzählungen, Mythen und Glaubensvorstellungen durch Ethnologen und Anthropologen, doch sind eben auch dies keine Originaltexte, sondern aposteriorische Rekonstitutionen, Rückschlüsse aus oralen Zeugnissen und Erinnerungen der letzten Ureinwohner, die der Interpretation unterliegen.

118

Claudius Armbruster

und Reliquien als Elemente des portugiesischen Volkskatholizismus tragen medial das Lehrgebäude des auto sacramental. Natürlich muss das jesuitische Theater und seine interkulturellen Medien stets auch unter der Voraussetzung von Unterwerfung und Dominierung durch Waffentechnologie gesehen werden, die die reale Machtbasis für Ablehnung und Exklusion fremder Kulturelemente bildeten: Gegen Anthropophagie, Polygamie, Ekstase und Rausch wollte der Europäer Anchieta den Kampf aufnehmen, notfalls nicht mit dem Missionstheater, sondern auch mit züchtigender Gewalt. Festzuhalten bleibt, dass Anchieta in Brasilien einen publikumsorientierten Medienverbund entwickelte, mit einem Diskurs sowohl für die Wilden und Fremden, als auch für die Kolonisten und die „Eigenen", d.h. angehende Missionare und Theologen. Mit den autos schuf er eine vielfach hybride Gattung: Sprachlich verwirrt die oszillierende Verwendung des Portugiesischen, des Spanischen und der Tupi-Guarani-Elemente, wobei nicht immer zu erklären ist, warum Indios und Teufel mitunter plötzlich Spanisch sprechen, römische Kaiser aber Tupi. Auch die Handlungsführung schwankt in ihren Zeitbmchen und phantastischen Elementen zwischen Mittelalter und Barock. Bezogen auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts muss die mediale Besonderheit des auto sacramental Anchietas hervorgehoben werden: Bei aller ideologischer Ausrichtung ermöglichte es eine Partizipation und ein sinnlich-körperliches Miterleben des Sakralen - im Gegensatz zu den Indianerschauen, wo das Fremde in einer Art ambulantem Menschenzoo den eigenen Voyeuren offeriert wurde. Etwa ein Jahrhundert später findet die jesuitische Verhandlung über Alterität in einer weiteren der Missionskirche verbundenen Gattung statt. Auch als Medium stellen die Predigten der prominentesten Figur der jesuitischen Unternehmungen in Portugal und Brasilien, Antonio Vieira (1608-1697), ein interessantes Phänomen dar. Der polyglotte Vieira -er schrieb und sprach in sieben Sprachen- wandte sich den Fremden als Missionar und auch als Verteidiger zu. 1652 kam er in die Jesuitenmission im Amazonas nach Maranhäo: In seinen Schriften -zumeist handelte es sich um Aufzeichnungen oder Bearbeitungen von Predigten- engagierte er sich für die Besserstellung der Fremden und für ihre Integration in die christliche Gemeinschaft. Man kann ihn als einen engagierten Anwalt für die Aufnahme der Fremden in die eigene, hier die jesuitische Weltordnung sehen. Im Sermäo da Epifania, 1662 in der Capela Real gehalten, beschäftigt er sich mit der Frage des cativeiro, der Unfreiheit, d.h. der Versklavung von Menschen, und versucht eine auf das Naturrecht und die Universahen gegründete Position einzunehmen (wie sie auch in Papst Pauls III Sublimis Deus von 1537 zum Ausdruck kommt), im Gegensatz zu der Position der Kolonisten, die sich an den Kolosserbriefen von Paulus und der Rechtfertigung der Sklaverei durch Isidor von Sevilla orientierten. Die geschickte, diplomatische und originelle Rhetorik des Sermäo de Santo Antonio aos Peixes, eine indirekte und unangreifbare Verurteilung der Siedler we-

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

119

gen ihrem Festhalten an der indianischen Sklaverei, ist auch eine neue Bestimmung der Alterität der Indios. Während die Siedler sie als „gente bestial" zu entmenschlichen trachteten, betont Vieira immer wieder ihre zum Christentum -und zum Leben in jesuitischen aldeias- bestimmte Menschlichkeit. Vieira war zweifelsfrei ein Verteidiger der Indios, zog dadurch oft den Zorn der Siedler auf sich, z.B. durch den Sermäo da primeira dominga da Quaresma von 1653, wo er an das Leiden der indigenen Knechte erinnert: „Ah fazendas do Maranhäo que se esses mantos e essas capas se torceram, haviam de lan9ar sangue!" (S. 114) und die Siedler mit Verdammnis bedroht: „[...] todos viveis e morreis em estado de condenafäo, e todos vos ides direitos ao Inferno" (S. 114). Die Visibilität der Indios in der Entdeckungs- und Kolonialzeit war in der Lebenspraxis der portugiesischen Kolonie Brasilien also in allen Medien der damaligen Zeit gegeben und so groß, dass ihre Alterität ständig verhandelt werden musste. Trotz der Vorherrschaft des Mediums Schrift konnten oder mussten die Anderen auch in anderen Medien agieren: gezwungenermaßen in den Indianerschauen in Europa, nicht immer ganz freiwillig wohl im religiösen Theater in den Jesuitengründungen. Außerhalb der jesuitischen Schriften und Medien freilich erlangte der Andere nur wenig Visibilität. Jenseits der jesuitischen Einflusssphäre konnte sich zwar kaum etwas Anderes entwickeln, weil die Jesuiten jahrhunderte lang die Macht über alle schriftlichen dramatischen und musischen Medien in der portugiesischen Kolonie Brasilien besaßen, doch war Überleben für die indigene Bevölkerung außerhalb der Schutz bietenden aldeias äußerst schwierig.

3. National-indianische Visibilität - Die Verhandlung von Eigenem und Fremdem im indianistischen Feuilletonroman Nach der Vertreibung der Jesuiten 1759 und der Unabhängigkeit des Landes 1822 entstehen in Brasilien neue, moderne Gattungen und Medien. Doch bedeutet dies nun leider nicht, dass die indigenen Völker und ihre Kultur besonderen Raum in den „neuen" Medien erhalten hätten. Das Verschwinden der jesuitischen Siedlungen fuhrt zur Vernichtung vieler indigener Ethnien und ihrer Kulturen. Die Visibilität der Indianer nimmt in der brasilianischen Kultur mit dem Indianismus in der Mitte der 19. Jahrhunderts zu. Es sind Kunst- und Medienfiguren, Indianer eben und nicht Indios und Indias, die in den Medien zu lesen und zu sehen sind. Diese Indianer sind nicht nur die Anderen, die Fremden, sondern zu einem großen Teil auch das Eigene, das nun gegenüber dem portugiesischen Eigenen, das im nationalen Unabhängigkeits- und Identitätsprojekt auch zum partiell Fremden werden soll, an Visibilität gewinnt. Betrachtet man Literaturgeschichte auch als Mediengeschichte, so zeigt sich in Brasilien im 19. Jahrhundert, dass die Entwicklung der Massenmedien, vor allem

120

Claudius Armbruster

des Zeitungswesens nach der Unabhängigkeit, und die literarische Konstruktion und Rekonstruktion dieses National-Indianischen eng zusammenhängen: Der Roman O Guarani von José de Alencar (1829-1877) aus dem Jahre 1857 war der erste große Feuilletonroman, nicht zuletzt auch eine Liebesgeschichte zwischen dem Guarani Peri zur Weißen Ceci. Die Liebesgeschichte zwischen Peri und dem portugiesischen Mädchen aus gutem Hause Ceci, wurde in etwa sechzig Folgen ausgeliefert, ohne dass sein Autor namentlich genannt wurde. Der Komponist Carlos Gomes verarbeitete den Stoff später zu einer Oper, die 1870 in der Mailänder Scala uraufgeführt wurde. Als Gründungsepos Brasiliens gilt der zweite Roman der indianistischen Trilogie Alencars, Iracema aus dem Jahr 1865, wiederum eine indianisch-europäische Liebesgeschichte, diesmal zwischen dem portugiesischen Eroberer des späteren Bundesstaates Cearâ, Martim Soares Moreno, und der India vom Stamm der Tabajara, Iracema, der „virgem dos lâbios de mei". Die Heroisierung des Indianischen und ihre nationale und nationalistische Indienststellung sind untrennbar verbunden mit der Urbanisierung und dem Aufkommen des Massenmediums Tageszeitung. Die Entwicklung des brasilianischen romantischen Romans wäre undenkbar gewesen ohne den Prozess der Urbanisierung, der die Visibilität der Fremden, der Indios, die als reale Menschen nie zu „Eigenen" wurden, durch Marginalisierung weiter reduziert und damit den neuen brasilianischen Eliten romantische Projektionen des „eigenen Fremden" in den neuen Medien, den Tageszeitungen O Globo und O Diario, ermöglicht: Die „eigenen Fremden" sind die Indianer, Symbole und Embleme eines neuen Nationalstolzes. Die Meisterschaft des Schriftstellers und Politikers José de Alencars bestand in diesem Zusammenhang darin, die Alterität der indigenen Traditionen zu domestizieren: Sein Indianer Peri und seine Indianerin Iracema sind in Wirklichkeit nicht einmal „Gute Wilde", sondern Ergebnis der Verhandlung der kulturellen Eliten über die Neudefinition des Eigenen und des Fremden. Im neuen Medium der Tageszeitung entsteht also der literarische Identitätsentwurf, der das Eigene auf der Grundlage eines sorgfältig domestizierten Fremden neu und als utopische Projektion gar den neuen brasilianischen Menschen zu schaffen sucht. Die Mythisierung der Indios folgt zunächst romantischen literarischen Vorbildern aus Frankreich, vor allem Chateaubriands Atala (1801), René (1802) und Les Natchez (1826). Darüber hinaus orientiert sich José de Alencar in seinen Schreibstrategien an neuen medialen und gattungstypologischen Rahmenbedingungen, am europäischen Feuilleton- und Abenteuerroman à la Eugène Sue. Die Literaturkritik stellt denn auch den romantischen Charakter der portugiesisch-indianischen Liebspaare Peri-Ceci und Martim-Iracema heraus, ebenso spricht ein didaktisches Kompendium von „Alencar: Um criador de Super-Heróis na Literatura Brasileira"

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

121

(Beraldo 1981: 101) und „Alencar: O Grande IBOPE do Romantismo Brasileiro" (Beraldo 1981: 102).2 Der Indio ist ein Kunstgeschöpf und dazu ein künstliches: Der neue indianische Held Pen, der Guarani, ist nun keineswegs ein Rebell gegen die portugiesische Macht, vielmehr fast ein Sklave der angebetenen Ceci, Vasall von deren Vater Antonio, der ihn im Angesicht der todbringenden Katastrophe gerade noch tauft: Se tu fosses cristäo, Peri!... O indio voltou-se extremamente admirado daquelas palavras. -Por qué?... perguntou ele. -Por qué?... disse lentamente o fidalgo. Porque se tu fosses cristäo, eu te confiaría a salvapao de minha Cecilia, e estou convencido de que a levarías ao Rio de Janeiro, á minha irmä. O rosto do selvagem iluminou-se; seu peito arquejou de felicidade; seus lábios trémulos mal podiam articular o turbilhäo de palavras que lhe vinham do intimo da alma. -Peri quer ser cristäo! exclamou ele. D. Antonio lancpou-lhe um olhar úmido de reconhecimento. - A nossa religiäo permite, disse o fidalgo, que na hora extrema todo o homem possa dar o batismo. Nós estamos com o pé sobre o túmulo. Ajoelha, Peri! O indio caiu aos pés do velho cavalheiro, que impös-lhe as mäos sobre a cabefa. - S é cristäo! Dou-te o meu nome. Peri beijou a cruz da espada que o fidalgo lhe apresentou, e ergueu-se altivo e sobranceiro, pronto a afrontar todos os perigos para salvar sua senhora. (Alencar 1857: 269-270)

Der Guarani muss also zum Christenmenschen werden, den portugiesischen Namen erhalten, seine Wildheit aufgeben -ähnlich wie bei den Jesuiten in den realen aldeias- um die portugiesische Herrentochter vor anderen Wilden, den Aimorés, retten zu dürfen. Die anderen Indios sind die eigentlichen Bösen, die „ganz" Anderen, und so bezeichnet sie Alencar denn auch als „bárbaros, horrendos, satánicos, carniceiros, sinistros, horríveis, sedentes de vingan9a, ferozes, diabólicos" (zit. nach: Bosi 1992: 178). Auch in Iracema begegnen wir einer „eigenen" Fremden: Iracema, die aus Liebe zum Kolonisatoren des Ceará entbrennt, verrät ihr Volk, die Tabajara, nachdem sie das Geheimnis der jurema, eines rituellen Tranks, preisgegeben hat.3 Der bon sauvage gibt Namen und Stamm auf, riskiert sein Leben, opfert sich, als sei dies sein vorgezeichnetes eigenes Schicksal, dafür darf er dann mythisch die brasilianische Nation mitbegründen.4 Bereits in den Polemiken der Erscheinungsjahre tritt der zwar massenmedial erfolgreiche, doch unter den Eliten durchaus umstrittene Charakter von Alencars Indianerbildern zutage. Joaquim Nabuco, einer der Protagonisten der Abolitionsbewe2

3

4

IBOPE, das größte brasilianische Meinungsforschungsinstitut, steht hier für „Einschaltquote". Nicht zu Unrecht bezeichnet es Bosi (1992: 179) in seinem Kapitel „O mito sacrificial" als Paradox, dass diese beiden Romane O Guarani und Iracema den brasilianischen Roman begründeten. Bosi spricht hier, vielleicht etwas weitgehend vom „complexo sacrificial na mitologia romàntica de Alencar".

122

Claudius Armbruster

gung, verurteilte zunächst Iracema als „falsa literatura tupi" (Nabuco in Coutinho 1965: 113), nach dem Erscheinen von Ubirajara, des letzten Romans der indianistischen Trilogie -einer legendären Geschichte eines Indios der mit seiner Lanze die Amazonasstämme vom Tocantins und Araguaia vereint-, kritisierte er, Alencar wolle Tupiliteratur als neue brasilianische Literatur begründen. Von Joaquim Nabuco stammt auch das berühmt gewordene Verdikt über die zahlreichen Tupinismen in Alencars Romanen: „Nös somos brasileiros, näo somos guaranis; a lingua que falamos, e ainda a portuguesa".5 Die Visibilität des Anderen im nationalen Identitätsentwurf der brasilianischen Romantik ist somit trügerisch. Zutage treten Fragmente des Indigenen und des Anderen, Fragmente ethno-linguistischer, anthropologischer, zoologischer und botanischer Provenienz. Die Begegnung des Politikers und Justizministers der Kaiserzeit mit den Anderen, den letzten Indios, die am Rand der neuen brasilianischen Nation vegetierten, fand kaum statt. Alencar hatte sich aber sehr wohl auf die Suche nach den Anderen früherer Zeiten begeben. Er wollte die anderen Menschen freilich nie in der Realität sehen, geschweige denn sich aus ihrem Mund informieren -wie Montaigne es unbedingt und trotz großer Schwierigkeiten mit der Übersetzung versucht hatte-, sondern er forschte nach dem bereits im Medium der Schrift gebannten und verarbeiteten Anderen. Vor allem in der Klosterbibliothek von Olinda in Pernambuco fand er sie, in eben jener informativen, wissenschaftlichen Gattung, den Reiseberichten und der jesuitischen Literatur.6 Alencar und die indianistische Romantik steigern also in konservativer Fokussierung und rezessiver Chronologie die Visibilität des Indianischen, machen es zum Meilenstein eines nationalen Identitätsdiskurses. Bereits sein zeitgenössischer Kritiker Joaquim Nabuco hatte moniert, Alencar leide an einer Einengung des Gesichtsfeldes („campo Visual restrito") und an einem Lidverschluss („oclusäo das pälpebras").

5 6

Vgl. Coutinho 1978: 190. Die Quellen Alencars, sein Quellenstudium ist zuletzt von Schwamborn 1987 genau erforscht worden, so dass man nun weiß, dass Alencar seine indianistischen Feuilletonromane sorgfältig in Bibliotheken, vor allem der Klosterbibliothek von Olinda vorbereitete. Ein Schriftstellerkollege und Kritiker Franklin Tävora, ein Vorläufer des Naturalismus, kritisierte, dass Alencar Sprache und Sitten der Indianer in seiner Schreibstube kreiert habe.

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

4. Modernisierung des national-indianistischen in Massenmedien und Avantgarde

123

Projekts

Gehen wir nun vom ersten Massenmedium des unabhängigen Brasiliens, dem Feuilletonroman, über zum Massenmedium der Neuzeit, dem Fernsehen. Gemeinhin und etwas stereotyp gilt, dass das Fernsehen und indigene Kulturen sich ausschließen. An einer Ikone der brasilianischen Fernsehmoderne soll nun gezeigt werden, dass auch die Entwicklung des Fernsehens in Brasilien noch mit indianistischen Namen und Symbolen operierte und dass dabei die Zähmung des Anderen, des ursprünglich Wilden, weiter fortschritt. Der erste brasilianische Fernsehsender, 1950 von dem Zeitungsmogul Assis Chateaubriand in Säo Paulo gegründet, hieß nach dem wohl berühmtesten „brasilianischen" Indiostamm, TV Tupi. Das Tupi ist die bis heute wichtigste indigene Sprachfamilie, deren Aufzeichnung der Jesuitenmissionar José de Anchieta sich bereits Mitte des 16. Jahrhunderts in der oben erwähnten Grammatik widmete, eine „andere" Sprache, die reduziert und instrumentalisiert in sein Missionstheater Eingang fand und die auch für den Protagonisten der brasilianischen Romantik José de Alencar zur literatursprachlichen Begründung des brasilianischen Romans unverzichtbar war. Im Laufe der historischen und kulturellen Entwicklung wurde „Tupi" zum pars pro toto für die indigenen Völker Brasiliens, ihre Sprachen und ihre Kulturen. Das ikonographische Zeichen des Fernsehsenders TV Tupi war ein comichaft stilisierter Indianerkopf, ein kleiner Indio mit den westlichen Augen einer Comicfigur. Statt Federn trug er im Stirnband zwei Antennen. Natürlich ließe sich auch eine kryptische Verbindungslinie zur Animalisierung des Indianers ausmachen, denn die Antennen sind Fühler und stehen für die besonderen instinktiven und geringeren intellektuellen Fähigkeiten des Indianers, hier freilich im Kontext der Massenkommunikation. Untersucht man diese Ikone etwas näher und diachron im Zusammenhang mit den Bildern von den Indios im Brasilien des 19. und 20. Jahrhunderts, so erkennt man unschwer das mediale Einschmelzen der bis in die brasilianischen Romantik zurückreichenden nationalen Indianerbegeisterung in den international ausgerichteten Willen zur von technischer Kommunikation bestimmten Moderne.7 Die Modernisierung des indianistischen Projekts ist bei genauer Betrachtung keine Erfindung der ersten brasilianischen Fernsehanstalt, sondern eine massenmediale Applikation und Instrumentalisierung der ästhetischen Avantgardebewegung des modernismo der zwanziger Jahre. In seinem ikonoklastischen Manifesto Antropòfago (1928) wies Oswald de Andrade vehement die jesuitische Katechese zurück: 7

Ester Hamburger (1998: 448) liest aus diesem Logotyp die Botschaft, dass ausländische Technologie im bereits okzidentalisierten Indianerland willkommen sei.

124

Claudius Armbruster

„Contra todas as catequeses ... Contra o Padre Vieira... Contra Anchieta cantando as onze mil virgens do céu, na terra de Iracema" (Andrade 1928: 13-19). In der Idee der kulturellen Anthropophagie und der ikonoklastischen Denkfigur des Anthropophagen möchte Oswald sperrig Alterität und Identität auflieben: Er knüpft an „wilde" Traditionen vor der jesuitischen Katechese an und datiert sein Manifest in Piratininga, dort wo mit den Jesuiten Säo Paulo gegründet wurde: „Ano 374 da Deglunitaçâo do Bispo Sardinha" (Andrade 1928: 19). Gerade das, was Anchieta im didaktischen Spiel angeprangert hatte, macht Oswald de Andrade nun zum Emblem des modernen Brasilianers. Der brasilianische Modernismus begriff sich nicht nur als anti-jesuitisch, sondern auch als anti-indianistisch. Gegen die romantische Indiantertümelei Alencars, gegen die Artifizialität seiner Figuren suchte er Wildheit als Brasilianität neu und modern zu bestimmen. Der „modernistische" Wilde, der Anthropophage, kann weiß, rot oder schwarz sein, durchaus auch bekleidet und ein Flugzeug besteigen, jedenfalls ist es nicht mehr der „indio da öpera" oder der „anekdotische" Indio Chateaubriands.8 In der modernistisch-willkürlichen Konstruktion des Antropophagen wird aus Anteilen wilder Fremdheit und einer für das kulturelle Ancien régime fremden ungebändigten Technik- und Wachstumseuphorie ein neues brasilianisches Eigenes projiziert, dem in den zwanziger Jahren in der Literatur nur begrenzter Erfolg beschieden war: Mit der von ihr erkorenen Gattung, dem ikonoklastischen Manifest, fand sie keinen Zugang zum Publikum und zu einer breiteren zeitgenössischen Wirkung und Rezeption. Doch die Wirkung der paulistaner Avantgarde, das Zusammendenken von Modernität und Alterität, zeitigte ein neues Bild vom Anderen als Konstituens des utopischen Eigenen. Mit diesem, dem neuen Anthropophagen, stellt Oswald de Andrade die karnevalistische Frage „Tupi or not Tupi", vor allem aber kreiert er ein neues, der industriellen Moderne und den Metropolen Säo Paulo und Rio de Janeiro angemessenes Bild des „eigenen" Fremden, das die Wildheit gegen die Domestizierungsversuche der Tradition zurückholt und als Grundlage der brasilianischen Identität ausgibt. Die ikonoklastischen Entwürfe Oswalds enthalten keinerlei Spuren ökologischen Denkens, nicht der Schutz der Natur, sondern vielmehr das Lob der Technik steht im Vordergrund. So gelangt Oswald zu einem „technisierten Primitivismus", der bis zur Maschinengläubigkeit reicht. Der Sprung von der indianischen zur maschinenmodernen Gesellschaft, der Spagat zwischen indianischer Prälogik und Magie und dem Maschinenzeitalter gelingt bei Oswald de Andrade mit der gleichen Leichtigkeit oder Leichtfertigkeit, mit der sich der Fernsehsender TV Tupi etwa drei Jahrzehnte später des Indianischen bemächtigt. 8

Vgl. die Absage Oswald de Andrades an den romantischen Indianismus in Diàrio de Säo Paulo vom 12. 6.1929.

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

125

So bleibt aus literatur- und mediengeschichtlicher Analyse festzustellen, dass die Visibilität des Indianischen auch im Fernsehzeitalter fortdauert. In Telenovelas wie Pantanal ebenso wie in zahlreichen Reportagen über indigene Völker in Brasilien lebt diese Form der Visibilität fort, die freilich keine Alterität im Sinne einer Repräsentation des wilden und „nicht reduzierten und nicht domestizierten" Anderen bedeutet.

5. Ein neuer Indio im Tropikalismus Dass im Diskursvorrat der brasilianischen Medien durchaus Raum für ein offenes und plurales Indiobild existiert, zeigt ein Lied aus dem Kontext des Tropikalismus der siebziger Jahre. In „Um Indio" verzichtet Caetano Veloso von vorneherein und im Unterschied etwa zu Diskurstraditionen der Karnevalslieder auf den Versuch, den Indio als Anderen in der althergebrachten Dichotomie von Anzestralität und Modernität zu konservieren: um indio descerá de urna estrela colorida brilhante de uma estrela que virá numa velocidade estonteante e pousará no corafáo do hemisfério sul na américa num claro instante depois de exterminada a última nafäo indígena e o espirito dos pássaros das fontes de água límpida mais avanpado que a mais avanzada das mais avadadas das tecnologías virá impávido que nem muhammad ali virá que eu vi apaixonadamente como peri virá que eu vi tranqüilo e infalível como bruce lee virá que eu vi o aché do afoxé filhos de ghandi virá um indio preservado em pleno corpo físico em todo sólido todo gás e todo líquido

126

Claudius Armbruster

em átomos palavras alma cor em gesto em cheiro em sombra em luz em som magnifico num ponto equidistante entre o atlántico e o pacífico do objeto sim resplandecente descerá o indio e as coisas que eu sei que ele dirá farà nào sei dizer assim de um modo explícito virá impávido que nem muhammad ali virá que eu vi apaixonadamente como peri virá que eu vi tranqüilo e infalível como bruce lee virá que eu vi o aché do afoxé filhos de ghandi virá e aquilo que nesse memento se revelará aos povos surpreenderá a todos näo por exótico mas pelo fato de poder ter sempre estado oculto quando terá sido o obvio. (Veloso 1977: 66-67)

Auch Caetano Veloso rekurriert zunächst noch einmal auf den Indianismus in der Textzeile „Apaixonadamente como Peri", die auf das romantische Liebesstreben und Liebesleid des Protagonisten von José de Alencars Erstling O Guarani verweist, wobei jegliche kritische Zensur, wie sie Oswald de Andrade im Manifesto Antropòfago und zuletzt Alfredo Bosi aus ideologiekritischer Sicht versuchten, unterbleibt. Der traditionelle, für Alfredo Bosi und auch Antonio Candido letztlich artifizielle oder artistische Indianer tritt gleichberechtigt parataxiert durch das fünffache futuristische „virá" neben einige für die Hochkultur nicht unproblematische Ikonen: zunächst den mehrfachen Boxweltmeister Muhammad Ali, versehen mit dem Adjektiv „impávido". Ein furchtloses Symbol vielleicht wegen seiner Weigerung in den Vietnamkrieg zu ziehen, oder weil er sich den westlichen Regeln schon allein dadurch entzog, dass er den lateinischen Vornamen Cassius gegen den islamistischen Muhammed ersetzte und der sich als reales Individuum weit weniger dem Assimilationsdruck unterwarf als der fiktionale Indianer Peri. Die Verbindung des neuen, des tropikalistischen Indios der Musik der Massenmedien zu Bruce Lee, mehr noch als Muhammed Ali auch Symbol US-amerikanischer Massenmedien, scheint zunächst kaum auffindbar. Betrachtet man aber die Refrainstrophe genauer, so zeigt sich, dass hier nicht alles nur aus Gründen des Endreims auf -i-: Ali-Peri-Lee-Gandhi den Weg

Zur Visibilität der Anderen in Portugal und Brasilien

127

zu einer neuen Hybridität fand: Caetano Veloso verweist vielmehr auf die Gemeinsamkeiten des nur scheinbar so Disparaten. Alle vier in dem Lied herbeizitierten Massen-Ikonen haben eine starke nicht-okzidentale Prägung: der schwarze Moslem Muhammed Ali, die Indio Peri, das Fernöstliche des Bruce Lee und die afiro-bahianische Gruppe Filhos de Gandhi, wobei das afro-asiatische Element dominiert. Alle vier Ikonen sind -gemessen an überkommenen „Reinheitsgeboten"- bereits amalgamiert: Peri als „Indianer", als der „eigene" Fremde, Ali als Teil der schlag- und kapitalkräftigen Boxindustrie, ebenso wie Lee als Teil der nicht minder schlagkräftigen Filmindustrie, die Afoxégruppe in ihren Karnevals- und Tourismusfunktionen. Nichtsdestoweniger künden ihre Namen bei allen Kontaminationen auch noch von einer Art Frieden: die Gewaltfreiheit Gandhis, die Kriegsgegnerschaft Alis, der schlagkräftige Friedensstifter Lee und schließlich Peri, der ja keine für die weißen Eliten böse indianische Gewalt verkörpert, sondern vielmehr seine weiße ,3raut" und ihre Familie vor bösen Wilden, den Aimorés, rettet. Der futuristische Indio Velosos ist ein postindigenistisches, ja vielleicht sogar postmodernes Geschöpf, leider auch eines post exterminationem, worum der Autor zu wissen scheint: „depois de exterminada a ultima na9äo indigena" werde er mit Schwindel erregender Schnelligkeit von einem farbigen Stern hernieder steigen. Ein alchimistischer Indio „todo sòlido, todo gas e todo liquido", beileibe kein Exot, sondern eher ein okkultes Wesen, das sich allen Völkern offenbaren wird. So amalgamiert Caetano Veloso in seiner Tropikalismus-Salad-Bowl den nationalen Indianismus des 19. Jahrhunderts mit der international, vor allem französisch ausgerichteten Avantgarde der zwanziger Jahre, der afro-brasilianischen Kamevalskultur und einigen internationalen Massenikonen. Caetano Velosos Indio steht dabei durchaus in Verbindung mit dem des Assis Chateaubriand. Auch das Logo des Fernsehsenders TV Tupi war ja trotz des anzestralen Namens eben gerade kein Atala oder René, sondern ein modernes Geschöpf, das Wurzeln im Bild des guten und gezähmten Wilden Peri besitzt, doch mit den dominanten Antennen die ikonische Verbindung zur Welt der Nachrichten und Massenmedien herstellt. Bei Caetano Veloso tritt ein ökologischer oder nostalgischer Diskurs allenfalls in der Zeile „e o espirito dos pässaros das fontes de ägua limpida" diffus zu Tage. Ansonsten dominiert eine futuristische Modernität, Anzestralität bleibt eher der melodramatisch-beschwörenden Interpretation von Maria Bethänia vorbehalten. Doch ist der Indio von Caetano Veloso und Maria Bethänia kein Tabubrecher und kein Ikonokiast, sondern vielmehr ein messianisch-kryptischer: kein encoberto zwar, denn der Sebastianismus ist zu nostalgisch und zu wenig dynamisch, um hier Platz zu finden, aber auch kein antropòfago, der sich aufmachte, die anderen bei der Konstruktion einer neuen brasilianischen Identität zu verspeisen. Der tropikalistische Indio wird nur im Futur verheißen und in Vergleichen skizziert, die neue Ikone wird nicht greifbar - ähnlich wie bei Oswald und Mario de Andrade. Identifika-

128

Claudius Armbruster

tionsmöglichkeiten entstehen nicht auf der Ebene des schriftlichen Mediums: Nur der melodramatische Gesang von Maria Bethänia, Caetano Velosos Schwester, versucht diese stimmgewaltig zu retten. Die beim Publikum wenig erfolgreiche literarische Avantgardebewegung des Modernismus wirkt also in den audiovisuellen Medien der Gegenwart sowohl in den Anfangen des brasilianischen Fernsehens als auch in der medienkulturellen Avantgarde des Tropikalismus nach. Die Visibilität des Anderen, des Indigenen, kann wohl heute nur sinnvoll und vielleicht auch dynamisch in immer neuen hybriden Bildern und nicht-anzestralen Ikonen überleben. Sie erscheinen dynamischer als viele gut gemeinte Beschwörungen der untergehenden, vom Aussterben bedrohten Indios. „Näo somos Guaranis" hatte Joaquim Nabuco dem Justizminister der Kaiserzeit, José de Alencar, und den von ihm geschaffenen Heldenfiguren Peri und Iracema vorgehalten. Er hatte damit zugleich recht und unrecht.

Bibliographie Anchieta, José de (1587): „Auto de Säo Louren?o", in: Anchieta, José : Teatro (Auto de Säo Lourenfo - Auto „Na Aldeia de Guaraparim"). Seleipäo e tradufäo do tupi de Eduardo Navarro. Sao Paulo: Martins Fontes 1999 Alencar, José de (1857): O Guarani. Säo Paulo: Ed. Ática 1995 Andrade, Oswald de (1928): „Manifesto Antropòfago", in: Obras Completas VI. Do PaulBrasil à Antropofagia e às Utopias. Rio de Janeiro: Civilizafäo Brasileira 1970 Beraldo, Luiz (Hg.) (1980): José de Alencar. Selegäo de textos, notas, estudos biográfico, histórico e crítico. Säo Paulo: Abril Educafào Bosi, Alfredo (1992) Dialética da Colonizagäo. Säo Paulo: Companhia das Letras Caminha, Pero Vaz de (1500): „Carta", in: Castro, Silvio (introdufäo, atualizapäo e notas). A Carta de Pero Vaz de Caminha. Porto Alegre: L&PM 1996 Coutinho, Afrànio (1981): Conceito de Literatura Brasileira. Petrópolis: Vozes Coutinho, Afrànio (Hg.) (1978): A Polémica Alencar-Nabuco. Rio de Janeiro: Tempo Brasileira Hamburger, Ester (1998): „Diluindo fronteiras: a televisào e as novelas do cotidiano", in: Nováis, Femando A., Schwarcz, Lilia Moritz (Hg.): Historia da vida privada no Brasil 4: contrastes da intimidade contemporánea. Säo Paulo: Companhia das Letras Schwamborn, Ingrid (1987): Die brasilianischen Indianerrromane 'O Guarani', 'Iracema', 'Ubirajara ' von José de Alencar. Frankfurt /M.: Peter Lang Veloso, Caetano (1977): „Um Indio", in: Caetano Veloso. Selegào de textos. Säo Paulo: Abril Cultural 1981 Vieira, Pe. Antonio (1954a): „Sermäo 27° do Rosàrio", in: Obras Escolhidas. Vol. XI. Sermöes (II). Lisboa: Livraria Sá da Costa Editora — (1954b): „Sermäo da Primeira Dominga da Quaresma (1653)" in: Obras Escolhidas. Vol. XI. Sermöes (II). Lisboa: Livraria Sá da Costa Editora

Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.)

Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina", ein Kapitel der brasilianischen Miniserie Mulher Ein Kind wird in dem Augenblick zum menschlichen Wesen, wenn die Frage: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" beantwortet ist. Judith Butler

— Junge oder Mädchen? — Das wird immer die erste Frage sein. — Junge oder Mädchen.1

— Menino ou menina? — Será sempre a primeira pergunta. — Menino ou menina.

Ja, dies mag die erste Frage sein, aber auch der erste Zugriff auf das neugeborene Wesen. Mit der Frage und der Antizipation ihrer Beantwortbarkeit wird es dem Gesetz der Gattung Homo sapiens unterstellt. Es wird für hinreichend homo erklärt, um später sapiens werden zu können, und für notwendig hetero, um dem obersten Gesetz der Gattung, ihrer Fortpflanzung Folge leisten zu können. Die mit der Rede vom Sex und von der Sexualität verbundenen Identitäten der Geschlechter gehören empirisch gewiss zu den fundamentalen Identitäten: Nur in wenigen anderen Bereichen findet man so unumstößliche Fundamentalismen. Die Ausrichtung der Sexualität am so genannten biologischen Geschlecht ist jedoch nicht überall und zu allen Zeiten gleichermaßen selbstverständlich gewesen. Anstelle der Wahrheit des sexuellen Geschlechts können andere kulturell codierte Wahrheiten treten. Prononciert könnte man daher die Behauptung aufstellen, dass jede Kultur ihre eigene Sexualität erzeugt, oder umgekehrt, dass jede Sexualität eine ihr eigene Kultur hervorbringt. Aber auch innerhalb einzelner Kulturen koexistieren gewiss verschiedene Formen von Sexualität. Aus einer wenig bekannten indischen Quelle aus dem 5. Jh., die neuerdings als Nebentext des Kamasutra diskutiert wird, wähle ich ein Beispiel zur Illustration dieses Sachverhalts. Dort findet sich folgende, aus heutiger Perspektive durchaus exotisch anmutende Unterscheidung:

1

Die Übersetzungen der Dialoge aus „Menino ou Menina" stammen ausnahmslos vom Verfasser dieses Beitrages.

130

Markus Klaus Schäffauer

(a) der Gottheit Shiva geweihte Geschlechter, (b) solche, die sich erst spalten müssen, um sich wieder vereinigen zu können, (c) vielgeschlechtige, (d) zwergenhafte, (e) herrenlose, (f) die abwechselnd Mann, Frau, beides oder nichts von beidem sind, (g) das Gegenteil von (f), (h) ein drittes Geschlecht, das nirgendwo hinpasst, insbesondere nicht zu (g), (i) von dieser Klassifizierung halbwegs ein- und ausgeschlossene, (j) die trotzdem wie besessen kopulieren, (k) sich den Kirchenglocken verweigern, (1) über einen Elefantenrüssel miteinander verkehren und (m) selbigen Rüssel als Hermaphrodisiakum einnehmen. Sie haben wahrscheinlich gemerkt, dass die heterogene Aufzählung erfunden ist, und zwar frei nach jener chinesischen Enzyklopädie, die Jorge Luis Borges in seinem Essay „Die Kunstsprache von John Wilkins" zitiert hat. Michel Foucault knüpft bekanntlich an diesen Katalog in seinem Vorwort zu Die Ordnung der Dinge an, um daraus seine Unterscheidung in Utopie und Heterotopie zu entwickeln. Während die Utopie mit ihrer Vision einer besseren Welt letztlich vertröstend sei, konfrontiere die Heterotopie mit einer Grenzerfahrung, die uns beunruhige. Nun, es ist keineswegs meine alleinige Absicht gewesen, Foucault -und mit ihm Borges- dem allgemeinen Gelächter auszusetzen; dieses Lachen müsste doch, wenn ich Foucault beim Buchstaben nehmen darf, so etwas wie eine beunruhigende Erfahrung heterogener Sexualität provoziert haben.

1. Heterosexualität zwischen Utopie und Heterotopie Der Begriff Sexualität kann im Kontext unserer Fragestellung als eine spezifische Identität aufgefasst werden, nämlich als eine sexuelle Identität. Diese wird im Allgemeinen weiter unterschieden in Hetero- und Homosexualität. Heterosexualität ist gegenüber dem Oberbegriff Sexualität jedoch keine heterotopische Ausweitung der sexuellen Identität, sondern, ganz im Gegenteil, eine desambiguierende Einschränkung. Sie spaltet den Identitätsfall der Sexualität auf in das Verhältnis des einen Sexus zu einem anderen.2 Die spezifische Relationalität dieses Verhältnisses liegt in der Komplementarität. Letztere wird seit der Antike in der utopischen Vision des Androgynen (oder Gynander) auf ihre ursprüngliche Einheit (Identität) zurückgeführt oder aber im pathologischen Befund der Medizin als Hermaphrodit und damit als sexuelles Identitätsproblem behandelt. 2

Auch der Homosexualität liegt eine analoge Aufspaltung zugrunde, jedoch als Verhältnis eines einzelnen Sexus zu sich selbst, also zu einem Anderen, der zum selben Sexus gehört.

Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „ Menino ou Menina "

131

Der Unterscheidung in Homosexualität und Heterosexualität liegt im Bereich der Sexualität ein Identitätspostulat zugrunde. Sexualität wird nämlich durch die Präfices homo bzw. hetero zurückgebunden an das so genannte „wahre Geschlecht", den biologischen Sexus, und damit an eine sexuelle Wahrheit. Dieses steht jedoch im Widerspruch dazu, dass Sexualität nicht anders als andere Identitäten ein Konstrukt ist, das von kultureller Prägung, kulturellen Codes, Repräsentationen, u.a. abhängt, aber nicht (oder nur indirekt, etwa in abgeleiteter Form) von biologischen Anlagen (was schließlich Sexus, nicht aber Sexualität wäre). Was durch die Einschränkung der spaltenden Präfices homo bzw. hetero ausgeschlossen wird, das ist die Überschreitung der Sexualität im ebenso kreativen wie beunruhigenden Sinne einer heterotopischen Imagination. Mit anderen Worten: Während Heterosexualität im herkömmlichen Sinne einen eingeschränkten Identitätsfall bezeichnet, soll der eben von mir umrissene Begriff von Heterosexualität im Weiteren für ein heterogenes Begehren und damit für eine plurale sexuelle Alterität stehen.

2. Die brasilianische Fernsehserie Mulher: Gattung und Serialität Mit dem Rüstzeug einer solchen Heterosexualität gewappnet, möchte ich an eine brasilianische Fernsehserie herantreten, und genauer noch, an ein einzelnes Kapitel dieser Serie, in dem es um den Fall eines Hermaphroditen geht. Meinen Vorüberlegungen zufolge stelle ich im Folgenden die Frage, inwiefern es sich bei der Darstellung dieses Zwischengeschlechts um eine kulturelle Heterotopie handelt im Sinne besagter Heterosexualität. Doch zuvor ein paar Worte zur Serie Mulher, zu dt.: ,Frau'. Sie kann zu dem bekannten Genre der ,Krankenhausserie' gezählt werden, „im besten Stile der (anglo)amerikanischen Serien", wie eine brasilianische Kritikerin kurz vor der Ausstrahlung des ersten Kapitels im März 1998 ankündigte.3 Es handelt sich dabei in der Tat um ein besonders in den USA erfolgreiches Subgenre der Fernsehserie, das in Deutschland vor allem durch die Schwarzwaldklinik (1985-89) bekannt geworden ist. Von dieser deutschen Variante des Genres, die Ihnen zumindest dem Namen nach bekannt sein dürfte, weicht Mulher jedoch in verschiedener Hinsicht ab: Ort der Handlung ist natürlich Rio de Janeiro und nicht das Glottertal. An die Stelle der genreüblichen „Halbgötter in Weiß" treten hier „Halbgöttinnen in Weiß". Es geht also um eine Frauenklinik, von Frauen, für Frauen, die lediglich den kleinen Schön3

„Em 'Mulher', um dos destaques da programado 98 da Globo, que estréia no dia 29 de marfo, o diretor Daniel Filho vai falar do universo feminino, como já fez em 'Malu Mulher' há 20 anos, só que dessa vez dentro de urna clínica especializada em ginecología e obstetricia e no melhor estilo das séries americanas" (Anna Lee: „Girl Power", in: Folha de Sao Paulo, tvfolha, S. 10, vom 22. Marz 1998).

132

Markus Klaus Schäffauer

heitsfehler hat, dass sie einem Mann gehört, einem harmlosen Schürzenjäger allerdings, der das klinische Matriarchat der Frauen nie ernsthaft gefährden kann. Das arbeitende Personal der Klinik wird fast ausnahmslos von Frauen gestellt, von den Putzfrauen und Krankenschwestern über die Assistenzärztin Cris bis hin zur Chefärztin Martha, der eigentlichen Chefin des Hauses. Damit ist schon etwas gesagt. Es ist sogar schon sehr viel mehr gesagt als es vielleicht den Anschein erweckt: Das Hauptgesetz der Gattung, die Serialität, verlangt bekanntlich nach schematischer Wiederholung neben mehr oder weniger begrenzter Variation im Rahmen dieser Invarianz. Melodramatik und ein Himmel aus Halbgöttern sind zweifellos die Invarianten der Gattung. An diesem Glorienschein des Berufsstandes führt anscheinend kein Weg vorbei, und da hätten denn auch die Vereinigungen der Ärzte, Krankenpflegerinnen und Krankenhäuser ein Wörtchen mitzureden, was sie in Brasilien auch stets tun, insofern sie schon bei der Produktion als Ratgeber hinzugezogen werden - cum grano salis gilt dies übrigens auch für unsere brasilianischen Kollegen, die Telenovela-Spezialisten. Ist also schon der kleine Unterschied, dass es sich um eine Frauenklinik handelt, innerhalb der Gattung „Krankenhausserie" von gewichtiger Bedeutung, so muss ganz klar gesehen werden, dass diesem Unterschied innerhalb der Serie Mulher nur bedingt eine Bedeutung zukommt.4 Schließlich zählt das Frauenpersonal zur melodramatischen Invariante, zum institutionellen Rahmen der Serie, zu dem auch ein festes Schauspielerensemble gehört. Entscheidend ist daher für die Serie, dass innerhalb des so gesetzten Rahmens ein variabler Freiraum geschaffen wird, was im Fall Mulher auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass in jedem Kapitel andere namhafte brasilianische Gastschauspieler eingeladen sind. Jedes Kapitel ist dabei gleich einer in sich abgeschlossenen Episode einem oder mehreren Themen gewidmet. Auch das ist eine Eigentümlichkeit von Mulher: Die in sich abgeschlossene Haupthandlung der Episode wird in der Regel durch mehrere Nebenhandlungen begleitet, deren Beziehungen zur Haupthandlung unterschiedlicher Art sein können.5 So eine komplexe Struktur kennt man im Fernsehen eigentlich nur von Spielfilmen. Und das ist nicht von ungefähr so: Mulher wurde im 35mm-Spielfilmformat gedreht, eine aufwendigere und wesentlich teurere Produktion. Als Startpolster waren 22 Kapitel wie bei Serien üblich im Voraus gedreht worden, um eventuelle Drehausfälle kompensieren und die Reihenfolge während der Ausstrahlung variieren zu können - was sich auch als kluge Voraussicht erwies, denn das erste Kapitel mit den Themen Vergewaltigung und Abtreibung schockierte das Publikum trotz der relativ

4

5

Vgl. hierzu im vorliegenden Band die Ausfuhrungen von Joachim Michael über feministische Erwartungshaltungen des weiblichen Publikums an Telenovelas (S. 151 ff.). Parallelgeschichten ermöglichen viele Lektüren und relativieren die „zentrale" Wahrheit, die sich um die Themen Frau, Alter, Vergänglichkeit, Schönheit, Eifersucht und wahres Geschlecht rankt: „ich komme mir vor wie ein schrottreifes Auto" („eu me estou sentindo como um carro em desmanche").

Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina"

133

späten Sendezeit um 21:40 Uhr derart, dass weniger spektakuläre Kapitel zur Pufferung vorgezogen werden mussten.

3. „ Menino ou Menina ": Sexualität, Massenmedien und Wahrheit Das Kapitel „Menino ou Menina" (nach einem Drehbuch von Gloria Perez) erzählt die Geschichte des Models Luli, das über Nacht zum Sex-Symbol Brasiliens geworden ist. Der schöne Schein einer überaus begehrenswerten Frau, der von den Massenmedien verbreitet wird, stellt sich jedoch als trügerisch heraus: Chefarztin Martha und ihre Assistentin Cris finden bei einer gynäkologischen Untersuchung heraus, dass Lüh in genetischer Hinsicht ein Mann ist, auch wenn sie äußerlich die Geschlechtsmerkmale der Gattung Frau bis zur Perfektion verkörpert. Das Kapitel stellt nun auf melodramatische Weise die Frage, ob Luli die Wahrheit -die wahre Identität ihres Geschlechts- erfahren darf. Die genetisch falsifizierte weibliche Sexualität Lulis wird in „Menino ou Menina" vor allem als Produkt der Massenmedien dargestellt: Lüh erscheint gleich zu Anfang zweimal im Femsehen, ihre Fotos prangen auf den Titelseiten der Boulevardpresse, sie wird von Photographen umschwärmt, usw. In der Rolle des Stars wird Luli von den Massenmedien angepriesen als Prototyp der Gattung Frau. Als besonders attraktiv dargestellte Frau ragt sie mit Hilfe der Massenmedien heraus aus der Masse (der Frauen). Hierbei ist wichtig zu wissen, dass Lulis Rolle von dem bekannten brasilianischen Model Ana Paula Arösio gespielt wird, das im selben Jahr gerade zu einem Star am Fernsehhimmel Brasiliens aufgestiegen war. Sie hatte kurz zuvor in der Miniserie Hilda Furacäo die Hauptrolle einer Prostituierten gespielt. Auf diese Rolle wird in „Menino ou Menina" deutlich angespielt, in einer Szene, in der Luli für Photographen in Reizwäsche vor einem roten Hintergrund posiert, ganz ähnlich wie im hundertfach wiederholten Vorspann der Hilda Furacäo. Zum massenmedialen Produkt ihrer Sexualität gehört demnach, dass die Rolle Lulis der Schauspielerin Ana Paula Arösio auf den Leib geschneidert ist: Sie spielt weitgehend dieselbe Rolle, die sie auch sonst im Star-System der brasilianischen Massenmedien innehat: eine von Globo gekürte Einheit aus Model und Schauspielerin.6 Hinzu kommt, dass zur gleichen Zeit Roberta Close, der bekannteste brasilianische Fernseh-Transvestit, einen aufsehenerregenden Auftritt in Mandacaru hatte. Mit dieser Telenovela konnte TV Manchete erstmals, wenn auch nur vorübergehend und unter Zuhilfenahme reichlicher Nacktszenen, der G/oAo-Produktion den Rang ablaufen, was schon an sich als Sensation galt. In einem Kapitel von 6

Dass die Verkörperung der gespielten Rolle durch Schauspieler mit entsprechender sozialer Rolle System hat, belegt beispielsweise die Besetzung der gleichzeitig ausgestrahlten Telenovela Por amor, in der Mutter und Tochter von Regina und Gabriela Duarte gespielt werden (vgl. Joachim Michael im vorliegenden Band, S. 152).

134

Markus Klaus Schäffauer

Mandacarü erschien nun Roberto Close in einer Badeszene „oben ohne", was von der Presse als besondere Pikanterie angekündigt und weidlich ausgekostet wurde.7 Lulis Rolle als androgyner Medienstar, dessen wahres Geschlecht vom Publikum und zunächst auch von ihm selbst ignoriert wird, kann auf dem Hintergrund der brasilianischen Faszination für Zwischen- oder Mischformen der Sexualität als eine besondere Form kultureller Alterität gelten nämlich als massenkulturelle Heterosexualität. Die Imagination anderer Formen der Sexualität wird von den Massenmedien genährt, weil dies einen Zugriff auf das Publikum ermöglicht, eine Möglichkeit, Macht über das Begehren der Zuschauer zu bekommen. Der Hermaphrodit ist so gesehen eine neu entdeckte Gattung der massenmedialen Geschlechterwelt, obschon er als Gattung nicht völlig neu konzipiert wird, sondern selbstverständlich Anleihen nimmt, u.a. von Bildern Marc Chagalls, die ihrerseits als Reproduktionen längst Bestandteil der populären Massenkultur geworden sind. Die rätselhafte Androgynität Lulis wird auf diese Weise von Anfang an als Kunstprodukt eingeführt, zu einem Zeitpunkt schon, als selbst das Publikum noch unwissend ist und Luli in betont männlichen Posen photographiert wird. Dem entspricht zu einem späteren Zeitpunkt, als sie genetisch schon als Frau falsifiziert wurde, der bereits erwähnte Phototermin, der die nichts ahnende Luli als betont weibliches Model ä la Hilda Furacäo zeigt. Heterosexualität wird im Kapitel aber keineswegs als Eigentümlichkeit der brasilianischen Kultur eingeklagt; im Gegenteil, die Chefarztin Martha klärt ihren Mann Otävio in bezeichnender Weise über die Existenz von Zwischengeschlechtern auf. Denn als dieser einwendet, er habe noch nie von so etwas gehört, erklärt sie ihm: -Das kommt daher, dass Du ein Bewohner der westlichen Welt bist, nicht wahr, mein Lieber. Für uns Okzidentale gibt es keine Zwischensituationen in diesen Fragen des Geschlechts. Für uns sind Männlich und Weiblich ebenso entgegen gesetzte Elemente wie es Tag und Nacht sind, Schwarz und Weiß, Nord-Süd... Nur die Natur ist hier nicht genau so, mein Lieber.

Martha spricht hier ausdrücklich als jemand, der teilhat an der Kultur des Okzidents und eben nicht als autochthone oder nationalistische Brasilianerin. Doch es bleibt nicht dabei, denn die Teilhabe ist Martha, wie wir gehört haben, Anlass zu einer Kritik des dichotomischen westlichen Denkens. Als Gegenpol zum Denken in Dichotomien wird von ihr jedoch die Natur benannt, von der sie offenbar annimmt, dass sie eine komplexere Wahrheit berge, und es ist der naturwissenschaftliche Diskurs aus ihrem Mund, der uns eine neue -freilich komplexere- Wahrheit über die Geschlechtsidentität andeutet:

7

Auch Ana Paula Arösio bekam eine Nacktszene in der Miniserie Hilda Furacäo - nicht jedoch in „Menino ou Menina".

Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina"

135

- E s verhält sich vielmehr so, dass das Geschlechtsorgan nicht das einzige Kriterium ist, welches das Geschlecht einer Person definiert. Es gibt zumindest fünf oder sechs weitere Kriterien, die bestimmen, zu welchem Geschlecht eine Person gehört. [...] Da gibt es das genetische Geschlecht, das der Chromosomen, der Organe, der sekundären Geschlechtsmerkmale, wie zum Beispiel die Frage, ob die betreffende Person Bart oder Mamillen hat, und in dieser Richtung könnte man fortfahren... wie Du sehen kannst, die Sache ist nicht so einfach, wie sie den Anschein erwecken mag.

In welche Richtung man fortfahren könnte, das bleibt allerdings offen. Ausgeführt wird gegenüber der Leerstelle lediglich das biologische Phänomen des Intersexus. Eine kulturelle Dimension, ein eigenes Begehren wird dem Zwischengeschlecht in diesem Dialog nicht zugestanden. Doch sehen wir uns in derselben Frage den Höhepunkt des Kapitels an. Luli hat die gynäkologische Untersuchung hinter sich und fragt Chefarztin Martha im Beisein ihrer Assistentin nach dem Befund. Hier ist es zunächst Lüh, die den genetischen Ursprung der Missbildung („malforma9äo") zu erklären versucht, um Luli langsam an die Wahrheit heranzuführen. Der behutsame Versuch scheitert jedoch, denn sie muss erkennen, dass Luli ihr nicht folgen kann. Martha übernimmt daraufhin die Initiative und... einer impulsiven Intuition nachgebend, greift sie zur Lüge, Luli müsse sich wegen eines Tumors den Uterus entfernen lassen. Die Assistenzärztin Cris ist entsetzt und wirft ihrer Chefin vor, dass sie, die immer gepredigt habe, die Wahrheit zu sagen, heute von einem Tumor im Uterus zu einer Frau gesprochen habe, die nicht einmal einen Uterus hat! Die so angeklagte Martha setzt sich zur Wehr, sie habe gespürt, dass die Patientin die Wahrheit nicht ertragen würde. Aber auch dieses Motiv weist Cris zurück: -Ich bin der Auffassung, dass es einem Arzt nicht zusteht, zu urteilen, wozu etwas gut ist. Martha, bisweilen sind die Leute gar nicht so zerbrechlich wie wir sie uns vorstellen. Wer kann wissen, ob so ein Ereignis wie dieses im Leben von einer Person nicht bewirkt, dass diese Person besser wird oder eine stärkere Person, eine, die wächst? Nein, ich bin der Auffassung, dass wir dem Kranken alle Informationen geben müssen, niemand hat ein größeres Recht zu wissen, was mit dem Kranken los ist als er selbst. Das ist meine Meinung.

Derart beschuldigt, setzt sich nun auch Martha heftig zur Wehr: -Ich kann Dir nicht zustimmen, Chris, nein, ich kann einem so gefühlslosen und rationalen Verhalten nicht zustimmen, das typisch ist für die amerikanische Schule. Denn was Du nicht weißt, wovon Du offenbar keine Ahnung hast, ist, dass in den meisten Fällen dieses Typs, statistisch gesehen der Patient die Wahrheit nicht erträgt und versucht, sich das Leben zu nehmen, und bisweilen mit Erfolg.

Der weitere Verlauf gibt Martha recht: Luli versucht, Selbstmord zu begehen und wird nur knapp davor bewahrt, von einem Hochhaus zu springen. Die ständig wiederholten Gedankenfetzen, die ihr dabei durch den Kopf gehen, „Wir müssen Deinen Uterus entfernen... Ich werde niemals Kinder haben können..." legen nahe, dass

136

Markus Klaus Schäffauer

sich Luli wahrscheinlich hinabgestürzt haben würde, hätte man ihr mitgeteilt, dass es in Wahrheit ihre tumoranfälligen Testikel sind, die entfernt werden müssen. Es ist in diesem Kontext erhellend, an den klassischen Fall des Hermaphroditen Alexina B. zu erinnern, dessen autobiographische Erzählung Michel Foucault herausgegeben und analysiert hat. Alexina wurde von ihren Ärzten im 19. Jh. nicht nur gnadenlos mit der Wahrheit konfrontiert, sie bekam von ihnen sogar die wahre Identität verschrieben, ein Mann zu sein - worüber sie verzweifelte und schließlich Selbstmord beging.8 Wir haben es so gesehen in der Miniserie mit dem Paradox zu tun, dass der naturwissenschaftliche Diskurs herangezogen wird, um über eine komplexere Wahrheit -eine Naturwahrheit- aufzuklären, während gleichzeitig diese Wahrheit aus humanitären Beweggründen und entgegen aller political correctness, wie Martha selbstbewusst anführt, in der Praxis für ungültig erklärt wird, allerdings wiederum durch den Hinweis auf wissenschaftliche Kenntnisse vom statistischen Unvermögen der Betroffenen, die Wahrheit zu ertragen. Wir sollten hierbei jedoch nicht vergessen, dass Lulis von den Massenmedien zugeschneiderte weibliche Rolle dermaßen überstrukturiert ist, dass der melodramatische Handlungsverlauf die Frau als Opfer gesteigerter massenmedialer Rollenerwartungen erkennbar macht. Diese gattungsbedingte Positionierung in den Massenmedien -die Frau als Sexsymbol und medial potenziertes Objekt der Begierdeist aber zugleich auch eine Positionierung der massenmedialen Gattung der Serie, insofern das weibliche Sexsymbol ein Produkt eben dieser Gattung ist. Somit stimmt meine Beobachtung einer dezidiert metagenerischen Ebene dieser Miniserie mit deijenigen überein, zu der Joachim Michael im vorhegenden Band am Beispiel der Telenovela Por amor gelangt: Die Serie [Por amor] greift also die oben angedeutete Kritik seitens einiger Zuschauerinnen am traditionellen Frauenbild auf und macht es zum Gegenstand ihrer Handlung. Damit diskutiert sich die Gattung selbst und fragt nach Alternativen zu ihrer Tradition. [...] Der Versuch, das transkulturelle Kino Hollywoods der Gattung einzuverleiben, [...] bringt auch den unerfüllbaren Traum der Gattung zum Ausdruck, das Andere zu sein: Ihr utopisches Verlangen danach, sich in eine andere Gattung eines anderen Mediums zu verwandeln und in ein Kino zu konvertieren, das die Menschen allabendlich in ihren Wohnzimmern aufsucht. (Joachim Michael, S. 152 f.)

Zu den kulturprägenden ,Botschaften' des Mediums Fernsehen gehört somit nicht nur das Medium im McLuhan'schen Sinne, sondern auch die Gattung: Das dargestellte Verhältnis von Sexualität und Wahrheit verweist über die metagenerische Dimension (und somit auf indirekte Weise) zugleich auch auf das Verhältnis von massenmedialer Gattung und Wahrheit: „Menino ou Menina" teilt dem Publikum 8

Herculine Barbin; Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Hrsg. v. Wolfgang Schaffner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.

Geschlecht, Gattung und kulturelle Alterität: „Menino ou Menina"

137

die paradoxe Wahrheit mit, dass dem massenmedialen Intersexus gegebenenfalls durch eine Lüge die wahre Sexualität verschwiegen werden muss, weil er sie nicht verkraften kann. Die Miniserie vertritt also auf der Metaebene eine komplementäre Wahrheit der Lüge - komplementär jedenfalls zu jener Funktion der Lüge, die Joachim Michael für Por amor herausgearbeitet hat, da auch die Lügen dieser Telenovela letztlich durch ,Liebe' motiviert erscheinen und somit das Modell des Melodramas (die Unterscheidung in Gut und Böse) zur Disposition stellen (vgl. Joachim Michael, S. 154). Daran ändert freilich nichts (oder nur wenig), dass die Ambiguität der ,Botschaft' durch die Rahmenstruktur der Gattung schließlich und endlich aufgehoben wird: Es obsiegt am Ende die höhere Wahrheit der (Not-)Lüge - der schöne Schein sexueller Identität bleibt gewahrt. In dieser negativen Wendung der aufklärerisch-emanzipatorischen Emphase der Frauenklinik findet daher die kulturindustrielle These einer Bevormundung der Massen nur unzureichenden Stoff. Gegen die allzu simple These der Bevormundung spricht nämlich die -gewiss vorsichtige- Selbstreflexion der Gattung, die der Masse der Zuschauer suggeriert, sie könne durchaus eine Wahrheit ertragen, die den Einzelnen übersteigen oder gar zerbrechen würde. Es mag wohl so sein, dass aus einer streng sozial-logischen Perspektive heraus, wie sie Joachim Fischer im vorliegenden Band vertritt, sich die Masse aus lauter Dritten zusammensetzt. Es mag auch zutreffen, dass diese dem Problem des Hermophroditen gegenüber indifferent sind, weil sie sich selbst different wähnen, aber aus der Perspektive besagter Indifferenz, die der Masse geringschätzend im Namen des Dritten unterstellt wird, fangt die Masse just mit dem Vierten und jedem Weiteren an, der über den Dritten hinausgeht. Was also wäre, wenn die Masse weder Subjekt noch Subalterner, sondern schlicht Alterner wäre? Wo blieben andernfalls die massenhaft Anderen? Der Fall der Masse wäre dann doch ein kategorischer, der über den des Dritten hinausgeht, insofern er die Indifferenz in die Differenz des Anderen hineinragen lässt. Die metagenerische Wendung der Miniserie ist aber noch in einer anderen Hinsicht von Bedeutung: Aus der Perspektive der beinahe unhinterfragten (und somit massenhaft indifferenten) Naturalisierung ihrer Differenzen stellen die Geschlechter die Gattungsunterscheidung par excellence dar. Niemand geringerer als Derrida hat diesen generativen Nexus des Genus und des Sexus -die Korrelation zwischen literarischen und sexuellen Gattungen- in „La loi du genre" als eine Grundfrage des Gattungsgesetzes beschrieben: La question du genre littéraire n'est pas une question formelle: eile traverse de part en part le motif de la loi en général, de la génération, au sens naturel et symbolique, de la naissance, au sens naturel et symbolique, de la différence de génération, de la différence sexuelle entre le genre masculin et le genre féminin, de Thymen entre les deux, d'un rapport

138

Markus Klaus Schäffauer

sans rapport entre les deux, d'une identité et d'une différence entre le féminine et le masculin.9

Die literarischen Gattungen projizieren das Modell der Generierung auf die Gattungen des Sexus so wie die Gattungen des Sexus die unverzichtbaren Differenzen modellieren, die zur Generierung anderer, nicht sexueller und somit auch literarischer Gattungen notwendig sind.10 In medizinischer Hinsicht liegt demnach die Umkehrung des Falles der Alexina B. vor, mit deren unmenschlicher Unterwerfung unter das Gattungsgesetz des Sexus sich Foucault kritisch auseinandergesetzt hat. Der Fall Luli erscheint demgegenüber als Sieg der Humanität über den Mythos wissenschaftlicher Aufklärung: Der Verzicht auf Wahrheit um des Lebens willen und nicht einfach nur der bequeme, weil einfachere Weg. Dass die Heterotopie eine Kraft hat, von der die Massenkultur lernen könnte, das wird in „Menino ou Menina" allerdings nur angedeutet, aber immerhin als Möglichkeit eines Hermaphrodisiakums eingeräumt. Wenn also stimmt, dass in der Miniserie die Oberfläche in melodramatischer Rezeptur geglättet wurde, so bleibt doch unter ihr ein gewisses Unbehagen zurück, das wir -mit Blick auf Foucaults Heterotopie und die Heterosexualität- getrost als das Unbehagen an der Macht der Massenmedien bestimmen können, die Wahrheit einer natürlichen Sexualität zu suspendieren.

9

Jacques Derrida : „La loi du genre", in: Glyph. Textual Studies, Nr. 7, 1980, S. 176-201; hier: S. 194. 10 Vgl. Markus Klaus Schäffauer: „La oralidad: el sexo/género traicionado en la obra de Roberto Arlt", in: José Morales Saravia; Barbara Schuchard (Hg.): Roberto Arlt. Una modernidad argentina. Frankfurt IM.: Vervuert 2001, S. 93-105.

Joachim Michael (Freiburg i. Br.)

Telenovela und Alterität / . Aus Liebe Der Zufall (oder das Drehbuch) will es, dass Mutter und Tochter gleichzeitig jeweils einen Sohn zur Welt bringen. Für die Tochter ist es das erste Kind. Bei ihr treten jedoch Komplikationen auf, weswegen ihr die Gebärmutter entfernt werden muss: Sie kann keine Kinder mehr bekommen. Der Ort des Geschehens ist die Geburtsstation, es ist Nacht. Es tobt ein furchtbares Gewitter, der Strom fällt aus, und das derart angekündigte Unheil tritt prompt ein: Während die Tochter schläft, stirbt ihr Kind. In einer Szene, deren Dramatik definitiv nicht zu steigern ist, überredet die Mutter den diensthabenden Arzt, ihr eigenes Neugeborenes gegen das soeben verstorbene auszutauschen. Die Zuschauerinnen der telenovela Por Amor (zu Deutsch: Aus Liebe) sehen, wozu eine Mutter „aus Liebe" fähig ist: Sie opfert ihr eigenes „Glück" (und das des Vaters sowie des soeben geborenen Kindes) dem ihrer Tochter. Diese „Liebe" motiviert das, was das komplexe Handlungsgeflecht von Por Amor sieben Monate lang in Bewegung hält: die „Lüge".1 Die Lüge verschleiert familiäre Identitäten, deren Verdeckung bzw. Aufklärung zu den wichtigsten Handlungsmustern des lateinamerikanischen Melodramas gehört. Diese melodramatische Intrige bildet die narrative Grundlage der telenovelas.

2. Telenovelas in Brasilien Telenovelas belegen in Brasilien seit Mitte der sechziger Jahre die besten Sendeplätze. Zur Zeit werden sie von dem Quotenfuhrer Rede Globo zwischen 17 und ca. 22 Uhr ausgestrahlt. Dieser Programmblock wird nur von wenigen Nachrichtensendungen unterbrochen. Eines der Erfolgsrezepte dieses bis heute meistgesehenen Programms kann in der Thematisierung des „Nationalen" gesehen werden, durch die die sehr heterogenen Zuschauergruppen in ein Publikum integriert werden sollen

1

Por Amor wurde vom 03.10.1997 bis 23.05.1998 in 190 Kapiteln von TV Globo, Rio de Janeiro ausgestrahlt. Das Drehbuch stammt von Manoel Carlos, die Regie führte Roberto Naar.

140

Joachim Michael

(Kehl 1986: 170).2 Erklärtes Ziel des Senders ist, dass jede telenovela einen eigenen Entwurf Brasiliens bildet, ein so genanntes „Mini-Brasilien".3 Ihr nicht zu übersehender valorativer Charakter gibt diese Brasilienerzählungen sehr deutlich als Identitätsmodelle zu erkennen. Die Modelle nationaler Identität unterscheiden brasilianische telenovelas von hispanoamerikanischen Varianten und kennzeichnen sie als eigenständiges, „brasilianisches" Genre (vgl. Fadul 1993: 134). Die so genannte „Brasilianisierung" des Genres setzte Ende der sechziger Jahre ein, nachdem zuvor hispanoamerikanische telenovelas importiert, in Brasilien neu verfilmt oder nachgeahmt wurden (vgl. Ortiz 1991: 74-80 und 92-96; Melo 1988: 26f; Fernandes 31994: 104-107, 129-134). Nicht zuletzt durch den Einsatz von jeweils neuesten Aufnahmetechnologien führte TV Globo den Realismus als ein neues Wahrscheinlichkeitsprinzip in das Genre ein. Damit distanzierte sich die brasilianische Variante von der tendenziell metaphorischen Repräsentation von Wirklichkeit des hispanoamerikanischen Melodramas und reihte sich in den Trend transnationaler Masssenkultur insbesondere des US-amerikanischen Kinos ein,, Wirklichkeit' ikonisch und scheinbar unmittelbar zu referieren (vgl. Ortiz 1991: 140 f.). Die telenovela führte auf diese Weise Ende der sechziger Jahre des 20. Jhs. den Real-Effekt in das brasilianische Fernsehen ein.4 Mit der Ausgestaltung des realitätskonstituierenden Details konnten konkrete Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfiguiert werden. Das realistische Wahrscheinlichkeitsprinzip dient seitdem dazu, konkrete sozio-kulturelle wie auch politische Probleme zu thematisieren, die Anstöße zu Debatten außerhalb des Genres liefern konnten und sollten. Der Sender etablierte das neue Genre folglich als einstündige Serie (Werbeunterbrechungen einbezogen), die bis heute täglich von Montag bis Samstag ausgestrahlt wird und in 150 bis 180 Kapiteln und einer Laufzeit von ca. sechs Monaten ein immer wieder neues Thema diskutiert (Ortiz 1991: 90). Mitte der siebziger Jahre ging Globo dazu über, telenovelas weltweit zu exportieren (Melo 1988: 39-48). Ich möchte im Folgenden jedoch zeigen, dass die Konzeptionen soziokultureller Identität Brasiliens, die telenovelas als populärstes audiovisuelles Genre der brasilianischen Massenmedien hervorbringen, sich nicht als so homogen und eindeutig in ihrer Aussage beschreiben lassen, wie man es vielleicht erwarten könnte. Meine These lautet, dass diese Konzeptionen soziokultureller Wirklichkeit auf Identitätsmodellen beruhen, die in gegenseitigen Spannungsbeziehungen stehen und das Ergebnis als inkohärent und ambivalent erscheinen lassen. Damit meine ich nicht, dass das Genre im Allgemeinen das eigene Konzipieren von Wirklichkeit diskutieren 2

3

4

Eugenio Bucci betont im Zusammenhang mit der "integraçâo imaginâria" die Konfratemisierungswirkung nationaler Ereignisse, die durch das Fernsehen übertragen werden (Bucci 1997: 16 f.). Interview des Autors des vorliegenden Beitrags mit dem Fernseh- und Theaterregisseur Jorge Fernando in Rio de Janeiro am 21.11.1997. Zum „Real-Effekt" s. Barthes 1984.

Telenovela undAlterität

141

oder in Frage stellen würde. Ich vertrete mit anderen Worten nicht die Ansicht, die angedeutete Diskrepanz der Identitätsmodelle sei generell als Dekonstruktion narrativer Identitätskonstruktionen angelegt. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass der brasilianischen telenovela eine Ambivalenz innewohnt, die man als Konflikt diskursiver Teleologien bezeichnen könnte, die unterschiedlichen Diskursgattungen eigen sind. Mit „Teleologie" bezeichnet Jean François Lyotard die diskursiven Strategien, die eine Gattung den Sätzen auferlegt, die sie zu einer Aussage verknüpft (Lyotard 21989: 147).5 Zu fragen ist schließlich nach dem Problem der Alterität, das sich hinter dem Gattungskonflikt verbirgt, sich aber der telenovela stets entzieht. Daher soll in erster Linie und anhand eines Beispiels die hybride Konstitution des Genres untersucht werden, die nicht nur aus intergenerischen sondern auch aus intermedialen Beziehungen entsteht. Die brasilianische Fernsehserie setzt sich aus einer Vielzahl von Gattungen zusammen, was Claudius Armbruster in Anspielung auf die brasilianische AvantgardeBewegung der antropofagia als den „phagischen Diskurs" der telenovela bezeichnet (Armbruster 1995: 39). Einen -wenn auch mittelbaren- Zusammenhang zwischen dem „anthropophagischen" Kulturmodell einer unaufhörlichen und identitätsverwischenden Aneignung des Anderen und der Fernsehserie lässt sich durchaus herstellen, wenn man die Rezeption der antropofagia durch die Pop-Bewegung der tropicalia in den sechziger Jahren bedenkt, die nicht nur die müsica populär brasileira sondern die gesamte brasilianische Massenkultur bis heute entscheidend geprägt hat.6 Wenn als ein erstes Charakteristikum brasilianischer telenovelas die permanente Einverleibung „eigener" und „fremder" Gattungen und Erzählweisen angenommen werden kann, so soll es für die vorliegende Studie jedoch genügen, die Aneignung zweier Diskursgattungen zu untersuchen, die mit der Stiftung von Identität in Verbindung stehen. Beide wurden bereits angesprochen: das Melodrama und die realistische Erzählweise. Im Folgenden soll am Beispiel von Por Amor gezeigt werden, dass die beiden Erzählformen nicht vollständig innerhalb des Fernsehgenres aufgehen, sondern tendenziell ein Spannungsmoment bilden.

3. Zur Handlung Por Amor wurde von Oktober 1997 bis Mai 1998 von TV Globo gesendet. Wie bereits angedeutet, bildet der Tausch der Babys und die verdeckte familiäre Identität des überlebenden Kindes den Spannungsbogen der Haupthandlungen der Serie.

5

6

Für eine Diskussion der Gattungsproblematik bei Lyotard siehe den Beitrag „Die intermediale Passage der Gattungen" von Joachim Michael und Markus Klaus Schäffauer im vorliegenden Band. Zur MPB siehe auch den Beitrag von Walter Bruno Berg im vorliegenden Band.

142

Joachim Michael

Helena, die Mutter, leidet etliche Kapitel unter dem Verlust des Kindes und seiner Konsequenzen. Jedoch bereut sie den Tausch der Kinder erst am Schluss der Serienerzählung. Helena verbirgt ihren Schmerz und ihre Tat vor allen Mitmenschen und vertraut sich lediglich ihrem Tagebuch an. Damit ist die Wahrheit schriftlich verbürgt und sogar zugänglich, da das Tagebuch immer wieder offen herumliegt. Sie wird unweigerlich ans Licht treten, jedoch wie es die Intrige und die Aufrechterhaltung der Spannung wollen, geschieht dies erst in der letzten der 190 Folgen, wenn das Tagebuch in fremde Hände gerät... Der Preis, den Helena zu zahlen hat, ist hoch, denn sehr bald zerbricht ihre zweite Ehe bzw. die große Liebesbeziehung mit dem Sympathieträger Atilio, dessen innigster Wunsch ein Kind ist. Atilio spürt im Laufe der Zeit, dass Helena ein Geheimnis hat, aber alle Versuche scheitern, sie dazu zu bewegen, sich ihm zu öflhen. Dies wertet Atilio als Vertrauensbruch, weswegen er sie schließlich in einer dramatischen Szene verlässt. Einige Zeit später beginnt er eine Affäre mit Helenas bester Freundin. Da die Kamera die Charaktere auch (und gerade) in den Momenten einsamer Gefiihlsoffenbarung begleitet, wissen die Zuschauerinnen, dass sich hinter der Fassade des zwischenmenschlichen Umgangs eine geheime Wahrheit des Gefühls verbirgt. Sie wissen daher, dass Helena und Atilio sich trotz ihrer Trennung weiterhin innig lieben. Was sie jedoch nicht wissen, ist, wie die beiden wieder zueinander finden können. Da individuelles Glück nur auf dem festen Grund der Wahrheit gedeihen kann, ist vor allem offen, wie die Versöhnung im Hinblick auf Helenas Geheimnis erfolgen kann. Für das Publikum stellt sich folglich die Frage, wie Atilio reagieren wird, wenn er erfährt, dass sein Sohn tatsächlich lebt, und dass Helena das Kind an ihre Tochter weggegeben hat. Helenas Tochter Eduarda ist frisch verheiratet mit dem reichen Yuppie Marcelo, der sich vor allem als ein verständnisloser und aggressiver Macho zeigt. Eduarda liebt Marcelo abgöttisch und passt sich völlig seinen Bedürfnissen an. Ihr sehnlichster Wunsch ist daher, ihm die Kinder bzw. die Söhne zu schenken, die er sich wünscht. Sie ist eine attraktive, verwöhnte und leicht hysterische junge Frau, die im Luxusleben der Familie ihres Mannes völlig aufgeht. Die Zuschauerinnen wissen, dass Helena ihr nicht zutraut, die Wahrheit zu verkraften. Gleichzeitig wissen sie, dass die Wahrheit früher oder (eher) später zutage treten wird. Offen bleibt, was dann passiert. Obwohl Helena sich bemüht, ihre Tochter vor allen Problemen in Schutz zu nehmen, hat es Eduarda trotzdem nicht leicht, denn der Verwirklichung ihres Glückes stehen zwei mächtige Feindinnen gegenüber: Laura, eine Tochter aus schwerreichem Hause, ist eine unermüdliche Rivalin, die mit Marcelo zusammen war, bevor er sie wegen Eduarda verließ. Für Laura ist Marcelo der Mann ihres Lebens, und daher versucht sie mit allen (schmutzigen) Tricks, ihn zurückzugewinnen. Gefahrlicher jedoch ist Branca, Marcelos Mutter, die ihren Sohn in seiner kompromisslosen Haltung gegenüber Eduarda bestärkt. Brancas Ablehnung gegenüber Eduarda leitet sich u.a. aus ihrer Feindschaft zu deren Mutter Helena ab. Die Zu-

Telenovela undAlterität

143

schauerlnnen wissen, was Branca höchstens Atilio gesteht, dass sie ihn nämlich im Stillen seit Jahrzehnten liebt. Sie kann daher nicht akzeptieren, dass er sich in Helena verliebt hat. Branca ist die zentrale Figur in dem Handlungsgefüge von Por Amor: Ihr kommt die Funktion der vilä zu. Dies bedeutet, dass sie als die ,3öse" bzw. aufgrund ihrer Skrupellosigkeit und ihrer sozialen Macht über das Monopol des Handelns verfugt. Branca kontrolliert daher die Geschicke eines Großteils der übrigen Charaktere. In einem narrativen Universum, in dem individuelles Glück die Bestimmung des Menschen ist und sich durch Liebe verwirklicht, bedeutet dies, dass Branca die Liebesbeziehungen der Figuren zu vereiteln sucht. Ihre Bosheit beruht in erster Linie auf Hochmut und Verachtung ihren Mitmenschen gegenüber. Vor ihnen ist außer den beiden Menschen, die sie liebt, Atilio und ihr Sohn Marcelo, niemand in der telenovela sicher, schon gar nicht ihr Ehemann und der Rest ihrer Familie. Während sie beispielsweise Marcelo vergöttert, hasst sie ihren introvertierten und zurückhaltenden zweiten Sohn als ungewünschtes Kind. Ihre Verachtung trifft jedoch insbesondere all diejenigen, die eines gesellschaftlich niederen Standes sind. So versucht sie beispielsweise mit allen Mitteln, die leidenschaftliche Beziehung ihrer Tochter zu einem jungen Hubschrauberpiloten zu zerstören, der ihrer Familie zu Diensten steht.

4. „Dramalhäo " So weit die Konstellation des zentralen Handlungsgefüges von Por Amor. Die telenovela besteht mit über 30 Charakteren aus einer Vielzahl weiterer Handlungsstränge, die ich der Übersichtlichkeit wegen vernachlässige. Festzuhalten ist, dass der audiovisuelle Charakter der Erzählung die Zuschauerinnen mühelos die wahren Beweggründe hinter dem sozialen Handeln der Figuren erkennen lässt: Die Kamera lügt nicht, und sie ist allgegenwärtig. Jedoch stellt sich die Frage, woher das Publikum auch die Dinge weiß, die ihm die Kamera nicht offenbart. Was überzeugt die Zuschauerinnen davon, dass es überhaupt eine Wahrheit gibt, und dass nur auf ihrer Grundlage individuelles Glück gedeihen kann? Warum können sie darauf vertrauen, dass die Wahrheit schließlich ans Licht treten und die gesellschaftlichen Verhältnisse neu ordnen wird? Die Antwort liegt nicht im Medium des Fernsehens begründet sondern in der Gattung. Das Publikum weiß, dass es sich um ein Melodrama handelt. Im lateinamerikanischen Melodrama wird das Handlungsmuster in erster Linie durch die Verschleierung von Mutterschafts- bzw. Vaterschaftsbeziehungen bestimmt.7 Die verdeckte familiäre Identität konstituiert eine Welt, die auf einer 7

Jesús Martín-Barbero bezeichnet das Melodrama in diesem Sinne ais „drama del reconocimiento" (Martín-Barbero / Mufioz 1992: 27).

144

Joachim Michael

eindeutigen Opposition zwischen wahr und falsch beruht. Da Wahrheit und Falschheit im Melodrama moralische Kategorien sind, die über Glück und Unglück entscheiden, deckt das Genre eine moralische Ordnung hinter dem Schein der Dinge auf. Die Welt des Melodramas wird vom Kampf des Guten gegen das Böse bestimmt, aber da sich diese Werte immer auf das Schicksal des Individuums und die Verwirklichung seiner irdischen Glückseligkeit in Form von Liebe und sozialer Anerkennung mit materiellem Wohlstand beziehen, treten sowohl das Gute wie das Böse nur in personalisierter Form auf. Beide Kategorien bewohnen Personen, deren Identität damit festgelegt ist, und die folglich auf psychologische Komplexität nicht angewiesen sind. Das Böse äußert sich in der Gemeinheit, das Gute in der Tugend. Peter Brooks hat gezeigt, dass das moderne Melodrama als narrative Strategie zu verstehen ist, die Welt zu resakralisieren. Die Gattung entstand in der historischen Krise der Französischen Revolution, in der ein lang anhaltender Prozess der Säkularisierung zur Vollendung kam. Die Revolution schaffte das Sakrale ab und zerstörte mit den Institutionen von Kirche und Krone, die es auf Erden repräsentierten, die traditionelle Gesellschaftsordnung. So gesehen bringt das Melodrama die Angst angesichts einer schönen neuen Welt zum Ausdruck, in der die herkömmlichen Normen der moralischen Ordnung den sozialen Zusammenhalt nicht mehr garantieren. Das Genre aktualisiert die Verunsicherung, indem es ausfuhrlich den scheinbaren Triumph des Bösen inszeniert, und es erlöst das Publikum erst am Ende seiner Narrationen mit dem Sieg des Guten. So wird die Wirklichkeit zu einer Oberfläche aus Chaos und Leid, hinter der jedoch das Licht einer moralischen Ordnung aufscheint, die das individuelle Verhalten anzuleiten vermag (Brooks 1976: 1-23). Das oben dargelegte Handlungsschema von Por Amor macht deutlich, dass die telenovela eine melodramatische Wirklichkeit konstituiert. Es handelt sich um eine Wirklichkeit, in der Falschheit regiert, und in der die Menschen scheinbar kein Glück finden können. Die Lüge wendet sich zuerst gegen ihre Urheberin Helena und zerstört ihr Liebesglück. Das Glück, das die Lüge Eduarda verschaffen soll, kann immer nur ein prekäres sein. Die tugendhaften Charaktere sind dazu verurteilt, unter der Lüge zu leiden, bis sich die Wahrheit am Ende durchsetzt und ihnen zum Glück verhilft. Ihre Selbstverleugnung verbietet es ihnen, gegen die Falschheit zu ihrem eigenen Wohl einzutreten. Die konstitutive Vorherrschaft der Lüge im Melodrama bildet daher die Macht der skrupellosen Charaktere, die das tugendhafte Leid der Gutmenschen zur Ausübung ihrer Herrschaft ausnutzen. So quält Branca beispielsweise ihren ungeliebten Sohn, der sich niemals gegen sie wehrt. Er leidet, bis seine wahre Identität von alleine ans Licht kommt: Erst am Schluss stellt sich heraus, dass er Brancas außereheliches Kind mit Atilio ist. Als er und Atilio erfahren, dass sie Sohn und Vater sind, umarmen sie sich, als ob sie immer schon aufeinander gewartet hätten. Die Wahrheit macht sie glücklich. Es ist daher völlig gattungskonform, dass Branca demgegenüber in völliger Einsamkeit endet, verlassen von ihrer Familie und von Freunden. Das Ergebnis ihrer Machenschaften ist Unglück bzw. Einsam-

Telenovela und Alterität

145

keit. Die Übertragung des Sakralen auf den finalen Triumph von Gerechtigkeit und auf das irdische Glück erfüllter Liebe und sozialer Anerkennung macht deutlich, dass der melodramatische Mensch ein primär emotionales Wesen ist, das auf intensive zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen ist. Diese Verlagerung des Heilversprechens auf das Gefühl findet ihren Ausdruck auch in der Ästhetik des Melodramas. Jesús Martín-Barbero und Silvia Muñoz bezeichnen diese Ästhetik als ,»Rhetorik des Exzesses" und beschreiben sie als einen beständigen pathetischen Appell an die Emotionen des Publikums (Martín-Barbero / Muñoz 1992: 49 f.). Ein solcher Sentimentalismus malt stereotypisierte Gefühlsausdrücke, allen voran von Liebe und Leid, in Breite aus. Dass die Zuschauerinnen tief in das melodramatische Universum eintauchen würden, war der einflussreichen Tageszeitung Folha de Sao Paulo bereits in ihrer Vorbesprechung der Serie klar, weswegen sie Por amor als „dramalhäo", als Super-Melodrama, einstufte (Scalzo 1997).

5. Massenkultur und Identität Por Amor reiht sich mit dieser Teilhabe am Melodrama in eine Tradition ein, die ohne weiteres als Massenkultur benannt werden kann. Wie Markus Klaus Schäffauer und ich im vorliegenden Band in „Die intermediale Passage der Gattungen" zu zeigen versuchen, bedingen sich Medien und Gattungen gegenseitig. Der Begriff der Gattung steht in dieser Sichtweise nicht mehr für eine normative oder beschreibende Ordnung und Identität von Texten oder Artefakten sondern für einen sinnstiftenden Kontext von Äußerungen, der sich durch jede neue Anknüpfung fortbildet und wandelt. Jedoch setzt diese Sinnbildung ein Zusammenspiel von Gattung und Medium voraus, da die Gattung zwar Sinnstiftung durch Verkettung der Kommunikationsakte ermöglicht, aber erst das Medium dazu imstande ist, überhaupt eine Äußerung hervorzubringen. Der Semiotiker Oscar Steimberg hat deutlich gemacht, dass Gattungen Kategorien in Bewegung sind, und dass ihre Bewegungen zwischen den Medien als die Beweglichkeit" der Kultur verstanden werden können (Steimberg 21998: 88). Intergenerische, intermediale und interkulturelle Bewegungen der Gattungen schaffen jedoch nicht nur Kontinuität sondern erzeugen auch Differenz. Jede Bewegung unterwirft die Gattung partiell einem Bruch und einer Neuschöpfung. Das Medium verleiht der Gattung einen ihm eigentümlichen performativen Charakter, der auf seiner Materialität beruht und sich in einem spezifischen Vollzug von Äußerung und Rezeption äußert. Eine intermediale Passage rekonfiguriert daher die Gattung, weil sie dieser eine neue Medialität verleiht. Eine solche Passage ist folglich auch immer eine Alteritätsbewegung und verweist auf die Instabilität der Kultur. Sie lenkt das Augenmerk insbesondere auf die medialen Umbrüche der Kultur seit dem 19. Jahrhundert.

146

Joachim Michael

Das Melodrama hat wie kein anderes Genre Anteil an diesen Umbrüchen, da es sukzessive an der Etablierung jedes neuen Massenmediums in Lateinamerika entscheidend beteiligt war. Als Feuilletonroman trug die Gattung wesentlich zur Ausweitung des Lesepublikums der Zeitungspresse im 19. Jh. bei. Aufgrund der postkolonialen Beschränkung der Schriftkultur auf eine soziokulturelle Elite kann in Lateinamerika zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum von einer Umgestaltung der Zeitung in ein Massenmedium gesprochen werden. Die Passage des Melodramas vom Theater zum Fortsetzungsroman ist vielmehr für die Herausbildung einer modernen Stadtkultur bedeutsam. Anders ist dies im Falle der audiovisuellen Medien. In den dreißiger Jahren des 20. Jh. ermöglichte die Gattung die Expansion von Radio und Kino zu ersten Massenmedien auf dem Kontinent. Auch das Fernsehen verdankt dem Melodrama seine hegemoniale Stellung ab den 1960er Jahren als Leitmedium der lateinamerikanischen Kultur. Bei dieser knappen Skizze der intermedialen Bewegungen des Melodramas handelt es sich zweifelsohne um eine grobe Verkürzung der Geschichte des Genres. Jedoch gibt sie nicht zuletzt einen ersten Hinweis darauf, dass es sich um ein städtisches Genre handelt, dessen Ausdehnung im Kontext der Urbanisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften zu verstehen ist. Auch sei festgehalten, dass den unteren sozialen Schichten urbane Kultur erst mit den audiovisuellen Medien zugänglich wird. Als hegemoniale Gattung der lateinamerikanischen Massenkultur steht das Melodrama für Industriekultur bzw. Schematismus. Dies ist die Kritik, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Mitte des 20. Jh. an die Produkte der Kulturindustrie richteten. Ihre Kritik bezieht sich auf die Unterwerfung der Kultur unter die kapitalistische Rationalisierung des Produktionsprozesses und die notwendig mit ihr einhergehende Uniformisierung der kulturellen Produkte. Die Permanenz des Melodramas entspricht Horkheimers und Adornos Beobachtung, dass sich in der Massenkultur alles gleiche.8 Massenkultur lässt sich somit als „Identität aller industriellen Kulturprodukte" beschreiben (Horkheimer/Adorno 1998: 132). „Identität", so ist schnell zu erkennen, ist ein Schlüsselbegriff, der nicht nur mit der „ästhetischen Barbarei" (Horkheimer/Adorno 1998: 139) der Massenkultur sondern auch mit Entfremdung in engem Zusammenhang steht. Um dies zu verstehen, muss kurz rekapituliert werden, was die Kulturindustrie bzw. die Immergleichheit ihrer Erzeugnisse mit dem Menschen machen: Sie entmündigen ihn, da sie ihm die für seine Subjekthaftigkeit konstitutive Verstehensleistung vorenthalten.9 Sie betreiben den

8

9

„Der Schematismus des Verfahrens zeigt sich daran, dass schließlich die mechanisch differenzierten Erzeugnisse als allemal das Gleiche sich erweisen" (Horkheimer/Adorno 1998: 131). „Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen. Sie betreibt den Schematismus als ersten Dienst am Kunden" (Horkheimer/Adorno 1998: 132).

Telenovela und Alterität

147

Untergang des Subjekts, da sie ihm darüber hinaus seiner Individualität berauben. Die Individualität des Menschen fällt nicht nur der Standardisierung der Produktionsweise der Kulturindustrie zum Opfer sondern insbesondere seiner Unterwerfung unter die Allgemeinheit, denn das Individuum „wird nur so weit geduldet, wie seine rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen außer Frage steht". Was herrscht, ist „Pseudoindividualität", da die „Besonderheit des Selbst" auf Äußerlichkeiten reduziert wird (Horkheimer/Adorno 1998: 163-164). Hierbei machen die Autoren jedoch deutlich, dass das Individuum immer schon in einem Spannungsverhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft stand. Diese hat die Entstehung des Individuums ermöglicht, gleichzeitig seine Entfaltung aber seit jeher unterbunden, da sie es nie aus den Zwängen der Konkurrenzgesellschaft entließ und ihm zwar „Individuation", d.h. Verfolgung von Eigennutz, aber keine „Individualität" erlaubte. Massenkultur ist insofern zugleich Gipfel und Dekuvrierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und seiner im Faschismus endenden Verleugnung des Individuums. Horkheimers und Adornos Kulturkritik an den Massenmedien ist daher als Element einer umfassenden Kapitalismuskritik zu verstehen. Von dieser leitet sich folglich ihre Auffassung des Subjekts mit seinem Anspruch auf autonome Selbstbestimmung als unausweichlicher Widerspruch zur Gesellschaft ab. In der Konsequenz dieser Denkweise kommt der Kultur als Ausdruck der kreativen Leistung des Subjekts die Funktion zu, sich der bürgerlichen Gesellschaft zu widersetzen. Differenz und Alterität messen sich somit am Widerstand gegen das Gesellschaftssystem. In dem Maße jedoch, wie die Kategorien der Kultur und des Subjekts aus dem Bannkreis der Kapitalismuskritik entlassen werden, kann auch das Verhältnis zwischen Publikum und audiovisuellen Medien neu bewertet werden. Es stellt sich die Frage, ob das Ergebnis dieser Medien notwendigerweise „Masse" als Regression der Subjekte in einen vor-individuellen Zustand der Differenzlosigkeit und Übereinstimmung sein muss. Selbst die Annahme, Massenkultur erschöpfe sich in Identität im Sinne von Immergleichheit erklärt noch nicht, warum die Rezeption der audiovisuellen Medien zwangsläufig alle Differenz seitens der Zuhörerlnnen bzw. Zuschauerinnen zunichte macht. Das entscheidende Argument, das Horkheimer und Adorno dazu hefern, kann aus heutiger Sicht kaum überzeugen: In Bezug auf den Film fuhren sie an, dass die schnellen Bilder „die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will" (Horkheimer/Adorno 1998: 134-135). Der Zuschauer würde so sehr von den Bildern absorbiert, dass er das Gesehene nicht reflektieren könne. Hierbei zeigt sich, dass das Subjekt auf einer imaginären Unmittelbarkeit von Denken und Sehen beruht, die die Präsenz des Auges implizit voraussetzt. Das Argument der „Vermassung" der Zuschauerinnen entpuppt sich somit als Aporie: Die letztlich metaphysische Präsenz des Auges (oder des Ohrs) bildet im Grunde die Voraussetzung für die Auslieferung der Zuschauerinnen an die audiovisuellen Medien. Auf sie ist mit anderen Worten die Schlussfolgerung zurückzufuhren, dass ein uniformes audiovisuelles Angebot

148

Joachim Michael

nicht nur eine ebenso uniforme Rezeption bedingt sondern darüber hinaus die Uniformisierung der Rezipientlnnen betreibt. Wenn somit das Subjekt seine Reflexivität nicht mehr durch die Inanspruchnahme des Auges verliert, wenn es (zweifelsohne als behelfsmäßige Kategorie, die den absoluten Anspruch auf autonome Selbstbestimmung aufzugeben bereit ist) bestehen kann, ohne seinen beständigen Widerstand gegen den Kapitalismus zum Ausdruck bringen zu müssen, dann ist auch nicht mehr ersichtlich, warum es durch die Rezeption audiovisueller Medien zwangsläufig in der Identität der Masse untergehen muss. In der Folge ist Kultur als der Handlungsraum des Subjekts nicht mehr auf den modernistischen Gegensatz zur Gesellschaft festgelegt sondern kann als Produktion, Zirkulation und Infragestellung von sozialem Wissen verstanden werden (vgl. Reckwitz 2000: 64). Die Massenmedien (und der Begriff selber wird problematisch) fuhren Hann nicht mehr notwendig zum Kulturverfall. Damit werden die sie jedoch keineswegs vollständig rehabilitiert. Ebenso wenig wird durch eine solche Problematisierung der Kulturkritik automatisch ihre epistemologische Dignität als realitätskonstituierendes Faktum favorisiert. Nichtsdestoweniger lässt diese Sichtweise audiovisuelle Medien immerhin als kulturelles Problem zu.10 Der Begriff der Masse muss auch nicht vollständig aufgegeben werden, als (immer nur provisorische) Kategorie zur Beschreibung sozialräumlicher Ballungsphänomene erscheint er weiterhin sinnvoll - jedoch nur im Kontext punktueller und temporärer Formationen und nicht als Konstruktion eines stabilen Gesellschaftssegments. Carlos Monsiväis z.B. macht sehr wohl die Verachtung der stetig wachsenden Bevölkerung deutlich, der mit der kulturkritischen Verwendung des Begriffs durch die soziokulturelle Elite Mexikos einhergeht.11 Dennoch verwendet er den Begriff in seinen Chroniken über 10

Zu einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Massenpsychologie und der an sie anknüpfenden Kulturkritik siehe auch Markus Klaus Schäffauers und meine einleitenden Bemerkungen zum „Verhältnis von Massenmedien und Alterität" im vorliegenden Band Darin verweisen wir u.a. auf Peter Sloterdijks kulturkritische Zuspitzung des Begriffs der Masse als Verachtungsbegriff, der die Masse als das „Verächtliche" mit dem „Uninteressanten" bzw. mit der „real existierenden Nichtigkeit" identifiziert (Sloterdijk 2000: 46). Die Masse erleidet daher Verachtung seitens der Elite, der gegenüber sie jedoch ihrerseits Verachtung ausübt, und die sie mittels der Verneinung aller Differenzen zu zerstören trachtet. Die Masse wird insofern zu einer egalitären Haltung, durch die das große Projekt der Moderne -die Emanzipation- konsequente Verwirklichung sucht. Sloterdijks Schrift wendet sich in diesem Sinne letztlich gegen die,.Masse in uns selbst" (Sloterdijk 2000: 95). In Bezug auf massenmediale Realitätskonstruktionen gehen wir auch auf Niklas Luhmanns Ansatz ein, der die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien in der Herstellung einer „Hintergrundrealität" sieht, von der ausgegangen werden kann, ohne dass sie in weiteren Kommunikationsakten eigens mitgeteilt werden müsste (Luhmann 21996: 120). Die Vorstellung des Wirkens einer „unsichtbaren Macht" hinter den Massenmedien verweist Luhmann daher in den Bereich der „Mythologie der Moderne" (Luhmann21996: 128). 11 „Gracias a La rebelión de las masas (no que se lea, sí que se intuye), la élite afina su desprecio por el mar de semblantes cobrizos, por los invasores ocasionales de su panorama visual. ¡Cómo se multiplican! La fertilidad demográfica los acompaña y les permite con-

Telenovela undAlterität

149

die Megalopole Mexiko Stadt, aber er tut dies primär in seinen Skizzen von Rockkonzerten mit Blick auf ihre „augenblicklich entstehenden Rituale" (Monsivais 1995: 186). Im Vorwort zu diesen Chroniken weist er im Übrigen darauf hin, dass das massenmediale Spektakel sehr wohl eine normstiftende „Diktatur der elektronischen Faszination" ausübt, es dennoch nie vollständig über sein Publikum verfugen kann, das sich in seinen „Ritualen des Chaos" zu entziehen vermag (Monsivais 1995: 16).12 Das Problem, dessen Lösung jedoch noch ausbleibt, ist die Identität der massenmedialen Artefakte. Sie bildete schließlich den Anstoß für die Kulturkritik, die sie differenzlos auf das Publikum als Masse übertrug. Wie ist es zu verstehen, dass die Zuschauerinnen ein Angebot akzeptieren, dass sich immer wieder gleicht? Wenn die Zuschauerinnen als Subjekte und die Massenkultur generell als Kultur akzeptiert werden, kann die Antwort nur lauten, dass dieses Angebot einer kulturellen Tradition entspricht, mit der das Publikum vertraut ist. In Anknüpfung an obige Ausfuhrungen wird ersichtlich, dass es sich bei der lateinamerikanischen Massenkultur um die Hegemonie der Gattung des Melodramas handelt. Monsivais hat dargelegt, dass das Melodrama das wichtigste Genre einer neuen städtischen Kultur ist, die er mit „culturas populäres urbanas" bezeichnet. Sie sind das Ergebnis von Urbanisierung und Industrialisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften zu Beginn des 20. Jh. Die traditionelle Popularkultur durchmischt sich dabei mit der Massenkultur und trennt sich in vielfacher Hinsicht von seiner ländlichen Vergangenheit. Einige Züge behält sie jedoch bei, wie z.B. die Distanz zur Schriftkultur oder der Vorrang der Familie (Monsivais 2004). Im Gegensatz zur Auffassung der Kulturkritik fuhren die Massenmedien in Lateinamerika folglich nicht zum Niedergang der Kultur. Das Melodrama konfiguriert vielmehr eine Kultur, die vorher nicht existierte.13 Für den Teil der Bevölkerung, den man als „urbane Massen" zu bezeichnen pflegte, wirkte sich die gewaltsame Modernisierung durch ihre brüske Abkoppelung von den ländlichen Traditionen als eine Wertekrise aus. Der periphere Charakter dieser in Lateinamerika einziehenden Moderne äußert sich darin, dass sich die Versprechen des Pro-

vertirse en el alud amenazador y pintoresco que sumerge a las ciudades en la uniformidad" [„Dank Der Rebellion der Massen (nicht dass man das Buch läse, aber man erfasst es intuitiv) verfeinert die Elite ihre Verachtung gegenüber dem Meer kupfernfarbener Angesichter, gegenüber den gelegentlichen Eindringlingen ihres visuellen Panoramas. Wie sie sich vermehren! Die demographische Fruchtbarkeit begleitet sie und erlaubt ihnen, sich in eine bedrohliche und pittoreske Lawine zu verwandeln, die die Städte mit Einförmigkeit überzieht", Monsiváis 1995: 22], 12 Siehe zu Monsiváis' Rituales del caos auch den Beitrag von Vittoria Borsö im vorliegenden Band. 13 Zur kulturellen Zäsur, die das Aufkommen der städtischen Popularkulturen in Lateinamerika darstellen, siehe Michael 2004.

150

Joachim Michael

jektes der Moderne -Emanzipation, Fortschritt, Bildung u.a.- für diese Mehrheit nicht erfüllten. Diese Risse der Moderne bilden daher den „Sitz im Leben" der Gattung.14

6. Unbehagen an gender und genre Die narrative Ausgangskonstellation von Por Amor befindet sich folglich in Übereinstimmung mit dem lateinamerikanischen Melodrama. Gerade diese offensichtliche Erkenntnis löste eine breite Kontroverse in der brasilianischen Öffentlichkeit aus. Mit Bestürzung wurde die Serie mit der hispanoamerikanischen Variante der telenovela identifiziert, die sehr viel stärker vom Genre des traditionellen Melodramas bestimmt wird und weniger stark von der realistischen Erzählweise. Gerade diese Hybridisierung des seriellen lateinamerikanischen Melodramas mit dem realistischen Format des Hollywood-Kinofilms markiert mit ihrer programmatischen Ausrichtung auf die brasilianische Realität die Eigenständigkeit der telenovela in Brasilien. Da jedoch die brasilianische telenovela ihren Ausgang von der hispanomerikanischen Variante nahm, erschien Por amor als Rückkehr bzw. Rückschritt zu den Anfängen des Genres. Die Tageszeitung Folha de Säo Paulo kritisierte die Serie bei ihrem Start nicht nur, wie bereits erwähnt, mit der abwertenden Bezeichnung des „dramalhäo" sondern auch als „novela latina" bzw. als hisopanoamerikanische telenovela (Scalzo 1997). Gemeint ist, dass der Sender TV Globo mit dieser telenovela zur „traditionellen Formel" zurückkehrte, die in der hispanoamerikanischen Variante des Genres gesehen wird. Wenn diese telenovela insbesondere mit dem Paradigma der verdeckten familiären Identität ein Modell des traditionellen Melodramas konstituiert, so fallt jedoch auch eine Reihe von Elementen auf, die sich in dieses Modell nicht ohne weiteres einordnen lassen. Die Figur der Eduarda ist ein interessantes Beispiel. Ihre melodramatische Affektivität und die damit verbundene Verkörperung einer traditionellen sozialen Rolle der Frau sind im Grunde ironisch überzeichnet. Man kann sie daher als kritische Darstellung einer dünkelhaften und verwöhnten jungen Frau der high society verstehen. Dies kommt in ihrer hysterischen Fixierung auf ihren Mann Marcelo zum Ausdruck, was zu spektakulären Eifersuchtsszenen führt. Offenbar wirkte diese Darstellung sehr überzeugend auf das Publikum. Einem Teil der Zuschauerinnen erschien die Figur so unerträglich, dass sie sich öffentlich gegen sie aussprachen. Das Internet, das sich in der Mitte der neunziger Jahre gerade in Brasilien zu etablieren begann, war das Medium, diesen Protest öffentlich zu machen. Es erschien die Homepage Eu odeio a Eduarda (dt.: „Ich hasse Eduarda"), 14

Zum Melodrama in Lateinamerika siehe u.a. Jesús Martín-Barbero (1987: 241-243), Martín-Barbero/Muftoz (1992: 39-60) und Walter 2002. In Bezug auf die Beziehung der telenovela zum peripheren Charakter der Moderne in Lateinamerika siehe auch Michael 2003a.

Telenovela und Alterität

151

die den „Tod" Eduardas vom Drehbuchautor der Serie forderte. Eduarda sei ein „dummes Ding", das die Zuschauer mit ihren Hysterien und mit ihrer konservativen Auffassung der Rolle der Frau zur Weißglut treibe. Durch das Anklicken eines durchgestrichenen Photos von Eduarda konnte man die Figur virtuell „töten", d.h. eine animierte Sequenz auslösen, in der ein Strichmännchen ein anderes erschoss. Daraufhin erschien die Mitteilung, man habe einen Beitrag zu einer besseren Welt geleistet. Außerdem konnte man eine Beschwerde-E-Mail an den Drehbuchautor der telenovela schicken und die Mitteilungen anderer genervter Por ^wor-Zuschauer nachlesen. 15 Wenig später erschien eine Gegen-Homepage mit dem Titel Eu adoro a Eduarda (dt.: „Ich liebe Eduarda"), die zur Rettung der Figur aufruft. Eduarda wird hier zur „brasilianischen Frau des neuen Jahrtausends" erklärt, die Selbstbewusstsein zeige und sich vom Machismo ihres Mannes nicht unterkriegen lasse.16 Die Homepage lädt den Besucher ein, eine E-Mail an den Autor zu schicken mit der Bitte, die Figur am Leben zu erhalten. Man kann auch Kommentare über Eduarda veröffentlichen und der Figur virtuelle Blumen und Bonbons schicken. Hintergrund dieser ProEduarda-Homepage ist u.a., dass die Erzählung einige Zeit nach der Geburt eine psychologische Entwicklung Eduardas eingeleitet hat, die sie u.a. zur Trennung ihres Mannes und zu mehr Selbstbestimmung bewegt. Diese telematische Polemik in Bezug auf eine zentrale Figur der telenovela weist auf eine Reihe interessanter Aspekte hin: Zuerst ist zu bemerken, dass die Serie mit dieser Figur einen Nerv zumindest von Teilen des Publikums und der Kritik in der Presse getroffen hat, die sich in ihrer Unzufriedenheit ja entsprachen. Offensichtlich wirkte die Figur auf nicht wenige Zuschauerinnen als zu affektiert. Bemerkenswert ist dabei, dass die Figur für viele Zuschauerinnen ein rotes Tuch war und nicht die telenovela. Es scheint so, als konnten sie gerade diese Verkörperung des hysterischen und unterwürfigen ,Frauenzimmers' in ,ihrer' telenovela nicht ertragen. Daraus ließe sich folgern, dass sie sich mit dem Genre sehr wohl identifizieren, jedoch spezifische Anforderungen daran stellen, darunter die Emanzipation der Frau. Tatsächlich feiert die Pro-Eduarda-Seite die Figur ja gerade wegen ihrer emanzipierten Aspekte. Außerdem zeigt die Reaktion, wie vertraut die Zuschauerinnen mit dem Genre und speziell mit seinem Produktionsprozess sind: Sie wissen, dass eine Figur ohne weiteres aus der Erzählung verschwinden kann, und dass dies in der Regel dadurch geschieht, dass das Drehbuch ihren plötzlichen Tod einfuhrt.17 15

Die Homepage ist mittlerweile nicht mehr online. Sie war unter folgender Adresse aufrufbar: www. geocities. com/Hollywood/Studio/4698/. 16 Diese Seite ist ebenfalls nicht mehr online. Sie war unter der Adresse www.terravista.pt/ ilhadomel/1559/ zu öffnen. 17 Tatsächlich sah das Drehbuch den frühzeitigen Tod von Eduarda vor, aber die Resonanz der Figur bzw. die Proteste überzeugten den Sender, Eduarda am Leben zu lassen. Es ist denkbar, dass die Widersacher der Figur von ihrem geplanten Tod wussten und ihn lauthals einforderten.

152

Joachim Michael

Allgemeinwissen des Publikums ist daher die überragende Bedeutung des Drehbuchautors der brasilianischen telenovela, die die des Regisseurs beispielsweise bei weitem übersteigt. Insbesondere die hohen Besucherzahlen der Seiten (wobei die der Anti-Eduarda-Homepage weitaus höher waren) machen deutlich, dass die telenovela im kulturellen Horizont der Zuschauerinnen grundsätzlich fest verankert ist bzw. dass sie als Modell plausiblen sozialen Handelns ernst genommen wird. Diese Beobachtung bestätigt die Ausgangsannahme, dass sich eine eigene Kultur der Zuschauerinnen im Sinne einer Urbanen Popularkultur mit dem Genre verbindet. Insbesondere zeigen jedoch beide sites den Zwiespalt, den jenes Modell sozialen Handelns im Publikum hervorruft. Wie bereits angedeutet, entzündet sich der Widerspruch gegenüber dem Genre an der Rolle der Frau in der Gesellschaft und stellt die konventionelle Unterwerfung der Frau unter das Gebot des Mannes und ihre hysterischen Kompensationen in Frage. Sehr leicht gibt dieses Frauenbild seine Übereinstimmung mit der Gattung des Melodramas zu erkennen, in dem der traditionelle Sexismus der patriarchalischen Gesellschaft fortbesteht. Als Extension des individuellen Liebesglücks überträgt das Melodrama der Frau seit jeher die Bewahrung der Familie als soziale Institution. In dieser Funktion kommt ihr die gesellschaftliche Rolle der Mutter zu. Die archetypische weibliche Gegenfigur zur Mutter ist daher die Prostituierte, die die Familie bedroht. Mutter und Prostituierte - das sind die beiden Pole, zwischen denen die Gattung das Frausein entfaltet.18 Die telematischen Reaktionen des Publikums (oder zumindest von engagierten Teilen davon) zeigen daher, dass seitens der Zuschauerinnen u.a. große Unzufriedenheit in Bezug auf dieses Frauenbild herrscht. Da es jedoch von zentraler Bedeutung für das Melodrama ist, lässt sich dieses Unbehagen auf die Gattung als solche übertragen.19

7. Intermediale

Gattungskreuzung

Zweifelsohne spielt Por amor mit gender und Genre. Offensichtlich übersieht die Kritik an der konventionellen Frauenrolle, dass die telenovela durch die ironische Überstrukturierung der Figur eben diese Frauenrolle problematisiert. Zwar ist die Schauspielerin Gabriela Duarte, die Eduarda darstellt, tatsächlich die Tochter von Regina Duarte, die Helena spielt. Dies soll nicht nur vor der Kamera die schauspielerische Performance im Sinne von Authentizität erhöhen sondern auch vor dem Bildschirm das Interesse an dieser Mutter-Tochter-Beziehung steigern, da Regina

18

Siehe zu den Frauenbildern im Melodrama des „Goldenen Zeitalters" des mexikanischen Kinos, also zwischen 1930 und 1954 Monsiväis 4 l 994: 1521-23. 19 Zum Verhältnis zwischen gender und Genre im brasilianischen Fernsehen siehe auch den Beitrag von Markus Klaus Schäffauer im vorliegenden Band.

Telenovela undAlterität

153

Duarte als eine der beliebtesten Schauspielerinnen Brasiliens gilt20 und der Sender mit diesem Familienverhältnis warb. Eduardas Persönlichkeit ist allerdings zu affektiv und submissiv, ihr Mann Marcelo zu intolerant und aggressiv, als dass die Erzählinstanz (Drehbuch, Kameraführung, Montage) ihnen ihre ungebrochene Sympathie zugedeihen lassen könnte. Eduardas altmodische Fixiertheit auf ihren vergötterten Mann erscheint im Kontext der telenovela als fragwürdig. Die Serie greift also die oben angedeutete Kritik seitens einiger Zuschauerinnen am traditionellen Frauenbild auf und macht es zum Gegenstand ihrer Handlung. Damit diskutiert sich die Gattung selbst und fragt nach Alternativen zu ihrer Tradition. Da die Serie jedoch das Prinzip „Liebe" und seine glückliche Verwirklichung an sich nicht zur Disposition stellt, wird deutlich, dass sie das melodramatische Universum nicht vollständig verlassen würde. Sie versucht, das Genre durch nicht traditionelle Frauenrollen zu erneuern. In der Folge kommt Emanzipation, d.h. Selbstbewusstsein und Selbständigkeit zum Tragen: Die Figur Eduarda macht eine Entwicklung durch, trennt sich von ihrem Mann, beschließt zu arbeiten, um selbst Geld zu verdienen (was sie dann aber doch nie tut), und überhaupt gibt sie sich entschlossen, ihr eigenes Leben zu führen und Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen. Marcelo entwickelt sich entsprechend ebenso im Laufe der Monate von seinem anfänglichen Machismo weg zu mehr Verständnis und Offenheit. Wenn das Melodrama in seinem Bestreben der Resakralisierung der Welt als Gattung der Moderne par excellence angesehen werden kann, so strebt die telenovela danach, ihr Erbe der Moderne konsequent umzusetzen und modern zu sein, indem sie deren großes Projekt der Moderne -Emanzipation- in ihrem Kernbereich der sozialen Rolle der Frau umsetzt. Diese Modernität versucht die telenovela auch und besonders in ästhetischer Hinsicht zum Ausdruck zu bringen. Wie bereits angedeutet, eignet sie sich eine realistische Erzählweise an, die der moralischen Teleologie des Melodramas insofern widerspricht, als dass sie sich aus nicht bedeutenden Erzählsegmenten zusammensetzt. Die Fülle an Details, die das Bild grundsätzlich anbietet, die aber im Sinne des Realismus gezielt erhöht wird -etwa durch den konsequenten Einsatz aufwendiger Außenaufnahmen oder durch den Bau einer gigantischen Film- bzw. telenovelaStadt in der Nähe Rio de Janeiros durch den Sender (Projac)- haben keine andere Bedeutung, als auf ihre Unbedeutsamkeit aufmerksam zu machen bzw. darauf hinzuweisen, dass sie für die Kontingenz der Wirklichkeit stehen (vgl. Barthes 1984). Der „Real-EfFekt" bildet insofern einen Bruch mit dem traditionellen Melodrama, als dass nicht mehr jedes Erzählelement im Dienst der Verdeutlichung des moralischen Kosmos unter der Oberfläche des Scheins steht. Die Frage, woher die telenovela diesen Realismus nimmt, ist schnell beantwortet: vom Kino, insbesondere seiner Prägung durch Hollywood. Die intermediale 20

Schon in den siebziger Jahren war sie ein telenovela-Star und erhielt die Bezeichnung „namoradinha do Brasil" (dt: „Schwärm Brasiliens").

154

Joachim Michael

Passage des Hollywood-Films wird insbesondere an spektakuläre action-Szenen wie Autounfällen, Hubschrauberabstürzen oder Verfolgungsjagden deutlich, die auch den Einsatz von Spezialeffekten verlangen. Solche Szenen in eine werktäglich ausgestrahlte Serie aufzunehmen, ist angesichts des hohen Produktionsaufwandes alles andere als selbstverständlich. Die Serie zitiert das Kino auch explizit, wie z.B. in der Szene, in der Marcelo und Eduarda am Ende der telenovela mit ausgebreiteten Armen am Bug einer über das Meer rauschenden Jacht stehen und an eine Szene des Films Titanic erinnern, in der die Protagonisten in ähnlicher Pose zu sehen sind nur auf einem etwas größeren Schiff. Jedoch hebt auch die Einverleibung des kinematographischen Realismus und des tendenziell mit ihm verbundenen emanzipatorischen Diskurses den oben dargestellten melodramatischen Handlungsrahmen der Fortsetzungserzählung nicht auf. Por amor diskutiert zwar gerade das Motiv für den Haupthandlungsstrang -den ausgeprägten Schutzinstinkt Helenas gegenüber ihrer Tochter- als Ursache für deren hysterische Affektiertheit bzw. als exzessive Liebe, die zum Tausch der Babys und zur Verbergung der Identität des überlebenden Kindes fuhrt. Die Betroffenen, Eduarda, Marcelo und Atilio, sprechen Helena am Ende die Fähigkeit ab zu lieben, da sie sich über ihre Gefühle bis zum Schluss hinweggesetzt habe und ihre Geschicke „gottähnlich" -man könnte auch sagen melodramatisch- bestimmen wollte. Ebenso wie das „Gute", in der Verkörperung Helenas problematisiert wird, so wird auch das „Böse", in der Personifizierung Brancas, in Frage gestellt. Branca erscheint im Grunde als ein sehr schillernder Charakter. Sie ist nicht eigentlich böse sondern eher brilliant (und damit faszinierend) und hat insbesondere darin eine Schwäche, dass sie Atilio und ihren Sohn Marcelo exzessiv liebt, wodurch sie »menschlich' und nicht mehr als das Böse schlecht hin erscheint. Damit gerät sie auf eine Ebene mit ihrem Gegenpol Helena, die auch aufgrund exzessiver Liebe Unheil anrichtet. Por Amor stellt in diesem Sinne dadurch das Modell des Melodrama zur Disposition, dass die Serie die traditionellen Gegensätze von Gut und Böse aufhebt, da die Handlungen aller Personen durch Liebe motiviert erscheinen. Insbesondere aber fuhrt die als melodramatische Form der übersteigerten Liebe zu Unheil, sowohl im Falle der scheinbar guten wie bösen Figuren. Trotz dieser Selbstreflexion bleibt die Erzählung jedoch in ihrer Struktur melodramatisch, da u.a. das Geheimnis, die Lüge weiterhin den Spannungsbogen bis zur Aufdeckung der Wahrheit bilden, da die narrative Funktion des Bösen, Disharmonie herzustellen und Konflikte hervorzurufen, weiterhin bestehen bleibt, und da die Rolle der Frau weiterhin in erster Linie als Mutter bzw. als Liebende thematisiert wird. Das Ergebnis ist als hybrid einzustufen bzw. als eine intermediale Kreuzung von Diskursarten, die zu keiner Synthese fuhrt, in der die Diskursgattungen völlig aufgingen und sich verwischten. Im Gegensatz dazu sind die Ausgangsgattungen auch in der telenovela noch erkennbar und grenzen sich partiell voneinander ab. Diese gattungsinterne Spannung macht die Serie heterogen und verhindert die Vollendung ihrer Kohärenz: Die telenovela kann sich

Telenovela undAlterität

155

von ihrer Tradition letztlich nicht lösen, aber sie vermag ebenso wenig, in ihr zu verharren.

8. Alterität Die telenovela versucht, auf ein Dilemma zu antworten: Die culturas populäres urbanas sind eine plurale Erscheinung. In ihnen regt sich der Wunsch nach einem Bruch mit dem Melodrama und gleichzeitig bestimmt sie das Begehren, die Gattung beizubehalten. Als Netzkultur bietet sie darüber hinaus der telenovela erstmals Alternativen an. Hier bildet sie eigene Gattungen, die sich von der Distanz zu ihr und dem Fernsehen nähren. Bemerkenswert ist, dass diese Gattungen mit der Internetseite Eu odeio a Eduarda ihren Ausgang von der Serie Por amor nahmen. Es handelt sich um Seiten, in denen einzelne Internetnutzer ihre Unzufriedenheit mit der Massenkultur provokativ zum Ausdruck bringen. Die Abneigung bezeichnet die Gattung: Eu odeio. So folgten beispielsweise Protesthomepages auf spätere telenovelas. In Bezug auf die im Jahr 2000 von Rede Globo ausgestrahlte Serie Lagos de familia entstanden z.B. mehrere Protestseiten wie Eu odeio a Camila, die sich gegen eine Frauenfigur der Serie richtet, oder Eu odeio Lagos de familia, die sich gegen die Serie selbst wendet.21 Mittlerweile existieren Protestseiten zu den verschiedensten Bereichen den öffentlichen Lebens wie Figuren der Popkultur, Fußballvereine, Politiker usw.22 Die Fernsehserie jedoch wird von dem Bestreben beherrscht, die intermedialen culturas populäres urbanas als Ganzes aufzugreifen. Sie konstruiert Modelle nationaler Identität und kreiert unermüdlich ein ,Mini-Brasilien", mit denen sie die heterogenen Bevölkerungsgruppen in ein gemeinsames Publikum zu integrieren trachtet. Den Spannungen unter den Urbanen Popularkulturen bzw. unter den unterschiedlichen Publikumssegmenten begegnet sie mit einer Modernisierung des Melodramas, die an die Grenzen des Genres geht, aber nicht darüber hinaus. Wie oben dargelegt, vollzieht sich diese Modernisierung mittels einer intermedialen Gattungspassage des Hollywood-Films, die die Spannungen zwischen Überwindung und Bewahrung des Genres nicht aufhebt. Der Versuch, das transkulturelle Kino Hollywoods der Gat21

www.geocities.com/euodeioacamila/ bzw. www.euodeiolodeiolacosdefamilia.cjb.net/ (zuletzt aufgesucht: 10.04.2003). 22 Es gibt „Protest-Portale" wie Portal EuOdeio - o maior site de protesto (www.portaleuodeio. hpg.ig.com.br) auf der die einzelnen EuOdeio-sites aufgelistet und verlinkt sind. Es gibt sogar einen Protest gegen den Protest: Eu odeio as páginas que odeiam alguma coisa (www.geocities.com/SunsetStrip/Stadium/8444). Beide Seiten wurden am 10.04.03 zuletzt aufgesucht. Andererseits gibt es auch mannigfaltige Versuche sowohl auf privaten wie auch kommerziellen Homepages, die telenovela als netnovela ins Internet zu übertragen. Zur intermedialen Passage der telenovela in das neue Medium siehe Michael 2003b.

156

Joachim Michael

tung einzuverleiben, verweist nicht nur auf die bereits angesprochene „anthropophagische" bzw. tropikalistische Tradition, das Eigene nicht anders als in Verschmelzung mit dem Fremden zu erkennen. Er bringt auch den unerfüllbaren Traum der Gattung zum Ausdruck, das Andere zu sein: Ihr utopisches Verlangen danach, sich in eine andere Gattung eines anderen Mediums zu verwandeln und in ein Kino zu konvertieren, das die Menschen allabendlich in ihren Wohnzimmern aufsucht.23 Die Hybridität der brasilianischen telenovela, ihre intermediale Bewegung zwischen Fernsehen und Film erscheint als eine prekäre Strategie, die Widersprüche innerhalb der Urbanen Popularkulturen aufzunehmen. Diese gehen auf die gegensätzlichen Identitätsansprüche und -Verneinungen innerhalb des Publikums zurück, die sich zwischen post-sakraler Ordnung, Emanzipation und postmodernem Medienbewusstsein bewegen. Ihre telenarrative Rückführung in eine nationale Wirklichkeit kann nur zwiespältig ausfallen. Daher liegt der Schluss nahe, dass die telenovela sich zwar anschickt, die Differenzen der brasilianischen Gesellschaft aufzugreifen, ihnen jedoch nicht gerecht zu werden vermag. Folglich ist die Gattung identitätsbildend und sie ist es gleichzeitig nicht. Sie versucht, unter der Infragestellung ihrer eigenen Grenzen die zentrifugale Vielfalt Brasiliens einzufangen und kann ihrem Anspruch dabei niemals gerecht werden. In dem, was sich ihr dabei immer wieder entzieht, was sie notwendig übersteigt, ist die uneinholbare Alterität ihres Publikums angesprochen.24 Alterität als das, was die telenovela flieht, ihr aber doch anhaftet, kommt nicht zuletzt im hier nur knapp angedeuteten intermedialen Widerstreit der Gattungen zum Tragen.

23

Zu Intennedialität und tropicalismo siehe auch den Beitrag von Walter Bruno Berg im vorliegenden Band. 24 Zum Begriff der Alterität siehe auch den Beitrag der Herausgeber „Zum Verhältnis von Massenmedien und Alterität" in diesem Band.

Telenovela undAlterität

157

Bibliographie Armbnister, Claudius (1995): „Die Telenovela in Brasilien", in: Iberoamericana, Nr. 4 (60) 19. Jg., S. 1-42 Barthes, Roland (1984) [1968]: „L'effet de réel", in: Essais Critiques IV. Le bruissement de la langue. Paris: Seuil, S. 167-174. Brooks, Peter (1976): The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess. New Häven; London: Yale University Press Bucci, Eugênio (1997): Brasil em tempo de TV. Säo Paulo: Boitempo Fadul, Anamaria (Hg.) (1992): Serial Fiction in TV: The Latin American Telenovelas. Säo Paulo, ECA/USP — (1993): „La telenovela brasileña y la búsqueda de las identidades nacionales", in: Nora Mazziotti (Hg.): El espectáculo de la pasión. Las telenovelas latinoamericanas. Buenos Aires: Colihue Faulstich, Werner (1994): „Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht", in: Günter Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Hildesheim: OlmsWeidmann, S. 46-54. Fernandes, Ismael (31994): Memòria da telenovela brasileira. Säo Paulo: Brasiliense Flusser, Vilém (21999): „Bilderstatus", in: Bollmann, Stefan (Hg.): Medienkultur. Frankfurt /M.: Fischer, S. 69-82 — (21999): „Für eine Phänomenologie des Fernsehens", in: Bollmann, Stefan (Hg.): Medienkultur. Frankfurt/M.: Fischer, S. 103-123 Lyotard, Jean-François (21989): Der Widerstreit. München: Fink Maria Rita, Kehl, (1986): „Eu vi um Brasil na TV", in: Simôes, Inimá F.; Costa, Alcir Henrique da; Kehl, Maria Rita: Um pais no ar. Historia da TV brasileira em très canais. Säo Paulo: Brasiliense, S. 167-276 Martín-Barbero, Jesús (1987): De los medios a las mediaciones. Comunicación, cultura y hegemonía. México: Gili Martín-Babero, Jesús; Mufloz, Silvia (Hg.) (1992): Televisión y melodrama: géneros y lecturas de la telenovela en Colombia. Bogotá: Tercer Mundo Melo, José Marques de (1988): As telenovelas da Globo. Produçâo e exportaçâo. Säo Paulo: Summus Michael, Joachim (2003a): „Kult Telenovela. Fernsehen an den Bruchstellen der Moderne", in: Matices, 11. Jahrgang, Heft 37, Frühjahr, S. 31-34 — (2003b): „Da Rede Globo à rede global: a passagem intermedial de um gènero e a reconfiguraçào da cultura", in: Lusorama, Okt. (im Druck) — (2004): „Del texto de la cultura a la cultura de la imagen", in: Walter Bruno Berg et al. (Hg.): Fliegende Bilder, fliehende Texte / Imágenes en vuelo, textos en fuga. Frankfurt /M.: Vervuert (im Druck) Monsiváis, Carlos (41994) [1976]: „El cine nacional", in: Daniel Cosío Villegas (Hg.): Historia general de México. Vol. II. México: El Colegio de México, S. 1506-1531 — (1995): Los rituales del caos. México: Era — (2004): „Tres funciones al día (Etapas de la cultura popular en México y América Latina)", in: Walter Bruno Berg et al. (Hg.): Fliegende Bilder, fliehende Texte /Imágenes en vuelo, textos en fuga. Frankfurt /M.: Vervuert (im Druck) Ortiz, Renato; Borelli, Silvia Helena Simöes; Ramos, José Mário Ortiz (21991): Telenovela. Historia e produçâo. Säo Paulo: Brasiliense Oroz, Silvia (1992): Melodrama. O cinema de lágrimas da América Latina. Rio de Janeiro

158

Joachim Michael

Reckwitz, Andreas (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Göttingen: Velbrück Scalzo, Mariana (1997): „Novela Latina" in: Folha de Säo Paulo, 12.10.1997 Sloterdijk, Peter (2000): Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt IM.: Suhrkamp Steimberg, Oscar (21998) [1993]: Semiótica de los medios masivos. El pasaje a los medios de los géneros populares. Buenos Aires: Atuel Waidenfels, Bernhard (1980): „Der Sinn zwischen den Zeilen", in: Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 163-185 Walter, Monika (2002): „Melodrama y cotidianidad. Un acercamiento a las bases antropológicas y estéticas de un modo narrativo", in: Herrlinghaus, Hermann (Hg.): Narraciones anacrónicas de la modernidad. Melodrama e intermedialidad en América Latina. Santiago: Cuerpo Propio, S. 199-244

Dierk Spreen (Berlin / Darmstadt)

Der Körper als das Andere der Medien? In die Programmankündigung dieses Vortrags hat das Fragezeichen am Ende des Titels „Der Körper als das Andere der Medien" bedauerlicherweise keinen Eingang gefunden. Man erkennt sogleich, dass sich damit die Bedeutung dieses Satzes erheblich verschiebt. Implizit steht am Ende des Satzes nun ein Ausrufezeichen. Als ich das vorläufige Programm las, konnte ich mir plötzlich gar nicht vorstellen, diesen Titel gewählt zu haben. Der Körper als das Andere der Medien -Ausrufezeichen- verweist auf eine inzwischen nahezu klassische, anthropologische Herangehensweise. Demnach ist der Körper etwas, was sich den Medien und der Technik entzieht - eine irgendwie authentische Leiblichkeit, welche die Grenzen technischer Entfremdimg bezeichnet und die zugleich aber auch bedroht erscheint. Als Vertreter einer solchen Position kann man zum Beispiel Paul Virilio nennen. Der ontologische Grenzpolizist befürchtet die Aufhebung der „Grenze des Hautgewebes", mithin die „Eroberung des Körpers" durch technische Netze und Medien: „Nunmehr sind die uns umgebenden Wesen und Dinge nur noch Felder und die Wirklichkeit ein einziges Netz" (Virilio 1994: 142). Zu einer solchen Position, welche die Frage nach dem Verhältnis von Medialität und Alterität mit Hinweis auf eine Ontologie neben den Medien beantwortet, möchte ich mich nicht bekennen. Allerdings möchte ich auch nicht die „umgekehrte" Ontologie vertreten, etwa in der Art Norbert Wieners, der einfach feststellt: „Der Mensch ist eine Nachricht" und sei daher analog jeder anderen Information durch Telefonkabel zu translozieren. Vielmehr möchte ich eine diskursanalytische Zugangsweise wählen. Dieser Zugang soll es ermöglichen, das Verhältnis von Medien und Körper als kulturelles Verhältnis zu bestimmen und dabei auch genauer anzugeben, was das spezifisch Moderne an diesem Verhältnis ist. Als Prolegomena dazu gilt es ein paar Worte über „Diskursanalyse" zu verlieren. Ich verwende den Begriff Diskurs hier nicht im Sinne von Habermas, d.h. in der Bedeutung eines gemeinsamen, teleologisch auf die Möglichkeit von Einigung zielenden „Sprechens über...". Vielmehr benutze ich die Bedeutung des Terminus „Diskurs", die ihm Michel Foucault gegeben hat. Foucault versteht unter einem Diskurs ein Macht- und Möglichkeitsfeld des Sprechens, das die „allgemeinen, quasi anonymen Bedingungen von Sagbarkeit" (Link 1998: 150; vgl. Schräge 1998) definiert. Ein Diskurs besteht aus Aussagen. Das „strategische" Verhältnis dieser Aussagen bestimmt die Struktur dieses Diskurses und legt fest, was, wann von wem

160

Dierk Spreen

gesagt werden kann, welche Aussagen sich wiederholen können und in welchem Grade Verschiebungen möglich sind. „Subjekt" und „Objekt" sind in dieser Perspektive diskursiv konstituiert, d.h. es kann nur sein, was sagbar ist. Die diskursanalytische Sichtweise impliziert keinesfalls eine Entmaterialisierung. Etwa wird sie gerne in der Hinsicht missverstanden, alles werde in „bloßen Diskurs" verwandelt. Diskursive Verdichtungen, so genannte „diskursive Formationen" oder „episteme" -um den Begriff aus dem Buch Die Ordnung der Dinge zu verwenden- sind vielmehr eine materielle Angelegenheit, d.h. Positivitäten, die zu verändern ziemlich schwierig ist, d.h. Arbeit -oder mit Adorno „die Anstrengung des Begriffs"- erfordert. Später verwendet Foucault auch den Begriff „Dispositiv". Damit meint er ein höchst komplexes, heterogenes und hybrides Geflecht aus Aussagen, Körpern, Dingen, Macht- und Selbstpraxen, Anordnungen, Blickverhältnissen und Medien. Die Begriffe „Dispositiv" und „Diskurs" liegen einander sehr nahe, denn Foucault verweigert grundsätzlich eine Haltung, die einen immateriellen Diskurs über die materielle Welt hebt. Dies geschieht etwa, wenn ich ihn mir in Form eines „Sprechens über..." oder eines ideologischen Überbaus vorstelle. Die Antwort auf die Fragen, was ein Ding sei und wer ein Subjekt ist, bleibt immer innerhalb einer diskursiven Formation. Sowenig wie es eine natürliche Hierarchie zwischen Ding, Subjekt und Aussage gibt, sowenig gibt es ein Sprechen im „konsensuellen" Jenseits der Macht. Unter dieser Perspektive also, möchte ich das moderne Verhältnis von Körper und Medientechnik thematisieren. Ich bediene mich dabei eines Beispiels aus dem frühen 19. Jahrhundert, genauer aus der Politischen Romantik. Dieses Beispiel soll nicht nur als Illustration dienen, sondern zugleich auch die Überlegung provozieren, dass das spezifisch moderne Problemverhältnis zwischen Körperlichkeit und technischer Medialität keineswegs einfach ein Folgeproblem des technologischen Fortschritts ist. Vielmehr möchte ich nahe legen, dass es die moderne Diskursstelle der Medientechnik ist, die dieses Problem erzeugt. Untersuchen möchte ich die Medientheorie des politischen Ökonomen der Romantik - Adam Heinrich Müller. Adam Müller wurde 1779 in Berlin als Sohn eines untergeordneten Beamten geboren und starb 1829 in Wien als Adam von Müller, Ritter von Nittersdorf, kaiserlicher Generalkonsul und Hofrat (Köhler 1980). Man ahnt schon - hinter diesen Eckdaten verbirgt sich eine abenteuerliche Biographie, eine Biographie, die zu der Zeit passt, in der Müller lebte. Für eine Genealogie der Moderne ist dies eine höchst interessante Zeit. Sie erlebt die Geburt der modernen Gesellschaft, des sozialen Dispositivs, wie wir es heute kennen. Charakteristisch für dieses Soziale ist, dass es als Produktivkraft, als produktives Gefiige von Körpern gilt. Im 18. Jahrhundert galt das Soziale als gefahrliches Gewimmel undurchschaubarer Kräfte und Bewegungen, die es zu bändigen, zu ordnen und zu beherrschen galt. Der Moderne gilt die Gesellschaft dagegen als organischer Körper, der zu stimulieren, zu befreien und zu regieren ist. Für die Jahr-

Der Körper als das Andere der Medien?

161

hundertwende lassen sich mindestens drei Geburtsorte dieses modernen Gesellschaftsbegriffs und dieser modernen Gesellschaftspraxis bestimmen. Zunächst die Geburt des Sozialen aus der kapitalistischen Warenökonomie in Großbritannien. Dann die Geburt der Gesellschaft aus der politischen Revolution und dem Klassenkampf in Frankreich. Und schließlich die Geburt der Gesellschaft aus Befreiungskrieg und medialer Mobilisierung in Deutschland (Spreen 1998a). Der Theoretiker dieser dritten Geburt der modernen Gesellschaft ist Adam Müller. Die historische Situation ist in Kürze folgende: Am 18. Brumaire 1799 ergreift Napoleon die Macht in Frankreich, 1806 bricht das absolutistische Preußen bei Jena und Auerstedt militärisch zusammen. Preußen und die deutschen Staaten stehen unter der Herrschaft Frankreichs und sind Vasallen Napoleons. Vor diesem Hintergrund beginnen die Intellektuellen in Deutschland, Ideen und Vorstellungen zu entwerfen, wie man die „Fremdherrschaft" wieder los wird. In diesem Umfeld entwickelt Müller eine Kritik der politischen Ökonomie des englischen Ökonomen Adam Smith, die zugleich eine politische Ästhetik enthält und mit einer der ersten wirklich modernen Medientheorie verbunden ist. Müller kritisiert die britische Nationalökonomie als zu rationalistisch und zu mechanistisch. Insbesondere kritisiert er die Smithsche Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit. In der organischen Gesellschaft oder - w i e Müller meistens sagt- im „organischen Staat" haben alle Teile Anteil an den „Productions- Kräften" des Ganzen, d.h. an der „Nationalkraft". Das Soziale besteht nach Müller aus einem relationalen Gefiige von einander bedingenden und ausgleichenden produktiven Kräften und Gegenkräften. Deren komplexes Spiel gilt es zu forcieren. Es sind eben nicht nur die ökonomischen Momente, die dem Getriebe der Gesellschaft Schwung verleihen: Der Staat ist nicht eine bloße Manufaktur, Meierei; Assekuranzanstalt oder Merkantilistische Sozietät; er ist die innige Verbindung der gesamten physischen und geistigen Bedürfnisse, des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation zu einem großen, unendlich bewegten und lebendigem Ganzen. (Müller 1931: 13) Mit dieser Beschreibung des Sozialen liefert Müller eine systemische Definition der sozialen Produktivkräfte. Produktiv ist, was innerhalb dieses Systems und durch dasselbe einen Wert bzw. eine Bedeutung zugewiesen bekommt. Produktivität wird ausschließlich als Funktion der „organischen" Vermittlung, d.h. in der Form eines funktional-relationalen Verhältnisses -m.a.W. in der Form eines Netzes aus materiellen und immateriellen Beziehungen- bestimmt. „Produciren heißt", so Müller, „aus zwei Elementen etwas Drittes erzeugen, zwischen zwei streitenden Dingen vermitteln, und sie nöthigen, daß aus ihrem Streite ein drittes hervorgehe." (Müller 1922: 390). Diese Bestimmung sozialer Produktivität ist eminent modern, sie erin-

162

Dierk Spreen

nert nicht zufallig an entsprechende, aus Systemtheorie oder Strukturalismus bekannte Bestimmungen (Weisenbacher 1993). Da es mit der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht weit her ist, und auch die politischen Produktionsverhältnisse entsprechend anachronistisch strukturiert sind, bleibt zur Mobilisierung des Sozialen eigentlich nur noch eine mediale Strategie. Denn worum es Müller, Fichte, Clausewitz, Kleist etc. geht, ist nichts Geringeres, als gegen den „Kriegsgott selbst" (Clausewitz) erfolgreich einen Befreiungskrieg zu fuhren. Darum kommt Müller nach der Kritik der politischen Ökonomie auf die Diskursverhältnisse in Deutschland zu sprechen. Für Müller ist der „Verfall der Beredsamkeit in Deutschland" sowohl Grund als auch Folge der vernichtenden militärischen Niederlage im Jahre 1806 bei Jena und Auerstedt. Wenn der moderne Krieg ein Kampf „der National-Kraft gegen die National-Kraft" sein soll, dann kann für Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts eigentlich nur umfassende „National-Ohnmacht" festgestellt werden (Müller 1922: 81). Können wir Deutsche von Beredsamkeit sprechen, nachdem längst aller höhere Verkehr bei uns stumm und schriftlich oder in einer auswärtigen Sprache getrieben wird? [...] Und wenn die Natur Talente für die Beredsamkeit über Deutschland so reichlich ausstreute wie über dem Boden irgendeines anderen Landes, so sind es ja in Deutschland nur einzelne, die hören; es gibt kein Ganzes, keine Gemeinde, keine Stadt, keine Nation, die wie mit Einem Ohre den Redner anhörte. Im Gespräch mit dem einzelnen sind wir zu ungebunden, zu unbeschränkt; wir lassen uns gehn, wir reden nachlässig, und so verliert sich aus der Sprache des Volks der allgemeine, bindende Geist; sie zerbröckelt sich in unzählige Dialekte und Idiome; jede Sekte und jede Kotterie verunstaltet sie in ihrer eigenen Manier. (Müller 1967: 297 u. 298)

Die mediale Botschaft, welche die Sozialgemeinschaft verkündet, kann nur vernommen werden, wenn die Rezeptionsverhältnisse stimmen. Aber im zersplitterten Deutschland stimmen sie noch nicht. Daher „müssen die beiden Haupteingänge der Seele, Auge und Ohr, geöffnet werden" (Müller 1967: 363). Die Menschen sollen mit „Einem Ohre" der Botschaft lauschen, die sie aufruft, eine soziale Einheit zu werden. „Die Kunst zu hören besteht", so Müller, „in der Fähigkeit, im Sinn des anderen zu hören und doch zugleich sich selbst zu hören" (Müllerl967: 335). Wahres Hören gilt hier als ein Hören des Zusammenhangs zwischen „sich selbst" und dem „Sinn des anderen". Insofern dieses Hören auch „eine Manier des Antwortens" (Müller 1967: 333) ist, erzeugt es eine Kommunikationsgemeinschaft. Wie McLuhan, dem es darauf ankommt, Medien richtig zu verstehen („Understanding Media"), so hebt auch Müller die Bedeutung richtigen Hörens und Verstehens für die Bildimg gemeinsamer gesellschaftlicher Bande hervor. Mit solchen Überlegungen zum Hören entwirft Müller bereits das Dispositiv des Radios, welches McLuhan später als die „Stammestrommel" des modernen Sozialen bezeichnet (McLuhan 1992). Allgemeiner formuliert: In dem strategischen Diskurs Müllers entwirft sich

Der Körper als das Andere der Medien?

163

die moderne Diskursstelle technischer Medialität. Dem technologischen Stand seiner Zeit entsprechend spricht Müller diese Medialität als „Gespräch" oder Beredsamkeit" an. Heute sind elektrische und elektronische Kommunikationsmedien in diese Diskursstelle eingerückt. Die Sprachverhältnisse sind für Müller -und damit trifft er einen Faktor des Politischen in der Moderne, der wohl kaum überschätzt werden kann- der Raum, in dem „National-Kraft" geschaffen wird. Das symbolische Medium erweist sich damit als eine Produktivkraft, die jene soziale Gemeinschaft herstellt, mit der in der Hinterhand überhaupt erst daran gedacht werden kann, einen „wahren Krieg" (Müller) zu führen. Diskursivität gilt Müller als zentral für die Kriegführung. In Anspielung auf Friedrich Kittler kann daher festgehalten werden, dass es sich bereits bei dieser Kommunikationstechnologie um eine Waffentechnologie handelt. Der Eindrücke sind nun genug zitiert, kürzen wir den Gang der Geschichte etwas ab. Erstens: Der Befreiungskrieg gegen Napoleon wird geführt und gewonnen. Verwendet werden dafür Methoden der sozialen Mobilisierung, die man ansonsten geneigt ist, dem 20. Jahrhundert zuzuschreiben. Möglicherweise hat die nach Waterloo einsetzende Restauration auch das Bewusstsein um die Modernität dieser Zeit verdrängt. Die heutige Gesellschaftstheorie und die Soziologie setzen die Genealogie der Gesellschaft meist erst mit der Industrialisierung und der so genannten „sozialen Frage" an. Zweitens: Aus diskursanalytischer Perspektive erkennt man in Müllers Medientheorie die Geburt der Gesellschaft im Raum zwischen politischer Ökonomie, Medientechnik und Kriegführung. Im Feld dieser drei Diskurse konstituiert sich die moderne, die produktive Gesellschaft. Drittens: Die moderne Epistemologie „Gesellschaft" knüpft sich nicht an Dinge an sich oder an Körper an sich, sondern sie ist funktional-relational verfasst. Im Zentrum aller Produktivität stehen Medienverhältnisse, seien es nun Tausch-, Gewalt-, oder technische Diskursverhältnisse. Viertens: Diese „Gesellschaft" ist nicht nur Epistemologie, sondern zugleich auch Performanz. Das Soziale funktioniert materiell im Spiel dieser drei Diskurse als Produktivkraft. In diesem diskursiven Feld, das sich bis heute natürlich vielfach verschoben und gestaffelt hat, wurde und wird das Soziale mobilisiert und wirkt auch als treibendes und überdeterminiertes Moment moderner Kulturentwicklung. Was heißt dies für die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Körper und Medialität? Körper sind für das hier skizzierte kulturelle Dispositiv der Moderne -das heißt das Diskursdreieck „Tausch", „Technik", „Krieg"- von zentraler Bedeutung. Schon Müllers Verwendung des Terminus „organisch" zeigt das immer wieder an. Es geht um das Soziale als Körper - und mit der Mobilisierung dieses Sozialen geht es auch um die einzelnen Körper. Ihre Sinne müssen aktiviert werden, damit sie hören und sehen können (in Verdun wird dieses ihnen dann vergehen). Körper werden mobilgemacht, aktiviert, zur Produktivkraft umgewandelt. Sie werden ins Spiel gebracht und aufs Feld geführt. Tireilleur und Partisan tauchen auf den Kriegs-

164

Dierk Spreen

theatern auf. Körper gelten nicht nur als etwas Gefährliches, das zu disziplinieren und zu beherrschen ist, vielmehr werden sie vom Humanismus als handelnde Subjekte entdeckt. Körper produzieren und arbeiten, sie schöpfen Werte. Aber die Regulationstechniken des 18. Jahrhunderts verschwinden nicht. Die Befreiung des Körpers und der Gesellschaft nimmt diese viel mehr auf. Man erkennt, dass auch Macht eine Produktivkraft ist. Nun regieren die Körper sich selbst; mit dem Volkskrieg kommt auch der Volkssouverän. Damit kommt das ganze problematische Dispositiv „des Menschen" ins Spiel, an dem sich neben Foucault auch Adorno und Horkheimer abgearbeitet haben - der Mensch „als Souverän und Untertan" zugleich, d.h. als eine paradoxe Form „der Individualität als unterworfener Souveränität" (Foucault 1993: 95). Anhand der Ausführungen Adam Müllers kann man diese Zwiespältigkeit für den Körper illustrieren. Einerseits wird er ins Spiel gebracht, gewissermaßen „befreit". Andererseits gilt er nur als Knoten in einem Netz aus Kräften. Er „verschwindet" also gewissermaßen in diesem funktional-relationalen Gefüge. Hier zeichnet sich bereits jenes Wechselspiel zwischen Authentizität und Relationalst des Körpers ab, das ich zu Beginn kurz illustriert habe, in dem ich Paul Virilio und Norbert Wiener gegeneinander gestellt habe. Ich nenne dieses Verhältnis das „Spiegelspiel der Texte des Körpers" (Spreen 1998b: 144-158). Durch dieses Spiegelspiel der Körpertexte entstehen schwierige Schnittstellen zwischen Körper und Vermittlung, insbesondere technischer Vermittlung. Denn mit der Entwicklung der neuen Medien- und Cyborgtechnologien verlässt das Problem den metaphorischen Bereich und wird unmittelbar körperlich. Schon die romantische Medientheorie Adam Müllers hat das Problem, in dem funktional-relationalen Schema einen individuellen Organismus zu denken. Müller versucht dieses Problem zu lösen, indem er den als Produktivkraft ins Spiel gebrachten Körper mit der Vermittlung kurzschließt. Der Körper wird als relationale Verdichtung gefasst. Diese Verdichtung schlägt sich für Müller in der Geschlechterdifferenz nieder. Niemals ist man „Mann" oder „Weib" an sich-, eine solche Identität ergibt sich vielmehr nur aus der Relationierung innerhalb des „großen Schemas" der Kräfte, von dem Müller immer wieder spricht. „Mann" oder „Weib" sind Körperentwürfe oder Körperprojekte (Flusser 1994). Geschlechteridentitäten sind demnach nichts anderes als eine frühe Form von „Cyborgs". Denn in der Idee des Cyborgs manifestiert sich ebenfalls das Problem, Körperlichkeit mit technisch-medialer Relationalität zusammenzudenken. Je tiefer die Schnittstelle zwischen Körper und Technik in den Leib hineingelegt wird, um so mehr ist er ein Effekt technisch-medialer Relationierung, so dass sich das Problem der Körperlichkeit zu erledigen scheint. Das aber ist ein Trugschluss, weil es keine absolute Schnittstelle geben kann. Aber was erscheint hinter der Schnittstelle? Natur? Mit dieser Annahme ist man wieder im modernen Spiegelspiel der Texte des Körpers.

Der Körper als das Andere der Medien?

165

Bibliographie Flusser, Vilem (1994): Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Bensheim: Bollmann Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humamvissenschqften. Frankfurt /M.: Suhrkamp — (1978): Von der Subversion des Wissens. Frankfurt /M.: Fischer Koehler, Benedikt (1980): Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik. Stuttgart: Klett-Cotta Link, Jürgen (1998): „Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse: Sieben Thesen zur Operativität der Diskursanalyse, am Beispiel des Normalismus", in: Bublitz, Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt/M.: Campus, S. 148-161 McLuhan, Marshall (1992): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf: Econ Müller, Adam (1922): Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. [1809], in: Die Herdflamme, Bd. 1, Jena — (1931): Ausgewählte Abhandlungen, in: Die Herdflamme, Bd. 19, Jena — (1967) Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Bd. 1, Neuwied/Berlin: Luchterhand Schräge, Dominik (1998): „Was ist ein Diskurs? Zu Michel Foucaults Versprechen, »mehr« ans Licht zu bringen", in: Bublitz, Hannelore u.a. (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Frankfurt /M.: Campus, S. 63-74 Spreen, Dierk (1998a): Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technischmedialen Apriori. Berlin/Hamburg: Argument — (1998b): Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich zwischen Bios und Techne. Passau: Erster Deutscher Fantasy Club Virilio, Paul (1994): Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München: Hanser Weisenbacher, Uwe (1993): Moderne Subjekte zwischen Mythos und Aufklärung. Differenz und offene Rekonstruktion. Pfaffenweiler: Centaurus Wiener, Norbert (1964): Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Frankfurt /M.: Athenäum

Rainer Marten (Freiburg i. Br.)

Doppelte Alterität Die Sache mit der Alterität, die den Menschen belangt, ist denkbar einfach. Als ich das erste Mal geistig mit ihr in Berührung kam (und auch ein klein wenig lebenspraktisch), habe ich sogleich alles verstanden. Im Spätjahr 1945 ging ein Witz von Weiß Ferdl (er war noch nicht als Mitläufer eingestuft) im Oberbayrischen von Mund zu Mund. Hatte er im Frühjahr noch getönt: „Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich a u f , so war nun aus der paradoxen Einwilligung in den Untergang eine hellsichtige Bejahung des neuen Status quo geworden: „Jetzt sind die Anderen die Anderen." In der Tat, so war es. Wie Hans Maier, München, als Ausweis jeder geglückten Revolution erkennt, dass wieder Ruhe und Ordnung herrscht, so war mit dem Untergang von Nazideutschland die Revolution der Alterität geglückt: Jetzt waren die Anderen die Anderen. Ich sehe, fast könnte es dabei sein Bewenden haben. Auch Sie haben alles verstanden. Doch einmal mehr kommt ein Geringes in die Quere, ein echtes, die Vernunft irritierendes smikron ti: das Verständnis der Andersheit (heterotes). Ist das Verhältnis zwischen denen, die anders sind, und dem, was anders ist (zwischen den heteroi und den hetera), der Art nach stets gleich oder möglicherweise auch einmal verschieden (heteros)? Könnte darauf abgehoben werden, dass Polen und Deutsche, Männer und Frauen, Bild- und F.A.Z.-Leser jeweils anders sind, dann läge für mich eine gleiche Art von Andersheit vor: die Andersheit selbsthaft inszenierter Eigenheiten, die typisch Einen und Anderen stünden im Blick, die, sofern sie lebenspraktisch relevant miteinander zu tun bekommen, sich so oder so arrangieren müssen. Nun bin ich bereits für meinen Teil schuld daran, dass es so einfach nicht bleibt. Die belebende Andersheit ist nicht nur von gleicher Art. In meinem Buch Der menschliche Mensch. Eine philosophische Revision von 1987 habe ich mir unterschiedliche Möglichkeiten von Andersheit zunutze gemacht: Der Andere Der andere Andere Der ganz Andere Ich war damals dem auf der Spur, was Menschen im Leben eigentlich Halt gewährt und Einhalt gebietet. Da entdeckte ich den Anderen als einzigartig dazu geeignet und ausersehen, dies aber, wie Sie gehört haben, in dreifacher Gestalt.

Doppelte

Alterität

167

Der erstgenannte Andere ist der Andere zum Einen, also der je Andere des Einanders, das durch eigenheitliche Gleichheit oder Ungleichheit geprägt ist. (Ist der Eine ein Bild-Leser, Hann kann der Andere entweder auch ein Bild-Leser oder ein F.A.Z. -Leser sein - dass er gleich gut beides wäre, als ausgeschlossen gesetzt.) Ich schreibe den Anderen groß, weil ich ihn als signifikant Anderen verstehe. Um diese Qualität zu haben, muss er kein Fremder, auch kein Naher und Nächster sein, sondern allein in je eigener praktischer Positioniertheit gemeinsam eine Situation bilden. Dann kommt schon der andere Andere. Auch er heißt Anderer, weil er eine vergleichbare Funktion erfüllt: eben Halt zu gewähren und Einhalt zu gebieten. Nur tut er das anders (mit einer anderen Art von Andersheit) und heißt darum ja auch der andere Andere. Gemeint ist der Tod, der eigene Tod und der Tod des Anderen (sc. des eigenheitlich gleich oder ungleich geprägten signifikant Anderen). Doch das wäre jetzt eine ganze Philosophie, genannt Thanatologie: der andere Andere als auf lebensbefahigende Weise Halt gewährend und Einhalt gebietend, der Tod, der als eigener ein Nächster, geradezu ein Intimus ist. Die schenke ich mir. Das scheint sie nun schon zu sein, die angekündigte doppelte Alterität: als Lebender mit Anderen zu leben, mit anderen Lebenden und mit dem Anderen zum Leben, mit dem Tod. Ist es nicht etwa konstitutiv für das lebendige Selbst: sich vom anderen lebendigen Selbst her als das eigene Selbst (in der Verwendung von „mir", „mich" und „mein") und sich vom Tod her als lebendiges auszulegen? Nein, ich tue es nicht. Das ist nicht die doppelte Alterität, die ich Ihnen heute vorführen möchte, erstens, weil Metaphorik im Spiel ist, und zweitens, weil sie wegen des ganz Anderen zu einer dreifachen erweitert werden müsste. Die Berufung auf ein „totaliter aliter" ist traditionell, wenn es beim Gedanken Gottes darum zu tun ist, die Möglichkeiten des Verstehens und Begreifens zu überschreiten, um im Bereich des Unfasslichen und Unbegreiflichen emphatisch einem bereits als höchst unfasslich und unbegreiflich Ausgelegten nachzusinnen, eben Gott. Zumindest für heute kann ich mir es jedoch ersparen, durch Anleihen bei Philosophie, Theologie und Religion die Möglichkeiten des Gläubigen zu deuten, im ganz Anderen seinen lebens- wie glaubensbefahigenden Halt und Einhalt zu finden. Das irritierende smikron ti die mögliche Andersartigkeit von Andersheit, hat ihre erste Gestalt gefunden. Es ist zwar nicht die gesuchte, die klar zu der heute zu thematisierenden doppelten Alterität führt. Doch wir haben, denke ich, etwas Übung im Umgang mit dem Gedanken der Alterität bekommen. Weil ich so denke, lasse ich uns einen zweiten Weg der Einübung nicht entgehen. Auch er wird nicht voll dem thematischen Gedanken gerecht, der den Schlüssel zu unserer Befähigung enthält, gemeinschaftlich, gesellschaftlich und individuell im Ganzen der Lebenswelt gelingend zu leben und zu handeln. Wieder überrasche ich Sie mit einer Erfindung, diesmal mit der des Begriffspaars Differität und Äqualität. Differität ist im Lateinischen ein hapax legomenon. Es heißt bei Lukrez {De rerum natura IV 636) soviel wie differentia, sagt dies aber,

168

Rainer Marten

wie zu hören und zu lesen ist, anders: differitas. Ich gebrauche das Begriffspaar, um dem gewagten Gedanken einer initialen Generierung von Wirklichkeit seine sprachliche Form zu geben. Es geht genauer um den Gedanken initalen sprachlichen Fassens und erkennenden Erfassens. Das nicht Gefasste und nicht Erfasste ist das Ungeschiedene und in nichts Bestimmte: das Unwirkliche. Fassen und Erfassen vollziehen sich als Differieren und damit auch schon als Äqualisieren, da alles, was differiert, Gleiches seiner Art hat. Deutend-erkennendes Unterscheiden muss sich auf Gleichsetzen verstehen, ein entsprechendes Gleichsetzen auf Unterscheiden. Was aber davon lebt, unterscheidbar und gleichsetzbar zu sein, ist das Wirkliche. Es ist, wie ich es deute, Resultat eines Differierens und Äqualisierens, das im Rahmen gewohnten Verstehens und Wahrnehmens nicht erstmalig erzeugt, sondern allein wiederholt wird. Das Wort und das Ding Stuhl sollen das Gesagte erhellen. Wie jeder allgemeine, und das heißt, deutende, nicht eindeutige Name ist das Wort Stuhl eine geniale Erfindung: Sobald wir es gemäß herrschender Praxis verwenden, unterscheidet es und setzt es gleich: Der Stuhl ist kein Tisch. Er lebt in Sprache, Wahrnehmung und Gebrauch von seiner Differität. Aber ein Stuhl, zum Beispiel dieser Stuhl, ist prinzipiell nicht der einzige: Er ist ein Stuhl unter Stühlen bzw. neben Stühlen. In seiner Jegeartetheit lebt er von der Möglichkeit der Gleichsetzung, weswegen ihn Piaton nicht als ein Dieses, sondern allein als ein Solches ansieht (nicht als touto sondern als toioutori). Wie zu jedem Stuhl gehört, von jedem Tisch unterschieden zu sein, so auch, nicht der einzige und alleinige Stuhl, sondern mit anderem seiner Art gleichzusetzen zu sein. Der einzelne Stuhl, der kein Tisch ist, hat die Auszeichnung, auch ein Stuhl zu sein. Was für Stuhl und Tisch gilt, lässt sich auch an Mythos und Geschichte demonstrieren. Der Mythos vom Entstehen der Schrift etwa, in dem der grundlegende Streit um die Bewertung dieses Mediums eingeschlossen ist, erzählt genau keinen Vorgang der Geschichte: So hast du auch jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. (Piaton, Phaidros 275a)

Das poetisch inszenierte Bedenken, dass mediale Fremderinnerung unmittelbare Selbsterinnerung gefährdet, hat über das Mythische hinaus Bedeutung, hebt aber die Artverschiedenheit von Mythos und Geschichte und die Artgleichheit eines Mythos mit einem anderen nicht auf. Das ist hier aber auch gar nicht das Problem, sondern die Exemplifizierung der Grundzüge der Generierung von Wirklichem, soweit sie deutend-erkennende Praxis ist. Das Wirkliche braucht als solches Differität und Äqualität, wobei signifikante Differität nicht zur Isolierung von Wirklichem, sondern zu seiner Integrierung führt.

Doppelte Alterität

169

Wie niemand isoliert einen Sinn für Mythos hat, sondern jedem gegebenenfalls auch ein Sinn für Geschichte eignet, so verhält es sich mit dem Differierten selbst: Geht einmal Mythisches in Geschichtliches oder Geschichtliches in Mythisches über, dann lebt die Wirklichkeit des Unterschiedenen von seiner Unterschiedenheit. Dass Stuhl und Tisch in ihrer Difierität nicht feindlichen Brüdern gleichen, sondern sich als Mobiliar ergänzen, versteht sich von selbst. Dass sich Mythos und Geschichte nicht darum streiten, was von beiden als Form menschlicher Selbstverständigung gelten darf, weil beides sich darin ergänzt, ist für ebenso selbstverständlich anzusehen. Fazit: Die Welt- und Wirklichkeitserzeugung, wie sie in der Sprache präsent ist und im deutend-erkennenden Handeln bewahrt, erneuert und revolutioniert wird, lebt vom Zusammenspiel der Differitäten und Äqualitäten. Die wirkliche Welt ist kein geschlossenes System, sondern prinzipiell offen. Sie ist nicht nur kein geschlossenes System von Wirklichem, sondern auch kein geschlossenes System von Möglichem. Die möglichen Perspektiven, die zu Differierungen führen, sind unendlich. Ich spreche in Anbetracht des Wirklichen und der Verhältnisse unter Wirklichem von Differität (und Äqualität), um den Begriff der Alterität frei zu halten zur Deutung der Verhältnisse, die die soziale und lebensweltliche Situation des Selbst bestimmen. Das je eigene Selbst ist dazu ausersehen, das Eine im Verhältnis zum Anderen zu sein, sowohl zum Anderen, mit dem es Geistigkeit und Sprachlichkeit teilt, als auch zum Anderen, mit dem es Sinnlichkeit und Körperlichkeit teilt. Für diese Differenzierung der einen und anderen Andersheit ist das Selbst, das beide braucht, um seinen lebensbefahigenden Halt und Einhalt zu finden, die zentrale Figur: Wir sind, wie Sie bemerken, beim eigentlichen Thema. Die doppelte Alterität besteht für das praktisch positionierte Selbst -negativ formuliert- darin, nicht der Andere und nicht das Andere zu sein. Sie ist so die initiale Eröffnung alles Eigenen. Die in der Praxis der Alterität sich vollziehende Selbstvergewisserung, nicht jeder und nicht alles zu sein, gehören zusammen. Nur so ergibt sich überhaupt Eigenes und dabei grundlegend die eigene Position in den lebenspraktischen Situationen. Eine methodische Zwischenbemerkung: Der Begriff der doppelten Alterität ist Produkt einer theoretischen Analyse. Das besagt: Sieht man genau und ohne perspektivische Einschränkungen auf die Verhältnisse des Selbst, dann ist das, was der Begriff als eindeutig unterschieden vorstellt, in praxi nicht gegeben. Die Analyse verfolgt allein den Zweck, Licht in die praktische Zusammengehörigkeit des theoretisch Unterschiedenen zu bringen. Vorgegebene Trennungen wie die von Geistigkeit und Sinnlichkeit, Sprachlichkeit und Körperlichkeit (bzw. Leiblichkeit) und selbst die von der Andere und das Andere signalisieren von vornherein sachliche Zusammenhänge, nicht Disparitäten. Alterität setzt voraus, dass das, was praktisch anders ist, was nämlich anders positioniert ist, sich insofern gleicht, als es gleicherweise die praktische Situation kon-

170

Rainer Marten

stituiert. Differieren Geschlecht, Hautfarbe, Sprache, Medienkultur, dann sind diese Sie interessierenden Alteritäten (und Identitäten), wie sie in eigenheitlichen Selbstinszenierungen gelebt und erlebt werden, ein Indiz für Ungleichheiten, die nicht selten Anlass zu Diskriminierungen sind. Abstrahieren wir jedoch von diesem Besonderen, dann bleibt auf beiden Seiten allein das Eigene zurück, das sich als Eigenes gleicht. Das ist die Ebene des Problems, die mich interessiert: die initiale Alterität zu deuten, die jede eigenheitlich geprägte erst möglich macht. Gehe ich weiterhin von der doppelten Alterität aus, dann ist die Gleichheit, die die erste Art von initialer Alterität unterläuft, die der wertindifferenten Positionsanzeigen der sprachlich miteinander Handelnden, also des „ich" und „du", die die zweite Art von initialer Alterität unterläuft, die der wertindifferenten Positionsanzeigen des praktisch-räumlich aufeinander Bezogenen, also des „hier" und „dort". Wie die deiktische Situation die Klärung der personalen und lokativischen Bestimmtheit verlangt, so bleibt auch das initiale praktische Situiertsein nicht auf geistiges und sprachliches Geschehen beschränkt, sondern schließt das sinnliche und leibliche ein. Agierte das -sprachliche- „ich" nicht auch sinnlich (gleichsam zu einem großgeschriebenen Ich verdichtet), dann bliebe der sprachlich-geistige Austausch ohne Boden: Es gäbe ihn nicht. Positionsangaben sprachlichen Handelns sind, sofern Geistiges, nichts sich selbst Tragendes. Das „ich" und „du" halten sich nur, wenn sie als die eine initiale Alterität durch die andere ergänzt werden: durch die von sinnlich erfassendem Hier und sinnlich erfasstem Dort, anders gesagt: durch die von deutend-erkennendem Selbst und im deutenden Erkennen Erfassten. Zur gelingenden Bildung des Selbst gehört in eins die praktische Selbstgewissheit, nicht jeder und nicht alles zu sein, nicht das „du" und nicht das im deutenden Erkennen Erfasste, das heißt Differierte und Äqualisierte. Gelebte Alteritäten und Identitäten in ihrer vielfältigen Eigenheitlichkeit basieren auf praktischen Situationen, die durch dialogische und durch ästhetische Alterität konstituiert sind (aisthesis hier als Wort für Wahrnehmimg und Erkenntnis). Die praktische Positioniertheit des Selbst schließt ebenso sehr geistige wie sinnliche Ubiquität aus: Ich bin nicht aller Geist (alles Denk- und Sprachvermögende); ich bin nicht aller Sinn (alles Wahrnehmung und Selbstbewegung Vermögende) und als sinnlich Erfassendes nichts vom sinnlich Erfassten (es sei denn kata symbebekos). Dieses Nichtsein ist keine fatale Gegebenheit, sondern ist in gelingender Individuation und Sozialisation praxisdefinit: als eigens zu wollende Grundlegung der Lebens- und Handlungsbefahigung. Das Selbst braucht das Wechselspiel des Dialogs mit Anderen; es braucht nicht weniger das Wechselspiel der Wahrnehmung mit Anderem. Die eigene Endlichkeit, die sich zunächst als praktisch-räumliche bewährt, bedarf der dialogischen Erfahrung der Alterität ebenso sehr wie der ästhetischen. Die unausgesprochene Devise des Selbst für die Grundlegung seiner endlichen Möglichkeiten heißt nicht ,3ete und arbeite!", auch nicht -in Freudscher Modifikation- „Liebe und arbeite!", sondern -exemplarisch vorgestellt- „Rede und schaue!"

Doppelte Alterität

171

In ihrer Befolgung macht der Redende die Erfahrung, selber nur im Verein mit den Anderen zu reüssieren. Dem Schauenden ergeht es nicht anders: Nur wenn das Andere als das Geschaute im Geschautwerden zu sich selbst kommt (sc. nicht als Ansich, sondern als Geschautes), gelingt Entsprechendes auch dem Schauenden. Das Geschaute braucht den Blick des Schauenden, der Schauende den Anblick des Geschauten. Nicht nur für die dialogische, sondern auch für die ästhetische Alterität zeigt sich eine sie unterlaufende Gleichartigkeit, ja Gleichrangigkeit. Alterität als Wechselspiel verlangt die gleichgewichtige praktische Relevanz dessen, was auf der einen und anderen Seite im Spiel ist. Haben nach Aristoteles Regierende und Regierte in Anbetracht ihres gelingenden Einanders gleich zu sein, nach Kant Mann und Frau (der Mann braucht die Frau um Mann, die Frau den Mann um Frau zu sein), dann gilt grundlegend die praktische Gleichheit von „ich" und „du", von deutend-wahrnehmendem Selbst und im deutenden Wahrnehmen Erfassten. Das ist natürlich eine Zumutung: Die Dinge brauchen uns. Den Dingen ist es doch völlig gleichgültig, werden Sie denken, ob wir uns mit ihnen abgeben oder nicht. Wer als Dandy herumläuft, um gesehen zu werden und im Gesehenwerden sich selbst zu sehen, schaut nicht nach Dingen. Er beantwortet deren Gleichgültigkeit für ihn, so sieht es aus, treffend durch seine Gleichgültigkeit für sie. Wenn ihm ein Ding nicht gleichgültig ist, dann einzig der Spiegel. Doch jetzt kommt es uns zupass, dass wir kurz über die Generierung von Wirklichkeit nachgedacht haben. Sind Dinge für wirkliche, im deutenden Erkennen und gegebenenfalls auch im Gebrauch erfasste Dinge zu nehmen, Hann sind sie das, was sie sind, durch den Erkennenden und In-Gebrauch-Nehmenden. So gesehen ruhen sie keineswegs in sich (Merleau-Ponty), sondern brauchen sie uns. Das einander Brauchen im Erkennen und Erkanntwerden ist insofern von reiner Wechselseitigkeit. Ich muss darum nicht an Kunst und ihre aktive, das heißt poietische Art von Wahrnehmung erinnern, dass Dinge dafür gebraucht werden, uns zu brauchen. Selbst noch ein Berg braucht uns einfach darum, weil es ohne uns nichts als Berg Erkanntes und zu Erkennendes gibt. Soviel zu der von uns garantierten Gleichrangigkeit des Verhältnisses von am Schauen interessierten Schauenden und dem am Geschautsein interessierten Geschauten. Wie Reden und Schauen Geistigkeit und Sinnlichkeit exemplifizieren, sind sie Grundweisen, Alterität zu generieren und praktizieren: Der Andere mit mir im Gespräch, der Andere und das Andere mir vor Augen - das gehört, ob wir nun eigens reden oder eigens schauen, ob wir für das eine und andere vermittelnde Werkzeuge benutzen oder nicht, von Grund auf zusammen. Die praktisch nie mehr als endliche Aspektität der Welt und die entsprechend nie anders als endliche Dialogizität der Anderen bedingen sich wechselseitig als konstitutive Momente lebensbefahigender Endlichkeit. Ihre praktische Gemeinsamkeit zeigt sich initial bei der gelingenden Auflösung der Symbiose und Bildung des Einander. Dialogisch signalisiert dies Gelingen, dass

172

Rainer Marten

die Verhältnisse des „ich" und „du", „mein" und „dein", „mir" und „dir" eröffnet sind (einschließlich entsprechender autodialogischer Verhältnisse), ästhetisch, dass Schauendes und Geschautes auseinandergetreten sind und ihr Wechselspiel in Gang gesetzt ist. Hegel nennt in seiner Theorie der sinnlichen Gewissheit Ich und Gegenstand die „Hauptverschiedenheit" (Phänomenologie des Geistes, Meiner, Hamburg 1952, S. 80). Doch auf das Selbst und seine Selbstvergewisserung gesehen, kann auch er sich nicht der Einsicht verschließen, dass diese ausgezeichnete Verschiedenheit nicht ohne die sprachlich-geistige zu halten ist. Das Meine ist ja nicht nur gegenüber dem Gegenstand als Resultat des Meinens (doxazein), sondern auch als Sonderung von dem Deinen, das eines Anderen ist, zu behaupten. Die entwickelte ästhetische Alterität eröffnet den Austritt aus dem Paradies als dem poetischen Ort prä- und postvitaler Ereignisse: In der einen mythischen Verständigung des Menschen über sich selbst, in der biblischen, ist es der Geschlechtlichkeit entdeckende Wechselblick, in der anderen, der des Buddha, der Blick des in sein Leben Aufbrechenden auf den Alten, Kranken und Toten. Dialogische und ästhetische Alterität sind darauf angelegt, ineinander zu spiegeln. Was wir sehen und hören, berühren, riechen und schmecken: im Haus und im Garten, im Mund und im Ohr, auf der Straße und im Konzertsaal - all das spricht und ist ansprechbar, was es der dialogischen Alterität verdankt, in der sich Ursprung und Ziel alles Sprachlichen vereint. Die in Piatons Dialogen erzählten Mythen und die von Ranke erschlossene Geschichte der Päpste zeigen noch deutlicher den Synergismus von dialogischer und ästhetischer Alterität. Poetische und historische Präsentation von Begebenheiten machen durchgängig Gebrauch sowohl von den Positionen des „ich" und „du" als auch von denen des Berichtenden und Berichteten. Vollzieht Wahrnehmen und Erkennen ein Differieren und Äqualisieren, so dass jedes erkennende Erfassen und sprachliches Fassen ein Deutungsvorgang ist, der auf unserer entwickelten Dialogizität basiert, so bedürfen umgekehrt die praktischen Positionen des „ich" und „du" der erlebbaren, erfahrbaren, erkennbaren und allem Austausch stattgebenden Welt. Sie ist das Ganze menschlicher Selbstverständigung, ist der Gesprächsort, der jede Art von Wirklichkeit einschließt, mit der wir sprachlich und gedanklich, lebendig und praktisch umzugehen verstehen und umzugehen verstünden. Dialogische Alterität, die sich nicht sinnlich ausweisen könnte, wäre blind, ästhetische Alterität ohne geistigen Ausweis taub, ja dumm. Die Selbsthaftigkeit des Lebenden und Handelnden ist darum nicht nach Maßgabe der wirkungsgeschichtlich beherrschenden Tradition auf seine geistigen Vermögen zu beschränken, ebenso wenig freilich auf seine sinnlichen. In der Entwicklung der selbsthaften Vermögen bedingen sich Sensibilisierung und Intelligibilisierung, aber auch die im Einander und die durch die Lebenswelt vermittelte Endlichkeit wechselseitig. Die Ausbildung der Sprachkraft braucht auch das sehende Auge, die schmeckende Zunge, die fühlende Hand, wie jedes Wahrnehmen und Erkennen von Welt, das

Doppelte Alterität

173

ästhetische Kräfte tragen, des „ich" im Verhältnis zum „du" bedarf, und dies schon darum, weil jede Sicht und jeder Geschmack darauf angelegt sind, vom Einen und Anderen geteilt zu werden. Die doppelte Alterität, wie sie die lebensbefahigende Endlichkeit generiert und auslotet, gibt sich nie anders denn als praktisch vereinte. Das ist es, was ich philosophisch zur Grundlegung der eigenheitlichen Alteritäten und Identitäten sagen wollte, die Sie eigentlich interessieren. Ich würde mich freuen, Sie hätten Bedenken und ich könnte aus ihnen lernen.

Johannes Bittner (Freiburg i. Br.)

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen Vorbemerkung Die größte Aufregung, die so genannte „Hype" sowie die sehr kontrovers und polarisiert geführten Debatten über ,jlas" Internet1 haben sich inzwischen gelegt, das öffentliche Interesse ist abgeebbt. Bezeichnenderweise geschieht dies gerade zu einem Zeitpunkt, da das Internet im Begriff ist, sich zu einem wirklichen Massenmedium zu entwickeln. Das Internet und die mit ihm verbundenen Kommunikationsformen und -bedingungen, Beziehungen und Normen befinden sich jedoch noch immer in einem Entwicklungsprozess, der die Beschreibung zur Momentaufnahme degradiert. Der vorliegende Beitrag kann daher lediglich einen flüchtigen status quo der Entwicklungslinien und Tendenzen des Netzes darbieten, welcher sich wiederum nur auf einen Ausschnitt der virtuellen Wirklichkeit konzentriert. Ziel des vorliegenden Artikels ist es daher zu untersuchen, wie das Internet bis dato die Beziehungen zwischen den „realen" Menschen und ihren virtuellen Existenzen sowie diejenigen zwischen virtuellen Existenzen gestaltet, verändert und entwickelt hat. Leitender Gedanke ist dabei die Hypothese, dass sich Identität und Alterität als grundlegende Kategorien sozialer Beziehungen, so wie wir sie aus dem „wirklichen Leben", aus analogen (Massen-)Medien oder dem direkten Umgang untereinander kennen, im Internet anders zueinander verhalten, anders konstruiert werden und andere Bedeutungen erhalten.

1.

Einleitung

Mit dem Internet hat sich ein Bereich menschlicher Kommunikation entwickelt, der in sehr kurzer Zeit eine unvergleichlich starke Unabhängigkeit und Autonomie entwickelt hat. Dies rührt zum einen daher, dass das Internet -und hierin liegt eine große Innovation- in sich eine Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationsformen 1

Üblicherweise wird verallgemeinernd von „dem" Internet gesprochen, als ob es sich um ein homogenes Medium handelte. Diese sprachliche Konvention verschleiert jedoch die Tatsache, dass das Internet lediglich der Zusammenschluss vieler verschiedener Netze, Übertragungsprotokolle, Systeme und ergo Kommunikationsformen ist, ihr soll aber der Einfachheit halber gefolgt werden.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

175

vereint, die verschiedene kommunikative Möglichkeiten bereitstellen und so unterschiedliche Bedürfnisse befriedigen können. World Wide Web, E-Mail, Newsgroups und Chat sind verschiedene Kommunikationsformen innerhalb des einen Mediums „Internet". So bildet sich ein eigenes „kommunikatives Universum", 2 das sich weitgehend vom „Real Life" (in der Folge abgekürzt als „RL") unabhängig machen kann. Zudem bilden sich eigene Strukturen und Ordnungsmuster, die die neuen Kommunikationsbedingungen reflektieren: „Räumlichkeit" (im herkömmlichen Sinne) etwa ist keine auf die „Virtual Reality" anwendbare Kategorie. Zum anderen stellt das Internet als mathematisch-technisches Konstrukt mit seiner virtuellen Welt a pari nicht nur Übertragungswege und -mittel bereit, sondern erschafft auch gleich die miteinander kommunizierenden Instanzen: So kommunizieren strenggenommen nicht die Individuen des RL im Internet, sondern virtuelle Benutzer, die unter verschiedenen Namen auf einem oder mehreren Systemen erzeugt worden sind. Auf diese Weise entsteht eine Authentizität, die, wie das Beispiel der E-Mail 3 (Abb. 1) demonstriert, durchaus trügerisch sein kann. • Di. Otlo Schily. 19:14 04.05.99 *0. Gefaehrdung der Sicherheit in

K

L£j J ü r 3

EH3

Subject: I Gefaehrdung der Sicherheit in der Bundesref

Date: Tue. 04 May 1999 19:14 07 +0200 From: "Dr. Otto Schily" X-Mailer: Mozilla 4.5 [de] (WinNT; I) X-Accept-Language: de To: Johannes Bittner , User 2 , User 3 Subject: Gefaehrdung der Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland

Darf ich Vorstellen: ich bin der neue Innenminister:))) Gruss, User 1 (spielt gerade mit Netscape) *** Otto. S c h i l y @ s p d . d e * "

Abbildung 1: E-Mail vom Innenminister Die erste Beziehungsstiftung im kommunikativen Raum des Internets findet also zwischen den Individuen des RL und ihren jeweiligen Netzidentitäten statt. Erst in einem zweiten Schritt nehmen die Netzidentitäten untereinander Beziehung auf. Das Internet ist als solches folglich ein Raum der Identitätsgestaltung par excellence, in

2 3

Verstärkt wird diese Entwicklung zusätzlich dadurch, dass das World Wide Web wiederum andere Kommunikationsformen wie E-Mail, News, Chat unter seiner Oberfläche vereint. Die gezeigte Nachricht stammt -natürlich- nicht vom Bundesinnenminister. Es ist jedoch nicht sonderlich schwierig, Nachrichten zu versenden, die -auf der „Oberfläche"- beliebige Absenderadressen tragen.

176

Johannes Bittner

dem aus den technischen Benutzern Identitäten entstehen müssen, um im virtuellen Raum kommunizieren und interagieren zu können. Private Homepages sind eine Textsorte, in der die Beziehungsgestaltungen zwischen RL-Individuum und Netzidentität exemplarisch beobachtet werden kann. Derzeit zeichnen sich private Homepages vor allem dadurch aus, dass sie eine Projektion der RL-Existenz auf die Netzidentität zu vollziehen suchen. Die meisten Benutzer sind bemüht, die Darstellung eines Ichs im Internet zu publizieren, von der sie glauben, wünschen oder hoffen, dass es ihr Leben und ihre Identität widerspiegele. In Chats und virtuellen Communities kommunizieren und interagieren virtuelle Identitäten miteinander. Sie spielen mit Identität, mit Anonymität und Virtualität. Nicht zuletzt aufgrund der technischen Möglichkeiten wird der Bezug zum RL nicht mehr überprüfbar und folglich sekundär. Es ist schließlich nur noch ein logischer Schritt, die Netzidentitäten von ihren RL-Bezügen zu entkleiden und sie zu im Netz autonomen Identitäten zu entwickeln. Das Internet emanzipiert sich damit von einer Neben- zu einer Parallel-, wenn nicht zu einer Hauptwelt.4 Es kristallisieren sich also zwei Pole heraus, zwischen denen sich die im Internet geschaffenen Beziehungen bewegen: Hier der explizite Versuch einer Identitätskonstruktion, die authentisch und repräsentativ die Person des RL wiedergeben will, dort die Negierung dieser Bezüge zum RL und die Konstruktion von Identitäten, die gerade nicht dem realen Ich entsprechen oder mit ihm in Beziehung gebracht werden (sollen). Neu und anders als im RL sind -für das Individuum- nicht nur die Konstruktionsmechanismen und -möglichkeiten von „Identität", sondern in der Folge auch das neu zu schaffende Verständnis von Identität. Neu und anders sind aber auch Konstruktion und Perzeption von Alterität, was -wie gezeigt wird- vor allem im Internet für die Perzeption von Identität von Bedeutung ist.

2. Massenmedium

Internet

Das Internet ist in einem anderen Sinne „Massenmedium", als der Begriff bislang für Printmedien, Radio und Fernsehen gebraucht wird. Unter „Massenmedien" im herkömmlichen Sinne verstanden und verstehen wir ja vor allem Massenreze/?f/onsmedien. Deren Prototypen Fernsehen, Radio und Printmedien verfügen neben einer (derzeit in aller Regel noch national) begrenzten Reichweite über ein mehr 4

Vgl. Höflich 1996: 297: „.Elektronische Gemeinschaften' als .soziale Welten' zeichnen sich durch eigene Bedeutungswelten mit einem eigenen Symbolbestand, Perspektiven und Identitäten aus. Dies manifestiert sich in der Entwicklung einer eigenen Gruppensprache, die mitunter durch eine distinkte elektronische Parasprache zum Ausdruck kommt und letztlich mit einer Selbstbestätigung der Gruppenmitglieder durch In-talk respektive durch eine Abgrenzung gegenüber Außenstehenden verbunden ist". Ähnlich auch: Pinaud 1990.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

177

oder weniger überschaubares Angebot und üben somit auch „identitätsstifitende" Funktionen für die Rezipienten aus (vgl. etwa Biere/Hoberg 1996). Nicht umsonst spricht man ja auch von der „Fernsehgemeinde". Dreierlei ist demgegenüber im Internet grundlegend anders. Erstens: Die Kommunikationsformen des Multi-Mediums Internet sind prinzipiell bi- bzw. multidirektional konzipiert, so dass jeder Rezipient im gleichen Maße auch zum Produzenten werden kann. Das Internet ist somit eigentlich keine Informationsquelle, sondern eine Plattform, auf der Benutzer miteinander kommunizieren können. Zweitens: Bedingt durch die Produktionsmöglichkeit jedes Kommunikationsteilnehmers und die globale Reichweite der Angebote wird das Inhaltsangebot unüberschaubar und verliert dadurch die einigende und einende Wirkung, die von traditionellen Massenmedien ausgeht. Durch die anarchischen Strukturen und das unübersichtliche Inhaltsangebot findet sich der Einzelne zunächst isoliert am Computer wieder. Drittens: Die Tatsache, dass das Internet nicht nur Rezeptions-, sondern auch Produktionsmedium ist, hat weiterhin zur Folge, dass die Verständigung über das Medium und seine Inhalte vor allem im Medium selbst stattfindet. Das Internet ist also ein Massen-Medium in dem Sinne, dass damit zwar „Massen" kommunizieren können, es ist aber zugleich und eigentlich Individual- und Gruppenmedium, das sich als solches deutlich von den „Programm-Medien" Fernsehen, Radio und Presse abhebt (vgl. Höflich 1996: 12). Daraus ergibt sich zunächst, dass das Internet - i m Gegensatz zu herkömmlichen Massenmedien- einen vollwertigen und vollständigen Kommunikationsraum bereitstellt. Vollständig meint dabei, dass das Medium allen Teilnehmern Rezeption, Produktion und Interaktion gleichermaßen erlaubt und dass die kommunikativen Möglichkeiten prinzipiell gleich verteilt sind. Erst hierdurch gewinnt das Internet seinen Status als „kommunikativer Raum" und autonomes kommunikatives Universum. Die damit veränderten bzw. neu geschaffenen Kommunikationsverhältnisse führen in der Folge dazu, dass sich personale wie kulturelle Identität (und damit auch Alterität) nach anderen Mechanismen, Relevanzen, Kriterien und Prinzipien entwickelt und bemisst als dies im RL der Fall ist. So ist den im Internet agierenden Nutzern zwar einerseits eine größere Freiheit und Unabhängigkeit hinsichtlich der Möglichkeiten der Gestaltung gegeben. Andererseits besteht aber auch die Notwendigkeit einer aktiven Gestaltung, um Identitäten überhaupt erst als „erfahrbar" zu konstituieren. Schließlich -dies wird anhand der Beispiele detaillierter zu zeigen sein- machen die neuen Kommunikationsverhältnisse des Internets eine Neubestimmung und -gestaltung des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen als kommunikativen und sozialen Entitäten nötig. Das Beziehungspaar Identität-Alterität bemisst sich

178

Johannes Bittner

im Internet in besonderer Weise nach den Grenzen, die der Rahmen der medialen Möglichkeiten und Einschränkungen zieht.5

3.

Kommunikationssituation

In Unterschied zu anderen Massenmedien sind die technischen Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Nutzung des Computers und des Internets erfüllt sein müssen, vergleichsweise hoch. Noch vor den neuen kommunikativen Kompetenzen muss der Teilnehmer technische Kompetenzen erwerben (oder sich von anderen leihen), um erfolgreich im Netz kommunizieren zu können (vgl. Höflich 1996: 87). Traditionelle Massenmedien, die, wie gerade dargelegt, primär Massenrezeptionsmedien sind, zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie keine oder nur rudimentäre, zeitlich und/oder formal begrenzte Feedback- und Interaktionsmöglichkeiten anbieten. Interaktion war bislang weitestgehend auf Situationen der Faceto-Face-Kommunikation sowie auf Individualmedien wie etwa das Telefon beschränkt; mit ihr verbunden, dabei jedoch graduell stärker oder schwächer ausgeprägt, war eine Nähesituation.6 Der Computer ermöglicht nun interaktive Kommunikationssituationen, denen dieses Näheelement nach den herkömmlichen Definitionsmustern fehlt und in denen die Kommunikationsteilnehmer physisch isoliert sind. Der Computer als Medium zwischenmenschlicher Kommunikation verbindet damit kommunikationssituative Parameter, die bislang nicht in dieser Kombination existierten. Dies hat wesentlichen Einfluss sowohl auf das Ich und den Anderen in der Interaktionssituation, als auch auf die Gestaltung des Verhältnisses zwischen den beiden. Einige wichtige Punkte seien daher hier angesprochen. Dem einzelnen Nutzer steht ein begrenztes, (noch) überwiegend visuelles bzw. schriftbasiertes Zeichensystem zur Verfügung, mittels dessen er (auf globalem Niveau) mit allen (im Falle von Interaktivität: zum gleichen Zeitpunkt) verbundenen Teilnehmern kommunizieren und interagieren kann.7 Die fehlende „Somatizität", die Neustrukturierung der Ausdrucksmöglichkeiten und die physische Distanz stellen 5

6 7

So ist eine ganze Reihe von teilweise trivial erscheinenden Konstanten des RL im Internet einer Neubestimmung zu unterziehen: Wie will man beispielsweise „ A n w e s e n h e i t " im Internet definieren? Was ist unter „(elektronischer) Nähe" zu verstehen, und wie könnte sich diese manifestieren? Vgl. hierzu auch: Short/Williams/Christie 1976. Auf die Relevanz der „Körperlichkeit" als wichtiges Kriterium von Kommunikationssituationen weist QuasthofFhin (1996 u. 1997). Es ist dabei offensichtlich, wenngleich in vielen Argumentationen (etwa hinsichtlich neuer Möglichkeiten politischer Partizipation) ein leider vernachlässigter Gesichtspunkt, dass die „totale Kommunikation" eine lediglich theoretische Möglichkeit darstellt. Sehr deutlich wird dies etwa schon bei dem Versuch, in einem Chatkanal mit mehr als fünf Teilnehmern eine themenzentrierte Diskussion zu führen.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

179

den Einzelnen vor die Aufgabe einer neuen Form der Ich-Erschafiimg und Ich-Gestaltung. Ein vielleicht noch größeres Problem stellt der Brückenschlag zum Anderen dar, die Kontaktaufnahme und die Gruppenbildung in einem Netz, in dem „Präsenz" explizit gemacht werden muss, um wahrnehmbar zu sein. Durch die im Entstehen begriffenen Strukturen des Netzes, aber auch durch die radikale Ausweitung der Anzahl der Nutzer folgt die Etablierung von Gemeinschaften neuen Regeln und Mechanismen. Die Einflüsse der Virtualität, der Flüchtigkeit und der Neustrukturierung von Inhalten auf Produktion und Rezeption von digitalen Informationen sind dabei noch nicht hinreichend lintersucht. Der Bildschirm ist dabei nicht mehr allein Rezeptionsmedium, sondern - a l s primärer Ausgabekanal des angeschlossenen Computers- gleichzeitig auch Feedbackkanal der Interaktion des Benutzers mit dem Betriebssystem und seinen Anwendungen sowie mit anderen Nutzern. Der Bildschirm reduziert jedoch das Spektrum der wahrnehmbaren Informationen auf die Zweidimensionalität von ein paar Quadratzentimetern. Alle ausgetauschten Informationen werden durch das Sieb des Binärcodes gezwängt; was übrig bleibt, ist maschinenlesbar, in Pixel gerastert oder in einen festen Zeichensatz gepresst. „Zwischenräumlichkeit" existiert (auf medialer Ebene) nicht mehr. Die mediale Revolution zwingt so zur Neubestimmung der eigenen Identität gemäß den neuen Ausdrucksmitteln und zur Anpassung an die Regeln des digitalen Rasters.

4. Private Homepages An private Homepages hat man sich inzwischen, so scheint es, dergestalt gewöhnt, dass sie als Textsorte kein besonderes Interesse mehr finden. Dabei demonstriert gerade die private Homepage besonders augenfällig wichtige Aspekte der „Neuartigkeit" der so genannten „Neuen Medien". Das Gedankenspiel, sich die Homepage einer berühmten Persönlichkeit (der Vergangenheit) zu imaginieren, ist nicht neu, aber immer wieder aufschlussreich wenngleich vorzugsweise hinsichtlich des eigenen Bildes dieser Persönlichkeit. Ganz analog geben private Homepages vor allen Dingen Aufschluss über die Selbstbilder der jeweiligen Autoren. Die Präsenz im Internet ist jedoch nicht an literarische oder andere besondere Leistungen geknüpft, im Gegenteil. Die Möglichkeit der Selbstvor- und -darstellung steht einem jeden Benutzer offen, was angesichts so mancher Seiten schon oft bedauert worden ist.8 Auch hier wird der Massen-Charakter des Internets deutlich, 8

Unzählige Webseiten und Zeitungsartikel befassen sich immer wieder mit den „schlechtesten Homepages" des Netzes, vergeben „Preise" u.ä. In überheblicher Manier wird jedoch

180

Johannes Bittner

doch wäre es ungerecht, private Homepages mit den Maßstäben der etablierten Massenmedien messen zu wollen. Während Identität jedoch im „Real Life" in weiten Teilen implizit gebildet und geformt wird (bzw. die Möglichkeit dazu besteht), muss dies im Internet stets explizit (und am besten sprachlich explizit) geschehen. ' 3 M a i l i n W a g n e r S e i l e 3 • M i c r o s o f t Internet E x p l o r e r Datei

Bearbeiten

Ansicht

Wachset« :u

CSE

Favoriten

"1]

Familie Wagner

so ein Tag so wunderschoen wie heute

¡¡¡fe) Wir heissen Jennifer und Nadja

:j^,imd sind 10 und 12 Jahre alt

Wir sind stolz dass wir nun im Netz der Netze vertreten sind, auch wenn es nur wenige wissen

I zurück zur Homepage

.,;



M

Abbildung 2: Jennifer und Nadja im Internet

4.1. Lost

Hyperspace

Die erste Erfahrung mit dem World Wide Web mag für viele Nutzer durchaus ernüchternd, wenn nicht enttäuschend sein. Anders als in anderen Massenmedien herrschen zunächst Stille und Leere. Das Internet ist als „Pull"-Medium auf die Abfrage von Informationen hin konzipiert,9 es gibt eben kein „Programm", das einem Inhalte nach Plan präsentiert.

9

oft vergessen, dass für diese Seiten nicht die professionellen Gestaltungs- und Satz- und Layoutrichtlinien gelten. Die Arbeitsteilung der Mediengewerbe, die die gegenwärtige Professionalisierung erst ermöglicht hat, hebt der Computer als „universale Maschine" zumindest vorübergehend auf. So kann jeder zum Autor, Setzer, Grafiker, Designer und Drucker in Personalunion werden - auch wenn die Meinungen über die Ergebnisse geteilt sein mögen. Bezeichnenderweise haben sich in den vergangenen Jahren viele sog. „Push"-Elemente etabliert, bei dem der Benutzer nicht mehr aktiv Informationen abfragen muss, sondern diese automatisch zugesandt bekommt. Auch die „Portal Sites", mittels derer die großen Anbieter von WWW-Diensten um die Aufmerksamkeit der Intemetnutzer kämpfen, oder die „Newsletter", die der Benutzer abonnieren kann, sind im eigentlichen Sinne „Push"-

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

181

In einem gewissen Sinne ist eine Homepage erst dann im Netz wirklich existent, wenn ihre Adresse bekannt oder etwa bei einer Suchmaschine indexiert ist, so dass die Seite auch auffindbar ist. Vergleichbar mit Schrödingers Katze befinden sich ungezählte Seiten im unbestimmbaren Zustand zwischen Sein und Nichtsein: Für all diejenigen, die nicht wissen, dass Jennifer und Nadja im Internet sind (Abb. 2), existieren die beiden einfach nicht. Andersherum gewendet muss aber der Benutzer nicht nur aktiv die von ihm gewünschten Inhalte suchen, sondern gleichzeitig auch selber für seine Existenz Sorge tragen, indem er sich „manifestiert", das heißt, sich in möglichst viele Strukturen des Netzes einbindet. Die Existenz des Ichs und des Anderen (und in der Folge die Existenz von Gruppen) für das Ich und den Anderen - denn ohne den Anderen „existiert" das Ich als solches im Internet tatsächlich nicht - beruht also (wiederum) auf einem Akt der expliziten Konstitution, der gleichzeitig eine Integration in übergeordnete Strukturen ist. 4.2. Aufinerksamkeit ' 3 Matt in W a g n e i S e i t e 1 - Microsoft I n t e r n e t Exploiei :

Etat«

•:

*> -

geafbaten -

j Adresse

O

An»,ich! B

3

i¿eeh¿eín m @

@

Favoriten 8

§

:

R E O ¿

0

E 3 I 0

Ä

i

H

CAhomepagesSmembeis so). com'unv*dgn«1 ZVndex. htm

;

J j l . ü * .

so ein Tag, sottutiderscfafin»ie heute

f

Mem Name ist Martin Wagner

't:\

i ü L

Ich wohne in Horb / TJntertalheim

Brauchst Du hilfe zu Windows 95? Einige kleine Tips und Tncks dann schicke em Mail ich werde versuchen deine Frage so schnell wiemir möglich zu beantworten' = \0'"2 /

Mai! JX din Aul-y n ftir^



L a u t s i n d

.

. -

' tu

I Q X k a n e t Webspace fuet kleine Geldbeutel

Sie Besucher:

\ B Soi |

-

auf dieser Seite

Searcb | ü p U o n s Sei kein Frosch und schau unsere Seiten m aller RUHE an

§

r



-





Abbildung 3: Martin Wagner im Internet

Elemente. Die (Wieder-)Einführung solcher passiven Elemente scheint darauf hinzudeuten, dass ein Großteil der Nutzer vom Zwang zur Aktivität überfordert ist.

182

Johannes

Bittner

„In der Zukunft wird jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein", so sagte Andy Warhol. Mit dem Internet scheint diese Zukunft gekommen zu sein. Mit einer Homepage kann in der Tat ein jeder berühmt sein. Aber: Ob er von diesem Ruhm auch etwas erfahrt? Und: Welcher Art mag dieser Ruhm sein? Hugh Miller beispielsweise (Miller 1995, zitiert nach Chandler 1998) fände es nicht angenehm zu wissen, dass seine Homepage zur ,,'nerdy home page of the month'" gewählt worden sei, anderen hingegen macht es nichts aus, „Warmduscher des Monats" zu sein.10 Homepages stehen also vor der Aufgabe, die Aufmerksamkeit (eines Weltpublikums) auf sich zu ziehen und dann so lange wie möglich an sich zu binden. Diese ,Aufmerksamkeitsknappheit" wird in Deutschland noch (wie in den meisten Ländern) durch die Übertragungskosten verschärft. Mit einem möglichst attraktiv gestalteten Kommunikations- und Informationsangebot gehen private Homepages daher auf Aufmerksamkeitsfang: übersichtliche und komfortable Navigation (Framesets, Navigationsleisten), etwas Interessantes (Bilder vom letzten AmerikaUrlaub, Publikationen zur europäischen Währungspolitik, „tolle Links und Tips zu Windows 95") und natürlich eine „peppige" Aufmachung, mit der man sich auf der Höhe der technischen Entwicklung glaubt (automatische Weiterleitung, Hintergrundmusik, JavaScript), alles wird versucht. Auch mit „Nützlichkeit" wird argumentiert, selbst wenn dies nicht immer einer Überprüfung standhält (Abb. 4). Die Orientierung an vermeintlichen Rezipientenbedürfnissen verdeutlicht die Bedeutung, die der Rezipient, der Andere, für das Ich der privaten Homepages besitzt. H e i m a n n t Hain P a g e - N e l t c a p e i-1f

Vgw

¡jo

B I S

Eli

H*tp

Hermann's Ham-Page! D i e s e S e i t e ist n o c h in V o r b e r e i t u n g . Zurück zur Homepage, i D a m i t I h r B e s u c h n i c h t g a n z u m s o n s t w a r , h i e r einige interessante Amateurfunk-Seiten: £1 P A R C Der Deutsche Amateur Radio Club ARPX

Amenca Radio Relay League

Danke für Ihren Besuch. Datum der letzten Änderung: 09.09.96 iS?

Youae cffew Choote "Gc. Ortin*

/

Abbildung 4: Nützlichkeit

10

Vgl. www.t-online.de/~fritsch bzw. www.warmduscher.deAVDWoche/karlfritsch.htm. Weitere Belege können auch unter omnibus.uni-ireiburg.de/~bittner abgerufen werden.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

183

Gleichwohl finden sich auch im Netz die meisten Homepageautoren mit ihren „ganz individuellen" Seiten in der Einförmigkeit der Summe aller „ganz individuellen" Seiten wieder. Warum sollte dies auch anders sein als im RL? 4.3. E-mail me! - Der Ruf nach dem Anderen Der Hilferuf „E-mail me!" findet sich auf nahezu jeder Homepage. In ihm zeigt sich erneut die Kehrseite der Verheißung der totalen Kommunikation und der Warholschen Berühmtheit für jedermann. Die virtuelle Existenz ist elementar auf die explizite Bestätigung durch den oder die Anderen angewiesen. Gerichtete Informationen sind die Essenz des Netzes, in dem nichts ist, wenn es nicht ausdrücklich ist. Die Technik kompliziert in diesem Fall das Problem: Wie kann ich sicher sein, dass ich überhaupt (für andere) im Netz existiere, wenn ich kein Feedback erhalte? Kann ich einer Technik vertrauen, die für die Benutzer schon seit (Hard- und Software-)Generationen undurchsichtig geworden ist?11 Der Kommunikationskanal ist schmal, im Vergleich zu konventionellen (analogen) Kanälen relativ fehlerbehaftet, und für die meisten Benutzer nur zeitweise offen.12 So findet man auf immer mehr Seiten Zugriffszähler,13 die diesen Mangel beheben sollen. Letztlich ein Trugschluss, zeigt doch der Zähler lediglich eine maschinell generierte Zahl an. Außer der Anzahl der „Hits", d.h. der Anzahl der Zugriffe auf eine Seite, sagt diese Zahl nichts über die Rezeption der betroffenen Seite aus, ja schlimmer noch, es ist nicht einmal sicher, wodurch diese Hits verursacht worden sind, ob jemand die Seiten absichtsvoll geladen hat oder ob etwa nur der Suchroboter einer Suchmaschine die Seite aufgerufen hat. Immer populärer werden daher „Gästebücher", in die sich die virtuellen Besucher eintragen können, um eine Nachricht zu hinterlassen. Schlimm nur, wenn sich weder der Zugriffszähler bewegt, noch sich jemand in das Gästebuch einträgt.

11

Vgl. hierzu Turkle 1998: 41ff. (.Geschichte zweier Ästhetiken') und Kittler 1994 (,Protected Mode'). 12 Die allgemeine Verbreitung von Standleitungen auch in Privatwohnungen würde eine grundlegende Veränderung der Kommunikationsgewohnheiten und auch des Netzes selber bedeuten. Es scheint insbesondere in Europa eine von den wirtschaftlichen Machtspielen der beteiligten Unternehmen abhängige Frage der Zeit zu sein, bis sich dieser permanente Zugang durchsetzt, ganz gleich, ob dies nun per Kabel, Satellit oder Stromleitung geschieht. 13 Es ist m.E. kein Zufall, dass gerade das Angebot der kostenlosen Einrichtung solcher Zähler sehr reichhaltig ist, nicht nur wegen des statistischen Interesses der Anbieter dieser Zählerdienste, sondern vor allem wegen des Bedürfnisses der privaten Nutzer, ein irgendwie geartetes Feedback über ihren „Aufmerksamkeitsquotienten" zu erhalten. Zahlreiche Kommentare belegen die Bedeutung dieses „Gradmessers" für die Frequentierung der Homepage, indem darauf hingewiesen wird, dass der Zähler wegen einer Umstellung eigentlich viel mehr Zugriffe anzeigen müsste etc.

184

Johannes Bittner

4.4. Wer bin ich? Private Homepages legen Zeugnis ab von der Konstitution und Konstruktion einer Identität, gleichzeitig aber auch von der Reflexion über den Konstruktionsprozess selbst: In such sites, what are visibly ,under construction' are not only the pages but the authors themselves. [...] However, the construction involved is more than the construction of the sites themselves: personal home pages can be seen as reflecting the construction of their makers' identities. [...] Such a virtual environment offers a unique context in which one may experiment with shaping one's own identity. [...] It is not difficult to see that one unifying feature underlying the content of such pages is the unspoken question: 'Who am I?' [...] Even if some of these pages [...] may well be practically worthless to anyone other than their authors, their value to their authors may nevertheless be considerable. (Chandler 1998) Unabhängig von der Suche nach Aufmerksamkeit und Bestätigung erfüllt die private Homepage also vor allem eine Reflexionsfunktion für den jeweiligen Autor. Die Dynamik, Veränderlichkeit und Flüchtigkeit des Mediums spiegeln dabei die Dynamik, Veränderlichkeit und Flüchtigkeit des Lebens wider. Daher existieren schlussendlich nurmehr Momentaufnahmen eines Prozesses, aber kein Gesamtbild des Prozesses mehr: Die Diachronie des Tagebuchs ist einer (permanenten) Synchronic der Homepage gewichen. Ein weiterer Punkt erwächst als nahezu logische Konsequenz aus obigem. Wenn „die" private Homepage nur einen Ausschnitt, eine Momentaufnahme eines diachronen Prozesses wiedergibt, so können mehrere Homepages (ein und desselben Autors) verschiedene Ausschnitte der Synchronic reflektieren. Schließlich eignet sich das Netz wie kaum ein anderer kommunikativer Raum zur freien Schaffung von Identitäten. Im Netz kann damit die Einheit der verschiedenen sozialen Rollen zerfallen und sich auf verschiedene, prinzipiell voneinander unabhängige virtuelle Identitäten verteilen. Die sich hierdurch bietenden Möglichkeiten der Selbstreflexion sind dabei als noch größer einzuschätzen als die zuerst angesprochenen, geben sie doch dem Einzelnen die Möglichkeit, diese verschiedenen sozialen Rollen und ihr Verhältnis zueinander zu reflektieren (vgl. Raible 1998: 14f.). Gerade die Aufteilung und Separation dessen, was im RL in einer Person vereinigt ist, kann hierzu grundlegend beitragen. 4.5. Privatheit und Öffentlichkeit Ein weiterer Aspekt dieser permanenten Persönlichkeitskonstruktionsversuche ist die Aufweichung der Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Die Verwischung dieser Grenze und ihre Neubestimmung ist ein Phänomen, das allgemein das Auftreten neuer Medien begleitet (vgl. Meyrowitz 1985). Mit dem Eintritt in neue Öffentlichkeitsformen und -Verhältnisse definiert sich neu, wo das Private endet und das Öffentliche beginnt.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

185

Auch durch das Internet wird die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem neu definiert, ja sie ist erst im Begriff, für das Internet definiert zu werden. Die mehr oder minder expliziten und ausfuhrlichen Persönlichkeitsdarstellungen der Homepages scheinen dabei ein Schritt hin zur Ausdehnung der Öffentlichkeit zu sein, noch dazu auf globalem Niveau. Dies kann im Fall von Randgruppen beabsichtigt und auch sinnvoll sein, weil die mediale Distanz einen im RL möglicherweise problematischen Konstitutionsprozess erleichtert. Es ist jedoch zu überlegen, ob nicht die bewusste öffentliche Konstruktion von „Identität", die scheinbare Aufgabe von Privatheit also, nicht in Wirklichkeit zur Konstruktion einer Privatheit fuhrt, die nicht die Privatheit selber ist, sondern nur ein Konstrukt ihrer selbst vorschiebt, hinter die sich das wahre Private weiter zurückzieht.14 Webmaildienste und Webspaceanbieter ermöglichen in immer stärkerem Maße, „anonym" zu bleiben bzw. die Beziehungen zum RL nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass inzwischen die unangenehmen Nebenwirkungen des digitalen Kommunikationsraums etwas weiter absehbar sind bzw. sich bereits bemerkbar machen. Der leichtfertige Umgang mit personenbezogenen Daten etwa (besonders offensichtlich anhand der diesbezüglichen Kontroverse zwischen Europa und Amerika) macht deutlich, wie prekär die Sicherung von „Privatheit" in einem Netz geworden ist, in dem der durchschnittliche Benutzer nicht nur zahlreiche Spuren hinterlässt, sondern zur Nutzung vieler Angebote sogar explizit persönliche und personenbezogene Daten preisgeben muss (vgl. DIE ZEIT Nr. 30,22.07.1999, S. 27). Gerade im Internet blüht der Adressen- und Datenhandel, so dass die Verärgerung über Werbemails („Spam") fast schon zur Gewohnheit geworden ist.

5.

Chat

Der Chat kombiniert die Interaktionssituation eines Face-to-Face-Gesprächs mit physischer Distanz, Schrift als verwendetem Zeichensystem und einer besonderen

14

Zudem darf nicht vergessen werden, was unter 4.1 „Lost in Hyperspace" angesprochen worden ist: Viele Homepages befinden sich weiterhin in einer vornehmlich privaten Sphäre schlicht aufgrund ihrer Unbekanntheit bzw. der Tatsache, dass nur wenige Nutzer diese Seiten „zum Spaß" aufsuchen. Auch so relativiert sich die „Globalität" von Publikationen im World Wide Web.

186

Johannes Bittner

Form von Synchronizität15 - und ist damit eine Kommunikationsform, die es bislang in vergleichbarer Form nicht gegeben hat.16 Von zentraler Bedeutung für den Chat als Kommunikationsform ist die Reduktion des Kommunikationskanals auf den digitalen Text. Durch den Wegfall aller para- und nonverbalen Elemente der Kommunikation kann ich die Kommunikationsteilnehmer weder hören, noch sehen, sondern nur lesen, so wie auch ich nur gelesen werden kann.17 Die sich entwickelnden sprachlichen und kommunikativen, aber auch sozialen Merkmale der Diskurse virtueller Online-Communities tragen daher den besonderen medialen Bedingungen des Chats Rechnung. Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich eine Kommunikationsform wie der Chat allein bzw. vorrangig zum Zweck des Informationsaustausches zu dem „Massen-Medium" gegenwärtigen Standes entwickelt hat.18 Viel einleuchtender erscheint die Hypothese, dass der Chat einen Raum zur Verfügung stellt, in dem (virtuelle) Ichs erschaffen werden können, um miteinander zu interagieren. Eine vergleichbare Entwicklung hat im Übrigen auch das französische „Minitel" durchgemacht, dessen Verbreitung vor allem durch die Einrichtung von Interaktionsmöglichkeiten und nicht zuletzt - durch die „messagerie rose" einen enormen Aufschwung genommen hatte.19

15

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Chatkommunikation mit „relativer" Synchronizität operiert, indem nämlich Gesprächsbeiträge immer erst nach abgeschlossener Verfertigung abgeschickt, dh. übermittelt werden. 16 Nach dem Modell von Koch/Oesterreicher haben wir es beim Chat mit einem „gegenläufigen Kombinationstypen von Medium und Konzept" zu tun, die in der Tat „in kultur- und sprachgeschichtlicher Perspektive höchst bedeutsam sind" (Koch/Oesterreicher 1990: 6). 17 Durch den Begriff des „Wegfalls" soll keinesfalls angedeutet werden, dass der Chat eine (im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation) „defizitäre" Kommunikationsform sei. Vielmehr stellen sich die Kommunikationsteilnehmer in einer Interaktionssituation auf das Medium, die nutzbaren Kanäle und Zeichensysteme ein und gleichen so die medienbedingte Restriktion kommunikativer Möglichkeiten aus. Hiermit hängt auch zusammen, dass mit einem bestimmten Medium auch schon die Kommunikationssituation und das Verhältnis der Kommunikationspartner prädefiniert wird (vgl. Höflich 1996: 68ff.). 18 Das Spektrum herkömmlicher, aber auch „modemer" Kommunikationsmöglichkeiten (Faceto-Face-Gespräche, Telefon, Bildtelefon, Videokonferenzen, etc.) bietet für die verschiedensten Zwecke Mittel an, die unter Effizienzgesichtspunkten leistungsfähiger sind als der Chat. Allein im Mitgliederverzeichnis von www.webchat.de gibt es derzeit jedoch mehr als 230 eingetragene Webchat-Anbieter. Hinzu kommt eine unüberschaubare Anzahl an IRCKanälen allein in Deutschland, so dass die Gesamtteilnehmerzahl nur geschätzt werden kann, aber sicher im siebenstelligen Bereich liegt. Der stabile Anteil von 61% der InternetNutzer belegt die Popularität und Bedeutung des Chats als Kommunikationsform (GVU's 9th WWW User Survey Technology Demographics Summary 1998). 19 Vgl. hierzu: Friesinger 1989 sowie Marchand 1987; auch Höflich 1996: 286.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

187

5.1. Kommunikation Kommunikationsaufhahme und Konversationsaufbau sind im Chat aufgrund der besonderen medialen Bedingungen zwischen den Kommunikationsteilnehmern anders strukturiert als in einer Face-to-Face-Situation. Die Rolle von Medien oder Technologien in Kommunikationssituationen wird oft unter dem Blickwinkel einer „Restriktions-" bzw. „Defizithypothese" betrachtet (vgl. etwa Short, Williams, Christie 1976 oder Eurich 1982). Ohne diesen Punkt hier ausführlich diskutieren zu können, soll hier demgegenüber davon ausgegangen werden, „dass die Medienverwendung nicht losgelöst von den Gegebenheiten und Erfordernissen der Kommunikationssituation betrachtet werden kann", und dass „Medieneigenschaften und Situationsmerkmale [...] von den Aktoren wahrgenommen und im Sinne einer Definition der Mediensituation zusammengeführt" werden (Höflich 1996: 80). GodZilla. 24.6.1999 02:46:43 Chat Ich find den Chat lahm!!! Man kommt an und niemand redet mit einem!! datt is echt mies, denn man kommt sich echt wien arch vor. Also sogar beim Kindergartenchat p7 wird man angeredet, und nich einfach links liegen gelassen. Also gebt euch ma etwas meh mühe und versucht ma mit jedem zu reden !!! Nosferatu, 24.6.1999 05:23:45 > Chat Komisch., diese Probleme hatte ich nie,, auch nicht, als ich neu war,, Vielleicht hast du ja eine der Anfängersüriden begangen wie: Wer hat Lust zu chatten? Sind Mädels da? Wer will mit mir reden? Geile Weiber anwesend? Warum spricht niemand mit mir? Redet endlich mit mir!! Bist Du W oder M? Wie alt bist Du? Wo kommst Du her? Hast Du einen Freund? LOOOOOL Das sollte mal genügen., wer so im Chat auftaucht kann nicht mit Reaktionen rechnen.. Bis später,. Nosfi PS: Halt die Ohren steif,, es wird schon!! Klink Dich einfach in laufende Runden ein. Abbildung 5: Probleme im Chat

188

Johannes Bittner

Physische Distanz und der ASCII-Zeichensatz als Zeichenreservoir erfordern daher eine sprachliche Explizitheit, die über das bislang (in Interaktionssituationen) übliche Maß hinausgeht. Diese Explizitheit erstreckt sich dabei auf alle Bereiche und Elemente der Kommunikationssituation, d.h. auch auf die Ich-Konstitution. Die -im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation- in aller Regel niedrigere Interaktionsgeschwindigkeit ist ebenfalls ein wichtiger Faktor, der Einfluss auf das Kommunikationsverhalten und folglich auch auf die Beziehung zwischen den Interaktionspartnern hat. So entwickeln sich zunächst konsequenterweise neue sprachliche und kommunikative Mittel, die sich den medialen Bedingungen anpassen.20 Wichtiger erscheint jedoch die Tatsache, dass in diesem Prozess das Medium „als eine Art handlungsleitender interpretativer Hinweis" (Höflich 1996: 110) eine symbolische Dimension erhält, die den Kommunikationsteilnehmern als eine Art „komplexes Zeichen" (vgl. Raible 1996: 65) bereits wichtige Informationen zum Vorverständnis des erwartbaren Gebrauchs, der Inhalte etc. vermittelt. Im Verlauf dieses Prozesses, der im Hinbück auf den Chat erst begonnen hat, lässt sich feststellen, dass die Abwesenheit von Ausdrucksmöglichkeiten, die man bisher traditionellerweise mit interpersonalen Interaktionssituationen verbunden hat (para- und nonverbale Kommunikationsmöglichkeiten), einerseits als Aufhebung einer Hemmschwelle empfunden wird (aus der, negativ gewendet, eine gewisse „Enthemmung" folgt), was die Kontaktaufnahme und die Kommunikationsbereitschaft der einzelnen Teilnehmer fordert. Hinzu kommen weitere mediale Charakteristika wie die,.Anonymität"21 und die „Unangreifbarkeit" der Person. Andererseits aber bedeutet dieser Wegfall für viele Kommunikationsteilnehmer wiederum eine neue Hemmschwelle, sofern der mediale Wechsel und die mit ihm notwendig gewordene sprachliche Explizitheit im Rahmen des neuen Mediums (noch) nicht adäquat erlernt und beherrscht werden. Gerade der Chat macht durch die schriftliche Explizierung in eindrucksvoller Weise deutlich, welch großen und wichtigen Raum der Anteil phatischer Kommunikation in interpersonalen Kommunikationssituationen einnimmt, der ansonsten überwiegend para- und nichtsprachlich realisiert wird. Der Chat verlangt also nicht nur nach neuen kommunikativen Kompetenzen der Teilnehmer, sondern führt als neue Kommunikationsfoim auch zu neuen kommunikativen und sozialen Normen. Interessanterweise sind diese Normen (die „Netiquette"22) gerade im Internet explizit formuliert, und Teilnehmer, die diese Normen (aus welchen Gründen auch immer) nicht respektieren, werden darauf auch gerne aufmerksam gemacht. 20 21

22

Beispiele hierzu finden sich etwa in: Runkehl/Schlobinski/Siever 1998. „Anonymität" ist im vorliegenden Zusammenhang primär als „Unabhängigkeit von der Person des RL" zu verstehen, und nicht als,Anonymitat" im Netz. Vgl. hierzu etwa www.netservice.ch/german/netiquette_ger.html.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

189

Noch etwas bedingt die Verwendung von Schrift als Zeichensystem des Chats: eine enorme Aufwertung des geschriebenen Worts, d.h. des Wortes „an sich". Erfolgreiche Kommunikation im Chat erfordert neue kommunikative und sprachliche Fähigkeiten, die über die Fähigkeiten hinausgehen, die wir alle in unserer bislang vorwiegend nicht-elektronischen und nicht-digitalen Sozialisierung erfahren haben: Die Teilnehmer müssen nun das schreiben, was im RL nicht mit Worten ausgedrückt wurde oder werden sollte. Bezeichnenderweise wird gerade diese Aufwertung der Schriftlichkeit in medienkritischen Untersuchungen ignoriert. 5.2. Warum chattet man? Vor allem Nicht-Chatter werden sicher gespannt auf eine Antwort warten. ChatKommunikation und virtuelle Beziehungen können, soviel ist ansatzweise bereits deutlich geworden, aufgrund der medialen Bedingungen manches dessen nicht bieten, was reale Beziehungen zu leisten imstande sind, etwa gemeinsames Erleben, praktische Handlungseinbindung etc., eben all das, was auf physischer Nähe beruht. Auf der anderen Seite entbindet der soziale Raum des Internets die Kommunikationsteilnehmer im Vergleich zum RL aber auch von vielen Verpflichtungen. Dafür eignet sich der Chat sehr gut zur Konstitution und Konstruktion virtueller Identitäte(n) in der Interaktion mit anderen. Schließlich besucht man Chats oder virtuelle Communities eben genau deshalb, weil man mit anderen kommunizieren will, weil man sich schriftlich mit anderen Menschen austauschen will - und nicht, weil man ein Bier trinken möchte. Der Chat ermöglicht es, ohne die „begleitenden Umstände" einer Kommunikationssituation des RL mit anderen Individuen zu kommunizieren. In diesem Prozess kann der Einzelne ein Bild von sich entwerfen und sich selbst ein Bild vom anderen machen, ohne dass diese Bilder bereits durch visuelle, akustische oder olfaktorische Eindrücke präformiert wären. Damit leistet der Chat -und an dieser Stelle schließt sich ein Kreis- genau das, was das Handicap der privaten Homepage ist, nämlich die fehlenden (oder nicht zufriedenstellenden) Interaktions- und Feedbackmöglichkeiten. Es verwundert daher wenig, dass ein Großteil der Kommunikation vor allem phatische Funktion besitzt. Dies ist zwar primär medial bedingt, aber dennoch ein strukturelles Merkmal des Chats. Schließlich ist die Explizierung des Phatischen (die in diesem Sinne auch eine Bewusstmachung ist) ein wichtiges Indiz für die Bedeutung der Rückkoppelung, der Bestätigimg des Ichs durch den Anderen. Im Chat wird mit der Explizierung des Phatischen folglich manifest, was in konventionellen Kommunikationssituationen implizit geschieht. So erfahrt man im Chat auch die Bedeutung der Aufmerksamkeit neu, vermittelt sich Aufmerksamkeit doch im Chat nur über die (funktionierende) Kommunikation. Nicht nur das Gewinnen von Aufmerksamkeit ist essentiell für die Teilnehmer,

190

Johannes Bittner

sondern auch das Schenken.23 Die Netzgemeinde, die bereits in den Anfangen des Internets die „Netiquette" formulierte, als Sammlung expliziter sprachlicher, kommunikativer und sozialer Normen, war sich der prekären Verhältnisse und damit auch der Notwendigkeit der Formulierung dieser Normen sehr wohl bewusst. Immer wieder wird auf den umfassenden Respekt des anderen als einem menschlichen Kommunikationspartner hingewiesen. Die in virtuellen Beziehungen eingegangenen Verpflichtungen sind geringer als im RL und virtuelle Beziehungen vergleichsweise ephemer. Doch auch dies ist wichtig, da es alle Beteiligten entlastet: Schließlich müssen virtuelle Beziehungen auch nicht das gleiche wie RL-Beziehungen leisten. Zudem darf man nicht vergessen, dass in Chaträumen oder virtuellen Communities Menschen zusammenkommen, die nichts voneinander wissen und die möglicherweise nicht einmal über eine gemeinsame kulturelle oder kommunikative Basis verfugen. Damit sich unter solchen Umständen Interaktion erfolgreich entwickeln kann, müssen -neben entsprechend gestalteten sprachlichen, kommunikativen und sozialen Regeln- besondere Möglichkeiten gegeben sein, Kommunikationspartner und Beziehungen ohne größeren Aufwand zu wechseln bzw. zu verändern. Zudem hält dies die Teilnehmer stärker zur Pflege von Beziehungen an, die ihnen wichtig sind. P r e t e n d e r 19.6.1999 15:49:42 Beschwerde Also, i c h w e n d e mich mit folgendem Problem an e u c h : Leider m u ß t e ich f e s t s t e l l e n , daB einige C h a t t e r s i c h mit 2 N a m e n einloggen und so t u n als ob. Finde i c h meinerseits nicht s o k o m i s c h . Es sei d e n n es ist nur ein Witz und die andere P e r s o n wird dann aufgeklärt. I c h m a c h e wirklich JEDEN Blödsinn mit, wie lachen, dummes Z e u g q u a t s c h e n , flirten egal w a s . Nur gibt es a u c h einige C h a t t e r - F r e u n d e die mich a u c h mal ernst a n s p r e c h e n a u f Probleme und d e n e n ich a u c h v o n H e r z e n zur S e i t e s t e h e . Nur d u r c h s o w a s wird mein V e r t r a u e n k a p u t t g e m a c h t . W o h e r soll ich w i s s e n w e r n o c h w e r ist? Oder ob das nur w i e d e r j e m a n d ist der mich h o c h n i m m t ? Ok, ich bin a u c h v o n N a t u r a u s M i s t r a u i s c h a b e r t r o t z d e m . Muß d a s sein? Kann m a n n i c h t a u c h mit einmal einloggen S p a ß h a b e n ? Dies ist a u c h ein Bitte an die P e r s o n die mich damit g e n e c k t h a t es n i c h t w i e d e r zu t u n a u c h w e n n es nur S p a ß war. Aber ich m ö c h t e d o c h w i s s e n mit w e m i c h c h a t t e ( s o g u t wie e s halt geht so a n o n y m ) . I c h hoffe d a s nimmt mir keiner Krumm. T r o t z d e m einen M e g a k n u d d l e r an alle Tschüß Pretender

Abbildung 6: Beschwerde über "Fakes"

23

Dem entsprechen übrigens auch die im Chat gemachten Beobachtungen: So haben „Anfänger" die Tendenz, Aufmerksamkeit zu suchen, ohne ebendiese in gleichem Maße zu sehen-

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

191

5.3 Wer bist du? Was bist du? Identitäten zeichnen sich im Chat zunächst durch die Sprache, die sie verwenden, und ihren sog. „Nickname", den virtuellen Namen, aus. Kategorien des RL wie etwa Alter, Geschlecht, nationale oder regionale Zuordnung haben ihre Relevanz weitestgehend verloren, weil sie nicht überprüfbar sind. Das so genannte „gender swapping" (vgl. Turkle 1998: 340fi) ist nur eine Konsequenz dessen.24 Da es prinzipiell möglich ist, eine beliebige Anzahl virtueller Identitäten zu schaffen, war der Schritt zum Spiel mit verschiedenen virtuellen Identitäten nicht weit. „Fakes" nennt man solche „virtuellen" Virtual identities. Die Beschwerde in einem Community-Forum (Abb. 6) zeugt einerseits von der Vorstellung und dem Wunsch, an einem RL-Identitätskonzept festzuhalten, beweist aber auf der anderen Seite, wie verbreitet dieses Spiels mit den vermeintlichen Identitäten ist. Generell ist also zu unterscheiden, ob Nicknames (und damit die mit ihm verknüpfte Identität) auf eine gewisse Dauer hin angelegt sind, oder ob sie Teil eines flüchtigen Spiels sind. Ein Gradmesser hierfür ist in einigen Communities (neben der Registrierung) ein Punktesystem, das für Anwesenheit und kommunikative Akte Punkte vergibt, da auf diese Weise die Punktezahl mit der Lebensdauer und Aktivität des Nicknames korreliert. So entwickeln Stammchatter nicht nur „Zweitidentitäten", sondern - und das ist der eigentlich interessante Aspekt - festigen hierdurch indirekt ihre „Hauptidentität" (vgl. Abb. 7). 5.4. "RL is just orte more window, and it's not usually my best one" Dies alles bedeutet nicht nur, dass ich im Netz ein anderer (oder: andere, anderes) als im RL bin, es bedeutet selbstverständlich auch, dass andere andere sind. Prinzipiell kann ich auch auf Dauer mehrere sein (und zwar im Netz de facto als virtuelle Existenzen sein, nicht nur vorgeben zu sein), ähnlich wie es in der 1995 erschienenen Originalausgabe von Turkle 1998 heißt: „RL ist nur ein Fenster unter vielen, und es ist gewöhnlich nicht mein bestes" (Turkle 1998: 16). Das RL, dem der Status einer sozialen Rolle unter anderen zugewiesen wird (obwohl es in sich wieder eine Vielzahl solcher Rollen vereinigt), büßt damit seine -bis dato ein wenig zwangsläufig innegehabte- Stellung als alleinige Verkörperung von „Wirklichkeit", als dominierende Lebensumgebung ein. Folglich entwickeln sich derzeit zwei unterschiedliche Richtungen im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Netz und RL, mit denen auch eine unterschiedliche Behandlung der Netz-Identitäten verbunden ist. Einerseits kann man feststellen, dass ken, während Teilnehmer mit mehr kommunikativer Praxis viel stärker darauf achten, jedem Teilnehmer ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. 24 Eine genauere Untersuchung von Chat-Konversationen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Merkmale der von den einzelnen Teilnehmern verwendeten Sprache (und damit eine Antwort auf die Frage, ob das Geschlecht von Teilnehmern nur über ihre Sprache identifiziert werden kann) steht leider noch aus.

Johannes Bittner

192

ein Rückbezug der virtuellen Identitäten) zur Realität stattfindet, gemäß dem Motto, dass „Virtualität nur dann erfolgreich ist, wenn sie ab und zu real wird". Dies betrifft insbesondere Communities, in denen vor allem „Regulars" anzutreffen sind, d.h. „Stammchatter". Deren „Chattertreffen" sind jedoch wiederum Anzeichen dafür, dass sich eine Gemeinschaft mit eigener Sozialstruktur konstituiert hat, der die gelegentlichen Treffen im RL vor allen Dingen als Bestätigung" der virtuellen Gemeinschaft dienen. Dadurch festigt die Community wiederum ihre Existenz als Community im Netz. M a D o n n a . 2 1 . 6 . 1 9 9 9 03:32:23 > Beschwerde Hi! Also: w e n n j e m a n d d u r c h einen Z w e i t n i c k böswillig v e r ä p p e l t wird, ist d a s natürlich nicht komisch, da g e b e i c h Dir völlig r e c h t . A n d e r e r s e i t s k e n n e i c h keinen ( S t a m m - ) c h a t t e r hier ( m i c h s e l b s t e i n g e s c h l o s s e n ) , der n i c h t m i n d e s t e n s einen Z w e i t n i c k registriert h a t . Die meisten s o g a r n o c h so 3 - 1 7 mehr. Einige d a v o n sind allgemein b e k a n n t , andere nur g u t e n F r e u n d e n , n o c h a n d e r e bleiben völlig a n o n y m . W e r s i c h täglich ( o d e r so * g * ) hier rumtreibt, hat manchmal d a s Bedürfnis n a c h ein b i s s c h e n A n o n y m i t ä t . . . im Übrigen kann ich j e d e m S t a m m c h a t t e r nur empfehlen, ab und zu mal auszuprobieren, wie es ist und wie man b e h a n d e l t wird, w e n n man hier n e u ist * g * . A n d e r e Nicks wieder sind aus i r g e n d w e l c h e n C h a t i n t e m e n G e s c h i c h t e n oder Running Gags e n t s t a n d e n . . . und w e r d e n a u c h als s o l c h e g e p f l e g t . Also, dieses P h ä n o m e n ist w a h r s c h e i n l i c h nicht a u s z u r o t t e n . Ich persönlich halte es so, w e n n ich mit einem Z w e i t n i c k in ein e r n s t h a f t e s G e s p r ä c h mit j e m a n d e m B e k a n n t e s g e r a t e , oute i c h mich a u f j e d e n Fall... a b e r natürlich v e r l o c k t dieses S p i e l c h e n a u c h dazu, Unfug zu treiben... das ist z w a r s c h a d e , a b e r wohl bis a u f persönliche B e s c h w e r d e n , w e n n s rauskommt, n i c h t z u ändern. Gruss, M a D o n n a

Abbildung 7: Nebenidentitäten

Auf der anderen Seite -und dies ist die vielleicht interessantere Entwicklungsrichtung- gibt es eine Tendenz zur Ablösung vom RL, ja den Hang zu dessen Negierung innerhalb der „Netzidentität". Indem RL und VR auseinander gehalten werden, trennt man feinsäuberlich soziale Rollen voneinander, und gleichermaßen die Geltungsbereiche verschiedener sozialer Rollen. Diese Trennung der Geltungsbereiche gelingt im Fall des Internets deshalb so gut, weil sich RL und Internet bereits auf der medialen Ebene gut voneinander abgrenzen lassen.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

193

Die Verlagerung eines Großteils des sozialen und kommunikativen Lebens aus dem RL in das Netz ist die folgerichtige Weiterfiihrung der Emanzipation des Netzes vom RL. Die damit vorprogrammierte Kontroverse der Bewertung dessen mag an dieser Stelle nur angedeutet sein, aber anderweitig ausgefochten werden. Eine recht ausfuhrliche Beschreibung und Analyse hat etwa Sherry Turkle geleistet (Turkle 1996, Turkle 1998), wobei es sich bei den meisten beschriebenen Fällen um MUD-Spieler25 handelt: Now, eight months later, Josh spends as much time on MUDs as he can. [...] In contrast to his life in RL, Josh's life inside MUDs seems rich and filled with promise. It has friends, safety, and space. 'I live in a terrible part of town. I see a rat hole of an apartment, I see a dead-end job, I see AIDS. Down here [in the MUD] I see friends, I have something to offer, I see safe sex.' His programming on MUDs is far more intellectually challenging than his day job. [...] Within MUDs, Josh serves as a programming consultant to many less experienced players and has even become something of an entrepreneur. [...] He dreams that such virtual commerce will someday lead to more - that someday, if MUDs become commercial enterprises, he could build them for a living. MUDs offer Josh a sense of participating in the American Dream. (Turkle 1996) Natürlich entspringen die von Sherry Turkle zitierten Fälle gesellschaftlichen Umständen, die nicht ohne weiteres verallgemeinert werden können. Unstrittig relevant erscheint jedoch die Erkenntnis, dass das Internet Freiräume eröffiiet hat, in denen die Benutzer -als einzelne und als Gemeinschaft- soziale Systeme mit Regeln und Ordnungen geschaffen haben, die das RL-Ideal des Umgangs zwischen den Identitäten reflektieren und überdies „funktionieren", ja anscheinend fast besser funktionieren als im RL.

Zusammenfassung Das Internet ist als Medium (und vor allem als Masseranedium) eigentlich noch gar nicht erwachsen.26 Bedenkt man, auf welche Geschichte und Entwicklung die klassischen Massenmedien Presse, Radio und Femsehen zurückblicken, und welche Dimensionen deren Ausbreitung angenommen hat, so steht dem Internet die eigene Geschichte noch bevor. Dabei ist das Internet in einem ganz anderem Sinne Mas25

,JVIUD" ist die Abkürzung von „Multi User Dungeon" und steht für intemetbasierte Rollenspiele, in denen auf Text- oder Grafikebene eine virtuelle Welt bereitgestellt wird, in denen die Teilnehmer nicht nur miteinander kommunizieren, sondern - im virtuellen Raum des MUDs - auch interagieren, d.h. je nach MUD-Konfiguration sich bewegen, handeln, konstruieren oder sogar Gewalt ausüben können. 26 In Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrzahl der Internetnutzer noch immer männlich, zwischen 20-35 Jahren alt ist und über ein gehobenes Bildungsniveau verfugt (GVU's 9th WWW User Survey Technology Demographics Summary 1998), erscheint es in der Tat zweifelhaft, bereits von einem ausgewachsenen „Massen"-Medium zu sprechen.

194

Johannes Bittner

senmedium, weil es neben seiner Qualität als Informationsquelle vor allem der interpersonalen Kommunikation dient. Das Internet ist im Vergleich zu den traditionellen Massenmedien also insofern ein hybrides Medium, als es in sich die kommunikativen Möglichkeiten der herkömmlichen massenmedialen Rezeptionsmedien mit den Interaktionsmöglichkeiten direkter interpersonaler Kommunikation vereint. Das nahezu exponentielle Wachstum lässt darauf schließen, dass das Internet elementare kommunikative Bedürfnisse der Nutzer befriedigt. Mit Computermedien und ihrer Vernetzung wird jedoch die Entwicklung des Umgangs mit Virtualität auf eine neue Stufe gehoben, indem das Internet dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, Virtualität nicht nur -wie etwa im Fernsehen- zu rezipieren, sondern auch zu produzieren und in dieser Virtualität zu agieren. Die Etablierung und Emanzipierung eines eigenen „kommunikativen Universums", ja einer eigenen, nämlich „virtuell" genannten Realität, ist Konsequenz der produktiven Aufnahme des neuen Mediums und seiner Möglichkeiten. Die private Homepage ist zunächst für den jeweiligen Autoren von Bedeutung, gibt sie diesem doch die Möglichkeit, über die bewusste und explizite Konstruktion eines Selbstbildes genau dieses Selbstbild und den mit ihm verbundenen Konstruktionsprozess zu reflektieren. Als ein bewusstes Konstrukt von personaler Identität in einem bestimmten, festumrissenen kommunikativen Kontext wie dem Internet gewinnt die Homepage einen Status, der über den einer schlichten Persönlichkeitsbeschreibung hinausgeht. In ihr verfestigt sich die ausgesuchte Kombination persönlicher Charakteristiken zu einer Netzidentität, die nicht mehr zwangsläufig Rückbindung an das Ich des RL finden muss. Die Bedeutung des bzw. der Anderen als ,,Validator(en)" der Existenz der Netzidentität belegt dabei erneut die Unabhängigkeit vom RL und die Autonomie des Netzes als einem eigenständigen „Raum". Auch die (wenngleich manchmal nur vermeintliche) Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen des Anderen in seiner Eigenschaft als Rezipient, sowie die Bedeutung der Aufmerksamkeit als neuem Gradmesser des Erfolgs lassen die Bedeutung des Anderen im Internet besonders deutlich werden. Die Kehrseite des Umstands, dass die Netzidentitäten auf die Bestätigung und das Feedback von anderen angewiesen sind, das Ausbleiben dieser Bestätigung nämlich, und die möglichen Folgen für den Einzelnen dürfen dabei aber nicht vergessen werden. Der Chat eröffnet in noch stärkerem Maße die Möglichkeit der Erschaffung und der Gestaltung von (virtuellen) Identitäten. Grundlegend für die Besonderheiten der Identitätsgestaltung und der Interaktionsmöglichkeiten sind die medialen Rahmenbedingungen des Chats und virtueller Communities. Die kommunikativen und sozialen Normen (nicht nur) dieser Communities zeugen von dem Bewusstsein, wie wichtig der Respekt des Anderen als Gegenüber und Kommunikationspartner ist, und das heißt vor allem: wie wichtig der,ändere" für das „Ich" ist.

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

195

Zweck und Grund des Chats ist die Kommunikation, primär jedoch nicht der inhaltlich fundierte, zielgerichtete Informationsaustausch, sondern die Kommunikation um der Kommunikation willen: „Ich bin hier, sprich mit mir!" Bezeichnenderweise existiert mit „chatten" ein eigenes Verb für diese Form der Kommunikation. Die Frage: „Wer will mit mir chatten?" verweist denn auch darauf, dass „chatten" etwas anderes ist als „reden" oder „sich unterhalten."27 Auch der hohe Anteil phatischer und metakommunikativer Akte belegt, dass der Chat ganz besonders die Funktion erfüllt, Selbst-Bestätigung zu erfahren (was indirekt wieder zur Netiquette und ihrer Betonung des Respekts des Anderen zurückführt). Damit gewinnt die Aufmerksamkeit eine neue Bedeutung im virtuellen Raum. Auf die Vision einer Aufmerksamkeitsökonomie (Goldhaber 1998) kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Am Ende steht daher zunächst die Erkenntnis, dass die Vorstellungen und das Ordnungsmuster der Verhältnisse von Identität und Alterität, die an den Erfahrungen der „realen Welt" gewonnen worden sind, nicht ohne weiteres auf das Netz übertragen werden können. Die beobachteten Verschiebungen, Neustrukturierungen und Umwertungen zeugen von medialen Bedingtheiten, belegen aber gleichzeitig die Entstehung neuer sozialer Gruppen und Regeln. Der Andere, als dialektisches Gegenüber des Ichs, wird im Internet, durch die medialen Bedingungen des Netzes fühlbar, in seiner Bedeutung aufgewertet, weil wir den Schmerz seines Fehlens dort stärker empfinden als in den Kommunikationssituationen des RL, wo wir uns vielleicht etwas leichtfertig an die Präsenz unserer Gegenüber gewöhnt haben.

27

Erleichtert wird diese Verwendung natürlich dadurch, dass dem deutschen Durchschnittssprachbenutzer in der Eindeutschung des englischen Verbs to chat die eigentliche Bedeutung (plaudern, sich unterhalten, schwatzen) nicht mehr unmittelbar präsent ist.

196

Johannes Bittner

Bibliographie Biere, Bernd U.; Hoberg, Rudolf (Hg.) (1996): Mündlichkeit-Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen: Narr Chandler, Daniel (1998): „Personal Home Pages and the Construction of Identities on the Web"; WWW-Dokument: www.aber.ac.uk/~dgc/webident.html (zuletzt aufgesucht: 01.07.1999) Drösser, Christoph (1999): „Doppelgänger im Netz. Internet-Surfer hinterlassen Spuren. Datensammler erstellen daraus personenbezogene Profile", in: DIE ZEIT, Nr. 30 (22.07.1999), S. 27 Ellrich, Claus (1982): „Der Verlust der Zwischenmenschlichkeit - Neue Medien und ihre Folgen für das menschliche Zusammenleben", in: Müllert, Norbert (Hg.) (1982): Schöne elektronische Welt. Computer - Technik der totalen Kontrolle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 88-111 Friesinger, Manfred (1989): Bildschirmtext in Frankreich. München: Verlag Reinhard Fischer Goldhaber, Michael (1998): „Die Aufmerksamkeitsökonomie und das Netz", Teil I und II, WWW-Dokumente: www.heise.de/tp/deutsch/special/eco/6195/l.html; www.well.com/user/mgoldh/; www.heise.de/tp/deutsch/special/eco/6200/l.html (zuletzt aufgesucht: 01.07.1999) GVTJ's 6th WWW User Survey, WWW-Dokument: ww.cc.gatech.edu/gvu/user_surveys/html (zuletzt aufgesucht: 18.10.1999). Deutsche Übersetzung, WWW-Dokument: www.tia.de/ gvu/index.html (zuletzt aufgesucht: 21.10.1999) Höflich, Joachim R. (1996): Technisch vermittelte interpersonale Kommunikation. Grundlagen, organisatorische Medienverwendung, Konstitution „elektronischer Gemeinschaften". Opladen: Westdeutscher Verlag Kittler, Friedrich (1994): „Protected Mode", in: Bolz, Norbert; Kittler, Friedrich; Tholen, Georg C. (Hg.): Computer als Medium. München: Fink, S. 209-222 Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf (1990): Gesprochene Sprache in derRomania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen: Max Niemeyer Marchand, Marie (1987): La grande aventure du... minitel. Paris: Larousse Meyrowitz, Joshua (1985): No Sense of Place: The Impact of Electronic Media on Social Behavior. New York: Oxford University Press „Netiquette", WWW-Dokument: www.netservice.ch/german/netiquette_ger.html (zuletzt aufgesucht: 18.10.1999); vgl. auch: Storrer, Angelika; Waldenberger, Sandra: „Zwischen Grice und Knigge: Die Netiketten im Internet", in: WWW-Dokument: www.idsmannheim.de/grammis/netiketten/netfram2.htm (zuletzt aufgesucht: 26.10.1999) Pinaud, Christian (1990): „Wechselspiele", in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Bd. 2: Internationaler Vergleich - Sprache und Telefon Telefonseelsorge und Beratungsdienste - Telefoninterviews. Berlin: Spiess, S. 237-242 Quasthoff, Uta M. (1996): „Mündliche Kommunikation als körperliche Kommunikation. Beobachtungen zur direkten Interaktion und zum Fernsehen", in: Biere, Bernd U.; Hoberg, Rudolf (Hg.): Mündlichkeit-Schriftlichkeit im Fernsehen. Tübingen: Narr, S. 9-28 — (1997): „Kommunikative Normen im Entstehen: Beobachtungen zu Kontextualisierungsprozessen in elektronischer Kommunikation", in: Weingarten, Rüdiger (Hg.): Sprachwandel durch Computer. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 25-50 Raible, Wolfgang (1996): „Wie soll man Texte typisieren?", in: Michaelis, Susanne; Tophinke, Doris (Hg.) (1996): Texte. Konstitution, Verarbeitung, Typik. München/ Unterschleißheim: Lincom, S. 59-72

Interpersonale Relationen in digitalen Kommunikationsnetzen

197

— (1998): „Alterität und Identität", in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik. 28. Jg., Nr. 110, S. 7-22 Runkehl, Jens; Schlobinski, Peter; Siever, Torsten (1998): Sprache und Kommunikation im Internet. Opladen: Westdeutscher Verlag Short, John; Williams, Ederyn; Christie, Bruce (1976): The Social Psychology of Telecommunications. London Turkle, Sherry (1996): „Virtuality and its Discontents: Searching for Community in Cyberspace", in: The American Prospect, Nr. 24: S. 50-57; WWW-Dokument: epn.org/ propect/ 24/24turk.html (zuletzt aufgesucht: 01.07.1999) — (1998): Leben im Netz: Identität in Zeiten des Internet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Originalausgabe: Turkle, Sherry (1995): Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet. New York: Simon & Schuster

Maria Borcsa (Freiburg i. Br.)

Selbstthematisierung als Alterität zwischen Normalisierung und Individualisierung: Geburtsblindheit im Medienzeitalter Wie kaum eine andere leibliche Verfasstheit scheint sich Blindheit zur Symbolisierung und Metaphorisierung zu eignen. Das steht zweifelsohne im Zusammenhang mit der hohen Bedeutsamkeit, die in unserem Kulturkreis dem Sehen zugesprochen wird, bis hin zur so genannten kulturellen Dominanz des Visuellen. Der Begriff der Blindheit oder der Blinde als Figur oder Topos findet dabei Eingang in unterschiedlichste Diskurse, wobei nicht nur der philosophische oder literarische zu nennen wären (vgl. z.B. Mayer 1997, Gessinger 1994, Baumeister 1991). Der Zusammenhang zur Lichtmetapher der Erkenntnis (und der mittlerweile dazugehörigen Dekonstruktion), oder die scheinbare thematische Nähe zu Vergänglichkeit und Tod ist vertraut. Geht man mit Derrida (1997), so ist Blindheit gar en vogue. Doch was wissen wir über konkrete blinde Menschen in unserer heutigen Zeit? Sozusagen über die blinde Frau, den blinden Mann „auf der Straße"? Die Folgenden Betrachtungen möchten einen Beitrag zum Verständnis des Phänomens der (Geburts-)Blindheit vor dem Hintergrund aktueller sozialer Rahmenbedingungen liefern, an denen in unserer Zeit die Massenmedien zweifelsohne einen maßgeblichen Anteil haben. Zunächst wird dabei auf die Zusammenhänge von Blindheit zum Begriff der Behinderung eingegangen. Im Folgenden wird es darum gehen, die Kategorie „Normalität" näher zu beleuchten, um vor diesem konzeptuellen Hintergrund massenmediale Beiträge zum Thema Behinderung bewerten zu können. Eine geburtsblinde Interviewpartnerin kommt anschließend zu Wort und schildert aus einer Innenperspektive ihren Standpunkt zu diesem Sachverhalt. Der Beitrag endet mit ethischen Überlegungen.

1. Blindheit, Sinnesbehinderung,

Behinderung

Blindheit wird zu den so genannten Sinnesbehinderungen gezählt. Zur Zeit leben etwa 155000 Blinde und rund 500000 Sehbehinderte in Deutschland {Dt. Blindenverband 1998). Bei einem Großteil tritt die Behinderung im Laufe des Lebens ein, man geht (bezogen auf die Gesamtgruppe der Sehbehinderten) von einem Anteil von 7 % so genannter Geburtsblindheit aus (Infratest 1982, zitiert in:

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

199

Dt. Blindenverband 1990: 143). Diese Form der physischen Schädigung ist insofern als besondere auszuweisen, als bereits die gesamte Sozialisation in die jeweilige Lebenswelt aus dieser leiblichen Andersheit zu denken ist. Der Zugang zur Welt und zu den Dingen wird dabei in der Blindenpädagogik als ein eingeengter beschrieben, den man durch entsprechende pädagogische und heute vermehrt im Rahmen integrativer Beschulung, durch technische Mittel zu weiten sucht.1 Die Weltgesundheitsorganisation differenziert in ihrer Classification of Impairments, Disabilities, and Handicap2 drei Ebenen: 1. Schädigung (impairment): Jeder Verlust oder jede Anomalie einer psychologischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion. 2. Beeinträchtigung (disability): Jede (auf eine Schädigung zurückgehende) Einschränkung der Fähigkeit oder die Unfähigkeit, eine Tätigkeit so und im Rahmen dessen auszuüben, was für einen Menschen als normal gilt. 3. Behinderung (handicap): Eine auf die Schädigung oder Beeinträchtigung zurückgehende Benachteiligung, die einen bestimmten Menschen teilweise oder ganz daran hindert, eine Rolle auszufüllen, die für ihn nach Alter und Geschlecht und sozio-kulturellen Faktoren normal wäre. Lindmeier spricht in der deutschen Rezeption der Begriffe der WHO von einer „Sprachverwirrung" (1993: 189). Besonders hebt er die uneindeutige Verwendung des Begriffs der „Behinderung" hervor, der entweder als allgemeiner Oberbegriff, Differenzierungen in sich aufhebend, verwandt wird, oder aber einmal als Übersetzung für „disability" (hier: Beeinträchtigung), ein andermal für „handicap" (wie hier in der Übertragung des Bundesministeriums) dient. 1

2

An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass sich die so genannte Sonderpädagogik derzeit im Umbruch befindet: seit der Verabschiedung der Antidiskriminierungsformel im Art. 3 GG: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" im Jahre 1994, ist nun gesetzlich zu prüfen, ob nicht eine Beschulung in einer allgemeinen Schule möglich ist: „es ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Pädagogik, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber sowie das Bundesverfassungsgericht in fundamentaler, ja paradigmatischer Weise die Theoriebildung einer pädagogischen Disziplin beeinflusst sowie die weitere Theorieentwicklung grundlegend bestimmt" (Eberwein, 1998: 71f.) „Der Beschluss des BVerfG läßt es nicht nur zu, sondern gebietet auch, dass die Länder in ihren Schulgesetzen die integrative Unterrichtung zum Regelfall und Sonderschulbesuch zur Ausnahme erklären" (ebd.: 77 f.) und zusammenfassend: „Das traditionelle sonderpädagogische Paradigma mit .Behinderung' als zentraler Begriffskategorie muss [...] einer bestimmten historischen Epoche zugerechnet werden. Die Sonderpädagogik steht damit an einem geschichtlichen Wendepunkt" (ebd., S. 87, Herv. d. Verf.). WHO 1980; Übersetzung: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1983: 5, zitiert in: Lindmeier 1993: 197.

200

Maria Borcsa

Waldschmidt (1998) zieht aus dem auf soziologischen Prämissen basierenden Behinderungsbegriff der WHO (handicap) den Schluss, dass in Bezug auf Behinderung die Medizin ihre Monopolstellung als Leitdiskurs verloren habe und sie sich mittlerweile die Definitionsmacht mit den Sozialwissenschaften teile. Problematisch erscheint meines Erachtens jedoch der Sprachgebrauch der Alltagsdiskurse im Zusammenhang dieses Phänomens, da der Behinderungsbegriff darin sehr wohl noch, substanzlogisch mit der Schädigung in eins oder, wie auch Lindmeier beklagt, als nicht weiter differenzierter Oberbegriff gesetzt wird (z.B. Blindheit [als fehlendes Augenlicht] = Behinderung). Im Alltagsdiskurs ist die Prozesslogik von Behinderung als sich interaktiv und institutionell reproduzierende soziale Benachteiligung noch weitaus nicht überall präsent. Außerdem werden Probleme, die aus der Schädigung selbst erwachsen, meist aus Unwissenheit um die betreffende alltägliche Lebenspraxis und -bewältigung den sozialen Problemen in ihrer Gewichtung übergeordnet.3 So wäre es vielleicht gar nützlich, auf den Behinderungsbegriff vollständig zu verzichten, da er im alltäglichen Gebrauch nicht eindeutig signalisiert, ob als Referenzebene die leibliche Andersheit oder jedoch die soziale Markierung und Benachteiligung als Alterität angesprochen ist (vgl. dazu auch Palmowski 1997). Um eine erste Annäherung an das Thema abzuschließen, soll in Bezug auf das Selbst-Verhältnis und Selbst-Verständnis von Geburt an körperlich beeinträchtigter Menschen festgehalten werden: Schädigungen von Geburt an stellen eine eigenständige, nämlich für den so genannten Betroffenen je eigene ,Normalität' im Sinne eines habitualisierten Weltzuganges dar; und diese Person „lebt mit seiner Behinderung4 in Einklang, solange er darin nicht verunsichert wird" (Saal 1994: 655 f. zitiert in Rösner 1997: 49). Diese „Verunsicherung" wird jedoch kaum ausbleiben, denn allgegenwärtige soziale Praxis geht zunächst und zumeist von Sozialmitgliedem ohne physische Schädigung bzw. leiblicher Andersheit aus. Als blinder Mensch geboren zu sein, trägt somit in sich eine Doppeltheit von .Normalität' und Abweichung: die ,Normalität' der eigenleiblichen Faktizität, die ist, wie sie ist, und nie anders war,5 und die Abweichung, die durch die differente Faktizität der Mehrheit der anderen geprägt wird. So existieren zur Leitdifferenz ,(geburts-)blind vs. sehend' eine Innen-, eine Außen-, und eine durch das Außen

3

4 5

Beispielsweise stehen typische Fragen von Sehenden an Blinde im thematischen Kontext der lebenspraktischen Bewältigung des Alltags, wie Fragen nach dem Kochen, Waschen, Bügeln etc. (vgl. Borcsa 2001). Naheliegenderweise geht jede(r) Sehende zunächst von seiner eigenen (sozialen) Lebenslage und Eingebundenheit aus, als Leitdifferenz dient ausschließlich das (Nicht-)Sehen-Können. Auch hier steht der Behinderungsbegriff für die physische Beeinträchtigung. So betonen die geburtsblinden Gesprächspartner, dass sie ,das Leben ja nie anders kannten' (vgl. Borcsa 2001).

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

201

vermittelte Innenperspektive. Dieser Schnittbereich gilt für den einzelnen blinden Menschen identitätsstiftend ein Leben lang (vgl. Borcsa 1999).

2. Zur Spezifizierung des Begriffs der Normalität Befasst man sich mit dem Themenkomplex der Behinderung, so wird die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Normalität zwangsläufig: Im Folgenden soll die Perspektive von Link (1997, vgl. auch Waldschmidt 1998) verdeutlicht werden, da sie für die Fragestellung relevante Hinweise erbringt. Link führt in die Auseinandersetzung mit dem Normalitätsbegriff die zentrale Unterscheidung zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus ein: Normalität als „ein Feld des Üblichen, das handlungsleitend wirkt" (Waldschmidt 1998: 11) gruppiert sich um eine Mitte, einen Durchschnitt, und das ihr gemäße Entsprechen bezieht sich nicht auf eine präexistent festgesetzte normative Regel (hier ist die Abgrenzung zur Normativität zu finden, die häufig übergangen wird), sondern zeigt sich ex post als dem Vergleich mit den anderen standhaltend. Was als normal gilt, ist somit das Ergebnis eines Vergleichsprozesses, ohne dass im Vorfeld notwendigerweise eine feste Regel diesen Prozess ordnen muss. Ineins jedoch mit diesem Vergleichsprozess, der konstitutiv zur Normalität gehört, bilden sich Grenzen des Normalen, die den Normalitätsbegriff zu einer kategorialen Abgrenzung etwa vom Pathologischen oder Abweichenden werden lassen können.6 Diese Grenze kann mit Goffinan (1998) als Stigma-Grenze bezeichnet werden. Genau diese Grenzziehung stellt sich in den beiden Normalismusformen unterschiedlich dar: während der Protonormalismus, der historisch als die ältere Form gefasst wird, kategoriale Trennungslinien zwischen dem Normalen und dem Anormalen etabliert, geht es dem Flexibilitäts-Normalismus um die ,JExpansion des NormalitätsSpektrums" (Link 1996: 340, Herv. i.O.), um eine Prozesshaftigkeit, in der die Trennlinie zwischen normal und unnormal immer wieder neu justiert, nach Möglichkeit ausgedehnt wird und somit nur von mittelfristiger Dauer ist. Zusammengefasst bedeutet dies, dass Normalität gesellschaftlich in diesen beiden Ordnungsfor6

Interessant ist an dieser Stelle anzumerken, dass Link (1996: 339 f.) von einem „Paradox der Normalitätsgrenze" spricht, der sich aus dem Zusammenspiel von „Kontinuitätspostulat" und „Toleranzgrenzpostulat" ergibt: „Nach dem Kontinuitätspostulat gibt es keine qualitative Grenze - wo immer ein Grenzwert angesetzt ist, da markiert er lediglich einen prinzipiell verschiebbaren Punkt in einem Kontinuum. Mathematisch gibt es keine Grenze auf der Gaußkurve; mathematisch gilt lediglich, dass die Streuung von Einheiten spätestens im Unendlichen gleich null wird. Nach dem Toleranzgrenzenpostulat ist es aber .evident', dass die jeweilige Normalität irgendwo ,enden' und die komplementäre Anormalität beginnen muss, weil Normalität ohne komplementäre Anormalität schlechthin undenkbar wäre. Grenzen können also nur durch semantisch-symbolische Zusatz-Marken (Stigmata) zur Gaußkurve etabliert werden, die mit Mathematik schlechthin nichts zu tun haben" (Herv. i.O.).

202

Maria Borcsa

men existiert, die sehr wohl nebeneinander bestehen (können), sich jedoch historisch in ihren Gewichtungen verändern/verändert haben: „Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges -so lautet die These der Normalismustheorie [nach Link]- ist in den westeuropäischen Gesellschaften der Protonormalismus, der durch die Dichotomie von normal/gesund und abnorm/krank gekennzeichnet ist, und der die starre Ausgrenzung der Abweichenden beinhaltet, auf dem Rückzug. Gleichzeitig haben sich flexibel-normalistische Strategien verstärkt durchgesetzt. Mit ihnen sind innerhalb des normalistischen Feldes kontinuierliche Normalitäten und bewegliche Normalitätsgrenzen entstanden" (Waldschmidt 1998: 13). Es stellt sich die Frage nach empirischen Hinweisen zur Belegung dieser Verschiebung - auf diese soll im Folgenden Abschnitt das Augenmerk gerichtet werden.

3. Medienprodukte: Ausdruck kultureller Dominanz oder im Dienst der Flexibilisierung von Normalität? An dieser Stelle sollen in Kürze zwei Analysen beschrieben werden, die im Rahmen des Gesamtprojektes7 entstanden sind, und die empirische Befunde zu den vorangehenden Überlegungen hefern. Das Forschungsfeld soll dabei, der hier interessierenden Fragestellung entsprechend, auf den Bereich der massenmedialen Kommunikation eingeschränkt werden. • In einer Untersuchung unserer Forschungsgruppe (vgl. Soll, Charlton & LuciusHoene 1999) wurde eine vergleichende Analyse über die Darstellung von Behinderung in den Massenmedien durchgeführt. Drei Publikumszeitschriften {Stern, Spiegel, Brigitte) und drei TV-Sender (Südwestfunk, BR, für 95 auch: RTL) wurden im Hinblick auf ihre Veröffentlichungen in den Jahren 1955, 1975 und 1995 inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei konnte gezeigt werden, dass im Vergleich zu den 50ern und 70ern den Medienrezipienten in den neunziger Jahren ein Vielfaches an Beiträgen über behinderte und chronisch kranke Menschen erreicht und sich die Berichterstattung von medizinisch-heilkundlichen Thematisierungsschemata hin zu psychosozialen Schwerpunktsetzungen in den 90ern verschoben hat. Bleiben Kranke oder Behinderte selbst in den 70er Jahren in erster Linie noch ihrer Rolle als Betroffene verhaftet, so wird das Leben mit chronischer Krankheit oder Behinderung im gegenwärtigen Jahrzehnt immer mehr als eigenständige Lebensform thematisch positio-

7

Die vorliegenden Betrachtungen sind im Kontext des Sonderforschungsbereiches 541 „Identitäten und Alteritäten", Projekt AI: „Medien der Selbstvergewisserung im Wandel und ihre Bedeutung zur Sicherung prekärer Identität" an der Universität Freiburg im Breisgau entstanden; vgl. Borcsa 2001.

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

203

niert. Akzeptanz und offensiver Umgang mit der Behinderung sind Grundmotive dieser Lebenshaltung. Das bedeutet: das Sinnangebot von Medienprodukten an gesellschaftliche Diskurse (prinzipiell anschlussfahig für Behinderte und Nicht-Behinderte) erscheint in seiner Relativierung der normativen Kraft von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit historisch gewandelt. • Massenmediale Kommunikation operiert bekannterweise nach eigenen Gesetzlichkeiten (vgl. Luhmann 1996). Empirische Analysen belegen interaktiv her- und dargestellte Strukturzusammenhänge, deren Reproduktion und damit Aufrechterhaltung sich tagtäglich vollzieht. Geht dieser Tatbestand radikal auf Kosten der freien Meinungsäußerung in die Medienproduktion involvierter Personen, so wird dieser Umstand mit dem Begriff der Vernutzung (vgl. Neumann-Braun 1993) beschrieben.8 Vor diesem konzeptionellen Hintergrund wurde eine Sendung der Talk-Show „Kerner" vom 16.1.98, mit einem geburtsblinden Mann als „Lieblingsgast" sprachpragmatisch analysiert (Leeder 1998). Die Analyse macht deutlich, dass trotz anderslautender Ankündigungen des Moderators die Besonderheit und Einzigartigkeit des Gastes sich letztlich in Positions- und Rollenzuweisungen erschöpft. Als Gesamtergebnis wird lediglich eine Zurschaustellung verwirklicht, die strukturelle Ähnlichkeit mit einer,Dressurdarbietung' hat. Das bedeutet: Die Eigenlogik bestimmter massenmedialer Produktionen setzt sich ungeachtet der behandelten Thematik durch; in diesem konkreten Falle bedeutet diese Dynamik eine Festschreibung der beteiligten Person auf eine Rolle. Dieser Prozess operiert gerade mit dem Aspekt der Fremdartigkeit als Sensation. Von einer Veränderung sozialer Ordnungen im oben besprochenen Sinne kann hierbei nicht die Rede sein. Insgesamt lässt sich sagen, dass einerseits im öffentlich-medialen DiskursAngebot bezogen auf die Themen Behinderung/chronische Krankheit sich im Laufe der Jahrzehnte eine größere Variationsbreite entfaltet hat, und sich somit durchaus eine Veränderung des Normalitätsfeldes postulieren lässt. Andererseits dominieren die Strukturmerkmale einzelner Genre über dargestellte Phänomenbereiche und deren inhärente Strukturen und „re-imprägnier(en) das, was [...] ohnehin ist" (Luhmann 1996: 109), in diesem Falle: bestehende Stigma-Grenzen.

8

Zahlreiche Beispiele lassen sich im Bereich des sog ,Affektfemsehens" (vgl. Bente & Fromm 1997) finden; eine Analyse zu psychologischer Beratung im Rundfunk findet sich in Borcsa (1994).

204

Maria Borcsa

4. Selbstthematisierimg von Normalität

und

als Alterität:

im

Spannungsfeld

Individualität

Wie stehen selbst körperlich beeinträchtigte Menschen zu der massenmedialen Auseinandersetzung mit dem Thema ,Behinderung'? Wo sehen sie Chancen, wo Gefahren? Die folgende Textpassage möchte zur Verdeutlichung einer ,Innenperspektive' eine geburtsblinde Interviewpartnerin zu Wort kommen lassen. Die Gesprächspartnerin ist zum Zeitpunkt des Interviews 34 Jahre alt, ledig, im diakonischen und seelsorgerischen Bereich ausgebildet und tätig, rege TV-Rezipientin und passionierter ,Bonanza'-Fan: I : mhm - - wie wird denn Ihrer Meinung nach denn so Behinderung in den Medien ä veröffentlicht oder thematisiert? IP: - - ä (ausatmen) - - wenn ich von Medien so ausgehe - - es gibt hin und wieder mal es gibt hin und wieder mal, ä Leute die des aufgreifen, s s s is es is zwar nich so oft aber es is schon passiert, also ich selber war auch im Fernsehen (((leiser))) vor paar Monaten + (lacht auf) da hat ne Reporterin des Thema Behinderung auch aufgegriffen, - äm und dann war noch jemand anders im Fernsehen, n en blinder katholischer Pastor, Priester, der war auch im Fernsehen, also hin und wieder kommt schon mal was über Behinderte aber m - ich höre auch mit Schrecken - - Negativ-Meldungen über Behinderung wenn ich - die Nachrichten ankucke, die da find ichs - ä die Nachrichten ankucke die sagen dass ein: Nachbar sich beklagt hat weil er in seinem Garten sich aufhält und im Nachbarhaus wohnen Behinderte und wenn die im Garten sind stoßen die immer so merkwürdige Geräusche aus und Töne weils geistig Behinderte sind, und er hat verfugt, verfugen lassen, mit richterlicher Gewalt, dass die Behinderten sich nur zeitweise in ihrem Garten aufhalten dürfen, ä dann find ich des schon sehr schlimm, und des sin Sachen die werden also in jedem Fall gebracht, und äm, es is zum einen gut für uns (sie!) dass wirs sehen und uns dann dementsprechend wehren können vielleicht aber, zum andern solche Sachen werden immer sehr schnell gebracht, und da is man auch schnell schnell dabei solche Meldungen zu bringen, ähm während jetzt als ich im Fernsehen da war die eine Reporterin die auf mich zugekommen is die musste des erst fragen. (...) Und letztes Jahr war des net unbedingt so schnell genehmigt, dieses Jahr hat sies dann durchgeboxt, und ähm, wos eigentlich drum geht Behinderung viel mehr zu normalisieren sag ich jetzt mal in der Gesellschaft, und ä. des is nach wie vor noch en Problem, denk ich. Und man müsst es noch viel mehr in die Öffentlichkeit tragen, dass behinderte Menschen im Grunde genauso en Recht auf Leben haben und genauso leben können, mit Einschränkungen sicherlich aber deshalb nich weniger - - weniger Menschen sind oder 9

Transkriptionszeichen: hervorgehobene Wörter sind unterstrichen, gedehnte mit: am Ende versehen; Pausen: kürzere als Bindestriche markiert, längere mit Anzahl der Sekunden in Klammem; unverständliche Redeanteile: pro Wort ein / gesetzt; ((())) Charakterisierung der Sprechweise, Charakterisierung gilt bis zu +, () nichtverbale geräuschvolle Handlungen, * Überschneidung zweier Beiträge, (...) thematisch nicht relevante Textstellen sind ausgelassen; I steht für Interviewerin, IP bedeutet Interviewpartnerin.

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

205

•weniger fähig sind zu leben, also des is so n ganz großes Problem wo ich wo ich schon noch denke da / is noch viel im Argen, obwohl schon Behinderung weitgehend vesucht wird ähm in die Gesellschaft einzubeziehen, aber es is noch lange nich so weit dass es wirklich optimal is. dass jeder sich mit Behinderung ausnander setzt und jeder auch Behinderung als was ganz Normales empfindet, des is es nich. - und vielleicht müsst mer da in den Medien noch viel mehr machen. I: was war des denn für ne Sendung wo Sie da teilgenommen haben? IP: ach des war die Landesschau, die Landesschau in SWF 3, in SW Südwest 3, ja Fernsehen und da, die ham son vier Minuten - vier Minuten ä Teil über mich gebracht, wie ich lebe, was ich mache, wie mein Beruf aussieht, des war eigentlich ganz gut ganz gutgemacht (...) Es is ja nicht nur immer ich die wirke sondern, was meine Angst halt war dass des auch richtig wiedergegeben wird wie ichs meine ne, und die Reporterin hat des sehr gut gemacht, also des muss ich wirklich sagen, die hat sogar, ich durfte auch alles mit entscheiden ne, also die hat des dann zusammen geschnitten und hat mich dann noch mal angerufen, und hat mir des dann vorlaufen lassen un hat gsagt sollen was so lassen oder nicht? (Kuckucksuhr schlägt) also des äh war schon unheimlich gut. Die Sprecherin wendet sich der Perspektive der Medien und der Medienproduktion zu und kennzeichnet zunächst, dass die Thematisierung von Behinderung weder eine fokussierte noch eine absolut ausgegrenzte Kategorie massenmedialer Kommunikation darstellt. Sie beschreibt anschließend in ihren emotional markierten Ausfuhrungen zum Gerichtsurteil ein Phänomen, das Rommelspacher (1997) als „Umkehrung" bezeichnet: Dies ist ein Mechanismus unter anderen, kulturelle Dominanz herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten, nämlich: die Umkehrung „schiebt die Probleme nicht nur auf die Schwächeren ab, sondern macht sie auch noch dafür verantwortlich. Dabei wird die bestehende Machthierarchie durch eine umgekehrte Hierarchie der Verantwortung ersetzt" (S. 254), wobei „die Minderheiten dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Mehrheit Probleme hat" (ebd.), und sie kommt zur Schlussfolgerung: Die eigene Norm zur Richtschnur zu machen und die anderen für das eigene Wohl- beziehungsweise Unwohlbefinden verantwortlich zu machen basiert auf einem Selbstverständnis, das die anderen nicht als Subjekte mit ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen wahrnimmt, sondern sie als andere konstituiert. (S. 255, Herv. d. Verf.) Diese Konstituierung als andere10 gefährdet die doppelte Anerkennung des Individuums in seiner grundsätzlichen Gleichheit, seiner berechtigten Zugehörigkeit zur Menschheit einerseits und seiner einzigartigen Individualität andererseits (vgl. Habermas 1988). Diese Form der Alteritätsbildung generiert als soziale Konstruk-

9

Der/die/das andere ist dabei das identitätslogisch ausgegrenzte Andere.

206

Maria Borcsa

tion stets auch symbolische Gewalt. Im Felde massemnedialer Kommunikation hat sie zusätzlich „Informationswert".11 Die Rollenübernahme als „andere" spiegelt sich im Interviewausschnitt wider, wenn die Gesprächspartnerin explizit in die sprachliche Form des gemeinschaftlichen „wir" der Behinderten wechselt. Dem beschriebenen Medienbeitrag kann sie (siehe: „vielleicht") lediglich zwiespältig einen Gegenkräfte mobilisierenden Nutzen zugestehen, da ihr persönliches Anliegen vielmehr das der „Normalisierung" darstellt. Diese kennzeichnet sie als selbstverständlichen Einbezug in geteilte soziale Lebenspraxis, bei der der physischen Einschränkung keinerlei Symbolträchtigkeit zugesprochen wird (,jeder auch Behinderung als was ganz Normales empfindet"). So sollen soziale Typisierungen der Behinderung aufgelöst, der einzelne behinderte Mensch sowohl als zur Allgemeinheit („nich weniger - weniger Menschen sind") gehörig, wie auch einzigartig begreifbar werden. Die Sprecherin erhebt somit Anspruch auf flexible Normalität in der Alltagspraxis. Ihren Beitrag zur Veränderung des Normalitätsfeldes sieht sie dabei durchaus auch in der Möglichkeit (unter bestimmten formalen Bedingungen) an der medialen Produktion teilzunehmen. Als Gesamtmotiv lässt sich somit festhalten, dass die Interviewpartnerin in ihrer Haltung changiert zwischen dem Aspekt der Nützlichkeit der Medien als Informationsmedien für gruppenspezifische Themen und im Dienste der Öffentlichkeitsarbeit für gruppenbezogene Belange einerseits und der Ahnimg darum, dass gerade auch Medien durch die strukturelle Bevorzugung außergewöhnlich-sensationalistischer Inhalte dazu beitragen, dass die Normalisierung im Sinne von Auflösung sozialer Stereotypisierungen und kultureller Dominanz -wie hier im konkreten Falle einer Genehmigung- buchstäblich auf sich warten lässt.

5. Jenseits des Normalitätsprinzips:

Ethische

Überlegungen

Rösner (1997) formuliert in seinen „Ethischen Überlegungen zum Behindertsein" eine Kritik am Normalisierungskonzept, indem er im Anschluss an Foucault und insbesondere an Lévinas in Distanzierung von allgemein-sozialen Rollenvorgaben (s.o. die Definition der WHO in Bezug auf „handicap") die Sphäre der Zwischenmenschlichkeit, vor allem die „zwischenmenschliche Wertschätzung" (S.46) in den Blick zu nehmen sucht. Seine These lautet, dass sich mit dem Prozess der übergreifenden Verrechtlichung auch eine ,Ent-Weltlichung' vollzogen hat, durch die Menschen voneinander isoliert und als Individuen, die von sozialen

10

Um mit Luhmann zu sprechen: Massenmedien haben die Tendenz, „Überraschungen und Standardisierungen [...] sich aneinander [steigern] zu lassen, um Informationswerte zu erzeugen" (1996: 59).

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

207

Normen abweichen, produziert werden. [...] Mit wirklicher Gerechtigkeit wäre jedoch eine gesellschaftlich verankerte zwischenmenschliche Verantwortung um die Erhaltung der Integrität des Einzelnen und seiner je eigenen Lebensform gemeint. (WHO, S. 46) Nicht gesellschaftliche Rollenvorschriften und -zwänge (zu denen letzten Endes auch Antidiskriminierungsgesetze zu zählen wären) sollen die Hintergrundfolie eines Miteinanders von Menschen mit und ohne körperlicher Beeinträchtigung bilden, sondern „vor allen äußeren sozialen Regeln gibt es einen zwischenmenschlichen moralischen Bezug" (S. 50), der sich als ,Sorge für den Anderen' zeigt. Dieses „Nicht-gleichgültig-sein-Können" ist fundierend und vollzieht sich als unbewusster Vorgang der Sozialität. Der ,3ruch mit der Totalität der Selbstheit erst schafft die Voraussetzung für eine ethische Praxis" (S. 50). Der Rahmen gesellschaftlicher Öffentlichkeit transformiert jedoch die ethische Asymmetrie der Beziehung zum Anderen - als „ursprünglich verantwortungsvollefn] Bezug zum Anderen", die die „conditio sine qua non aller Gerechtigkeit" bildet, in eine universale Symmetrie der Beziehung zwischen Gleichen. Eine Erweiterung zur gesellschaftlichen Dimension bedarf dabei einer Anwesenheit des Dritten, die das Feld des Ethischen in die Dimension der Allgemeinheit öffnet: Hier, unter dem Prinzip der objektiven Gerechtigkeit, erscheint der Andere nicht mehr als unvertretbare Person, die sich meiner Verantwortung darbietet, sondern als Individuum, das Mitglied einer Gesellschaft, Bürger eines Staates ist, in dem gleiche Gesetze für alle gelten. [...] Die Gerechtigkeitssphäre kann den Bereich der Güte absorbieren, der immer in Gefahr steht, im System der universalen Gesetze unterzugehen, obschon ihn dieses System erfordert und trägt. (S. 51) Rösner spricht in seinen Überlegungen die zu problematisierenden Aspekte des Gleichheitspaiadigmas und somit indirekt die des Normalisierungskonzeptes an: Im Sinne der WHO wäre eine Nicht-Behinderung, trotz Schädigung oder Beeinträchtigung, die (soziale) Ermöglichung eine „Rolle auszufüllen, die für ihn nach Alter und Geschlecht und sozio-kulturellen Faktoren normal wäre" (s.o.). Das Gleichheitsparadigma spiegelt sich hier im Normalitätspostulat, welches als , normale soziale Rolle' aufscheint. Ganz im Sinne Links würde die Hereinnahme behinderter Menschen in das Nonnalitätsfeld deren Grenzen verändern, das StigmaMerkmal einer physischen Auffälligkeit würde durch die Integration in ein Feld ,normaler sozialer Rollen' als Leitdifferenz für Normalität aufgelöst (oder zumindest verschoben). Diese ,Integration' erscheint zunächst als Affirmation bestehender sozio-kultureller Faktoren, die Potentialität des Anderen, des Fremden zur Anstachelung einer Neu-Ordnung (vgl. Waldenfels 1991, 1998) scheint dabei nicht im Vordergrund zu stehen. 12 Sie ist m.E. jedoch nicht vollständig zu leugnen: Denn 12

Hier wird die Frage der Entstehung von neuen sozialen Ordnungen tangiert, die das (Er-)Leben einzelner, körperlich beeinträchtigter Menschen transzendiert. Meiner Ansicht nach sollte in der Beschäftigung mit „Fremdheit", die diese Potentialität in sich trägt, nicht

208

Maria Borcsa

gerade durch die Flexibilisierung des Normalitätsfeldes, ganz konkret z.B. in einer zunehmenden Präsenz behinderter Menschen im öffentlichen Leben wie beispielsweise im Arbeitsalltag,13 vervielfältigen sich vielmehr Interaktionsfelder, in denen der Sorge um den Anderen als jeweilige persönliche Haltung konkreter Raum gewährt wird/werden kann.14

6. Abschließende Bemerkungen: Zur Auflösbarkeit der Kategorie der Alterität in das Fremde? Medienprodukte, die behinderte Menschen beispielsweise in Form deskriptiver Einzelfälle thematisieren, können individualisierende Bemühungen unterstützen, sich als behinderte Person der sozialen Konstruktion einer symbolisch aufgeladenen Gruppenzugehörigkeit („die Blinden") zu entledigen. Produktionen, die in ihrer inneren Logik zur Vernutzung neigen, und sich mit Berger und Luckmann gesprochen (1995) am massenmedialen Grundmotiv orientieren, „typische Deutungen für als typisch definierte Probleme" anzubieten, potenzieren hingegen kulturelle Dominanz. Denn Hann wird die betreffende Person in der Regel auf ihre Rolle als sozial markierte Alterität reduziert und als diese vorgeführt. Doch dem Aspekt der Fremdheit, die zweifelsohne jeder leiblichen Andersheit innewohnt, sollte sich auch anders begegnen lassen. Ein angemessenes Antworten im Sinne von Waldenfels (1998), das den Anspruch des Anderen gerecht zu werden versucht, müsste m.E. gerade darin gründen, dass man im Angesicht leiblicher Andersheit die Fremdheit aushält und sich kategorisierender Markierung enthält.

vorschnell die (sozial-)psychologische Ebene der Bedeutung von (Sich)-als-andere(r)-zu(Er)leben (in deren Horizont der Aspekt der Ausgrenzung eine andere Tragweite hat) zugunsten einer einseitigen Auflösung hin zur Ebene sozialer Ordnungen übergangen werden. 13 Man vergleiche etwa die Arbeits- und Lebensfelder wie sie noch vor 50 bis 60 Jahren üblich waren (beispielsweise blinde Strickerinnen, Stuhlflechter und Korbmacher im Blindenheim) mit heutigen Lebensformen, die in der Regel durch ein viel höheres Maß an Selbständigkeit und -bestimmung geprägt sind. 14 Um Mißverständnisse zu vermeiden sei nochmals betont, dass hier nicht die soziale Dimension der Fürsorge gemeint ist, sondern die ethische Dimension der Sorge, bei der es vielmehr darauf ankommen kann, Selbständigkeit zu respektieren oder zu fordern.

Geburtsblindheit im Medienzeitalter

209

Bibliographie Baumeister, Pilar (1991): Die literarische Gestalt des Blinden im 19. und 20. Jahrhundert. Klischees, Vorurteile und realistische Darstellungen des Blindenschicksals. Frankfurt /M., Bern, New York, Paris: Peter Lang Bente, Gary & Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen: Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen: Leske & Büdlich Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1995): Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung Borcsa, Maria (1999): „Die Funktion der Massenmedien als intermediäre Sinnstiftungsagenturen. Explikation am Fall von Blindheit und Mediennutzung", in: Hasebrink, Uwe; Rössler, Patrick (Hg.): Publikumsbindungen. Medienrezeption zwischen Individualisierung und Integration. München: Reinhard Fischer, S. 137-146 — (1994): „Öffentliche Partnerschaft(en): Zur ,Familientherapie' im Rundfunk. Eine linguistisch-pragmatische Studie", in: Zeitschrift für Familienforschung (6), Sonderheft 1/1994, S. 197-204 — (2001): Selbstthematisierung als Alterität: Identitätskonstruktionen blinder Menschen aus drei Generationen: eine rekonstruktive Analyse. Dissertation, Freiburg: Universität Freiburg (auch als WWW-Dokument: www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/243/) Derrida, Jacques (1997): Aufzeichnungen eines Blinden: das Selbstporträt und andere Ruinen. München: Fink Deutscher Blindenverband e.V. (1998): Was ich nicht sehen kann, will ich hören! Bonn. (Broschüre) — (1990)(Hg.): Enzyklopädie des Blinden- und Sehbehindertenwesens. Heidelberg: C.F. Müller Eberwein, Hans (1998): „Sonder- und Rehabilitationspädagogik - eine Pädagogik für .Behinderte' oder gegen Behinderungen? Sind Sonderschulen verfassungswidrig?", in: Eberwein, H.; Sasse, A. (Hg.): Behindert sein oder behindert werden? Interdisziplinäre Analysen zum Behinderungsbegriff. Neuwied, Berlin: Luchterhand, S. 66-95 Gessinger, Joachim (1994): Auge & Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700-1850. Berlin, New York: de Gruyter Goffman, Erving (131998): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/M.: Suhrkamp Habermas, Jürgen (1988): „Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G.H. Meads Theorie der Subjektivität", in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 187-241 Leeder, Klaus (1998): Darstellung von behinderten und chronisch kranken Menschen in Medien - Am Beispiel einer Talkshow. Unveröffentlichte Diplomarbeit am Psychologischen Institut der Universität Freiburg Lindmeier, Christian (1993): Behinderung - Phänomen oder Faktum? Bad Heilbrunn: Klinkhardt Link, Jürgen (1996): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag Luhmann, Niklas (21996): Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag Mayer, Mathias (1997): Dialektik der Blindheit und Poetik des Todes. Über literarische Strategien der Erkenntnis. Freiburg i. Br.: Rombach Neumann-Braun, Klaus (1993): Rundfunkunterhaltung. Zur Inszenierung publikumsnaher Kommunikationsereignisse. Tübingen: Narr

210

Maria Borcsa

Palmowski, Winfried (1997): „Behinderung ist eine Kategorie des Beobachters", in: Sonderpädagogik, Nr. 27 (3), S. 147-157 Rommelspacher, Birgit (1997): „Identität und Macht: Zur Internalisierung von Diskriminierung und Dominanz", in: Keupp, H. & Höfer, R. (Hg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 251-269 Rösner, Hans-Uwe (1997): „Selbstsorge und Sorge für den Anderen. Ethische Überlegungen zum Behindertsein", in: Zeitschriftftir Heilpädagogik, Nr. 2, S. 46-54 Soll, Katrin; Charlton, Michael; Lucius-Hoene, Gabriele (1999): „Identitätsangebote für Betroffene. Krankheit und Behinderung in den Medien: eine vergleichende Analyse der Jahrgänge 1955,1975 und 1995", in: Medien Praktisch, Nr. 23, S. 20-24 Waldenfels, Bernhard (1998): Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2. Frankfurt /M.: Suhrkamp — (1998): .^Antwort auf das Fremde. Grundzüge einer responsiven Phänomenologie", in: Waidenfels, Bernhard; Därmannn, Iris (Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. München: Fink, S. 35-49 — (1991): Der Stachel des Fremden. Frankfurt /M.: Suhrkamp. Waldschmidt, Anne (1998): „Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität", in: Soziale Probleme, Nr. 9 (1), S. 3-25

Hilary P. Dannenberg (Freiburg i. Br.)

Die Konstruktion alternativer Identitäten durch die Rekonstruktion der Vergangenheit in den populären amerikanischen Spielfilmgattungen Fantasy und Science Fiction 1. Einleitung 1.1. Identität als Konstrukt In der Identitätsforschung gilt weitgehend die Prämisse, dass Identität nicht als gegeben sondern als Konstrukt zu betrachten ist.1 Darüber hinaus wird Identität nicht als stabile Ganzheit aufgefasst, sondern als fragmentiert und einem zeithchen Wandlungsprozess unterworfen.2 Der folgende Beitrag untersucht eine besondere Art der Identitätsdarstellung in den fiktiven Erzählwelten des Kinofilms, die dieses Konstruktprinzip im Plot selbst verkörpert. Hier werden Identitäten erst durch fantastische Wendungen in der Handlungsfiihrung konstruiert. Dabei wird teilweise der Mensch selbst zum Konstrukteur der Identitäten anderer Menschen, indem er in Lebensläufe eingreift und biographische Abläufe künstlich verändert. Es werden alternative Identitäten für ein und dieselbe Figur erschaffen, so dass auf der Leinwand mehrere Persönlichkeitsversionen von einem Darsteller verkörpert werden. Dieser Vorgang verwischt die Grenze zwischen Ich und dem Anderen, bzw. zwi1

2

Dementsprechend wird die Identität nach Berger/Luckmann (1977: 185) „in gesellschaftlichen Prozessen geformt" und „durch das Zusammenwirken von Organismus, individuellem Bewusstsein und Gesellschaftsstruktur produziert"; nach Goffman (1998) ist der einzelne, ähnlich wie bei einer Theatervorstellung, „Darsteller" mehrerer unterschiedlicher Rollen in der gesellschaftlichen Interaktion mit Anderen; für Assmann ist „Identität [..] immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität" (1997: 132); Chambers (1994: 22) redet schlicht von „the fiction of identity": „Language is not primarily a means of communication; it is, above all, a means of cultural construction in which our very selves and sense is constituted." „Ist sie [die Identität] erst einmal geformt, so wird sie wiederum durch gesellschaftliche Beziehungen bewahrt, verändert oder sogar neu geformt" (Berger/Luckmann 1977: 185); „What we have inherited [...] as a sense of identity - is not destroyed but taken apart, opened up to questioning, rewriting and re-routing. [...] Our sense of being, of identity and language, is experienced and extrapolated from movement: the 'I' does not pre-exist this movement and then go out into the world, the 'I' is constantly being formed and reformed in such movement in the world" (Chambers 1994: 24).

212

Hilary P. Dannenberg

sehen Identität und Alterität, weil ein Anderer (Alterität) aus dem Ich (Identität) konstruiert wird: Eine einzelne Figur, die durch mehrere Versionen ihres Ichs verkörpert wird, wird aus fragmentierten, teils widersprüchlichen Identitätselementen auf der Leinwand konstituiert. Eine solche darstellerische Pluralisierung des Ichs und seiner konstruierten alternativen Versionen spiegelt somit in fiktiver Form wesentliche Züge der Identitätstheorie selbst wider. 1.2. Die Begegnung mit dem anderen Ich Eine Erzählwelt, in der nur eine einzelne Figur agiert, verspricht nicht unbedingt, das Interesse des Rezipienten zu wecken: Identität ohne Alterität erzeugt ein erzählerisches Vakuum, das auf die Wirkung der Kontraste und Interaktion von Persönlichkeiten und ggf. Kulturen verzichten muss.3 Sogar in vermeintlichen „oneperson worlds" (Dolezel 1998) wie Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719), in dem der Schiffbrüchige Crusoe jahrelang allein auf einer Insel lebt, stellt die Begegnung mit dem Anderen (vor allem mit Freitag) den vom Helden und vom Leser zugleich lang ersehnten erzählerischen Höhepunkt dar. Die fantastischen Plots der hier besprochenen Filmwerke der postmodernen science fiction und fantasy verarbeiten auch dieses erzählerische Grundprinzip, Identität begegnet Alterität, zu einer neuen Variante, weil unterschiedliche Versionen derselben Figur auf der Leinwand tatsächlich miteinander in einer Begegnung mit dem anderen Ich konfrontiert werden. 1.3. Fantastische Plots im modernen und postmodernen amerikanischen Spielfilm Die folgende Untersuchung bespricht Filme, die durch zwei unterschiedliche Plotkonstruktionen alternative Identitätsversionen kreieren. Frank Capras It 's A Wonderful Life (1946) sowie Robert Zemeckis' Filme Back to the Future (1985), Back to the Future 7/(1989) und Back to the Future III (1989) konstruieren alternative Identitäten durch die Schilderung mehrfacher Versionen eines Handlungsablaufs. Capras Film gehört eher der Gattung der Fantastik an, weil der im Film geschilderte alternative Handlungsverlauf durch die Einmischung himmlischer Kräfte ins Leben gerufen wird. Zemeckis' Back To The Future Filme gehören wiederum zur Gattung der science fiction: Durch die fictional science des Zeitreisens greifen Menschen (und nicht Engel) in die Geschichte ein und ändern ihren Verlauf. Paul Verhoevens Total Recall (1990) kreiert dagegen zwei Versionen derselben Figur durch einen anderen Plot, der auf der fictional science beruht, wodurch die Persönlichkeit eines Menschen künstlich durch Gedächtnismanipulation geändert werden

3

Siehe Pfister (1994: 227-35) für eine ausfuhrliche Besprechung der möglichen Kontrastrelationen innerhalb der Figurenkonstellation in der Gattung des Dramas.

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

213

kann.4 Alle Filme haben aber gemeinsam, dass derselbe Schauspieler bzw. diesselbe Schauspielerin mehrere Versionen derselben Person darstellt.5 Im Folgenden wird gezeigt, wie im Übergang von der Moderne (Capra) zur Postmoderne (Zemeckis und Verhoeven) die Beziehungen zwischen solchen alternativen Identitäten immer komplizierter werden. Vor allem in den postmodernen Filmbeispielen wird zunehmend die klare Hierarchie der Welten und Identitäten zerstört, die in der Moderne noch gegeben ist. Die Unterminierung von Hierarchien in der Postmoderne betrifft vor allem den Angriff auf das Konzept einer ursprünglichen, gegebenen Identität, die bei Capra noch intakt bleibt. Dieser Wandlungsprozeß lässt sich auch an der zunehmenden Dekonstruierbarkeit der Identität des Helden selbst in den verschiedenen Filmen ablesen. Um dieses Spiel mit den Welten- und Identitätsversionen genauer zu untersuchen, werden in diesem Aufsatz analytische Termini aus der possible worlds theory verwendet, die im nächsten Abschnitt anhand konkreter Beispiele erläutert werden.

2. Alternate Plotting: Kontrafaktische

Spiele mit der

Vergangenheit

Während Plot in der Definition von Aristoteles als ein zeitlicher Ablauf mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende konzipiert wird, schildert ein Text, der alternate plotting verwendet, mehrere Varianten eines Handlungsverlaufs, indem er di-

4 5

Für eine umfangreiche Besprechung der gattungsspezifischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von sciencefiction undfantasy siehe z.B. Clute/Nicholls (1993: 407-411). Sowohl im filmischen als auch im erzählerischen Medium gibt es verwandte pluralistische Identitätsphänomene: Robert Stevensons Roman Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) zählt hier als ein Schlüsselwerk, während die superheroes der amerikanischen comics im 20. Jahrhundert fast prinzipiell eine doppelte Identität besitzen, wie zum Beispiel Batman/Bruce Wayne, Superman/Clark Kent (DC Comics) oder Spider-Man/Peter Parker (Marvel Comics) (für eine Einführung in diese modernen amerikanischen Heldenmythen siehe Reynolds 1994). In diesen Werken wird die doppelte Identität auch durch den Plot erschaffen: Dr. Jekyll nimmt einen Trank zu sich, der ihn verwandelt; Peter Parker wird von einer Spinne gebissen, die ihn zum Spinnenmenschen macht; Batman und Superman konstruieren wiederum selbst ihr Alter Ego aus unterschiedlichen Gründen: der Millionär Bruce Wayne kreiert den „caped crusader" Batman in erster Linie als Rache für die Ermordung seiner Eltern; Superman erschafft Clark Kent als Tarnung seiner echten, außerirdischen Identität. Eine etwas andere Pluralisierung, die nicht auf der Plotebene sondern nur auf der Ebene der Rollenbesetzung geschaffen wird, sind Filme und Stücke, in denen ein Schauspieler mehrere Rollen mimt, wie zum Beispiel der Film Kind Hearts and Coronets (1949), in dem Alec Guinness acht unterschiedliche Mitglieder derselben Familie spielt. Letzteres Phänomen kommt in Back to the Future II und III auch vor, und sorgt damit für noch größere Identitätsverwirrungen.

214

Hilary P. Dannenberg

vergierende Möglichkeiten der Handlungsentwicklung beschreibt.6 Die Bezeichnung alternate lässt schon ahnen, dass wir es hier mit einer Art Alterität zu tun haben, die man als zeitliche Alterität bezeichnen kann: Ein alternativer Handlungsstrang zweigt von einer primär geschilderten Ereignissequenz ab und eröffnet dadurch einen Blick auf eine alternative Welt.7 Die geänderten Umstände in dieser Zone der zeitlichen Alterität können auch die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen und somit wahrhaft Andere aus den Ichs der primären Sequenz machen.8 Die Erschaffung solcher alternativer Identitäten ist die Fortentwicklung eines lang praktizierten rhetorischen Kunstgriffs, der auch in gemäßigter Form in der realistischen Erzählliteratur zu beobachten ist, bevor er dann im 20. Jahrhundert sowohl in der Erzählprosa als auch im Spielfilm neue Dimensionen erreicht (Dannenberg 1998 u. 2000). Eine alternative Welt entsteht zum Beispiel bereits, wenn eine Figur ein kontrafaktisches Gedankenexperiment durchfuhrt, in welchem sie überlegt, wie ihr Leben hätte anders verlaufen können.9 In Defoes Robinson Crusoe zum Beispiel denkt der Ich-Erzähler Robinson darüber nach, wie sein Schiffbruch eigentlich viel schlechter hätte verlaufen können, („I spent whole hours [...] in representing to my seif in the most lively colours how I must have acted if I had got nothing out of the ship", Defoe 1965: 141). Dieser kurz skizzierte alternative Handlungsstrang ist, um den entsprechenden Begriff aus der possible worlds theory zu verwenden, eine virtuelle Abzweigung von der aktuellen Handlungslinie: Sie ist nur eine vorübergehende, subjektive Konstruktion in den Gedanken Crusoes und hat keine Auswirkungen auf der ontologischen Ebene der Aktualität (das, was in der Eizählwelt als Ebene der Wirklichkeit gilt).10 Dies entspricht den Regeln der Plotge6

Die modernen erzähltheoretischen Konzepte von story und discourse gehen ebenfalls grundsätzlich von einer und nicht von mehreren Versionen derselben Geschichte aus; dementsprechend stellt der erzählerische Diskurs die chronologische Sequenz der Geschichte anachronisch dar (vgl. hierzu z.B. Shklovsky 1990, Genette 1980, Culler 1981). 7 Ryan (1991) stellt die umfangreichste theoretische Behandlung alternativer Welten in der Erzählprosa dar; für verwandte Ansätze siehe auch Stanzel (1977) und Prince (1992: 28-38). 8 Hier haben wir es also mit einer ganz bestimmten Form von alternativer Welt zu tun, die mögliche Handlungs- und Figurenvarianten entwirft und nicht mit alternativen Welten im breiteren Sinne der utopischen bzw. dystopischen Literatur (vgl. hierzu z.B. Pfister 1982). 9 Zur philosophischen Theorie des Kontrafaktischen siehe vor allem Lewis (1973) und Rescher (1975); zur neueren Forschung zum kontrafaktischen Gedankenspiel in den politischen, sozialen und kognitiven Wissenschaften siehe Roese/Olson (1995a) und Tetlock/ Belkin (1996). 10 Zu possible worlds, Erzähltheorie und Plot siehe vor allem Ryan (1991), die die Termini actual/virtual eingehend verwendet und deren Arbeit eine Vertiefung der Ansätze von Bremond (1980) und Dolezel (1976, 1988, 1998) darstellt. Innerhalb der possible worlds theory, die prinzipiell jeden Text, also jede fiktive Welt, als ein Zusammenspiel mehrerer Welten auffasst, ist auch der Begriff der transworld identity, d.h. die Beziehungen zwischen verwandten Figuren, die unterschiedliche Welten bewohnen, ein Schlüsselbegriff (vgl. hierzu Lewis 1973 und Rescher 1975). Als Schlüsselbegriff ist er auch für die alternativen

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

215

staltung in realistischen Erzählwelten, wo es nur eine aktuelle Version der Welt geben kann; alternative Versionen bleiben, wie hier, rein hypothetisch.11 Außerdem entwirft der kontrafaktische Handlungsstrang keine merkbar alternative Figur der Person von Crusoe selbst. Nach der Theorie der transworld identity entwirft Crusoe zwar hier ein anderes Ich bzw. einen counterpart (Lewis 1973) (deijenige, der in der anderen, kontrafaktischen Welt nichts aus dem Wrack des Schiffs bergen konnte), dieser ist aber keine tatsächlich andere Version (Rescher 1975, Margolin 1996) von Crusoe, denn er unterscheidet sich nicht merkbar von Crusoe den Romanhelden. Crusoe überlegt nämlich nicht, wie er aufgrund anderer Lebensumstände sich innerlich hätte verändern können, sondern rekonstruiert hypothetisch nur die äußeren Umstände seines Lebens. Die kurz skizzierte, zeitliche Alterität des Kontrafaktischen in Robinson Crusoe umfasst somit noch keine identitätsbezogene Alterität. Im zwanzigsten Jahrhundert entwickeln sich in den Gattungen science fiction und fcmtasy neue, von den Zwängen des Realismus abgekoppelte, fantasievolle Handlungsstrukturen. In diesen Werken wird die ontologische Hierarchie des Realismus unterminiert, weil mehrere Welten aktuell werden oder ihren Status austauschen. Demzufolge fmdet auch in manchen Werken auf der Ebene der Figurendarstellung eine Pluralisierung der Identitätsversionen in den unterschiedlichen Welten statt.12 In den Massenkulturformen der science fiction und fcmtasy wird dies durch einen fantastischen Kunstgriff im Plot erreicht: Vor allem die (von H.G. Wells' The Time Machine [1894-5] initiierte) fiktive Erfindung des mechanisierten Zeitreisens ermöglicht die fiktive Schilderung eines tatsächlichen und nicht hypothetischen Eingriffs in die Vergangenheit, denn nun können Zeitreisende aktiv in die Vergangenheit eingreifen und dadurch kontrafaktische Handlungsverläufe aktualiIdentitäten in diesem Aufsatz von großer Relevanz, aber um die zu besprechenden Filme im Mittelpunkt zu behalten, kann er hier nur am Rande erwähnt werden. 11 Herrmann (1998) bespricht die Schilderung solcher .fingierten alternativen Lebenswege' bei dem zeitgenössischen schwedischen Schriftsteller Lars Gustavsson. 12 Eine Vorstufe zu dieser Entwicklung ist die im 19. Jahrhundert beginnende Gattung der altemate history (in der deutschen Forschung auch parahistorischer Roman [Heibig 1988] bzw. Uchronie [Rodiek 1997] genannt). Hier wird kontrafaktische Geschichtseizählung nicht wie in Robinson Crusoe als vorübergehende Spekulation einer Figur gestaltet, sondern als die Aktualität in der Welt des Erzähltextes dargestellt, wie zum Beispiel eine Welt, in der Napoleon Bonaparte in England gelandet ist, wie einer der ersten englischen Romane dieser Gattung erzählt (Lawrence 1899). In dieser Gattung werden aber selten wahrhaftig alternative Identitäten entworfen; der Geschichtsverlauf ändert sich zwar, aber die darin handelnden Figuren bleiben dieselben Versionen. Die Kurzgeschichte „P.'s Correspondence" (1845) des Amerikaners Nathaniel Hawthome entwirft wiederum alternative Lebensläufe für mehrere englische Dichter (Dickens wird z.B. nicht 58 Jahre alt, sondern stirbt gleich nach seinem Erstlingswerk, Lord Byron stirbt nicht jung sondern wird alt, konservativ und fett), so dass hier der rekonstruierte Geschichtsverlauf eine rudimentäre Form von alternativer Figurenversion produziert.

216

Hilary P. Dannenberg

sieren.13 Solche Eingriffe in die Vergangenheit können aber auch im fantastischen Rahmen von göttlichen statt menschlichen Kräften vorgenommen werden, wie in Capras It'sA WonderfulLife. Kontrafaktische Gedankenexperimente sind grundsätzlich auch theoretische Spiele mit kausalen Zusammenhängen.14 In den fiktiven Erzählwelten der Gattungen science fiction und fantasy hat die Neuordnung von Kausalitätssequenzen in der Zone der zeitlichen Alterität eindeutige Auswirkungen auf die Darstellungen ihrer Bewohner und lässt sie erst recht zu anderen Versionen ihres ursprünglichen Ichs werden. Veränderte Handlungsabläufe, die durch Eingriffe in die Vergangenheit entstehen, ändern auch die Biographie eines Menschen: Sie ergeben andere Einflüsse auf seine Persönlichkeitsentwicklung und auch z.B. auf seine Berufswahl bzw. seinen Erfolg im Berufsleben.15 Somit kommt es, im Vergleich zum primär geschilderten Ablauf, zu Änderungen in einigen entscheidenden konstitutiven Teilen der Identität des Betroffenen. Ein anderer Teil der Identität bleibt aber grundsätzlich erhalten: der Körper. Vor allem im visuellen Medium des Films, wo die unterschiedlichen Figurenversionen vom selben Schauspieler gespielt werden, werden diese Versionen somit durch die Kontinuität des Aussehens noch als Varianten einer Identität dargestellt, obwohl sie sich im nicht-visuellen, inneren Bereich in Andere aufgespalten haben.

13

Williamson's The Legion ofTime (1938) sowie De Camps Lest Darkness Fall (1939) sind bahnbrechende Werke der populären Erzählliteratur, die die a posteriori Erschaffung alternativer Welten durch die Einmischung von Zeitreisenden in die Geschichte darstellen, der Plot also, der auch von den Back to the Fuft/re-Filmen verwendet wird. Ein anderer, verwandter Plot der science fiction, der hier nicht weiter besprochen werden kann, entwirft wiederum ein Universum, in dem a priori eine unbegrenzte Zahl von alternativen Geschichtsversionen samt alternativer Persönlichkeitsversionen nebeneinander existiert (z.B. De Camp's The Wheels of If[1940]). Ein verwandtes Phänomen in der postmodernen Erzählliteratur betrifft die Schilderung mehrerer Handlungsabläufe ohne eine Rechtfertigung auf der Plotebene, oder gar mit einem metafiktiven Kommentar des Erzählers (wie z.B. in Fowles's The French Lieutentant's Woman [1969]), die dann eine illusionsstörende Wirkung auf den Rezipienten haben (siehe z.B. die Besprechungen in Waugh 1984, McHale 1987 sowie Wolf 1993); solche postmodernen Experimente dekonstruieren die Plotebene selbst, indem sie die Zahl der Handlungsvarianten multiplizieren; sie erschaffen wiederum selten alternative (d.h. differenzierte) Identitäten für die Figuren in ihren vermehrten Handlungsabläufen und sind somit im Kontext dieses Aufsatzes kaum von Bedeutung. Zur Gesamtentwicklung des Kontrafaktischen vom realistischen Roman bis zur Gattungsvielfalt im 20. Jahrhundert, vgl. Dannenberg 1998, 2000. 14 "All counterfactual conditionals are causal assertions" (Roese/Olson 1995b: 11). 15 Die durch einen Eingriff in der Vergangenheit veränderten Kausalitätsabläufe in den besprochenen Filmen benutzen somit überwiegend eine Darstellung der Kausalität, der Turner (1987: 141) in einer kognitiven Typologie als ,,[c]ausation as action" bzw. „manipulation" bezeichnet.

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

217

2.2. It's a Wonderful Life: Die Rekonstruktion der Vergangenheit durch himmlische Mächte Obwohl It's a Wonderful Life bei seiner Ersterscheinung im Jahre 1946 kein Kassenschlager war, ist er mittlerweile ein Kultfilm der Epoche, der vor allem wegen seiner feelgood- Funktion häufig zur Weihnachtszeit im Fernsehen ausgestrahlt wird. Der Film spielt in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Bedford Falls. Der Held, George Bailey, wird von James Stewart dargestellt. Der Film schildert Georges Biographie als Rückblende: Seine guten Taten als Junge; seine immer wieder frustrierten Wünsche, der Kleinstadt zu entkommen und mehr von der Welt zu sehen; seine verantwortungsvolle und aufopfernde Leitung der kleinen Bausparkasse nach dem Tod seines Vaters; die Ehe mit seiner Frau Mary. Diese Rückblende wird aus himmlischer Perspektive erzählt, wo man sich Sorgen um George macht, denn zum aktuellen Handlungszeitpunkt befindet er sich in einer tiefen Lebenskrise. Ohne sein Verschulden droht die Bausparkasse, von der das finanzielle Schicksal vieler kleiner Leute abhängt, Bankrott zu gehen. Eines Abends beschließt George von einer Brücke zu springen, um seinen Problemen ein Ende zu machen. Bevor er aber diesen Plan ausfuhren kann, wird ein Engel namens Clarence auf die Erde geschickt, um ihm zur Hilfe zu kommen. Clarence reagiert auf Georges Klage, er wünschte, er wäre nie geboren worden, indem er ihn in eine neue Realität transportiert, in der George tatsächlich nie existiert hat: George: "Why am I seeing all these strange things?" Clarence: "Don't you understand, George, it's because you were not born." George: "Well if I wasn't born, who am I?" Clarence: "You're nobody. You have no identity. [...] You've been given a great gift, George, a chance to see what the world would be like without you."

Die kausalen Ereignissequenzen in dieser alternativen Welt sind so rekonstruiert worden, um zu beweisen, was für eine enorme Wirkungskraft George auf seine Umgebung in der primär geschilderten Realität hatte.16 Die Bewohner von Bedford Falls (die George alle erkennt, die aber wiederum ihn nicht erkennen, weil er in dieser alternativen Realität nie geboren wurde) haben aufgrund seines Fehlens in dieser Welt andere, ungünstigere biographische Entwicklungen erfahren und sind deswegen auch andere Menschen mit anderen Lebensläufen und Persönlichkeiten geworden. Georges Mutter ist keine gütige und liebevolle Mutterfigur, sondern eine verbitterte alte Frau; sein Onkel Willy (als erste Version eine joviale wenngleich vergessliche Figur) befindet sich hier seit dem Bankrott der Bausparkasse in einer 16

„Clarence: 'Strange, isn't it? Each man's life touches so many other lives. And when he isn't around it leaves an awfiil hole [...]'."

218

Hilary P. Dannenberg

Irrenanstalt. Georges Frau Mary ist nicht strahlende Ehefrau und Mutter von vier Kindern sondern eine alte Jungfer, die als Bibliothekarin ihr Leben fristet, und Georges Kinder sind nie geboren worden. Auch andere Menschen, deren Leben George in der ersten Realität positiv beeinflusst hat, laufen ihm in dieser Welt in veränderter Form über den Weg: der Apotheker Gower, der ohne Georges Aufmerksamkeit aus Versehen ein Kind vergiftet hätte und in dieser Welt deswegen zwanzig Jahre im Gefängnis saß; der Taxifahrer Ernie Bishop, der sich in dieser Welt kein ordentliches Zuhause leisten konnte und von seiner Frau verlassen wurde. Andere Menschen sind bereits tot: Georges jüngerer Bruder Harry ertrank in dieser Realität schon als Kind, weil George nicht da war, um ihn aus dem Wasser zu ziehen; sogar die ganze Mannschaft eines Transporterschiffs ist hier im Krieg aufgrund der NichtExistenz von George umgekommen. Im kausalen Netzwerk von Beziehungen ist dies geschehen, weil der in der ersten Realität von George gerettete kleine Harry Bailey in dieser Welt später nicht da war, um als erwachsener Pilot diese Menschen im Krieg zu retten. Auch der Ort Bedford Falls selbst ist ganz verwandelt und heißt jetzt Pottersville. Weil George und die kleine Bausparkasse als Gegengewicht in der Stadt nicht präsent waren, um den ärmeren Menschen Darlehen für ein Zuhause zu geben, konnte in dieser Welt der Immobilienhai Potter seine Pläne uneingeschränkt verfolgen; aus der gemütlichen amerikanischen Kleinstadt ist ein schrilles Mini-Las Vegas geworden, und Georges Jugendflamme Violet verdingt sich hier als Prostituierte. Anstelle von ,3ailey Park", der von ihm ins Leben gerufenen Häusersiedlung, findet George hier nur einen Friedhof.17 Von Clarence begleitet, wandelt George mit immer größerer Verzweiflung durch Pottersville und kann nicht so recht begreifen, weshalb ihn die ihm so vertrauten Menschen nicht erkennen wollen. Vorübergehend scheint also diese Version der Realität kein pures kontrafaktisches Gedankenspiel zu sein, sondern besetzt die ontologische Ebene der Aktualität. Zum Schluss aber erfüllt Clarence Georges nun einzigen Wunsch, nämlich nach Hause zu seiner Frau zurückzukehren. George entscheidet sich somit für das Leben, das ihm dank seiner Einsicht in die andere, alternative Welt doch ganz wunderbar erscheint, und findet somit auch mit den ursprünglichen Versionen seiner Frau und seiner Mitmenschen wieder zusammen. Der Film schließt mit einem überschwänglichen happy end. All die Menschen, denen George in seinem Leben geholfen hat, erscheinen in ihren ursprünglichen Identitäten und suchen George auf, weil sie Geld gesammelt haben, um ihm und der Bausparkasse aus der Not zu helfen.

17

„Bedford Falls, the Utopian American town, begins to look like a real contemporary city with all its defects and moral degradation: the violent, vulgar bars; the gambling dens; the roads lit up by too many neon lights; the haunts for men only, lured in by flashy promises of girls" (Zagarrio 1998: 75).

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

219

Zum Schluss des Filmes wird somit die von Clarence einberufene alternative Realität samt ihrer alternativen Figurenversionen wieder in die hypothetische Ebene der Virtualität verabschiedet. Letztendlich wird keine Veränderung in der ontologischen Hierarchie vollzogen. Die alternativen Versionen der Figuren bleiben am Ende virtuelle Andere, die als Mittel zu einer Verherrlichung des status quo, der Familie und des small town life fungieren. Die alternativen Identitäten, die auf der Ebene der Nebenrollen konstruiert wurden, haben den eigentlichen Zweck, die Wirkungskraft des Einzelnen (hier George Bailey) auf das Leben seiner Mitmenschen zu unterstreichen, womit der Film letztendlich das Konzept des Heldentums und die Macht des Individuums untermauert.18 Trotz seiner kurzen Exkursion in eine alternative Realität behält also der Film zum Schluss die ontologischen Hierarchie bei, mit der er auch angefangen hat; die alternative Welt und ihre alternativen Figurenversionen sind nur als virtuelles Gedankenexperiment der himmlischen Mächte zu sehen.19 2.3. Die Konstruktion alternativer Identitäten durch Zeitreisen: die postmoderne Verwirrung der Weltenhierarchie in der Back to the Future-Trilogie Das Spiel mit alternativen Figurenversionen verläuft anders in den Back to the Future-Yihasa. Im Gegensatz zur letztendlich unveränderten Welten- bzw. Identitätenstruktur von It's a Wonderful Life kann die Zemeckis-Trilogie als typisch postmodern gesehen werden, weil sie, entsprechend der Definition der postmodernen Fiktion von Brian McHale (1987), mit dem ontologischen Status von unterschiedlichen Welten jongliert. In dieser Trilogie reist der junge Held Marty McFly (gespielt von Michael J. Fox) mit dem Wissenschaftler Doc Brown, dem Erfinder einer Zeitmaschine, durch mehrere veränderte Versionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die ersten zwei Filme der Trilogie sind hier von größerer Relevanz, da in ihnen mehrere alternativen Realitäten samt alternativer Figurenversionen erschaffen werden. In Back to the Future, dem ersten Film der Trilogie, reist Marty mit Doc aus dem Jahr 1985 zurück ins Jahr 1955 und mischt sich in ein entscheidendes Stadium der 18

„As the dream reveals, people are so weak and vulnerable that without the presence of the hero they would be unable to take care of themselves at all" (Rose 1977: 164); „the entire life of a community, Bedford Falls, depends on George's having lived", „the film presents us with the fantasy of individual power" (Wineapple 1981: 5 u. 7); „George turns out to have been the linchpin, the guardian on whom the entire community depended" (Gordon 1992: 5). 19 Deswegen wird in der Sekundärliteratur diese zweite Welt etwa als „dream sequence" bzw. „conjured vision" (Rose 1977: 164), „daydream" (Zagarrio 1998: 74) oder „dream journey" (Mortimer 1995: 674) bezeichnet; Carney (1986: 416) bezeichnet sie ebenfalls als „dreamland sequence" bzw. als „George's vision of himself as a displaced person, a being with no social identity, no home, no family, no social responsibilities or ties, and no form of communication with those around him."

220

Hilary P. Dannenberg

Lebens- und Persönlichkeitsentwicklung seiner eigenen Eltern ein.20 In der ersten Realität von 1985, die existiert, bevor Marty auf Zeitreisen geht, gehört er einer zerrütteten Familie („a family of nerds and losers", Gordon 1987: 378) an: Sein Vater George ist ein Versager, der von seinem fiesen Chef Biff tyrannisiert wird; seine Mutter ist eine frustrierte, leicht alkoholabhängige Ehefrau; seine Geschwister drohen, denselben Weg zu gehen. Indem Marty nun in einer Schlüsselszene im Jahre 1955 sicherstellt, dass sein Vater in einer entscheidenden körperlichen Auseinandersetzung mit dem jüngeren Biff die Oberhand gewinnt, beeinflusst Marty entscheidend - s o die implizite kausale Argumentation des Filmes- die Entwicklung von George McFlys Selbstwertgefuhl und auch die Einstellung anderer Menschen, vor allem seiner zukünftigen Ehefrau, zu ihm. Als Marty dann am Schluss des Films ins Jahr 1985 zurückkehrt, besitzt dementsprechend sein Vater eine veränderte Persönlichkeit und einen anderen Lebenslauf: Er ist nun ein selbstbewusster Mann und erfolgreicher Schriftsteller, seine Mutter und Geschwister sind ebenfalls Teilhaber am Familienglück und -erfolg. Der Fiesling Biff hat auch eine neue, unterwürfige Persönlichkeit und Rolle: Er wäscht gerade Georges Auto.21 Obgleich Back to the Future im Rahmen seines Zeitreise-Plots eine ähnliche Aussage wie It's A Wonderfiil Life über die potentielle Fähigkeit des Einzelnen macht, die Welt und das Leben anderer Menschen entscheidend zu verändern, ist der Unterschied im Zusammenspiel der Welten und ihrer ontologischen Gewichtung im Vergleich zum früheren Film entscheidend. In Back to the Future dürfen die neuen alternativen Figurenversionen die Identität der alten Versionen ersetzen: Die zweiten Figurenversionen werden dauerhaft aktuell und die alten, ursprünglichen Identitäten werden in den ontologischen Status der Virtualität verbannt. Innerhalb der sich wandelnden Welten- und Identitätskonstellation verschluckt somit die Alterität (die im Nachhinein konzipierten Alternatiwersionen der Figuren) die Identität (die ursprünglichen Versionen). In Back to the Future II geht das Spiel weiter. Die Vergangenheit wird erneut geändert, aber diesmal von Biff. Dadurch wird eine dritte, vollkommen dystopische Version der Gegenwart im Jahre 1985 erschaffen, in der Biff nun Beherrscher eines Machtimperiums ist. Hier beruft sich der Film sogar eindeutig auf Capras It's a Wonderful Life, indem nicht nur Menschen sondern auch die Stadt eine alternative Identität erhält.22 Ähnlich wie George Bailey den verwandelten Stadtkern von 20

21

22

Für eine Besprechung des Films als Umkehrung des Oedipus-Plots siehe Gordon (1987) sowie Ruud (1991). ,,[T]hrough his intervention in family history, Marty has transformed them [his family] from lower middle-class losers to upscale yuppies" (Gordon 1992: 8). Dieser intertextuelle Bezug wird bereits von Gordon (1992: 7) bemerkt: ,3ack to the Future 2 includes one sequence that is an extended homage to It's a Wonderful Life. [...] Hill Valley has been transformed into an infernal ,Pottersville,' complete with sleaze, gambling,

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

221

Pottersville (die schillernde Alternatiwersion zu Bedford Falls) mit Schrecken beschaut, betritt hier Marty das Zentrum einer alternativen Version seiner Heimatstadt Hill Valley, die Biff in eine alptraumartige Metropole voller Spielkasinos und Giftmüllverarbeitungsanlagen verwandelt hat. In dieser Welt trifft Marty nun auf eine dritte Version seiner Mutter, die in diesem Geschichtsablauf von Biff in die Ehe gezwungen wurde, nachdem dieser Martys eigenen Vater auf brutale Art dauerhaft beseitigt hat. Aufgrund ihrer anderen Lebenserfahrung, ihrer Silikonimplantate und ihrer im Alkohol betäubten Verzweiflung stellt sie nun eine noch extremere Verkörperung der ersten Version von Martys Mutter dar, die im ersten Film erfolgreich abgeändert wurde. Gemäß dem Prinzip, dass es ein happy end geben muss, darf aber diese Weltversion nicht die ontologische Herrschaft behalten. Marty und Doc reisen erneut zurück ins Jahr 1955 und verhindern Biffs Eingriff in den Geschichtsverlauf, so dass die vorübergehend aktuelle dystopische Version des Jahres 1985 wieder virtuell wird. Somit wird die zweite Version der Realität, die am Ende vom ersten Back to the Future Film erzeugt wurde, wiederhergestellt. Das Spiel mit den alternativen Identitäten, die vom selben Schauspieler verkörpert werden, wird in Back to the Future II und III auf zwei weitere Arten ausgebaut. Erstens spielen einige Schauspieler, einschließlich Michael J. Fox (der die Rolle von Marty innehat) auch die Rollen ihrer Vor- und Nachfahren in der Vergangenheit bzw. Zukunft. Zweitens treffen Doc, Marty und weitere Figuren aufgrund der zeitlichen Hin- und Herfahrerei mehrmals ihr eigenes früheres Ich, trotz der strengen Warnungen von Doc, eine solche Begegnung könne gegebenenfalls ein dermaßen gewaltiges Zeitparadoxon samt Kettenreaktion auslösen, dass es das ganze Universum vernichten würde. Diese Begegnungen mit dem anderen Ich finden vor allem zum Schluss von Back to the Future II statt, wo sich Doc und Marty erneut in dieselben Szenen im Jahre 1955 einmischen müssen, die bereits im ersten Back to the Future Film als ,erledigt' betrachtet worden waren. In einer solchen Szene ist Doc sogar eben dabei, Marty per Funk vor dieser Gefahr zu warnen, als er selbst im Begriff ist, seinem eigenen früheren Ich über den Weg zu laufen. Hier muss Marty auch darauf achten, nicht die Taten seines früheren zeitreisenden Ichs in Verbindung mit der Auseinandersetzung zwischen Biff und George McFly (die im ersten Back to the Future Film erzählt wurde) zu durchkreuzen; sonst könnte die von Martys früherem Ich eingeführte kausale Ereigniskette, die zur Erschaffung der besseren Alternativ*Version seines Vaters gefuhrt hat, ebenfalls vernichtet werden. Somit entsteht

corruption, economic decline, violent crime, and toxic waste, so that the town now resembles many declining American cities of the 1980s. In Pottersville, George found his home vacant; Marty finds his occupied by a black family [...]. George goes to the cemetery in Pottersville and discovers the grave of his brother; Marty discovers the grave of his father."

222

Hilary P. Dannenberg

vor allem in Back to the Future II auf drei Ebenen ein Wirrwarr von sich verändernden, kreuzenden und konfrontierenden Handlungs- und Identitätsversionen.

3. Identitätsverwandlung

durch Gedächtnismanipulation

in Total Recall

Trotz ihrer unterschiedlichen ontologischen Hierarchien haben die Back to the Future-¥i\ras und It 's a Wonderful Life eine (relativ) zentrale Konstante: Ihre jeweiligen Helden -George Bailey und Marty McFly- erfahren keine Persönlichkeitsveränderungen wie die Figuren in den Nebenrollen.23 In dem Film Total Recall wird auch diese Schwelle überschritten und damit ein weiterer Grad der künstlich konstruierten Identität erreicht. Identitätsveränderung wird hier nicht durch die objektive Rekonstruktion der Vergangenheit und die Erschaffung einer eigenständigen alternativen Welt bewirkt, sondern -gemäß der science-fiction-Prämisse, Gedächtnis und Persönlichkeit eines Menschen seien maschinell veränderbar- durch eine andere, subjektive Manipulation der Vergangenheit innerhalb des menschlichen Geistes. Am Anfang von Total Recall erscheint die Hauptfigur Douglas Quaid (gespielt von Arnold Schwarzenegger) als ein typischer good guy. Auch Quaid selbst glaubt, der Mensch zu sein, der er zu sein scheint, und meint, dass die Informationen in seinem Gedächtnis seiner tatsächlichen Biographie und Lebenserfahrung entsprechen. Es stellt sich aber im Handlungsverlauf heraus, dass Quaids vermeintliche Identität eine künstlich erschaffene ist, die durch eine Gehirnwäsche und ein implantiertes Gedächtnis erzeugt wurde. Sogar die Frau, die mit ihm als seine Ehefrau lebt, ist eine Agentin und Teil einer größeren Verschwörung. Quaid war nicht ursprünglich der Mensch, der er zu sein glaubt: Sein ,echtes' Ich ist ein Schurke namens Häuser, der sich freiwillig zur Gedächtnismanipulation meldete, um sich als „V-Mann" in eine Gruppe von Unabhängigkeitskämpfern auf dem von den Wirtschaftsimperien der Erde ausgebeuteten Planeten Mars einzuschleusen. Die Persönlichkeit von Hauser wurde durch ein falsches Gedächtnis „überschrieben", um Quaid zu erschaffen.24 23

24

George Baileys Darstellung ist am klarsten und beruht auf einer klaren, binären Trennung der Welten: Entweder existiert er als heldenhafte Figur (erste Realität) oder er existiert gar nicht (zweite Realität). Während es ebenfalls keine Alternatiwersion des gegenwärtigen Marty McFly gibt, begegnet Marty aber doch, neben den bereits erwähnten vom selben Schauspieler gemimten Vor- und Nachfahren, einer negativen Zukunftsversion von sich selbst in Back to the Future II. Die Handlung und ästhetische Wirkung von Total Recall ist wesentlich komplizierter als hier angegeben werden kann; der Film gilt als Paradebeispiel postmodemer Filmkunst, gerade wegen seiner „double agendas": „On one level, Total Recall [...] becomes A Schwarzenegger Action Film [...] with the super secret agent who gets the girl, kills the bad guys, saves the whole planet, and so on. On the other hand, this sensationalist Super Hero

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

223

Am Schluss des Filmes kommt es dann zu einer Schlüsselszene, in der wieder die Begegnung mit dem anderen Ich inszeniert wird. Das künstlich hergestellte, aber sympathischere Ich (Quaid) wird mit seiner anderen ursprünglichen und eigentlich , echten' Identität (Hauser) konfrontiert, in dem ihm kurz vor einer beabsichtigten erneuten Gehirnwäsche eine Videobotschaft von seinem ehemaligen Ich vorgespielt wird: Hauser: "Howdy Quaid [...] I knew you wouldn't let me down. Sorry for all that shit I put you through, but hey, what are friends for? I would like to wish you happiness and a long life old buddy, but unfortunately this is not going to happen. You see, that's my body you've got there, and I want it back. Sorry to be an Indian giver, but I was here first. [...] Maybe we'll meet in our dreams, you never know." Hier wird die Konfrontation zwischen einem früheren und einem späteren Ich, die bereits in Back to the Future II durch den Zeitreise-Plot veranstaltet wurde, in Form einer deutlicheren Spaltung der sich mit der Zeit entwickelnden Identitätsversionen gestaltet; denn hier stehen sich die eindeutig gespaltenen und unvereinbaren Versionen derselben Figur in einer feindseligen Begegnung des Ichs mit seiner anderen Version gegenüber.25 Durch das Spiel mit der Echtheit des Gedächtnisses wirft Total Recall den Begriff einer ursprünglichen, singulären Identität vollkommen über Bord. Zum Schluss kann der künstlich erzeugte Quaid dem Versuch einer Rückverwandlung in die alte Identität (Häuser) durch eine erneute Gehirnwäsche gerade noch entkommen (und tale is mocked and undermined through the presence of the conspicuously split subject and the teasing possibility that this entire adventure story is self-delusion, a preposterous dream" (Mizejewski 1993: 26-27). Wie Glass (1990), Palumbo (1991), Mizejewski (1993) und Schmertz (1993) alle darlegen, ist es in der Tat möglich, die Ereignisse auf Mars samt der dort eingeführten alternativen Persönlichkeit von Hauser als Traumvorstellung Quaids zu begreifen. Die Deutung des Films, der ich hier auch folge, lautet aber, dass Quaid sich gerade als heldenhaft beweist, weil es ihm am Schluss gelingt, sich gegen die von den Verschwörern erzählte Wahrheit über seine Identität erfolgreich zu wehren: „Quaid has had to reject narrative itself, and the last image it presented him: his own face and body telling him he is Hauser and all of his actions as Quaid have been predetermined. And the film's narrative must subjugate and contain the most logically and thematically consistent possibility -that we are watching a dream- in favor of a narrative reality that must deny its past in order to continue in the present. [...] the dream plot acts as the other against which the masculine narrative constructs itself, after narrative itself fails to create the subject in a satisfactory fashion" (Schmertz 1993: 39-40). 25 Über seiner Zentralfigur hinaus ist die Welt von Total Recall auch insgesamt mit ambivalenten Figuren mit doppelten bzw. multiplen Identitäten bevölkert: „The position of the female 'other' is also [...] complicated [...]. Melina is a revolutionary as well as a prostitute, and Quaid's wife Lori is a secret agent as well as a housewife. [...] The most conflicted representation is that of Benny, who is, in sequence, inner-city thug, black sidekick, closet mutant/rebel, and henchman for the forces of capitalism" (Schmertz 1993: 37).

224

Hilary P. Dannenberg

somit auch die Marsbewohner von ihren Unteijochem befreien). In einer letzten Konfrontationsszene kann sich Quaid auch gegenüber Cohaagen, dem Kopf der Verschwörung („the treacherous corporate-mdustrialist-imperialist", Mizejewski 1993: 28) und somit gewissermaßen Quaids Erfinder, in seiner neuen Identität verbal behaupten: Cohaagen: "I didn't want it to end this way. I wanted Hauser back. But no, you had to be Quaid." Quaid: "I am Quaid." Damit wird die eigentlich künstliche Persönlichkeit des Helden -die implantierte Alterität- zu seiner echten, dauerhaften Identität: Vermeintliche Alterität wird zur Identität, weil sie die ursprüngliche Identität überschreiben kann. Die fiktiv hergestellte Vergangenheit erschafft eine Identität (Quaid), die sich gegenüber der ursprünglichen Identität (Hauser) behaupten und sie sogar vernichten kann. Total Recall hebt also die Vorstellung einer ursprünglichen, sich allmählich linear entwickelnden einzelnen Identität auf und ersetzt sie mit einer sich radikal verwandelnden Identität, die aus einem Kampf zwischen künstlich hergestellter Alterität und ursprünglicher Identität innerhalb eines menschlichen Körpers konstituiert.

4. Schluss In den besprochenen Filmen ist eine deutliche Progression in den Konstruktionsmethoden und Formen der alternativen Identitätskonstellationen zu verzeichnen. In It's a Wonderful Life bleibt der Held eine Konstante; nur die Nebendarsteller erhalten alternative Identitäten, die dann zum Schluss wieder in das virtuelle Nichts verschwinden. Obwohl der Film in seinem Beispiel der zwei Weltenversionen mit und ohne George Bailey die Rolle der guten menschlichen Taten in der Erschaffung einer menschlichen Gesellschaft (d.h. gewissermaßen die Konstruierbarkeit der Welt durch den Menschen) betont, ist die alternative Welt selbst, die dieses Prinzip veranschaulicht, vom Himmel und nicht vom Menschen konstruiert. In den Back to the Ftt/wre-Filmen wiederum ist der Mensch als Zeitreisender allein an der Konstruktion alternativer Realitäten und Identitäten beteiligt, wobei die von Biff erschaffene dystopische Realität in Back to the Future II die dunkle Seite dieser nun absolut von menschlicher Hand konstruierbaren Welt betont. Darüber hinaus kann bei Zemeckis innerhalb der chaotischen Identitätslandschaft von sich kreuzenden und verzweigenden Figurenversionen der Back to the Future-Trilogie die durch Zeitreisen erschaffene alternative Version einer Figur die ursprünglich existierende Version ersetzen. In Total Recall ist das Konstruierbarkeitsprinzip der Identität durch menschliche Hand in einer heimtückischeren Form vorzufinden. Hier bedarf es nicht, wie in den

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

225

anderen Filmen, eines Eingriffs in die objektive Wirklichkeit und der Herstellung einer neuen, ontologisch getrennten Wirklichkeit, um eine alternative Identität zu erschaffen. In der Welt von Total Recall ist nicht einmal die Vergangenheit samt individueller Identität innerhalb des Kopfes von einer Rekonstruktion durch menschlich-maschinelle Hand sicher. Trotz ihrer Unterschiede hat eine gattungsbestimmte Konstante in allen besprochenen Filmen -der Zwang zum happy end- einen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang und somit auch darauf, welche Figuren und Weltenversionen am Ende aktuell sind, und welche ins virtuelle Nichts verbannt werden. Gemäß diesem Prinzip wird die Version am Ende aktuell, in der das Gute über das Böse siegt, und in der der Held auf dem richtigen Weg bleibt und glücklich wird. In der in diesem Aufsatz verfolgten diachronischen Entwicklung wird aber dieses happy end über eine immer kompliziertere Gestaltung der Identitätsspiele erreicht, die die zunehmende Pluralisierung, Fragmentierung und Enthierarchisierung des Identitätsverständnisses im Wandel der Moderne zur Postmoderne widerspiegeln.26

26

Für ihre hilfreiche Mitarbeit am Manuskript danke ich Jan Alber, Sandra Hestermann und Ulrike Stratmann.

226

Hilary P. Dannenberg

Bibliographie Primärliteratur Back to the Future (1985): Zemeckis, Robert (Regie). Universal Back to the Future Part 7/(1989): Zemeckis, Robert (Regie). Universal Back to the Future Part 7/7(1989): Zemeckis, Robert (Regie): Universal Carney, Raymond (1986): American Vision. The Films of Frank Capra. Cambridge: Cambridge UP De Camp, L. Sprague (1970): „The Wheels of I f , in: ders.: The Wheels of I f . New York: Berkley, S. 5-86 — (1955): Lest Darkness Fall. Melbourne: William Heinemann Defoe, Daniel (1965): Robinson Crusoe. Harmondsworth: Penguin Dick, Philip K. (1994): „We Can Remember It For You Wholesale", in: ders.: We Can Remember It For You Wholesale. The Collected Stories of Philip K. Dick. Band 5. London: Harper Collins, S. 205-227 Fowles, John (1969): The French Lieutenant's Woman. London: Jonathan Cape Kind Hearts and Coronets (1949): Hamer, Robert (Regie). Ealing Hawthorne, Nathaniel (1903): „P.'s Correspondence", in: ders.: Mosses From an Old Manse. 2. Bd., Boston: Houghton, Mifflin & Co, S. 166-194 It's a Wonderful Life (1946): Capra, Frank (Regie). RKO Lawrence, Edmund (1899): It May Happen Yet: A Tale of Bonaparte's Invasion of England. London: Published by the author Total Recall (1990): Verhoeven, Paul (Regie). Carolco Stevenson, Robert Louis (1979): Dr Jekyll and Mr Hyde and Other Stories. Harmondsworth: Penguin Williamson, Jack (1952): The Legion of Time. Reading, Pennsylvania: Fantasy Press Wells, H.G. (1958): „The Time Machine", in: ders.: Selected Short Stories. Harmondsworth: Penguin, S. 7-83

Sekundärliteratur Aristoteles (1979): Poetik. Leipzig: Reclam Assmann, Jan (21997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck Berger, Peter L. und Luckmann, Thomas (51977): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt: Fischer Bremond, Claude (1980): „The Logic of Narrative Possibilities", in: New Literary History Nr. 11.3, S. 387-411 Chambers, Iain (1994): Migrancy, Culture, Identity. London: Routledge Clute, John und Nicholls, Peter (Hg.) (1993): The Encyclopedia Of Science Fiction. London: Orbit Culler, Jonathan (1981): The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, Deconstruction. New York: Cornell UP. Dannenberg, Hilary P. (1998): „Hypertextuality and Multiple World Construction in English and American Narrative Fiction", in: Griem, Julika (Hg.): Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Tübingen: Narr, S. 265-294

Die Konstruktion alternativer Identitäten in Fantasy und Science Fiction

227

— (2000): „Divergent Plot Pattems in Narrative Fiction from Sir Philip Sidney to Peter Ackroyd" in: Reitz, Bernhard und Rieuwerts, Sigrid (Hg.): Anglistentag 1999 Mainz: Proceedings. Trier: WVT (im Druck) Dolezel, Lubomir (1976): „Narrative Modalities", in: Journal of Literary Semantics Nr. 5.1, S. 5-14 — (1988): „Mimesis and Possible Worlds", in: Poetics Today Nr. 9.3, S. 475-496 — (1998): Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore: Johns Hopkins UP Genette, Gérard (1980): Narrative Discourse. Ithaca, NY: Cornell UP Glass, Fred (1990): „Totally Recalling Arnold: Sex and Violence in the New Bad Future", in: Film Quarterly Nr. 44.1, S. 2-13 Goffinan, Erving (71998): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper Gordon, Andrew (1987): ,ßack to the Future: Oedipus as Time Traveller*', in: ScienceFiction Studies Nr. 14, S. 372-385 — (1992): „You'll Never Get out of Bedford Falls! The Inescapable Family in American Science Fiction and Fantasy Films", in: Journal of Popular Film and Television Nr. 20.2, S. 2-8 Heibig, Jörg (1988): Der parahistorische Roman. Ein literaturhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung. Frankfurt: Lang Herrmann, Elisabeth (1998): „Die Fiktion von Nicht-Identität im literarischen Werk Lars Gustafssons", Vortrag an einem Abendkolloquium des SFB 541 an der Universität Freiburg (5. November 1998) Lewis, David (1973): Counterfactuals. Oxford: Blackwell McHale, Brian (1987): Postmodernist Fiction. New York: Methuen Margolin, Uri (1996): „Characters and Their Versions", in: Mihailescu, Calin-Andrei und Hamarneh, Walid: Fiction Updated: Theories of Fictionality, Narratology and Poetics. Toronto: University of Toronto Press, S. 113-132 Mizejewski, Linda (1993): „Total Recoil. The Schwarzenegger Body on Postmodern Mars", in: Post Script Nr. 12.3, S. 25-34 Mortimer, Lorraine (1995): „The Grim Enchantment of It's a Wonderful Life", in: The Massachusetts Review Nr. 36.4, S. 656-686 Palumbo, Donald E. (1991): „'Inspired . . . by Phillip K. Dick': Ambiguity, Deception, and Illusion in Total Recall", in: Journal of the Fantastic in the Arts Nr. 4, S. 69-80 Pfister, Manfred (81994): Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink Pfister, Manfred (Hg.) (1982): Alternative Welten. München: Fink Prince, Gerald (1992): Narrative as Theme. Studies in French Fiction. Lincoln: University of Nebraska Press Rescher, Nicholas (1975): A Theory of Possibility. A Constructivistic and Conceptualistic Account of Possible Individuals and Possible Worlds. Oxford: Blackwell Reynolds, Richard (1994): Super Heroes. A Modern Mythology. Jackson, Miss.: University Press of Mississippi Rodiek, Christoph (1997): Erfundene Vergangenheit: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur. Frankfurt: Klostermann Roese, Neal J.; Olson, James M. (Hg.) (1995a): What Might Have Been. The Social Psychology of Countetfactual Thinking. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum — (1995b): „Counterfactual Thinking: A Critical Overview" in: Roese/Olson 1995a: S. 1-55 Rose, Brian (1977): Jt's A Wonderful Life: The Last Stand of the Capra Hero", in: Journal of Popular Film Nr. 6.2, S. 156-166 Ruud, Jay (1991): ,Jiack to the Future as Quintessential Comedy" in: Literature/Film Quarterly Nr. 19.2, S. 127-133

228

Hilary P. Dannenberg

Ryan, Marie-Laure (1991): Possible Worlds, Artificial Intelligence and Narrative Theory. Bloomington: Indiana UP Schmertz, Johanna (1993): „On Reading the Politics of Total Recall, in: Post Script Nr. 12.3, S. 35-43 Sklovskij, Viktor (1990): Theory of Prose [1929]. Elmwood Park, IL: Dalkey Archive Press Stanzel, Franz K. (1977): „Die Komplementärgeschichte. Entwurf einer leseorientierten Romantheorie", in: Haubrichs, Wolfgang (Hg): Erzählforschung 2. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 240-259 Tetlock, Philip E.; Belkin, Aaron (Hg.) (1996): Counterfactual Thought Experiments in World Politics. Logical, Methodological, and Psychological Perspectives. Princeton, NJ: Princeton UP Turner, Mark (1987): Death is the Mother of Beauty: Mind, Metaphor, Criticism. Chicago: University of Chicago Press Waugh, Patricia (1984): Metafiction. The Theory and Practice of Self-Conscious Fiction. London: Methuen Wineapple, Brenda (1981): „The Production of Character in 'It's a Wonderful Life'", in: Film Criticism Nr. 5.2, S. 4-11 Wolf, Werner (1993): Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. Tübingen: Niemeyer Zagarrio, Vito (1998): „It is (Not) a Wonderful Life: For a Counter-reading of Frank Capra" in: Sklar, Robert; Zagarrio, Vito (Hg.): Frank Capra: Authorship and the Studio System. Philadelphia, PA: Temple University Press, S. 64-94

Annette Paatz (Göttingen)

Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert: Überlegungen zur Revue des Deux Mondes und ihrer Rezeption in Lateinamerika Mariano Felipe Paz Soldán beginnt in der Revista peruana 1879 mit der Realisierung des Projektes einer ,3iblioteca Peruana", die den gesamten Bestand der peruanischen Kulturproduktion dokumentieren soll. Die Zusammenstellung beginnt mit den periodischen Produkten, „porque ellas [las publicaciones periódicas] hacen conocer de un modo palpable el progreso especial de una nación".1 Mit diesem Plädoyer für ein florierendes Zeitschriftenwesen und dessen Bedeutung für den erreichten Zivilisationsgrad einer Gesellschaft ist der erste Themenbereich der folgenden Ausfuhrungen umrissen: Es geht um die Funktion von Medien und medialer Kommunikation im Kontext der kulturellen Identitätsfindung, die im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts nach dem Erlangen der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht als zentrales Anliegen der kreolischen Führungsschichten auszumachen ist. Und so sind auch in der „Biblioteca Peruana" in erster Linie peruanische, außerdem einige weitere lateinamerikanische Publikationen erfasst. Da vermag es zunächst zu verwundern, dass die Pariser Revue des Deux Mondes als einzige europäische Zeitschrift in die Aufzählung integriert erscheint. Die Aufnahme wird mit dem Sonderstatus dieser Zeitschrift legitimiert - ,,[e]sta revista contiene la verdadera historia política, económica y científica contemporánea y del movimiento literario del siglo".2 Dieser Sachverhalt erscheint symptomatisch für eine Eigenheit, die das kulturelle Leben Lateinamerikas über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg bestimmt und die den zweiten Ausgangspunkt meiner Argumentation darstellt: Bei aller Suche nach Eigenständigkeit bleibt die Orientierung an Frankreich als derjenigen Nation, die in der „Alten Welt" für gesellschaftlichen Fortschritt steht. Dabei ergibt sich eine Interdependenz zwischen der Suche nach Eigenem und der Orientierung an Fremdem, die gerade in der medialen Vermittlung über Zeitschriften in eklatanter Weise zutage tritt. Diese Interdependenz gestaltet sich als ein dynamischer Prozess, denn das Verhältnis der neu entstandenen Nationen zu Europa ist ja ein äußerst ambivalentes: Die Kreolenrepubliken des 19. Jahrhunderts sind in ihren gesellschaftlichen Entwürfen gerade durch den Fakt der Abspaltung von der spanischen Kolonialmacht geprägt, bleiben jedoch gleichzeitig ihren europäischen Ursprüngen verhaftet und 1 2

Revista peruana, 1.1, 1879, S. 74. Revista peruana, t. II, 1879, S. 727.

230

Annette Paatz

erstreben eine Reintegration von neuer Qualität, bekanntlich zunächst unter mehr oder weniger kategorischem Ausschluss der indigenen Bevölkerungsgruppen. Das in der ,3iblioteca Peruana" zum Ausdruck kommende Bestreben nach kultureller Institutionalisierung durch ein eigenständiges Zeitschriftenwesen bei gleichzeitiger Assimilation von Teilen eines Mediensystems europäischer Provenienz erweist sich als symptomatisch für die Eingliederung europäischer Diskurse in die lateinamerikanische Realität. Dieser Sachverhalt mag aus ideengeschichtlicher Perspektive nur allzu bekannt erscheinen. Was m.E. jedoch noch nicht in ausreichendem Maße erfolgt ist, ist die Annäherung an diese Interdependenzen aus medientheoretischer Sicht. Dabei ergibt sich eine dynamische Wechselwirkung zwischen der Suche nach Eigenem und der Orientierung an Fremdem, die gerade in der medialen Vermittlung z.B. über Zeitschriften in eklatanter Weise zutage tritt. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, einige zentrale Implikationen von Medialität im Zusammenhang der lateinamerikanisch-europäischen Kulturbeziehungen des 19. Jahrhunderts zur Darstellung zu bringen. Kultur ist -so Werner Faulstich, S.J. Schmidt und viele andere- im Laufe der Geschichte in zunehmendem Maße medial vermittelt, ist zur Medienkultur geworden.3 Die Möglichkeit, sich Gesellschaft als eine kollektive Gemeinschaft vorzustellen, hat durch das über die Druckmedien bereitgestellte kollektive Wissen wichtige Impulse erfahren und auf diese Weise die Prozesse der Nationenbildung entscheidend beeinflusst.4 Gemeinschaften etablieren sich auf der Basis von gemeinsamer Lektüre, der Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses und vor allen Dingen vermittels von medial organisierten Kommunikationsprozessen, die Kultur und Gesellschaft in Beziehung setzen. Für Lateinamerika ist im Übrigen wiederholt darauf hingewiesen worden, dass das Zeitschriftenwesen auch für die Konstitution literarischer Eigenständigkeit umso größere Bedeutung besaß, weil das Druckwesen aufgrund der kolonialen Vergangenheit ausgesprochen defizitär entwickelt war.5 Dass die mediale Vermittlung in diesen Zusammenhängen nicht nur das Mittel zum Zweck darstellt, sondern auch stark konditionierend wirkt, indem sie das dargebotene Material auf eine bestimmte Weise organisiert und strukturiert, ist inzwischen zu einer medientheoretischen Grundthese avanciert. In stärkerem Maße noch ist Medialität konstitutiv, wenn es um grenzüberschreitende Verständigung von Kulturen -als Einzelkulturen, wie sie für den hier interes-

3

4 5

Vgl. Werner Faulstich: Grundwissen Medien, München 1994; Siegfried J. Schmidt: Die Welten der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung, Brauschweig/ Wiesbaden 1996. Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nationen, Frankfurt/M. / New York 1998. Vgl. z.B. Dieter Janik: Die Anfinge einer nationalen literarischen Kultur in Argentinien und Chile: Eine kontrastive Studie auf der Grundlage der frühen Periodika (1800-1830), Tübingen 1995 oder Boyd G. Carter: Historia de la literatura hispanoamericana a través de sus revistas, Mexiko 1968.

Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert

231

sierenden Zeitraum noch anzusetzen sind-, um interkulturelle Kommunikation geht. So erlangt auch der Kulturtransfer im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der massiven Entwicklung des Zeitschriftenwesens eine neue Qualität. Dennoch sind die medialen Bedingungen kultureller Beziehungen bisher wenig beachtet worden. Ebenso wenig existiert bis heute eine theoretisch fundierte historische Zeitschriftenforschung, obwohl zentrale Fragestellungen der Medienwissenschaft auf historisch weiter zurückreichende Epochen durchaus anwendbar sind.6 So können für das 19. Jahrhundert, mit dem die zweite, auf Sekundärmedien zentrierte Periode der Mediengeschichte zum Abschluss kommt, durchaus schon Überlegungen angestellt werden, die sich auf die Technisierung des Kulturbetriebs, auf die Spezifika von medialen Produktions- und Rezeptionsprozessen, kurz auf die mediale Kommunikation als gesellschaftliche Praxis beziehen.7 Im Hinblick auf die funktionale Besonderheit dieses Kommunikationsprozesses ist im hiesigen Zusammenhang die Beobachtung von besonderer Bedeutung, dass sich im Zeitschriftenwesen spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Wendung von autor-orientierten Publikationen zu solchen vollzieht, die an den Erwartungen des Lesepublikums ausgerichtet sind, was erstens im nationalen Zusammenhang einmal mehr die Funktion von Zeitschriften für die Konstitution bürgerlicher Öffentlichkeiten unterstreicht und im hiesigen Kontext dem Bestreben der kreolischen Eliten entspricht, die Bevölkerung über ihre Vorstellungen von Gesellschaft in Kenntnis zu setzen. Im internationalen Zusammenhang verweist diese Publikumsorientierung jedoch zweitens auch auf das Auftreten von Inkongruenzen bei der Verlagerung von Produktions- und Rezeptionsräumen. Hierauf wird in Bezug auf das vorliegende Fallbeispiel zurückzukommen sein. Zunächst einmal ist aber zu fragen, weshalb gerade der Revue des Deux Mondes und mit ihr dem durch sie vertretenen Zeitschriftentypus in Lateinamerika ein so hoher Stellenwert zukommen konnte, wie aus dem Beispiel der „Biblioteca peruana", aber auch aus vielen anderen zeitgenössischen Quellen ersichtlich ist. Die Revue des Deux Mondes entstand 1831 und entwickelte im Laufe der folgenden Jahre

6

Vgl. Hartwig Gebhardt: „Das Interesse an der Pressegeschichte. Zur Wirksamkeit selektiver Wahrnehmung in der Medienhistoriographie" sowie Bodo Rolika, „Perspektiven einer vergleichenden historischen Kommunikationsforschung und ihre Lokalisierung im Rahmen

der Publizistikwissenschaft", beide in: Presse und Geschichte: neue Beiträge zur histori-

7

schen Kommunikationsforschung. München; New York; London; Oxford; Paris 1987, S. 11-19 bzw. S. 413-425. Zur Vernachlässigung der historischen Perspektive trägt sicher bei, dass sich die Medienwissenschaft erst aufgrund der in diesem Jahrhundert erfolgten explosiven Entwicklungen im Medienbereich als eigenständiges Forschungsfeld konstituiert hat. Der Begriff der Sekundärmedien bezieht sich auf eine Stufe der medialen Vermittlung, bei der zur Produktion auf Technologie zurückgegriffen werden muss, die für die Rezeption jedoch nicht benötigt wird - Zeitschriften werden industriell produziert, als Ergebnis dieses Produktionsprozesses jedoch von Individuen ohne Rückgriff auf Technologie rezipiert (vgl. Faulstich 1994: 29-33).

232

Annette Paatz

ihr definitives, über nahezu ein Jahrhundert beibehaltenes Format von ca. fünf längeren Beiträgen und einer am Vorabend des Erscheinens redigierten „Chronique de la Quinzaine". Sie vereinte sowohl Buchbesprechungen als auch Primärliteratur und zwar vornehmlich jener Autoren, die im Frankreich der Juli-Monarchie mit dem Schlagwort „romantisme social" belegt waren. Hinzu kam die „Chronique", die um die Berichterstattung sowohl nationaler als auch internationaler politischer Ereignisse bemüht war. In ihrer dezidiert liberalen Orientierung und in der Kombination eines Angebots an Beiträgen zu sehr unterschiedlichen thematischen Bereichen mit aktueller politischer Information besaß die Revue des Deux Mondes für die kulturellen Eliten der jungen lateinamerikanischen Nationen zweifellos hohe Attraktivität. Hinzu kam die Möglichkeit, die Literatur des Auslandes in der Verkehrssprache Französisch zur Kenntnis zu nehmen. Das Interesse an der Zeitschrift war umso größer, als der Zeitpunkt ihres Erscheinens mit einer Phase verstärkter Aktivitäten zur Konstitution kultureller Eigenständigkeit in Lateinamerika zusammenfiel.8 Die liberale Ausrichtung der Revue des Deux Mondes konnte den Belangen der Kulturschaffenden in idealer Weise entsprechen - man denke nur an die argentinische .Asociación de Mayo" und ihre Begeisterung für das kulturelle Klima der Julimonarchie.9 Politik und Literatur sind ja in der gesellschaftlichen Praxis Lateinamerikas im 19. Jahrhunderts -und bis in die Gegenwart hinein- aufs engste verknüpft, und insofern entspricht gerade die politische wie literarische Orientierung der Revue des Deux Mondes den Bedürüiissen und Interessen ihrer lateinamerikanischen Rezipierten auf ideale Weise. Darüber hinaus steuerte die Programmatik des Titels Revue des Deux Mondes, nämlich der Neuen und der Alten Welt, eine entsprechende funktionale Erwartungs8

9

Vgl. z.B. den argentinischen „Salón literario" (1837) oder die chilenische „Sociedad literaria" (1842). „Nadie hoy es capaz de hacerse una idea del sacudimiento moral que este suceso [la revolución de 1830] produjo en la juventud argentina que cursaba las aulas universitarias. No sé cómo produjo una entrada torrencial de libros y autores que no se había oído mencionar hasta entonces. Las obras de Cousin, de Villemain, de Quinet, Michelet, Jules Janin, Merimée, Nisard, etc., andaban en nuestras manos produciendo una novelería fantástica de ideas y de prédicas sobre escuelas y autores, románticos, clásicos, eclécticos, San Simonianos. Nos arrebatábamos las obras de Víctor Hugo, de Sainte Beuve, las tragedias de Casimir Delavigne, los dramas de Dumas y de Víctor Ducange, George Sand, etc. Fue entonces que pudimos estudiar a Niebuhr y que nuestro espíritu tomó alas hacia que lo que creíamos las alturas. La Revue de Paris, donde todo lo nuevo y trascendental de la literatura francesa de 1830 ensayó sus fuerzas, era buscada como lo más palpitante de nuestros deseos." (Vicente Fidel López: Evocaciones históricas. Prólogo de Andrés M. Carretero. Buenos Aires 1994, S. 29). Die Revue de Paris existierte seit 1829 und war zum Erscheinungszeitpunkt der Revue des Deux Mondes ihre größte Konkurrenz. 1834 wurde sie von François Buloz, dem Herausgeber der Revue des Deux Mondes, übernommen, der sie der Revue des Deux Mondes in qualitativer Hinsicht dezidiert unterordnete und 1845 einstellte, so dass davon auszugehen ist, dass der von López der Revue de Paris zugeschriebene Stellenwert auf die etwas später entstandene Revue des Deux Mondes uneingeschränkt übertragen werden kann.

Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert

233

haltung. Tatsächlich entsprach dieser Titel jedoch keineswegs den Präferenzen des Herausgebers François Buloz, der bis zu seinem Tod 1877 die Geschicke der Revue maßgeblich bestimmte. Er ist lediglich das Relikt aus der Übernahme einer vormals bestehenden Publikation, und ganz im Gegenteil zu dieser vermeintlichen transatlantischen Orientierung sollte sich die Revue des Deux Mondes als eine stark national perspektivierte Zeitschrift erweisen, sowohl als ein Forum für die Literaturproduktion als auch als Ort der Reflexion der politischen Entwicklungen Frankreichs. Die Revue des Deux Mondes bietet damit ein ausgezeichnetes Beispiel für das von Udo Schöning als „romantisches Paradox" bezeichnete Phänomen der nationalen Orientierung bei gleichzeitigem Blick nach außen zur Abgrenzung und damit zur Konsolidierung nationaler Eigenständigkeit.10 Entsprechend verwundert es wenig, dass die Revue des Deux Mondes bisher vornehmlich im Hinblick auf ihren Stellenwert im nationalen Rahmen untersucht worden ist und die ursprüngliche, internationale und transatlantische Programmatik weitgehend ausgespart blieb.11 Die Außenperspektive tritt deutlich hervor, wenn die Revue des Deux Mondes in ihrer spezifischen Eigenart als Medium ins Blickfeld gerät. Dann wird nämlich ersichtlich, dass sich gerade das Format der Revue für den Kulturtransfer in besonderer Weise anbietet. Einerseits sind die Beiträge einer Zeitschrift aktueller als zeitaufwendige Buchproduktionen, andererseits zeichnet sie gegenüber der Tagespresse ein höherer Grad an Reflexion und Analyse aus, bei gleichzeitiger Kontinuität der Informationsübermittlung aufgrund der periodischen -im Falle der Revue des Deux Mondes vierzehntägigen- Erscheinungsweise. Die Subskription garantiert eine kontinuierliche Information, der Kulturtransfer ist nicht länger ein kontingenter, vom Grad der Eigeninitiative abhängiger Prozess, sondern erreicht aufgrund seiner medialen Institutionalisierung ein bisher nicht gekanntes Ausmaß. Metonymisch für die Grande Nation in Lateinamerika steht über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg und relativ unabhängig von den in Frankreich jeweils herrschenden politischen Konstellationen- die Revue des Deux Mondes. Die Revue erfahrt also eine spezifische Funktionszuweisung von Produktionsseite, in Bezug auf die Ausdifferenzierung des medialen Systems wird dem Medium ein spezifischer Ort zugeteilt, für den die internationale Distribution zwingende Voraussetzung ist. Im Falle der Rezeption in Lateinamerika verläuft die Bewegung 10

11

Im Zusammenhang mit den dem Göttinger SFB 529 „Internationalst nationaler Literaturen" zugrundeliegenden Fragestellungen. Vgl. Sonderforschungsbereich 529 „Intemationalität nationaler Literaturen", Georg-August-Universität Göttingen, Forschungsprogramm 1997 -1998 -1999 (Göttingen 1997, S. 258): „Die Romantik ist eine internationale Bewegung mit nationaler Tendenz; denn einerseits hat die Romantik in Bezug auf die Vernetzung eine internationale Dimension, andererseits stellt sie einen Schub fur die Ausprägung des nationalen, wenn nicht nationalistischen Denkens dar." Vgl. v.a. Nelly Furman: La „Revue des deux Mondes" et le romantisme (1831-1848), Genf 1975 sowie Gabrie de Broglie: Histoire politique de la „Revue des Deux Mondes" de 1829 d 1979, Condé-sur-Escaut 1979.

234

Annette Paatz

von Frankreich als einem Land mit vergleichsweise weit fortgeschrittener medialer Infrastruktur zu einem Subkontinent, wo diese nur rudimentär vorhanden ist -von der Metropole Paris in die verschiedenen kulturellen Zentren Lateinamerikas wie Lima, Mexiko, Buenos Aires, Caracas, Santiago oder Valparaiso- überall hier waren Subskriptionsstellen angesiedelt. Diese Einseitigkeit des Kommunikationsflusses hat relativ schwerwiegende Folgen für die lateinamerikanischen Vorstellungen von kultureller Eigenständigkeit. Den kreolischen Eliten ging es nämlich keineswegs um die bloße Rezeption dessen, was jenseits des Atlantiks im Gespräch war. Wiewohl sie sich ein gewisses Maß an kultureller Hilfestellung erhofften, waren sie sich durchaus bewusst, dass sie sich an einem Neuanfang befanden und von daher in ihrer kulturellen Entwicklung den Ländern der Alten Welt noch um einiges nachstanden. Dieses Inferioritätsbewusstsein zeichnete sich aber vor allen Dingen durch ein hohes Maß an Optimismus und Vertrauen in die zukünftige Entwicklung aus, so dass so etwas wie eine grundsätzliche kulturelle Kompetenz nie in Abrede gestellt wurde. Daraus folgt auch ein Bemühen um Gegenseitigkeit im Hinblick auf die interkulturellen Beziehungen zu Europa, das sich schon sehr früh etwa in den Bestrebungen äußerte, Beiträge lateinamerikanischer Autoren und lateinamerikanische Literatur in europäischen Medien zu platzieren. Sería conveniente enviar a Francia traducciones fieles de los mejores artículos del Nacional y hacer la historia de este diario, como representante de la generación joven. - Su estilo, sus ideas, sus tendencias, las fuentes en que bebe, todo, todo es europeo y por consiguiente despertaría hondas simpatías. - Debe a más escribir unos artículos sobre la Literatura de nuestra generación argentina y mostrar que es hija de la Literatura de Francia. Nada más natural, un pueblo joven que de sus antepasados nada aprendió, llegó a ser viril y buscó modelos y los encontró bellos, generosos, exaltados en una Nación simpática para todo corazón generoso, porque fué valiente en la pelea, preclara en las ciencias y amena en la Literatura: [...] Confesarlo con la franqueza que se confiesa la verdad - no por vano placer de la Francia, sino para que como generosa cual la suponemos, nos quiera como a hijos, pero hijos emancipados y que debemos y queremos vivir de nuestra propia vida y substancia. - En fin, amigo, trabajar para que después de la crisis actual, se abra una ancha vía de comunicación intelectual entre este rincón del mundo y la Capital de la civilización.12

Abgesehen von der Unterstreichung des medialen Aspekts für die kulturelle Entwicklung in diesem 1839 von Juan María Gutiérrez an Juan Bautista Alberdi gerichteten Brief findet sich hier das Verhältnis zu Frankreich als einer Mentorin für Lateinamerika wie der Wunsch nach der Gegenseitigkeit der Kommunikation bestätigt. Kulturleistung wurde also nicht als hegemoniales Privileg betrachtet, sondern als ein grundlegender Bestandteil jeglicher gesellschaftlichen Praxis. Von der lateinamerikanischen Rezeptionsseite aus gesehen lässt dies auf eine spezifische Moti12

Juan María Gutiérrez: Epistolario, Ed. de Ernesto Morales, Buenos Aires 1942, S. 33.

Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert

235

viertheit schließen, auf eine Rezeptionserwartung, in der das eigene Kulturschaffen seinen Niederschlag in der Revue des Deux Mondes findet. Ein Blick auf die Gesamtheit der im 19. Jahrhundert in der Revue erschienenen Beiträge zu Lateinamerika macht aber vor allem die oben schon erwähnte Publikumsorientierung des Blattes deutlich, die -nach dem Titel einer Untersuchung von Jochen Heymann zu Mexiko in der Revue des Deux Mondes- , »Amerika für Jedermann" im Programm hatte und stark stereotypisierend in der Tradition exotisierender Reisebeschreibungen berichtete.13 Tatsächlich ist die Anzahl der Beiträge, die sich mit lateinamerikanischen Publikationen als Ausdruck von kultureller Aktivität oder gar mit Literatur im engeren Sinne auseinandersetzen, verschwindend gering.14 Es überwiegen exotisierende Sittenschilderungen, die auf die Erwartungshaltungen des französischen Publikums abgestimmt sind. Zudem wird das Material stark literarisiert, und zwar bis zu dem Extrem, dass in der Kategorisierung der Registerbände Reiseberichte und fiktive Genreszenen französischer Autoren in der Rubrik „Ethnographie/Voyages" gleichwertig nebeneinander stehen.15 Das Interesse an lateinamerikanischer Kulturleistung ist verschwindend gering, der gesamte Subkontinent erscheint in der Hauptsache als von der Kolonialmacht herrührenden, mittelalterlichen Strukturen und politischem Chaos geprägt.16 Die Assimilation der Revue des Deux Mondes im kulturellen System Lateinamerikas kann sich also kaum auf respektvollen Umgang in ihrer Berichterstattung gründen. Und dennoch wurden die einschlägigen Arbeiten der Revue in Lateinamerika mit Interesse aufgenommen und nicht selten übersetzt und separat publiziert. Die Lateinamerikaner waren offensichtlich bereit, den ihnen zugewiesenen Platz im kulturellen System Europas einzunehmen. Sie akzeptierten die Funktionszuweisung des , »Anderen" im Kontext einer eurozentrischen Kulturkonzeption, solange ihnen prinzipiell das Erreichen ihres formulierten Zieles der kulturellen Angleichung nicht in Abrede gestellt wurde. Von einem eigenen, qualitativ begrün13

Vgl. Jochen Heymann: „Amerika für Jedermann: Reiseberichte über Lateinamerika in der Revue des Deux Mondes (1830-1876)", in: Walther L. Bernecker; Gertrut Krömer (Hg.): Die Wiederentdeckung Lateinamerikas: die Erfahrung des Subkontinents in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Vervuert 1997, S. 353-375. 14 In der Kategorie „Literatur" findet sich fur den Zeitraum 1831-1874 nur ein einziger Beitrag, lind dieser besteht aus der Rezension der in Paris erschienenen Ensayos biográficos y de crítica literaria von José Maria Torres Caicedo: Elisée Reclus, „La poésie et les poètes dans l'Amérique espagnole", 15. Februar 1864, S. 902-929. Vgl. Revue des Deux Mondes, Table Générale 1831-1874, Paris 1875, S. 476. 15 Vgl. „Table Générale 1831-1874", S. 472-476. Die Literarisierung des Materials steht auch im Zentrum der Ausführungen Heymanns zu Mexiko, und sie bestätigt sich nach meinen Beobachtungen für den gesamten lateinamerikanischen Raum. 16 Vgl. ausführlicher zu diesen Befunden Annette Paatz: „Aspekte medialen Kulturtransfers im 19. Jahrhundert: Zur Positionierung der Revue des Deux Mondes im kulturellen Feld Lateinamerikas", in: Manfred Engelbert; Udo Schöning (Hg.): Internationalität von Literatur und Film (im Druck).

236

Annette Paatz

deten oder sogar dynamisierten Alteritätsbewusstsein, wie es sich im Verlauf des folgenden Jahrhunderts konstituieren sollte, ist hier noch nichts zu spüren. Der Rezeptionsprozess wird durch diese kulturellen Differenzen offensichtlich nicht behindert; die publikumsorientierte mediale Aufbereitung wird mitgedacht, ohne dass die nationale Perspektivierung dem Prestige der Revue des Deux Mondes in Lateinamerika abträglich gewesen wäre. Ausschlaggebend für die Attraktivität der Zeitschrift sind offenbar vor allem pragmatische Zusammenhänge. Entscheidend erscheint der Umstand, dass Lateinamerika schlichtweg auf alle Art von Informationszufuhr angewiesen war, egal wie tendenziös die Darstellung auch ausgefallen sein mag. So ist davon auszugehen, dass die Revue des Deux Mondes in Lateinamerika durchaus noch Informationsmaterial über die gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Subkontinent bereitzustellen vermochte, über die man im eigenen Land nicht verfugte, und dass sie diese Informationen vor allem weitgehend flächendeckend verbreiten konnte. Über die Revue des Deux Mondes und die Drehscheibe Frankreich wurde die kontinentale Rezeption lateinamerikanischer Inhalte gesichert, aber auch die von Übersetzungen aus ausländischen Literaturen - so wurde etwa der Nordamerikaner Bret Harte nach Mariano Latorre in den 1870er Jahren über die Übersetzungen in der Revue des Deux Mondes in Lateinamerika zur Kenntnis genommen.17 Deshalb erklärt sich die Notwendigkeit der Einbindimg eines medialen Monolithen wie der Revue des Deux Mondes in das kulturelle System des lateinamerikanischen Subkontinents, dessen Informationsbedarf auf diese Weise ungleich besser gedeckt werden konnte. Diese pragmatischen Zusammenhänge sind auch für die aus lateinamerikanischer Perspektive höhere und anzustrebende Qualitätsstufe des Kulturtransfers, die Aufnahme lateinamerikanischer Produktionen in der Revue des Deux Mondes, in Anschlag zu bringen. Aufgrund der benannten Drehscheibenfunktion gewährleistete die Beachtung in der Metropole eine pan-lateinamerikanische Verständigung, denn die entscheidende Problematik besteht ja darin, dass die autochthonen Zeitschriften über lange Zeit isoliert standen. Um diesen Sachverhalt wusste der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento sehr genau, als er bei seiner Europareise im Jahre 1846 alles daran setzte, eine Rezension seines ein Jahr zuvor als Feuilleton des chilenischen Progreso erschienenen Facundo in der Revue des Deux Mondes zu platzieren. Nach

17

Vgl. Mariano Latorre: ,Algunas preguntas que no me han hecho sobre el criollismo" (1955), in: José Promis, Testimonios y documentos de la literatura chilena (1842-1975), Santiago de Chile 1977, S. 244-263. Latorre irrt sich wohl in der Annahme, die Revue des Deux Mondes habe Bret Harte ins Spanische übersetzt, genau wie seine Ausführungen zu den Einflüssen Bret Hartes in Sarmientos Facundo chronologisch nicht möglich sind, da Bret Harte erst 1836 geboren wurde. Dennoch sind seine Ausführungen ein sprechender Beleg für die Assimilation der Revue des Deux Mondes im kulturellen System Lateinamerikas.

Medialität und Kulturtransfer im 19. Jahrhundert

237

einigen Mühen gelang ihm dies auch, und nur so war eine kontinentale Rezeption des Facundo möglich geworden. Den Prestigegewinn durch die Beachtung in der Revue des Deux Mondes dokumentiert überdies, dass die Übersetzung des Beitrages in die zweite Auflage des Facundo integriert erscheint, obwohl der Autor Charles de Mazade, dessen Kenntnisse über die lateinamerikanischen Verhältnisse über das durch Sarmiento vermittelte nicht hinausreichten, die gesellschaftlichen Verhältnisse Lateinamerikas im Vorspann zu seiner Besprechung wenig schmeichelhaft zur Darstellung bringt und -wiederum in Entsprechung zum französischen Erwartungshorizont- das costumbristische Element stark favorisiert.18 Die Rezeptionsperspektiven, die sich durch das Verbreitungsmedium Revue des Deux Mondes eröffneten, haben offensichtlich ein stärkeres Gewicht als die mit der Aufnahme verbundenen medialen Konditionierungen der dargebotenen Information. Die Kenntnisnahme eines literarischen Textes in Verbindung mit der Gewährleistung seiner Distribution erwirkt einen Kanonisierungseffekt, der im Übrigen ein weiteres distinktives Merkmal der Funktionalisierung medialer Kommunikation ausmacht. Das Zeitschriftenwesen des 19. Jahrhunderts erlangt von daher eine medienhistorische Schlüsselposition im Zusammenhang von Pressewesen und Literaturbetrieb.19 Was ist abschließend und generalisierend aus dem dargestellten Beispiel in Bezug auf eine „Medientheorie der Alterität" zu schließen? Es sollte deutlich geworden sein, dass der Kulturtransfer gerade durch die medialen Möglichkeiten ganz entscheidende Akzentuierungen erfährt. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die in der Revue des Deux Mondes medialisierte lateinamerikanische Wirklichkeitserfahrung in ihrer Rückwirkung auf dem Subkontinent offensichtlich lediglich eine Perspektivierung perpetuierte, mit der sich die lateinamerikanischen Kulturschaffenden grundsätzlich konfrontiert sahen: Alterität in Form von kultureller Inferiorität wird akzeptiert, so lange damit nicht die Möglichkeit an kultureller Partizipation grundsätzlich verweigert wird. Zur Kompensation dieses Sachverhalts ist die Rezeption des dargebotenen Materials bei der Verlagerung des Publikums vom ursprünglichen Zielpublikum in einen anderen Kulturkreis durch einen Konstruktionscharakter geprägt, der die eigenen lebensweltlichen Bedingungen zum medial aufbereiteten Material in Beziehung setzt. In der Auseinandersetzung mit der attribuierten kulturellen Alterität bietet sich durchaus auch eine Möglichkeit der Positionierung, die im Lateinamerika des 19. Jahrhundert in der Regel mit einer zukunftsorientierten Perspektive kulturellen Fortschritts vollzogen wird. Medientheoretisch gesehen ergibt sich also auch in diesem Zusammenhang eine Infragestellung der eindimensionalen Konditionierung des Massenpublikums durch den medialen Prozess und 18

Die zweite Auflage erscheint 1851 in Santiago de Chile, Imp. de J. Beiini Compañía. Der Beitrag in der Revue des Deux Mondes lautet: „De l'Américanisme et des Républiques du Sud", 15. November 1846 (Charles de Mazade). 19 Vgl. Schmidt 1996: 79-94.

238

Annette Paatz

damit eine Neubewertung von Massenkommunikation, in der Faktoren wie kognitive Autonomie und sozialer Abgleich zentral stehen.20 Denn auch wenn die Rezipientenschicht in Frankreich und ungleich stärker in Lateinamerika im 19. Jahrhundert insgesamt noch relativ begrenzt erscheint, so zeichnet sich doch eine klare Tendenz der Ausweitung der Rezeption und der Publikumsorientierung ab, die für die Entwicklung des Zeitschriftenwesens konstitutiv war und im lateinamerikanischen Zusammenhang einen herausragenden Stellenwert in den gesellschaftlichen Projekten der kreolischen Eliten innehatte. Dennoch steht die Asymmetrie der beschriebenen Kommunikationssituation außer Zweifel, so dass in Anlehnung an Kriener von einer transkulturellen Kommunikationssituation zu sprechen wäre. Interkulturelle Kommunikation (in engem Sinne) würde demgegenüber vorliegen, wenn sowohl die produzierende als auch die rezipierende Seite aktiv am Kommunikationsprozess partizipieren könnten.21 Diese Möglichkeit der medialen Partizipation in der Form der Zugänglichkeit zur Bereitstellung von Kommunikationsangeboten erwies sich aber für die lateinamerikanischen Kulturschaffenden ebenso unmöglich wie für die Vielzahl der „informationsarmen" Länder in der Aktualität. Im aktuellen Nord-Süd-Gefalle mit seinem Kommunikationsmonopol in den industrialisierten Ländern bewegt sich Massenkommunikation nur in eine Richtung, ohne dass sich ein ausgeglichenes Kommunikationsverhältnis ergeben könnte, in dem beide Beteiligten sowohl Objekt als auch Subjekt der Darstellung sein könnten. Mein Beispiel zeigt nun, dass sich in dieser Hinsicht seit dem 19. Jahrhundert offensichtlich nicht allzu viel verändert hat, denn gerade das Ignorieren des lateinamerikanischen Subkontinents als Produzent von Kultur hat ja die Berichterstattung in der Revue des Deux Mondes deutlich geprägt. Trotz des lateinamerikanischen Bewusstseins über die Notwendigkeit der transatlantischen Kenntnisnahme und des Bemühens um Partizipation in einem medial organisierten Kommunikationsprozess bleibt Lateinamerika das , »Andere" in einem eurozentrischen Kulturverständnis. Dennoch hat sich gezeigt, dass dieses Ungleichgewicht in der lateinamerikanischen Rezeption durch den pragmatischen Umgang mit den hegemonialen Strukturen wichtige Relativierungen erfuhr und die institutionellen Vorteile des europäischen Mediensystems überaus nutzbringend eingesetzt werden konnten.

20

21

Vgl. Markus Kriener: „Kommunikative Identität. Zur Vielfalt und Einheit kultureller Kommunikation", in Markus Kriener; Miriam Meckel (Hg.): Internationale Kommunikation, Opladen: Westdt. Verlag 1996, S. 201-212. Vgl. Kriener 1996: 202 in Anlehnung an Reimann.

Charles Feitosa (Rio de Janeiro)

Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit Einführung In letzter Zeit gab es heftige Debatten in Brasilien über die Strategien der Publikumseroberung, die von den Fernsehkanälen praktiziert werden. In verschiedenen Live-Sendungen wird alles das, was hässlich, grotesk oder bizarr ist (von deformierten Menschen bis zu allen möglichen Naturaberrationen), hemmungslos dargestellt und vom Publikum lustvoll konsumiert. Woher kommt diese Faszination für das Hässliche, die den Erfolg solcher sensationalistischen Sendungen garantiert? Welche ist die Funktion des Grotesken in Massenmedien? Was gibt es im Hässlichen, das uns zugleich abstößt und anzieht? Ein sinnvoller Einblick in diesen Fragenbereich kann erst durch die Einbeziehung der Gedanken über die Hässlichkeit in der Ästhetik ermöglicht werden. Hässlichkeit in der Ästhetik klingt zunächst widersprüchlich. Es gab in der Geschichte aber vielerlei Ansätze, Ästhetik und Hässlichkeit zu verbinden. In einer ersten Annäherung möchte ich daher die von mir als „traditionell" bezeichneten Ansätze zur Ästhetik des Hässlichen analysieren, d.h. diejenigen, die das Hässliche als das Andere des Schönen, als sein Ausbleiben oder seine Verneinung begreifen. Hässlichkeit erscheint in diesem Kontext als etwas, das verbessert oder verdrängt werden muss.

1. Das Hässliche als das Andere des Schönen Die Frage nach dem Hässlichen. - Worin besteht die Hässlichkeit des Hässlichen? Das Hässliche hat verschiedene Abstufungen, es kann Lachen, Übelkeit oder Ekel hervorrufen. Etymologisch ist das deutsche Wort Hässlichkeit mit „Hass" verwandt. Das portugiesische Wort feiüra entspringt dem lateinischen foeditas, das so viel wie „Schmutz" oder „Schande" heißt. Auf Französisch bezieht sich laideur auf das lateinische Verb laedere, das „verletzen" bedeutet. Warum schämen wir uns angesichts des Hässlichen? Was furchten oder hassen wir an ihm? Was ist an dem Hässlichen, das uns so verletzt? Das Hässliche scheint eine Art Gewalt gegen die Sinne zu sein. Aber die Hässlichkeit ist eine Art Unlust, die sich nur gegen die am höchsten entwickelten Sinne -Sehen und Hören- zu richten scheint. Ein deformiertes Gesicht greift unse-

240

Charles Feitosa

ren Blick an, eine akustische Dissonanz verletzt unsere Ohren. Es gibt auch Dinge, die unsere Tast-, Geschmacks- oder Geruchssinne (aufgrund ihrer Passivität als so genannte unterentwickelte Sinne bezeichnet) beleidigen, man kann aber nicht sagen, dass es sich dabei um eine Kränkung der ästhetischen Art handelt. Der Geruch des verwesenden Fleisches ist abstoßend, aber nicht hässlich. So wie das Schöne, scheint es auch, dass das Hässliche sich erst den höheren Sinnen offenbart, denjenigen, die angeblich dem Geist und der Rationalität näher sind, weil sie ein größeres Ausmaß an Erkenntnis zugänglich machen. Wäre dann also die Hässlichkeit eine nicht nur gegen die Sinne, sondern auch gegen unsere Fähigkeit bzw. Notwendigkeit, Sinn zu suchen oder herzustellen, gerichtete Gewalt? Sollte die Hässlichkeit eine Aggression gegen die Gedanken oder gegen das Gewissen sein? Die Moral der Hässlichkeit. - Traditionell ist das Hässliche das, was übrig bleibt, wenn das Schöne nicht mehr da ist. Wenn Schönheit mit Harmonie und Proportion verbunden wird, dann wird die Hässlichkeit mit Deformation und Unangemessenheit assoziiert. Wenn Schönheit der Glanz der Ordnung und des Gleichgewichts ist, so ist die Hässlichkeit die Marke des Chaos und des Übermaßes. Wenn das Schöne auf der Seite des Wahren und des Guten steht, ist das Hässliche auf der Seite des Falschen und des Bösen. Solche Dichotomisierungen beinhalten ein Misstrauen, eine Anklage gegen das Hässliche, die von moralischen Wertungen durchzogen werden. Der häufigste Vorwurf ist, dass die Hässlichkeit unmittelbarer Reflex von Verhaltensabweichungen sei. Homer beschreibt in der Ilias die Figur des Thersites als den hässlichsten Teilnehmer der Belagerung Trojas: „schielend, hinkend, Höcker, Glatze" {Ilias II: 217-219). Diese Hässlichkeit wäre der sinnliche Ausdruck seiner unfrommen Haltung den Göttern gegenüber, sie zeuge von seinem unedlen Charakter. Wenn die griechische Kultur durch das Ideal des kalos-kagathos getragen wurde, das heißt, durch die Korrespondenz zwischen Tugend und Schönheit, so spricht alles dafür, dass es auch das nicht ausgesprochene Ideal des kakos-kaischros gab. Das Wort existiert in Wirklichkeit nicht, es setzt sich aus kakos (dt.: schlecht oder böse) und aischros (dt.: hässlich) zusammen. Damit soll eine notwendige Verbindung zwischen Hässlichkeit und Bosheit angedeutet werden. Piaton hat Homer mehrmals getadelt, weil er die Schönheit der Götter und Heroen nicht angemessen darstellte. In verschiedenen Passagen behauptet er, dass eine Verwandtschaft zwischen dem Mangel an Grazie, Rhythmus oder Harmonie und den schlechten Sitten oder dem bösen Gerede besteht (vgl. Politeia 111,40 la; Gorgias 470e). In anderen Stellen ist Piaton noch radikaler, indem er andeutet, dass die Hässlichkeit nicht nur ein Zeichen der moralischen, sondern auch der ontologischen Unvollkommenheit ist. In Hippias Maior (289a) spielt er darauf an, dass die Menschen im Vergleich mit den Göttern hässlich seien, dass aber andererseits der schönste Affe im Vergleich zum Menschen hässlich sei. Die Hässlichkeit gilt hier indirekt als Indikator der jeweiligen Seinsmodi. Die menschliche Hässlichkeit war

Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit

241

für Piaton als Zeichen des Einbruchs der Irrationalität auszulegen, als sinnliches Merkmal des Verlusts des Ichs. Ein Mensch im Rauschzustand oder im Affekt oder aber ein verrückter Mensch hat verstellte und verzerrte Gesichtszüge. Indirekt wurde das Hässliche allgemein mit dem Barbaren und dem Fremden identifiziert, also mit allem, was sich nicht den Regeln der polis anpasste. Wenn jedoch Piaton das griechische Ideal der kalokagathia (und seine Umkehrung) auch akzeptierte, so tat er es doch auf ganz eigentümliche, in sein System integrierte Weise. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Hauptfigur seiner Dialoge für ihre körperliche Unattraktivität berühmt war? Wie ist es möglich, dass der hässliche Sokrates seine Schüler anleitet, die Wahrnehmung der absoluten Schönheit zu erreichen? Nach Nietzsche wirkte die extreme Hässlichkeit Sokrates' auf die Griechen abstoßend.1 Für Piaton ist es dagegen gerade der Widerspruch zwischen geistiger Schönheit und körperlicher Hässlichkeit der Sokrates zur vollendeten Verkörperung seiner Philosophie macht. Sokrates Hässlichkeit fungiert symbolisch als exemplarische Darstellung seiner Loslösung oder Verachtung für das Reich des Scheins. Durch die Hässlichkeit Sokrates' wird der sinnliche Anschein selbst in seiner Seinsberechtigung in Frage gestellt. Diese Anspielung auf Sokrates' Hässlichkeit fuhrt uns zu einem Aspekt, den ich für noch radikaler als die moralischer Verurteilung halte: Die traditionellen Vorbehalte gegen das Hässliche hängen vor allem mit seiner intimen Verbindung mit der Dimension des Sinnlichen zusammen. Einer der Gründe, weswegen die Kunst seit Piaton auf eine untergeordnete Ebene verwiesen wurde, ist die enge Verbindung zwischen dem Schönen und dem Sinnlichen. Ich möchte zeigen, dass die Verbindung zwischen dem Hässlichen und dem Sinnlichen noch ursprünglicher und ansteckender ist, und dass dies das Hässliche unerträglich macht. Sinnliche Aspekte des Hässlichen. - Der erste Aspekt bezieht sich auf die materielle Natur des Kunstwerks. Es gibt ein ebenso traditionelles wie fragliches Prinzip in der Ästhetik, das besagt, dass das Kunstwerk nur unfreiwillig hässlich sein kann, das heißt, wenn der Künstler das von ihm verwendete Material (z.B. Farben oder Töne) nicht vollendet formen kann. Die Hässlichkeit des Kunstwerks würde demnach einem gewissen Widerstand des Materials gegen seine Verformung entspringen. Dieser Mangel an Form -oder dieses Übermaß an Materie- wäre aus traditioneller Sicht ein Zeichen des Unvermögens des Geistes, die Rohheit oder die Grausamkeit des Sinnlichen zu bearbeiten, zu vermenschlichen und zu domestizieren. Ein anderer, noch interessanterer Aspekt ist, dass die Hässlichkeit auch über die Sinnlichkeit mit dem Erotischen verbunden ist. Der Anblick des sexuellen Vergnügens ist laut Piaton gleichzeitig der angenehmste und der hässlichste, so hässlich, 1

Vgl. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, in: Kritische Studienausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, V. 6, Berlin: dtv 1988, S. 68.

242

Charles Feitosa

dass die Menschen dazu neigen, sich während des Sexualaktes zu verbergen (vgl. Hippias Maior, 299a). Angefangen beim biblischen Mythos der Vertreibung aus dem Paradies bis zur paradoxen umgangssprachlichen Bezeichnung der Genitalien als Schamteile scheint niemand an der Hässlichkeit der Sexualorgane zu zweifeln. Die durch den Geschlechtsverkehr heraufbeschworene Hässlichkeit, das, was uns daran verletzt, ist die Gefahr, das menschliche Antlitz zu verlieren, die Gefahr sich in etwas Animalisches oder Monströses zu verwandeln. Freud stellte die These auf, dass der Begriff der Schönheit ursprünglich mit dem sexuellen Reiz verbunden war, aber durch die Tatsache verwirrt wurde, dass der Anblick der Sexualorgane zwiespältige Gefühle hervorrief. Einerseits Erregung, aber andererseits eine Aversion, die durch die den Geschlechtsteilen angeblich innewohnende Hässlichkeit hervorgerufen wurde.2 Außerdem lässt Freud anklingen, dass lediglich der erigierte Penis als schön bezeichnet werden kann. Es ist jedoch einem vereinfachenden Gedankengang, der in den weiblichen Genitalien die Essenz des Weiblichen sieht, zu misstrauen: dass das Passive, Begrenzte, Unvollständige auch das Hässliche sei, das darauf warte, durch das männliche Prinzip der Schönheit und Perfektion ausgefüllt zu werden. Falls die Hässlichkeit etwas mit dem Weiblichen gemeinsam haben sollte, dann nur die Tatsache, dass beide so lange durch eine ebenso logo-, wie phallo- und kalozentrische (durch die Herrschaft der Vernunft, des Männlichen und des Schönen bestimmte) Tradition ignoriert, ausgeschlossen und unterdrückt wurden. Das Hässliche und das Weibliche haben etwas gemeinsam: Beide leisten Widerstand gegen die Versuche, sie zu begreifen und diese Unbegreifbarkeit wird als Bedrohung verstanden. Eine tiefergehende Analyse der traditionellen ästhetischen Anschauungen des Hässlichen, also derjenigen, die es als das Andere des Schönen begreifen, würde vielleicht zeigen, dass unser Widerwillen in Wahrheit von unserer allgemeinen Unfähigkeit herrührt, mit dem Anderen umzugehen, sei es in der Form des Barbarischen oder Fremden, sei es als das Irrationale, Weibliche, Sinnliche. Falls Hegel in seiner Vorlesungen über die Ästhetik Recht haben sollte, wo er die Lust am Schönen als ein narzisstisches Vergnügen des Geistes definiert, als Lust des Menschen, sich sowohl in der Kunst als auch in der Natur reflektiert zu sehen,3 dann hat das Unbehagen am Hässlichen seinen Ursprung eben in der Konfrontation mit dem Unterschiedlichen, dem Anderen, dem Fremden. Es gibt noch einen dritten -für mich der wichtigste- Aspekt des Zusammentreffens von Hässlichkeit und Sinnlichem. Dabei handelt es sich um die Dimension des Vergänglichen. Die Zeit hinterlässt ihre Spuren auf der Haut der Dinge, der Körper und Gesichter. Die Hässlichkeit scheint unwiderstehlich aus dem Prozess des Älterwerdens, des körperlichen Verfalls, der Beugung des Körpers, unter seinem eigenen 2

3

Siehe Freud: „Sexualleben", in: Studienausgabe, V.5, Frankfurt/M.: Fischer 1972; hier: S. 66, Anm. 2. Vgl. Hegel: Ästhetik, Bd. I, hrsg. von. F. Bassenge, Berlin: Aufbau Verlag 1976; hier: S. 14.

Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit

243

Gewicht aufzutauchen. Diese Hässlichkeit dringt in uns ein und entschleiert auf gewalttätige und ungezügelte Weise unsere Endlichkeit. In letzter Instanz ruft das Hässliche unseren Widerwillen hervor, weil es unsere essentielle Wunde, unsere Sterblichkeit berührt. Der verwesende Kadaver ist abstoßend, weil er uns mitleidlos an unsere Zukunft und unsere Gegenwart erinnert. Der Widerwillen gegen das Hässliche wird aus unserem heroischen Widerstand gegen das Schicksal geboren und ernährt. Auch wenn wir, um mit Heidegger zu sprechen, Sein zum Tod sind, so leben wir doch zumeist und zunächst auch gegen den Tod, das heißt, wir versuchen permanent, uns unserem Ende zu entziehen. Die traditionelle Ästhetik verlangt, dass die Kunst alles, was uns auf der Welt bedroht, unter Kontrolle bringt. Diese Kontrolle wird über eine Verschönerung der Realität verwirklicht, eine Eliminierung des Hässlichen durch die Schaffung einer glänzenden Oberfläche, die uns vor dem dunklen Abgrund der Existenz und seiner absoluten Sinnlosigkeit bewahrt. Aber was wäre nun eine veränderte Ästhetik des Hässlichen? Ist es möglich, das Hässliche jenseits seiner Opposition zum Schönen zu denken?

2. Das Hässliche im Dienst des Schönen So lange sie der geistigen Erbauung diente, war die Hässlichkeit in der Kunst immer erlaubt und wurde auch eingesetzt: In christlicher Zeit war die Darstellung der Leiden Christi ein Mittel, den Glauben zu stützen. Genauso hatte jedes mittelalterliche Bestiarium sowie die verschiedensten Monster, Wasserspeier und Dämonen an den Kirchenwänden die Funktion, an die stetige Bedrohung durch das Böse auf der Welt zu erinnern. Manchmal hatte die Hässlichkeit die Aufgabe, den absoluten Wert der Schönheit hervorzuheben: Der Kontrast zwischen der Hässlichkeit eines Judas Ischarioth und der Schönheit Christi war ein weiterer Kunstgriff, um die Überlegenheit des Guten über das Böse zu beweisen.4 Außer der christlichen Aneignung der Hässlichkeit müssen noch einige weitere offensichtliche Versuche, das Hässliche für das Gute arbeiten zu lassen, erwähnt werden. Unter den wichtigsten Beispielen befindet sich das Vorwort Victor Hugos zu seinem historischen Drama Cromwell (1827), in dem er eine Art Liebeserklärung an das Groteske und an die Hässlichkeit macht. Hugo zufolge trägt die echte Harmonie die Idee der Totalität in sich und das Ganze ergibt sich aus der Verschmelzung der Gegensätze. Der Künstler ist nur dann wirklich frei, wenn er zur Kenntnis nimmt, dass das Hässliche neben dem Schönen besteht, das Unförmige neben dem 4

Obwohl Jesus in den biblischen Schriften als Gestalt ohne Anmut beschrieben wird (vgl. Jesaia, 53:2), wird die christliche Vorstellungswelt durch die Tendenz der Verbindung des Göttlichen mit der sinnlichen Perfektion dominiert.

244

Charles Feitosa

Anmutigen, dass das Groteske neben dem Erhabenen angesiedelt ist, das Böse neben dem Guten, der Schatten neben dem Licht. In diesem Kontext ist das Hässliche nicht nur eine ästhetische, sondern eine kosmische Kategorie. Baudelaire ist ebenfalls von der Hässlichkeit fasziniert. In seinem berühmten Gedicht Une Charogne (dt.: „Ein Aas") zeichnet er das Bild eines verwesenden Kadavers, der von Fliegen, Larven und Würmern vertilgt wird, in absolut perfekten Versen nach. In Wirklichkeit wollte Baudelaire die Hässlichkeit der Welt in Kunst verwandeln. Trotz seines Lobs des Hässlichen gibt er in keinem Augenblick die Ideale der klassischen Schönheit auf, was durch die schrankenlose Korrektheit seiner Verse in Bezug auf die Kriterien von Harmonie und Rhythmus der traditionellen Metrik gezeigt wird. Nicht nur die Kunst scheint im 19. Jahrhundert das ästhetische Potential der Hässlichkeit zu entdecken, sondern auch die Philosophie. Karl Rosenkranz veröffentlicht 1853 ein Werk, das sich Ästhetik des Hässlichen nennt. Rosenkranz argumentiert, dass eine dialektische Ästhetik nicht nur die Schönheit, sondern auch ihre Umkehrung, die Hässlichkeit, zur Kenntnis nehmen muss. Von der These der Untrennbarkeit von Schönheit und Hässlichkeit ausgehend, präsentiert er uns eine erschöpfende Analyse der Verkörperungen der Hässlichkeit nach den Kategorien der Asymmetrie, der Fehlerhaftigkeit und der Deformation in der Natur, im menschlichen Körper und in den einzelnen Künsten. Er folgert, dass das Hässliche nicht einfach das Gegenteil des Schönen ist, sondern in Wirklichkeit ein Teilmoment der Idee des Schönen, eine Etappe im eigentlichen Prozess der Konstitution des Schönen, auch wenn es sich dabei um eine zu überwindende Etappe handelt. Auch in dieser kursorischen Erwähnung von Hugo, Baudelaire und Rosenkranz (denen wir noch Edgar Allan Poe, Rimbaud und Oscar Wilde hinzufügen könnten) kann bemerkt werden, dass die Versuche der Rehabilitation des Hässlichen in irgendeiner Form mit dem Einbruch der Moderne assoziiert sind. Es ist, als ob die Modernen die Sensibilität für das klassische Schönheitsideal verloren hätten, dessen Fähigkeit zu überraschen und Enthusiasmus hervorzurufen erschöpft schien. Hegel sieht in dieser Unfähigkeit des zeitgenössischen Geistes, sich mit dem Schönen zufriedenzustellen ein Indiz des eigentlichen Endes der Kunst: „Die Kunst ist ein Vergangenes" sagt er in seiner Ästhetik (S. 22) provozierend. Es mussten neue Wege gefunden werden. Anstatt das Hässliche als das Andere des Schönen anzusehen, sieht die moderne Ästhetik in ihm eine andere Art der Schönheit, eine Schönheit, die noch in der Lage ist, die durch die Tradition betäubten Augen und Ohren zu beeindrucken. Der gewöhnlich zu zahlende Preis für die Integration des Hässlichen in die Ästhetik, die sowohl von Hugo, als auch von Baudelaire oder Rosenkranz vollzogen wurde, ist seine Abschwächung. Das Hässliche verliert sein Gift, es wird domestiziert, es wird lebendig begraben in einer totalisierenden und totalitären Idee der Schönheit. Die große Herausforderung ist zu prüfen, ob die Ästhetik nicht nur die Schemata der Tradition umkehren, sondern sich aus ihnen herausdrehen kann. Ist es möglich, die Hässlichkeit als solche zu erfahren? Wie kann das Hässliche jenseits

Kehrseitige Ästhetik: die Frage nach der Hässlichkeit

245

seiner Beziehung zum Schönen gedacht und erfahren werden, nicht mehr als Mangel oder Opposition, sondern jenseits sowohl seines Ausschlusses als auch seiner Einbeziehung in das Territorium des Begriffs?

3. Ästhetik jenseits des Schönen und des Hässlichen Wir müssen unserem Bedürfiiis nach Schönheit und unserer Aversion gegen die Hässlichkeit misstrauen. Reflektiert die Lust an der Schönheit nicht eine unhinterfragte Tendenz zur Sicherheit, zur Stabilität, zur Ordnung? Ist unser Widerwille gegen das Hässliche nicht ein Symptom unserer Furcht vor dem Tod, unserer Unfähigkeit mit dem Vergänglichen umzugehen, unserer Schwierigkeit, die Endlichkeit der Existenz anzuerkennen? Eine veränderte Ästhetik sollte die Erfahrung der Hässlichkeit als solcher zulassen, das heißt, sie lässt das Hässliche sein, was es ist. Weder schließt sie es aus, noch integriert sie es, aber sie stellt es dar. Eine veränderte Ästhetik könnte die Hässlichkeit des Realen aufdecken. Nicht die Hässlichkeit der sozialen Ungerechtigkeit, wie Adorno es sieht, sondern die Hässlichkeit der Existenz, das absolute Unvermögen, sie zu rechtfertigen. Die Aufdeckung des Hässlichen will nicht etwas zu Überwindendes offen legen, sondern etwas ausstellen, das zur Kenntnis genommen werden muss. Das Hässliche kann uns nicht nur lehren, den Anderen als etwas Eigenständiges zu erkennen, sondern vor allem sich selbst als Anderen zu erkennen (ein subtiler, aber wichtiger Unterschied). Es scheint mir, als ob einige Bilder von Edward Münch und Francis Bacon sowie Bücher wie Der Ekel von J. P. Sartre oder A paixäo segundo G.H. von Ciarice Lispector zeitgenössische Beispiele für eine solche veränderte Ästhetik sind. In einer heideggerschen Sprache ausgedrückt, ermöglichen diese Werke ein eigentliches Verstehen unseres Wesens, sie entschleiern die Endlichkeit, die uns und unsere Welt konstituiert. Diese Werke lösen einen Rausch aus, der uns in einen Bereich jenseits des Schönen und Hässlichen befördert. Wir leben in einer Zeit, die keine normativen Formen der Ästhetik mehr kennt, da Schönheit und Hässlichkeit ihre paradigmatischen Funktionen eingebüßt haben. Dieses Fehlen von Werten ist zwiespältig, es muss gleichzeitig gefeiert und hinterfragt werden. Denn auf der einen Seite entzieht es jeder Form des ästhetischen oder politischen Autoritarismus die Legitimation.5 Aber der Verfall der ästhetischen

5

Es ist wichtig daraufhinzuweisen, dass vielleicht die einzige Form der normativen Ästhetik in unserem Jahrhundert der Nationalsozialismus war. Das nationalsozialistische Projekt sollte eine Verschönerung der Welt, ihre Reinigung, die Erlösung aus ihrer Unreinheiten werden, ihre Hässlichkeit sollte ausgelöscht werden. Sollte die nationalsozialistische Barbarei letztlich nicht lediglich die letzte Konsequenz aus der traditionellen Metaphysik, die das Gute, Schöne und Wahre vereint, gezogen haben? Als Lektion bleibt schließlich, dass die

246

Charles Feitosa

Werte kann auch als Verlust beklagt werden. Unsere Zeit leidet weniger an einer Insensibilität für das Schöne als an einer Insensibilität für das Hässliche. In der Ära der technischen Vervielfältigungmöglichkeiten der Kultur, in der Kunst ein Massenkonsumartikel wird, ist es nicht die Fähigkeit zur Befriedigung, die sich erschöpft, sondern die Fähigkeit zur Unzufriedenheit, die sich dem Ende zuneigt. Das zeitgenössische Bedürfnis nach Zufriedensein ist total und totalisierend, es wendet sich gierig an alles und deshalb kann sogar das nackte Hässliche uns Lust bereiten. Man amüsiert sich ohne Ende und ohne Grenze. Die Superexponierung des Hässlichen, Grotesken oder Bizarren durch die Massenmedien trägt daher zu ihrer Banalisierung bei. Vielleicht wäre eine ökologische Bewegung zur Bewahrung der Hässlichkeit vonnöten, eine Re-Sensibilisierung des Blicks gegen die herrschende Anästhesie.

Hässlichkeit unwiderruflich zur Welt gehört und dass ihre Reinigung nur als Zerstörung vollzogen werden kann.

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.)

Die intermediale Passage der Gattungen* „Die Gattungen sind Kategorien in Bewegung..." (Oscar Steimberg, Semiötica de los medios masivos)

Vorbemerkungen Die Versuche des 20. Jh., den Gattungen eine Dimension der Stabilität zu verleihen -so subtil sie auch gewesen sein mögen-, sie haben vor allem zur Entwertung des Begriffs der Gattung beigetragen. Der Grund hierfür ist anscheinend einfach: Die Gattungen widersetzen sich allen Versuchen, nach stabilen Kategorien geordnet zu werden; sie scheinen den Ordnungen, die sich nach Identitäten und Differenzen richten, nicht anzugehören. Der Wahnsinn der Ordnimg der Gattungen leuchtet in der konfliktiven Frage auf: Zu welcher Gattung gehören die Gattungen? Für eine so beschaffene Frage kann es keine Antwort geben, die definitiv oder definitorisch wäre, insofern sie eine Gattung postulieren würde, die sich selbst berücksichtigen müsste -il sonne le glas du glas-, nichtsdestoweniger ist es die kulturelle Praxis, die uns tagtäglich mit solchen Konflikten konfrontiert und die uns auferlegt, auf diese Konflikte Antworten zu geben, auch wenn diese notwendig provisorisch und approximativ ausfallen müssen. Das Internet beispielsweise ist ein Medium, das uns in der kulturellen Praxis mit beschleunigten Gattungsbewegungen konfrontiert. Es hat sich seit seiner Entstehung nicht nur mit Texten und Bildern gefüllt, sondern auch mit einer Vielzahl von Gattungen, die von irgendwoher gekommen sein müssen. Und von woher sollten sie gekommen sein, wenn nicht von anderen Medien? Also nicht nur Texte und Bilder können von einem Medium zum anderen passieren sondern auch Gattungen - was wir im Folgenden als Gattungspassage auffassen. Gattungsbezeichnungen feiern im Internet sogar fröhliche Urständ - nicht zuletzt auf den Seiten der Suchmaschinen. Gerade dann, wenn wir nicht genau wissen, wonach wir suchen, helfen uns thematische Übersichten weiter, also jene vorsortierten Treffer-Rubriken, die Suchmaschinen in der Regel zu Verfügung stellen. Auch wenn beispielsweise Google die zusammengestellten Kategorien als „Themen" und „Verzeichnisse" bezeichnet, so Der vorliegende Aufsatz ist eine Fortschreibung des im Jahr 2000 entstandenen spanischsprachigen Beitrags „El pasaje intermedial de los géneros" (Michael/Schäffauer 2004a) unter Berücksichtigung einer bereits überarbeiteten portugiesischen Version (Michael/Schäffauer 2002).

248

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

kann man in ihrer Anordnung doch eine simple Taxonomie erkennen, mit der das Universum des Internets in gattungsartige Bereiche aufgeteilt wird. Die Dynamik des Internets legt nahe, dass die Ordnung der Gattungen auf radikale Weise am instabilen Wesen jeglicher Kultur partizipiert. Unser Blick auf die Gattungen kann sich daher nicht damit begnügen, auf den Spuren des flâneur Walter Benjamin zurückzuwandeln zu jenen passages parisiens zu Beginn des 20. Jh., auch wenn dort im Glanz der in Schaufenstern ausgestellten Warengattungen sich das historische Gesicht der Epoche unverhüllter zu zeigen schien als in der Gegenwartskunst. Obschon beschauliche Vitrinen, wie sie beispielsweise im Tango Cambalache siglo XX besungen werden, auch heute noch fortbestehen mögen, so spiegeln unsere postmodernen Passagen im Schaufensterglas nicht nur die Bewegung des flâneur wider, sondern auch diejenige der Gattungen und Medien, die dazu dienen, sie wahrzunehmen: Durch die Scheibe wird der Passant beispielsweise die Warengattung eines Monitors erkennen, in welchem er sich selbst sehen kann -sowohl im Monitor als auch im Widerschein der Scheibe-, in einen Abgrund der Repräsentationen stürzend, in welchem die Passage und der Passant passieren. Und er wird vielleicht entdecken, dass die Passage längst kein gewöhnlicher Duchgang mehr ist, da sie einem unumkehrbaren Übergang zum Opfer fiel und nun stattdessen eine querliegende Passage eröffnet: diejenige der Gattungen durch die Medien. Über die Gattungen zu schreiben, entpuppte sich für uns demnach auch als ein Problem, über Passagen innerhalb von Kultur zu schreiben.1 Wir nahmen uns vor, durch diese Passagen, in denen Kulturgeschichte und Repräsentation ineinanderfließen, zu flanieren und dabei die Gattungstheorie in Augenschein zu nehmen. Das Revue-passieren-Lassen wurde zu einer Herausforderung, uns den Paradigmenwechseln der Theorie auszusetzen, die von den Forderungen nach Ordnungen von Identität und Differenz reichen bis hin zu Ansätzen, das Problem der Gattungen im Kontext der Alterität aufzuwerfen. In diesem Durchgang streifen wir Vorschläge der wissenschaftlichen Exaktheit und stoßen auf die Suche nach einer Andersheit der lateinamerikanischen Literatur. Wir folgten den Versuchen, eine nicht-generische Literatur zu entwerfen und Differenzen zu bezeugen, welche die Gattungen mit ihren Passagen hervorrufen. Des Weiteren halten wir einen Moment an der Schwelle jener Ambivalenz inne, die darin besteht, zu verhüllen und zu enthüllen, wie die Gattung paradoxerweise die Identität des Textes repräsentiert und wie sie sich widersetzt. Die intergenerische Dynamik verweist uns zurück auf die Geschichte mit ihren Brüchen, einschließlich der Transpositionen in andere Medien. Der letzte Schritt markiert einen Satz ins Unsichtbare der Medialität und hüllt uns ein in den epistemologischen Übergang, der durch die Zäsur der digitalen Medien bedingt ist. 1

Ausgehend von Intertexten des Passagenwerkes von Walter Benjamin und der Erzählung ,31 otro cielo" von Julio Cortázar zeigt Francisco Foot Hardmann in einem raumzeitlichen Durchgang durch die brasilianische Literatur verschiedene transitorische Dimensionen des Begriffes „Passage" auf (vgl. Foot Hardmann 2001).

Die intermediale Passage der Gattungen

249

Der Durchgang beabsichtigt demnach die Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Gattungen zu lenken: die Bewegung durch die vorübergehenden Zwischenräume zwischen den Medien hindurch, in welchen sich die Kultur konfiguriert und rekonfiguriert.

1. Die Gattungen in der Moderne Es fallt nicht schwer, sich davon zu überzeugen, dass die Blütezeit des Strukturalismus in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Hochkonjunktur für Untersuchungen über literarische Gattungen geführt hat. Diese Beobachtung trifft ebenso auch auf die lateinamerikanische Kritik zu.2 In einer rückwärtsgewandten Perspektive kann man nichtsdestoweniger behaupten, dass der wichtigste Beitrag aus dem Kontext des russischen Formalismus entstammt. Seine Bedeutung kam im Westen auf überaus späte und indirekte Weise zur Geltung, infolge seiner Rezeption durch Theoretiker wie Tzvetan Todorov, der seinerseits eine wichtige Rolle in der späteren Diskussion der literarischen Gattungen einnahm. Einschließlich für die Rezeptionsästhetik kann man beobachten, wie etwa Hans-Robert Jauss auf Begriffe des russischen Formalismus zurückgreift, um die Funktion der literarischen Gattung als „Erwartungshorizont" zu bestimmen.3 Viele der Schlüsselfragen, welche die Diskussion der Gattungen in den 70er Jahren bestimmt haben, finden sich bereits im Werk von Michail Bachtin angelegt: die Diskursgattungen Todorovs erscheinen bereits in Bachtins Essay „Les genres du discours";4 die Intertextualität Kristevas in seinem Begriff der Dialogizität;5 und der Jausssche Erwartungshorizont in seinem Argument eines „Vorausahnens der Gattung".6 Doch die Bedeutung Bachtins für die Gattungstheorie geht über diejenige eines einfachen Vorläufers weit hinaus. Aus unserer Sicht wäre anzuerkennen, dass Bachtin eine Gattungstheorie entwickelt hat, die auf den sprachlichen Äußerungen aufbaut, um die schöpferische Dimension der Gattungen zu erfassen. Aus diesem Grund scheint es uns symptomatisch zu sein, wie sein Beitrag für die Gattungstheorie von einer Kritik übergangen wird, die sich von den historischen Schlacken 2

3

4 5 6

Als Beleg hierfür könnte man einige der bedeutendsten Repräsentanten der Gattungstheorie anführen wie z.B. Wellek/Warren 1966, Hernadi 1972, Hempfer 1973, Todorov 1978, Genette 1979 auf der einen Seite und Ghiano 1951/61, Moisés 1967, Garasa 1969, Coutinho 1976, Lins 1980, Costa Lima 1983, Soorensen Goodrich 1986 und Merquior 1987 auf der anderen. „Awareness of genres builts up certain expectations" (Mukarovskij [1929] apud Winner 1978: 257). Vgl. Todorov 1978 und Bachtin 1984 [=„Le problème des genres du discours", 1952/53], Vgl. Kristeva 1969 und Bachtin 1970 [1963], Vgl. Jauss 1967 und „pressentir le genre", Bachtin 1984: 285.

250

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

der Gattungen mit dem Ziel befreien möchte, eine nationale' Theorie zu erarbeiten, die sich auf typologischen Strukturen stützt. Es ist genaugenommen die historischdialogische Dimension der Gattungstheorie von Bachtin, die wir wiederaufnehmen möchten im Hinblick auf die Passage der Gattungen in die Postmoderne. Michael Holquist bemerkt beispielsweise richtig, dass Bachtin sowohl den Dualismus zwischen gesprochener und literarischer Sprache des russischen Formalismus überwunden habe (mit Hilfe der Unterscheidung in primäre und sekundäre Gattungen) als auch die Dichotomie zwischen lartgue und parole von Ferdinand de Saussure (mit Hilfe einer Theorie der Äußerungen). Er beachtet dabei aber nicht, dass der gesamte Ansatz auf einer Gattungstheorie gründet (vgl. Holquist 1986: xv-xvi).7 Bachtins Begriffe Polyphonie, Karnevalisierung und Dialogizität gewannen die Aufmerksamkeit deijeniger, die sich der Theorie der Intertextualität zuwandten, jedoch auf Kosten der Gattungen. Sogar Todorov tendiert dazu, obschon er Bachtin für den bedeutendsten Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts hält,8 die Rolle der Gattungen in dessen Werk zu schmälern. In seinem Bachtin-Buch beschränkt er die Funktion der Gattungen auf die Literaturgeschichte: die Gattungen nehmen lediglich ein Unterkapitel innerhalb eines Kapitels über die Literaturgeschichte ein, obwohl Todorov zugleich anerkennt, dass für Bachtin die Gattung der Schlüsselbegriff der Literaturgeschichte ist.9 Und als ob dies noch nicht ausreiche, erscheint in seinem Text ein weiteres Paradox, wenn er besagtes Unterkapitel mit einem Zitat von Bachtin beginnen lässt, dessen theoretische Implikationen weit über die Literaturgeschichte hinausgeht: „Die Poetik sollte genaugenommen von der Gattung ausgehen".10 Man beachte demnach, dass für Bachtin die Gattung der grundlegende Begriff der Translinguistik ist -und nicht nur einer ihrer Begriffe, wie Todorov be-

7

Ein weiteres Beispiel ist Huerta Calvo, der Bachtin zwar erwähnt wegen „der brillantesten Reflexion über Gattungen innerhalb des kritisch-literarischen Denkens unseres Jahrhunderts" (orig.: „la reflexión más brillante sobre los géneros dentro del pensamiento críticoliterario de nuestro siglo", Huerta Calvo 1984: 102), jedoch ohne zu erklären, worin die Bedeutung dieses Beitrages besteht. 8 „le plus grand théoricien de la littérature au XXe siècle" (Todorov 1981: 7). 9 Todorov behauptet, „die Gattungen stellen in der Tat eine konstante Beschäftigung im Denken Bachtins dar und repräsentieren für ihn den Schlüsselbegriff der Literaturgeschichte" (orig.: „les genres constituent en effet une préocupation constante de la pensée Bakhtinienne et représentent pour elle le concept clé de l'histoire littéraire" (Todorov 1981: 123 f.). 10 „La poétique doit partir précisément du genre" (Bachtin apud Todorov 1981: 123). Bachtin kritisiert mit diesen Worten den russischen Formalismus nicht nur deswegen, weil er von der poetischen Sprache ausging, sondern auch, weil er zu den Gattungen erst am Ende gelangte, ohne zu bemerken, dass „die Gattung die typische Gesamtheit der künstlerischen Äußerung ist, eine vitale Gesamtheit, ein abgeschlossenes und gelöstes Ganzes" (orig.: „Genre is the typical totality of the artistic utterance, and a vital totality, a finished and resolved whole", Bachtin/Medvedev 1978: 129). - Im vorliegenden Aufsatz stammen die Übersetzungen, soweit nicht anders hervorgehoben, von den Verfassern.

Die intermediale Passage der Gattungen

251

hauptet11-, insofern ,jede Sphäre des Sprachgebrauchs ihre relativ stabilen Typen von Äußerungen hervorbringt, und das ist es, was wir mit Diskursgattungen bezeichnen."12 Dieses Interesse für die Gattungen des Diskurses war nicht nur eine Konstante im Werk Bachtins, sondern drückt sich auch in einem umfassenden Projekt aus, mit dem sich dieser in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens beschäftigte. Dieses unvollendete Projekt bestand darin, ein Buch über ,Die Diskursgattungen' zu verfassen, welches sich lediglich in Form einer Vorstudie des Titels „Le problème des genres du discours" niederschlug, die in der französischen Version von „Les genres du discours" aufgenommen ist.13 Wir können nicht wissen, wie der genaue Inhalt dieses unvollendeten Buches gelautet hätte, auch wenn wir genauso wenig behaupten können, wir besäßen davon lediglich „eine kurze Skizze" (Todorov 1981:124). Noch viel weniger dürfen wir die Vermutung anstellen, Todorov habe die Lücke, welche das unvollendete Werk hinterlassen hat, mit seinem eigenen Buch zu schließen versucht, welches den gleichlautenden Titel trägt, Les genres du discours (1978). Die gesuchte Gattungstheorie findet sich nämlich in besagtem Essay Bachtins und in verschiedenen anderen Abschnitten seines Werks.14 Der grundlegenden These von Bachtins „Les genres du discours" zufolge wird die Sprache immer in konkreten Äußerungen realisiert, welche die Sprecher notwendig mittels Diskursgattungen artikulieren. Die Äußerung als Basiskategorie aller Bereiche der Linguistik und der Philologie entpuppt sich deswegen als Problem der unendlichen Diversität der Gattungen.15 Bachtin bezieht sich mit diesen Äußerungs11

„Le genre est l'une des notions fondamentales de la translinguistique, de cette discipline que étudie les formes stables, non individuelles, du discours" (Todorov 1981: 123). Insgesamt ist zu bemerken, dass der Begriff der Translinguistik, den Todorov Bachtin zuschreibt, der interpretierenden Übersetzung des russischen Terminus „metalingvistika" entspricht, vermutlich beeinflusst durch Kristeva (vgl. Todorov 1981: 42 u. Kristeva 1969: 149). 12 Bachtin 1984: 265: „chaque sphère d'utilisation de la langue élabore ses types relativement stables d'énnoncés, et c'est ce que nous appelons les genres du discours". 13 Wir übersetzen und zitieren im Folgenden aus der französischen Übersetzung (vgl. Bachtin 1984); es existieren des Weiteren spanische und englische Versionen (vgl. Bachtin 1982 u. 1986). 14 So z.B. im Kapitel „Characteristics of Genre and Plot Composition in Dostoevsky's Works" von Problems of Dostoevsky's Poetics (Bachtin 1984) oder in den Untertiteln „The Problem of Genre" und „A Criticism of the Formalist Theory of Genre" von The Formal Method in Literary Scholarship (Bachtin 1978). 15 „Reichtum und Varietät der Diskursgattungen sind unendlich, da die virtuelle Varietät menschlicher Aktivitäten unerschöpflich ist und eine jede Sphäre dieser Aktivitäten ihr eigenes Repertoire an Diskursgattungen mit sich bringt, welches sich ausdifferenziert und erweitert im selben Maße, wie die gegebene Sphäre sich weiterentwickelt und komplexer wird" (orig.: „La richesse et la variété des genres du discours sont infinies car la variété virtuelle de l'activité humaine est inépuisable et chaque sphère de cette activité comporte un répertoire des genres du discours qui va se différenciant et s'amplifiant à mesure que se développe et se complexifie la sphère donnée", Bachtin 1984: 265).

252

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

akten sowohl auf den spontanen verbalen Austausch (,,Primärgattungen") als auch auf den komplexen kulturellen Austausch künstlerischer, wissenschaftlicher oder soziopolitischer Natur („Sekundärgattungen").16 Die komplexen Gattungen entstehen, insofern sie sekundäre Gattungen sind, aus der evolutiven Vereinnahmung der primären oder einfachen Gattungen. Deshalb überleben die kulturellen und literarischen Traditionen in den komplexen Gattungen nach Art eines „kreativen Gedächtnisses",17 welches seine generische Vergangenheit in der literarischen Evolution bewahrt: Die kulturellen und literarischen Traditionen (einschließlich der ältesten) bewahren sich und leben fort, aber weder im subjektiven Gedächtnis des Individuums, noch in einer kollektiven Psyche, sondern in den objektiven Formen der Kultur selbst (einschließlich ihrer sprachlichen und diskursiven Formen); in diesem Sinne sind sie intersubjektiv und interindividuell (und folglich sozial).18 Diese Auffassimg der Gattung als kollektives Gedächtnis könnte sich als eine produktive Quelle für Studien erweisen, die das kulturelle Gedächtnis untersuchen. Sie bietet zudem den Vorteil, die kollektive Instanz zu präzisieren, in der die kulturelle Kompetenz enthalten ist und sich herausbildet.19 Wie wir gesehen haben, fand die kulturhistorische Dimension der Gattung gemäß der Auffassung Bachtins in der strukturalistischen Lektüre Todorovs keinen Widerhall. In der Tat vernachlässigen die Strukturalisten die Äußerung, wenn sie sich auf die langue als abstraktes sprachliches System konzentrieren. In der Folge neigen sie dazu, die Gattungen als Phänomene der Äußerung beiseite zu lassen und in ihren theoretischen Modellen durch klassifikatorische Begriffe zu ersetzen, die auf abstrakten Kriterien beruhen. Todorov schlägt beispielsweise vor, zwischen „historischen" und „theoretischen" Gattungen zu unterscheiden, um auf der Grundlage von strukturellen Merkmalen der letzteren eine „Typologie des Diskurses" zu

16

Nur scheinbar handelt es sich hier um eine parallele Unterscheidung zu den einfachen und komplexen Formen von André Jolies (41968) [1930]. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Jolies die einfachen Formen als anthropologische Invarianten betrachtet, wohingegen Bachtin auch die primären Gattungen als „Übertragungsketten" von der Sozialgeschichte zur Sprachgeschichte betrachtet (vgl. Bachtin 1984: 271). 17 „Le genre est le représentant de la mémoire créatrice dans le processus de l'évolution littéraire" (Bachtin apud Todorov 1981: 130). 18 „Les traditions culturelles et littéraires (y compris les plus anciennes) se préservent et vivent, non pas dans la mémoire subjective de l'individu, ni dans une 'psyché' collective, mais dans les formes objectives de la culture elle même (y compris dans les formes linguistiques et discursives); en ce sens, elles sont intersubjectives et interindividuelles (par conséquent sociales)" (Bachtin apud Todorov 1981: 131). 19 Die Erforschung des kulturellen Gedächtnisses ging dazu über, auch die Medien miteinzuschließen (vgl. Assmann 1992 und insbesondere 1994), nicht aber den Anteil, den die Gattungen am kollektiven Gedächtnis haben. Für einen Ansatz, Gattungen und Medien als das „offene Gedächtnis der Kultur" zu konzipieren, vgl. Michael/Schäffauer 2004b.

Die intermediale Passage der Gattungen

253

erstellen.20 Gérard Genette dissoziiert seinerseits den Aspekt der Äußerung vom Problem der Gattungen. Er fuhrt den Begriff des Modus als „sprachwissenschaftliche Kategorie" ein, um den „natürlichen" Gebrauch der Sprache zu bezeichnen. Der Begriff Gattung hingegen bleibt dem „kulturellen und ästhetischen" Aspekt der literarischen Formen vorbehalten, das heißt der „bewussten und willentlichen Herausarbeitung der ästhetischen Formen" (Genette 1986 [1979]: 142).21 Die kulturhistorische Dimension der Gattung wurde jedoch noch nicht einmal in der meisterhaften Lektüre anerkannt, mit der Julia Kristeva das Bachtinsche Werk in ihrem bekannten Essay „Le mot, le dialogue et le roman" würdigt, auch wenn sie darin mit wesentlichen, auf die Sprache bezogenen Prämissen des Strukturalismus bricht. Wir erinnern daran, dass Julia Kristeva auf Grundlage der „Dialogizität" den Begriff der „Intertextualität" entwickelt, um die ,¿indersgelagerte Logik" des literarischen Textes gegenüber der der Sprache geltend zu machen. Indem sie die wiederum von Bachtin übernommene Kritik und Dynamisierung des Strukturalismus weiterführt, plädiert sie für eine Konzeption des literarischen Wortes nicht als statische Einheit, sondern als „Kreuzung von textuellen Oberflächen" (Kristeva 1969: 144). Die Analyse der intertextuellen Bewegung der literarischen Worte gemäß Bachtin impliziert für Kristeva eine Neuordnung der Gattungen auf der Grundlage ihres dialogischen Grades im Sinne einer „Typologie der Diskurse": Die dynamische Analyse der Texte fuhrt zu einer Neuordnung der Gattungen: die Radikalität, mit der Bachtin dies in Angriff genommen hat, lädt uns dazu ein, dasselbe zu tun mit dem Ziel der Erstellung einer Typologie der Diskurse.22

Es lohnt sich, bei dieser ,Selbst-Einladung' einen Augenblick zu verharren: Ist es tatsächlich möglich, von einer Neuordnung der Gattungen im Werk Bachtins zu sprechen? Und was die Formulierung „dasselbe zu tun" anbetrifft, bezieht sie sich auf die Neuordnung selbst oder lediglich auf die Radikalität, mit der Bachtin diese in Angriff genommen hätte? Es fallt uns allerdings schwer, eine textuelle Grundlage für diese Einladung zu entdecken, denn das primäre Anliegen Bachtins ist doch die Analyse der historisch-dialogischen Bewegung der Gattungen, schwerlich aber die 20 21

22

Vgl. Todorov 1993 [1970]: 25; 1978: 25 und vor allem 1983 [1974]: 178-185. Zur Kritik der Opposition zwischen Natur und Geschichte, aus der die Opposition Modus vs. Gattung bei Genette abgeleitet ist, vgl. Derrida 1980: 180 f. - Was die Kritik des Strukturalismus im Allgemeinen anbetrifft, so vergleiche man, wie Jesús Martín-Barbero sich dem „alten literarischen Begriff der Gattung als Eigentümlichkeit' des Textes" widersetzt, nicht anders als auch „der Reduktion auf die Taxonomie, welche der Strukturalismus mit den Gattungen vornahm" (orig.: „la vieja noción literaria del género como 'propiedad' de texto"; „la reducción a taxonomía que del género hizo el estructuralismo" (MartínBarbero 1987: 241). „L'analyse dynamique des textes conduit à une redistribution des genres: le radicalisme avec lequel Bakhtine l'a entreprise nous invite à en faire de même pour la constitution d'une typologie des discours" (Kristeva 1969: 158).

254

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Neuordnung der Gattungen und noch viel weniger die Konstituierung einer neuen Ordnung. Im Interessensschweipunkt von Kristeva stehen also nicht die Gattungen, sondern ihre diskursiven Tiefenstrukturen. Demnach sind es weiterhin Strukturen wenn auch radikalere-, welche die Autorin gemäß ihrer intertextuellen Funktionen zu typologisieren bestrebt ist, zumal sie von der psychologischen Prämisse ausgeht, dass „a//e Evolution der literarischen Gattungen eine unbewusste Exteriorisierung sprachlicher Strukturen auf ihren unterschiedlichen Niveaus isf\23 In einem anderen Essay der gleichen Epoche löst sich Kristeva schließlich gänzlich von der Gattungsfrage, indem sie die Orientierung auf Intertextualität mit dem semiotischen Ansatz -freilich im translinguistischen Sinne- verbindet, den „rhetorischen" Begriff der Gattungen durch eine „Typologie der Texte" zu ersetzen: Eines der Probleme der Semiotik wäre dasjenige, die alte rhetorische Einteilung der Gattungen durch eine Typologie der Texte zu ersetzen oder, anders gesagt, die Spezifizität der unterschiedlichen textuellen Organisationen zu definieren, indem sie in dem allgemeinen Text (der Kultur) situiert werden, dessen Teil sie sind und der an ihnen Teil hat.24 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Kristeva die Gattungstheorie Bachtins in ihren Essays zu Intertextualität übergeht. Ihre Argumentation setzt beim dialogischen Wort Bachtins an, ohne jedoch in Erwägung zu ziehen, dass gerade die historischen Gattungen ein spezieller Fall der Intertextualität sein könnten. So ergibt es sich, dass selbst eine an der Dialogizität des Textes interessierte Theoretikerin wie Julia Kristeva den Begriff der Gattung beiseite schiebt, um zu einer intertextuellen Theorie der Diskurstypen zu gelangen. Ihr Interesse für eine Typologie der Texte bestätigt somit das Desinteresse der Semiotik an den Gattungen.25

23

„toute évolution des genres littéraires est une extériorisation inconsciente de structures linguistiques à leurs différents niveaux" (Kristeva 1969: 146). 24 „Un des problèmes de la sémiotique serait de remplacer l'ancienne division rhétorique des genres par une typologie des textes, autrement dit de définir la spécificité des différentes organisations textuelles en les situant dans le texte général (la culture) dont elles font partie et qui fait partie d'elles" (Kristeva 1969: 113). 25 Huerta Calvo schreibt das Desinteresse der Semiotik an der Gattungstheorie der semiotischen Vorliebe für Begriffe wie kultureller Code und Texttypen zu (Huerta Calvo 1984: 101). In diesem Sinne beobachtet auch Wolfgang Raible aus Sicht der Semiotik und der Textlinguistik: „Wie verschiedentlich betont wurde, hätte der Terminus ,Textsorte' sogar den Vorteil, im Gegensatz zum Terminus ,Gattung' nicht vorbelastet zu sein etwa im Sinne einer normativen Komponente." Raible zeigt jedoch auch die Grenzen einer Texttypologie auf: „Sollte die literarische Gattungslehre in irgendeiner Krise stecken und Hilfe von einer Textsortenlehre erwarten, so dürfte diese Hilfe nicht so aussehen, dass, wie Klaus Heger unlängst formulierte, die Therapie mit dem Mangel auch gleich den Patienten beseitigt, d.h. für inexistent erklärt" (vgl. Raible 1980: 339).

Die intermediale Passage der Gattungen

2. Die lateinamerikanische

Gattungsdiskussion

255

der Moderne

Die Theorie der literarischen Gattungen, die wir soweit behandelt haben, hat auch die lateinamerikanische Gattungsdiskussion der Moderne geprägt. Zweifelsohne sind die Beiträge von Bachtin, Todorov und Jauss für lateinamerikanische Theoretiker ebenfalls von Gewicht.26 Doch im Kontext unserer Arbeiten interessiert uns des Weiteren die Frage, in welchem Maße ihre Ansätze eine lateinamerikanische Perspektive berücksichtigen. Aus diesem Blickwinkel lassen sich drei verschiedene Tendenzen beobachten: 1. Eine lateinamerikanische Perspektive fehlt; 2. Untersuchungen zu Einzelgattungen herrschen vor; und 3. systematische Arbeiten über lateinamerikanische Gattungen sind dementsprechend selten. Ein gutes Beispiel sowohl für das Fehlen einer lateinamerikanischen Perspektive als auch für die Rezeption Bachtins bildet der Essay „A questäo dos géneros" (dt.: „Die Gattungsfrage") von Luiz Costa Lima von 1983. Die Bedeutung, die Costa Lima der Theorie Bachtins zumisst, rührt daher, dass diese ihm erlaubt, eine Brücke zwischen dem russischen Formalismus und der Rezeptionsästhetik zu schlagen.27 Seine Studie ist zugleich auch ein Beispiel für eine allgemeine Theorie der literarischen Gattungen, die sich weder auf lateinamerikanische Theorieansätze bezieht noch auf die Frage der literarischen Gattungen in Lateinamerika.28 Die überwiegende Mehrheit der Arbeiten, die in der Tat lateinamerikanische Gattungen thematisieren, pflegt sich einer einzelnen Gattung zu widmen. Hier gibt es ein überaus weites Feld, welches noch zu bearbeiten ist, von der präkolumbischen Kunst bis hin zur Hyperfiktion des Internets; von den crónicas über die folietos und die tradiciones bis hin zur telenovela; von der poesía gauchesca des Río de la Plata bis hin zum Mexikanischen Revolutionsroman. Doch so wichtig der Beitrag dieser Einzelstudien auch sein mag als Beleg für ein Phänomen, das sich der Systematisierung oder einer allgemeinen Theoriebildung entzieht, so ziehen wir es doch vor, uns auf jene Studien zu konzentrieren, die just dieses Phänomen problematisieren und spezifische Ansätze formulieren. Der Fülle der Einzelstudien entspricht die relative Seltenheit von Arbeiten, die Gattungsfragen in einem systematischen Zusammenhang behandeln. Die -allerdings verständlichen- Vorbehalte der Kritiker gegenüber systematischen Aspekten der Gattungen gerade da, wo es gilt, das System der Literatur zu skizzieren, kann man an einem so bedeutenden Werk ersehen wie der 1975 erschienenen Formagäo da literatura brasileira: momentos decisivos (dt.: 26

27

28

Zur Rezeption Bachtins in Lateinamerika, vgl. Stam 1992, insbesondere die Kapitel „De Bakhtin á América Latina", 48-57 und „O cinema e os géneros do discurso", S. 68-71. Costa Lima bezieht sich hier auf Bachtin/Medvedev 1978 [1928] (vgl. Costa Lima 1983: 254-257). Auf der Grundlage seiner Bachtin-Lektüre fasst er Gattungen als Institutionen der Kommunikation, die Erwartungen gegenüber Texten sowohl auf der Ebene der Produktion als auch der Rezeption definieren (vgl. Costa Lima 1983: 269). So zum Beispiel Ghiano 1951/61, Moisés 1967, Garasa 1969, Coutinho 1976 und Lins 1980.

256

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Entstehung der brasilianischen Literatur: entscheidende Momente). In zwei Bänden beschreibt Antonio Candido die Entstehung der brasilianischen Literatur als ein „literarisches System",29 welches sich gegen Ende des 18. Jh. zu etablieren beginnt. Das als Klassiker geltende Werk verdrängt jedoch die Frage der Gattungen aus dem literarischen System, so dass sie nicht einmal in der Exposition der Schlüsselbegriffe der Literaturgeschichte erwähnt wird (vgl. Candido 71993 I: 36). Unter den wenigen Studien, in denen die Gattungen in Lateinamerika in systematischer Perspektive behandelt werden, ragt diejenige von Haroldo de Campos 3 1976 [1972] heraus. Der Essay diagnostiziert den Identitätsverlust der Gattungen im 20. Jh., wobei er von der Krise der sprachlichen Normativität ausgeht, so wie sie von den Strukturalisten der Prager Schule aufgezeigt worden war. Vom russischen Formalismus, und insbesondere von Victor Sklovskij, übernimmt er die Kategorie der „Hybridgattungen", die aus der Kanonisierung von „infraliterarischen Gattungen" hervorgehen (vgl. Campos 31976: 280). Sein in besonderem Maße innovativer Beitrag bezieht sich jedoch auf die Medien, die, Campos zufolge, zur Hybridität der lateinamerikanischen Gattungen beisteuern, und dies insbesondere in Bezug auf die brasilianischen Gattungen. Es handelt sich dabei um ein Argument, welches die Diskussion der Interrelation von Medien und Gattungen antizipiert,30 die Jahrzehnte später die postmoderne Debatte der Gattungen prägen wird. Eine weitere Argumentationslinie, die der postmodernen Debatte vorgreift, liegt im Begriff der Hybridisierung selbst begründet, der zwischenzeitlich zum Schlüsselbegriff für postmoderne Studien avancierte, allen voran bei Néstor García Canclini und seinen Culturas híbridas (dt.: Hybridkulturen). Man kann allerdings einwenden, dass Campos davon abweichend die Hybridisierung im Sinne von Zerstörung oder Verschwinden von Gattungen auffasst, das heißt gekoppelt an die dazugehörige Vorstellung einer kulturellen Befreiung oder Revolution. Dies ist der Grund, weswegen es sich bei ihm doch eher um eine moderne -und nicht postmoderne- Begrifflichkeit handelt, wie sie bereits in seinem formalistischen Dualismus zwischen literarischer und außerliterarischer Sprache aufscheint. Auf diese Weise wird verständlich, dass die „Hybridisierung der Gattungen" bei Campos -anders als bei Bachtin- in eine „Zerstörung der Gattungen" mündet, ganz im Sinne einer historischen Ästhetik des avantgardistischen Bruchs, die Campos für die poesia concreta zu reaktivieren sucht.31 29

30

31

Unter „literarischem System" versteht Antonio Candido die ununterbrochene Kontinuität von Werken und Autoren, die ein organisches Ganzes bilden und „den Willen [manifestieren], brasilianische Literatur zu schaffen" (orig.: „a vontade de fazer literatura brasileira", Candido 71993 I: 25). „Die Hybridität der Gattungen [...] geht dazu über, mit der Hybridität der Medien verwechselt zu werden und nährt sich von ihr" (orig.: „El hibridismo de los géneros [...] pasa a confundirse con el hibridismo de los media y se alimentará de él", Campos31976: 281). Die neo-avantgardistische Kritik der Identität der Gattungen basiert auf dem Konzept der Gattungshybridität als ob in ihm eine ,neue Hybrid-Identität' oder genauer noch -und in Folge der Destruktion der Gattungen- eine ,Nicht-Identität im Hybriden' gegeben wäre.

Die intermediale Passage der Gattungen

257

Eine andere Strömung innerhalb der kleinen Gruppe der systematischen Arbeiten bestreitet oder relativiert die Gültigkeit einer universellen Gattungstheorie, indem sie die Notwendigkeit einer eigens lateinamerikanischen Theorie postuliert. Der „Semiótica de los géneros literarios en textos hispanoamericanos" (dt.: „Semiotik der literarischen Gattungen in hispanoamerikanischen Texten") von Soorensen Goodrich zufolge, „ist die lateinamerikanische Literatursemiotik [...] nicht immer auf der Grundlage der Kriterien der europäischen Literatur durchführbar". Auf diese Weise gelangt die Autorin zum Schluss, dass „die Gattungskategorien nicht allesamt universal sind, wie man meinte, sondern dass sie Variationen bilden, je nach kulturellem Kontext" (Soorensen Goodrich 1986: 937). Weniger explizit ist der Vorbehalt, den Guilherme Merquior in seinen Aufzeichnungen über die Evolution der Gattungen der brasilianischen Literatur hegt, obschon er behauptet, alle Karten auf den Tisch zu legen: „Aus meiner Sicht macht das Schicksal der Gattungen in der brasilianischen Literatur (so wie vielleicht in allen peripheren Literaturen des Okzidents) nur Sinn innerhalb einer soziologischen Perspektive".32 Beide, sowohl Soorensen als auch Merquior, fuhren als Beispiel die Bedeutung der einfachen Gattungen für das System der lateinamerikanischen Gattungen an.33 Demnach handelt es sich in beiden Fällen um Studien über das .Lateinamerikanische', welches sie mittels der Gattungen und ihrer historischen Evolution zu bestimmen trachten. Die Gattungen gewinnen somit eine Schlüsselfunktion in der modernen Debatte über die Identität in der lateinamerikanischen Literatur. Der umfassendste Beitrag aus dem Blickwinkel einer globalen Theorie der hispanoamerikanischen Gattungen ist das Werk Los géneros literarios en Hispanoamérica von Miguel Gomes (dt.: Die literarischen Gattungen in Hispanoamerika). Das Buch reiht sich nahtlos in die von Soorensen Goodrich und Merquior vorgezeichnete Argumentationslinie ein, insofern es fordert, die Theorie an die Eigentümlichkeit des hispanoamerikanischen Gegenstandes anzupassen. Sein wissenschaftli-

32

33

Angesichts einer solchen Diagnose enthüllt sich als feine Ironie, dass der Destrukteur von Gattungen zugleich auch der Promotor einer brasilianischen Neo-Avantgarde ist, die sich ausgerechnet konkrete Poesie nennt. Wir glauben nicht, dass diese ,Autogenerierung' anhand einer Gattungsbezeichnung reiner Zufall wäre: Es ist symptomatisch, dass das Hybride dank des formalistischen Gesetzes von der Evolution der Gattungen eine Gattungsbezeichnung erhalten kann (solange diese neu ist) und auf diese Weise eine neue Identität annehmen kann (die natürlich auch neu ist). „In my view, one can only make sense of the fate of genre in Brazilian Literature, as perhaps in all peripheral Western literatures, if one takes a sociological view of things" (Merquior 1987: 171). Generell beobachtet man „die Vorherrschaft der als Knechte betrachteten Gattungen in der lateinamerikanischen Literatur" (orig.: „se ha observado el predominio en las letras latinoamericanas de los géneros considerados ancilares", Soorensen Goodrich 1986: 937) und konstatiert im konkreten Fall, dass „im kolonialen Brasilien die marginalen Gattungen im Korpus des Geschriebenen fast immer unter sich waren" (orig.: „In colonial Brazil, however, the marginal genres were almost alone among the written corpus", Merquior 1987:173).

258

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

ches Anliegen besteht -wie schon aus dem Untertitel Teoría e historia hervorgehtdarin, ausgehend von den Gattungen eine Revision der Literaturgeschichte vorzunehmen. Diese Aufgabe, die der Autor vorzugsweise als Genologie34 bezeichnet also als „das Studium von Gattungsfragen"- verbindet er mit dem Ziel, festzustellen, ob es eine hispanoamerikanische Literatur gibt (vgl. Gomes 1999: 10). Gomes verlagert auf diese Weise die Frage nach der kulturellen Identität von der Ebene der Texte oder Diskurse auf diejenige der literarischen Gattungen. Zu diesem Zweck definiert er die Gattungen als „kritische und kreative Einheiten, die leer, intertextuell, kommunitarisch und historisch sind" (Gomes 1999: 23). Der Autor fasst die Gattungen als indifferente Relationen zwischen Texten auf und fügt hinzu, dass die Gesellschaft diese Relationen mit präskriptiven Attributen „ausfüllt". In dieser Sichtweise werden die Gattungen als Schnittstellen zwischen der Gesellschaft und der Literatur aufgefasst, die wie „Medien" fungieren, deren Zweck in der Durchsetzung von Wertsystemen liegt: Ich glaube nicht, dass die Gattungen autoritär sind, was bedeuten würde, dass sie eine gewisse transhistorische Substanz besäßen: Da sie sich aber durch ihre Leere charakterisieren, würde ich es vorziehen, dass wir in ihnen Vehikel und Instrumente von Vorzugssystemen sähen, die begierig sind, in die Welt einzugreifen; nicht,Macht', sondern Mittel [„medios"], um sie zu erlangen.35

Somit wird deutlich, dass das Hauptargument von Gomes darin besteht, den Gattungen ihre Normativität abzusprechen, um sie stattdessen dem Modus ihrer Verwendung zuzuordnen. Es überrascht daher nicht, dass der Gegenstand der Untersuchungen von Gomes letztlich nicht die Gattungen sind, sondern ihre „genologische" Dimension; das heißt die Formen, wie die Gesellschaft sie benutzt. Aus diesem Grund führt er vier „kritisch-kreative Modelle" ein, anhand derer die Autoren, Leser und Kritiker sich ästhetisch mit den Gattungen auseinander setzen. Es handelt sich dabei um die Modelle mimetisch, transitiv, ambig und nihilistisch (vgl. Gomes 1999: 34). Eine jede dieser genologischen Handlungen kann mit den anderen kombiniert werden und tendiert in einer bestimmten Epoche dazu, unbesehen ihrer transhistorischen Dimension eine relative Dominante auszubilden. So bestimmt das ,mimetische' Modell der Gattungsverwendung die Ästhetik des Neoklassizismus, beispielsweise bei Andrés Bello. Es besteht darin, die traditionellen Gattungen zu imitieren und zu bewahren. Das ,Transitive', welches sich auf die Transformation von etablierten Gattungen bezieht, dominiert demnach in der Ästhetik der Romantik von Esteban Echeverría. Das ,Ambige' wiederum, welches die gleichzeitige Negie34

35

Gemäß der Enciclopedia de literatura brasileira hat Phillippe VanTieghem den Terminus der Genologie geprägt (vgl. Coutinho 19901: 651 und Coutinho 1976: 16). „No creo que los géneros sean autoritarios, lo que implicaría que poseen cierta substancia transhistórica: ya que se caracterizan por su vacuidad, preferiría que viésemos en ellos vehículos e instrumentos de sistemas de preferencias ansiosos de intervenir en el mundo; no 'poder', sino medios para conseguirlo" (Gomes 1999: 21).

Die intermediale Passage der Gattungen

259

rung und Imitation alter und neuer Gattungen umfasst, herrscht in der modernistischen Ästhetik von Rubén Dario vor. Und schließlich bestimmt das ,Nihilistische', welches in der Negierung eines jeglichen Typs von Gattungen wurzelt, die Avantgard-Ästhetik von Vicente Huidobro. Es ist nicht sonderlich schwer zu durchschauen, dass hinter diesen Modellen eine formale Logik des Typs „ja", „nein", ,ja/nein" und „weder ja noch nein" steht, mit welcher der Autor die affirmativen bzw. negativen Varianten zu typisieren trachtet, mit denen man den etablierten Gattungen gegenüberstehen kann, unabhängig davon, ob es sich um eigene oder fremde handelt. Letztere, die fremden Gattungen, stammen Gomes zufolge aus einer Triade kultureller und intertextueller „Grenzen", die Hispanoamerika mit Spanien, Brasilien und den USA teilt.36 Die Gattung ist demzufolge eine für literarische Handlungen empfangliche „ E i n h e i t " , dj e der historischen Notwendigkeit entspringt, das ,Eigene' in Relation zum ,Fremden' zu definieren. Dementsprechend verbindet der Autor die Frage der Identität nicht mit dem Wesen einer gegebenen Gattung, sondern mit den historischen Bewertungen, welche die „Benutzer" der Gattung zusprechen: „auf dem Kontinent hat es ebenso viele Genologien wie Wahrnehmungen von literarischer Identität selbst gegeben" (Gomes 1999: 218). Jetzt verstehen wir, warum der Autor noch Ende des 20. Jhs. darauf insistiert, das Problem der Gattungen von demjenigen der literarischen Normen zu trennen, was längst als eines der Ergebnisse des Strukturalismus angesehen worden ist. Das Problem, mit dem sich Gomes auseinandersetzt, ist daher eher dasjenige der kulturellen Identität, und sein Anliegen besteht darin, die Identität vom Problem der Gattungen zu lösen, um sie als Produkt der Genologie zu bestimmen. Das Ergebnis ist eine umfassende Beschreibung der Pragmatik der Gattung -was man im Grunde unter Genologie verstehen kann- und eine Neuordnung der hispanoamerikanischen Literaturgeschichte anhand des Schemas jener vier genologischen Modelle. Im Gegenzug beschränkt sich der Beitrag zur Gattungstheorie selbst auf eine Definition der Gattung als indifferente Variable. Die Gattung verliert damit ihre diskursive und modellbildende Funktion, weil diese der Genologie überantwortet wird. Zuguterletzt ist bei der Suche nach spezifischen Begriffen, die der Eigentümlichkeit des Studienobjekts -der Debatte über die Identität in der hispanoamerikanischen Literaturgerecht werden sollten, die Gattung in eine Leerstelle verwandelt worden. Anstatt die genologische Pragmatik als integralen Bestandteil der Gattung zu begreifen, ist sie von ihr aus Furcht davor, „die Gattung in den Eingeweiden eines Wesens zu inkrustieren" (Gomes 1999: 220), abgespaltet worden. Aber selbst so bleibt die Genologie interessant, weil sie uns auf Textebene die metagenerische Funktion aufzeigen kann, Gattungen zu elaborieren und zu re-elaborieren.

36

Es ist in der Tat merkwürdig, dass Gomes die Bedeutung der anderen europäischen Literaturen (wie z.B. der französischen) übergeht (vgl. Gomes 1999: 214).

260

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

3. Die Gattungen und die

Literaturgeschichten

Abgesehen von den eher theoretisch orientierten Studien, hat die Gattungsfrage stets eine grundlegende Rolle in den Literaturgeschichten gespielt, insofern diese -als Projekt der Moderne par excellence- das Ziel verfolgen, die (historischen) Eigentümlichkeiten der lateinamerikanischen Literatur zu beschreiben. Größtenteils stellen sie Geschichten von Gattungen dar, deren implizite Theorie darin besteht, dass die lateinamerikanische Literatur nicht als Ganzes, sondern nur als Geschichte seiner Teile zu verstehen ist. Im Gegensatz zu den systematischen Studien, die wir bereits erwähnt haben, setzen sich die Literaturgeschichten mit dem Problem der Gattungen nicht explizit auseinander, es sei denn als Problem der Anordnung des historischen Materials37 oder als Ausdruck der lateinamerikanischen Identität.38 In beiden Fällen wird die triadische Einteilung der Hauptgattungen beibehalten, mit Ausnahme der einen oder anderen Ergänzung, wie beispielsweise des Essays (vgl. Coutinho 1968 I: 46). Dass eine bedeutende Gattung wie der Essay als Zusatz des Gattungssystems eingestuft wird, bringt die Problematik von Coutinhos Gattungskonzeption zum Ausdruck. Ein paradoxer Fall ist die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur von Rudolf Grossmann, der die -von diversen Theoretikern und Literaturhistorikern- gesehene Notwendigkeit zu beherzigen scheint, die Nomenklatur der Perioden und Gattungen an das lateinamerikanische Objekt anzupassen. Das Resultat geht allerdings über einen Etikettenschwindel nicht hinaus, denn er begnügt sich damit, den gewöhnlichen Termini die Vorsilbe „Amero-" voranzustellen (vgl. Grossmann 1969). Dieses Verfahren wurde in diversen Literaturgeschichten kritisiert: „Sofern die Nachteile der literarischen Periodisierung unzählige sind, so macht diese Variante doch nichts anderes als sie noch zu vermehren".39 Dennoch setzt Grossmann das Problem der Gattungen als ein wesentliches Problem der amerikanischen Eigentümlichkeit voraus. Dies wird auf exemplarische Weise offensichtlich, wenn er sich auf die präkolombianischen Gattungen bezieht:

37

38

39

Der Manual de la literatura hispanoamericana von Pedraza Jiménez unterscheidet vier Typen der historiographischen Klassifikation, zu denen auch die literarische Gattung zählt (vgl. in extenso Pedraza Jiménez 1991 I: 21; 1991 II: 19 und 21-25; und 1998 III: 27-32). Afränio Coutinho sieht die grundlegende Aufgabe der Literaturwissenschaft darin, „die Autonomie der Formen zu erforschen, indem man ihre Evolution Schritt für Schritt untersucht, mit dem Ziel, den Moment herauszufinden, in dem Fiktion, Gedicht, Drama, Essay bei uns in Struktur und Thematik eine typische brasilianische Machart erhielten - s o sie eine erhielten-, die eigentümlich oder verschieden ist, so dass man sie als einen neuen Beitrag zur Gattung, als eine neue Tradition betrachten kann" (orig.: „Cumpre à crítica investigar a autonomia das formas, acompanhando a sua evolufào para verificar o momento em que ficpäo, poema, drama, ensaio, alcanzaran, entre nós, se alcanparam, na estrutura, na temática um feitio brasileiro típico, particular, distinto, que possa considerar-se urna contribuifào nova ao género, urna nova tradifäo", Coutinho 1968 I: 29). Pedraza Jiménez I: 1991: 20; vgl. auch Pedraza Jiménez II1991: 18 und Rössner 1995: X.

Die intermediale Passage der Gattungen

261

„Angesichts einer so ungeformten, an das Chaos der ersten Schöpfungstage erinnernden Situation der Literatur, wird man bei ihr [i.e. der altamerikanischen Literatur] auch kaum mit europäischen Gattungsbegriffen operieren können" (Grossmann 1969: 79). Im Anschluss an diese Problematisierung kehrt er jedoch gleich einem modernen Adam- zum bekannten Notbehelf zurück, den präkolombianischen Gattungen europäische Etiketten umzuhängen. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, jenen gegenüber seinen Vorbehalt zu formulieren, sie seien in Wahrheit „rudimentäre Literaturgattungen" (vgl. Grossmann 1969: 79). Vielleicht kann Luis Sainz de Medrano ja angesichts dieser Geringschätzung mit Recht darauf hinweisen, dass es Guiseppe Bellini war, der als erster die Gattungen der präkolombianischen Literatur entdeckt habe (vgl. Sainz de Medrano 1976: 19 ff.). Das mag wohl so sein, aber dennoch scheint uns, dass zuforderst eine Archäologie der entdeckten Gattungen zu entwickeln wäre bevor man neue Entdecker von Gattungen entdeckt. Des Weiteren müsste man die archäologische Gültigkeit des Begriffs der Gattung diskutieren, so wie man es in der Tat mit demjenigen der Literatur in Bezug auf die präkolombianischen Kulturen bereits getan hat.40 Im Kontext der Archäologie des Wissens von Michel Foucault kann nicht überraschen, dass die Frage nach den Modi des Wissens auch eine Wirkung auf die präkolombianischen Gattungen ausgeübt hat. In einer Studie über „Briefe, Chroniken und Berichte der Entdeckung und Eroberung" (orig.: „Cartas, crónicas y relaciones del descubrimiento y la conquista") von Walter Mignolo finden wir die ausfuhrlichsten Überlegungen zur Gattung innerhalb einer iberoamerikanischen Literaturgeschichte. Mignolo fragt vor allem nach dem Problem der Literarizität jener Kolonialtexte, die von der Entdeckung bzw. der Eroberung handeln. Er schlägt vor, diesen Korpus nach einem Prinzip zu organisieren, welches ihm erlaubt, den kulturellen Funktionswandel von ursprünglich nicht-literarischen Texten zu beschreiben, die später als literarische Werke gelesen wurden, und umgekehrt. Mit diesem Ansinnen entwickelt er eine Klassifikation, welche die Rolle der Gattungen minimalisieren soll, indem er sie auf zwei klassifikatorische Ebenen verteilt: den diskursiven Typ und die textuelle Formation.41 Was das Letztere anbetrifft, so lässt uns Mignolo

40

41

„Das Zentrum der Aufmerksamkeit verlagert sich von der Literatur (im Sinne der .Schönen Künste' zur Literatur (im Sinne der geschriebenen diskursiven Produktion) und zu ihrem Komplement, der Mündlichkeit und den verschiedenen Schriftformen der präkolombianischen Kulturen" (orig.: ,31 centro de atención se desplaza de la literatura (en el sentido de 'belles letres') a la literatura (en el sentido de la producción discursiva escrita) y a su complemento, la oralidad y las diversas formas de escritura de las culturas precolombinas", Mignolo 1986b: 143). Einen Überblick über die verschiedenen alternativen Begriffe „ethnischer Literatur" gibt Comejo Polar 1994: 12 f. und über die „präkolombianische Literatur" Brotherston 1997. Wir übergehen das dritte Klassifikationsniveau Familie, welches dem Autor erlaubt, zu behaupten, der von ihm untersuchte Textkorpus stelle eine gewisse Einheit in Bezug auf die

262

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

selbst wissen, dass „textuelle Formation" seinen Ursprung im Begriff der „diskursiven Formation" von Michel Foucault habe (Mignolo 1982: 58, Fußnote 4). Aufgrund der Affinität zur Diskurstheorie überrascht insofern, dass sich Mignolo weder unmittelbar auf den Begriff des Diskurses nach Foucault beruft, noch uns erklärt, warum er sich vom Begriff der Gattung abgewandt hat. Aus welchen Motiven? Was die „textuelle Formation" anbetrifft, so scheint uns, dass Mignolo -anstelle die Diskurstheorie anzuwenden- die institutionelle Dimension des Sprechaktes hervorhebt, die ihm als die erste Ebene der Klassifikation von Texten gemäß der großen „Disziplinen" wie Literatur, Geschichte, Philosophie, usw. dient. Es handelt sich demnach nicht um die diskursive Formation nach Foucault, sondern um einen Begriff, der vielmehr von Mignolos Texttheorie herrührt. In selbiger wird weder nach der Ordnung der Repräsentation gefragt noch nach den Bedingungen, welche die Äußerungen ermöglichen. Stattdessen schlägt Mignolo vor, den Begriff des Textes als kulturell bedeutsame Sprachhandlung um den Aspekt der Klassifikation zu ergänzen: Die Definition des Textes ist zu ergänzen indem man auf den Akt des Klassifizierens anspielt, denn eine Kultur bewahrt nicht nur die Texte, sondern sie bewahrt sie als Texte einer bestimmten Klasse.42

Innerhalb der „textuellen Formationen" wiederum werden die Texte nach „diskursiven Typen" angeordnet. Demzufolge ist das, was Mignolo vorschwebt, eine Typologie der Texte mit dem Ziel, die „bekannte Klassifikation in Gattungen und ihre entsprechenden Untereinteilungen" durch das ,unbekannte' klassifikatorische Verfahren der „diskursiven Typen" zu ersetzen (Mignolo 1982: 58). Der Typologie wird dabei die Funktion zukommen, die Passagen bestimmter „diskursiver Typen" zu anderen „textuellen Formationen" zu beschreiben, in denen sie nicht produziert wurden, aber zu denen sie aufgrund ihrer Rezeption zugerechnet wurden. Dies ist zum Beispiel der Fall der ,3riefe" oder ,3erichte" über die Entdeckung, die später als literarische Texte gelesen wurden. Um ihre Passage zwischen dem Literarischen und dem Nicht-Literarischen festzumachen, scheint ihm der Begriff der Gattung nicht effizient genug zu sein, und wir können nur spekulieren, dass einer der Motive der Zurückweisung darin gelegen haben dürfte, dass der Autor die Gattungen als rhetorische Normen missversteht, die unfähig sind, über besagte Veränderungen der kulturellen Funktion von Kolonialtexten Auskunft zu geben.

42

gemeinsamen Referenten Entdeckung und Eroberung dar, ähnlich einer „Textfamilie" (Mignolo 1982: 58, Fußnote 4). Zur Texttheorie von Mignolo, vgl. Mignolo 1986a.

Die intermediale Passage der Gattungen

263

4. Die Gattungen und die Debatte der Postmoderne Von den Gattungen bestehen die Namen fort, aber die postmoderne Kritik interessiert sich -von wenigen Ausnahmen abgesehen- nicht dafür, sich mit ihnen zu beschäftigen. Es reizt sie nicht, auf einer Bewegung zu insistieren, die schon von der Moderne mit Glanz initiiert worden ist: die Gattungen zu mischen, aufzulösen oder zu zerstören, und noch weniger neigt sie dazu, sie durch andere zu ersetzen. Die Idee von ,Postgattungen' krankt am Widerstand gegen die Erfindung neuer Gattungen oder Gattungsnamen, die das Prinzip des radikal Neuen zu verkörpern trachten.43 Schließlich löst sie sich aufwegen ihrer Skepsis gegenüber typologischen Systemen, die im Namen der Wissenschaft in die Geste der großen Erzählungen zurückfallen. Das einzige ,Reservat', in dem der Gattungsbegriff als produktive Kategorie innerhalb der postmodemen Debatten anscheinend überleben konnte, findet sich in den gender studies. In ihnen sind literarische Studien überaus zahlreich, die sich sogar schon im Titel auf gender und genre beziehen. Die stereotype Wiederholung beider Begriffe in einer Unzahl von Artikeln44 scheint sich dabei aufzudrängen wie eine idiomatisch feststehende Begriffskoppelung, die den Autoren keine andere Wahl lässt. Doch obschon diese Arbeiten die Frage der sexuellen Gattung (gender) in einer gegebenen literarischen Gattung (genre) untersuchen, finden wir keine Studie, die das methodologische Problem einer kulturellen Korrelation zwischen sexuellen und literarischen Gattungen aufwürfe, so wie dies von Derrida in „La loi du genre" nahegelegt wird.45 Wenn wir nach Motiven für die postmoderne Geste suchen, die Gattungstheorie zu verwerfen, so können wir in Übereinstimmung mit Ralph Cohen das Unbehagen gegenüber Grenzen anführen, sowie gegenüber Hierarchien und Autoritäten, die mit Gattungen verbunden werden. Mit den Texttheorien versucht man, die soziale und subjektive Kontaminierung der Einteilungen in Gattungen zu unterbinden.46 Außer43

Julio Ortega beschreibt beispielsweise „die Verehrung des Neuen" bei venezolanischen Erzählern, welche „den Akt der Fiktion soweit auf die Spitze treiben, alles neu zu schreiben von Anfang an; als ob die Geschichte des Romans eine einzige Lektion erteile, nämlich diejenige, jedes Mal neu zu beginnen" (orig.: „radicalizan el acto de la ficción al punto de reescribirlo todo desde el comienzo; como si la historia de la novela diera una sola lección: la de empezar cada vez", Ortega 1997: 121). 44 Die Bibliographie der Modern Language Association registriert alleine in den letzten 10 Jahren weit über 200 Titel zu „gender and genre". 45 Ohne zu beanspruchen, die relevanten Titel in extenso zu kennen, erwähnen wir unter den konsultierten Büchern -und im Sinne eines Indizes- das klassische Gender trouble von Judith Butler, in dem wir keine Diskussion über eine mögliche kulturelle Korrelation zwischen sexuellen und literarischen Gattungen fanden. 46 „Postmodern critics have sought to do without a genre theory. Terms like 'text' and 'écriture' deliberately avoid generic classifications. And the reasons for this are efforts to abolish the hierarchies that genres introduce, to avoid the assumed fixity of genres and the so-

264

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

dem widersetzen sich die historischen Implikationen der Gattungen dem postmodernen Ansinnen einer transgressiven écriture, die sogar die Geschichte selbst zurückweist. Einige Theoretiker des Dekonstruktivismus wie Jonathan Culler 1975 radikalisierten die anti-generische Tendenz der Texttheorie zugunsten der Theorie einer agenerischen Literatur47 Culler weist darauf hin, dass Gattungen nicht als taxonomische Kategorien zu sehen sind. Im Gegensatz dazu postuliert er, gestützt auf Julia Kristeva und Roland Barthes, eine Theorie, die zu berücksichtigen hat, dass „unsere wichtigsten und lohnenswertesten Erfahrungen in den Zwischenräumen zwischen den Gattungen lokalisiert sind, in der Region einer agenerischen Literatur.48 Diese Literatur sei eine „nicht lesbare" Literatur, die mit den gattungsgestützten Vermittlungen zwischen Produktion und Rezeption breche, um den Leser an eigene Versuche der Sinnstiftung zurückzuverweisen.49 Sie weigert sich daher, die Funktion der Gattungen auszuüben, Erwartungshaltungen zu etablieren, die dem Leser Lektüreanweisungen geben. Als theoretische Grundannahme hegt dieser Konzeption die avantgardistische Utopie einer absoluten Transgression der kulturellen Konventionen zugrunde. Eine solche Überschreitung der Gattungen erfordert jedoch das Fortbestehen besagter Gattungen. Paradoxerweise kann eine agenerische Literatur die intertextuelle Beziehung zu Texten nicht vermeiden, die gerade dadurch, dass sie die etablierten Gattungen negieren, eine neue Gattung bilden. Der Vorschlag von Culler verwandelt sich somit nolens volens in eine Theorie der Gattung „agenerische Literatur". In seinem Essay „Do Postmodern Genres Exist?" weist Cohen mit Scharfsinn daraufhin, dass viele Kritiker postmoderner Texte sich auf die Gattung beziehen als handele es sich um einen inadäquaten Begriff, der jenseits der untersuchten Texte liege. Es befleißigen sich aber just dieselben Kritiker unweigerlich der Sprache der Gattungstheorie, obwohl sie deren Nützlichkeit bestreiten (vgl. Cohen 1989: 25). Die Argumentation von Cohen ist einfach, aber überzeugend: Man kann nicht von einer postmodernen Transgression der Gattung sprechen, ohne (zumindest) einen Begriff von modernen Gattungen zu haben. Zum gleichen Schluss gelangt auch Maijorie Perloff -die Herausgeberin von Postmodern Genres-, indem sie auf ein cial as well as literary authority such limits exert, to reject the social and subjective elements in classification" (Cohen 1989: 13). 47 Ihab Hassan zufolge multiplizieren sich die Formen in der postmodernen Literatur mit einer Geschwindigkeit, die ihre Geschichte irrelevant werden lässt: „the history of artistic genres and forms becomes irrelevant" (Hassan 21982: 254). 48 „A theory is defined by the question it asks, and the question that founds this theory is, 'why are our most crucial and tantalizing experiences of literature located at the interstices of genres, in this region of non-genre literatureV" (Culler 1975: 258). 49 ,,}ion-genre literature avoids established relations between écriture —production of a surface— and lecture —production of sense— and hence, for the reader, is essentially about the ways in which he attempts to create order" (Culler 1975: 259).

Die intermediale Passage der Gattungen

265

postmodernes Paradox hinweist: je radikaler die Auflösung der traditionellen Gattungsgrenzen betrieben wird, desto gewichtiger wird der Begriff der Generizität.50 Beide Kritiker interessieren sich weiterhin fur den Begriff der Gattung als „offenes System", welches dasjenige der Intertextualität in seiner Fähigkeit überschreitet, über die dynamische Kombinierbarkeit von Texten Auskunft zu geben.51 Die Prämisse, die dieser postmodernen Reformulierung der Gattung zugrunde hegt, ist diejenige einer Intergenerizität, die -jenseits der Intertextualität- aus den Beziehungen zwischen modernen und postmodernen Gattungen hervorgeht.

5. Die Passage zwischen den Sätzen Täuschen wir uns jedoch nicht: abgesehen vom Desinteresse, das verschiedene postmoderne Kritiker gegenüber der Gattungsfrage an den Tag legen, gehört diese zu den Grundfragen der Reflexion über das postmodeme Wissen. Man könnte sogar behaupten, dass sie am Ausgangspunkt der Debatte um die Postmoderne steht: In seinem bekannten Essay von 1979 hat Jean-François Lyotard die Krise des Wissens als diejenige einer „Krise der Erzählungen" bestimmt. Die „moderne Wissenschaft" bedarf eines Metadiskurses zur Legitimation ihres Wissens, welchen Lyotard als „Erzählung" auffasst. Die „großen Erzählungen" wie z.B. die Geschichtsphilosophie sind Diskurse der Emanzipation und legitimieren sich durch eine noch zu realisierende Zukunft. Sie konstituieren das, was Lyotard als ein wesentliches Charakteristikum der Moderne ansieht: das Projekt. Die Skepsis gegenüber diesen Metaerzählungen ist dabei das, was Lyotard unter „postmodern" versteht. Die narrative Funktion verteilt sich auf isolierte Sprechakte und verliert ihr „großes Ziel" der Legitimierung des Wissens (Lyotard 1979: 7-8). Die Auflösung der kognitiven Kohärenz äußert sich demnach als Krise einer Gattung.52 In einem späteren Text, Le postmoderne expliqué aux enfants (dt.: Die Postmoderne den Kindern erklärt), ergänzt Lyotard, dass jedoch nicht alle Erzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Indem er die Diskursgattungen differenziert, behauptet er, dass lediglich die Metaerzählungen ihre Legitimation verloren hätten. Die „kleinen Erzählungen" seien der Krise entgangen, da ihnen keine legitimierende Funktion zukommt, und fahren so50

„It is the paradox of postmodem genre that the more radical the dissolution of traditional generic boundaries, the more important the concept of genericity becomes" (Perloff 1989:4). 51 „It [i.e. the genre] not only inquires into the reasons for intertextuality; it inquires to the significance of the combinatory procédures that result from it. The generic concept of combinatory writing makes possible the study of continuities and changes within a genre as well as the récurrence of generic features and their historié implications" (Cohen 1989: 14). 52 Es lohnt sich zu bemerken, dass Lyotard es vermeidet, zwischen den so verschiedenen Kategorien wie Satz, Sprechakt, Gattung, Diskursgattung und Diskurs klar zu unterscheiden, obschon er sie allem Anschein nach gleichermaßen als distinkte und irreduzible Einheiten behandelt.

266

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

mit fort, das „Gewebe des Alltags" zu bilden (Lyotard 1988a: 38-39). Lyotard beschreibt somit die Delegitimierung des postmodemen Wissens und stützt sich dabei auf eine Sprachphilosophie, deren Hauptkategorie die durch verschiedene Sprachakte konstituierten Diskursgattungen sind. Doch erst in seinem Hauptwerk Le différend entwickelt und vertieft der Philosoph die Grundlagen dieser Argumentation durch das, was man eine Philosophie des Satzes und der „Passagen von einem Satz zum anderen" nennen könnte. Über die Linguistik hinausgehend betrachtet er den Satz nicht nur als eine Grundeinheit der Sprache, sondern auch als ein ontologisches Problem: Es ist nicht das denkende oder reflexive Ich, welches die Probe des universellen Zweifels besteht (Apel, 1981), es ist der Satz und die Zeit. Aus dem Satz: Ich zweifle folgt nicht, dass ich bin; es folgt, dass es einen Satz gab.53

Der Satz ist irreduzibel und geht jeder Reflexion voraus: Es gibt weder einen ersten Satz, insofern jeder Satz einen anderen, ihm vorgängigen Satz voraussetzt, noch einen letzten Satz, da jedem Satz ein weiterer folgt. Der Unvermeidbarkeit des Satzes entspricht die Notwendigkeit, Sätze zu verketten, wobei jedoch der Modus der Verkettung nicht vorgeschrieben ist: „Verketten ist notwendig, wie man verkettet, ist es jedoch nicht" (Lyotard 1983: 103).54 Der Plural der Sätze ist die Voraussetzung, mit der die philosophische Reflexion konfrontiert wird.55 Lyotard stellt die These auf, dass zur Pluralität die Inkommensurabilität der Sätze hinzukommt. Letzteres aufgrund der Auffassung, dass die Sätze je eigene „Universen" konfigurieren, die sich jedoch gegenseitig ausschließen. Die Grundfrage des Buches richtet sich daher auf die Passage zwischen einem Satz und dem anderen und wovon diese bestimmt wird. Die Möglichkeiten, einen Satz mit einem anderen zu verketten, sind vielfach, aber nur ein einziger kann dem vorhergehenden folgen. Die Verkettung schließt alle verbleibenden Alternativen aus. Lyotard argumentiert, dass es für die Verkettung keine Regel der Stimmigkeit gibt. Weder das Argument der Absicht der Gesprächs53

54

55

„Ce n'est pas le je pensant ou réflexif que résiste à l'épreuve du doute universel (Apel, 1981 ), c'est la phrase et le temps. De la phrase: Je doute, il ne résulte pas que je suis, il suit qu'il y a eu une phrase" (Lyotard 1983: 93). „Enchaîner est nécessaire, comment enchaîner ne l'est pas." - Nach Lyotard beschränkt sich der Satz nicht auf Sprechakte. Die Abwesenheit von Satz und Verkettung ist ebenfalls ein Satz, der sich in Form des Schweigens, der Unordnung oder des Nichts manifestiert. Man kann nicht definieren, was der Satz ist, „man wird niemals wissen, wovon man spricht", aber man wird immer „Sätze hervorbringen" (Lyotard 1983: 107). Der Satz ist ein Ereignis, eine Tatsache, „nicht das Sein, aber ein Seiendes" (Lyotard 1983: 109). Die Sprache als Totalität der möglichen Sätze, die jeder Satz voraussetzt, ist das, was dem Menschen stets gegeben ist. Er erleidet sie wie ein Ereignis. Lyotard antwortet damit Ludwig Wittgenstein und verteidigt die Thesen, „man spielt nicht mit der Sprache" und „es gibt keine Sprachspiele", da die Sätze der kommunikativen Absicht des Menschen vorausgehen. Indem er den Anthopozentrismus zurückweist, reklamiert Lyotard eine „relativistische und quantitäre Revolution" in Bezug auf die Sprache (Lyotard 1983: 200).

Die intermediale Passage der Gattungen

267

partner noch dasjenige des Kontextes überzeugen, da beide den Aporien einer „Metaphysik des Bewusstseins" erliegen. Dasjenige, was die Serie der Sätze nach Meinung des Autors sehr wohl „weiterfuhrt", das ist die „Diskursgattimg" (Lyotard 1983: 125). Es gibt keinen Satz ohne Gattung. Auf diese Weise tritt die Gattung als die grundlegende Kategorie der Hinterfragung des postmodernen Wissens hervor. Lyotard definiert sie hierbei als ein Problem der Ungerechtigkeit (im französischen Original: tort), da beim Festlegen einer spezifischen Satzfolge die Gattung alle anderen möglichen Passagen ausschließt. Das Verbot alternativer Verkettungen, das von der Gattung ausgesprochen wird, rührt von einer Teleologie her, die diese den Sätzen auferlegt: Die Gattung „verfuhrt" den Satz und prägt sein Universum nach Maßgabe der Ziele, die sie verfolgt. Die Gattung überwindet die Heterogenität der Sätze und unterwirft sie ihren Zielen, indem sie eine Passage über die „Abgründe" hinweg ermöglicht, durch welche die Sätze voneinander getrennt sind. Die Ziele gehen somit von den Gattungen aus. Sie werden den Sätzen auferlegt und vereinnahmen sie. Aufgrund der Vielheit von möglichen Verkettungen konkurrieren die Gattungen untereinander im Versuch, ihre Ziele zu erreichen. Auf diese Weise treten sie untereinander in Bezug auf den Satz in Konflikt. Lyotard bezeichnet diesen Konflikt als Widerstreit im Sinne eines unentscheidbaren Streitfalles (différend), da keine Gattung dazu in der Lage sei, für sich eine universelle Gültigkeit zu beanspruchen, die ihr erlaubte, die anderen zu unterwerfen. Der Widerstreit zwischen den Gattungen entspringt der Leere zwischen einem Satz und dem darauffolgenden und dem Ereignis dieser Abfolge. So gesehen entpuppt sich die Passage als Bewegung der Gattungen, die uns das Nichts zwischen den Sätzen vergessen lässt. Doch die Gattungen mit ihren Zielen haben ihren Ursprung weder in einer Absicht noch in einem Subjekt. Lyotard bezeichnet sie deshalb als „Strategien. Von niemandem".56 Was hier im Spiel ist, das ist der Bürgerkrieg der Sprache", dem wir alle ausgesetzt sind (Lyotard 1983: 205). Selbst wenn es keine Metagattung gibt -den absoluten Sieg einer Gattung über die anderen-, so gelang es einigen historischen Diskursgattungen dennoch, eine Vormachtstellung zu erlangen, um über diejenigen Sätze zu regieren, die den „großen Erzählungen" entsprechen, von denen Lyotard in seinen früheren Essays schreibt. Dabei handelt es sich um das Vorrecht, über grundlegende soziale Fragen zu urteilen, das bestimmten Gattungen in einzelnen Epochen zukam. Lyotard hinterfragt die großen historischen Diskurse auf der Grundlage des Begriffs der Gattungen. Anders als die moderne Gattungstheorie, die für gewöhnlich intragenerische und /«tertextuelle Studien bevorzugt, fragt Le différend in transversalem Sinne aus einer ¿«fergenerischen und iwiratextuellen Perspektive heraus. Die Passagen, welche die Gattungen den Sätzen auferlegen, erstrecken sich jedoch -Lyotard zufolgenicht selbst auf die Gattungen. Es ist diese Undurchlässigkeit der Gattungen, welche 56

„Les genres du discours sont des stratégies. De personne" (Lyotard 1983: 198).

268

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

den ethischen Einsatz (enjeu) liefert, der den Text durchzieht, indem er den Widerstreit durch Parteinahme zugunsten der ausgeschlossenen Sätze bezeugt.57 6. La loi du genre „La loi du genre" (1980) von Jacques Derrida ist ein Text sui generis, der die Gattungsfrage auf irreversible Weise in ein postmodemes Problem verwandelt. Im Unterschied zu Le différend, dessen Gattung vom Autor selbst in seinem „Lektürezettel" mit Essay bestimmt wird, allerdings ohne auf die Bedeutung der Gattungstheorie einzugehen, weist „La loi du genre" schon im Titel auf die Bedeutung der Gattung hin, lässt uns aber, was die eigene Gattung anbetrifft, ohne jede Orientierung.58 Als Text gehört er keiner Gattung vorschriftsmäßig an, obschon er an vielen teilhat. So schwer verständlich und komplex uns seine Art, über die Gattungen zu sprechen und zu schreiben auch vorkommen mag, wir können daraus nicht ableiten, dass es sich um einen ,Essay' wider die Gattungen handele. Man kann sich vielmehr des Eindrucks nicht erwehren, dass der Text es erschwert oder sogar verunmöglicht, über die Gattungen zu sprechen, und das rührt weitaus mehr von seiner Behutsamkeit her, mit der er nach den Bedingungen fragt, die es erlauben, über die Gattungen zu sprechen, als von einer einfachen Infragestellung der Gattungen. Wenn wir die Rezeption von „La loi du genre" als Seismograph für die Erschütterungen verstehen, welche die Debatte der Postmoderne in der Diskussion der Gattungen ausgelöst hat, so stellen wir fest, dass das Erdbeben interkontinental gewesen sein muss, obschon von geringer Stärke: „La loi du genre" findet sich in fast allen Bibliographien, jedoch nur selten in der Argumentation.59 Der harmloseste Fall liegt bei Adena Rosmarin vor, die Derrida in einer Fußnote abhandelt (vgl. Rosmarin 1985: 168, nota 8). Schwerer wiegt dagegen das Vorgehen von Miguel Gomes, der sich von seiner Zurückhaltung gegenüber einer überhandnehmenden Terminologie 57

Bernhard Waldenfels lenkt in Bezug auf den Begriff des différend die Aufmerksamkeit auf das Fehlen von „Zwischenräumen" der Sprache sowie auf das ethische Problem der Gleichsetzung von Sätzen und Konfliktparteien (vgl. Waidenfels 1995: 265-283). Die kritische Debatte des Werkes von Lyotard wird von Williams 1998 sondiert. Seine Sichtung kulminiert in der Kritik von Le différend durch Manfred Frank (vgl. S. 136-140) und Jacques Derrida (vgl. S. 140-145). 58 Den Vortrag „La loi du genre" (1980) kann man als dekonstruktivistische Antwort auf die Sprachphilosophie der Epoche lesen, so wie sie in den Essays von Lyotard zum Ausdruck kommt. Dies trifft insbesondere auch auf den Vortrag „Before the Law" (1983) zu, in welchem die Frage des „Gesetzes" wiederaufgegriffen wird. In ihm wird Lyotard zwar auch nicht explizit erwähnt, aber der Vortrag wurde auf einem Kolloquium gehalten, in dem es um das Werk Lyotards ging. In beiden Essays werden philosophische Prämissen Lyotards dekonstruiert, insofern Derrida das Gesetz der Verkettung und die Unbezweifelbarkeit des Satzes in Frage stellt. 59 Es gibt wenige Texte, die ihn völlig ignorieren, wie z.B. der Sammelband Teoria de los géneros literarios von Garrido Gallardo 1988.

Die intermediale Passage der Gattungen

269

bzw. von seinem Plädoyer für eine „minimale Spezialisierung im Vokabular" dazu verleiten ließ, Derrida auf den Terminus der „Gesetzgebung" zu reduzieren (vgl. Gomes 1999: 23 u. 25). David Fishlov ist einer der wenigen, der sich mit „La loi du genre" ernsthaft auseinandersetzt, wenn auch mit dem Ziel, sich der dekonstruktivistischen Ansätze entledigen zu können, da er in ihnen einen überaus problematischen Beitrag sieht, paradox, metaphysisch und vor allem impraktisch: „seine Nützlichkeit als Grundlage für eine seriöse Studie über die Art und Weise, wie die literarischen Gattungen funktionieren, scheint mir sowohl in theoretischer als auch in deskriptiver Hinsicht, ziemlich fragwürdig".60 Anders gelagert ist der Fall der wenigen Kritiker, die sich bewusst mit Verweisen auf den Text von Derrida im Kontext der Debatte der Postmoderne situieren. So verwundert es nicht weiter, dass er von Majjorie Perloff zitiert wird, die, wie bereits erwähnt wurde, zugunsten einer postmodernen Diskussion der Gattungen plädiert, so wie auch von Oscar Steimberg in seiner Arbeit über die intermediale Dimension der Gattungen. Aber selbst wenn man beiden zugute hält, dass sie Argumente von „La loi du genre" in ihrer eigenen Argumentation aufnehmen, so fällt doch auf, dass sie sich beide auf das gleiche Zitat stützen, demzufolge es keinen Text ohne Gattung gebe, und dass sie sich im Wesentlichen auf diesen Verweis beschränken.61 Walter Bruno Berg geht in seiner Lektüre von „La loi du genre" weiter, insofern er sie mit der Analyse von konkreten literarischen Texten zu verbinden sucht. Er nimmt jenen Ansatz auf, demzufolge sich die Literatur notwendig in Gattungen konfiguriere. In einer Analyse der Gattung der peruanischen tradición fasst er den Text von Derrida als einen philosophischen Ansatz auf, der einen „konstitutiven Parallelismus zwischen dem Gesetz der Gattung, einerseits, und dem Problem der Identität andererseits" thematisiert (Berg 1999). Zu diesem Zweck hebt Berg die Ambivalenz des Titels von „La loi du genre" hervor, der sich nicht nur auf eine allgemeine Theorie der Gattung" beziehe, sondern auch auf ein Problem des „Gesetzes", das heißt, auf eine „allgemeine und sogar universelle Problematik". Außerdem entdeckt er „eine transzendentale Problematik" der Gattung, die er jedoch mit der Fatalität verbindet, die nationale Identität qua Geburt zu erlangen, wobei „es keine Theorie [gibt], die diese Tatsache rechtfertigen kann". Mit dem Argument der Unvermeidbarkeit der Gattungsmischung nimmt er die Frage in den Blick, wie in Lateinamerika ausgehend von europäischen Gattungen, die sich durch die Eroberung durchsetzten, eine kulturelle Identität entsteht. Er urteilt, dass „das Gesetz des Gattungsgesetzes" im Kontext der lateinamerikanischen Situation als notwendige „Differenz" eines „Ich" gegenüber der „Gattung wir" erscheine. Dieses „andere Gesetz der Gattung" bringe eine lateinamerikanische Identität hervor, die er als eine „ex-

60

61

„their usefulness as a basis for a serious, theoretical as well as descriptive, study of how literary genres function [...] seems to me a bit questionable" (Fishlov 1993: 13). Vgl. Perloff 1989: 4 und Steimberg 21998: 79.

270

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

zentrische" Identität auffasst oder vielmehr als „Alterität", die sich gegenüber dem Zentrum konstituiere, und der Polyperspektive und Pluridimensionalität eigen seien. In einem anderen Essay über das Gesetz der Gattung in den Erzählungen von Julio Cortázar kommt Berg erneut auf „La loi du genre" zurück. Diesmal interessiert er sich für die Verbindung zwischen den Gattungsmarkierungen und der Literarizität des Textes, so dass sich in seiner Lektüre die Frage nach dem „Gesetz der Gattung" über den Umweg eines „Gesetzes des Gattungsgesetzes" in eine Frage nach dem „Gesetz der Gattung Literatur" verwandelt (Berg 2000: 120). Die Literatur scheint somit eine Gattung zu sein, die gegenüber den anderen (nicht literarischen) Gattungen herausragt aufgrund ihrer Fähigkeit, die traditionellen Klassifikationen gleichzeitig zu affirmieren und zu negieren. Auf diese Weise interpretiert Berg die Ambivalenz der generischen „Instruktionen", die sich in Cortázars Titeln fmden, als poetologische Funktion, die das ,Axiom der Nicht-Abschließbarkeit und der grundlegenden Unvollständigkeit des literarischen Textes" hervortreten lässt (Berg 2000: 122). Soweit die Rezeption von „La loi du genre". Es ist offensichtlich, dass sich die Kritik angesichts der Schwierigkeiten, die der Text bereitet, windet oder schlicht verweigert. Derridas Text widersetzt sich den Versuchen, einer Theorie einverleibt oder auf Studienobjekte angewandt zu werden. Er tut dies womöglich deshalb, weil er sich dagegen sträubt, klassifiziert zu werden, zumindest als wissenschaftlicher Essay. Zweifelsohne ist „La loi du genre" ein an Markierungen seines eigenen Gattungscharakters überaus reichhaltiger Text. So reichhaltig sogar, dass es uns ratsam erscheint, nicht sogleich Schlussfolgerungen über seine Generizität zu ziehen, sondern ihn zunächst mit aller Vorsicht als eine Grenzerfahrung zu betrachten. Unserer Lesart zufolge handelt es sich um eine Grenzerfahrung, welche die Generierung eines Textes widerspiegelt in Form einer mise en abyme der Gattung, oder genauer, einer mise en genre. Dies ist das Werk nicht nur des Textes von Derrida, sondern hauptsächlich der Gattungen, an denen der Text teilhat, ohne ihnen zugehörig zu sein. Diese Teilhabe, die ihn zunächst in Textteile trennt, bietet sich den Lesern als ein Teil dar, den man als schriftliche Version eines anderen Teils bezeichnen könnte, der mündlich vor einem Publikum auf einem Kolloquium vorgetragen worden war. Das Ergebnis wiederum scheint eine Zweiteilung nahezulegen: in einen ,theoretischen' Teil (S. 176-186) und in einen praktischen' Teil (S. 186-201). Die mise en genre dieser intermedialen und intergenerischen Teile lädt uns dazu ein, über ihre Einteilung in ,Theorie' und .Praxis' zu spekulieren. Doch der Text von Derrida gibt weder eindeutige Markierungen einer Gattungstheorie noch die einer Artwendung dieser Theorie zu erkennen. Er widersetzt sich sogar der traditionellen rhetorischen Dreiteilung, die einzelnen Redeteile als Anfang, Hauptteil und Schluss zu markieren. Ja, er indiziert noch nicht einmal den Sprechakt, dem er angehört, geschweige denn den Sprechakt „theoretische Äußerung".

Die intermediale Passage der Gattungen

271

Der erste Teil, welcher der „Theorie" entspräche, da er von den Gattungen im Allgemeinen spricht, enthält sich jeglicher Markierungen als theoretischer Diskurs, indem er das Geäußerte durch eine Inszenierung des Äußerungsaktes illustriert: „La loi du genre" beginnt - j e nach Sichtweise- mit „LA LOI DU GENRE", also mit dem, was man als seinen Titel zu betrachten pflegt, und trifft sodann die Aussage oder zitiert oder wiederholt -man weiss es nicht- Varianten des Sprechakts „man darf die Gattungen NICHT MISCHEN". Genau dies wird uns als das Gattungsgesetz angeboten, ohne dass wir mit Gewissheit entscheiden zu könnten, zu welchem Sprechakt diese .Anfange' von „La loi du genre" gehören. Die unmittelbare Wirkung dieser Verwirrung beruht darin, dass der Satz seinen Status als unbezweifelbare Prämisse, die ihm Lyotard zuschreibt, verliert. Ebenso wenig ist es möglich zu entscheiden, zu welchem Sprechakt der erste Teil zu zählen ist, der mit „das Ende beginnt" beginnt - s o er denn beginnt-, aber nicht ohne uns zuvor darauf zu verweisen, dass es sich vielleicht um ein Zitat handle, das dem zweiten Teil entnommen ist: „Vielleicht ein Zitat. Ich würde es jenem Text entnommen haben, der sich mir als Beispiel darzubieten scheint".62 Demzufolge gäbe uns Derrida hier kein Beispiel, sondern würde in Zweifel ziehen, dass der Text, über den er im zweiten Teil spricht, La Folie du jour von Maurice Blanchot, sich darbiete als Beispiel für die Ausführungen des ersten Teils. Gegen Ende des zweiten Teils scheinen sich diese Zweifel auch zu bestätigen: „Dies ist keineswegs ein Beispiel für ein allgemeines oder generisches Ganzes. Ganz und gar nicht. [...] Vielmehr zu allem gegen-exemplarisch."63 Welche Schlussfolgerungen können wir hieraus für eine postmodeme Theorie der Gattungen ziehen? Zunächst wäre zu bemerken, dass die Dekonstruktion der (Theorie der) Gattungen keine anwendbare Theorie liefert, sondern vielmehr Möglichkeiten eines Schreibens über Gattungen anbietet, welches die Ambivalenzen zulässt, die beim Schreiben über dieses Thema unweigerlich entstehen. Wer so etwas begehrt, der kann sich von dieser Grenzerfahrung provozieren lassen und diese sogar als Kritik der Kritik annehmen. Derrida selbst widersetzt sich „jedwelcher Schlussfolgerung", es sei denn zuzulassen, dass das, was vielleicht für einen Augenblick aufscheint, „der Wahnsinn des Gesetzes" ist.64 Wenn er aber davon absieht, eine allgemeine Schlussfolgerung vorzusehen - d a dies wahnsinnig wäre-, so deshalb, weil er die „Klausel", „Klausur" oder „Schleuse" der Gattung inszeniert und mit ihr eine Kritik der „Schlussfolgerung" als Gattung impliziert. In der Tat wäre es

62

63

64

„Peut-être une citation. Je l'aurais prélevée dans ce texte que me paraît se donner en exemple" (Derrida 1980: 186). „Ce n'est pas l'exemple d'un tout général ou générique. Pas du tout. [...] Plutôt contreexemplaire de tout" (Derrida 1980: 200). „Ce qui fut peut-être évident, le temps d'un clin d'oleil, c'est une folie de la loi" (Derrida 1980: 200).

272

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

nämlich ein schizophrenes Unterfangen, die Gattung der Schlussfolgerung dekonstruieren und gleichzeitig daraus einen Schluss folgern zu wollen.65 Derrida behandelt die Unbestimmbarkeit der Texte auf eine unbestimmbare Weise. Was er jedoch mit Bestimmtheit über die Texte aussagt ist, dass sie nicht den Gattungen zugehörig sind, sondern dass sie an ihnen partizipieren. „La loi du genre" hat auf diese Weise an vielen Gattungen Teil - jedoch als Text ohne jede Eigenschaft. Dem Titel zufolge spricht er nicht vom „Gesetz der literarischen Gattung", obschon er sich mit La Folie du jour auseinandersetzt und mit Understatement behauptet, dass es sich lediglich um Randbemerkungen zu L'absolu littéraire66 handele. Die Frage der unabdingbaren Generierung der Literatur in Gattungen ist zwar grundlegend, Derrida geht aber über das Medium der Literatur hinaus, indem er die Gattung in ein grundsätzliches Problem eines geglichen Korpus von Spuren" verwandelt.67 Die Gattungen konfigurieren sich damit auf paradoxe Weise: Die Texte markieren sich zwar als Gattungen, aber indem sie es tun, demarkieren sie sich zugleich, weil das Markieren nicht mit dem Markierten übereinstimmt, der Gattung. Die Markierung der Literarizität des Textes ist selbst nicht literarisch, weshalb der durch sie markierte Text Literatur ist und zugleich nicht ist. Die Markierung schreibt das „Gesetz" vor und ist selbst die Bedingung für die Generierung des Textes; zugleich aber bildet sie die „Klausel" der Gattung, die sich aus dem ausschließt, was sie einschließt und diesem so entkommt. Dabei wird die Gattung durch die Klausel mit einem Gegen-Gesetz kontaminiert, dem „Gesetz des Gesetzes". Im Unterschied zu Lyotard, der lediglich ein Gesetz der Verkettung postuliert (aber weder ein Ge65

Aus demselben Grund bemerkt Derrida, er verharre bewusst an der Schwelle oder Grenze einer eventuellen Problematik der Gattung (als) Geschichte und Theorie der Geschichte und der Theorie der Gattungen: „sur le seuil ou sur les bords d'une éventuelle problématique du genre (comme) histoire et théorie de l'histoire et de la théorie des genres — un autre genre en somme", Derrida 1980: 182. 66 Derrida bezieht sich auf das Buch L'absolu littéraire seiner Kollegen Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe, dessen Erscheinen 1978 für das Internationale Kolloquium Le genre (Straßburg, Juli 1979) ausschlaggebend war, auf dem Derrida „La loi du genre" vortrug. Zu den Organisatoren des Kolloquiums gehörten Nancy und Lacoue-Labarthe selbst, die in der Tat ein Kapitel ihres Buches über die Universalpoesie als absolute Gattung vortrugen (vgl. Nancy/Lacou-Labarthe 1978/1980). Dies ist auch das Thema der Vorbemerkungen, die vor dem Kollquium den Teilnehmern zugesandt worden waren und später im Anhang der Akten veröffentlicht wurden (vgl. Glyph 1 1980: 231-237). Die Organisatoren präzisieren in diesen nachgestellten Vorbemerkungen die Idee, dass das Kolloquium dazu diene, die romantische Forderung nach der Gattung einer über Einzelgattungen hinausgehenden „Universalliteratur" wiederaufzunehmen: „Ce qui nous sollicite, c'est le passage du pluriel au singulier. C'est la singularisation du concept ou de la visée du genre", Glyph 1 1980: 235). Diese Passage fand auf exemplarische Weise in der Jenaer Romantik statt, weshalb die Organisatoren des Kolloquiums die Frage der Gattung mit derjenigen der Literatur verbanden. Derrida dagegen akzentuiert nicht das literarische Absolute, sondern dasjenige, was die Literatur in einer Grenzpassage markiert und demarkiert. 67 „tout corpus de traces" (Derrida 1980: 185).

Die intermediale Passage der Gattungen

273

setz der Nicht-Verkettung noch ein Gesetz des Gesetzes), ist das Gesetz bei Derrida immer paradox. Er behandelt es nicht als absolute Differenz -die unerreichbare Anforderung eines sublimen Ereignisses (Lyotard)-, sondern als ein unendliches Differieren von Differenzen, im Sinne von Deplatzierungen und Disseminierungen, die stets mit Texten und Gattungen verbunden sind. Die Gattung kann demzufolge als Inbegriff weder der Identität noch der NichtIdentität eines Textes dienen. Auf diese Weise öffnet Derrida den Weg für eine Auffassung der Gattung als einem Phänomen, das seine eigene Transgression miteinschließt, indem es stets darauf verweist, dass es das, was es zu sein scheint, ist und zugleich nicht ist. Die Gattung als Indiz dafür, dass sich der Text nicht in seiner Selbstheit erschöpft, wird damit nachgerade zum Indiz seiner Alterität. Schließlich gewinnt „La loi du genre" an Bedeutung angesichts der augenscheinlichen Ähnlichkeit zwischen der „unvorstellbaren Figur" der Generizität und dem „blinden Fleck" der Medialität. Die „Klausel" schließt die Gattung im unsichtbaren Augenblick eines „Lidschlags", so, wie die „mediale Zäsur zwischen Auge und Blick" das Medium im Alltagsgebrauch verschwinden lässt. 68 „La loi du genre" könnte so die beiden Figuren -den generischen Lidschlag und die mediale Zäsur zwischen Auge und Blick- einander nahe bringen, wenn man den Text dahingehend weiterdenkt, dass die mediale Zäsur in der Bewegung des generischen Lidschlags vorausgesetzt wird: Das Medium der Literatur, beispielsweise, kann als Gattung gesehen werden, aber ihre Klausel selbst ist nicht generisch - womöglich deshalb, weil sie medial ist.

7. Die intergenerische Hybridisierung

in ihrer historischen

Dimension

Wir haben soweit die Bedeutung von „La loi du genre" für eine postmoderne Theorie der Gattungen behandelt, insofern sie die paradoxe Struktur identitärer Markierungen aufdeckt und die Begrifflichkeit des Mediums impliziert. Es steht allerdings noch aus zu erörtern, welche Rolle dabei der intergenerischen Hybridisierung aufgrund ihrer historischen Dimension für Lateinamerika zukommt. Mit Blick auf dieses Ziel nehmen wir die Argumentation Bachtins, die wir in der Moderne zurückließen, wieder auf, um den Text von Derrida besser situieren zu können. Es geht dabei vor allem darum, sich in einer Gesamtsicht die Gattung als Geschichte

68

„Die Medialität der Medien - so können wir vorrausschicken - bleibt der blinde Fleck im alltäglichen Mediengebrauch. Eben diesen blinden Fleck möchte ich nun (im Gegensatz zum okularen Modell der Systemtheorie) als die mediale Kluft zwischen Auge und Blick definieren" (Tholen 2000).

274

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

zugleich mit der Geschichte der Gattungen vorzunehmen, insofern Derrida bewusst auf der Schwelle zu dieser Frage verharrt und nicht über sie hinausgeht.69 Wie bereits angemerkt wurde, besteht der Beitrag Bachtins zur Theorie der Gattungen darin, die Geschichte als Evolution dialogischer Gattungsbeziehungen zu entwerfen. Da sich jeder Äußerungsakt in Gattungen vollzieht, sind es die Gattungen, die sozio-historischen Wandel in die Sprachen einfuhren. Die („sekundären") Gattungen der Kultur konstituieren sich, indem sie andere („primäre") Gattungen inkorporieren und von diesen ein Register bewahren. Das, was die kulturellen Gattungen gemäß Bachtin markiert, ist demzufolge ihre Dialogizität, die sie zu den anderen Gattungen aufrecht erhalten. Das postmoderne Hereinbrechen von „La loi du genre" in die Überlegungen von Bachtin wirft die Frage danach auf, in welchem Maße die Dialogizität beim Markieren zur Demarkierung beiträgt. Dialogizität ruft eine intergenerische mise en genre hervor, in deren Folge die historische Unterteilung in primäre und sekundäre Gattungen als hierarchische Unterscheidung zu funktionieren aufhört.70 Wenn man die Texte von Bachtin und Derrida auf diese Weise hybridisiert, so impliziert dies eine Passage über die Schwelle der Geschichte. Auch wenn es Derrida nicht zugleich mit der Dekonstruktion (der Theorie) der Gattung und der Geschichte (als Gattung) aufnehmen wollte, oder er dies nicht gleichzeitig leisten konnte, so bewirkt seine mise en genre mit Bachtin, dass das Problem der Markierungen sich in Richtung einer mise en histoire der Repräsentation verlagert, ist doch für Bachtin die Gattung der „Repräsentant des kreativen Gedächtnisses" (memoire créative). Daraus ergibt sich, dass das Problem des historischen Repräsentanten zu einem Problem der Geschichte nicht nur im Sinne dialogischer Evolution, sondern auch epistemischer Zäsuren wird. Genau dies ist aber das Thema von Michel Foucault: die historischen Brüche im System der Repräsentation der Dinge durch die Wörter. Die epistemologische Perspektive Foucaults figuriert daher im Weiteren als eine Art Komplement der Dekonstruktion von Derrida und beide als Supplement von Bachtin, insoweit sie uns erlauben, Bachtins Gattungstheorie im Kontext der Postmodeme neu zu fassen. Michel Foucault geht es in Les mots et les choses um die Problematik der historischen Brüche im System sprachlicher Repräsentationen. Er bestimmt einen dieser Brüche in der Unterdrückung der Gesamtheit historischer Konnotationen, mit denen 69

70

Was die historische Dimension seiner Reflexionen über die Gattungen anbetrifft, so behauptet Derrida, es bedürfe vorheriger Lektüre von L 'absolu littéraire, um seine Worte zu verstehen, die er nicht ohne Ironie am Rande jenes Buches über die deutsche Romantik situiert (vgl. Derrida 1980: 180). Er tut dies nicht nur, um die notwendige Wiederholung der historisch-romantischen Perspektive des literarischen Absoluten anzuerkennen sondern auch, um die Generizität seines eigenen Textes am Rande der historischen Problematik der Gattungen zu halten (vgl. Derrida 1980: 180-184 und vor allem 182). Man vergleiche dies mit Alastair Fowler, der drei relative Stadien der Gattungsevolution unterscheidet: „'Primary', 'secondary', and 'tertiary' then become relative to an observer interested in particular generic forms" (Fowler 1982: 164).

Die intermediale Passage der Gattungen

275

die biologischen Gattungen verbunden sind -also ihren historischen Text- durch den aufkommenden Wissenschaftsdiskurs des 17. u. 18. Jh. (vgl. Foucault 1966, Kap. 5: „Classer"). Im Folgenden erläutern wir diese Neuschreibung der biologischen Gattungen als ein Beispiel für die Rupturen des historischen Gedächtnisses der Gattungen. Damit sich die Repräsentation in ein wissenschaftliches Problem verwandeln konnte - so fuhrt Foucault aus —, war von der Prämisse einer Trennung zwischen Wörtern und Dingen auszugehen, die durch die historia naturalis überwunden werden sollte: So angeordnet und verstanden, hat die Naturgeschichte als Bedingung ihrer Möglichkeit die gemeinsame Zugehörigkeit der Sachen und der Sprache zur Repräsentation. Sie existiert aber als Aufgabe nur insoweit, als die Dinge und die Sprache getrennt sind. Sie wird also jene Distanz reduzieren müssen, um die Sprache dem Blick sehr nahe zu bringen und die betrachteten Dinge möglichst in die Nähe der Wörter zu rücken. (Foucault 1971: 173)71

Es ging also darum, eine Wissenschaftssprache zu erfinden, die fähig sein sollte, nicht mehr und nicht weniger als die Ähnlichkeiten und Differenzen zu repräsentieren, die sich auf einem „Tisch" -einer Repräsentationsanordnung- mit Hilfe eines dominanten Merkmals ergeben. Dieses Merkmal sollte es erlauben, eine Verbindung herzustellen zwischen der Ordnung der Wörter einerseits und der Ordnung der Dinge andererseits. Um ein solches Merkmal zu bezeichnen, welches im 18. Jh. noch aus der beobachtbaren Gestalt abgeleitet wurde, blieb nichts anderes übrig als auf eine andere Referenz-Ordnung zu rekurrieren - d i e Geometrie oder Anatomieaus welcher die Bezeichnungen oder Merkmale gewonnen wurden, mit denen sich schon bekannte Formen repräsentieren ließen. Das für dominant erachtete Merkmal wurde auf diese Weise zu einem Identitätszeichen, beispielsweise einer Pflanze. So dienten die paarweise angeordneten Bulben mancher europäischer Orchideen wegen ihrer den Testikeln [lat. orchis] ähnelnden Gestalt dazu, die Gattung zu bezeichnen. Nicht von ungefähr wurden just die Sexualorgane der Pflanzen -wie z.B. das Stigma- für geeignet erachtet, um die identitäre Generierung der Gattung zu stigmatisieren' bzw. zu repräsentieren. Diese Operation, den historischen Gattungstext auf einige wenige Markierungen oder Merkmale zu reduzieren, hatte zum Ziel, in der Natur des Objektes eine ahistorische Identität der Gattung zu bestimmen; zugleich aber brachte sie den Effekt mit sich, vergessen zu lassen, dass die so verbleibenden Markierungen nach wie

71

,Ainsi disposée et entendue, l'histoire naturelle a pour condition de possibilité l'appartenance commune des choses et du langage à la représentation; mais elle n'existe comme tâche que dans la mesure où choses et langage ce trouvent séparés. Elle devra donc réduir cette distance pour amener le langage au plus près du regard et les choses regardées au plus près des mots" (Foucault 1966: 144).

276

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

vor einen historischen Text bilden.72 Foucault bemerkt, dass diese Repräsentation wenig oder gar nichts zu tun hat mit der natürlichen Ordnung der Dinge, sondern mit der sprachlichen Ordnung der Wörter. Die Regeln der Selektion und Kombination sind von der Sprache abgeleitete Regeln, so dass die Gattungstheorie unversehens zu einer Sprachtheorie wird, die eine natürliche Ordnung in Übereinstimmung ihres Systems zu beschreiben vorgibt. Der springende Punkt ist jedoch, dass sie dabei ihre textuelle Grundlage ignoriert oder ausschließt. Dies impliziert einen Blick, der sich ausschließlich auf das Objekt konzentriert; einen Blick mithin, der lernen muss, die das Objekt umgebende Textur zu ignorieren, so wie z.B. im Fall der Tierwelt die Bestiarien mit ihren antiken Mythologien.73 Indem die Gattung sich in ein privilegiertes Objekt des Wissenschaftsdiskurses des 17. Jh. verwandelt hat, transformierte sie sich-aus einer epistemologischen Perspektive heraus betrachtet- in eine formale Sprache und hörte auf, als ein historischer Text verstanden zu werden. Der Strukturalismus des 20. Jh. wird später in einen sehr ähnlichen Reduktionismus verfallen, wenn auch unter epistemologisch anderen Bedingungen. Ebenso wird er das wissenschaftliche Prinzip einer formalen Sprache wieder au&ehmen und von der Linguistik aus auf die anderen Gebiete der Geisteswissenschaften übertragen, darunter vor allem auf die Literaturwissenschaft. In der Folge liegt das strukturalistische Referenzsystem der Gattungen nicht mehr in der ,Natur des Objektes', sondern in der ,Natur der Sprache'. So gesehen besteht das Problem der Detextualisierung der Gattungen auch gegenwärtig in einem formalen Reduktionismus fort. Es überwiegen die sprachwissenschaftlichen Definitionen, welche die Gattung als eine Textsorte mit Familienähnlichkeit fassen. Weit entfernt davon, sich für die Familiengeschichte' zu interessieren -nämlich die Genealogie der Gattungen-, reduziert sich der von Wittgenstein abgeleitete Begriff der Familienähnlichkeit allerdings darauf, der Gattung lediglich bestimmte gemeinsame Merkmale zuzuschreiben, die ein Merkmalsbündel bilden, ohne dass jeder einzelne Text der Gattung alle Merkmale aufweisen muss.74 Auch die bekannte Definition von Hans-Robert Jauss des Erwartungshorizontes enthält die Gefahr des Reduktionismus, insofern sich die notwendige Rekonstruktion des historischen Horizonts auf 72

73

74

Auch Deirida suggeriert diese Idee in „La loi du genre": „II est toujours possible qu'un ensemble [de traits], j'appelle ça un texte, pour des raisons essentielles, qu'il soit écrit ou oral, remarque en lui-même ce trait distinctif* (Derrida 1980: 184). Allerdings ist die vom taxonomischen Streben herrührende historia naturalis noch weit entfernt von der modernen Art und Weise zu fragen gemäß jener Wissenschaft, die wir Biologie nennen, und zwar deshalb weil ihr ein Begriff vom .Leben' als komplexe Ursache der äußerlichen Formen, die man mit dem bloßen Auge erkennen kann, ganz und gar fehlt. Über die Analogie mit Familie im Kontext der Gattungen und seiner Ableitung von der Philosophie Ludwig Wittgensteins, vgl. Fishlove 1993. In Bezug auf die gleiche Analogie, aber angewandt auf die lateinamerikanische Literatur als Klassifikationsniveau, vgl. Mignolo 1982: 58. Hingegen für eine Theorie der Ähnlichkeiten literarischer Werke, die sich auf das relativistische Konzept der Ähnlichkeit von Karl Popper stützt, vgl. Hernardi 1972.

Die intermediale Passage der Gattungen

277

bestimmte Merkmale beschränkt. Der Vorschlag der Gattungstheorie von Miguel Gomes geht über die Detextualisierung der Gattung sogar noch hinaus, wenn er die Gattung auf eine leere Variable reduziert.75 Die historischen Brüche in der generischen Repräsentation, für die der EpistemeWechsel im 17. u. 18. Jh. beispielhaft steht, machen auf den hybriden Charakter des „kulturellen Gedächtnisses" der Gattungen aufmerksam, das sich aus Sedimenten zusammensetzt, welche vor allem auf die Zäsuren der Repräsentation verweisen.76 Die Gattungen repräsentieren demnach keine historische Kontinuität, sondern bewahren vielmehr Indizien der epistemischen Brüche. Die lateinamerikanischen Literaturgattungen, beispielsweise, verweisen uns zurück auf die europäische Tradition, von der sie in den meisten Fällen herrühren. Die Passage der Gattungstraditionen fuhrt daher nicht an der epochalen Zäsur der Konquista und der Kolonialisierung vorbei, mit welcher die Repräsentationsordnung der Gattungen rekonfiguriert wurde in Form einer doppelten Refraktion, die sowohl europäischen als auch amerikanischen Ursprungs ist. In der Neuen Welt gewinnen die mittelalterlichen Ritterromane beispielsweise eine neue Aktualität: Sie bilden ein Modell, die unfassbare Wirklichkeit des neuen Kontinents und seine Eroberung zu beschreiben. In Spanien dagegen wird das Genre, wie der Don Quijote gezeigt hat, zum Inbegriff der Wirklichkeitsferne, weshalb übrigens seine Passage nach Übersee von der Zensur explizit verboten wurde. Jorge Luis Borges' Erzählung über Pierre Menard, der sich Anfang des 20. Jh. zum Ziel setzt, den Don Quijote neu zu schreiben, macht wiederum deutlich, dass Raum und Zeit einen Text von Grund auf resemantisieren, selbst wenn er im Wortlaut mit seinem Modell übereinstimmt. Borges hat immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass literarisches Schreiben vom peripheren Standpunkt Lateinamerikas aus bedeutet, im Wiederaufgreifen der europäischen Kultur (und nicht nur dieser) Differenz zu stiften. Aus historischer Sicht gewinnt somit die hybride Konstituierung der Gattungen als Repräsentationssysteme an Profil. Die Gattungen der Gegenwart verweisen in ihrer refraktierten Repräsentation aber vor allem auf historische Gattungen. In dieser intergenerischen Beziehung erscheinen die Gattungen notwendig als hybride Pro75

Vgl. Gomes 1999 mit der erwähnten vierfachen Definition, der zufolge die Gattung leer, intertextuell, transitiv und kommunikativ ist. 76 Deswegen ist der evolutionistische Begriff des Gedächtnisses, welchen der russische Formalismus den Gattungen zuschrieb, zu relativieren. Boris V. Tomachevski, beispielsweise, formuliert, dass die alten Gattungen sich im literarischen Gedächtnis der Gegenwartsgattungen lebendig erhalten, ohne jemals völlig zu verschwinden: „Der mittelalterliche Ritterroman und der moderne [...] mögen kein einziges Merkmal miteinander gemeinsam haben, und doch ist der moderne Roman aus der langsamen und jahrhundertealten Evolution des alten Romans hervorgegangen" („La novela caballeresca medieval y la moderna [...] pueden no tener rasgo alguno en común, y, sin embargo, la novela moderna ha nacido de la lenta y plurisecular evolución de la novela antigua", Tomachevski 1928: 212, apud Huerta Calvo 1984: 97).

278

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

dukte anderer Gattungen. Als refraktiertes Zeichen setzt sich die Gattung aus verschiedenen Gattungszeichen zusammen, die sich aus einem infiniten semiotischen Verweisungsprozess auf andere Gattungen ableiten. Die resultierende mise en histoire der Repräsentation entspricht dabei einer semiotischen Kette, die in einer ,infiniten Verweisung' auf andere Gattungen besteht. Wir möchten dies mit einem Modell illustrieren, das wir dem pansemiotischen Konzept der Zeichentriade von Charles S. Peirce entlehnen:77

Wenn wir als ,Gattungsbezeichnung' beispielsweise ,Bestiarium' als Repräsentanten wählen, dann entspricht dem ,Gattungstext'78 das dynamische Objekt allegorischer Texte über reale und imaginäre Tiere, die uns vom Paradies erzählen. Die dritte Komponente des Modells, das „Gattungszeichen", steht für den Interpretanten, der in Bezug auf das Bestiarium als Verbindung der hermeneutischen Tradition 77

78

Zu einer semiotische Annäherung an die Gattungstheorie auf Grundlage des triadischen Modells von Peirce, vgl. auch Schnur-Wellpott 1983. So gesehen ist der Gattungstext ein Text, der sich in einem Zwischenzustand befindet zwischen dem Abstraktionsgrad der Merkmalsbündel von Gattungen und demjenigen der Konkretisierung einer unendlichen Summe von Einzeltexten. Wir können ihn aber auf jeden Fall als Text betrachten, oder genauer noch: als einen halb-abwesenden Text. Auf diese Weise gewinnt der textuelle Aspekt der Gattung an Profil als etwas, das notwendig unvollständig bleibt. Daraus resultiert die Gattung als eine Serie sich bewegender textueller Differenzen, die niemals zur Gänze zu Text wird.

Die intermediale Passage der Gattungen

279

des vierfachen Schriftsinns mit dem historischen Text betrachtet werden kann, in dem fragmentarische Überreste der Mythen und Fabeln aufgehoben sind, nebst Charakterisierungen, die von der antiken Naturgeschichte herrühren. Die Intervention des Interpretanten ist hierbei entscheidend, denn die Gattungstheorie tendiert dazu, einen der drei Aspekte des Gattungszeichens von den anderen beiden abzulösen. Der häufigste Fall ist die Abspaltung der Bezeichnung von der Gattung, mit der Rechtfertigung, es handele sich um ein sekundäres Problem.79 Aus semiotischer Perspektive hat Jean-Marie Schaeffer diese Abspaltung kritisiert. Er nimmt die Gattungsbezeichnungen sogar zum Ausgangspunkt seiner Analysen der Generizität. Sein Ansatz erlaubt zu differenzieren zwischen historisch variierenden Referenzen der Gattungsbezeichnungen. Nichtsdestoweniger beschränkt er sein Konzept der Generizität auf eine Typologie von Merkmalsbündeln, auf die die Gattungsbezeichnungen innerhalb eines gegebenen historischen Kontextes verweisen, ohne dabei den Aspekt der intergenerischen Repräsentation zu berücksichtigen. Der epistemische Bruch der Detextualisierung besteht somit -auf der Folie des obigen Modells betrachtet- darin, dass die Aufmerksamkeit von der vertikalen Achse auf die horizontale Achse gelenkt wurde, also von der historischen Korrelation zwischen Repräsentamen und Interpretant in Richtung einer strukturellen Opposition von Repräsentamen versus Objekt. Schließlich erlaubt das Modell zu zeigen, dass uns die Gattung im Sinne eines textuellen Zeichens mit dem Problem jedweder Intertextualität konfrontiert, nämlich mit demjenigen eines Textes, der nur teilweise als Text präsent ist. Jenseits der anwesenden Markierungen ist der ,Gattungstext' ein abwesender Text, aber deswegen nicht inexistent.

8. Die intermediale Passage der Gattungen in Lateinamerika Die Gattung als Geschichte stimmt nicht mit der Geschichte der Gattung überein. Eine Gattung lässt sich weder definieren, noch definiert sie selbst. Sie weicht von anderen Gattungen ab und verweist gleichzeitig auf sie. Die Geschichte der literarischen Gattungen im 20. Jh. (als Gattung) mag einem taxonomischen Eifer entsprechen - die Gattung als postmoderne Geschichte unterscheidet sich hiervon, indem sie auf eine systematische Taxonomie der nicht-literarischen Gattungen (z.B. biologischer, geometrischer, kommerzieller Herkunft) verweist, ohne sich im mindesten in dieser Bewegung zu erschöpfen. Nimmt man mit Bachtin und (darüber hinaus) mit Derrida an, dass sich jeder Äußerungsakt notwendig in (wenigstens) einer Gattung manifestiert, dann leuchtet der Ansatz von Alastair Fowler ein, dass Gattungen 79

Vgl. Todorov 1983: 178: „El estudio de los géneros debe hacerse a partir de las características estructurales y no a partir de sus nombres".

280

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

die literarische Produktivität nicht einschränken, sondern ganz im Gegenteil erst ermöglichen (vgl. Fowler 1982: 20). Fowler erklärt detailliert, dass die Gattungen „intergenerische Beziehungen" aufbauen, da sie durch dynamische Mischungen mit anderen Gattungen gebildet werden und auf diese Weise eine Grundlage für literarische Kreativität liefern (vgl. Fowler 1982: 251-55). Über Bachtin und Fowler hinaus fassen wir Gattungen als einen sich fortbildenden Kontext auf, in dem die Bedingungen der Möglichkeit kulturellen Ausdrucks gegeben sind. So gesehen ereignet sich die Kultur in der fortwährenden Bewegung der Gattungen. Eine postmoderne Kulturwissenschaft muss daher den Gattungen in ihrer Bewegung zwischen anderen Gattungen gerecht werden und vor allem ihrer Passage durch die Medien. In Lateinamerika stellt diese intergenerische und intermediale Passage ein privilegiertes Objekt der postmodernen Kritik dar.80 Das Phänomen selbst ist weder exklusiv lateinamerikanisch, noch postmodern -man kann es auch in anderen Regionen und anderen Epochen beobachten-, aber in Lateinamerika ist es aus historischen Gründen spezifisch. Einer dieser Gründe, und womöglich der wesentliche, ist die kulturelle Hybridisierung, die sich in Folge der Konfrontation der verschiedenen Kulturen ergab, die in die postkolumbische Geschichte des Kontinents involviert sind. Um diese „Hybridkulturen" zu analysieren, hat Néstor García Canclini Strategien vorgeschlagen, in differente Kulturstadien „ein-" und „auszugehen". Hiermit evoziert er die Möglichkeit kultureller Passagen als Bedingung der Postmoderne in Lateinamerika. Der Kritiker versteht die Postmoderne nicht als eine auf die Moderne folgende Etappe, sondern als Problematisierung der modernen Trennung in „Hoch-, Popular- und Massenkultur" (García Canclini 21995: 23). Obschon er nicht die Absicht verfolgt, einen theoretischen Text über Medien und Gattungen vorzulegen, fokussiert Canclini unweigerlich die intermedíale Hybridität der lateinamerikanischen Gattungen. So beschreibt er beispielsweise Strategien von Jorge Luis Borges, Literatur im Medium des Fernsehens zu respräsentieren, indem der Schriftsteller sie in „eine weitere Gattung" verwandelt, die den massenkulturellen Diskurs parodiert (García Canclini 21995: 105). Ein anderes Beispiel ist der Comic Inodoro Pereyra von Roberto Fontanarrosa, der „die Künste, die Gattungen und die Epochen durchzieht" und „aus einer Kreuzung von Literatur und Medien entspringt" (García Canclini 21995: 317). Die Beispiele illustrieren, dass Canclini die lateinamerikanische Gegenwartskultur als Passagen zwischen Prämoderne und Moderne begreift: Seine Metapher des „Ein- und Ausgehens" hebt darauf ab, dass „die Moderne nicht einfach nur ein Ort oder Zustand ist, in den man eintritt oder aus dem man emigriert". Sie ist vielmehr als Bedingung zu verstehen, die uns in der fortwähren-

80

Die Hybridität zwischen Gattungen und Medien wurde bereits -wie wir gesehen haben- im Essay von Haroldo de Campos thematisiert (vgl. Campos 31976). Sie bildet Robert Stam zufolge ein wiederholtes Motiv, um Bachtins Begriffe der Karnevalisierung und Dialogizität auf die Massenkultur in Lateinamerika anzuwenden (vgl. Stam 1992).

Die intermediale Passage der Gattungen

281

den Bewegung der Hybridkulturen -wenn nicht gar jeglicher Kultur- erfasst (Garcia Canclini 21995: 333). Neben den kulturellen Passagen zwischen Prämoderne und Moderae wird den Übergängen von Oral- zu Schriftkultur große Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist der Bedeutung zuzuschreiben, die der so genannten mündlichen Kultur in Lateinamerika bis heute zukommt. Eine Untersuchung, die die intermedialen Passagen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit an eine spezifische Gattung koppelt, ist das Buch von Josefina Ludmer über den género gauchesco. Darin skizziert sie den Übergang der „Stimme" des Gauchos von der mündlichen zur geschriebenen Poesie und den politischen „Gebrauch", welchen die Kultur der Gebildeten dadurch von der Popularkultur macht. Diese Bewegung wird außerdem durch die entgegengesetzte Bewegung ergänzt, „die Passage von der Lektüre zur Stimme, zum Gesang und zum kollektiven Gedächtnis", so dass sich „ein Netz des Tauschens, der Anleihen und der wechselseitigen Beziehungen" etabliert (Ludmer 1987: 128 u. 12). Ludmer konstruiert auf diese Weise eine intermediale Gattung, welche die „Grenzen" zwischen Literatur und Oralität in beide Richtungen überschreitet: Die Gattung radierte eine Einteilung aus und überschritt eine Grenze: die der Trennung in Literatur und Nicht-Literatur gemäß des Mündlichen und des Schriftlichen. (Ludmer 1987:44)

Darüber hinaus verbindet Ludmer mit der Gattung noch eine weitere Grenzüberschreitung: Gemeint ist der Übergang zwischen Literatur und Nicht-Literatur bzw. zwischen Poesie und Traktat. Diese Überschreitung affiziert sowohl die Gattung, die Ludmer analysiert, als auch die Gattung ihrer Analyse. Die Autorin bestimmt einerseits den género gauchesco als eine Abhandlung über das Vaterland, in dem die Vokabel(n des) „Gaucho" in der selben Art und Weise zu definiert wird/werden wie in einem wissenschaftlichen oder politischen Text. Andererseits spielt sie mit Titel und Untertitel (Die Gattung des Gauchesken / Eine Abhandlung über das Vaterland), woraus eine Ambivalenz entsteht zwischen einer thematischen Bedeutung (,Die Gattung des Gauchesken ist eine Abhandlung über das Vaterland') und einer generischen {,dieses Buch ist eine Abhandlung über das Vaterland'). So bietet sie die Möglichkeit an, ihr Buch wie eine Abhandlung über das Vaterland zu lesen und zugleich als Werk der gauchesken Literatur.81 In der Tat entwickelt Ludmer eine 81

Ludmer bezieht sich ebenso auf „diesen Essay" („este ensayo", Ludmer 1988: 14) als auch auf „diesen Traktat" („este tratado", 11), so dass wir nicht feststellen können, ob die Bezeichnung ihres eigenen Buches auf der Seite der Kritik oder der Literatur steht. Diese bewusste Mischung scheint auch im Untertitel des dritten Kapitels „Ein Pastiche der Literaturkritik" („Un pastiche de critica literaria", 239) auf, da es sich auf eine konsekutive Serie unterschiedlicher Kritikerstile bezieht als ob es sich um ein stilistischen -also literarischenEssay handele. Aus diesen Gründen und aufgrund solcher Formulierungen wie „an die Gattung in meinem Vaterland zu denken" oder „an das Vaterland denken zu wollen" („pensar en el genero en mi patria", „querer pensar en la patria", 316) können wir schlussfolgern, dass die Ambivalenz des Untertitels beabsichtigt ist.

282

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

postmoderne Form, die Gattung zu behandeln, derzufolge die Gattung der Kritik und die kritisierte Gattung an gemeinsame Grenzen stoßen: Die beiden Grenzen berühren sich: auf der einen Seite die Objekte, die man liest, auf der anderen die Positionen, die zur Konstruktion und Lektüre dieser Objekte dienen: die Subjekte oder das Subjekt mehr und mehr dispers und beweglich. Dazwischen die Grenzen oder Demarkationslinien von Gattung und Kritik. (Ludmer 1987: 14)82

Historisch kann die doppelte Transgression der Demarkationslinie zwischen Literatur und Nicht-Literatur -zwischen dem Mündlichen und dem Schriftlichen einerseits und der Gattung und der Kritik andererseits- auch auf die Gattung der lateinamerikanischen Literatur bezogen werden. Die wechselseitige Passage zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist sowohl der Gattung des Gauchesken eigen als auch der Literatur des Kontinents überhaupt, und als historisches Phänomen der lateinamerikanischen Literaturgeschichte insgesamt. Die „Gabe der Schrift", welche die vermeintlichen Oralkulturen aus der Hand der Eroberer empfingen und mit der die „Stunde Null" der lateinamerikanischen Literatur (vgl. Comejo Polar 1994: 26) markiert wird, verdeckt die Existenz von ,prä-lateinamerikanischen' Gattungen und einer Literatur der „Vierten Welt" (vgl. Brotherston 1997). Dieses Verdecken wird gerechtfertigt durch ein teleologisches Modell, demzufolge die Passage einzig und allein von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit führt, also von den autochthonen Oralkultuten zur lateinamerikanischen Literatur. Das entsprechende teleologische Modell gründet im Wesentlichen auf einer phonozentrischen Auffassung der Schrift (mit der ihr zugrundeliegenden Idee einer Präsenz der menschlichen Stimme) und einer technozentrischen Auffassung des Mediums (mit der ihr zugrundeliegenden Idee der unmittelbar gegebenen Präsenz des menschlichen Körpers). Beide Auffassungen tendieren dazu, die intermediale Passage dem anthropologischen Primat einer imaginären Integrität des Körpers zu unterwerfen, die in letzter Instanz einer Metaphysik der Präsenz entspricht. Außerdem wird in der Idee einer einseitigen Passage vom Mündlichen zum Schriftlichen das Medium der Mündlichkeit vom Medium der Schriftlichkeit dissoziiert, gerade so als stelle es eine universelle Dichotomie dar, wodurch aber die Passage vom einen zum anderen als ein gegenseitiger Ausschluss resultiert. Entgegen einer solchen dichotomischen

82

„Las dos fronteras se tocan: de un lado los objetos que se leen, del otro lado las posiciones para la construcción y lectura de esos objetos: los sujetos o el sujeto cada vez disperso y móvil. En el medio las fronteras o límites del género y de la crítica (Ludmer 1987: 14)." Die Überschreitung der Grenzen bedeutet allerdings nicht, dass die Grenzen gänzlich verschwänden. Dies würde der Utopie einer kritischen Gattung entsprechen, die alles zu sagen erlaubte über die kritisierte Gattung, so dass sie sich in diese Gattung und somit in eine Evidenz verwandeln müsste: „Zur Paradoxie der Transparenz zu gelangen, hieße, zugleich mit der Gattung (dasjenige, was man liest) die Kritik (diejenige, die liest) aufzulösen" ( „ L l e g a r a la paradoja de la transparencia seria llegar a disolver simultáneamente el género (lo que se lee) y la crítica (la que lee)", Ludmer 1987: 15).

Die intermediale Passage der Gattungen

283

Auffassung ist der Begriff der scriptOralität vorgeschlagen worden, um die simultane Bedeutung beider Medien aufzuwerten. Mit dem intermedialen Konzept wird impliziert, dass beide Medien seit jeher zugleich involviert sind, obschon sie sich in ihrer jeweiligen historischen Bedeutung unterscheiden und gegenseitig verschieben (Schäffauer 1998). In summa, es mangelt im Allgemeinen an einer kritischen Wahrnehmung der Intermedialität zwischen diesen beiden Medien und anderen, so dass die Grammatologie á la Derrida zu erweitern wäre im Sinne einer Medialogie.83 Wie wir in der Analyse von Ludmer beobachten konnten, entfalten sich die intermedialen Beziehungen mittels der Gattungen. Neben dem Medium der Literatur lenken die Massenmedien die Aufmerksamkeit auf die Gattungsbewegungen, weshalb die postmoderne Kritik in Lateinamerika eine wichtige Debatte über die Beziehungen zwischen der Popular-, der Hoch- und der Massenkultur führt. Beatriz Sarlo beispielsweise weist das Argument eines vom Fernsehen verwirklichten Recyclings der Gattungen zurück (vgl. Sarlo 1994: 101). Ganz im Gegenteil, sie zieht es vor, das Fernsehen als Medium zu charakterisieren, das -aus „intellektueller Faulheit" und Gründen der Marktlogik- sich mit der eigenen „Wiederverwertung" begnüge (Sarlo 1994: 100). Auch wenn die Autorin ein „feines, aber gleichwohl offensichtliches Netz" zwischen dem Fernsehen und einem anderen kulturellen Sektor, dem underground-Theater zugesteht, so tut sie dies nicht ohne zugleich dem Fernsehen einen „weißen Imperialismus" zu bescheinigen, der „keine Grenzen kennt" und den underground „ohne größere Konflikte" vereinnahme (Sarlo 1994: 105). Das Fehlen einer stärker von der Gattungstheorie durchdrungenen Reflexion über die Medien überrascht auch in einem so bedeutenden Buch wie demjenigen von Jesús Martín-Barbero. Unter dem Titel De los medios a las mediaciones (dt.: Von den Medien zu den Vermittlungen) fokussiert er den „mestizaje", der „das Indigene mit dem Ruralen, das Rurale mit dem Urbanen, die Folklore mit dem Popularen und das Populäre mit der Massenkultur durcheinander bringt" (Martín-Barbero 1987: 10). Die Massenmedien führen demnach nicht zum Verfall der Kultur, sondern verkreuzen vielmehr die „Erfordernisse des Marktes" mit den „kulturellen Matritzen" der Konsumenten. Die Massenkultur konstituiert über die „Vermittlungen" einen „Ort der Anfrage und Anerkennung der popularen Klassen" (Martín-Barbero 1987: 12). Die Vermittlungen sind also das Objekt der Analyse von Martín-Barbero und nicht eigentlich die Medien. Und obschon die Gattungen ebensowenig im Zentrum seines Interesses stehen, so kommt er doch nicht umhin, sich mit der Bedeutung der Gattungen zu befassen als „Schlüssel für die Analyse der massenkulturellen Texte" 83

Eine solche Medialogie würde eher einer epistemologischen Reflexion entsprechen als einer Medientheorie. Der Cours de médiologie générale von Régis Debray verfolgt hingegen die Ambition, eine Medienwissenschaft nach Art des Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure zu etablieren, anstatt einen solchen Versuch gemäß der Grammatologie von Jacques Derrida kritisch zu hinterfragen (vgl. Debray 1991 u. 1994; zur Grammatologie, vgl. Schäffauer 1998: 42-44 u. 73-76).

284

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

(Martín-Barbero 1987: 239 u. 241). Er kommt zum Schluss, dass die Gattungen zwischen Produktion und Rezeption vermitteln und -aus Sicht der Pragmatik- über die Kompetenz der Rezipienten Auskunft geben. Sie erlauben auch Aufschluss darüber, wie ihre Wieder- bzw. Anerkennung („reconocimiento") in einer kulturellen Gemeinschaft funktioniert (vgl. Martín-Barbero 1987: 12). Angesichts der überwältigenden Präsenz der Massenkultur in Lateinamerika ist Martín-Barberos Argumentation von strategischer Bedeutung, wenn es um den Status der Zuschauer als kulturelle „Subjekte" geht, die nicht vollständig der Entmündigung durch eine allmächtige Kulturindustrie anheimfallen, sondern die die Produkte der audiovisuellen Medien eigenen Sinnbildungsprozessen unterwerfen. Indem sie Massen- und Popularkultur miteinander vermischen, machen die Gattungen deutlich, dass auch die Massenkultur von textuellen Kompetenzen seitens ihrer Rezipienten lebt, die auf langwährende kulturelle Traditionen zurückgehen. Die Gattungen durchziehen auf diese Weise die Geschichte und die jeweiligen Medien. Die Gattung par excellence, die Auskunft gibt über die Nicht-Kontemporaneität und Mestizierung der Kultur in Lateinamerika ist für Martín-Barbero das Melodrama. Seine Passage durch die Medien manifestiert sich im Tango, in der radionovela, in der telenovela, im mexikanischen Kino und in anderen Gattungen. Indessen vertieft der Autor weder die Beziehungen des Melodramas zu anderen Gattungen noch zu anderen Medien. Auf diese Weise verlagert er die Analyse der Medien in Richtung ihrer sozialen Vermittlungen, da er den von den Medien ausgelösten Prozessen Vorrang einräumt und nicht länger den Medien selbst - als wären letztere statische technische Apparate und nicht Teil eines kulturellen Dispositivs, das sich in Bewegung befindet. Ein Beitrag, der neue Wege in der Diskussion der Beziehung zwischen Gattungen und Medien weist, ist Semiótica de los medios masivos („Semiotik der Massenmedien", 1993) von Oscar Steimberg. Diese Studie ist in unserem Kontext ein unverzichtbares Referenzwerk, das die Massenmedien in Bezug auf die mediale Transposition der Gattungen untersucht. Dies wird deutlich im Untertitel „Die Medienpassage der popularen Gattungen" (El pasaje a los medios de los géneros populares). In der Tat verdanken wir dieser Arbeit nicht nur die radikalste Thematisierung der Gattungstransposition in ihrer kulturellen Bedeutung, sondern auch den Terminus intermediale Passage. Er ist unserer Ansicht nach der angemessenste, um die Spannungen und Transformationen in den Blick zu bekommen, die mit dem Wechsel des medialen Trägers der Gattung einhergehen. Der Terminus erscheint nur ein einziges Mal -en passant-, jedoch mit der Absicht, die Studien von Jesús Martín-Barbero im Kontext der lateinamerikanischen Forschungen zu würdigen (Steimberg 21998: 117 f.). Was aber die Intermedialität anbetrifft, so geht Steimberg über den Ansatz von Martín-Barbero hinaus, insofern er vorschlägt, die „wechselhafte Bedingung" der Gattungen zu untersuchen, die er als „privilegierte Indikatoren der Mobilität der Kultur" auffasst (Steimberg 21998: 88). Mit dieser Prämisse er-

Die intermediale Passage der Gattungen

285

forscht er die „intermediale Zirkulation der Gattungen" in Form von Gattungstranspositionen und spürt so den Bewegungen der Kultur selbst nach. Sein Forschungsgegenstand betrifft folglich die Mutationen von Transgattungen, die beim Wechsel des Mediums ein doppeltes Problem aufgeben: einerseits das „Fortbestehen bestimmter transmedialer Gattungen" (Steimberg21998: 15) und andererseits „das Auftauchen von spezifischen Gattungen in jedwedem Medium, welche mit den ihm eigentümlichen Merkmalen versehen sind" (Steimberg 21998: 15 f.). Sein bevorzugtes Beispiel ist die Transgattung des populären Rätsels, die aus der mündlichen Tradition herstammt und als Frage-Antwort-Show ins Fernsehen gelangt. Diese Passage von der Populartradition hin zum Massenmedium erweist sich Steimberg zufolge als Bewegung sowohl der kollektiven Formen des Wissens als auch als Mythos der sozialen Integration: Ein neuer Modus,flüchtigund zweitrangig, die symbolische Bestätigung der Gattungen des Rätsels zu gewinnen, ersetzt den alten, indem er ein neues Wissen ins Werk setzt und seine Utopien sozialer Integration mit einer neuen Maske verdeckt. (Steimberg 21998: 140) Der mediale Wechsel produziert neue Formen des Gattungswissens und der Maskierung sozialer Zusammenhänge, ohne dass hierdurch einem bestimmten Medium mehr oder weniger „Wahrheit" zugeschrieben werden könnte. Im Gegenteil, es ist von einer komplementären „Wahrheit" auszugehen, relativ zum jeweiligen Medium (vgl. Steimberg 21998: 137). Die Untersuchung von Steimberg situiert sich auf diese Weise in der Tradition einer nicht wertenden semiotischen Erforschung der Massenmedien, die davon absieht, mit medialen Transpositionen weder apokalyptische noch utopische Visionen zu verbinden. Innerhalb dieser moderaten Forschungslinie versucht er den traditionellen Referenzbereich der Gattungen -nämlich die Literatur- zu erweitern, indem er den kulturellen Beitrag der so genannten „primären Gattungen" der mündlichen Kultur einbezieht und anerkennt. Steimberg distanziert sich auf diese Weise von der Prämisse eines kulturellen Niedergangs, und dies vor allem, weil er in Anlehnung an Benjamin der Massen-Zerstreuung eine Qualität von Bildung zuspricht. Ebenso eröffnet er eine Perspektive für den medialen Umweg der Transgattungen, da „wir in einer Kultur der Transpositionen leben" (Steimberg 2 1998: 16). Tatsächlich erkennt Steimberg in den Transgattungen jene Gattungen wieder, die in den Massenmedien vorherrschen. Ihre Popularität fuhrt er auf ihren vermeintlichen Universalcharakter zurück. Deshalb assoziiert er die Transgattungen mit demjenigen, was Bachtin und Jolles als „primäre Gattungen" bzw. „einfache Formen" bezeichnet haben. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob die „sekundären" bzw. „komplexen Gattungen" nicht ebenso fähig sind, sich in Transgattungen zu verwandeln. Eine solche Fragestellung ginge über die Untersuchungen intermedialer Transpositionen einzelner Werke, wie z.B. den Roman Don Quijote, hinaus, die an komplexen Gattungen teilhaben. Außerdem wäre zu fragen, ob sich nicht jegliche

286

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

historische Gattung in eine Transgattung verwandeln kann, wenn ihr freie Passage zu anderen Medien gewährt wird. Solche Fragestellungen würden gegebenenfalls die Vorstellung einer pluridirektionalen Bewegung der Gattungstransposition stark machen und die hierarchische Ordnung der Einteilung in „primäre" und „sekundäre Gattungen" in Zweifel ziehen. Womöglich wäre der Begriff der Transgattung eher einer transgenerischen Betrachtungsweise der Gattungen (.zwischen Medien') vorzubehalten anstatt damit bestimmte Gattungen oder Gattungen im Allgemeinen (,außerhalb der Medien') zu bezeichnen. Wenn Steimberg allerdings einen „Typus prä- oder außermedialer Gattungen" (Steimberg 21998: 125) postuliert, legt er damit nahe, gewisse Transgattungen könnten außerhalb der Medien existieren (als ob das Orale kein Medium wäre). Obschon Steimberg davon ausgeht, dass die Analyse der Medien notwendig auf die Frage der Gattungen verweist, bleibt die Frage der Medialität der Gattungen ein Aspekt, der weiter zu entwickeln ist. Steimberg bemerkt hierzu mit Recht, dass der Problematik der Gattungen in den Massenmedien für gewöhnlich große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei herrsche allerdings eine Verwirrung zwischen Gattungen und Medien vor, mit der Folge, dass dem Medium Effekte zugeschrieben werden, die in vielen Fällen auf das Konto der Gattung gehen, und viceversa (vgl. Steimberg21998: 37). Aus dieser Verwirrung gingen eine Reihe von „klassischen Fehlurteilen hervor wie z.B., dem Medium die Eigentümlichkeiten einer Transgattung zuzuschreiben, die sich in ihm niederlässt, die ihm aber vorgängig ist und es auch überschreitet".84 Im Gegenzug weist beispielsweise die Gattungstheorie von Miguel Gomes der Gattung eine „Leere" zu, die für gewöhnlich dem Medium als indifferentem Träger zugeschrieben wird. Was hier auf dem Spiel steht, das ist die Untrennbarkeit der Frage der Gattungen von deijenigen der Medien, und umgekehrt. Es geht also darum, die gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium zu fassen. Das Medium wäre in dieser Perspektive nicht nur als technologischer „Träger" der Gattung zu verstehen, sondern als dasjenige, was der Gattung ihre Wahrnehmbarkeit verschafft. Zugleich wird damit aber auch deutlich, dass das Medium sich nicht anders manifestieren kann als in den Gattungen.

9. Medium und Gattung: Die Medialität der Gattung und die Generizität des Mediums Wie kann man die wechselseitige Bedingung von Gattung und Medium denken? Abgesehen von einigen frühen Forderungen nach einer Gattungstheorie, in der die 84

Es ist merkwürdig, dass Steimberg, um diese Verwirrung zwischen Medium und Transgattung zu belegen, just zwei Gattungen anfuhrt als „vielfach benutztes Beispiel: dasjenige der Telenovela und seiner Beziehung zum Melodrama" („ejemplo largamente explotado: el de la telenovela y su relación con el melodrama", Steimberg 21998: 16).

Die intermediale Passage der Gattungen

287

Medien und der Medienwechsel berücksichtigt werden sollte, ist eine gemeinsame Gattungs- und Medientheorie nach wie vor ein Desideratum.85 Angesichts des Mangels einer solchen Theorie schlagen wir vor, die Lektüre von „La loi du genre" wiederaufzunehmen, um an unsere Bemerkungen zur augenscheinlichen Nähe zwischen der „unfigurierbaren Figur" der Generizität und dem „blinden Fleck" der Medialität anzuknüpfen. Dies würde uns erlauben, die Infigurabilität der Bewegung der Gattungsschließung mit der Invisibilität des Mediums, das hinter der Botschaft zurücktritt, zu korrelieren, und somit den Zusammenhang zwischen dem generischen Lidschlag und der medialen Zäsur zu erläutern. Wie wir bereits in „La loi du genre" sahen, bestimmt die Klausel die Gattung, ohne an ihr Teil zu haben, und sie verweist auf etwas, das sich unserer Wahrnehmung auf der Ebene der textuellen Repräsentation entzieht. Es sieht nun ganz so aus, als ob an diesem Wahrnehmungsentzug auch das Medium Teil hat, denn analog dazu versagt es sich in der Transparenz der Repräsentation weitgehend der Wahrnehmung, obschon niemals ganz und gar. Um das Medium in seiner Unsichtbarkeit zu denken, hat Sybille Krämer den Begriff der „Spur" von Derrida vorgeschlagen. Die Spur verweist in diesem Sinne auf die Abwesenheit eines Verursachers, der sie ohne Absicht verursacht hat. Krämer entwickelt ihre Auffassung vom Medium in Auseinandersetzung mit den einander entgegengesetzten Positionen von Marshall McLuhan und Niklas Luhmann: Auf der einen Seite entwirft McLuhan die Medien als technische Apparate und postuliert die Identität von Botschaft und Medium gemäß seines polemischen Diktums, dass das Medium die Botschaft sei. Auf der anderen Seite schließt Luhmann jegliche Beteiligung des Mediums an der Botschaft aus, da er ihre Beziehung zueinander als Indifferenz bestimmt (vgl. Krämer 1998: 75 ff.). Die Argumentation von Sybille Krämer basiert hingegen auf dem Begriff der Spur gemäß Jacques Derrida, der sich wiederum auf den Versuch Sigmund Freuds stützt, das Zusammenspiel von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis anhand eines so genannten „Wunderblockes" zu illustrieren.86 Krämer beobachtet, dass Derrida die Freudsche Metapher des Unterbewusstseins als Schrift praktisch invertiert, um seinerseits die Schrift als das Unterbewusstsein der abendländischen Metaphysik herauszustellen. 85

Zu einem frühen Versuch, eine mit den Medien verbundene Gattungstheorie zu skizzieren, vgl. Sauerland 1978. In Bezug auf das Desideratum einer Theorie der Gattungen und Medien, ist bemerkenswert, dass Peter Stolz in einem Forschungsüberblick über die Gattungstheorie dazu gelangt, festzustellen, dass die Diskussion der Gattungen „nicht mehr vom Problem des Mediums und des Darstellungsmodus getrennt gefuhrt werden kann" (Stolz 1990: 215). Allerdings ist das gutgemeinte Signal, das Medium wenigstens zu berücksichtigen, noch weit davon entfernt, wenigstens Fragen aufzuwerfen. Ein großer Schritt nach vorne stellt daher der konstruktivistische Ansatz einer Mediengattungstheorie (theory of media genre) von Siegfried J. Schmidt dar, die darin besteht, die Gattungen als kognitive Schemata des Mediengebrauchs aufzufassen (vgl. Schmidt 1987 u. Schmidt/Weischenberg 1994). 86 Vgl. Derrida 1967: 293 ff., insbesondere 316 ff. u. 328 ff.

288

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Indem sie die Metapher auf die Medien als solche ausweitet, gelangt Krämer zur Schlussfolgerung, dass sich das Medium in der Botschaft einschreibt wie eine unhewusste Schrift, von der lediglich eine Spur übrig bleibt: Das Medium verhält sich zur Botschaft, wie die unbeabsichtigte Spur sich zum absichtsvoll gebrauchten Zeichen verhält, wie also —-jedenfalls im Sprachspiel Freuds— das Unbewußte in einem Verhältnis steht zu dem, was dem Bewußtsein zugänglich ist. Die sinnprägende Rolle von Medien muß also nach dem Modell der Spur eines Abwesenden gedacht werden; so nickt in den Blick, warum die Bedeutung von Medien gewöhnlich verborgen bleibt. Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums (Krämer 1998: 81).

Krämer präzisiert die Beziehung zwischen Medium und Botschaft anhand des Arguments, dass das Medium unter den menschlichen Aktivitäten beispiellos ist. Mit anderen Worten: die Funktion der Medien besteht darin, „Welten" zu erschaffen, die ohne die Medien nicht existieren können (Krämer 1998: 84 f.). Krämer verdeutlicht allerdings nicht, was sie mit den „Welten" meint, die durch Medien geschaffen werden. Demgegenüber schlagen wir vor, dass es sich um dasjenige handelt, was sich ausschließlich in den Gattungen konfiguriert. Auf diese Weise gewinnt die Schnittmenge zwischen den Begriffen Gattung und Medium an Profil: Die Gattungen formen die wahrnehmbare Oberfläche der Medien, in der diese lediglich in Form einer „Spur" intervenieren. Jeder Text hat Teil an einer oder mehreren Gattungen und jede Gattung an einer oder mehreren Medien, denn es gibt, um die entsprechende Aussage von „La loi du genre" zu ergänzen, weder Texte ohne Gattungen noch Gattungen ohne Medien, so wie es auch keine Medien ohne Gattungen und Gattungen ohne Texte gibt, obschon es sich immer nur um eine Teilhabe und niemals um eine Zugehörigkeit handelt.87 Die Notwendige Generierung der Medien in Gattungen ist ein wesentliches Problem für jedweden Text bzw. für Jeglichen Korpus von Spuren" (Derrida 1980: 185). Die Spur des Mediums in der Gattung des Textes wäre zu denken als Markierung der Medialität, die gemeinsam mit Markierungen anderen Typs allesamt in der Gattung interferiert ohne selbst zur Gattung zu gehören. Die Medialität angesichts der Herausforderungen der digitalen Medien zu denken, ist allerdings nicht nur ein Problem der Gattungen, sondern auch das anderer Medien. Mit der McLuhan'sehen Theorie der Interrelationalität der Medien ist das Bewusstsein gewachsen, dass Medien niemals in Reinform vorliegen, sondern sich stets in intermedialer Weise konfigurieren, gleichwohl in unterschiedlichem Grade und in unterschiedlichen Konstellationen. Das Internet als gegenwärtiges Leitmedium charakterisiert sich in diesem Sinne durch eine mediale Plurirelationalität 87

„Tout texte participe d'un ou de plusieurs genres, il n'y a pas de texte sans genre, il y a toujours du genre et des genres mais cette participation n'est jamais une appartenance" (Derrida 1980: 185).

Die intermediale Passage der Gattungen

289

dank seiner Fähigkeit, so unterschiedliche Medien zu integrieren und modifizieren wie die Schrift, das Telefon, das Radio, das Fernsehen, usw. Diese modifizierende Integration auf der Grundlage der Digitalisierung konfrontiert uns mit dem Problem der relativen Disponibilität der Medien, die Georg Christoph Tholen mit seinem Begriff der Zäsur der Medien fokussiert. Er bezieht sich in erster Linie auf die epochale bzw. epistemische Zäsur, die mit der Disponibilität der konventionellen in den neuen Medien einhergeht (vgl. Tholen 1998). Des Weiteren charakterisiert der Begriff die digitale Ära als eine Kultur der medialen Tanspositionen, die uns auf radikale Art und Weise mit der Medialität als Bedingung und Grenze der Wahrnehmung konfrontiert. Die Disponibilität der Medien im Computer eröffnet -gemäß Tholeneinen „Zwischenraum der Verschiebungen" von medialen Konfigurationen, in dem sich die Medialität der je disponiblen Medien manifestiert. Nicht erkennbar bleibt jedoch die Medialität desjenigen Mediums, welches die anderen verfugbar macht. Mit anderen Worten: Die Transponibilität der analogen Medien verweist uns ausgehend von einem intermedialen Raum ohne festen Ort zurück auf die digitale NichtIdentität. Darüber hinaus weist Tholen darauf hin, dass die Zäsur einen polisemischen Terminus der Disponibilität der Medien impliziert. Dieser manifestiere sich ebenso in der instrumenteilen Medialität als auch in der entgegengesetzten Möglichkeit einer Wendung des Mediums entgegen oder fern seiner instrumentellen Effektivität.88 Schließlich ist es die Zäsur, die uns mit der intermedialen Konfiguration der Medien konfrontiert; sie lässt uns in einem bestimmten Medium eine Pluralität von Medien erkennen, wobei wir immer eines übersehen, weil es ungesehen bleibt. Letzteres ist das Medium, von dem aus die anderen gesehen werden und das sich seinerseits, indem es das Sehen ermöglicht, dem Blick entzieht, obschon es beim Wechsel des Fokus oder des Mediums ebenfalls gesehen werden könnte. Die historischen Medien füllen begrenzte Räume von Möglichkeiten aus und lassen untereinander Freiräume -Zwischenräume- entstehen, die durch die Passage der Gattungen vorübergehend ausgefüllt werden können. Wenn wir im Kontext der Intermedialität in Rechnung stellen, dass die Medien sich nicht anders manifestieren als in medialen Spuren der Gattungen und dass die Gattungen in ihrer intermedialen Passage auf andere Medien verweisen, dann wird deutlich, dass Medien vor allem anhand der Gattungen in anderen Medien intervenieren. Genauer noch: Es sind die medialen Markierungen der Gattungen, welche die Anwesenheit anderer Medien in einem Medium anzeigen. Die Konsequenzen für die Beziehung zwischen Gattung und (Inter)Medium sind vielschichtiger Art, vor allem, weil sie ihren Markierungen die Funktion eines schleusenhaften Dispositivs verleihen, das in der Art und Weise 88

Vgl. Tholen 2000: „Zäsur der Medien meint also eine mehrdeutige Disponibilität: Mittelhaftigkeit und -gegenläufig- offene, unentscheidbare Wendbarkeit der Mittel fern von oder gegen das lückenlose, instrumentelle Wirkungsgefuge".

290

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

von Vexierbildern zugleich die Medien und die Gattungen wahrzunehmen erlaubt, je nach Perspektive. Man könnte von einer mise en genres sprechen, die sich als eine mise en médias herausstellt, und umgekehrt. Dieses nicht figurable Moment scheint in der Metapher eines Lidschlags zwischen der Intermedialität der Gattung und der Intergenerizität des Mediums auf.

10. Schluss Unserer Lektüre zufolge legt Derrida nahe, dass die postmoderne Aufgabe angesichts der Gattungen darin besteht, die unaufhaltsame Gattungspassage von textueller Identität hin zu kultureller Alterität zu anzuerkennen. Diese Passage kann sich weder in der Kritik an der Klassifikation oder im Streit um die korrekte Benennung erschöpfen, noch in der „Destruktion der Gattungen", die am Ende doch nur dazu dient, neue Gattungsbezeichnungen zu generieren. Es sieht ganz so aus, als müssten wir auch in der Gegenwart noch das Fortbestehen der Gattungen und zugleich die kategorische Halb-Abwesenheit des Gattungstextes konstatieren. Demnach besteht das Problem darin, der medialen Spur des Gattungstextes zu folgen und zu rekonstruieren, wie die Gattung niemals dazu gelangt, ganz und gar in einem Text aufzugehen, und wie sie dabei stets die Grenze passiert zu etwas Anderem. Dank dieser Permeabilität bringen die unvermeidlichen Passagen der Gattungen nicht nur die abwesenden Sätze zum Schweigen, sondern leiten auch ihre Rettung ein. Die gegenseitige Durchdringung der Hybridität der Gattungen mit deijenigen der Medien bildet schließlich für die postmoderne Kritik den Anstoß, die Interrelationalität der Gattungen und Medien zu beachten. Das Konzept einer Gattungstransposition zusammen mit demjenigen der intermedialen Passage wird transgenerische und intermediale Blickweisen ermöglichen, die nicht nur erlauben, die Bewegung der Gattungen besser in den Blick zu bekommen, sondern auch die wechselhafte Konstellation des intermedialen Dispositivs. Aus dieser Perspektive verweist uns die Passage zwischen und durch die Gattungen auf die historische Dimension der Kultur, die sich in den Zäsuren der Repräsentation bricht. Die postmoderne Zäsur der Medien erlegt uns auf, die wechselseitige Bedingtheit von Generizität und Medialität zu untersuchen und impliziert epistemologische Passagen von der Gattung zum Medium und vom Medium zur Gattung. Diese Zäsur untergräbt allerdings nicht nur die moderne Unterscheidung in Gattungen und Medien, sondern weitet die Gattungspassage aus auf die intermedialen Bewegungen, in denen die Gattungen die Medien anhand der Markierungen anderer Medien konfigurieren und rekonfigurieren. Die Wechselhaftigkeit der Gattungen kontaminiert somit die Medien und legt uns nahe, Kultur als eine Dynamik generischer und medialer Transpositionen zu verstehen. Die intermediale Passage der Gattungen zerstreut den

Die intermediale Passage der Gattungen

291

Gattungstext in den medialen Konfigurationen und konfrontiert uns auf diese Weise mit der Instabilität der Kultur unbesehen des scheinbaren Insistierens der Gattungen. Um das eingangs zitierte Beispiel der Gattungen im Internet aufzugreifen, kommen wir in einem kurzen Ausblick auf eine der erfolgreichsten Internet-Gattungen, wenn nicht sogar die erfolgreichste überhaupt: die Pornographie. Sie geht traditionell mit einer gesellschaftsumfassenden Polemik einher und macht auf diese Weise die Relevanz der Kategorie „Gattung" deutlich. Selbstverständlich erfand das Internet die Pornographie nicht, aber verbreitet sie mittlerweile blitzartig und ungefragt über Werbesendungen bis in die Privatsphäre hinein. Das Genre muss daher in letzter Zeit vermehrt dazu herhalten, diverse Zensurmechanismen im Internet zu rechtfertigen. Ein eindrucksvolles Beispiel, das geradezu paradigmatisch für eine Verkreuzung von Pornographie und Zensur steht, ist die Gattung der snujf-Fihnz. Sie wird nicht nur im Internet diskutiert, sondern schlägt auf das Netz zurück: Das Internet gerät unter Generalverdacht, Angebot und Rezeption dieser Gattung zu begünstigen. Snuff-¥\\mz zeigen einen Sexualmord vor laufender Kamera, wobei das Opfer eigens zu diesem Zweck umgebracht wird. Den Sexualpartner im Augenblick des Höhepunktes, aber auch davor oder danach und zu Zwecken der Luststeigerung vom Leben in den Tod zu befördern, ist kein neuartiger Stoff im Dunstkreis des Sadismus. Neu ist lediglich die Behauptung, dass es Filme gibt, bei denen ein Darsteller oder eine Darstellerin tatsächlich umgebracht wird - man findet diese Behauptung allenthalben im Internet. Nichtsdestoweniger ist es den Kriminologen aber bis zum heutigen Tag nicht gelungen, auch nur einen einzigen dieser verbrecherischen Filme ausfindig zu machen, so dass von einer massenhaften Verbreitung des Genres gewiss nicht die Rede sein kann. Ausgelöst wurde die Hysterie von einem Film aus Lateinamerika, der sich im Nachhinein als „Fälschung" entpuppte.89 Nachweisen lassen sich hingegen rund 40 Spielfilme, die von snuff-F\\msn handeln, selbst also keine sind, wie z.B. Snuff - Vitimas do Prazer (Brasilien 1977) oder Tesis (Spanien 1996). Allen gemein ist demnach, dass ihre snuff-Szenen fiktionaler Natur sind. Beim „echten" snuff-Film mit tödlichem Ausgang handelt es sich allem Anschein nach um einen Mythos, der sich hartnäckig im Internet hält, dort weiter ausbreitet und es letztlich afßziert. Ähnlich, wenn auch wesentlich komplizierter, verhält es sich mit der Behauptung, im Internet stoße man massenweise auf Kinderpornographie. Belegen kann diese Behauptung -abgesehen von Kriminologen- in senso strictu niemand, es sei denn, er würde sich strafbar machen. Schließlich darf kinderpornographisches Material grundsätzlich nicht gesichtet werden. Streng genommen können wir somit die 89

Es handelt sich um den argentinischen Streifen Slaughter (Findlay/Findlay 1971). 1976 erhielt er ein neues Ende, in dem eine Darstellerin scheinbar ermordet wird. Aus diesem Anlass wurde er in Snuffumbenannt, was dem Genre seinen Namen verlieh.

292

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Behauptung, im Internet würde Kinderpornographie massenhaft verbreitet, nicht selbst bezeugen. Der logische Fallstrick der Argumentation, aus dem Unvermögen, ein bestimmtes Genre bezeugen zu können, auf seine Nichtexistenz zu schließen, erinnert auf fatale Weise an die Leugnung des Holocausts durch den französischen Historiker Faurisson. Dieser hatte, was Lyotard in Le différend zum Ausgang seiner Argumentation nimmt, den Holocaust geleugnet, weil es keine Überlebenden der Gaskammern gäbe, die ihn bezeugen könnten. Auch das Verbrechen der Kinderpornographie geht mit einer theoretisch perfiden Logik einher, indem es sich einer interdisziplinären Bezeugung in der Praxis entzieht. Während Faurisson die Augenzeugenschaft als einzige Gattung des Beweises gelten lässt, wird in der Kinderpomographie die Augenzeugenschaft selbst zur verbrecherischen Gattung. Wir sind letztlich dazu verurteilt, die Äußerungen der mit Kinderpornographie befassten Autoritäten zu glauben oder nicht, ohne deren Thesen kritisch überprüfen oder gar in Frage stellen zu können. Kindeipornographie ist eine kriminelle Untergattung der (akzeptierten) Pornographie. Ihre Passage ins Internet kann geradezu als Paradebeispiel für die Relevanz der Gattung im postmodernen Mediengeschehen gelten. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass sie das gegenwärtige Dispositiv des Internets in seinem Kern angreift: Die Nicht-Passage des Körpers ins Internet verstärkt das Begehren nach Körperlichkeit - nach dem, was der Passage verwehrt bleibt. In der Folge verleiht die Metaphysik der Körperpräsenz dem Internet den Status nackter Wahrheit, indem sie ihm zuschreibt, die Wahrheit des Nackten in seiner verwerflichsten Form massenhaft oder auch nur versteckt feilzubieten. In der Auseinandersetzung mit den Gattungen geht es demnach längst nicht mehr darum, die zutreffende Bezeichnung für eine Textsorte zu finden, sondern darum, Zeugnis davon abzulegen, dass die Gattung aufgehört hat, ein eindeutiger Begriff der Identität zu sein. Mit der intergenerischen und intermedialen Passage verwandelt sie sich in einen vielschichtigen Begriff der Alterität, welcher gebietet, die Herausforderung anzunehmen, die unendlichen und fortwährenden Bewegungen der Kultur aufzuspüren und zu skizzieren.

Die intermediale Passage der Gattungen

293

Bibliographie Abad, Francisco (31985) [1981]: Géneros literarios. Barcelona: Salvat Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck — (1994): „Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis", in: Merten, Klaus; Schmidt, Siegfried J.; Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 114-140 Bachtin, M. Michail (1982): „El problema de los géneros discursivos", in: Estética de la creación verbal. Siglo XXI: Buenos Aires — (1984): „Les genres du discours", in: Esthétique de la création verbale. Paris: Gallimard, S. 263-308 — (1986): „The Problems of Speech Genres", in: Speech Genres and Other Late Essays. Hrsg. v. Caryl Emerson und Michael Holquist. Austin: Austin University Press, S. 60-102 Bachtin, M. Michail; Medvedev, P.N. (1978) [1928]: The Formal Method in Literary Scholarship. A critical Introduction to Sociological Poetics. Übers, v. Albert J. Wehrle, Baltimore; London: Johns Hopkins University Press Benjamin, Walter (31996): Das Passagen-Werk. 2 Bde. Frankfurt /M.: Suhrkamp Berg, Walter Bruno (1999): „Identidad y alteridad en América Latina: ¿un problema de género (literario)?", in: Bremer, Thomas; Schütz, Susanne (Hg.): II Congreso Europeo de Latinoamericanistas (CD-Rom), Halle-Wittenberg — (2000): „Ritos, juegos, pasajes: Julio Cortázar und seine Titel", in: Mecke, Jochen; Heiler, Susanne (Hg.): Randbezirke des Textes. Festschrift für Arnold Rothe. Glienicke/Berlin, Cambridge/Mass.: Galda+Wilch, S. 107-123 Borelli, Silvia Helena Simöes (Hg.) (1994): Géneros ftccionais, produqäo e cotidiano na cultura popular de massa. Säo Paulo: Colepäo GT's, Intercom N° 1 Brotherston, Gordon (1997): La América indígena en su literatura: los libros del cuarto mundo. México: Fondo de Cultura Económica Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Routledge: New York Campos, Haroldo de (31976) [1972]: „Superación de los lenguajes exclusivos", in: Fernández Moreno, César (Hg.): América Latina en su literatura. México: Siglo XXI, S. 279-300; siehe auch: id. (1977): Ruptura dos géneros na literatura latino-americana. Sao Paulo: Perspectiva Candido, Antonio (71993) [1975]: Formando da literatura brasileira: momentos decisivos. 2 Bde. Belo Horizonte: Itatiaia Cohen, Ralph (1989): „Do Postmodem Genres Exist?", in: Perloff, Maijorie (Hg.): Postmodern Genres. Norman; London: University of Oklahoma Press, S. 11-27 Cornejo Polar, Antonio (1994): Escribir en el aire, ensayo sobre la heterogeneidad sociocultural en las literaturas andinas. Lima: Ed. Horizonte Coutinho, Afrünio (1968-71): A literatura no Brasil. 6 Bde. Rio de Janeiro: Ed. Sul Americana — (1976): „O problema dos géneros literarios", in: Littera (Rio de Janeiro), Nr. 15, Ano IV, S. 16-24 — (1990) (Hg.): Enciclopédia de literatura brasileira. 2 Bde, Rio de Janeiro: FAE Culler, Jonathan (1975): „Towards a Theory of Non-Genre-Literature", in: Federman, Raymond (Hg.): Surftction. Chicago: Swallow Press, S. 255-262 Debray, Régis (1991): Cours de médiologie générale. Paris: Gallimard

294

Joachim Michael /Markus Klaus Schäffauer

— (1994): Manifestes médiologiques. Paris: Gallimard Derrida, Jacques (1967): L'écriture et la différence. Paris: Seuil — (1980): „La loi du genre", in: Glyph. Textual Studies, Nr. 7, S. 176-201 — (1986): Parages. Paris: Galilée — (1992): „Before the Law", in: Acts of Literature. Hrsg. v. Derek Attridge. New York: Routledge, S. 181-220 Fishlov, David (1993): Metaphors of Genre: the Role of Analogies in Genre Theory. Pennsylvania: Pennsylvania University Press Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard — (1971): Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp Fowler, Alastair (1982): Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford: Clarendon Press Garasa, Delfín Leocadio (1969): Los géneros literarios. Buenos Aires: Columbia García Canclini, Néstor (21995): Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad. Buenos Aires: Ed. Sudamericana Garrido Gallardo, Miguel (Hg.) (1988): Teoría de los géneros literarios. Madrid: Arco Genette, Gérard (1977):"Genres, types, modes", in: Poetique, S. 389-421 — (1986) [1979]: „Introduction à l'architexte", in: Genette, Gérard et al.: Théorie des genres. Paris: Seuil, S. 89-159 — (1987): Seuils. Seuil: Paris Ghiano, Juan Carlos (1951/61): Los géneros literarios. Principios griegos de su problemática. Buenos Aires Glyph. Textual Studies (1980), Nr. 7, hrsg. v. Samuel Weber. Baltimore: Johns Hopkins University Press Gomes, Miguel (1994): „Para una teoría de los géneros en Venezuela: el caso de la novela y el ensayo", in: Revista Iberoamericana, Vol. LX, Nr. 166-167, S. 155-166 — (1999): Los géneros literarios en Hispanoamérica: teoría e historia. Pamplona: Ed. Universidad de Navarra Grossmann, Rudolf (1969): Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur. München: Hueber Hardmann, Francisco Foot (2001): „Larissa e o sonho das passagens: historia como deslocamento", in: Berg, Walter Bruno; Brieger, Cláudia Nogueira; Michael, Joachim; Schäffauer, Markus Klaus (Hg.): As Américas do Sul: o Brasil no contexto latinoamericano. Tübingen: Niemeyer, S. 216-233 Hassan, Ihab (21982) [1971]: The Dismemberment of Orpheus. Towards a Postmodern Literature. Madison: University of Wisconsin Press Hempfer, Klaus W. (1973): Gattungstheorie. München: Fink Hernardi, Paul (1972): Beyond Genre. Ithaca: Cornell University Press Holquist, Michael (1986): „Introduction", in: Bachtin, Michail: Speech Genres and Other Late Essays. Hrsg. v. Caryl Emerson u. Michael Holquist, Austin: Austin University Press, S. ix-xxiii Huerta Calvo, Javier (1984): „La crítica de los géneros literarios", in: Aullón de Haro, Pedo (Hg.): Introducción a la crítica literaria actual. Madrid: Playor, S. 83-139 Jauss, Hans-Robert (1967): Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz: Universitätsverlag — (1972): „Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters", in: Robert, Hans-Robert; Köhler, Erich (Hg.): Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1, Heidelberg: C. Winter

Die intermediale Passage der Gattungen

295

— (31988): „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft", in: Waming, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. München: Fink, S. 126-162 Jolies, André (41968) [1930]: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen: Niemeyer Kloepfer, Rolf (1999): „Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip. Bachtins Theoreme als Grundlage fur Literatur- und Filmtheorie", in: Mecke, Jochen; Roloff, Volker (Hg.): Kino- /(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen: Stauffenburg, S. 23-46 Krämer, Sybille (1998): „Das Medium als Spur und als Apparat", in: id. (Hg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt /M.: Surhkamp, S. 73-94 Kristeva, Julia (1969): Semiotikè. Recherches pour une sémanalise. Paris: Seuil Lacoue-Labarthe, Philippe; Nancy, Jean-Luc (1978): L'absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemande. Paris: Seuil — (1980): „Genre", in: Glyph. Textual Studies, Nr. 7, S. 1-14 Lima, Luiz Costa (21983): „A questâo dos gêneras", in: id. (Hg.): Teoria da literatura em suas fontes. Bd. 1, Rio de Janeiro: Francisco Alves, S. 237-275 Lins, Ronaldo Lima (1980): „Os géneros: conflito e significaçâo", in: tempo brasileiro (Rio de Janeiro), Nr. 61, número especial sobre Géneros e literariedade, S. 3-12 Lyotard, Jean-François (1979): La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Minuit — (1983): Le différend. Paris: Minuit — (1988a): Le postmoderne expliqué aux enfants. Correspondance 1982-1985. Paris: Galilée — (1988b): La diferencia. Traducción de Alberto Bixio. Barcelona: Gedisa Martín-Barbero, Jesús (1987): De los medios a las mediaciones. Comunicación, cultura y hegemonía. Barcelona: Ed. Gustavo Gili Merquior, José Guilherme (1987): „Pattern and Process in Brazilian Literature: Notes on the Evolution of Genre", in: Portuguese-Studies (London), Nr. 3, S. 171-185 Michael, Joachim; Schäffauer, Markus Klaus (2002): „A passagem intermedial dos géneros", in: Gustavo Bernardo (Hg.): As margens da traduçâo. Rio de Janeiro: Caetés 2002, S. 150-196 — (2004a): "El pasaje intermedial de los géneros", in: Toro, Alfonso de; Gatzemeier, Claudia; Sieber, Cornelia (Hg.): Transversalidad y Transdisciplinaridad: Estrategias discursivas postmodernas y postcoloniales en Latinoamérica. Frankfurt /M.: Vervuert (im Druck) — (2004b): "Géneros entre medios y memoria: pasajes cronotópicos", in: Figuraciones. Memoria del arte/memoria de los medios (Buenos Aires), Nr. 1-2, Instituto Universitario Nacional del Arte, Ed. Asunto Impreso (im Druck) Mignolo, Walter (1982): „Cartas, crónicas y relaciones del descubrimiento y la conquista", in: Iñigo Madrigal, Luis (Hg.): Historia de la Literatura Hispanoamericana. Bd. 1 : Época Colonial. Madrid: Cátedra, S. 57-116 — (1986a): Teoría del texto e interpretación de textos. México: UNAM — (1986b): „La lengua, la letra, el territorio (o la crisis de los estudios literarios coloniales)", in: Dispositio, Nr. 28, Año 9, S. 137-160 Moisés, Massaud (1967): „Géneros Literarios", in: A criaçào literária. Introduçâo à problemática da literatura. Säo Paulo: Melhoramentos, S. 43-52 Ortega, Julio (1997): El principio radical de lo nuevo. Postmodernidad, identidad y novela en América Latina. Lima: Fondo de Cultura Económica Pedraza Jiménez, Felipe B. (Hg.) (1991/98): Manual de literatura hispanoamericana. Bd. 1-3, Tafalla: Cénlit

296

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Perloff, Maijorie (Hg.) (1989): Postmodern Genres. Norman: University of Oklahoma Press Raible, Wolfgang (1980): „Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht", in: Poética, Nr. 12, S. 320-349 — (1988): „¿Qué son los géneros? Una respuesta desde el punto de vista semiótico y de la lingüística textual", in: Garrido Gallardo, Miguel Á. (Hg.): Teoría de los géneros literarios. Madrid: Arco, S. 303-339 Sarlo, Beatriz (1994): Escenas de la vida posmoderna. Intelectuales, arte y videocultura en la Argentina. Buenos Aires: Ariel Schäffauer, Markus Klaus (1998): scriptOralität in der argentinischen Literatur. Funktionswandel der literarischen Oralität in Realismus, Avantgarde und Post-Avantgarde (18901960). Frankfurt /M.: Vervuert Schaeffer, Jean-Marie (1989): Qu 'est-ce que 'un genre littéraire? Paris: Seuil Schmidt, Siegfried J. (1987) (Hg.): Media Genre. Sonderausgabe von Poetics. International Review for the Theory of Literature, Nr. 17, S. 369-469, besonders id., „Towards a Constructivist Theory of Media Genre", S. 371-395 Schmidt, Siegfried J.; Weischenberg, Siegfried (1994): „Mediengattungen, Berichterstattungsmuster, Darstellungsformen", in: Merten, Klaus; Schmidt, Siegfried J.; Weischenberg, Siegfried (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 212-236 Schnur-Wellpott, Margit (1983): Aporien der Gattungstheorie aus semiotischer Sicht. Tübingen: Gunter Narr Sorensen Goodrich, Diana (1986): „Semiótica de los géneros literarios en textos hispanoamericanos", in: Garrido Gallardo, M. A. (Hg.): Crítica semiológica de textos literarios hispánicos. Madrid: C.S.I.C., S. 935-940 Stam, Roberto (1992): Bakhtin. Da teoría literária a cultura de massa. Sao Paulo: Ática Steimberg, Oscar (21998) [1993]: Semiótica de los medios masivos. El pasaje a los medios de los géneros populares. Buenos Aires: Atuel Stolz, Peter (1990): „Der literarische Gattungsbegriff. Aporien einer literaturwissenschaftlichen Diskussion. Versuch eines Forschungsberichtes zum Problem der , literarischen Gattungen'", in: Romanistische Zeitschrift fur Literaturgeschichte, Nr. 14, S. 209-227 Tholen, Georg Christoph (1998): „Die Zäsur der Medien", in: Nöth, Winnfned; Wenz, Karin (Hg.): Medientheorie und die digitalen Medien. Kassel: University Press, S. 61-88 — (2000): „Die Zäsur der Medien. Konturen einer Theorie der Intermedialität" (Manuskript) — (2002): Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Todorov, Tzvetan (1978): Les genres du discours. Paris: Seuil — (1981): Mikhäil Bakhtine, leprincipe dialogique. Paris: Seuil — (1983) [1972]: „Géneros literarios", in: Ducrot, Oswald; Todorov, Tzvetan: Diccionario enciclopédico de las ciencias del lenguaje. Madrid: Siglo XXI, S. 178-185 Sauerland, Karol (1978): „Gedanken zu einer mediumsbezogenen Gattungstheorie", in: Text & Kontext, Nr. 6 (1-2), S. 429-438 Waidenfels, Bernhard (1995): Deutsch-französische Grenzgänge. Frankfurt/M.: Suhrkamp Wellek, René; Warren, Austin (1966): Theory of Literature. Harmondsworth: Penguin Williams, James (1998): Lyotard: Towards a Postmodern Philosophy. Cambridge: Polity Press Winner, Thomas G. (1978): „Structural and Semiotic Genre Theory", in: Strelka, Joseph (Hg.): Theories of Literary Genre. Pennsylvania: Pennsylvania University Press, S. 254-268

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer (Freiburg i. Br.)

Video, Melodrama & der 11. September 2001* Der vorhegenden Studie möchten wir folgende Bemerkung zur Methode vorausschicken: Als Lateinamerikanisten wenden wir uns einem Gegenstand zu, der Lateinamerika zwar nicht zum Inhalt hat, jedoch als Methode beibehält. Unser Anliegen hat experimentellen Charakter und besteht darin, die Forschungsfrage nach Identität und Alterität1 auf einen aktuellen weltpolitischen Anlass zu richten. Gemäß unserer Ausgangsprämisse verstehen wir jedoch die Konstitution von Identität/ Alterität als ein Problem von Gattungen und Medien.2 Aufbrechende Konflikte zwischen ethnischen Gruppen im ehemaligen Jugoslawien waren bekanntlich eines der Motive, weshalb der Sonderforschungsbereich 541 über „Identitäten und Alteritäten" entstanden ist. Wenn es gelänge, zu zeigen, wie solche Konflikte entstehen, so könnten die Geisteswissenschaften einen Beitrag zu ihrer Vermeidung leisten - dies ist die wohl einfachste Formel, auf die man die gesellschaftspolitische Relevanz seiner Fragestellung bringen kann. "Unter welchen Voraussetzungen ist ein Neben- und Miteinander möglich? Wann kommt es zu einem Gegeneinander?" - so lauteten die zentralen Fragen, die wir an unsere Untersuchungsgegenstände herangetragen haben. Wenn man die neuen Ansätze zu Identitäten und Alteritäten an diesem Anspruch bemessen wollte, Modelle zur Abwendung oder Bewältigung von Konflikten der Gegenwart bereitzustellen, müsste man dies nicht daran überprüfen können, welchen kritischen Beitrag sie zum 11. September 2001 und seinen Folgen zu leisten vermögen? Wäre dies nicht die Probe aufs Exempel, wie weit die wissenschaftliche Erkenntnis über die Manipulation von kulturellen Identitäten vorangeschritten ist? Stellvertretend sei an zwei Positionen erinnert, die im Kontext des Freiburger SFB 541 formuliert wurden: Paul Goetsch analysiert die Rede des US-amerikanischen Präsidenten als Antwort auf den Terrorismus, die sich ähnlicher rhetorischer Mittel bedient, wie sie Terroristen unterstellt wird, nämlich der Erzeugung von

1

2

Es handelt sich beim vorliegenden Beitrag um die überarbeitete Fassung eines Vortrages, den wir auf der Abschlusstagung des Freiburger Sonderforschungsbereiches 541 Identitäten und Alteritäten vom 27.-28. Juni 2003 gehalten haben. Zur Konjunktur des Begriffs Identität s. Niethammer 2000. Der Begriffsboom gilt jedoch nicht für „Alterität", was eine entsprechende Anfrage im Internet schnell bestätigt: Während es bei der Suchmaschine Google für „Identität" knapp 200.000 Treffer gibt, sind es für .Alterität" gute 3.000 (zuletzt überprüft am 14.08.2003). Dies war der methodische Ansatz unseres von Walter Bruno Berg geleiteten Teilprojektes „Die identitätsstiftende Rolle literarischer und audiovisueller Gattungen in Lateinamerika" des SFB 541.

298

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

Angst (Goetsch 2001). Helga Finter bezieht sich auf das Attentat, indem sie vom „Einbruch des Todes" in die Realität der Medien sprach, um damit Kritik an der Rolle der Massenmedien zu üben (Finter 2004). Lag hier etwa eine Alteritätserfahrung vor, die den Rahmen des Dagewesenen sprengte? Allerdings sollte dieser Einbruch der Alterität von einem Ort außerhalb der Medien kommen - so als hätte die Theaterspezialistin plötzlich den Tod in die Medien hineinstürzen sehen. Aber es sind Menschen hinter den Medien, die uns glauben machen, dass der Tod in den Twin Towers bedeutsamer wäre als der Tod jener Menschen, die seither im Namen der Opfer des 11. Septembers ihr Leben lassen müssen. Wir kennen weder die Zahl der Zivilisten, noch die der Soldaten, die in den Kriegen seither pulverisiert wurden. Sie sind einfach verschwunden. Die Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager wurden in der Buchhaltung des Todes" auf eine menschenverachtende Restidentität -eine Nummer- reduziert. Anders als sie erleiden die irakischen Opfer gegenwärtig einen zweiten Tod dadurch, dass niemand ihre Identität bezeugt. Wir kennen sie nicht einmal der Zahl nach.3 Etwas ist geschehen, weshalb das Konfliktmuster der aufbrechenden „ethnischen" Kriege im Ex-Jugoslawien längst überholt scheint. Wenn jenes ein Problem intentionaler Geschichte und ihrer konstruierten Identitäten gewesen sein mag, so hat das Medienspektakel der Zwillingstürme einen weltpolitischen Hiatus gesetzt, der uns in einer neuen Größenordnung (aber keineswegs neuen Qualität) mit dem Szenario eines weltweiten und allgegenwärtigen Terrors der Medien konfrontiert.4 Zugleich drängt sich ein Begriff von Alterität auf, der ebenso philosophisch wie medienkritisch gedacht werden muss, wenn wir uns durch Missbrauch der Medien nicht terrorisieren lassen wollen. Die zynische Wahrheit des Opfer-Diskurses -das Instrumentalisieren der Opferperspektive für einen fragwürdigen Wahrheitsbegriff- hat Jean-François Lyotard am Beispiel des französischen Historikers Faurisson aufgedeckt. Dieser hatte den Holocaust zu leugnen versucht, indem er den Augenzeugenbericht als den einzig zulässigen Beweis für die Existenz der Gaskammern geltend machen wollte. Weil es aber keine Überlebenden der Gaskammern gibt, kann der Holocaust einer strengen Logik zufolge, die den Augenzeugenbericht zum unabdingbaren Wahrheitskriterium erhebt -also zu einer Art Metadiskurs-, nicht bezeugt werden. Vielmehr wäre dann jede Bezeugung durch einen Augenzeugen ein lebender Beweis dafür, dass Ausschwitz

3

4

Von Nicht-Regierungsseite wird die Verdrängung der „colateral damages", die im Ausspruch „We do not do body counts" des US-Oberbefehlshabers General Tommy Franks gipfelt, sehr wohl kritisch registriert. Siehe hierzu Zeitungsberichte wie der von Jonathan Steele (Steele 2003) und insbesondere die Website www.iraqbodycount.net. In Bowling for Columbine (2002) beispielsweise weist Michael Moore darauf hin, dass Gewalttaten mit tödlichem Ausgang in Folge von Schusswaffengebrauch in den USA laut Kriminalstatistik seit dem 11. September um 20% zurückgegangen sind, wohingegen die Berichterstattung darüber in den Medien um 600% zugenommen habe (vgl. Green 2003).

Video, Melodrama & der 11. September 2001

299

augenscheinlich für diesen Zeugen nicht tödlich war. Aussage und Ausgesagtes stünden in einem unauflöslichen Widerstreit.

1. Begrifflichkeit: Gattungen und Medien Wir schlagen vor, die gegenwärtige Identitätsproblematik in einem ersten Schritt als Rivalität globalisierter Identitäten zu beschreiben. Genauer gesagt handelt es sich unserer Auffassung nach weitgehend um deterritorialisierte Identitäten wie „der Westen" und „der Islam", die von beiden Konfliktparteien unter umgekehrten Vorzeichen bewertet werden. Dieser Befund mag nicht sonderlich originell sein, aber wir fragen uns, wie uns die „westliche" Identität und ihre „militant-islamistische" Gegen-Identität vor Augen treten. Dabei stellen wir die Frage nach der inhaltlichen und diskursiven Ausgestaltung der Selbst- und Feindbilder hintan. Wir gehen implizit davon aus, dass es sich um konstruierte ,Groß-Identitäten' handelt, die in sich gebrochen sind. Wir ignorieren daher nicht, dass sich gerade im vorliegenden Konfliktfall weder der „Westen" noch die „arabische Welt" als holistische Einheiten gezeigt haben. Unser Erkenntnisinteresse gilt in der vorliegenden Untersuchung jedoch primär den formalen und materiellen Erscheinungsformen dieser Identitäten. Wir fragen daher zunächst nach dem Ort, an dem sie in Erscheinung treten. Es ist das Fernsehen, in dem uns diese spezifischen Bilder des „Westens" und des ihm entgegengesetzten „Islams" in Form von Videosequenzen begegnen. Videos werden der Weltöffentlichkeit als „Beweise" für die verbrecherischen Machenschaften von Al-Qaida bzw. von Saddam Hussein präsentiert. Die Videosequenz avanciert folglich in diesem Kontext zur Beweisgattung, weil sie beanspruchen kann, eine Augenzeugenschaft beim Zuschauer nachzuholen. Gerichte lassen eine solche Beweisgattung aufgrund ihrer unbegrenzten Möglichkeiten zur Manipulation zwar nur in eingeschränktem Maße zu, aber eine Öffentlichkeit, die auf Audiovisualität gründet, kann und will sich ihr offenbar nicht verschließen. Festzuhalten ist aus unserer Sicht zum einen, dass die Videosequenz auf diese Weise eine Aufwertung als Untergattung des Beweises erfahrt. Sie verlängert somit die fatalen Aporien des oben erwähnten Augenzeugenberichtes in die Mediengesellschaft. Zum anderen wollen wir daraufhinweisen, dass der „militante Islamismus" als feindliche Gegen-Identität des „Westens" (auch) als ein mediales Phänomen erscheint. Auf die notwendige Beziehung zwischen Medium und Identität werden wir im Folgenden näher eingehen: Es geht uns darum, ansatzweise herauszuarbeiten, inwiefern die globalisierte Identität des „Westens" an das Fernsehen gebunden ist. Unserer Auffassung nach verweist die Frage nach dem Medium jedoch unweigerlich auf die der Gattung - und umgekehrt. Wie kommen wir dazu, dass es sich bei Medium und Gattung um etwas handelt, was zusammengedacht werden muss? Es kann mittlerweile als ein medientheoretischer Gemeinplatz angesehen werden,

300

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

dass das Medium zwar den Blick ermöglicht, sich dabei aber unweigerlich dem Sehen entzieht. Es versagt sich in der Transparenz der Repräsentation weitgehend der Wahrnehmung, obschon niemals ganz und gar. Um das Medium in seiner Unsichtbarkeit zu denken, hat Sybille Krämer den Begriff der „Spur" von Jacques Derrida vorgeschlagen. Die Spur verweist auf die Abwesenheit eines Verursachers, der sie ohne Absicht verursacht hat. Krämer kommt somit zum Schluss, dass sich das Medium in der Botschaft einschreibt wie eine unbewusste Schrift, von der lediglich eine Spur übrig bleibt (Krämer 1998: 81). Krämer präzisiert die Beziehung zwischen Medium und Botschaft anhand des Arguments, dass das Medium unter den menschlichen Aktivitäten beispiellos ist. Mit anderen Worten: die Funktion der Medien besteht darin, „Welten" zu erschaffen, die ohne die Medien nicht existieren können (Krämer 1998: 84s). Krämer verdeutlicht allerdings nicht, was sie mit den „Welten" meint, die durch Medien geschaffen werden. Daran anknüpfend präzisieren wir, dass diese Welten Gattungswelten sind. Auf diese Weise gewinnt die Schnittmenge zwischen den Begriffen Gattung und Medium an Profil: Die Gattungen formen die wahrnehmbare Oberfläche der Medien, in der diese lediglich in Form einer „Spur" intervenieren. Wenn der argentinische Semiotiker Oscar Steimberg angesichts der Audiovisualisierung der lateinamerikanischen Gegenwartskultur die Gattungen als Indikatoren kultureller Mobilität versteht, so meint er damit die Bewegungen der Gattungen zwischen den Medien (Steimberg 21998: 88). Ein solcher Ansatz macht den Bück auf eine pluridirektionale Bewegung der Gattungstransposition frei. Unser Begriff der intermedialen Gattungspassagen entspricht einer solchen transgenerischen Betrachtungsweise und ist einem wichtigen Buch dieses Autors entlehnt. Steimberg bemerkt zu Recht, dass der Problematik der Gattungen in den Massenmedien für gewöhnlich große Aufmerksamkeit beigemessen wird. Dabei werden allerdings Gattungen und Medien miteinander vermengt, mit der Folge, dass dem Medium Effekte zugeschrieben werden, die in vielen Fällen auf das Konto der Gattung gehen, und umgekehrt (cf. Steimberg 21998: 37). Aus dieser Verwirrung sind eine Reihe von „klassischen Fehlurteilen hervorgegangen, wie z.B. dem Medium die Eigentümlichkeiten einer Gattung zuzuschreiben, die sich in ihm niederlässt, die ihm aber vorgängig ist und es auch überschreitet" (Steimberg 21998: 16; Übers, d. Verf.). Es geht also darum, die gegenseitige Bedingung von Gattung und Medium zu erfassen. Der Vorschlag würde miteinschließen, das Medium nicht nur als technologischen „Träger" der Gattung zu verstehen, sondern als dasjenige, was der Gattung ihre Wahrnehmbarkeit verschafft, zugleich mit der Einsicht, dass das Medium sich nicht anders manifestieren kann als in den Gattungen. Die Medialität angesichts der Herausforderungen der digitalen Medien zu denken, ist allerdings nicht nur ein Problem der Gattungen, sondern auch das anderer Medien. Mit McLuhans Theorie der Interrelationalität der Medien ist das Bewusstsein gewachsen, dass Medien niemals in Reinform vorliegen, sondern sich stets in

Video, Melodrama & der 11. September 2001

301

intermedialer Weise konfigurieren, gleichwohl in unterschiedlichem Grade und in unterschiedlichen Konstellationen. Das Internet als gegenwärtiges Leitmedium charakterisiert sich in diesem Sinne durch eine mediale Plurirelationalität dank seiner Fähigkeit, so unterschiedliche Medien zu integrieren und modifizieren wie die Schrift, das Telefon, das Radio, das Fernsehen, usw. Diese modifizierende Integration auf der Grundlage der Digitalisierung konfrontiert uns mit dem Problem der relativen Disponibilität der Medien, die Georg Christoph Tholen mit seinem Begriff der Zäsur der Medien fokussiert. Er bezieht sich in erster Linie auf die epochale oder genauer epistemische Zäsur, die mit der Disponibilität der konventionellen in den neuen Medien einhergeht (cf. Tholen 2002). Des Weiteren charakterisiert der Begriff die digitale Ära als eine Kultur der medialen Transpositionen, die uns auf radikale Art und Weise mit der Medialität als Bedingung und Grenze der Wahrnehmung konfrontiert. Die neuartige Disponibilität unterschiedlicher Medien unterstreicht somit: Wahrheit ist immer relativ zum jeweiligen Medium - kein Medium ist per se wahrer als ein anderes.5

2. Globale Identität - hegemoniale Gattung: das Melodrama Die Erfahrung zeigt, dass jene Videosequenzen, die Gräueltaten irakischer oder radikal-islamistischer Bösewichte darstellen, dazu dienen, Kriegshandlungen zu rechtfertigen. Die gegenwärtige Brisanz der Identitätsdiskurse liegt unserer Ansicht nach in ihrem medialen Vollzug. Die Untersuchung medialisierter Identitäten fuhrt jedoch, wie wir bereits andeuteten, nach unserem Ansatz der gegenseitigen Bedingung von Medium und Gattung zu einer weiteren Frage. Diese besteht darin, zu klären, mittels welcher Gattungen Identitätsdiskurse in den Medien derzeit in Erscheinung treten. Bekanntermaßen ist die Beziehung zwischen Identität und Gattung eine sehr enge. Die Gattung vollzieht eine Zuordnung eines einzelnen Exemplars zu einer Gruppe, mit der es bestimmte Merkmale teilt. Gewissermaßen verleiht die Gattung einem Lebewesen, Ding oder Artefakt eine ,kollektive' Identität, sei es als Geschlecht, Spezies oder kulturelle Gattung tout court. Jacques Derrida hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die Gattung nicht nur für Identität steht, sondern auch für Alterität (Derrida 1980). Vorverurteilungen der Gattung greifen also zu kurz. Im Rahmen unseres Anliegens, die globalisierten Video-Identitäten zu untersuchen, wollen wir es bei dieser Andeutung der Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Identität und Gattung bzw. zwischen Alterität und Gattung belassen. Wir haben dies in unserer Projektarbeit vielfach theoretisch und exemplarisch herausge-

5

Zu einer ausfuhrlichen Begründung der gegenseitigen Bedingung von Gattung und Medium siehe unseren Beitrag im vorliegenden Band „Die intermediale Passage der Gattungen".

302

Joachim Michael / Markus Klaus Schäffauer

arbeitet.6 Einen unmittelbaren und allgemeinen Gegenwartsbezug der SFB-Thematik herzustellen, der von den methodischen Ansätzen unseres Teilprojektes ausgeht, bedeutet vielmehr, der Frage nachzugehen, ob die allgegenwärtigen Videosequenzen nicht mit einem ebenso allgegenwärtigen Genre in Verbindung zu bringen sind. Dies kann spontan mit dem Hinweis darauf beantwortet werden, dass uns die betreffenden Bilder primär über Nachrichtensendungen vermittelt werden. Hierbei handelt es sich um ein Format, das sich durch den Anspruch auf Nicht-Fiktionalität und Information kennzeichnet. Ein solcher Anspruch gründet nicht zuletzt auf der Tradition der Gattung und ihres Erwartungshorizontes, dem Genre in Abgrenzung zur Fiktion den epistemischen Status von Wahrheitsnähe einzuräumen.7 Zweifelsohne verleiht das Nachrichtengenre den oben genannten Videosequenzen unbeschadet ihrer Offenheit für Manipulationen aller Art einen weitgehend unhinterfragten Wahrheitsstatus. Hierbei ist jedoch unübersehbar, dass manche dieser Sequenzen lediglich in die Nachrichten „eingebettet" sind, also auf einen gattungsdifferenten Ursprung verweisen, der in der Nähe politischer Macht zu verorten ist. Auch haben sie die Tendenz, sich im Gedächtnis der Zuschauer und insbesondere aber auch im Internet aus ihrer Nachrichtenumgebung zu lösen. Dies nehmen wir als Indiz dafür, dass eine weitere Gattung im Spiel ist, der zugetraut werden kann, die einzelnen Sequenzen zu strukturieren und darüber hinaus untereinander zu verketten (vgl. Abb. 1 u. 2). P The Original à l - Q a i d a f * p o w s d

I

. pst«

Bewbeften Arueiow

i^ehe

R a r e Video CUp* N e t s c a p e tTM"OKben fxiia» g«r>st*r

M#e

3

&

V i d e o Clip 1.MTMV ||f.'63cnptiorv American ai-Qaida mernbsr tells | | u s cn Sim who his Senders » r e Note t h e HNorth American terror study circle h e gives p r e f e r e n c e to In « h o t t a p e h e shows Is American secret al-Qaica call.

i f t p f ^ f V i d e o Clip 7.WMV Description. Aden bomber gives details Ì ' | | of USA gmba«r.j- attack two c a y s after attack, f i l : % ' n P ' ^ a t e si-Oaida meeting in t h e UK held on Au W i %. I ~ This person w a s arrested in Yemen 5 months later, and released fi months ¡ P j j M t » i b r e attack on U S S Cole. Note his support

t

I

V i d e o Clip 3 . W H V

Ot-scription: W h a t H a m z a s a y s about ijjborrbing E m b a s s i e s . And look out for his description | | of bombing a E m b a s s y . its like a Ship? ¡ D o * * he m e a n the U S S Cole the A d e r Bomb Plotters " w e r e sent to bomb but got c a u g h t ?

V i d e o Clip pgec4.WIMV Description: British armed muslims on film admit to killing hundreds of s e r b 3 on film W a never knew the UN gave them permission to kill in other country's the full t a p e is to bloody to air a s it shows m a s s grave?' And Terrorists Attack on s e r b s and m a s s gravts being dig and bodies of s e r b s being put in it on film by muslims. ri AwMtTrtll»« TIC OBJ-SIHAl- p.

••ait* f/.p-y.cc'

Abb. 1: Internetseite „Al-Qaida Exposed" mit Serie von 6 7 8

Video-Clips'

Vgl. u.a. Michael/Schäffauer 2002 u. Berg 2004. Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion vgl. Genette 1990. Vgl. www.johnathangaltfilms.com/movie.html (zuletzt aufgesucht: 20.08.2003).

Video, Melodrama & der 11. September 2001

303

Mit ihren Attributen Freiheit, Fortschritt und Menschenrechten beansprucht die Identität des „Westens" ebenso wie die von ihr entworfene komplementäre Gegenidentität des „fundamentalistischen Islamismus" mit seinen Merkmalen Fanatismus, Terror und Despotie eine globale Hegemonie. (Wenn wir den Begriff der Hegemonie verwenden, tun wir dies im Eingedenken der vielfaltigen Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß, welche von der dominierenden Identitätszuschreibung zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, so doch auf einen sekundären Rang verwiesen werden.) Diese kurzen Videos, die vorgeben, aktuelle Menschenrechtsverletzungen oder spontanen Befreiungsjubel vor Augen zu fuhren, sind im Grunde nichtssagend. Ihrem Entstehungskontext entrissen, werden sie gleich isolierten Zitaten in eine übergeordnete Erzählung eingebettet. Müsste nicht notwendigerweise eine Gattung, die den narrativen Kontext für diese Bilder gestaltet, nicht ebenfalls in der Lage sein, globale Gültigkeit durchzusetzen? A Recruiting l a p e of 0sama bin Laden: Video £®c«rpu -Netscape .. Cat« Bearbeiten Anzeigen £ebe Lesezeichen fc