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German Pages 393 Year 2012
CLASSICA MONACENSIA
Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion von Margot Neger
Martials Dichtergedichte
CLASSICA MONACENSIA Münchener Studien zur Klassischen Philologie Herausgegeben von Niklas Holzberg, Martin Hose und Claudia Wiener Band 44 · 2012
Margot Neger
Martials Dichtergedichte Das Epigramm als Medium der poetischen Selbstreflexion
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Die vorliegende Arbeit wurde als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Dokotorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht.
© 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: [email protected] Printed in Germany ISSN 0941-4274 ISBN 978-3-8233-6759-8
In memoriam Elisabeth Sartori-Mitis
Inhalt Vorbemerkung .................................................................................................... ix 1 Einleitung ......................................................................................................... 1 2 Autorenkataloge und epigrammatische Kanones ................................... 9 2.1 Autoren und Gattungen in Buch 1 ........................................................ 10 2.1.1 Anfang und Ende ........................................................................ 10 2.1.2 Ein halbspanischer Autorenkatalog .......................................... 19 2.2 Saturnalische Literaturkritik: Die Buch-Epigramme in den Apophoreta ................................................................................................. 22 2.2.1 Die Rahmung: Anfang und Ende .............................................. 23 2.2.2 Martials saturnalische Bibliothek .............................................. 30 2.2.3 Strategien epigrammatischer Selbstkanonisierung: Die praefatio zu Buch 9 ........................................................................ 48 2.3 Resümee .................................................................................................... 53 3 Die epigrammatische Tradition ................................................................. 54 3.1 Die Rolle Catulls ...................................................................................... 54 3.2 Die griechische Epigrammatik ............................................................... 73 3.2.1 Epigrammatische Weltwunder: Mart. Sp. 1 und AP 9,58....... 73 3.2.2 Kallimachos und die Kallimacheer ........................................... 77 3.2.3 Lukillios und das griechische Spottepigramm ........................ 87 3.3 Weitere Epigrammatiker ........................................................................ 92 3.3.1 Das Epigramm als Einzeltext: Sprache und Umfang ............. 93 3.3.2 Einzeltext und Epigrammbuch................................................ 102 3.3.3 Autorschaft und Plagiat ........................................................... 108 3.4 Exkurs: Die Epigrammatik im Verhältnis zu den bildenden Künsten ................................................................................................... 126 3.4.1 Kleine Form und großer Anspruch: der Hercules Epitrapezios .................................................................................. 126 3.4.2 Pictura und poiesis: Die Epigramme auf Camonius Rufus ... 129 3.5 Resümee .................................................................................................. 132 4 Die weitere Tradition erotischer Dichtung ............................................ 135 4.1 Ovid und die Apologie erotischer Poesie ........................................... 135 4.1.1 Paelignus, puto, dixerat poeta: Martial als Schüler des praeceptor amoris .......................................................................... 136 4.1.2 Martial in der Rolle des verbannten Ovid ............................. 141 4.1.3 Martial und Ovids Amores........................................................ 149 4.2 Da quod amem: Auf der Suche nach einer materia............................... 156 4.3 Martials Zeitgenossen ........................................................................... 162 4.3.1 Stars, Sternchen und tote Tauben: Der Elegiker L. Arruntius Stella .......................................................................... 162 4.3.2 „Nur die Lampe sah es…“: Bettgeflüster mit Sulpicia ......... 186 vii
4.3.3 Elegie, Epigramm und Pornographie: Canius Rufus und Philaenis ...................................................................................... 195 4.3.4 Gute, schlechte und zurückhaltende Dichter: Sabellus, Unicus, Tucca und Mussetius .................................................. 205 4.3.5 Ein unverbesserlicher Päderast: Voconius Victor und Thestylus ..................................................................................... 211 4.3.6 Nerva, der neue Tibull .............................................................. 216 5 Mimus und Theater .................................................................................... 223 6 Satire, Iambus und Fabel .......................................................................... 236 6.1 Martial und der primus inventor der römischen Satire ...................... 236 6.2 Horaz: Satire und Jambik ..................................................................... 240 6.3 Martials Zeitgenossen: Juvenal und Turnus ...................................... 253 6.4 Martial und Phaedrus ........................................................................... 264 7 Epigramm und Epos ................................................................................... 272 7.1 Ab Homero incipiendum .......................................................................... 276 7.2 Vergil ....................................................................................................... 281 7.3 Lucan ....................................................................................................... 292 7.4 Silius Italicus........................................................................................... 300 7.5 Domitian: Dichter und Literaturpatron .............................................. 312 Bibliographie ..................................................................................................... 322 Indizes ................................................................................................................ 364 Index rerum et nominum ........................................................................... 364 Index locorum .............................................................................................. 368
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Vorbemerkung Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeitete und um Indizes erweiterte Fassung einer gleichnamigen Studie, die im Sommersemester 2011 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation eingereicht wurde. Angeregt und betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Niklas Holzberg, dem an dieser Stelle für sein unermüdliches Engagement und seine bereitwillige Unterstützung als Doktorvater herzlich gedankt sei. Mein zweiter Dank ergeht an Prof. Dr. Claudia Wiener und Prof. Dr. Martin Hose sowohl für die Übernahme des Korreferats bzw. des Drittgutachtens als auch für zahlreiche wertvolle Anregungen und Hinweise im Laufe der Entstehung dieser Untersuchung. Allen drei Gutachtern danke ich außerdem für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Classica Monacensia. Nicht nur ideelle, sondern auch materielle Unterstützung hat die Durchführung dieser Arbeit ermöglicht: Das Projekt wurde in seiner Anfangssphase vom Elitenetzwerk Bayern im Rahmen des Internationalen Doktorandenkollegs „Textualität in der Vormoderne“ gefördert. Den Betreuern und Mitkollegiaten danke ich für die vielen anregenden Diskussionen. Neben der fachlichen Perspektive wurde die Zeit des Promovierens an der Abteilung für Griechische und Lateinischen Philologie der LMU München auch aus menschlicher Sicht durch den Austausch mit Kollegen, Mitpromovierenden und Studierenden ungemein bereichert. Hier sei auch die von Niklas Holzberg ins Leben gerufene Institution der Petronian Society Munich Section erwähnt, die mir den Kontakt zu nationalen und internationalen Vertretern des Faches ermöglicht hat. Einzelne Teile der Arbeit konnten im Rahmen von Kolloquien und Workshops zur Diskussion gestellt werden, wofür ich Prof. Dr. Martin Hose danke, der das institutsinterne Forschungskolloquium an der LMU München leitete, sowie Prof. Dr. Eveline Krummen, die mich mehrmals zu Workshops an die Karl-Franzens-Universität Graz einlud. Roy Gibson danke ich für seine Gastfreundschaft während eines Forschungsaufenthalts an der University of Manchester im Frühjahr 2009. Dem labor improbus des Korrekturlesens haben sich mehrere liebe Kollegen unterzogen: Mein besonderer Dank gebührt hier Regina Höschele und Sven Lorenz, die das Manuskript gründlich durchsahen, mir unschätzbare Hinweise gaben und mich vor manchem Versehen bewahrten. Bei verschiedenen bibliographischen Recherchen sowie der abschließenden Korrektur haben mir außerdem Caroline Hähnel und Kathrin Mißelbeck sehr geholfen. Nicht zuletzt habe ich den Lektorinnen des Gunter Narr Verlags,
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Celestina Filbrandt und Susanne Fischer, für Hilfe und Beratung bei der Drucklegung des Manuskripts zu danken. Den weitaus größten Dank schulde ich jedoch meiner Familie, allen voran meinen Eltern, und Uwe Kernbichler, die mir in der Zeit des Promovierens stets geduldig zur Seite gestanden sind. Gewidmet sei dieses Buch meiner im Jahre 2010 viel zu früh verstorbenen Tante und Taufpatin Elisabeth Sartori-Mitis.
München, im August 2012
Margot Neger
Häufig verwendete Abkürzungen CEG CIL FGrH FPL GLK HWRh IEG LSJ OLD Pape PCG PIR PMG SEG TGF
ThLL
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Carmina epigraphica graeca (vgl. Hansen 1983-1989) Corpus inscriptionum latinarum, 1863ff. F. Jacoby (1923-1958): Fragmente der griechischen Historiker, Berlin. Fragmenta Poetarum Latinorum (vgl. Morel/Büchner/Blänsdorf 31995) Grammatici Latini, ex recensione H. Keil, 1855-1880. Historisches Wörterbuch der Rhetorik (vgl. Ueding 19922011). Iambi et Elegi Graeci (vgl. West 21989-1992) H.G. Liddell/R. Scott/H.S. Jones (Hgg.): Greek-English Lexicon, Oxford, 91940; Suppl. 1968, Ndr. 1992. P.G.W. Glare (1982; Hg.), Oxford Latin Dictionary, Oxford. Wörterbuch der griechischen Eigennamen (vgl. Pape 18632011). R. Kassel/C. Austin (1983ff.; Hgg.): Poetae Comici Graeci, Berlin. Prosopographia imperii Romani saeculi Bd. I-V, 21933ff. D.L. Page (1962): Poetae Melici Graeci, Oxford. Supplementum Epigraphicum Graecum, 1923ff. B. Snell/R. Kannicht/St. Radt (1977ff.; Hgg.), Tragicorum Graecorum Fragmenta (Bd. 1, 21986, Bde. 2-4, 1977-85, Bd. 5, 2004). Thesaurus Linguae Latinae, 1900ff.
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Einleitung
Für kaum ein literarisches Genre ist Selbstreflexivität so charakteristisch wie für die Epigrammatik1. Da uns aus dem Altertum keine philologischen Theorien oder Traktate über diese Gattung erhalten sind2, müssen wir auf die poetologischen Aussagen der Epigrammdichter zurückgreifen, um einen Eindruck von der antiken Gattungsdefinition zu gewinnen. Unter den Vertretern dieses Genres setzt sich vor allem Martial sehr intensiv mit dichtungstheoretischen Fragen sowie mit produktions- und rezeptionsbezogenen Problemen auseinander. In seinem Korpus stellt er immer wieder Reflexionen zu seinem literarischen Schaffen, der von ihm gewählten Gattung, dem Medium Buch sowie der Rolle des Lesers an und trifft darüber hinaus in einer Vielzahl von Epigrammen nicht nur Aussagen zu seiner eigenen Dichtung, sondern auch zu den Werken älterer und zeitgenössischer Autoren3. Abgesehen davon, dass die epigrammatische persona sich im Verlauf des Gesamtwerkes mehr oder weniger einheitlich charakterisiert4, verleihen auch die über das ganze Opus verteilten und häufig aufeinander Bezug nehmenden poetologischen Überlegungen dem Textkorpus eine gewisse Kohärenz; neben diversen anderen poetischen Strategien des Dichters animiert dies den Leser dazu, die ansonsten durch ihre Themenvielfalt sowie die Variation von Länge und Metren der einzelnen Gedichte auf den ersten Blick heterogen wirkende Epigrammsammlung als bewusst komponierte Einheit zu rezipieren. Einzelnen Aspekten der metapoetischen Reflexionen in Martials Werk wurde von der Forschung bereits in verschiedenem Umfang Aufmerksamkeit geschenkt5, doch eine systematische Untersuchung zur Auseinander1
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Vgl. Hess (1989), 1: „Kaum eine literarische Gattung hat je so laut über sich nachgedacht wie das Epigramm“. Von dem hellenistischen Autor Neoptolemos von Parion ist immerhin der Titel einer Abhandlung περὶ ἐπιγραμμάτων überliefert; vgl. Mette (1980); Lausberg (1982), 34; Höschele (2010), 9. Vgl. den Themen-Index bei Shackleton Bailey (1993), Bd. 3, 327-336 und die Aufgliederung der Themen bei Hofmann (1956/57); zu Martials ausgeprägtem Bewusstsein für literaturtheoretische Fragen vgl. Atkins (1961), 301ff.; Grube (1965), 311. Zur Konstruktion der epigrammatischen persona vgl. Obermayer (1998), 8-11 u. 17-29; Roman (2001); Holzberg (2002b), 13-18; Lorenz (2002), 4-42. Allgemein vgl. Humez (1971); Holzberg (1988), 85-93; Sullivan (1991), 56-77; Hutchinson (1993), 23-27; zu stilkritischen Begriffen vgl. Dams (1970); Spisak (1992); zu Martials Strategien der literarischen Apologie und Selbstabwertung vgl. Banta (1998); Roman (2001); zu Mimus und Epigramm Gaffney (1976); zu den Saturnalien als Produktions- und Rezeptionsrahmen der Epigramme vgl. Citroni (1989) und (1992); Döpp (1993b); zu den Prosavorreden vgl. Borgo (2001) und (2003); Johannsen (2006); zum recusatio-Topos vgl. Nauta (2006c); zu Buch und Leser vgl. Besslich (1974);
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setzung des Epigrammatikers mit den verschiedenen poetischen Gattungen und Dichtergestalten, denen wir im Korpus begegnen, fehlt bislang. Die vorliegende Studie befasst sich insbesondere mit Martials Erwähnungen real existierender wie auch fiktiver Literaten und untersucht in diesem Zusammenhang, welche Rolle diese Figuren in Martials dichtungstheoretischem Diskurs spielen; besonders wichtig ist dabei die Frage, inwiefern die in den Epigrammen erwähnten Autoren Martial als Folien dienen, durch die er sein Gattungsverständnis direkt und indirekt bekundet und sich damit in einem literaturgeschichtlichen Kontinuum positioniert. In der Martial-Forschung hat man die in den Epigrammen auftauchenden Dichtergestalten bislang unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt. Besonders viel Aufmerksamkeit wurde dabei den Erwähnungen Catulls zuteil, den Martial als sein wichtigstes Vorbild bezeichnet, sowie dem Einfluss des Neoterikers auf den Epigrammatiker6. Ähnliches lässt sich für Ovid sagen7, wohingegen die Bedeutung der anderen augusteischen „Klassiker“ für Martial noch vergleichsweise wenig erforscht ist8. Galt im Fall dieser „kanonischen“ Autoren das Interesse bislang vor allem der Frage, wie ihre Texte sprachlich, stilistisch, inhaltlich und motivisch auf die Komposition der Epigramme gewirkt haben, so wurden die von Martial erwähnten zeitgenössischen Literaten, deren genaue Identifikation nicht selten Probleme bereitet, vor allem unter sozialhistorischen Aspekten untersucht. Zu nennen sind hier insbesondere die mit den Modi literarischer Kommunikation befasste Monographie Ruurd Nautas (2002) und der umfangreiche ANRW-Artikel Luc Durets (1986), der den poètes mal connus der nachaugusteischen Epoche gewidmet ist und den zeitgenössischen literarischen Kontext, in dem sich besser bekannte Autoren wie Seneca, Persius, Statius und Martial bewegten, zu rekonstruieren versucht 9. Neben solchen Dichtern, deren Historizität sich noch mehr oder weniger sicher belegen lässt, taucht in Martials Œuvre eine beträchtliche Anzahl wahrscheinlich fiktiver Poeten auf; nicht selten tragen diese sprechende Namen und dienen Martial als Zielscheibe von Spottepigrammen, in denen Probleme der Literaturtheorie und -kritik thematisiert werden10. Dass die Frage nach der
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Citroni (1986); Wissig-Baving (1991); Holzberg (2004/05); Höschele (2010), 38-68. Vgl. den Forschungsüberblick bei Lorenz (2003b) und (2006c). S. dazu Kap. 3.1. S. Kap. 4.1. Es fehlen nach wie vor systematische Studien zu Vergil, Horaz, Tibull und Properz. Zum Einfluss der augusteischen Dichtung insgesamt auf Martial vgl. die Untersuchung Wagners (1880); zu Martial und Vergil vgl. Fortuny Previ (1984); Muñoz Jiménez (1994); Holzberg (2011); Mindt (im Druck); zu Martial und Horaz vgl. Merli (2006); Mindt (im Druck). In diese Richtung gehen auch die Arbeiten Tandois (1979) und Verdières (1988). Zu Typenspott in Martials Epigrammen vgl. Burnikel (1980); Lausberg (1982), 426429; Laurens (1989), 215-374; Sullivan (1991), 237-252; Holzberg (2002b), 85-121; Nisbet (2003); Borgo (2005); zur griechischen Epigrammatik vgl. Brecht (1930).
Funktionalisierung der verschiedenen Literaten und Dichtergestalten im Kontext der Poetik von Martials Epigrammbüchern bisher ein Forschungsdesiderat darstellte, wird auch dadurch deutlich, dass sich Nina Mindt in ihrer zur Zeit der Drucklegung der vorliegenden Arbeit noch unveröffentlichten Berliner Habilitationsschrift zu „Martials epigrammatischem Kanon“ ebenfalls mit diesem Problem auseinandersetzt11. Die beiden Studien sind unabhängig voneinander entstanden, kommen jedoch in mehreren Punkten zu ähnlichen Ergebnissen. Wie es wohl in den meisten literarischen Texten der Antike der Fall ist, in denen Bezug auf andere Schriftsteller genommen wird, sind natürlich auch Martials Erwähnungen weiterer Dichter nicht primär von einem literaturhistorischen Interesse im modernen Sinne geprägt. Wenn überhaupt, dann lässt sich dergleichen nur für eine begrenzte Anzahl von Werken annehmen, wie etwa für die Autorenlisten in Ciceros Brutus, bei Velleius Paterculus oder im zehnten Buch der Institutio oratoria Quintilians12, doch auch in diesen Fällen lenken die Konventionen der jeweiligen Gattung sowie das übergeordnete Ziel der Gesamtdarstellung den Blickwinkel auf die verschiedenen Literaten und Literaturformen. So erfolgt etwa Quintilians häufig als Literaturgeschichte bezeichnete Aufzählung griechischer und römischer Dichter und Prosaiker 13 in Buch 10 der Institutio oratoria primär unter dem Aspekt des Nutzens, den die Lektüre dieser Autoren und Gattungen für die copia bzw. facultas dicendi des Redners bringt, und sagt wenig über die Beziehung der jeweiligen Autoren zueinander sowie zu ihrem kulturellen Kontext aus14. Zusammenhänge zwischen literarischen, politischen und sozialen Entwicklungen werden, wie Donald Andrew Russell in seiner Studie zur antiken Literaturkritik beobachtet, im Allgemeinen kaum thematisiert15.
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Nina Mindt sei an dieser Stelle nochmals herzlich für das Zurverfügungstellen ihres Manuskripts gedankt. Vgl. Heldmann (1982); Schwindt (2000a); Nauta (2007), 2. Quint. Inst. 10,1,46-131. Vgl. dazu Schwindt (2000a), 153-173; Citroni (2006) stellt die These auf, dass die Auswahl der Autoren bei Quintilian nicht lediglich unter rhetorischen Gesichtspunkten erfolge, sondern auch den Geschmack der zeitgenössischen Leser widerspiegle, da sich ansonsten die Integration bestimmter Literaten und Gattungen, wie etwa Theokrit (10,1,55), Arat (10,1,55), Varro Atacinus (10,1,87), Aemilius Macer und Lukrez (10,1,87) und der römischen Komödie (10,1,99), die als für den Redner wenig nutzbringend deklariert werden, nicht erklärbar sei; Nauta (2007), 3 u. 6 äußert sich hingegen skeptisch zur Bezeichnung als „Literaturgeschichte“; vgl. auch Döpp (2008), 60-61. Quint. Inst. 10,1,8: Nobis autem copia cum iudicio paranda est, vim orandi, non circulatoriam volubilitatem spectantibus. id autem consequimur optima legendo atque audiendo: non enim solum nomina ipsa rerum cognoscemus hac cura, sed quod quoque loci sit aptissimum. Vgl. Inst. 10,1,45: … sed nunc genera ipsa lectionum, quae praecipue convenire intendentibus ut oratores fiant existimem, persequor. Russell (1981), 159.
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Trotz der Schwierigkeiten, die mit der Frage nach einem in antiker Dichtung und Prosa erkennbaren literaturhistorischen Interesse verbunden sind, sowie der Tatsache, dass im Altertum zwar historiographische Werke zur chronologischen Abfolge politischer und sozialer Ereignisse existierten, jedoch keine eigenständige Gattung, die sich mit der Geschichte von Literatur auseinandersetzte16, ist doch erkennbar, dass antike Dichter und Prosaiker zumindest ansatzweise literarisches Schaffen in einem historischen Zusammenhang betrachteten17. Auf viele Autoren und Gattungen lässt sich daher das Konzept der „immanenten Literaturgeschichte“ anwenden. Wie E.A. Schmidt in der Einleitung zu dem diesem Phänomen gewidmeten Sammelband mit dem Titel L’histoire littéraire immanente de la poésie latine (2001) formuliert, gehe es darum nachzuzeichnen, „inwieweit die Werke schon selbst einen literaturgeschichtlichen Horizont implizieren, literaturgeschichtliche Aussagen enthalten und zu literaturgeschichtlichen Problemen und Aspekten Stellung beziehen“18. Dabei seien nicht nur explizite Aussagen eines Schriftstellers zur Position seines Werkes innerhalb einer literarischen Tradition oder im zeitgenössischen Umfeld relevant, sondern auch die indirekte Auseinandersetzung mit Vorgängern, Konkurrenten usw. besonders über intertextuelle Anspielungen, poetologische Metaphern und andere poetische Verfahrensweisen 19. In eine ähnliche Richtung weist auch die von David Levene im Anschluss an David Perkins vorgeschlagene Unterscheidung zweier Formen der Verortung eines Autors innerhalb einer „chronological narrative“20: Neben der Relation eines Textes zu seinen äußeren Entstehungsumständen, d.h. der synchronen Ebene, könne auch auf diachroner Ebene das Verhältnis zu anderen literarischen Werken beleuchtet werden. Als gemeinsamen Nenner dieser beiden Möglichkeiten sieht Levene „the idea of placement“21.
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Das Fehlen einer zusammenhängenden Abhandlung über die Entwicklung der antiken Literatur wurde damit in Verbindung gebracht, dass es im Altertum kein Epochenbewusstsein im modernen Sinn gegeben habe; so formulierte etwa Ernst Robert Curtius: „Das Altertum hatte kein historisches Bewußtsein in unserem, durch Epochenabschnitte bestimmten Sinne. Und was es etwa davon besaß, vermochte es mangels historischer Begriffsbildung nicht auszudrücken“, Curtius (61967), 257f.; vgl. Russell (1981), 159; Nauta (2007), 2f.; ein zumindest in Ansätzen vorhandenes Epochenbewusstsein lässt sich jedoch an der Würdigung als klassisch bzw. kanonisch angesehener Autoren im Unterschied zu archaischen (= noch unvollkommenen) und epigonalen Schriftstellern erkennen, vgl. Heldmann (1982); Wlosok (1993); Settis (2004); Döpp (2008); speziell zu Martial vgl. Canobbio (2005) und Nauta (2007). Williams (1983); Schmidt (2001a), passim; Levene (2004), 159. Schmidt (2001a), IX. Schmidt (2001a), IX-XIII; vgl. Russell (1979); Williams (1983); Conte (1986), 40-95; Hinds (1998), 52-98; Levene (2004), 158f. Vgl. Levene (2004), 159f.; Perkins (1992), 20-21. Levene (2004), 160.
Derartige theoretische Überlegungen scheinen mir besonders fruchtbar zu sein für eine Untersuchung der zahlreichen direkten, oft beliebig und unsystematisch wirkenden Erwähnungen von Autoren durch Martial, ihrer indirekten Präsenz als Lieferanten von Prätexten für sein Epigrammkorpus sowie der Reflexionen des Dichters über das Verhältnis seiner Poesie zu ihrem kulturellen Umfeld. Hinsichtlich der intertextuellen Anspielungen als einer möglichen Strategie literarischer Selbstverortung kann natürlich in der vorliegenden Arbeit kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden – eine eingehende und neuere literaturwissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigende Untersuchung sämtlicher Bezüge in Martials Werk allein zu Dichtern wie Catull oder den Vertretern der augusteischen Poesie würde genügend Stoff für eine separate Analyse liefern22. Vielmehr geht es darum zu zeigen, welche Autoren, Gattungen und Literaturperioden bei Martial eine wichtige bzw. weniger wichtige Rolle spielen, wie sich der Epigrammatiker zu ihnen positioniert und dabei gleichzeitig die von ihm betriebene Form der Kleinpoesie profiliert. Der Terminus epigramma, mit dem Martial seine Poesie wiederholt beschreibt23, dürfte – so legen es zumindest die erhaltenen Zeugnisse nahe – erst von ihm selbst zur Bezeichnung einer literarischen Form gebraucht worden sein, die einen Platz unter den bereits etablierten kanonischen Gattungen beanspruchte24. Bei Catull finden wir den Begriff noch nicht25 und auch in den Proömien zu Meleagers und Philipps Stephanos (AP 4,1-2) tauchen zur Charakterisierung der vorliegenden Sammlungen nur Termini wie ἀοιδά (AP 4,1,1), ὕμνοι (AP 4,1,7; 13), οἴμη (AP 4,1,17), μέλισμα (AP 4,1,35) und ἔλεγοι (AP 4,1,36) auf26. Wenngleich das griechische Wort ἐπίγραμμα erst bei kaiserzeitlichen Dichtern zur Beschreibung ihrer Texte zu finden ist27, legen verschiedene Zeugnisse doch nahe, dass bereits im Hellenismus Gedichtsammlungen den Titel ἐπιγράμματα trugen und somit im griechischen Bereich schon früher eine formale Stabilität dieser literari22
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Derartige Analysen stellen in der Tat noch ein Desiderat in der Martialforschung dar, gehen doch die meisten in diese Richtung unternommenen Versuche nicht über Sammlungen von Stellenvergleichen hinaus, ohne dass aus den Implikationen dieser intertextuellen Bezüge weitergehende Schlüsse gezogen würden; vgl. den Forschungsbericht von Lorenz (2003b), 248-274 und (2006c), 118-120; in jüngster Zeit haben etwa Hinds (2007) zu Martial und Ovid und Fitzgerald (2007), 167ff. zu Martial und Catull wichtige Beiträge geliefert; s. Kap. 3.1 und 4.1. Der Begriff findet sich in Martials Korpus 31 Mal, vgl. Puelma (1996), 137; Citroni (2003), 15f. Puelma (1996), 138f.; vgl. Grewing (1997), 429f.; Puelma (1997); Citroni (2003); Fitzgerald (2007), 25. Zur Terminologie bei Catull s. ausführlicher Kap. 3.1. Vgl. Puelma (1996), 125f. AP 9,342,1 (Parmenion); AP 9,369,1 (Kyrillos); AP 11,137,3; 312,3 (Lukillios); vgl. AP 10,92,3; 11,340,1 (Palladas); AP 8,11b,2; 30,6 (Gregor Naz.); vgl. Puelma (1996), 125 mit Anm. 9.
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schen Form gegeben war28. Martials Leistung scheint insbesondere darin zu bestehen, den griechischen Gattungsbegriff im Rahmen seiner Versuche zur Definition und Kanonisierung der römischen Epigrammatik etabliert zu haben29. Wie aus diversen Aussagen Plinius des Jüngeren zu seiner poetischen Produktion hervorgeht, war zumindest auf römischem Gebiet auch noch zu Martials Zeit die Vorstellung von Kleinpoesie in der Tradition Catulls relativ unkonturiert. Plinius bietet etwa in Epist. 4,14,8 als alternative Titel für seine Hendecasyllabi neben epigrammata auch die Termini idyllia, eclogae und poematia an30. Dagegen lässt sich bei Martial eine Präzisierung der für die eigene Dichtung gebrauchten Terminologie beobachten31; als erster uns erhaltener Epigrammatiker thematisiert er ausführlich das Problem des Gattungsbegriffes und entfaltet überdies in zahlreichen, über das gesamte Korpus verstreuten metareflexiven Gedichten eine Art Poetik seiner Gattung, indem er unterschiedliche Kategorien für ihre Definition heranzieht32. Für die vorliegende Analyse bedeutet dies, dass Martials direkte und indirekte Auseinandersetzung mit anderen Autoren und Gattungen vor dem Hintergrund seiner Selbstprofilierung innerhalb der literarischen Tradition zu betrachten ist 33. Wie Joseph Farrell in seinem wichtigen Beitrag zur antiken Gattungstheorie und -praxis34 gezeigt hat, sagen antike Dichter in ihren Erwähnungen anderer Literaten meist weniger über diese aus als vielmehr über die Qualitäten, Möglichkeiten und Grenzen, die für die eigene Gattung beansprucht werden. So kommt Farrell etwa in seiner Analyse der Auseinandersetzung Pindars mit Archilochos in Pyth. 2,49-56 zu dem Ergebnis, dass Pindar hier sowohl durch die Antithese zwischen Epinikienpoesie und Invektive den Charakter der von ihm betriebenen literarischen Form definiert als auch zugleich mit den Grenzen seiner eigenen Gattung experimentiert, wobei wir wenig über Pindar oder
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Citroni (2003), 9 Anm. 2; einen nützlichen Überblick über die verschiedenen Testimonien zu hellenistischen Epigrammsammlungen bietet Höschele (2010), 308322; vgl. Cameron (1993), 3-5; 7; 10; 372; vgl. Puelma (1996), 127ff.; Gutzwiller (1998), 16; 19; 22; 25; 45; 48. Citroni (2003), 28. Zum Gattungsbegriff bei Martial und Plinius vgl. Citroni (2003) und (2004). Vgl. Citroni (2003), 15ff. Vgl. Citroni (1968), 259-301; Lausberg (1982), 44-56; Maaz (1992), 9-21; Puelma (1995), 433f., 442ff., 456ff. und (1996), 137; Grewing (1997), 429f. In ihrer Analyse der intertextuellen Bezüge, die Martial zu den Satiren und Briefen des Horaz herstellt, bemerkt Merli (2006), 269: „The intertextual variety found in Martial’s work – the openness of his texts to models outside the epigrammatic tradition – bears witness to the poet’s most ambitious goal, that of lifting the genre of epigram out of occasional poetry and entertainment and rooting it in the literary system.“ Farrell (2003).
Archilochos als historische Figuren erfahren35. Im Anschluss an derartige Überlegungen erscheint es mir auch im Falle Martials gewinnbringend zu untersuchen, welche Charakteristika seiner Epigrammatik der Dichter hervorhebt, wie er sie von denjenigen anderer Gattungen abgrenzt und welche Elemente, die für diese Genres typisch sind, er in seine Poesie integriert und damit sozusagen „epigrammatisiert“. In Zusammenhang mit dem zuvor Gesagten ist auch die Frage nach der Funktion der jeweiligen Dichtergedichte innerhalb der Poetik der Epigrammbücher wichtig. Ich gehe davon aus, dass Martials Gedichtbücher als komponierte Einheiten anzusehen, die einzelnen Epigramme bewusst angeordnet sind und folglich auch der Buchkontext das Sinnpotential der Einzelgedichte erweitert. Das ausgeprägte Bewusstsein des Dichters für die Ästhetik des Buches lässt sich nicht zuletzt aus den ständig wiederkehrenden poetologischen Überlegungen zu diesem Medium36 sowie über Strukturanalysen der Epigrammbücher erschließen. Wurden Martials Gedichtbücher von Forschern wie etwa Peter White vorrangig auf ihre Zusammensetzung als ursprünglich privat zirkulierende libelli hin untersucht und damit mehr oder weniger als Sammelbecken für Einzeltexte, die an bestimmte Okkasionen gebunden waren, betrachtet37, so ist die Bedeutung des gesamten Buchkontextes für die Interpretation einzelner Gedichte spätestens durch Don Fowlers wichtigen Aufsatz „Martial and the Book“ (1995) hervorgehoben38 und in der Folgezeit immer stärker berücksichtigt worden39. Mein Ziel ist es daher in Anlehnung an die Erkenntnisse der 35 36
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Farrell (2003), 387ff. Nicht weniger als 15 Buchapostrophen finden sich im Korpus der 12 Epigrammbücher: 1,3; 1,70; 3,2; 3,4; 3,5; 4,86; 4,89; 7,84; 7,97; 8,1; 8,72; 9,99; 10,104; 11,1; 12,2; auch einzelne Gedichte werden gelegentlich apostrophiert: 1,96; 7,26; 12,5; vgl. Holzberg (2004/05), 211 mit Anm. 8. Vgl. Besslich (1974); Citroni (1986); WissigBaving (1991); Höschele (2010), 38ff. White (1974) und (1996). Sein Beitrag ist eine Reaktion auf die libellus-Theorie von White (1974); auf Fowler (1995) reagierte wiederum White (1996), indem er die beiden Positionen miteinander zu verbinden sucht. Mit der Debatte zwischen Fowler und White setzen sich Holzberg (2002b), 128f. und Höschele (2010), 65-68 auseinander. Erste Ansätze finden sich schon bei Karl Barwick (1932) und (1958), der thematisch zusammenhängende Epigrammzyklen analysierte. Sein enger Zyklusbegriff wurde in der Folgezeit erweitert, etwa von Willenberg (1973). Eine eher schematische Analyse der Strukturprinzipien in Martials Epigrammbüchern bietet Scherf (1998) und (2001); wichtige Studien zur Komposition einzelner libri und des Gesamtkorpus liefern etwa Garthwaite (1998a) zu Buch 9, (1998b) zu Buch 5, (2001a) zu Buch 2, (2001b) zu Buch 1 und (2006) zu Buch 3, Lorenz (2003a) zu Buch 9 und (2004b) zu Buch 4, Moreno Soldevila (2004) zu Buch 4, Canobbio (2005) zu Buch 8, Holzberg (2002b) und (2004/05) sowie Lorenz (2002), 209-246 und Höschele (im Druck) zu den Büchern 1012. Dem Prinzip der bewussten Juxtaposition von auf den ersten Blick thematisch verschiedenen Gedichten widmet Fitzgerald (2007) seine Arbeit; vgl. auch Rimell (2008). Zur Textualität antiker Epigrammbücher insgesamt vgl. Höschele (2010).
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jüngsten Forschung in erster Linie, die Funktion der in den Epigrammen auftauchenden Literaten innerhalb der von Martial kreierten poetischen Fiktion seiner libri zu beleuchten40. Dass der Buchkontext bei der Analyse von einzelnen Epigrammen auf Dichter nicht unberücksichtigt bleiben darf, lässt sich am besten an Martials Autorenkatalogen und -kanones zeigen, die den Anfang meiner Untersuchung bilden sollen (Kap. 2). Da die Auseinandersetzung mit anderen Gattungen, die der Epigrammatik nahe stehen bzw. von ihr verschieden sind, in Martials Korpus eine prominente Rolle spielt, ist auch die vorliegende Studie in mehrere Kapitel gegliedert, in denen die einzelnen Gattungen sowie die ihnen von Martial hinzugerechneten Dichter behandelt werden. So werde ich nach den Autorenkatalogen auf die Epigrammatik (Kap. 3), die weitere Tradition der erotischen Dichtung (Kap. 4), Mimus und Theater (Kap. 5), Satire, Jambus und Fabel (Kap. 6) sowie das Epos (Kap. 7) eingehen. Es soll dabei vor allem der Frage nachgegangen werden, welche poetologischen Diskurse, die für die jeweiligen Gattungen charakteristisch sind, von Martial aufgegriffen und in seinen epigrammatischen Diskurs integriert werden.
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Wichtige Anregungen verdanke ich bei meinem Ansatz den Arbeiten von Obermayer (1998) zu Martials homoerotischen Epigrammen sowie Lorenz (2002) zu Martials „epigrammatischen Kaisern“.
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Autorenkataloge und epigrammatische Kanones
Eine Möglichkeit der literarkritischen Auseinandersetzung eines antiken Autors mit anderen Autoren stellt deren Auflistung in Katalogen dar, wobei für die Bewertung der verschiedenen Literaten durch den aufzählenden Dichter oder Prosaiker mehrere Kriterien eine Rolle spielen: Abgesehen von expliziten Kommentaren ist auch die Auswahl und Anordnung der verschiedenen Autoren bzw. ihrer Werke aufschlussreich1. Darüber hinaus können auf impliziter Ebene auch intertextuelle Anspielungen auf andere Autorenkataloge die Selbstverortung eines Dichters im literarischen Kontinuum signalisieren. Unter den lateinischen Poeten ist es insbesondere Ovid, der in seinem Œuvre an zahlreichen Stellen solche Kataloge anführt, um entweder die eigene Zugehörigkeit zu einer bestimmten literarischen Tradition zu demonstrieren oder sich davon abzugrenzen2. Die Beurteilung der verschiedenen Werke und Gattungen erfolgt dabei freilich unter dem Blickwinkel des Elegikers – man denke nur an die Erwähnung der vergilischen Aeneis in Trist. 2,533-536: et tamen ille tuae felix Aeneidos auctor / contulit in Tyrios arma virumque toros, / nec legitur pars ulla magis de corpore toto, / quam non legitimo foedere iunctus amor3; Ovid rezipiert das römische Nationalepos sub specie amoris4. Auch Martial baut im Rahmen seiner metapoetischen Reflexionen mehrere Autorenkataloge ein; wie im Falle Ovids unterliegen die Maßstäbe für die literarkritische Bewertung anderer Dichter und Prosaiker den Konventionen der eigenen Gattung und nehmen somit bisweilen einen recht eigenwilligen Charakter an. Inwieweit Martial solche epigrammatischen Autorenlisten zur Bekundung des poetischen Selbstverständnisses dienen, soll in der folgenden Analyse von Katalogen in Buch 1 und 14 geklärt werden.
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Vgl. dazu etwa Citronis (2006) Ausführungen zur Bewertung, Auswahl und Anordnung der Autoren in Buch 10 der Institutio oratoria Quintilians. Vgl. Tarrant (2002), 15: „Ovid’s characteristic literary-historical gesture is the list“. Vgl. Ov. Am. 1,15,9-30; 3,9,21ff.; 61ff.; 15,7f.; Ars 3,329ff.; Rem. 365ff.; 757ff.; Trist. 2,363ff.; 4,10,43ff.; Pont. 4,16,5ff.; vgl. auch Prop. 2,34b; Ar. Ran. 1030ff.; Hermesianax frg. 7 Powell; AP 4,1 (Meleager); 4,2 (Philipp); für weitere Belegstellen vgl. McKeown (1989), 394f. ad Ov. Am. 1,15,9ff. Zu Martial und Ovid vgl. Kap. 4.1. „Und dennoch führte der glückliche Verfasser deiner Aeneis „Waffen und Mann“ zum tyrischen Lager, und vom gesamten Werk wird kein Teil häufiger gelesen als der von der Liebesvereinigung, die das Gesetz nicht erlaubte“. Vgl. Owen (1967), Luck (1977) und Ingleheart (2010), ad loc. Vgl. Conte (1994), 357; zur sexuellen Konnotation von arma virumque vgl. Tarrant (2002), 24 mit Anm. 45 und J. Adams (1982), 19-22 bzw. 224.
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2.1
Autoren und Gattungen in Buch 1
2.1.1
Anfang und Ende
Bereits in der Textsequenz, die Buch 1 eröffnet, begegnet der Leser einem dichten Netz von poetologischen Aussagen 5. Als einziger der uns erhaltenen Epigrammatiker stellt Martial einzelnen Büchern Prosa-Vorreden voran6, in denen er wichtige Charakteristika seiner Poesie anführt; im Falle von 1 praef. geht es dabei in erster Linie um den Verzicht auf direkten Personenspott und um den Gebrauch obszöner Sprache, wobei der Dichter den Gattungsbegriff epigramma nicht weniger als dreimal hintereinander nennt7: Spero me secutum in libellis meis tale temperamentum ut de illis queri non possit quisquis de se bene senserit, cum salva infirmarum quoque personarum reverentia ludant; quae adeo antiquis auctoribus defuit ut nominibus non tantum veris abusi sint, sed et magnis. Mihi fama vilius constet et probetur in me novissimum ingenium. Absit a iocorum nostrorum simplicitate malignus interpres nec epigrammata mea scribat: inprobe facit qui in alieno libro ingeniosus est. Lascivam verborum veritatem, id est epigrammaton linguam, excussarem, si meum esset exemplum: sic scribit Catullus, sic Marsus, sic Pedo, sic Gaetulicus, sic quicumque perlegitur. Si quis tamen tam ambitiose tristis est ut apud illum in nulla pagina latine loqui fas sit, potest epistola vel potius titulo contentus esse. Epigrammata illis scribuntur qui solent spectare Florales. Non intret Cato theatrum meum, aut si intraverit, spectet. Videor mihi meo iure facturus si epistolam versibus clusero: Nosses iocosae dulce cum sacrum Florae festosque lusus et licentiam volgi, cur in theatrum, Cato severe, venisti? an ideo tantum veneras, ut exires? Ich hoffe, dass ich mich in meinen Büchlein von einer solchen Mäßigung habe leiten lassen, dass sich niemand beklagen kann, der mit sich selbst im Reinen ist, weil sie ihre Witze nicht auf Kosten des Respekts selbst vor Angehörigen der untersten sozialen Schicht machen. An diesem ließen es die alten Autoren in dem Maße fehlen, dass sie nicht nur reale, sondern auch bedeutende Namen missbrauchten. Mich soll der Ruhm weniger kosten und zuletzt soll man meinen satirischen Einfallsreichtum loben. Seine Finger soll jeder böswillige Exeget vom harmlosen Humor meiner Witze lassen, und er soll sich auch nicht anmaßen, meine Epigramme zu schreiben. Unfair handelt, wer in einem fremden Buch einfallsreich ist. Die freizügige Offenheit der Formulierung, d.h. die Sprache der Epigramme, würde ich rechtfertigen, wenn ich das erste Beispiel dafür lieferte: So schreiben schon Catull, so Marsus, so Pedo, so Gaetulicus, so alle, die man von vorn bis hinten liest. Wenn aber jemand dennoch so fanatisch 5
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Zu den „Paradeepigrammen“ 1,1-8 und der Struktur dieser Passage vgl. Holzberg (2002b), 35-39. Zu den Prosavorreden bei Martial und Statius vgl. jetzt die umfassende Studie von Johannsen (2006). Bei den lateinischen Textzitaten folge ich, soweit nicht anders angegeben, der Oxford-Ausgabe von Lindsay (21929).
prüde ist, dass man bei ihm auf keiner Buchseite auf gut Lateinisch sprechen darf, dann kann er sich ja mit dem Brief hier oder besser noch mit dem Titel zufrieden geben. Epigramme werden für solche Leute geschrieben, die gern das Florafest anschauen. Nicht soll ein Cato mein Theater betreten, oder, wenn er es denn betreten hat, dann soll er auch zuschauen. Ich denke, mit gutem Recht zu handeln, wenn ich den Brief mit Versen abschließe: Wo du doch das fröhliche Fest der ausgelassenen Flora kanntest, die zum Fest gehörenden Scherze und den Übermut des Volkes, warum bist du in mein Theater gekommen, gestrenger Cato? Bist du etwa nur deshalb gekommen, um wieder hinausgehen zu können?8
Im ersten Teil dieser praefatio distanziert sich Martial von nicht näher spezifizierten antiqui auctores, die ihm zufolge vor der Verspottung realer und zudem bedeutender Personen nicht zurückschreckten (1 praef. 3-5)9. Man könnte dahinter Dichter wie Lucilius und Catull oder die von Horaz in ähnlichem Zusammenhang angeführten Vertreter der Alten Komödie vermuten, bei denen Personeninvektiven zu finden sind10. Die Überleitung zur Rechtfertigung des lasziven Charakters seiner Poesie stellt Martial durch die Auseinandersetzung mit dem potentiellen malignus interpres (6-9) und zuvor in der mehrdeutigen Formulierung probetur in me novissimum ingenium (6) her. Mehrheitlich fassen die Forscher novissimum ingenium prädikativ auf („zuletzt den Einfallsreichtum“) und sehen darin eine Form proömialer Bescheidenheitstopik, insbesondere im Hinblick auf Martials Begabung als Verfasser satirischer Gedichte11. In diesem Sinne darf man wohl auch das auf den Rezipienten (bei dem es sich im schlimmsten Fall um einen malignus interpres handelt), bezogene Adjektiv ingeniosus verstehen: Der Leser soll sein ingenium nicht dazu verwenden, versteckte Invektive in den Epigrammen zu suchen12. Abgesehen von dieser eher defensiven Ausrichtung könnte hinter der Wendung novissimum ingenium jedoch auch eine absichtlich erzeugte Ambiguität zwischen Bescheidenheit und literarischem Anspruch stecken, was nicht zuletzt deshalb denkbar erscheint, weil Martials novissimum an Catulls novum libellum (c. 1,1) erinnert und überdies einen auffälligen Kontrast zu den kurz zuvor erwähnten
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Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Verfasserin. Zum Problem des ὀνομαστί κομῴδειν vgl. ausführlicher Kap. 6. Vgl. Hor Sat. 1,4,1-8; Citroni (1968), 265-66 und (1975), 8; Howell (1980), 96; Johannsen (2006), 61; Fitzgerald (2007), 72. Zur Invektive s. ausführlicher Kap. 6. Vgl. die Diskussion bei Johannsen (2006), 61f.; zu dieser engeren Bedeutung von ingenium als satirischer Einfallsreichtum vgl. ThLL VII 1,1534, s.v. ingenium c. prius I B 2 d. Es wäre auch denkbar, dass mit improbe facit qui in alieno libro ingeniosus est auf den Plagiats-Zyklus vorausverwiesen wird sowie auf das Problem der literarischen Fälschung; s. dazu Kap. 3.3.4 und 6.2. Johannsen (2006), 62 bemerkt, dass Martial „einen geradezu auktorialen Anspruch auf den Sinn der von ihm verfaßten Gedichte“ erhebe.
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antiqui bildet, so dass das Wort als Adjektiv auch das Neue in Martials Poesie bezeichnen dürfte13. Konkretere Angaben als im Falle der vor Personenspott nicht zurückschreckenden antiqui auctores macht der Epigrammatiker dann innerhalb einer katalogartigen Aufzählung seiner wichtigsten Vorbilder für freizügige Sprache im zweiten Abschnitt der praefatio: Catull, Marsus, Pedo, Gaetulicus und quicumque perlegitur (10-12) fungieren als Gewährsleute für das Verfassen lasziver Dichtung. Die Aufzählung erfolgt möglicherweise nach chronologischen Kriterien und scheint auch eine Hierarchie im Hinblick auf die Bedeutung der Autoren für Martial widerzuspiegeln: Catull wird im weiteren Verlauf des Werkes am häufigsten erwähnt (vierzehn Mal)14, Marsus halb so oft (sieben Mal), Pedo drei Mal und Gaetulicus nur an dieser Stelle15. Die Bemerkung quicumque perlegitur impliziert, dass Martial ebenfalls ganz gelesen werden will16 und bereits hier seinen Anspruch auf fama und Popularität geltend macht17, wie er ihn später noch mehrmals und in deutlicheren Worten artikulieren wird18, so etwa schon im ersten „regulären“ Epigramm des Buches. Bereits in der Vorrede zum liber I inszeniert er sich somit als bedeutender Vertreter der Gattung, die er als eine genuin römische Literaturform konstruiert, indem er den Anschein erweckt, als ob es keine griechische Tradition gäbe19. Zur Rechtfertigung der Obszönität seiner Verse genügt es dem Dichter im weiteren Verlauf der praefatio nicht, allein auf seine Vorgänger zu verweisen. Die am Ende der Epistel hergestellte Analogie zwischen der Epigrammdichtung und einem außerliterarischen, zudem typisch römischen Ereignis wie dem Florafest20, dient einerseits zur nachdrücklicheren Verteidigung des Gebrauchs derber Sprache, andererseits zur Rezeptions-
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Vgl. Adams (1975), 140 Anm. 5; Richlin (1992), 6; Fearnley (1998), 35 Anm. 58. Catullus ist zugleich der erste Name, den Martial in seinen XII Epigrammaton libri nennt, vgl. Lorenz (2007), 420. Catull: 1,7; 61; 109; 2,71; 4,14; 5,5; 6,34; 7,14; 99; 8,73; 10,78; 103; 11,6; 12,44; 59; vgl. 14, 77; 100; 152; 195; Marsus: 2,71; 77; 4,29; 5,5; 7,29; 99; 8,55; Pedo: 2,77; 5,5; 10,20; vgl. Johannsen (2006), 129f. Damit erinnert er an Ovid, der in den Remedia amoris mit folgenden Worten seine Ars amatoria anpreist (487f.): Artes tu perlege nostras: / plena puellarum iam tibi navis erit („Lies meine Ars von vorne bis hinten – schon wird dein Schiff voller Mädchen sein.“); vgl. Henderson (1979), 102 ad loc. Vgl. Banta (1998), 220. Zur Popularität beim Publikum vgl. 4,49; 5,16; 6,60; 64; 82; 7,88; 97; 8 praef.; 3; 61; 9 praef.; 81; 97; 10,33; 11,3; 24; zum Thema Ruhm vgl. weiter 1,1; 25; 3,95; 5,10; 13; 7,44; 84; 9,84; 10,2; 3; 9; 103. Fearnley (1998), 32f. weist auf das in der praefatio häufig benutzte Personal- bzw. Possessivpronomen der 1. Pers. Sg. hin. Zu Martials hauptsächlich auf intertextueller Ebene erfolgenden Auseinandersetzung mit der griechischen Epigrammatik s. Kap. 3.2. Zu den Floralien vgl. Ov. Fast. 5,347-352; Citroni (1975), 11; Howell (1980), 100f.
steuerung und Konstruktion des Lesers21: Mit dem expliziten Vergleich des Epigrammpublikums und den spectatores der Darbietungen während des Festes (1 praef. 15; 18-21)22 und der Gleichsetzung des Lektüreeinstiegs mit dem Betreten eines Theaters (theatrum meum, 15f.) sowie dem CatoExemplum23 soll eine Leserschaft kreiert werden, die sich vom obszönen Sprachgebrauch des Dichters (13: latine loqui)24 nicht befremdet zeigt. Zugleich erfolgt hier ein Hinweis darauf, wie der Rezipient Martials Epigrammatik auffassen soll: als der Sphäre des theatrum und somit der Fiktion angehörende Unterhaltungspoesie25, ähnlich den während der Floralien aufgeführten ludi scaenici; demnach soll der Epigrammleser – als ein solcher wird auch Kaiser Domitian imaginiert – die Rolle des spectator einnehmen26. Auf die poetologischen Reflexionen der Prosavorrede folgen weitere in den ersten Epigrammen. Weitaus stärker als das vom Dichter in der praefatio ausgedrückte Selbstvertrauen ist dasjenige, das in 1,1 bekundet wird, wo Martial auf seine Popularität toto in orbe und auf seinen vom Leser schon zu Lebzeiten ermöglichten Ruhm verweist; dies dient sicherlich nicht zuletzt der Überraschung des Rezipienten27. Haben etwa der Liber spectaculorum28 oder die Xenia und Apophoreta dem Dichter schon ein derar21
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Vgl. Johannsen (2006), 77; zur Erschaffung des Lesers durch den Autor vgl. Eco (1984); Suerbaum (1999), 15ff. Die Charakterisierung der Epigrammdichtung als lusus in den Anfangspassagen des ersten Buches (1 praef. 3 u. 19; 3,10; 4,7) verweist einerseits zurück auf die programmatischen Einleitungsepigramme der Xenia und Apophoreta (Vergleich mit Würfelspiel in 13,1,5-8; Spielen mit Nüssen in 14,1,12) und schafft andererseits eine intertextuelle Verbindung zu poetologischen Aussagen bei Catull (z.B. c. 50,2 multum lusimus in meis tabellis) und zur Beschreibung des Florafestes bei Ovid (Fast. 5,331 quaerere conabar, quare lascivia maior / his foret in ludis liberiorque iocus), vgl. Fearnley (1998), 35f.; bei Tacitus, Dial. 10,4, ist lusus ein spezifisches Kennzeichen der Epigrammdichtung. Vgl. Val. Max. 2,10,8; Phaed. 4,7,21f. Zur Bedeutung dieser Wendung im Sinne von „die Dinge beim Namen nennen“ vgl. 11,20,1f. und in einer ähnlichen Bedeutung latine dicere in Priap. 3,9f.; Citroni (1975), 11. Zu Lektüreprozess und Theatermetaphorik vgl. Best (1969), 209; Adams (1982), 5; Wiseman (1999), 197; Lorenz (2002), 113; Holzberg (2002b), 37; Höschele (2007), 353f. und (2010), 123f. 1, praef. 15 spectare und 16 spectet; vgl. 1,4,5 an Domitian (spectas). Martial scheint hier Bezüge zum Epilog der Metamorphosen Ovids herzustellen (Met. 15,877-79), vgl. Holzberg (2004/05), 210. Noch auffälliger sind die Anklänge an Ovids letztes Gedicht in den Epistulae ex Ponto (4,16), wo ebenfalls der Ruhm des Elegikers zu Lebzeiten sowie nach dem Tod thematisiert wird (3f.): famaque post cineres maior venit, et mihi nomen / tum quoque, cum vivis adnumerarer, erat. In weiterer Folge zählt Ovid zeitgenössische Autoren auf, zu denen auch Martials Vorbilder Marsus und Pedo gehören (Pont. 4,16,5ff.); vgl. Helzle (1989), 183f. Vgl. Fearnley (1998), 41: „Martial has tentatively associated fama with his own literary opus in De spectaculis“ zu Sp. 1,8. Nach wie vor orientiert man sich, mit einzelnen Modifikationen, an der Datierung Friedlaenders (1886), 1, 50-67, der zufolge der Liber
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tiges Ansehen beschert? Dass Martial diese Bücher vor dem Korpus der XII Epigrammaton libri publizierte, hat die Mehrzahl der Forscher bisher angenommen, wenngleich die Argumente dafür nicht zwingend sind und es genauso gut möglich wäre, dass diese Werke erst später entstanden sind29. Aufgrund der selbstbewussten Pose des Sprechers in 1,1 wurde in der älteren Martial-Forschung die These von einer zweiten Auflage der Epigramme aufgestellt; demnach habe der Dichter das Epigramm 1,1 erst an den Beginn der Sammlung gesetzt, als ihm seine erste Auflage schon einiges an Bekanntheit eingebracht hatte30. Doch der Effekt von Martials Sprechhaltung in 1,1 wäre umso komischer, wenn sich der Epigrammatiker hier als eine berühmte Persönlichkeit inszeniert, die er in der Realität noch gar nicht ist. Zugleich würde sich Martial am Beginn des ersten Buches eine ideale Leserschaft konstruieren, die – im Gegensatz zu den Zeitgenossen, die Horaz in Epist. 2,1,63ff. beklagt – Autoren nicht erst lange nach deren Tod zu schätzen beginnt. Die Wendung hic est, quem legis ille…Martialis (1,1,1f.) versetzt den Leser abermals in die Rolle eines Betrachters, diesmal des Dichters selbst, der sich mit seinem Werk gleichsetzt (2: Martialis)31. Man könnte sich hier auch ein Autorporträt oder gar die mit einer Inschrift versehene Statue des poeta vorstellen32, wobei der epigraphische Charakter des ersten regulären Gedichtes der Sammlung vielleicht dem Leser die Ursprünge der Gattung – Epigramme als Aufschriften von Objekten – in Erinnerung rufen soll33.
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Spectaculorum, die Xenia und Apophoreta vor den zwischen 85 und 101 n.Chr. publizierten XII Epigrammaton libri veröffentlicht wurden; vgl. Citroni (1975), ix-xxi; Holzberg (1988), 12; Sullivan (1991), 1-55 u. 319-321. Vgl. Lorenz (2002), 56-59 zum Liber Spectaculorum und 82-85 zu Xenia und Apophoreta. Für eine Datierung des Liber Spectaculorum in die Regierungszeit Domitians, genauer in die Jahre 83-85 n.Chr., hat sich zuletzt Buttrey (2007) ausgesprochen; vgl. Coleman (2006), xlv-lxiv. Vgl. Citroni (1975), 12ff.; Howell (1980), 103; Nauta (2002), 132 Anm. 131. Die Epigramme 1,1-1,2 fehlen zudem in der Handschriftengruppe BA. Zur Gleichsetzung des Autornamen mit dem Werk vgl. Quint. Inst. 8,6,26; vgl. Clay (1998), 30. Als Statue bzw. Bild sollen wir uns Martial auch in 9 praef. vorstellen (s. Kap. 2.2.3); zu Autorporträts vgl. Hor. Sat. 1,4,22. Crusius (1889), 455 vermutet, das Epigramm 1,1 habe ursprünglich ein Autorporträt begleitet; vgl. Prinz (1911), 13; Citroni (1975), ad 1,1,1 weist auf den epigraphischen Charakter des Gedichtes hin; Howell (1980) ad 1,1 dagegen sieht in hic est eine Abwandlung der Formel ille ego qui, wie sie bei Ovid, Trist. 4,10 auftaucht. Auch die Anrede des lector als studiosus (4) erinnert an die Konvention griechischer Epigramme, den Leser/Wanderer zur genauen Betrachtung eines Objektes zu animieren: vgl. etwa AP 9,599 (Theokrit) auf eine Statue des Anakreon (1f.): Θᾶσαι τὸν ἀνδριάντα τοῦτον, ὦ ξένε, / σπουδᾷ; dazu Rossi (2001), 279ff. Zur Leserapostrophe in griechischen Epigrammen vgl. Meyer (1993), (2005) und (2007). Vgl. Fearnley (1998), 42.
Die beiden folgenden Gedichte lenken den Blick von der Person des Dichters stärker auf das Medium Buch34. In 1,2 wird dem Leser erklärt, wo Martials liber in Form einer handlichen Pergament-Ausgabe35 zu kaufen sei, während sich 1,3 an das Buch als personifizierte Papyrusrolle richtet und in Anlehnung an Horaz (Epist. 1,20) und Ovid (Trist. 1,1 und 3,1)36 das Problem der Veröffentlichung thematisiert. Hatte Martial in 1,1 den Kreis seiner Rezipienten noch toto in orbe (2) angesiedelt, so erfolgt in 1,2 und 1,3 eine Verengung dieser Perspektive auf die Stadt Rom, wie die topographischen Hinweise in den beiden Gedichten deutlich machen (1,2,6, urbe; 8, limina post Pacis Palladiumque forum; 3,1, Argiletanas tabernas; 3, dominae Romae; 4, Martia turba)37. Der Leser, der sich in 1,1 noch in einer statischen BetrachterPosition befand, wird in 1,2 als Reisender in Bewegung gedacht, wenn der Dichter ihm seine Bücher als comites longae...viae (2) anpreist38. Martial fungiert hier als Wegführer (6, me duce), der den Rezipienten davon abhält, sich auf der Suche nach einer Buchhandlung in der Stadt zu verirren (5f., ne...erres / urbe vagus tota), wobei diese Wandermetaphorik am Anfang des ersten epigrammaton liber zugleich den beginnenden Lektüreprozess verbildlichen dürfte39. Auch die Buchapostrophe in 1,3 ruft die Vorstellung von einer Bewegung hervor, denn der parvus liber will sein sicheres Heim verlassen und strebt zu den Buchläden auf dem Argiletum 40. Mit der Personifizierung der auf das Wohlwollen der Menge angewiesenen Buchrolle (7f.), greift Martial zudem implizit die Theater-Metaphorik aus der praefatio auf41. Die in 1,2 und 1,3 genannten buchtechnischen Details verbildlichen zugleich den Charakter der Epigrammpoesie: Durch die Verse hos eme, quos artat brevibus membrana tabellis / scrinia da magnis, me manus una capit (1,2,3f.) werden 34
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Zum Wandel von Stein- zu Buchpoesie in der hellenistischen Epigrammatik vgl. Gutzwiller (1998), 47-114; Höschele (2010), 86-146. Zusammen mit 14,184, 186, 188, 190 und 192 liefert dieses Epigramm den frühesten uns erhaltenen Hinweis auf eine Publikation im Kodex-Format; vgl. Citroni (1975), 17f.; Howell (1980), 105f.; Roberts/Skeat (1983); Fowler (1995). Vgl. Citroni (1975), 23-29 ad 1,3; Howell (1980), 110; Wissig-Baving (1991); Holzberg (2002b), 63-64; Garthwaite (2006), 405. Eine ähnliche Form der „Zoomtechnik“ findet sich auch in Sp. 1-3, wo zunächst von internationalen Weltwundern die Rede ist (Sp. 1), dann von der urbanen Landschaft Roms unter Nero und den Flaviern (Sp. 2) und schließlich von den spectatores, die aus aller Welt in das Amphitheater des Prinzeps strömen (Sp. 3); s. dazu Kap. 3.2.1. Rühmt sich Martial in 1,1,2 als toto notus in orbe, so geht aus 1,2 hervor, wie es dazu kommen kann: Die Leser sollen Martials Bücher kaufen und in die Welt hinaus tragen. Zum Bild des wandernden Lesers in frühgriechischer Dichtung vgl. Nünlist (1998), 228ff.; zur Wegmetapher speziell in Epigrammdichtung vgl. Höschele (2007) und (2010), 110-146, zu Mart. 1,2 bes. 137f. Damit ähnelt das Epigramm Hor. Epist. 1,20, vgl. Citroni (1975), 23. Zu den verschiedenen Theaterformen, die Martial im Laufe des ersten Buches evoziert, vgl. Garthwaite (2001b).
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zunächst die materiellen Vorteile einer handlichen Pergamentausgabe gegenüber großen Papyrusrollen beschrieben, darüber hinaus könnte aber auch an eine Gegenüberstellung der sich durch brevitas auszeichnenden Epigrammdichtung mit anderen, „großen“ Gattungen gedacht sein42. Hatte Martial zu Beginn des Buches den Leser darauf aufmerksam gemacht, wo dieser eine Ausgabe seiner Poesie erstehen kann43, so wiederholt er die Wegbeschreibung zur Buchhandlung in 1,117, dem vorletzten Epigramm des liber primus44. Dort bittet Lupercus den Dichter um ein (kostenloses) Exemplar des vorliegenden epigrammaton libellus (3) zur Lektüre, woraufhin der Dichter ihm anstelle einer Absage die folgende Wegbeschreibung zur zentral gelegenen Buchhandlung gibt (9-13): Argi nempe soles subire Letum: contra Caesaris est forum taberna scriptis postibus hinc et inde totis, omnis ut cito perlegas poetas. illinc me pete. Du gehst doch gewöhnlich das Argiletum hinauf; gegenüber Caesars Forum befindet sich ein Laden, dessen Pfosten auf beiden Seiten zur Gänze beschrieben sind, damit du rasch alle Dichter durchlesen kannst. Von dort hole mich.
Mit Martials Hinweis auf die werbenden Anschriften am Laden (10ff.) wird nach 1,1 erneut der epigraphische Ursprung der Gattung evoziert. Auch sein eigener Name ziert die Pfosten am Eingang zur taberna (13) – es dürfte sich dabei um Werbung des Buchhändlers für die zum Verkauf stehenden „Bestseller“ handeln45. Lupercus könne sich dort einen schnellen Überblick über das Kontingent verschaffen (12: omnis ut cito perlegas poetas), heißt es. 42
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Vgl. Höschele (2010), 125. Die Kontrastierung der Epigrammdichtung mit den großen Literaturgattungen taucht in Martials Werk an mehreren Stellen auf: 4,49; 8,3; 9,50; 10,4; 12,94. Hinds (2007), 136 schlägt vor, im Namen des Buchhändlers Secundus (1,2,7) schon hier eine Andeutung auf den noch zu erwartenden liber secundus zu sehen. Das Epigramm enthält mehrere verbale und inhaltliche Bezüge zu den Gedichten der Eröffnungssequenz: Besonders die Wegbeschreibung an Lupercus (9-14) mit der Auskunft, wo dieser eine mit Bimsstein geglättete und in eine purpurne Schutzhülle verpackte Martial-Ausgabe (16f. rasum pumice purpuraque cultum...Martialem) erwerben könne, erinnert an die topographischen Angaben in 1,2,7f. (libertum docti Lucensis quaere Secundum / limina post Pacis Palladiumque forum) und 1,3,1 (Argiletanas mavis habitare tabernas), wobei die in der Mitte des Epigramms 1,117 stehenden Verse 9-10 (Argi nempe soles subire Letum: / contra Caesaris est forum taberna) den Schlussvers von 1,2 und den Anfangsvers von 1,3 genau in umgekehrter Reihenfolge wieder aufnehmen. Die als Sphragis fungierende Nennung des Namens Martialis am Ende des Buches (1,117,17) weist ebenfalls auf dessen Beginn zurück (1,1,2), und nur an diesen beiden Stellen in Buch 1 begegnen wir dem cognomen des Dichters; zudem ist nach dem in der Stadt herumwandernden Rezipienten in 1,2 auch Lupercus in 1,117 als eine Art wandernder Leser charakterisiert (1: occurris); vgl. Fearnley (1998), 97ff. Vgl. Neumeister (1991), 107.
Nachdem Martial in der Prosaepistel noch auf seine Gattungsvorbilder Catull, Marsus, Pedo und Gaetulicus sowie quicumque perlegitur verwiesen hat (1 praef. 11f.), so gehört nun er selbst in 1,117 (12: perlegas) zu denjenigen Dichtern, die Leute wie Lupercus durchlesen. Damit präsentiert sich Martial jener Gruppe von Autoren, die er in der praefatio genannt hat, bereits am Ende des ersten Buches auf scherzhafte Art und Weise als ebenbürtig. Einen von Bimsstein geglätteten libellus, wie ihn Catull seinem Cornelius Nepos dedizierte (c. 1: pumice expolitum), soll auch Lupercus erhalten (16: rasum pumice)46, doch nur gegen Bargeld (17: denaris…quinque). Martials literarisches Selbstbewusstsein scheint sich auch im weiteren Verlauf des Korpus nach und nach zu steigern: Der Dichter Gaetulicus taucht nur in der Prosaepistel zu Buch 1 auf, in 7,99 charakterisiert sich Martial stolz als nec Marso nimium minor…doctoque Catullo (7), und am Ende des 10. Buches ist er vollends zum alter Catullus mutiert, wenn er behauptet, dass Verona ihn nicht weniger als Catull für seine literarischen Verdienste um die Stadt rühme (10,103)47. Auseinandersetzungen mit verschiedenen Autoren und Reflexionen über unterschiedliche produktions- und rezeptionsästhetische Fragen, die mit dem Schaffen von Literatur zusammenhängen, spielen im gesamten ersten Buch (und auch in den restlichen libri) eine wichtige Rolle. Nach einer an den Kaiser gerichteten Rechtfertigung für den obszönen Charakter von Martials Poesie (1,4) behandelt der Löwe-Hase-Zyklus implizit das Verhältnis zwischen Prinzeps und Epigrammatik48. Mehrere Gedichte thematisieren Komposition, Verbreitung und Rezeption einzelner Epigramme und ganzer Bücher (1,16; 45; 63; 70; 96; 118)49 und die für Martials Poesie charakteristischen Elemente wie Obszönität oder Gedichtumfang (1,35; 110). Innerhalb des dichten Netzes expliziter und impliziter poetologischer Aussagen im liber primus erwähnt Martial auch mehrmals Literaten aus der Vergangenheit sowie aus seiner eigenen Epoche. Der erste nach der praefatio namentlich genannte Dichter ist sein Zeitgenosse Stella (1,7); er eröffnet zugleich die Reihe der Patrone, die der Epigrammatiker im Laufe seines Korpus präsentiert. Das im Hendekasyllabus abgefasste Gedicht 1,7 korrespondiert einerseits metrisch mit 1,1, wodurch schon auf formaler Ebene zwischen Martial und Stella eine enge Verbindung hergestellt
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Vgl. auch Hor. Epist. 1,20,2; Howell (1980), 262 u. 351. Zur linearen Entwicklung von Martials literarischem Selbstverständnis vgl. Kröner (1987). Der Zyklus umfasst die Gedichte 1,6; 14; 22; 48; 51; 60; 104; vgl. dazu insbesondere Lorenz (2002), 126-134; der Hase, lepus, und sein Spiel, ludere (vgl. 1,6,4), deuten möglicherweise auf Catulls Schlagwörter lepos und lepidus hin, vgl. Holzberg (1986), 211f. u. (1988), 77-79; Buchberger (1987), 25; Rimell (2008), 204. Zu Epigrammen auf das Medium Buch vgl. Citroni (1986); Wissig-Baving (1991); Fowler (1995); Holzberg (2004/05); Höschele (2010), 38-68.
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wird50, und präsentiert uns andererseits mit der (doppeldeutigen) Behauptung, Stellas columba übertreffe Catulls passer, die beiden flavischen Dichter als Vertreter derselben literarischen Tradition51. Stellas Reaktion als Leser des ersten Epigrammbuches inszeniert Martial zudem in 1,4452. Gedichte auf Literaten sind auch im weiteren Verlaufe des ersten Buches häufig anzutreffen und fest in den Buchkontext integriert: In 1,25 und 1,91 variiert Martial am Beispiel der Dichter Faustinus und Laelius die schon in der Eröffnungspassage problematisierten Themen des Ruhmes zu Lebzeiten, der Veröffentlichung und Kritik. Eine ernsthafte Bedrohung für den Autor stellen Plagiatoren dar, wie uns ein eigener, das erste Buch dominierender Zyklus vor Augen führt53. Dass die Dichtkunst ein wenig lukrativer Beruf sei, erfahren wir aus 1,76, wo Martial seinem Freund Flaccus rät, der Poesie den Rücken zu kehren und sich stattdessen einträglicheren Beschäftigungen zuzuwenden54. Das Epigramm fügt sich somit in die Reihe der im Korpus immer wieder auftauchenden Gedichte über das Fehlen eines geeigneten Mäzens ein55, die uns im Laufe der weiteren Analyse häufiger beschäftigen werden. Noch deutlicher begegnet uns dieses Motiv in 1,107: Lucius Iulius, ein weiterer amicus des Epigrammatikers, fordert von diesem, aliquid magnum zu schreiben (2), woraufhin Martial sich von ihm jene Rahmenbedingungen wünscht, die einst ein Maecenas Vergil und Horaz ermöglicht habe56. Es sollte aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein, dass Anfang und Ende von Martials Epigrammbüchern – hier wurde exemplarisch Buch 1 betrachtet – eng aufeinander bezogen sind. Neben dieser Rahmung begegnen uns poetologische Reflexionen des Dichters auch innerhalb der libri, und zwar in hoher Frequenz; so variiert Martial in seinen Epigram50 51
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Vgl. Holzberg (2002b), 38. Passer kann sich sowohl auf Catulls Polymetra beziehen als auch obszön im Sinne von mentula verstanden werden. Zur Deutung von Catulls Passer-Gedichten bei Martial s. ausführlicher Kap. 3.1. Während die meisten Forscher davon ausgehen, dass es sich bei Stellas Columba um ein an Catul. c. 2 und 3 angelehntes Gedicht handelt – vgl. Citroni (1975), 41f. –, vertritt Nauta (2002), 156f. die These, dass die Erwähnung des passer und der columba in 1,7 als Hinweis auf ganze Gedichtbücher zu verstehen ist. Zu Stella und Catull vgl. auch 1,109,1f. Martials Auseinandersetzung mit der Dichtung Stellas wird ausführlicher in Kap. 4.3.1 behandelt. Zur Strategie antiker Dichter wie Ovid, Leserreaktionen zu inszenieren und in diesem Rahmen wichtige poetologische Probleme zu thematisieren, vgl. Holzberg (2006c). Zu 1,44 s. Kap. 4.3.1, S. 164-5. 1,29; 38; 52; 53; 66; 72; vgl. auch 1,63; zum „Fidentinus-Zyklus“ und dem Problem des Plagiats s. ausführlicher Kap. 3.3.3. Welche Tätigkeit hier genau gemeint ist – ein unter dem Schutz Minervas stehendes Handwerk oder die Redekunst –, wurde viel diskutiert; Citroni (1975), 240f.; Howell (1980), 277; Nauta (2002), 60. Zur Dichter-Gönner-Thematik vgl. Puelma (1995). Zur Auseinandersetzung Martials mit der augusteischen Literatur s. Kap. 4.1, 4.2, 6.2 und 7.2.
men auf andere Dichter verschiedene im „Prolog“ oder „Epilog“ formulierte programmatische Aussagen, und daher ist nun genauer zu untersuchen, welche Funktion diese Dichtergedichte im poetologischen Diskurs des Epigrammatikers erfüllen. In weiterer Folge möchte ich mich vermehrt den Autorenkatalogen widmen und Martials Strategien einer epigrammatischen „Kanonbildung“, von der wir bereits am Beispiel der Vorrede zu Buch 1 ansatzweise einen Vorgeschmack bekommen haben, in den Blick nehmen.
2.1.2
Ein halbspanischer Autorenkatalog
Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass Martial sich in einem Gedicht, das in etwa die Mitte des 118 Epigramme umfassenden ersten Buches einnimmt57, mit mehreren älteren und zeitgenössischen sowie spanischen und nichtspanischen Literaten in eine Reihe stellt (1,61): Verona docti syllabas amat vatis, Marone felix Mantua est, censetur Aponi Livio suo tellus Stellaque nec Flacco minus, Apollodoro plaudit imbrifer Nilus, Nasone Paeligni sonant, duosque Senecas unicumque Lucanum facunda loquitur Corduba, gaudent iocosae Canio suo Gades, Emerita Deciano meo: te, Liciniane, gloriabitur nostra, nec me tacebit Bilbilis.
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Verona liebt die Verse seines gelehrten Dichters, glücklich über seinen Maro ist Mantua, das Land der Aponus-Quellen wird nach seinem Livius bewertet und nicht weniger nach Stella und Flaccus, dem Apollodorus spendet der überschwemmende Nil Beifall, Naso rühmen die Paeligner, von beiden Senecas und dem einzigartigen Lucan spricht das redegewandte Corduba, Emerita von meinem Decianus; mit dir, Licinianus, wird unser Bilbilis sich rühmen, und mich wird es nicht verschweigen.
Die Kombination von Choljambus und jambischem Dimeter findet sich innerhalb des Œuvres nur an dieser Stelle58 und verleiht dem Epigramm somit in formaler Hinsicht einen besonderen Charakter. Eher als an ein Epigramm würde man in diesem Fall wohl an eine Epode denken; einem ähnlichen metrischen Schema folgt das Gedicht 1,49, wo jambische Trimeter und Dimeter einander abwechseln und sowohl metrisch als auch inhalt-
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Die Mitte von antiken Gedichtbüchern ist häufig programmatisch aufgeladen, vgl. den diesem Thema gewidmeten Sammelband von Kyriakidis/de Martino (2004); darin Holzberg (2004) speziell zu „Middles in Martial“. Citroni (1975), 201; Howell (1980), 250.
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lich – Martial preist hier ein Leben in Spanien procul negotiis – auf Horazens Epoden 1-10 (insb. 2) angespielt wird; abgesehen vom Metrum sind die Gedichte 1,49 und 1,61 auch über den Adressaten Licinianus aufeinander bezogen59. Diesen bezeichnet Martial in 1,49 als vir Celtiberis non tacende gentibus / nostraeque laus Hispaniae (1f.) und malt sich seine bevorstehende Rückkehr in die Heimat aus. Verbal greift die Ankündigung nec me tacebit Bilbilis am Ende von 1,61 den Beginn von 1,49 auf und markiert somit die beiden Epigramme sowie die beiden aus Bilbilis stammenden Dichter als eng miteinander verbunden. Das Gedicht 1,61 weist überdies eine auffällig symmetrische Struktur auf: Die Verspaare 1f., 5f. und 9f. beinhalten jeweils zwei topographische Angaben, die übrigen Distichen (3f., 7f. und 11f.) nur eine. Außerdem rahmen die italischen und spanischen Städte (1; 2; 8; 9; 10; 12) Landschaften (3), Flüsse (5) und Völker (6). In der ersten Gruppe werden pro Verspaar zwei Schriftsteller genannt, in der zweiten ist von jeweils drei Autoren die Rede60; nur das abschließende Distichon (11f.) weicht mit der Nennung von Licinianus und Martial von diesem Schema ab, womit eine besondere Hervorhebung der beiden Namen einhergeht. Angesichts dieser durchdachten Komposition ist sicherlich auch die Rahmung mit Catull am Anfang und Martial am Ende bewusst geschaffen, zumal die Heimatstädte beider Dichter – Verona ist das erste und Bilbilis das letzte Wort – für eine zusätzliche Symmetrie sorgen. Das dürfte darauf abzielen, dem Leser schon hier zu suggerieren, Martial sei Catull ebenbürtig; explizit wird dieser Anspruch allerdings noch nicht erhoben, da von Catulls Ruhm in Verona im Präsens gesprochen wird (1: amat) und Martial für sich selbst diese Ehre noch in die Zukunft rückt (12: nec me tacebit)61. Ausschlaggebend für die Aufzählung der Autoren ist, neben einer lockeren chronologischen Ordnung62, ihre Herkunft63: Die erste Hälfte des Epigramms umfasst Städte und Gebiete Italiens bzw. Ägyptens, der zweite Teil ist ausschließlich spanischen Literaten gewidmet. Die Strategie, sich als letztes Beispiel in eine Reihe berühmter Vorbilder einzuordnen, scheint Martial von Ovid übernommen zu haben64; der Epigrammatiker spielt auf 59
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Vgl. 1,49,3 und 1,61,11; zur Person des Licinianus und den Anklängen an Horaz vgl. Citroni (1975), 157f.; Howell (1980), 212ff.; vgl. Catal. 13. Zu Martial und Horazens Epoden vgl. außerdem Duret (1977). Vgl. Citroni (1975), 200f.; Howell (1980), 250. Anders verhält es sich in 10,103,5f.: nec sua plus debet tenui Verona Catullo / meque velit dici non minus illa suum. Vgl. Muñoz Jiménez (1994), 111. Damit wird dem Topos entsprochen, der Ruhm eines Dichters schaffe seiner Heimatstadt besondere Ehre, vgl. Sullivan (1991), 170f. Vgl. Williams (2002a), 428; schon Friedlaender (1886), I, 203 weist auf Ov. Am. 3,15 als Vorlage hin; neben Ovid dürfte auch das Ende der Horaz-Ode 1,1 das Epigramm beeinflusst haben (35f.: quodsi me lyricis vatibus inseres, / sublimi feriam sidera vertice).
jenen Autoren-Kanon an, in den sich der Elegiker am Ende der Amores selbst einschließt – Mantua Vergilio gaudet, Verona Catullo, / Paelignae dicar gloria gentis ego (3,15,7f.)65 – und erweitert ihn überdies um vorrangig zeitgenössische Literaten66. In der ersten Hälfte rahmen vier bedeutende Repräsentanten der spätrepublikanischen und augusteischen Zeit – Catull (1), Vergil (2), Livius (3)67 und Ovid (6) – Martials Freunde Stella und Flaccus (4); Apollodorus (5) ist leider nicht mehr identifizierbar, sein Name begegnet uns nur an dieser Stelle; Friedlaender spekuliert, es handle sich um einen Zeitgenossen Martials, der aus Alexandria gekommen sei, um an Domitians Agon Capitolinus von 86 n.Chr. teilzunehmen68. Sollte dies tatsächlich zutreffen, dann würde auch eine Symmetrie zwischen den beiden Gedichtabschnitten hinsichtlich der Aufzählung von bereits verstorbenen und noch lebenden Autoren vorliegen: Vier Vertreter der spätrepublikanisch-augusteischen Zeit stehen in der ersten Hälfte drei zeitgenössischen Schriftstellern gegenüber, während die zweite Hälfte von drei bedeutenden Literaten Spaniens aus der julisch-claudischen und neronischen Epoche eröffnet wird: Seneca der Ältere und Jüngere und der ebenfalls zur Familie der Annaei gehörende Lucan (7f.)69 gehen der Liste der vier flavischen Schriftsteller Canius Rufus (9), Decianus (10), Licinianus (11) und Martial (12) voraus70. Martials Endposition im Katalog spanischer Literaten ent65
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Aus dem ego bei Ovid wird me bei Martial, dicar verwandelt sich in nec…tacebit (1,61,12) und Ovids gloria findet sich bei Martial im Verb gloriabitur (11) wieder; für diesen Hinweis danke ich Regina Höschele. Neben Am. 3,15 dürfte auch 1,15 ein wichtiger Prätext für dieses Epigramm sein, vgl. Kröner (1987), 474 mit Anm. 47. Dort zählt Ovid in Auseinandersetzung mit dem livor edax (1) berühmte griechische und römische Dichter auf (9-30), denen er sich zum Schluss selbst hinzufügt (35ff.). Aus der Dichotomie griechisch-römisch im Amores-Katalog wird bei Martial die Unterteilung römisch-italisch und römischspanisch. Martials auf Ovid bezogene Wendung Nasone Paeligni sonant (1,61,6) spielt möglicherweise auf Ov. Rem. 766 an, wo sich der Elegiker in eine Reihe mit Dichtern wie Kallimachos, Philetas, Sappho, Anakreon, Tibull, Properz und Gallus stellt (759765), und zwar mit den Worten et mea nescioquid carmina tale sonant; Martials und Ovids Liste ähneln sich auch strukturell, denn Ovid lässt immer den Namen eines Dichters mit einer Antonomasie (Geburtsort bzw. Name der Geliebten im Werk) abwechseln, vgl. Henderson (1979), 132f. ad loc. Zur Anordnung und Auswahl der Autoren bei Ovid vgl. McKeown (1989), 394ff.; auch Ov. Pont. 4,16 könnte mit dem Katalog zeitgenössischer Autoren eine Anregung für Mart. 1,61 geliefert haben; vgl. Helzle (1989) ad Pont. 4,16. Die Erwähnung des Aponus hat manche Forscher zu der Annahme veranlasst, dass Livius aus Abano stammt; Martial dürfte mit der Nennung der fontes Aponi jedoch eher Patavium umschreiben, vgl. Citroni (1975), 202; Howell (1980), 251. Friedlaender (1886), I, 204. Der „einzigartige Lucan“ (unicumque Lucanum) steht auch als Einzelner den beiden Senecae (duosque Senecas) gegenüber, vgl. Citroni (1975), 203 ad loc. Eine ähnliche Konstellation findet sich bei Statius, Silv. 2,7,30ff. Auffällig ist, dass Quintilian in dieser Liste fehlt, nachdem Martial im ersten Teil des Epigramms mit Livius bereits einen Prosaiker genannt hat; Kappelmacher (1922/23),
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spricht dabei derjenigen Ovids, der den ersten Teil des Gedichts abschließt; so setzt sich der Epigrammatiker abermals indirekt mit einem Klassiker gleich71. Martial erhebt sich in 1,61 zusammen mit seinen zeitgenössischen Freunden und Gönnern in den Rang kanonischer Autoren und stilisiert sich dadurch sozusagen als Mitglied einer zur Zeit der Flavier existierenden Gemeinschaft von Literaten, die es mit berühmten Dichtern und Prosaikern früherer Epochen aufnehmen kann. Indem Martial in dieser Autorenliste seiner Heimat Spanien eine so wichtige Rolle zukommen lässt, liest sich das Gedicht wie eine Sphragis in der Buchmitte. Hatte der Epigrammatiker schon in 1,1 mit dem Verweis auf seine Popularität bereits zu Lebzeiten (4-6) auf Ovids Exilelegie Pont. 4,16,3f. angespielt72, so scheint er im Gedicht 1,61 Ovids Katalog zeitgenössischer Autoren (Pont. 4,16,5ff.) nachzuahmen. Darüber, ob sich die literarischen Produkte der von Martial gepriesenen Kollegen tatsächlich mit denjenigen der im Epigramm ebenfalls genannten Klassiker messen konnten, lässt sich heute freilich nur mehr spekulieren. Soviel dürfte jedoch am Beispiel von 1,61 deutlich geworden sein: Der hier präsentierte Autorenkatalog dient in erster Linie zur Selbstprofilierung des Epigrammatikers am Beginn seines zwölf Bücher umfassenden Gedichtkorpus; das Lob auf spanische Literaten korrespondiert überdies mit dem letzten Buch des Werks, in dem Martials Heimat abermals eine wichtige Rolle spielt (vgl. 12 praef.). Martials Kanones gehorchen primär den Gesetzen seiner Gattung und sind in die Poetik der Gedichtbücher eingebunden; dadurch unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht von literarkritischen Aussagen, die uns aus anderen Texten bekannt sind, wie im Folgenden der Blick auf die Apophoreta verdeutlichen soll.
2.2
Saturnalische Literaturkritik: Die Buch-Epigramme in den Apophoreta
Wie eng Martials Bewertung anderer Autoren mit dem Kontext des jeweiligen Epigrammbuches verbunden ist und welchen Einfluss die Konventi-
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22
216f. schließt aus Martials Bekenntnis zu einem Leben fernab der Tätigkeiten am Forum gegenüber Quintilian in 2,90, die beiden hätten ein schlechtes persönliches Verhältnis gehabt – m.E. eine allzu biographistische Auslegung. Wenngleich die Juxtaposition von 2,90 mit dem obszönen Epigramm 2,89 auf einen fellator vom frechen Umgang Martials mit dem moderator summus iuventae (2,90,1) zeugt, so dürfte der in 2,90 angesprochene Quintilian in erster Linie den Typus des pflichtbewussten vir vere Romanus verkörpern, von dem sich die epigrammatische persona distanziert; zum komischen Effekt, der durch die Abfolge 2,89-90 erzielt wird, vgl. Holzberg (2002b), 82ff. Auch die Verben sonant (6) und nec tacebit (12) entsprechen einander. S. S. 13 Anm. 27.
onen seiner Gattung ausüben, kann am besten die Betrachtung der Gedichtserie auf literarische Werke in den Apophoreta (14,183-196) verdeutlichen. Zwar werden die von Martial hier genannten Autoren später im Rahmen der Kapitel zu den verschiedenen Gattungen erneut behandelt, doch es erscheint sinnvoll, diese Gedichtsequenz zunächst in ihrer Geschlossenheit zu untersuchen und die Effekte, die durch die Juxtaposition der verschiedenen Gattungsvertreter erzielt werden, herauszuarbeiten. Martial äußert sich hier über die Werke anderer Schriftsteller, indem er bisweilen die Pose eines Philologen einnimmt und dabei vor dem Hintergrund der in der antiken Literaturkritik dominierenden Klassifizierungen erstaunliche Beurteilungskriterien anwendet. Doch bevor ich diese Autorenliste analysiere, möchte ich einen Blick auf den saturnalischen Rahmen des Buches und die Charakterisierung der darin enthaltenen, mit den Konventionen des Festes assoziierten Form von Poesie durch den epigrammatischen Sprecher werfen.
2.2.1
Die Rahmung: Anfang und Ende
Die Xenia und Apophoreta unterscheiden sich formal und inhaltlich insofern beträchtlich vom Korpus der zwölf Epigrammbücher, als sie nur ein Thema – das Saturnalienfest – variieren und fast ausschließlich aus Einzeldistichen bestehen. Die Forschung geht, wie zuvor schon angedeutet wurde, mehrheitlich davon aus, dass es sich um Frühwerke Martials handelt, wenngleich dies nicht als gesichert gelten kann73. Die Titel der Bücher 13 und 14 weisen auf die Inhalte hin: Xenia und Apophoreta bezeichnen Geschenke, welche sich die Römer während des Saturnalienfestes gegenseitig zukommen ließen; im Falle der Xenia geht es dabei um Speisen74 und im Falle der Apophoreta um verschiedene Gegenstände. In den Apophoreta wird, wie auch zu Beginn der Xenia (13,3), der Rezipient als conviva bei einem Saturnalien-Gelage imaginiert (14,1): Synthesibus dum gaudet eques dominusque senator dumque decent nostrum pillea sumpta Iovem; nec timet aedilem moto spectare fritillo, cum videat gelidos tam prope verna lacus: divitis alternas et pauperis accipe sortes: 5 praemia convivae dent sua quisque suo. 'Sunt apinae tricaeque et si quid vilius istis.'
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S. Kap. 2.1.1, S. 13 Anm. 28. Nach wie vor orientiert man sich an der Chronologie Friedlaenders (1886: I, 50-67), der die Xenia auf ca. 83/84 n.Chr. und die Apophoreta auf ca. 85 n.Chr. datiert; vgl. Leary (1996), 9-13 und (2001), 13; Lorenz (2002), 83ff.; Holzberg (2002b), 44; Grewing (2010), 131f. Das Konzept der Gastfreundschaft (ξενία) dürften bereits frühgriechische Dichter poetologisch verwendet haben, um ihr Verhältnis zum Adressaten und Rezipienten zu illustrieren, vgl. Nünlist (1998), 291ff.
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quis nescit? vel quis tam manifesta negat? sed quid agam potius madidis, Saturne, diebus, quos tibi pro caelo filius ipse dedit? vis scribam Thebas Troiamve malasve Mycenas? 'Lude,' inquis, 'nucibus'. perdere nolo nuces.
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Während an der Synthesis sich der Ritter und der Herr Senator erfreuen und während unseren Jupiter die Filzkappe schmückt, die er aufgesetzt hat, und der Sklave den Anblick des Ädilen beim Würfelspiel nicht fürchtet, obwohl er das eiskalte Wasser so nahe erblickt, nimm abwechselnd die Lose für Reich und Arm entgegen; ein jeder möge seinem Tischgenossen das zukommende Geschenk überreichen. „Das ist Unfug und Unsinn und was es noch Wertloseres gibt als das.“ Wer weiß das nicht, oder wer leugnet etwas so Offenkundiges? Doch was soll ich Besseres an den feuchtfröhlichen Tagen treiben, die dir, Saturn, dein Sohn selbst als Ersatz für den Himmel gegeben hat? Soll ich von Theben, Troja oder dem unheilvollen Mykene schreiben? „Spiel“, sagst du, „um Nüsse“. Ich will meine Nüsse nicht verlieren.
Die Gedichte selbst fingieren, Aufschriften bzw. Lose (sortes) für Geschenke zu sein, und wir erfahren, dass wertvolle und weniger kostbare Gegenstände einander abwechseln (14,1,5f.)75. Die Charakterisierung als Gebrauchsliteratur hat die Forschung lange Zeit dazu veranlasst, der Sammlung ihren literarischen Wert abzusprechen und hier eine Art Handbuch für Saturnaliengeschenke zu sehen76. Doch hinter der Selbstabwertung des Dichters versteckt sich, wie man mittlerweile erkannt hat, ein raffiniertes literarisches Spiel77. Der Beginn des Lektüreprozesses entspricht dem Eintritt in die Welt des Festes, der karnevaleske Rahmen wird signalisiert 75
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Zur Praxis des Verteilens von Geschenken unterschiedlichen Wertes an den Saturnalien vgl. Suet. Aug. 75 und Petr. 56. Der besondere Reiz dieser „dinner-parties“ scheint einerseits im Verteilen und Erhalten der verschiedenen Geschenke bestanden zu haben und andererseits in der Ungewissheit über Art und Qualität bzw. Wert der Gegenstände. Hinzu kommt noch, wie besonders die Petron-Stelle nahe legt, der Spaß am rätselhaften Charakter der Geschenk-Aufschriften; vgl. Lorenz (2002), 86f.; Johnson (2005), 141ff. zu einem Vergleich zwischen Martials Apophoreta mit der bei Sueton und Petron dargestellten „lottery of party favours“. Das Adjektiv alternus (14,1,5) dürfte zudem auf das Versmaß des hier verwendeten elegischen Distichon anspielen, vgl. OLD 108, s.v. alternus 1c; Sharrock (1990). Vgl. Birt (1882), 71; Friedlaender (1886), II, 269; Prinz (1911), 4; Ullman (1941), 346; Harrison (1980), 43; Muñoz Jiménez (1996b), 138f.; Leary (1996), 22f. und (2001), 15. Die meisten Forscher interpretieren 14,1,5 als Hinweis darauf, dass die Distichen der Apophoreta abwechselnd Geschenke für Reich und Arm präsentieren, vgl. Leary (1996), 13-21; Scherf (2001), 89-100 mit Anm. 277; dies führte nicht selten dazu, dass man bei Epigrammen, die sich nicht in dieses Schema fügen, lacunae vermutete. Zu Recht kritisiert Lorenz (2002), 98f. diese Ansätze und schlägt stattdessen vor, man solle von „mathematischer Pedanterie“ (99) absehen. So hat bereits Sullivan (1991), 12-13 beobachtet, dass der Aufbau der Xenia die Speisefolge einer römischen cena nachbildet; zum Aufbau der Xenia und Apophoreta vgl. Muñoz Jiménez (1996b), 141-146; Leary (1996), 39-40; Grewing (1999), 260; Scherf (2001), 77-105; Lorenz (2002), 89-109; Grewing (2010), 131ff.
durch die veränderten Konventionen, wie sie etwa in der Bekleidung ihren Ausdruck finden: Synthesibus dum gaudet eques dominusque senator / dumque decent nostrum pillea sumpta Iovem (14,1,1f.). In erster Linie weist der Begriff synthesis auf die zur Zeit der Saturnalien angemessene Bekleidung hin78, doch lässt sich hier auch das griechische Wort σύνθεσις in der Bedeutung „(Gedicht-) Komposition“ mitlesen79. Dieses Bild der Zusammenstellung steht in Kontrast zum Buchtitel Apophoreta, der das Wegtragen bzw. Verteilen von Geschenken bezeichnet80. Zudem suggeriert der Vergleich der Saturnalienpoesie mit Lotterie und Würfelspiel (13,1,4ff.; 14,1,3f.), bei dem der Wert des Objektes bzw. Wurfes vom Glück abhängt, dass wir es mit einer nach dem Zufallsprinzip entstandenen Gedichtsammlung zu tun haben. Neben der hier erzeugten Spannung zwischen Einzelgedicht und Buchganzem wird dadurch, dass das Saturnalienfest ins Medium Buch Eingang findet, ein ephemeres Ereignis sozusagen perpetuiert81. Im zweiten Teil von 14,1 tritt Saturn als Inspirationsgottheit auf, wobei er jedoch die einer solchen Instanz zugedachte Funktion nicht ausübt und stattdessen den literarischen Wert der Kollektion unterminiert (7: sunt apinae tricaeque et si quid vilius istis); anstatt zu widersprechen bestätigt der Dichter das Urteil des Gottes (8: quis nescit? vel quis tam manifesta negat?)82. Abschließend schlägt Saturn dem Epigrammatiker als Alternative zum Abfassen epischer oder tragischer Poesie (9) vor: lude nucibus (10). Dessen Antwort perdere nolo nuces (10) wurde bislang zumeist allein dahingehend interpretiert, dass Martial lieber die Gedichte wie jene der Apophoreta als Wetteinsatz riskieren möchte, da ihr Verlust weniger schwer wiege als der von Nüssen,83 wodurch die literarische Selbstabwertung auf die Spitze getrieben wird. Darüber hinaus dürfte jedoch eine zusätzliche Pointe im Schlussvers verborgen sein: Martials Aussage „Ich will meine Nüsse nicht 78 79
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Leary (1996), 51 ad loc. Zusammen mit dem Beginn der Xenia (13,1: Ne toga) wird in 14,1 durch das Incipit des Buches der imaginäre Rahmen der saturnalischen Autonomie evoziert, vgl. Barchiesi (2005), 327; LSJ, 1716 s.v. σύνθεσις. Vgl. Roman (2001), 135f.; Höschele (2010), 62. Der Leser kann das Fest sozusagen durch die Lektüre aktivieren, vgl. Grewing (1999), 280f.; Stroup (2006), 300. Auch der verbannte Ovid unterminiert in einem inszenierten Dialog mit seinem lector die Qualität seiner literarischen Produktion in Trist. 5,1,69f.: ‘At mala sunt.’ Fateor. Quis te mala sumere cogit? / Aut quis deceptum ponere sumpta vetat? („‘Doch sie [sc. die Gedichte] sind schlecht.‘ Ich gebe es zu. Wer zwingt dich, schlechte in die Hand zu nehmen? Oder wer verbietet, dass du, da du dich getäuscht hast, sie wieder weglegst, nachdem du sie in die Hand genommen hast?“). Zur scherzhaften Selbstabwertung der eigenen Dichtung bei Martial vgl. Banta (1998), 87-102; Roman (2001), 113; Lorenz (2002), 88f.; Höschele (2010), 38-46. Nüsse dienten normalerweise Kindern und Sklaven als Einsatz bei verschiedenen Glücksspielen, vgl. Mart. 5,84,1; Kißel (1990), 125 ad Pers. 1,10; Leary (1996) ad loc; Roman (2006), 381.
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verlieren“ könnte als Anspielung auf Saturns bzw. Kronos‘ Rolle in der Mythologie zu verstehen sein: Gegenüber einer Gottheit, die ihren eigenen Vater entmannt hat84, muss ein Dichter mit Nüssen, bei denen man vermutlich an die männlichen testiculi denken soll, vorsichtig sein85. In weiterer Folge gibt Martial dem Rezipienten Anweisungen zum richtigen Gebrauch des libellus (14,2): Quo vis cumque loco potes hunc finire libellum: versibus explicitumst omne duobus opus. lemmata si quaeris cur sint adscripta, docebo: ut, si malueris, lemmata sola legas. An welcher Stelle du auch immer willst, kannst du dieses Büchlein beenden. Jedes Werk ist in zwei Versen abgewickelt. Falls du dich fragst, warum Überschriften hinzugefügt worden sind, will ich es erklären: Damit du, falls du lieber möchtest, nur die Überschriften liest.
Die Kürze der einzelnen Gedichte ermöglicht es dem Leser, so erfahren wir hier, den Lektüreprozess an beliebiger Stelle zu beenden bzw. den Text nur selektiv zu rezipieren86. Diese Belehrung des Lesers gewinnt noch zusätzlichen Witz durch Martials Erklärung der Funktion, die den Lemmata zugedacht ist: Wem ein aus Einzeldistichen bestehendes opus zu umfangreich ist, der möge nur die tituli lesen87. Ähnliches hatte der Dichter seinem Rezipienten schon am Beginn der Xenia geraten: Addita per titulos sua nomina rebus habebis: / praetereas, si quid non facit ad stomachum (13,3,7f.)88. Auch dort versteckt sich hinter der Charakterisierung des vorliegenden Buches als Gebrauchsliteratur ein Scherz, denn offenbar soll man sich hier ein Inhaltsverzeichnis zu einem Riesenwerk vorstellen, wie es etwa Plinius der Ältere in seiner Naturalis historia dem Kronprinzen Titus empfiehlt89. Der Hinweis auf den formalen Charakter der Epigramme in 14,2,2 beinhaltet überdies noch eine besondere Pointe: Wie schon von Paukstadt beobachtet wurde90, spielt Martial hier verbal auf Catulls Würdigung der umfangreichen Ge84 85
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Vgl. Hes. Th. 178ff.; Roscher (1890-94), II.1, 1455 und 1542ff. Zumindest im Griechischen ist eine derartige Bedeutung belegt: Bei Aristophanes dienen κάρυα in Lys. 1059 und 1181 sowie Pl. 1056 als Umschreibung für ὄρχεις, vgl. Henderson (1975), 126; Adams (1982), 26ff. listet zwar mehrere „botanical metaphors“ für die Umschreibung der männlichen Geschlechtsteile auf, für nuces liefert er allerdings keinen Beleg; vgl. Kißel (1990), 125. Damit ist das Gedicht stark an Ovids Epigramm zu Beginn der Amores angelehnt, vgl. Roman (2006), 384f. Vgl. Lausberg (1982), 53; Höschele (2010), 63. „Hinzugefügt durch Aufschriften wirst du die Namen der Objekte vorfinden; du magst übergehen, was dir keinen Appetit macht.“ Plin. Nat. praef. 33; Vgl. Fearnley (1998), 25 Anm. 47; Schröder (1999), 177; Lorenz (2002), 90; Plinius erlaubt sich seinerseits in Nat. praef. 1 einen literarischen Scherz, indem er sich mit dem Kleindichter Catull und den Prinzeps mit Cornelius Nepos vergleicht. Paukstadt (1876), 11.
schichtschronik des Cornelius Nepos in c. 1 an: iam tum cum ausus es unus Italorum / omne aevum tribus explicare chartis91. Aus den drei die gesamte Geschichte umfassenden Büchern des Nepos wird bei Martial das aus Zweizeilern zusammengesetzte Saturnalienbuch. Dieser implizite Vergleich zwischen Martials libellus, von dessen nugae Saturn zuvor anders als Nepos bei Catull nicht besonders viel gehalten hatte 92, mit einem hinsichtlich seines Stoffes monumentalen Werk trägt unweigerlich zu einer gewissen Komik bei. Martial evoziert in den beiden Eröffnungsepigrammen weitere Buchanfänge und passt deren Aussagen seinem literarischen Programm an. Auch die folgenden Gedichte verdienen im Hinblick auf ihre Stellung innerhalb der Apophoreta eine nähere Betrachtung. Wie Martial im Korpus der 12 Epigrammbücher die einzelnen libri häufig mit Gedichten beginnen lässt, in denen das Medium Buch bzw. die Papyrusrolle im Zentrum steht 93, so trifft dies en miniature auch auf Buch 14 zu: Die „eigentlichen“ Epigramme der Sammlung werden von einer Distichen-Reihe eingeleitet, die einzelnen Schreib- und Spielutensilien gewidmet ist (14,3-21)94. Mit dieser Gedichtsequenz korrespondiert offenbar das in 14,1 formulierte Programm des poetischen lusus: Die Epigramme 3-11 behandeln Schreibmaterialien, 12-13 Geldschatullen, 14-19 Zubehör für das Würfelspiel und 20-21 abermals Schreibutensilien. Treffend bezeichnet Luke Roman die Funktion dieser Reihe: „…the sequence 3-21 constitutes a cohesive structural unit – a “parade” sequence of metapoetic objects”95. Das erste Distichon innerhalb dieser Gedichtreihe scheint dabei Motive aus 14,1-2 aufzugreifen und die formale Beschaffenheit der Sammlung zu thematisieren (14,3): Pugillares citrei Secta nisi in tenues essemus ligna tabellas, essemus Lybici nobile dentis onus. Schreibtäfelchen aus Citrusholz Wenn man unser Holz nicht in dünne Tafeln zerschnitten hätte, dann wären wir das wertvolle Gewicht eines libyschen Stoßzahns.
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„Schon damals, als du es als Einziger der Italer gewagt hast, das gesamte Zeitalter in drei Büchern abzuwickeln.“ Vgl. Catul. c. 1,3f. namque tu solebas / meas esse aliquid putare nugas, worauf bei Martial möglicherweise quid vilius (14,1,7) anspielen soll. 1,2-3; 2,1; 3,1-2; 4-5; 5,1-2; 6,1; 7,3; 8,1; 3; 10,1-2; 11,1-3; 12,2(3). Auch in der Anthologia Graeca finden sich mehrere Gedichte auf Schreibutensilien; es handelt sich dabei zumeist um Weihepigramme, in denen Schreiber, die ihren Beruf aufgegeben haben, ihre Geräte einer Gottheit weihen: vgl. AP 6,62-68; 294-295; da die Distichen in Martials Apophoreta vorgeben, Geschenke bzw. Geschenkaufschriften zu sein, lassen sie sich u.a. als Abwandlung des Typus Weihepigramm charakterisieren, vgl. Leary (1998), 42. Roman (2006), 381.
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Die hier als Sprecher auftretenden pugillares beschreiben sich als dünn und fein (tenues) bzw. zerschnitten (secta), was nicht zuletzt auf den Charakter der in den Apophoreta enthaltenen kurzen Epigramme zutrifft 96. Die Gegenüberstellung der zarten Holztäfelchen mit der schweren Last, die ein „libyscher Zahn“ zu tragen hätte (2: Libyci nobile dentis onus), hebt einerseits den Kontrast zwischen den Schreibtäfelchen und der alternativen Verwendung des unzerschnittenen Holzes als teure Tischplatte auf einem Elfenbeinfuß (ein solcher dürfte mit Libycus dens gemeint sein) hervor97, lässt andererseits aber auch an den Gegensatz von Epigrammatik und umfangreicheren Gattungen denken und führt dadurch das recusatio-Motiv von 14,1 weiter98. Besonders auffällig ist in Vers 2 der intertextuelle Bezug auf Prop. 2,31,12, Libyci nobile dentis opus99, und es stellt sich die Frage, ob hier nur ein komisches Wortspiel – opus wird bei Martial durch onus ersetzt – vorliegt, oder ob dieses Zitat beim Leser weitere Assoziationen wecken soll. Letzteres ist m.E. der Fall, denn in der betreffenden Elegie schildert Properz die neueröffnete Säulenhalle sowie die Fassade des ApollonTempels auf dem Palatin100, und der von Martial anzitierte Vers gehört zu einer Ekphrasis der prächtigen Türflügel, deren Darstellungen der Elegiker staunend bewundert. Es dürfte kein Zufall sein, dass Martial zu Beginn eines Gedichtbuches intertextuell den Eingang zum Tempel einer Dichtergottheit evoziert, die am Schluss der Properz-Elegie101 zudem selbst Gedichte rezitierend auftritt (2,31,16: Pythius in longa carmina veste sonat). Martials Anspielung auf eine poetologisch konnotierte Ekphrasis102 der augusteischen Literatur passt gut an den Anfang eines Epigrammbuches, in dem der Leser durchgehend die Rolle des Betrachters verschiedener Objekte einnimmt, die darüber hinaus eine doppelte Exegese erfahren: Während die Lemmata den Inhalt der Epigramme erläutern, sind diese wiederum als Kommentare bzw. Erklärungen der zu imaginierenden Gegenstände gedacht. Lesen und Betrachten sind in den Apophoreta parallel laufende Prozesse103.
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An mehreren Stellen vergleicht Martial seine literarische Produktion mit kleinen tabellae, so etwa auch in 1,2,3; 7,19,6; vgl. Zissos (2004), 417f. Vgl. 2,43,9; Leary (1996), 59. Vgl. 14,1,11f.: vis scribam Thebas Troiamve malasve Mycenas? / ‘Lude,’ inquis, ‘nucibus’: perdere nolo nuces. Fedeli (2005), 881 ad. Prop. 2,31,12. Zur Eröffnung des Apollon-Tempels am 9. Oktober 28 v.Chr. vgl. Fedeli (2005), 870f. Hubbard (1984) geht allerdings davon aus, dass Prop. 2,31 und 32 zusammen eine Elegie bilden; so auch Holzberg (2009b), 57. Vgl. dazu Welch (2005), 89ff. und 94: „Propertius’ temple is a victory monument for poetry, and the poem’s climax is a triumph of song.” Ekphrastische Epigramme zielen in der Regel nicht auf eine detaillierte und vollständige Beschreibung eines Kunstwerkes ab, wie es etwa die rhetorische Theorie der Kaiserzeit und Spätantike fordert: vgl. Ael. Theon. Progymn. 118,7-120,11 (Spengel II);
Als virtueller Teilnehmer an einem saturnalischen convivium wird der Rezipient auch in den beiden Schlussdistichen des Buches angesprochen. In 14,222 ist er Konsument der süßen Bäckereien eines pistor dulciarius: Mille tibi dulces operum manus ista figuras / extruet: huic uni parca laborat apis104. Die Kunstfertigkeit des Bäckers, der im Gegensatz zu Vertretern anderer Berufsgruppen während der Saturnalien arbeiten durfte 105, ist vermutlich mit jener des Dichters gleichzusetzen, denn operum (1) greift verbal opus aus 14,2,2 auf, und die tausend Figuren sowie die sparsame Biene106 lassen sich wohl als Chiffre für jene Form der Kleinpoesie lesen, wie sie die Apophoreta bilden. In 14,223 schließlich wird der lector-conviva gebeten, sich angesichts des Tagesanbruchs vom (fiktiven) Gastmahl zu erheben107: Adipata Surgite: iam vendit pueris ientacula pistor cristataeque sonant undique lucis aves. Fettgebäck Steht auf: Schon verkauft der Bäcker den Knaben das Frühstück, und überall krähen die kammtragenden Vögel des Tages.
Die Knaben, denen der Bäcker frühmorgens adipata verkauft108, kehren nach den Festtagen, während derer die Schulen geschlossen waren 109, wieder in ihr Alltagsleben zurück110. Das Gedicht fungiert somit in mehrfacher Hinsicht als closure111: Martial markiert nicht nur inhaltlich den Übergang von der karnevalesken Atmosphäre der Apophoreta in den Alltag, sondern ruft mit dem Imperativ surgite gleichzeitig mehrere Schlüsse literarischer Werke ab, darunter insbesondere Vergils zehnte Ekloge112: surgamus: solet
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Aphthonios Progymn. 46,15-49,2 (Spengel II); Hermog. Progymn. 16,11-17,8 (Spengel II); Libanios Progymn. 853-4 (Reiske IV); vgl. Männlein-Robert (2007b), 4f. „(Ein Zuckerbäcker:) Tausend süße Figuren und Werke wird diese Hand für dich schaffen; dafür allein müht sich die sparsame Biene ab.“ Vgl. Lucianus Sat. 13; Leary (1996), 291. Vgl. Hor. Carm. 4,2,27-32; Grewing (2010), 144ff. weist intertextuelle Bezüge zwischen der Horazode und Martials Epigramm nach; zum Bienen-Topos vgl. Callim. Ap. 110112; Simonides Frg. 88 = PMG 593; Waszink (1974); Asper (1997), 114f. mit Anm. 21; Nünlist (1998), 60-63.300-307. Zur bewussten Juxtaposition von 14,222 u. 223 vgl. Johnson (2005), 148f.; Grewing (2010), 134ff. Es handelt sich dabei wohl um eine Art fetten Kuchen; vgl. Cic. Orat. 25; Juv. 6,631; AL 190,48; Charisius GLK I,94,16ff.; Leary (1996), 292. Döpp (1993b), 147. Citroni (1989), 210f. Zur closure vgl. Roberts/Dunn/Fowler (1997); Fowler (1989) und (2000), 239-307; Acosta-Hughes/Grewing (im Druck). So endet etwa Plautus’ Komödie Epidicus mit dem Appell an die Zuschauer plaudite et valete. lumbos porgite et exsurgite (733), und Cicero lässt in De oratore alle drei Bücher damit enden, dass sich die Gesprächsteilnehmer erheben (1,265,7; 2,367,11; 3,230,7);
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esse gravis cantantibus umbra, / iuniperi gravis umbra; nocent et frugibus umbrae. / ite domum saturae, venit Hesperus, ite capellae (75-77)113. Während bei Vergil das Ende des Tages mit dem Ende des Singens (= Dichtens, cantare) und somit auch dem Ende des Buches assoziiert wird114, endet bei Martial im Kontrast zur bukolischen Szenerie das Gedichtbuch mit dem Tagesanbruch115 und erinnert damit an das Ende der ersten Horaz-Satire (1,1,119f.): qui…cedat uti conviva satur…iam satis est116 oder auch von Platons Symposion117, so dass neben der bukolischen insbesondere die Tradition der Symposialliteratur evoziert wird, in die Martial seine Apophoreta einschreibt.
2.2.2
Martials saturnalische Bibliothek
Innerhalb seines saturnalischen „Geschenkkatalogs“ fasst Martial mehrere verwandte Objekte zu Gedichtsequenzen zusammen118; die etwa gleich langen Epigrammserien auf Kunstgegenstände (14,170-182) und literarische Werke (14,183-196) scheinen dabei bewusst nebeneinander gestellt zu sein119. Die Reihe der Kunstobjekte beginnt mit einem Distichon auf ein goldenes Bildnis der Victoria, in dem Domitians Sieg über die Germanen
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vgl. Citroni (1989), 210-11; Fowler (1995), 55f.; Leary (1996) ad loc.; Roman (2001), 132f.; Barchiesi (2005), 328f.; Grewing (2010), 135; möglicherweise hat auch Ovids Tagelied Am. 1,13 (vgl. 13: te surgit quamvis lassus veniente viator; 17: tu pueros somno fraudas tradisque magistris; 25: surgere mane puellas) Martials Epigramm beeinflusst. „Wir wollen aufstehen; gewöhnlich ist für Sänger der Schatten gefährlich, gefährlich ist der Schatten des Wacholderstrauches; auch den Früchten schaden die Schatten. Geht satt nach Hause, der Abendstern zieht auf, geht, ihr Ziegen.“ Vgl. Kennedy (1983); Holzberg (2006d), 68. Den seltenen Begriff adipata verwendet Cicero in Or. 25 als Metapher für den schweren und überladenen Asianismus (opimum quoddam et tamquam adipatae dictionis genus); sollten die Apophoreta tatsächlich früher entstanden sein als das Korpus der 12 Epigrammbücher, dann könnte Martial, ähnlich wie Vergil am Ende der 10. Ekloge (vgl. Kennedy 1983), zugleich den Übergang zu einem größeren Werk wie den XII Epigrammaton libri ankündigen, was sich auch in der Aufforderung surgite mitlesen ließe; vgl. Barchiesi (2005), 328f. Grewing (2010), 145 sieht dagegen in dem Lemma adipata eine Metapher für literarische „schwere Kost“ wie Epos und Tragödie, der sich der Leser am Ende der Saturnalien wieder unterziehen muss. „Einer…der weggeht, wie ein gesättigter Gast…Jetzt ist es genug.“ Plat. Smp. 223 c: ...ἐξεγρέσθαι δὲ πρὸς ἡμέραν ἤδη ἀλεκτρυόνων ᾀδόντων... Vgl. Leary (1996), 13 und (1998), 39ff. Von einigen Forschern wurde die These aufgestellt, dass Martial durch die Juxtaposition dieser beiden Sequenzen auf die Nachbarschaft von Museen und Bibliotheken bei antiken Heiligtümern wie etwa im Templum Divi Augusti anspielt und der Rezipient hier die Rolle des Besuchers einer solchen (fiktiven) Sammlung übernimmt; Lehmann (1945) geht von einem Bezug auf ein real existierendes Museum aus, während Lorenz (2002), 108f. und Prioux (2008), 263ff. plausibler eine an die Lebenswelt angelehnte Fiktion vermuten.
verherrlicht wird (14,170), und endet mit der Erklärung der Statuette eines Buckligen (14,182): Sigillum gibberi fictile Ebrius haec fecit terris, puto, monstra Prometheus: Saturnalicio lusit et ipse luto. Tonstatuette eines Buckligen Betrunken, glaube ich, schuf für die Erde diese Monstren Prometheus; auch er spielte mit saturnalischem Lehm.
Anfang und Ende der Epigrammserie auf Kunstwerke sind durch das Motiv des Trinkens aufeinander bezogen; in 14,170 fordert der Dichter einen Sklaven auf, der Anzahl der Buchstaben in Domitians Siegernamen Germanicus entsprechend zehnmal Falernerwein einzuschenken (14,170,2: deciens adde falerna, puer)120, während in 14,182 Prometheus als betrunken (ebrius) charakterisiert ist121. Auch dürfte zwischen den Epigrammen auf Kunstgegenstände und literarische Produkte eine Verbindung bestehen, wenn es tatsächlich zutrifft, dass sich hinter der Statuette des Buckligen in 14,182 der Fabeldichter Aesop verbirgt; diese Annahme lässt sich durch die Anklänge an die Phaedrus-Fabel 4,16 untermauern, in der Aesop auf die Frage nach der Ursache der gleichgeschlechtlichen Sexualität die Geschichte von Prometheus erzählt, der aufgrund seiner Trunkenheit nach einer cena bei Bacchus (errore ebrio, 4,16,11) die Geschlechtsorgane der von ihm geformten Männer und Frauen vertauscht habe. Das die Reihe der Buchepigramme122 eröffnende Gedicht auf die Batrachomyomachie Homers (14,183) thematisiert wiederum ein Œuvre, dessen Inhalt ebenfalls auf einer Fabel Aesops zu basieren scheint123. Hier zunächst der vollständige Text der Epigrammsequenz: 183 Homeri Batrachomachia. Perlege Maeonio cantatas carmine ranas et frontem nugis solvere disce meis. Homers Fröschekrieg Lies genau von den im mäonischen Gedicht besungenen Fröschen und lerne, die Stirn zu glätten bei meinen Spielereien. 184 Homerus in pugillaribus membranis. Ilias et Priami regnis inimicus Ulixes multiplici pariter condita pelle latent.
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Lorenz (2002), 106f. Weitere Bezüge und Anordnungsprinzipien in der Epigrammserie 14,170-182 hat Prioux (2008), 263ff. herausgearbeitet. Zu dieser Gedichtgruppe vgl. auch Mindt (im Druck). Vgl. Lorenz (2002), 108f. Die Deutung des Buckligen als Aesop schlug erstmals Lehmann (1945), 265 vor; zu den Anklängen an die Phaedrus-Fabel vgl. Hallett (1989), 209f. Zur Batrachomachia und zu Aesop vgl. Merkle (1992), 120-122.
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Homer auf Pergamentblättern Die Ilias und der dem Königreich des Priamos feindlich gesinnte Odysseus liegen beide in vielfach geschichteter Haut verborgen. 185 Vergili Culix Accipe facundi Culicem, studiose, Maronis, ne nucibus positis ARMA VIRUMQUE legas. Vergils Mücke Nimm die Mücke des redegewandten Maro, Wissbegieriger, damit du nicht, wenn du die Nüsse beiseite gelegt hast, Waffen und Mann liest. 186 Vergilius in membranis Quam brevis inmensum cepit membrana Maronem! ipsius vultus prima tabella gerit. Vergil auf Pergament Welch kleines Pergament umfasst den unermesslichen Maro! Das Antlitz des Meisters trägt das erste Blatt. 187 Μενάνδρου Θαΐς Hac primum iuvenum lascivos lusit amores nec Glycera; pueri Thais amica fuit.124 Menanders Thaïs Mit dieser hier spielte er zuerst die lockeren Liebesspiele junger Männer, nicht mit Glykera; Thaïs war die Freundin des Knaben. 188 Cicero in membranis Si comes ista tibi fuerit membrana, putato carpere te longas cum Cicerone vias. Cicero auf Pergament Wenn dieses Pergament dein Begleiter ist, stell dir vor, du legst mit Cicero lange Wegstrecken zurück. 189 Monobyblos Properti Cynthia – facundi carmen iuvenale Properti – accepit famam, non minus ipsa dedit. Properzens Monobyblos Cynthia – das Jugendgedicht des redegewandten Properz – gewann Ruhm und gab ihn nicht weniger selbst. 190 Titus Livius in membranis Pellibus exiguis artatur Livius ingens, quem mea non totum bibliotheca capit. Titus Livius auf Pergament Auf winzige Häute eingeengt ist der riesige Livius,
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Ich folge hier der von Fernandez Valverde (2000) vorgeschlagenen Änderung der Interpunktion; er fasst Glycera (2) als mit hac korrespondierenden Ablativ auf und interpungiert erst nach Glycera: „With her – and not with Glycera – he first played with young men’s wanton love; the boy’s mistress was Thais.“
den meine Bibliothek nicht als Ganzen umfasst. 191 Sallustius Hic erit, ut perhibent doctorum corda virorum, primus Romana Crispus in historia. Sallust Dieser Crispus wird, wie die Herzen gelehrter Männer sagen, der Erste in der römischen Geschichtsschreibung sein. 192 Ovidi Metamorphosis in membranis Haec tibi multiplici quae structa est massa tabella, carmina Nasonis quinque decemque gerit. Ovids Metamorphosen auf Pergament Diese Masse, die für dich in vielfältig geschichteten Blättern geformt ist, trägt die fünfzehn Gesänge des Naso. 193 Tibullus Ussit amatorem Nemesis lasciva Tibullum in tota iuvit quem nihil esse domo. Tibull Es verbrannte die lockere Nemesis ihren Liebhaber Tibull, dem es gefiel “im ganzen Haus nichts zu bedeuten”. 194 Lucanus Sunt quidam qui me dicant non esse poetam: sed qui me vendit bybliopola putat. Lucan Es gibt Leute, die behaupten, ich sei kein Dichter; doch der Buchhändler, der mich verkauft, glaubt es. 195 Catullus. Tantum magna suo debet Verona Catullo, quantum parva suo Mantua Vergilio. Catull So viel hat das große Verona seinem Catull zu verdanken, wie das kleine Mantua seinem Vergil. 196 Calvi de aquae frigidae usu. Haec tibi quae fontes et aquarum nomina dicit, ipsa suas melius charta natabat aquas. Calvus über den Gebrauch kalten Wassers Dieses Papier, das dir von Quellen und Gewässernamen berichtet, würde besser in seinen eigenen Gewässern schwimmen.
Alle Autoren, die Martial in dieser Gedichtreihe anführt sind ebenfalls in der weitaus umfangreicheren Liste, die Quintilian im zehnten Buch der
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Institutio oratoria zur Lektüre empfiehlt, zu finden125. Martials saturnalischer Kanon herausragender römischer und griechischer Literaten weist jedoch, dem Kontext des vorliegenden libellus entsprechend, besondere Eigenschaften auf: Die einzelnen Autoren werden als Papyrusrollen bzw. Pergament-Ausgaben von unterschiedlichem Wert imaginiert, wobei die Anordnung der Distichen nach mehreren Kriterien zu erfolgen scheint: Ausschlaggebend dürfte zunächst die Aussage im Einleitungsepigramm des Buches sein, der zufolge sich Geschenke für Arm und Reich innerhalb des Buches abwechseln (14,1,5f.). Vor dem Hintergrund der saturnalischen „Weltordnung“ in den Apophoreta erfahren die literarischen Produkte eine Umwertung: Weniger umfangreiche bzw. spielerische Werke in Buchrollen-Format wie Homers Batrachomachia (183), Vergils Culex (185), Menanders Thaïs (187), Properzens Monobyblos (189), Sallusts Historiographie (191), Tibulls Elegien (193) und Catulls Poesie (195) sind den jeweils folgenden, umfangreicheren Beispielen in Kodex-Form – Homers Ilias und Odyssee (184), Vergils Aeneis (186), Cicero (188), Livius (190), Ovids Metamorphosen (192), Lucan (195) und Calvus (196) – als überlegen anzusehen126. Die Werke der großen Gattungen werden hier von Martial auf das kompakte epigrammatische Format des Einzeldistichons reduziert127. Daneben folgt das Arrangement aber offenbar auch Prinzipien, die in der antiken Literaturkritik beheimatet sind128. Zunächst fällt auf, dass Martial im Unterschied zu den Autoren früherer und zeitgleicher Kataloge von den griechischen Dichtern nur Homer und Menander erwähnt129. Beide sind im ersten Jahrhundert n.Chr. Schulautoren130, wurden schon von den hellenistischen Philologen wegen der Lebensnähe ihrer Poesie gepriesen 131 und erscheinen entsprechend häufig als Paar in literarischen und nichtlite-
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Vgl. Quint. Inst. 10,1,46-51 (Homer); 69-72 (Menander); 85-86 (Vergil); 88 (Ovid); 90 (Lucan); 93 (Tibull, Properz); 96 (Catull); 101 (Sallust, Livius); 105-112 u. 123 (Cicero); 115 (Calvus); vgl. Pini (2006), 457. Während man die Publikation der Apophoreta auf 83/84 n.Chr. datiert, geht man bei der Institutio oratoria von einer Publikation in den 90er-Jahren aus, vgl. Peterson (1967), xiii. Vgl. Lorenz (2002), 100-103; außerdem Reggiani (1976), 133; Lausberg (1982), 246; Sullivan (1991), 14. So Roman (2001), 134f. Vgl. hierzu besonders Pini (2006). Vgl. Quintilians umfangreiche Liste griechischer Autoren in Inst. 10,1,46-84. Ovid führt in seinem Autorenkatalog in Trist. 2 neben Homer und Menander auch Anakreon (363f.), Sappho (365f.), Kallimachos (367f.), die griechische Tragödie (381412), Aristides (413f.), Eubios (415f.) und Hemitheon (417f.) an. Vgl. Stat. Silv. 2,1,113ff.; Ov. Trist. 2,370. Vgl. Aristophanes von Byzanz ap. Syrian. in Hermog. comm., II 23, 10f. Rabe = Körte/Thierfelder (1959), 7 test. 32 = PCG VI 2, test. 83: ὦ Μένανδρε καὶ βίε, πότερος ἄρ‘ ὑμῶν πότερον ἀπεμιμήσατο;
rarischen Zeugnissen132. Die Liste der römischen Autoren wird wie bei Quintilian von Vergil eröffnet133 und umfasst mit Ausnahme Lucans nur Vertreter der spätrepublikanisch-augusteischen Epoche134. Schriftsteller aus der Zeit zwischen Ovid und Lucan fehlen, ein Phänomen, das sich auch bei Quintilian beobachten lässt135. Die von Martial in seine virtuelle Bibliothek integrierten römischen Gattungen weisen eine bemerkenswerte Symmetrie auf: Drei Epiker bzw. Verfasser eines Hexameter-Opus (Vergil, Ovid, Lucan) stehen drei Prosaikern (Cicero, Livius, Sallust) und drei Dichtern erotischer Poesie (Properz, Tibull, Catull) gegenüber136; das Distichon auf Calvus nimmt als Mini-Epilog der Buch-Sequenz eine Sonderstellung ein. Martials Bibliothek erfüllt offenbar eine ähnliche Funktion wie ein Literatur-Kanon, wobei die an dives-Position stehenden Werke eine Art „Kanon im Kanon“ darstellen137. Betrachten wir nun diese Serie, in der Martial die zu seiner Zeit als kanonisch geltenden Werke aus epigrammatischer Perspektive beurteilt, etwas genauer in linearer Abfolge. Das Gedichtpaar 14,183-184 kontrastiert die Batrachomachia mit den großen Epen Ilias und Odyssee, wobei der „Frosch-Mäuse-Krieg“138 als Papyrusrolle an dives-, Ilias und Odyssee dagegen als Pergament-Ausgabe an pauper-Stelle stehen139. Die bei der Präsentation der Batrachomachia verwendeten Begriffe erinnern an Martials Charakterisierung seiner eigenen Poesie: nugae, frontem solvere und perlegere140. Aus dem Distichon geht nicht eindeutig hervor, wer als Sprecher anzusehen ist 132
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So eröffnet Homer die Reihe griechischer Dichter bei Quintilian, während Menander sie abschließt: Inst. 10,1,46-50 und 69-72; der vergleichsweise große Raum, den beide Autoren in der Liste Quintilians einnehmen, dürfte als Beleg für ihre Popularität bei den zeitgenössischen Römern zu werten sein, vgl. Citroni (2006), 10; vgl. die Liste griechischer Dichter bei Ov. Am. 1,15,9-18; eine Zusammenstellung literarischer und archäologischer Zeugnisse liefert Pini (2006), 447-456; zu den Hermen Homers und Menanders aus der Villa Aelians vgl. Prioux (2008), 123-140. Vgl. Inst. 10,1,85-86. Auffällig ist hierbei, dass Horaz in dieser Epigrammsequenz (wie auch in Ovids Katalog der römischen Dichter in Am. 3,15) nicht erscheint; vgl. Pini (2006), 460f. Vgl. Mayer (1982), 308f.; Pini (2006), 458f.; nur der Tragödiendichter Pomponius Secundus stellt eine Ausnahme dar (Inst. 10,1,98). Vgl. Pini (2006), 462f. Vgl. Prioux (2008), 322. Hier handelt es sich um die erste Stelle innerhalb der lateinischen Literatur, die den Titel Batrachomachia überliefert; er findet sich so ansonsten nur bei Stat. Silv. 1 praef. 7. Beide Dichter scheinen das heutzutage als pseudohomerisch geltende Mini-Epos für echt zu halten, vgl. Leary (1996), 247f. ad loc. Vgl. Leary (1996), 19; zur Anordnung der Buchepigramme außerdem Pini (2006). Zu nugae vgl. 1,113,6; 2,1,6; 2,86,6; 4,10,4; 4,72,3; 4,82,4; 5,80,3; 6,64,7.8; 7,11,4; 7,14,7; 7,26,7; 7,51,1; 8,3,11; 9 praef. 11; 10,18,4; 12 praef. 26; 13,2,4; zu frontem solvere vgl. 1,4,6; 4,14,11; 7,12,1; 10,64,2; 11,2,2; 13,2,10; ähnlich supercilium in 1,4,2; 11,2,1; zu perlegere vgl. 1 praef. 12; 1,117,12; 2,1,2; 12,2,16; vgl. Muños Jiménez (1996a), 396; Lorenz (2002), 101.
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– die Buchrolle oder Martial141. Mit guten Argumenten ist Licia Pini dafür eingetreten, dass hier Martial selbst zum Leser spreche, wobei sie auf die Ähnlichkeit zwischen dem Distichon auf die Batrachomachia und der Auseinandersetzung des Epigrammatikers mit prüden Lesern zu Beginn der Xenia und Apophoreta (13,2 und 14,1) aufmerksam machte142. Möglicherweise ist die Ambivalenz vom Dichter auch intendiert, und der Leser soll selbst entscheiden, wen er als Sprecher ansieht143: Demzufolge könnten sich die nugae entweder auf den Inhalt der hier vorgestellten Ausgabe der Batrachomachie beziehen oder auf Martials Apophoreta. Das Gedicht greift offenbar die proömialen Motive der Bücher 13 und 14 auf144 und passt somit gut an die Spitze der Epigrammserie auf literarische Werke. Mit der Anfangsstellung des Distichons innerhalb der Sequenz mag auch der Beginn des Froschmäusekrieges selbst evoziert sein, dessen Verfasser autoreferenziell auf den Anfang seines Werkes und das Material, auf dem dieses geschrieben steht, verweist (Batr. 1-3; 8): Ἀρχόμενος πρώτης σελίδος χορὸν ἐξ Ἑλικῶνος ἐλθεῖν εἰς ἐμὸν ἦτορ ἐπεύχομαι εἵνεκ’ ἀοιδῆς, ἥν νέον ἐν δέλτοισιν ἐμοῖς ἐπὶ γούνασι θῆκα ...τοίην δ’ ἔχεν ἀρχήν. „Beginnend mit der ersten Seite bete ich, der Chor vom Helikon möge in mein Herz kommen um des Gesanges willen, den ich eben auf den Schreibtafeln auf meinen Knien niedergelegt habe … und so lautet der Anfang“145.
Im ersten Epigramm seines Autorenkataloges macht Martial somit ähnlich wie zu Beginn der Apophoreta deutlich, dass er – trotz vordergründiger Abwertung des literarischen Anspruchs – seiner Saturnaliendichtung einen höheren Stellenwert einräumt als dem mythologischen Epos 146, und Letzte141
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Für Martial als Sprecher vgl. Citroni (1968), 273; Lausberg (1982), 246; Sullivan (1991), 14; für die Batrachomachia als Sprecherin vgl. Leary (1996), 248. Pini (2006), 476ff. Zu Epigrammen in den Xenia und Apophoreta, in denen offen bleibt, wer als Sprecher anzusehen ist, vgl. Prinz (1911), 6. Vgl. 13,2,9f. non tamen hoc nimium nihil est si candidus aure / nec matutina si mihi fronte venis („Dennoch ist dies hier nicht allzu sehr nichts, wenn du mit aufrichtigem Gehör und wenn du mir nicht mit morgendlicher Miene kommst“). Auch in 13,3, 14,1 und 14,2 setzt sich Martial mit potentiellen Lesern auseinander. Auch das Partizip cantatas (1) dürfte als ein Eröffnungssignal zu deuten sein, da es die Aufforderung ἄειδε an die Muse zu Beginn der Ilias (1,1) aufzugreifen scheint, vgl. Leary (1996), ad loc. Anders als dort ist bei Martial Homer selbst der Sänger. Die Lesart πρώτης σελίδος in Batr. 1 wird allerdings nur von der Handschrift Z (O2) gestützt und von Ludwich (1896) und Allen (1912) übernommen; Glei (1984), 112 zieht dagegen πρῶτον Μουσῶν vor. Zur Anspielung des Proöms der Batrachomyomachie auf Call. Aet. 1 Frg. 1,21f. vgl. ders. 113. 14,1; vgl. Lorenz (2002), 101. Eine ähnliche Kontrastierung von Spielereien wie der Batrachomachia und „ernster“ Epenpoesie findet sich auch am Anfang von Statius‘ Silvae, wo sich der Dichter innerhalb seiner an L. Arruntius Stella gerichteten Prosa-
res wird, ins Format einer Pergament-Ausgabe gezwängt, den Erfordernissen der Kleinpoesie angepasst. Die Werktitel Ilias und Odyssee umrahmen den ersten Vers (14,184,1: Ilias et…Ulixes), und beide Schriften sind in den Pergamentblättern verborgen (2: multiplici…condita pelle latent), wobei man das Adjektiv multiplex auch auf die vielschichtige narrative Struktur besonders der Odyssee beziehen könnte147. Bezeichnet Quintilian von den römischen Autoren Vergil als den ersten Dichter nach Homer148, so findet sich auch bei Martial der Augusteer in Juxtaposition zu dem griechischen Epiker (14,185-186). Abermals folgen ein an dives-Position platziertes, spielerisches Opus149 und das umfangreiche Hauptwerk des Autors an pauper-Stelle aufeinander. Wie es sich schon an der Batrachomachia beobachten ließ, so scheint Martial auch beim Culex Parallelen zu seiner eigenen Poesie zu ziehen: Mit nucibus positis (14,185,2) greift er den Beginn der Apophoreta auf, wo er seine Saturnaliendichtung mit nuces verglichen hatte (14,1,12)150, und die Anrede des Rezipienten als studiosus (1) entspricht der programmatischen Leserapostrophe in 1,1,4 (lector studiose)151. Innerhalb des Distichons auf die Batrachomachia und jenes auf den Culex differenziert Martial somit zwei verschiedene Lesertypen, die auch am Anfang der XII Epigrammaton libri vertreten sind: den der Epigrammatik skeptisch gegenüberstehenden Rezipienten mit strenger frons152 und den für die Gattung aufgeschlossenen lector studiosus. Der Leser ist in 14,186 Betrachter eines die Pergament-Ausgabe schmückenden Vergil-
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vorrede für seine Gedichtsammlung rechtfertigt: sed et Culicem legimus et Batrachomachiam etiam agnoscimus, nec quisquam est illustrium poetarum qui non aliquid operibus suis stilo remissiore praeluserit (Silv. 1, praef. 7-10: „Doch wir lesen auch den Culex und anerkennen sogar die Batrachomachie, und es gibt keinen von den berühmten Dichtern, der nicht vor seinem eigentlichen Werk irgendeinen Scherz mit gelockertem Griffel getrieben hat“). Anders als Martial, der sich programmatisch zur Kleinpoesie bekennt, tritt Statius an dieser Stelle als Epiker auf, der sich kurz nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes, der Thebais, in der Nachfolge Homers und Vergils den Silvae als Erholung von den Ansprüchen der Ependichtung widmet, vgl. Johannsen (2006), 243f.; 323f. Dies würde auch auf 14,192,1 zutreffen, wo Ovids Metamorphosen mit demselben Wort charakterisiert werden; vgl. Roman (2001), 135 mit Anm. 71. Quint. Inst. 10,1,85: Itaque ut apud illos Homerus, sic apud nos Vergilius auspicatissimum dederit exordium, omnium eius generis poetarum Graecorum nostrorumque haud dubie proximus („So dürfte wohl wie bei diesen Homer bei uns Vergil den günstigsten Anfang machen; von allen griechischen und einheimischen Dichtern dieser Gattung kommt er ihm zweifellos am nächsten“). Martial sieht – wie auch Statius in Silv. 1 praef. 7f. – den von neuzeitlichen Philologen als pseudepigraphes Werk erkannten Culex offenbar als vergilisches Produkt an, vgl. Janka (2005). Vgl. Lorenz (2002), 101 mit Anm. 203. Zum Problem der Datierung s. S. 13 mit Anm. 28. Vgl. o. S. 35 mit Anm. 140 zu 14,183.
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Porträts153, und sollte es zutreffen, dass in 14,183 auf den Beginn der Batrachomyomachie angespielt wird, könnte dieser auch noch in 14,186,2 mit dem Hinweis auf die prima tabella (vgl. Batr. 1: prw¯thj seli¿doj) präsent sein, wodurch ein Bezug zwischen dem ersten und vierten Distichon der Serie hergestellt wäre154 und die thematische Geschlossenheit dieser Gruppe noch deutlicher hervorträte. Die nächsten beiden Gedichte, 14,187-188, scheinen abermals bewusst nebeneinander gestellt zu sein, denn Menander entspricht, wie zuvor erwähnt, bezüglich seines Status als Klassiker Homer, Vergil findet sein Gegenstück aus dem Bereich der Prosa in Cicero155. Das Menander-Epigramm ist darüber hinaus auch mit 14,185 und 14,189 insofern verbunden, als Thais, Culex und Properzens Cynthia als Jugendwerke ihrer Verfasser angesehen werden156. Martial rekurriert auf eine biographische Tradition, der zufolge Menander ein Verhältnis mit einer Hetäre namens Glykera hatte, wobei es sich aber höchstwahrscheinlich um eine im Hellenismus entstandene Fiktion, die aus Menanders Werken heraus gesponnen wurde, handelt157. Unter den uns überlieferten Testimonien wird einzig in Martials Distichon ein Liebesverhältnis zwischen Menander und Thais, der Titelheldin des gleichnamigen Dramas, imaginiert158. Demnach scheint es, als wolle der Epigrammatiker, möglicherweise die Haltung eines MenanderPhilologen nachahmend, eine verbreitete Annahme korrigieren159. Die literarische Tätigkeit des Komödiendichters beschreibt er dabei mit Begrif-
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Vgl. Leary (1996), 251; zu antiken Autorenporträts vgl. Birt (1882), 86; Lausberg (1982), 562 Anm. 7. Dem visuellen Aspekt steht in 14,183 und 185 der Vorgang des Lesens (183,1: perlege und 185,2: legas) gegenüber. Zugleich würde es sich um eine Bestätigung der Lesart πρώτης σελίδος handeln, vgl. S. 36 Anm. 145. Vgl. 5,56,5; 3,38,3ff.; Quintilian lässt sowohl seinen Überblick über die römische Rhetorik wie auch Philosophie mit Cicero beginnen, vgl. Inst. 10,1,105ff. u. 123; vgl. Pini (2006), 465ff. Zum Culex als praelusio zu Vergils eigentlichen Werken vgl. 8,55,20; Janka (2005). Glykera ist ein Charakter aus Menanders Perikeiromenē; vgl. Körte (1919) und (1931), 712; Lefkowitz (1981), 113f.; Leary (1996), 252 ad loc.; Blume (1998), 11f. Das Verhältnis Menanders mit Glykera suggerieren etwa die Briefe des Alkiphron (4,18 u. 19 = PCG VI 2 test. 20); vgl. Bungarten (1967); Rosenmeyer (2001), 301-307; außerdem Athen. 13,585c; 594d (= PCG VI 2 test. 16-17). Vgl. Körte (1931), 712; Körte/Thierfelder (1959), 3, test. 13; von dem Stück sind uns nur der Titel und einige Fragmente überliefert, vgl. Körte/Thierfelder (1959), frg. 185191; PCG VI 2 test. 163-169; Leary (1996), 251f. ad loc. Griechische Titel von MenanderKomödien finden sich auch in Mart. 14,214 (Μισούμενος und Δὶς ἐξαπατῶν) vgl. Cannobbio (2011c), 66-67. Anders Leary (1996), 252 ad loc.: „Menander was so busy writing the Thais as a young man that he did not have time for any love affairs of his own. His work was his mistress.“
fen, wie sie sonst für das Verfassen von Liebeselegien gebraucht werden160; zudem dürfte auch verbal auf eine elegische Schilderung der Thais Menanders angespielt sein: Properz prangert die Untreue seiner Cynthia mit folgendem Exemplum an (2,6,3f.): turba Menandreae fuerat nec Thaidos olim / tanta, in qua populus lusit Erichthonius161. Die erste Zeile von Martials Distichon, bei der man nach einer linearen Lektüre der bisherigen BuchEpigramme zunächst v.a. an die literarische Aktivität des Komödiendichters denken wird, erhält vor dem Hintergrund dieses erotischen Prätextes eine sexuelle Nuance, die erst im Pentameter klar zutage tritt. Behauptet Properz, die Männer Athens hätten bei Thais (4: in qua) erotische Abenteuer erlebt (4: lusit), so ist Menander bei Martial nicht nur der Verfasser von Dichtung, innerhalb derer er die Liebschaften von Jünglingen schildert, sondern auch selbst einer der jungen Liebhaber, die bei der Hetäre (1: hac) ihr Vergnügen suchten (1: lusit)162. Als amator entspricht Menander zudem Tibull in 14,193, und abgesehen davon, dass in beiden Gedichten ein biographisches Verhältnis zwischen Dichtern und literarischen Figuren konstruiert wird, könnte auch der Name der Glykera als verbindendes Element dienen, da Horaz in Carm. 1,33 Tibull als den Liebhaber einer Glykera präsentiert163. Nach diesem Epigramm dürfte das Auftauchen Ciceros den Leser zunächst überraschen, würde man doch als Gegenstück zu Menander eher einen Tragödiendichter wie etwa Euripides164 oder einen römischen Gattungsvertreter analog zum Paar Homer und Vergil erwarten. Der Besitzer des Cicero-Werkes, das auf Pergamentblätter reduziert ist, soll sich auf seinen Reisen vorstellen, er habe den Autor selbst als Begleiter dabei. Die in diesem Zusammenhang erwähnte lange Strecke (2: longas…vias) dürfte daneben auch als Metapher für einen umfangreichen Lektüreprozess ste-
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iuvenum lascivos lusit amores (1), vgl. OLD 1048, s.v. ludo 8. Als eine literarische Chiffre taucht Thais auch im poetologischen Exkurs der Remedia amoris Ovids auf: Thais in arte mea est: lascivia libera nostra est; / nil mihi cum vitta; Thais in arte mea est (385f.). „Nicht war die Schar der menandreischen Thais einst so groß, mit der das athenische Volk sein Liebesspiel trieb.“ Die Wendung iuvenum lascivos lusit amores ließe sich auch im Sinne von „er erlebte die lasziven Liebesabenteuer junger Männer“ wiedergeben; vgl. OLD 1048, s.v. ludo 4; Adams (1982), 162. Hor. Carm. 1,33,1-4: Albi, ne doleas plus nimio memor / inmitis Glycerae neu miserabilis / decantes elegos, cur tibi iunior / laesa praeniteat fide. („Albius, sei nicht allzu betrübt, wenn du an die harte Glycera denkst, und singe nicht klagende Elegien darüber, warum dich ein jüngerer Mann überstrahlt und die Treue verletzt ist.“). Zu Menander und Euripides vgl. Quint. Inst. 10,1,69: Hunc [sc. Euripiden] admiratus maxime est, ut saepe testatur, et secutus, quamquam in opere diverso, Menander („Diesen hat Menander besonders bewundert, wie er oft selbst bezeugt, und an ihm hat er sich, wenn auch in einer anderen Gattung, orientiert…“). Zur Auseinandersetzung römischer Komödiendichter mit Menander vgl. insbesondere die Prologe des Terenz.
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hen165: Wer eine handliche Pergament-Ausgabe besitzt166 – ob wir es nur mit Auszügen aus Ciceros Œuvre oder einer einzigen Schrift zu tun haben, bleibt offen167 –, der mag sich vorstellen (1: putato), er lese weite Teile des Gesamtwerks. Bücher als Reisebegleiter tauchen in einem saturnalischen Kontext auch bei Horaz in Satire 2,3 auf, allerdings flüchtet der Dichter dort vor dem Fest auf sein Landgut168. Ihm wirft der Bankrotteur und Amateur-Stoiker Damasipp seine Schreibfaulheit vor (1f.: sic raro scribis, ut toto non quater anno / membranam poscas169); dagegen helfe es auch nicht, wenn Horaz die Ausgaben großer griechischer Autoren wie Platon, Menander, Eupolis und Archilochos mitnimmt (10f.: quorsum pertinuit stipare Platona Menandro? / Eupolin, Archilochum, comites educere tantos?170). Auch bei Martial ist die Cicero-Lektüre ähnlich wie zuvor die der Aeneis wohl vorrangig für die Zeit außerhalb der Saturnalien bestimmt. Dem Autorenpaar Platon und Menander (Sat. 2,3,10) entsprechen möglicherweise Cicero und Menander bei Martial171, der mit seiner Anordnung der beiden Distichen vermutlich suggerieren will, dass Epigrammleser doch besser damit beraten sind, statt Cicero einen Komödiendichter als Begleiter zu haben. Das nächste Distichon (14,189) thematisiert erneut das Verhältnis einer literarischen Figur zu ihrem Autor172. Angesichts der Tatsache, dass Martial 165 166
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Zu Reisemetaphorik und Lektüreprozess vgl. S. 15 n. 39. Vgl. 1,2,1-4: Qui tecum cupis esse meos ubicumque libellos / et comites longae quaeris habere viae, / hos eme, quos artat brevibus membrana tabellis: / scrinia da magnis, me manus una capit. („Wenn du wünschst, dass meine Büchlein überall bei dir sind und du sie als Begleiter auf einer langen Wegstrecke haben möchtest, dann kaufe die, welche das Pergament auf kleine Seiten reduziert. Die Buchkapseln gib den großen, mich umfasst eine einzige Hand.“). Mit dem verbalen Bezug zu Epigramm 1,2, wo Martial die platzsparende Form der Kodex-Ausgabe anpreist, wird impliziert, dass das Werk Ciceros für den Epigrammleser nur erträglich ist, wenn es ebenfalls platzsparend publiziert und demzufolge entsprechend kurz ist. Vgl. Leary (1996), 252 ad loc. Dazu vgl. Holzberg (2009a), 84ff. „So selten schreibst du, dass du im ganzen Jahr nicht viermal nach Pergament verlangst“. „Was hat es da genützt, Platon auf Menander zu packen? Eupolis und Archilochos, so große Begleiter, mitzunehmen?“ Vgl. Muecke (1993), 133 ad loc. zur Auswahl der Autoren: „The names are of Greek authors who are of particular relevance to the writing of Satires Book 2 and the Epodes. Plato is cited as a master of the philosophical dialogue, Menander for his famous skill in characterisation…Eupolis (the poet of Old Comedy) and Archilochus stand for the satiric spirit of iambic.“ Im Bereich der Philosophie galt Cicero als römisches Pendant zu Platon, vgl. Quint. Inst. 10,1,123: M. Tullius, qui ubique, etiam in hoc opere Platonis aemulus extitit („M. Tullius Cicero, der wie überall, so auch bei dieser Aufgabe als Nacheiferer Platons herausragt.“); vgl. 10,1,81. Das Lemma liefert den ersten antiken Beleg für die Bezeichnung des ersten ProperzBuches als monobyblos; ob damit auf den vom Elegiker selbst gewählten Titel Bezug genommen wird, hat der Forschung Stoff zur intensiven Diskussion geliefert. Daneben wurde auf der Basis von Prop. 2,24,1 auch Cynthia als Titel angenommen, vgl. zur
innerhalb der vorliegenden Epigramm-Serie auf Buchausgaben wiederholt das Material und die äußere Form der libri hervorhebt, verweist der Titel monobyblos in erster Linie auf die Gestalt des in einer einzelnen Rolle erschienenen Buches173. Sowohl das Incipit des ersten Properz-Buches als auch die darin agierende Hauptfigur liefern die Grundlage für Martials Zweizeiler174. Cynthia erscheint bei ihm in der doppelten Funktion der vom Dichter gerühmten „Heldin“ und der dem Elegiker Ruhm verschaffenden Instanz; in einer ähnlichen Rolle tritt sie auch bei Properz in 2,34b auf, wo der poeta-amator sich in die Reihe der Verfasser von Liebespoesie stellt175: Cynthia quin etiam versu laudata Properti – / hos inter si me ponere Fama volet (93f.)176. Die Erwähnung der fama in beiden Texten sowie die identische Wortstellung Cynthia…Properti im Hexameter legen die Vermutung nahe, dass Martials Leser hier einen intertextuellen Bezug erkennen sollen. Ein Widerspruch besteht zwischen der Anspielung auf das programmatische Ende von Properzens zweitem Elegien-Buch – in einem flavischen Autorenkatalog finden wir eine Reminiszenz an einen augusteischen – und den sonstigen Hinweisen, nach denen das vorliegende Distichon sich auf das erste Buch der Sammlung bezieht; der Rezipient dürfte dazu eingeladen sein, diese Unstimmigkeit aufzudecken. Auf die elegische monobyblos folgt das historiographische Riesenwerk des Livius (14,190): Dem umfangreichen, aus 142 Büchern bestehenden Opus des Geschichtsschreibers (1: Livius ingens) wird das begrenzte Format der Pergament-Ausgabe (1: pellibus exiguis) gegenübergestellt. Mehr als die Frage, ob man hier ganz konkret an eine Epitome oder eine Miniaturausgabe zu denken hat177, scheint mir die im Pentameter formulierte Aussage von Belang zu sein, dass Martials Bibliothek das gesamte Œuvre nicht aufnehmen kann (2). Den Gattungsgesetzen der Epigrammatik gehorchend, verkleinert er (1: artatur) das Werk des Livius auf eine Dimension, die sich in die virtuelle Bücher-Sammlung der Apophoreta einfügt – das Einzeldistichon. Zudem scheint Martial verbal auf Liviusʼ eigene Reflexionen über die Größe seines literarischen Unternehmens in der praefatio an-
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Forschungsdebatte Leary (1996), 253 ad loc.; Schröder (1999), 78ff.; in jedem Fall weist das erste Elegienbuch deutliche kompositorische Unterschiede zu den restlichen drei auf, vgl. Butrica (1996); Holzberg (2009b), 37f. So Schröder (1999), 79f. mit Parallelstellen. Vgl. Prop. 1,1,1 Cynthia prima suis miserum me cepit ocellis; vgl. Leary (1996), 253f. ad loc. Auf Vergil (61-84) folgen Varro (85f.), Catull (87f.), Calvus (89f.), Gallus (91f.) und Properz selbst. „Ja, auch Cynthia ist in den Versen des Properz verherrlicht worden, wenn mich die öffentliche Meinung einmal zum Kreis dieser [sc. Dichter] gesellen will.“ An eine Epitome denkt Sansone (1981); dagegen nimmt Butrica (1983) an, es handle sich um eine Ausgabe, die entweder ein einzelnes Buch, eine Pentade oder sogar Dekade beinhalte; für eine Miniaturausgabe spricht sich Leary (1996), 255f. ad loc. aus.
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zuspielen: Res est praeterea et immensi operis, ut quae supra septingentesimum annum repetatur et quae ab exiguis profecta initiis eo creverit ut iam magnitudine laboret sua (4)178. Das von Livius beschriebene Anwachsen (creverit) des römischen Reiches bezieht Martial auf die materielle Ausdehnung des Geschichtswerkes und macht diesen Prozess durch die Integration des historiographischen Riesenopus in sein Epigrammbüchlein wieder rückgängig. An Livius ist in chronologisch umgekehrter Reihenfolge mit Sallust ein weiterer Vertreter der römischen Historiographie angeschlossen (14,191): Der Erste (2: primus) in der Geschichtsschreibung begegnet uns innerhalb der Epigrammsequenz als Zweiter, wobei auch die Stellung von primus am Anfang des zweiten Verses ein beabsichtigtes Zahlenspiel darstellen dürfte. Die Juxtaposition beider Autoren erfolgt, dem Beispiel Homers und Vergils entsprechend, nach dem Kriterium der von ihnen vertretenen Gattung und findet sich so auch in mehreren anderen Quellen179. Durch das Motiv der zeitlichen bzw. qualitativen Vorrangstellung korrespondiert das SallustEpigramm auch mit demjenigen auf Menander, in dem es um die Frage ging, ob Thaïs oder Glykera die erste Geliebte des Dichters gewesen sei (14,187,1: primum). Dass Sallust an dives-Position zu finden ist und dadurch von Martial offenbar höher eingeschätzt wird als Livius180, dürfte mit dem geringeren Umfang seines Werkes zusammenhängen und könnte zudem auch in Einklang mit der Ansicht jener Autoren stehen, die Sallust für die brevitas seines Ausdrucks preisen181: So heißt es etwa beim älteren Seneca ex Sallusti sententia nihil demi sine detrimento sensus potest (Contr. 9,1,13)182, wo-
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„Die Aufgabe erfordert zudem einen riesigen Arbeitsaufwand, weil es um die Vergegenwärtigung von mehr als 700 Jahren geht und weil der aus so geringen Anfängen erwachsene Staat so sehr angeschwollen ist, dass er mittlerweile selbst unter seiner Größe leidet.“ Auf diesen intertextuellen Bezug weist bereits Reggiani (1976), 134 hin; über den riesigen Umfang seines Werks reflektiert Livius auch zu Beginn von Buch 31: iam provideo animo…et crescere paene opus (31,1,5). Vgl. Quint. Inst. 2,5,19; 10,1,101; Sen. Suas. 6,21; Iust. Hist. Phil. 38,3,11; vgl. die Testimonien bei Kurfess (1981). Hierin ähnelt Martials Einschätzung jener bei Quintilian (Inst. 2,5,19): Livium a pueris magis quam Sallustium; et hic historiae maior est auctor, ad quem tamen intellegendum profectu opus sit. („Livius soll von Knaben eher gelesen werden als Sallust. Der ist zwar der größere Historiograph, zu seinem Verständnis bedarf es jedoch des Fortschritts.“) und Tacitus (Ann. 3,30,1): rerum Romanorum florentissimus auctor („der glänzendste Autor römischer Geschichte“), vgl. Syme (1975), 283f. und Leary (1996), 256f. ad loc. Zur brevitas bei Sallust vgl. Sen. Contr. 9,13,1; 4,24; Sen. Ep. 114,17; Quint. Inst. 4,2,45; 8,3,82; 10,1,32; 102; Stat. Silv. 4,7,55; Gel. 3,1,6; Sidon. Carm. 2[22],190; 23,151; Apul. Apol. 95; Macrob. Sat. 5,1,7; Funaioli (1920), 1944. „Doch von einer Sentenz des Sallust kann nichts ohne Beeinträchtigung des Sinns weggenommen werden“. Dieser Gedanke entspricht dem von Martial in 2,77,7 artikulierten Konzept der brevitas: non sunt longa quibus nihil est quod demere possis („Nicht
hingegen Livius kurz darauf als Gegner Sallusts kritisiert wird (14). Neben der Kürze galt auch die archaisierende Sprache schon in der Antike als ein Charakteristikum des Historikers, und dieses Merkmal scheint Martial mit der Junktur perhibent doctorum corda virorum (1) nachzuahmen, wie Renato Reggiani vermutet183. Vielleicht spielt der Epigrammatiker sogar auf ein bei Quintilian überliefertes Distichon an, das Sallust aufgrund seines Stils als Plünderer der Sprache Catos brandmarkt (Quint. Inst. 8,3,29: et verba antiqui multum furate Catonis, / Crispe, Iugurthinae conditor historiae)184 und dessen Aussage Martial korrigiert, sodass er sich hier in scherzhafter Weise an der literar- und stilkritischen Diskussion beteiligt. Einigermaßen überraschend mag dann die Positionierung Ovids an pauper-Stelle (14,192) wirken, doch es dürfte hier vor allem der Umfang der Metamorphosen ausschlaggebend sein: Die Verwandlungssagen werden wie die anderen bisher aufgezählten Großwerke als Kodex-Ausgabe imaginiert185, und die Beschreibung des Buchmaterials als Anhäufung einzelner Blätter (1: multiplici…structa...massa tabella) lässt sich metaphorisch auch auf Form und Inhalt des Hexameter-Opus beziehen: Mit dem Adjektiv multiplex werden, wie schon im Fall der Odyssee, vermutlich sowohl die der narrativen Struktur zugrunde liegenden, ineinander verwobenen Erzählungen als auch die verschiedenen Verwandlungsvorgänge angedeutet; die „geformte Masse“ soll dabei möglicherweise an die Schilderung des Chaos als rudis indigestaque moles vor der Weltentstehung am Anfang des carmen perpetuum erinnern186. Durch die Erwähnung der fünfzehn Bücher korrespondiert dieses Epigramm mit jenem auf Properzens Monobyblos, so dass die beiden augusteischen Dichter die zwei Historiker rahmen. Als Papyrusrolle haben wir uns wiederum das Werk Tibulls vorzustellen (14,193), und zunächst wird dem Leser der Eindruck vermittelt, er sei hier auf eine kurze Notiz zur Vita des Elegiendichters gestoßen. Doch es handelt sich weniger um ein biographisches Zeugnis als vielmehr um eine subtile Auseinandersetzung mit der poetischen persona Tibulls. Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass der Relativsatz im Pentameter eine Anspielung auf dessen Elegie 1,5 enthält, wo es heißt at iuvet in tota me
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sind [sc. Epigramme] lang, die nichts haben, was man ihnen wegnehmen könnte…“); s. S. 97-9. Reggiani (1976), 134ff.; vgl. Lorenz (2002), 102. „Und du, Crispus, der du oft die Worte des alten Cato gestohlen hast, Verfasser der Iugurthinischen Geschichte.“ La Penna (1970), 199 Anm. 5 und Reggiani (1976), 135f. vermuten, das Epigramm sei in augusteischer Zeit, möglicherweise sogar von Domitius Marsus, verfasst worden; vgl. Lorenz (2002), 102 mit Anm. 209. Vgl. Leary (1996), 257 ad loc. Ov. Met. 1,7; vgl. Roman (2001), 135; Hinds (2007), 141; vgl. Ov. Fast. 1,108; zur Angabe der Buchzahl in Mart. 14,192,2 vgl. Ov. Trist. 1,1,117.
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nihil esse domo (30)187. Dort ist allerdings nicht, wie bei Martial, von Nemesis, sondern von Delia die Rede, mit der Tibull ein beschauliches Leben auf dem Land führen möchte. So mag es zunächst scheinen, als habe der Epigrammatiker die beiden puellae miteinander verwechselt188. Doch wie es auch beim Distichon auf Properz zu beobachten war, dürfte Martial hier abermals ein absichtliches Spiel mit dem literarischen Gedächtnis seiner Rezipienten treiben und diese dazu animieren, die Unstimmigkeit zu erkennen. Mit dem ersten Wort des Hexameters (ussit), das die Wirkung der dura puella auf den amator beschreibt, stellt Martial einen Bezug zu jener Elegie her, die den Höhepunkt von Tibulls servitium amoris gegenüber Nemesis beinhaltet189: et seu quid merui seu quid peccavimus, urit. / uror io: emove, saeva puella, faces (2,4,5f.)190. Doch während Nemesis hier um Gnade angefleht wird, hatte der Elegiker zuvor Delia in 1,5 aufgefordert, ihn für seinen Hochmut zu verbrennen (5: ure ferum et torque...); diese Forderung erfüllt später Nemesis auf für den amator besonders schmerzhafte Weise. Vermutlich erkennt auch Martial diese Entwicklung in Tibulls „erotischer Biographie“191 und korrigiert die in 1,5 imaginierte Personenkonstellation bzw. überblendet zwei bei seinem Vorgänger zeitlich getrennte Szenen. Somit erlaubt sich der Epigrammatiker einen ähnlichen literarischen Scherz wie Ovid, der in Am. 3,9 Nemesis am Sterbelager Tibulls einen vom Dichter ursprünglich an Delia gerichteten Wunsch aufgreifen lässt: me tenuit moriens deficiente manu (58; vgl. Tib. 1,1,60: te teneam moriens deficiente manu). Sowohl Ovid als auch Martial konstruieren eine falsche Wirklichkeit aus dem fiktiven literarischen Geschehen192. Nach der Stimme eines Biographen vernehmen wir im nächsten Distichon die eines Literaturkritikers (14,194), doch ist diesmal nicht Martial der Sprecher, sondern Lucan193, der sich mit der Meinung seiner Gegner auseinandersetzen muss. Ob es sich hier wieder um eine Pergament-Ausgabe handelt, geht aus dem Lemma nicht hervor. Doch durch die Erwähnung des Buchhändlers (2: bybliopola), der verbal Properzens Monobyblos aufgreift, wird abermals der materielle Aspekt betont, wobei der Dichter mit dem liber identisch ist. Martial bezieht sich hier auf eine offenbar verbreitete Ansicht, der zufolge Lucans Epik nicht als richtige Poesie galt. So beur187
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Rostagni (1935), 39 Anm. 2; Pace Pieri (1982/83), 160 Anm. 8; Leary (1996), 258; Salanitro (2003), 309. Davon geht etwa Leary (1996), 258 aus. Vgl. Holzberg (2009b), 93. „Und egal, ob ich es verdient habe, oder ob ich kein Vergehen begangen habe, sie verbrennt mich. Ich brenne, oh! Nimm, grausames Mädchen, die Fackel weg!“ Vgl. Leary (1996), 258. Vgl. Ov. Am. 3,9,32 über die Abfolge von Nemesis und Delia: altera cura recens, altera primus amor. Dazu vgl. Bretzigheimer (2001), 180f.; Holzberg (2008), 21. Zu Lucan s. auch Kap. 7.3.
teilt ihn Quintilian als eher für Redner denn für Dichter nachahmenswert und hebt in diesem Zusammenhang seinen Reichtum an Sentenzen hervor. Servius sieht in ihm aufgrund des im Epos fehlenden Götterapparats einen Historiographen194. In dieser Hinsicht fügt sich Lucan auch bei Martial in die Reihe der Geschichtsschreiber ein; zumindest teilweise lassen sich auch die Metamorphosen Ovids als mythologische Weltgeschichte mit der Historiographie vergleichen195, wobei Götterhandlungen hier natürlich eine wichtige Rolle spielen. So entsprächen Livius und Ovid einander mit ihren umfangreichen Abhandlungen, Sallust und Lucan in Hinblick auf die Auswahl bestimmter geschichtlicher Ereignisse. Der Epigrammatiker lässt jedoch nicht die Gelehrten über Lucans Status als Dichter entscheiden, sondern die zahlreichen Leser196, wie durch die Antithese von dicant (1) und vendit (2) deutlich wird. Der Autoren-Katalog endet schließlich mit zwei Vertretern neoterischer Poesie (14,195-196). Wie in 1,61, so werden auch in 14,195 Catull und Vergil für den Ruhm gepriesen, den sie ihren Heimatstädten beschert haben, und der Vergleich des Neoterikers mit dem Augusteer – Vergil begegnet uns an zweiter sowie an vorletzter Stelle innerhalb des Autorenkatalogs – sorgt für eine ringkompositorische Abrundung der Epigramm-Serie197. Die verbale Ähnlichkeit zur schon im Zusammenhang mit 1,61 angeführten AmoresStelle ist hier noch auffälliger, da Ovids Wortfolge Mantua Vergilio und 194
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Quint. Inst. 10,1,90 Lucanus ardens et concitatus et sententiis clarissimus et, ut dicam quod sentio, magis oratoribus quam poetis imitandus („Lucan ist feurig und schwungvoll und in den Sentenzen ganz ausgezeichnet, und, um zu sagen was ich denke, eher von Rednern als von Dichtern nachzuahmen.“). Anders Tac. Dial. 20,5, wo Aper konstatiert exigitur enim iam ab oratore etiam poeticus decor…ex Horatii et Virgilii et Lucani sacrario prolatus. („Denn es wird vom Redner nun auch schon dichterischer Schmuck gefordert…der aus dem Heiligtum eines Horaz, Vergil und Lucan hervorgeholt ist.“). Aus chronologischen Gründen ist es unwahrscheinlich, dass Martial hier direkt auf die Quintilian-Stelle anspielt, da die Publikation der Institutio oratoria in die Zeit zwischen 91/92 und 95/96 n.Chr. datiert wird, vgl. Leary (1996), 259f. ad loc. Dass diese Bewertung Lucans schon vor der Veröffentlichung verbreitet war und zumindest in den Rhetorenschulen zirkulierte, scheint jedoch nicht abwegig, vgl. allerdings Peterson (1967), 87 ad Quint. Inst. 10,1,90: „The ut dicam quod sentio seems to indicate that Quintilian is combating the prevailing sentiment about Lucan“; Serv. ad Aen. 1,382: Lucanus namque ideo in numero poetarum esse non meruit, quia videtur historiam composuisse, non poema. („Denn Lucan hat es deshalb nicht verdient, zu den Dichtern gerechnet zu werden, weil er ein Geschichtswerk verfasst zu haben scheint, kein Gedicht.“). Ohne Lucan explizit zu erwähnen, vergleicht bei Petron auch Eumolpus ein Gedicht auf den Bürgerkrieg mit Historiographie (Sat. 118ff.). Vgl. Reggiani (1976), 136f.; Wiener (2006), 200-220. Vgl. Ludwig (1965); Feeney (1999); Lorenz (2002), 102. Ein ähnlicher Gedanke liegt in 8,24,5f. vor: qui fingit sacros auro vel marmore vultus, / non facit ille deos: qui rogat, ille facit („Wer ein heiliges Antlitz aus Gold oder Marmor bildet, der macht keine Götter; wer sie um etwas bittet, der macht sie“), vgl. Fitzgerald (2007), 154. Vgl. Lorenz (2002), 102.
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Verona Catullo nun in umgekehrter Reihenfolge wortwörtlich jeweils am Ende des Hexameters und Pentameters von Martial wiederholt wird198. Während in 1,61 Catull und Vergil mehr oder weniger unterschiedslos als berühmte Exempla von Dichtern, die ihren Heimatstädten Ruhm beschert haben, nebeneinanderstehen, lässt sich im Apophoreta-Epigramm eine Differenzierung beobachten, die allerdings anders ausfällt, als man es angesichts des Umfangs der literarischen Produktion beider Dichter erwarten würde: Passend zu einem Saturnalienbuch, innerhalb dessen sich die gewohnte Ordnung umdreht, ist nun magna Verona die Heimat des Kleindichters Catull und parva Mantua die des großen Vergil199. In diesem Einzeldistichon wird nun anders als in 1,61 eine Gegenüberstellung der beiden als Vertreter unterschiedlicher Gattungen angedeutet, wie es die dichtungskritisch konnotierten Adjektive magnus und parvus nahelegen200. Attraktiv ist Kröners Interpretation dieses Städtevergleichs, derzufolge wir es hier mit einer impliziten Aufwertung Catulls gegenüber Vergil zu tun haben: „…wenn es Catull trotz seiner „Kleinheit“ gelingt, dass ihm das große Verona so viel verdankt, wie das kleine Mantua dem großen Vergil, dann leistet ja Catull im Grunde mehr, er ist in Wirklichkeit größer! Für den großen Vergil ist es dagegen eine „Kleinigkeit“, dass ihm das kleine Mantua etwas verdankt“201. Neben Ovids Amores liefern offenbar auch seine Remedia einen Prätext für dieses Epigramm, das verbal sehr eng an eine Passage angelehnt ist, in der Ovid sich mit dem livor auseinandersetzt und seine Verdienste um die Gattung der Elegie darlegt (Rem. 395f.): Tantum se nobis elegi debere fatentur, / quantum Vergilio nobile debet epos202. Die beiden Verse schließen bei Ovid eine Liste von Autoren und Gattungen ab, die der Elegiker zur Untermauerung seiner These anführt, dass der Inhalt eines 198 199
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S. S. 21; vgl. Leary (1996), 260. Vgl. Muñoz Jiménez (1994), 112; Lorenz (2002), 102 mit Anm. 211. In der Regel wird Vergil sonst mit Attributen versehen, die seine Größe als Dichter bzw. den großen Umfang seiner literarischen Produktion beschreiben, so etwa in 1,107,2ff. (‚scribe aliquid magnum‘…otia da nobis, sed qualia fecerat olim / Maecenas Flacco Vergilioque suo), 4,14,14 (magno…Maroni), 5,5,8 (grande…Maronis opus), 8,55(56),4 (tanta bella sonare tuba), ex negativo in 10,21,4 (iudice te maior Cinna Marone fuit), 11,48,1 (magni…Maronis), 12,3(4),1 (summoque Maroni), 12,67,5 (magni…Maronis), 14,189,1 (immensum…Maronem), implizit auch in 7,29 und bildhaft in 7,63,5 (cothurnati…Maronis) und möglicherweise auch als freche Anspielung in 9,33; vgl. Holzberg (2011). Catull als Verfasser von Kleindichtung taucht mit entsprechenden Attributen versehen auf in 4,14,13 (tener…Catullus), 7,14,3 (teneri…Catulli), 10,103,5 (tenui…Catullo), 12,44,5 (lepido…Catullo), implizit auch in 5,5. Zu quantifizierenden Antithesen in der kallimacheischen Poetologie vgl. Asper (1997), 135-207. Magnus ist das Epitheton für Epos-Dichter, vgl. Hor. Sat. 1,10,52; Ov. Am. 1,8,61; Rem. 365; Trist. 2,379; Pont. 3,9,24; Juv. 10,246; vgl. Moreno Soldevila (2006), 185 ad Mart. 4,14,14. Kröner (1987), 483. „Die Elegien bekennen, mir so viel zu verdanken, wie das vornehme Epos Vergil.“ Zu dem poetologischen Exkurs in Ovids Remedia vgl. Holzberg (2006c).
jeden literarischen Produkts nach den Konventionen der jeweiligen Gattung zu beurteilen sei203. Mit seinem vorletzten Epigramm evoziert Martial somit das Ende eines weiteren Autorenkatalogs, wobei er Ovid durch Catull ersetzt und wir uns angesichts der wichtigen Vorbildfunktion, die der Epigrammatiker dem Neoteriker an anderer Stelle zuschreibt204, fragen dürfen, ob wir hier auch an Martial selbst denken sollen. Die Reihe der Buchgeschenke wird durch ein Epigramm auf Calvus beendet. Zwar ist der Name des Autors durch die Handschriften nicht einhellig überliefert205 und über Form und Inhalt eines Werkes De aquae frigidae usu kann höchstens spekuliert werden206, doch sprechen mehrere Gründe dafür, dass es sich um den Zeitgenossen Catulls handelt. Die beiden Neoteriker tauchen, abgesehen von Catulls eigenen Gedichten 207, in mehreren literarischen Zeugnissen zusammen auf208, und Martial dürfte hier sogar direkt auf die Auseinandersetzung Catulls mit seinem Freund in c. 14 anspielen. Dort wird Calvus dafür getadelt, dass er Catull minderwertige Literatur an den Saturnalien geschenkt habe, und es scheint, als wolle nun Martial an Calvus für dessen schlechten Geschmack späte Rache nehmen209. Ein Epigramm, das in der Tradition von Dichtung über Buchgeschenke an den Saturnalien steht, bildet den geeigneten Abschluss eines saturnalischen Autorenkatalogs210, und auch die scherzhafte Versenkung des libellus im Wasser fungiert als Schlussmotiv, wobei hiermit möglicherweise eine Verbindung zu den am Anfang der Epigrammsequenz erwähnten, im Wasser lebenden ranae hergestellt ist. Im Pentameter fällt auf stilistischer Ebene die a-Alliteration auf (2: ipsa suas…charta natabat aquas), was an die berühmte lautmalerische Stelle innerhalb der Erzählung von den lykischen Bauern in Ovids Metamorphosen erinnert; diese verwandeln sich
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Rem. 372: Si sapis, ad numeros exige quidque suos. („Wenn du klug bist, beurteile ein jedes [sc. literarisches Produkt] nach seinem Versmaß.“). In Rem. 373ff. werden das Epos, die Tragödie, die Komödie, die Jambik und die Elegie aufgelistet; s. dazu auch Kap. 4.1.1. S. Kap. 2.1.1 und 3.1. Nur die Handschriften der Klasse α und teilweise β überliefern Calvus, daneben findet sich in der Handschrift Q die Variante Calidae und in der Gruppe γ Caldae, vgl. Leary (1996), 262 ad loc.; Lorenz (2002), 103 mit Anm. 212; Pini (2006), 471 mit Anm. 1. Angenommen wurde etwa eine Schrift in der Art von Kallimachos‘ Περὶ τῶν ἐν Εὐρώπῃ ποταμῶν und Περὶ τῶν ἐν τῇ οἰκουμένῃ ποταμῶν bzw. eine medizinische Abhandlung über Hydrotherapie infolge eines Zitates bei Charisius (GLK I,81,23-24), vgl. Leary (1996), 262 ad loc.; Pini (2006), 472. Catul. c. 14; 50; 53; 96. Hor. Sat. 1,10,19; Prop. 2,25,4; 2,34b,87ff.; Ov. Am. 3,9,62; Trist. 2,427ff.; Plin. Epist. 1,16,5; Augurin. apud Plin. Epist. 4,27,4; Suet. Iul. 73; Gell. 19,9,7; vgl. Courtney (1993), 201; Pini (2006), 471 mit Anm. 2; vgl. die Testimonien bei Hollis (2007), 49f. Dies vermutet Lorenz (2002), 103. In diese Tradition gehört auch Stat. Silv. 4,9, ein ebenfalls an Catulls c. 14 orientiertes Saturnaliengedicht; vgl. Damon (1992); Pini (2006), 475.
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bekanntermaßen in Frösche, und der Dichter ahmt die von ihnen nunmehr produzierten Laute mit dem Vers quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant (6,376) nach211. Es scheint mir denkbar, dass Martial vor dem Hintergrund dieser Stelle einen Bogen zu den βάτραχοι in 14,183 schlägt212: Die Versenkung der Schrift des Calvus im Wasser lässt zudem an den Tod des Mäuserichs Ψιχάρπαξ denken, dessen Ertrinken in der Batrachomyomachie (82ff.) den Konflikt zwischen Mäusen und Fröschen auslöst. Abgesehen von seiner Rolle als neoterischer Dichter ist Calvus in Martials Epigramm vermutlich auch als Redner und Vertreter des Attizismus präsent213. Sein Stil wurde von Cicero angeblich als „saftlos und trocken“ (exsanguem et aridum) bezeichnet214, was der von Martial gebrauchten Wasser-Metaphorik eine zusätzliche Pointe verleiht215. Als Figur, die mehr oder weniger zum Wassertrinker abgestempelt wird, ist Calvus nicht nur literarisch uninspiriert216, sondern verhält sich auch einem saturnalischen Kontext unangemessen. So steht er auch im Gegensatz zu den in der Reihe der Epigramme auf Kunstwerke erwähnten Weintrinkern (14,170 und 182), wodurch eine weitere Verbindungslinie zwischen den beiden Sequenzen zutage tritt.
2.2.3
Strategien epigrammatischer Selbstkanonisierung: Die praefatio zu Buch 9
Nach der Betrachtung verschiedener Autorenlisten, in die sich Martial entweder selbst einreiht oder durch die er sein dichterisches Selbstverständnis indirekt ausdrückt, sei nun noch ein Blick auf die Vorrede zu Buch 9 geworfen. In diesem Text, so soll im Folgenden gezeigt werden, reklamiert Martial auf unterhaltsame Weise für sich selbst einen kanonischen Status. 211 212
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Vgl. Holzberg (1997), 123. Daneben könnte auch eine Verbindung zum Menander-Epigramm 14,187 bestehen, da durch ein – in seiner Zuverlässigkeit jedoch umstrittenes – Scholion zu Ovid, Ibis 591 überliefert wird, der Komödiendichter sei beim Schwimmen im Piräus ertrunken: Menander comicus Atheniensis dum in Piraeo portu nataret, submersus est, de quo nobilissimae a Graecis editae traduntur elegiae et a Callimacho epigramma. („Der athenische Komödiendichter Menander ertrank, als er im Piräus schwamm, worüber sehr bekannte, von den Griechen veröffentlichte Elegien überliefert sind und ein Epigramm des Kallimachos.“); vgl. PCG VI 2 test. 23; Call. Frg. 396 Pf.; La Penna (1959), 185; Lefkowitz (1981), 116; Blume (1998), 12 mit Anm. 25. Vgl. Catul. c. 53 mit Thomson (1997), 332f. Tac. Dial. 18,5; zu Calvus vgl. P. Schmidt (1999). Vgl. Prioux (2008), 327; das Adjektiv frigidus im Lemma dürfte zudem auch die Langeweile, die sein Stil mit sich bringt, evozieren, vgl. OLD 736, s.v. frigidus 8b; Lorenz (2002), 103. Zum Topos der dichterischen Inspiration durch Wein vgl. AP 13,29,1f. (Nikainetos); Hor. Epist. 1,19,1f.: nulla placere diu nec vivere carmina possunt / quae scribuntur aquae potoribus; Ov. Met. 7,432f.; Giangrande (1968), 158f.; Kay (1985), 74f. ad Mart. 11,6,12.
Unter den praefationes, mit denen Martial einige seiner Epigrammbücher beginnen lässt, weist die zu Buch 9 einen besonders eigenwilligen Charakter auf. Es scheint, als würde der Dichter hier die Eigenständigkeit und das Potenzial seiner Gattung nicht nur im Hinblick auf den Gebrauch von Prosavorreden, wie es in 2 praef. der Fall ist, sondern auch im Verhältnis zu anderen Künsten reflektieren. Der private Charakter dieser praefatio steht in auffälligem Gegensatz zu der vorhergehenden, an Domitian gerichteten Prosaepistel in Buch 8: Have, mi Torani, frater carissime. Epigramma, quod extra ordinem paginarum est, ad Stertinium clarissimum virum scripsimus, qui imaginem meam ponere in bibliotheca sua voluit. De quo scribendum tibi putavi, ne ignorares Avitus iste quis vocaretur. Vale et para hospitium. Note, licet nolis, sublimi pectore vates, cui referet serus praemia digna cinis, hoc tibi sub nostra breve carmen imagine vivat, quam non obscuris iungis, Avite, viris: 'Ille ego sum nulli nugarum laude secundus quem non miraris, sed - puto -, lector, amas. maiores maiora sonent: mihi parva locuto sufficit in vestras saepe redire manus.' Sei gegrüßt, mein Toranius, liebster Bruder. Das Epigramm, das sich außerhalb der Seitenreihe befindet, habe ich an Stertinius, einen überaus angesehenen Mann geschrieben, der mein Bildnis in seiner Bibliothek aufstellen wollte. Darüber glaubte ich, dir schreiben zu müssen, damit du auch wüsstest, wer da als Avitus angesprochen wird. Leb wohl und bereite das Quartier vor. „Sänger, bekannt, magst du auch nicht wollen, durch erhabenen Sinn, dem spät der Tod den angemessenen Lohn bringen wird, dieses kurze Gedicht soll für dich lebendig sein unter meinem Bildnis, das du, Avitus, zu nicht unbekannten Männern stellst: ‘Der bin ich, der keinem im Ruhm der Possen nachsteht, den du nicht nur bewunderst, Leser, sondern, wie ich glaube, liebst. Größere sollen Größeres ertönen lassen: Mir, der ich von kleinen Dingen gesprochen habe, genügt es, oft in eure Hände zu gelangen.‘“
In einem vergleichsweise kurzen Prosa-Abschnitt wendet sich Martial an seinen Freund Toranius217, den er über den Adressaten und die Funktion des unmittelbar anschließenden epigramma extra ordinem paginarum aufklärt. Der Senator L. Stertinius Avitus218 will angeblich ein Bildnis Martials in seiner Bibliothek aufstellen, für das der Epigrammatiker offenbar eine Unterschrift verfassen sollte219. Ob es sich um eine Statue oder ein Gemälde 217
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Toranius wird ansonsten nur in 5,78 erwähnt; zu Spekulationen über seine Identität vgl. Friedlaender (1886), II, 49-50; Henriksén (1998/99), 1, 52. Zu seiner Person vgl. Henriksén (1998/99), 1, 51f.; vgl. 10,96; 102; 12,24,9; 75; möglicherweise ist er auch der Avitus in 1,16 u. 6,84. Im Gegensatz zu den übrigen praefationes, die alle an eine einzige Person – im Fall von 1 praef. ist es wohl der lector – gerichtet sind, wird hier nicht deutlich, wer nun als
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des Dichters handelt, geht aus dem Begriff imago nicht eindeutig hervor220. Das Gedicht selbst wiederum zerfällt in zwei Teile: Die ersten vier Verse sind an Avitus gerichtet, dessen poetisches Talent Martial zunächst preist und dem er dann die Bildunterschrift für das Porträt widmet. Das die Dichter-imago zierende Epigramm selbst nimmt daraufhin die beiden abschließenden Distichen ein. In der praefatio zu Buch 9 sind somit drei Sprechbzw. Kommunikationsebenen kombiniert: Erstens die in Prosa gehaltene Epistel an Toranius, zweitens die als Übergang zwischen Prosateil und Bildunterschrift fungierende und an Avitus gerichtete erste Hälfte des Epigramms und schließlich dessen zweite Hälfte, in der das Bildnis selbst als der den allgemeinen Leser apostrophierende Sprecher imaginiert ist221. Es wurde nun viel darüber gerätselt, was die in der praefatio enthaltene Information mit dem Buch selbst zu tun habe; so vermutete etwa Peter White, dass die Vorrede ursprünglich nur für die darin erwähnten Freunde Martials bestimmt und anfangs nicht für eine Publikation vorgesehen gewesen sei222. Jüngere Forscher dagegen konnten zeigen, dass diese praefatio sehr wohl eine Funktion innerhalb des Kontextes der publizierten Sammlung erfüllt223. Zunächst einmal fällt auf, dass im Gegensatz zu den bisherigen epistulae der an Toranius gerichtete Prosateil keine direkten poetologischen Aussagen enthält; erst durch das Epigramm werden solche Reflexionen vermittelt224. Zuerst preist Martial seinen Freund Avitus, der offensichtlich wie er selbst ein Dichter ist225. Die Anrede sublimi pectore vates (1) lässt vermuten, dass es sich bei ihm um den Vertreter einer erhabeneren
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Widmungsträger fungiert: Toranius oder Avitus? Letzterer scheint die für die Vorrede wichtigere Person zu sein, doch ihm wird genaugenommen nur das epigramma extra ordinem paginarum und nicht der gesamte liber gewidmet, vgl. Henriksén (1998/99), 1, 48f. Da niemandem von beiden das Buch explizit gewidmet wird, erscheint der in 9,1 gewürdigte Kaiser als die eigentlich wichtige Person, vgl. Nauta (2002), 115. Neben Büsten wurden auch Gemälde von Schriftstellern in Bibliotheken aufgestellt, vgl. Henriksén (1998/99), 1, 52f. mit dem Hinweis auf Plin. Epist. 4,28,1; Mart. 7,84,1f.; Iuv. 2,4ff; vgl. Lausberg (1982), 245f.; Julhe (2010), 80ff. Vgl. Johannsen (2006), 99f.; Fitzgerald (2007), 151. White (1974), 58; vgl. Henriksén (1998/99), 1, 47-50; Nauta (2002), 115 gesteht zwar zu, dass das Epigramm der Vorrede zur Eineitung eines publizierten Buches geeignet sei, sieht darin insgesamt aber doch „an occasional text“. Hier v.a. Lorenz (2002), 188ff.; Johannsen (2006), 98-106; Julhe (2010). Zum Einleitungs-Charakter des Gedichts vgl. Lorenz (2003a), 571. Fitzgerald (2007), 151f. weist auf die wechselseitige Ehrung hin, welche die beiden Dichter einander erweisen: Avitus ehrt Martial durch ein Bildnis in seiner Bibliothek, Martial preist Avitus durch die Nennung seines Namens im Buch; er errichte sozusagen „a statue of Avitus in his own virtual library“ (152), und demnach könne auch hoc carmen (3) sowohl nur die Bildunterschrift für Martials Büste als auch das gesamte Epigramm bezeichnen, das zur Verbreitung von Avitus‘ Ruhm als Dichter beitragen soll.
Gattung, z.B. der Epik, handelt, wie etwa Henriksén vorschlägt 226. Denkbar wäre jedoch auch, dass Avitus Verfasser lyrischer Poesie ist, denn die Anrede als sublimi pectore vates und Martials Aussage, Avitus würde ihn den Bildnissen berühmter Männer hinzufügen (4: quam non obscuris iungis…viris), greift zwei Elemente aus dem Ende der ersten Horaz-Ode auf, wo der Dichter seinem Adressaten Maecenas verkündet (1,1,35f.): quod si me lyricis vatibus inseres, / sublimi feriam sidera vertice227. Das abstrakte Bild bei Horaz würde dann von Martial konkretisiert und auf die zeitgenössische Praxis, Dichterporträts in Bibliotheken aufzustellen228, bezogen. Auch in anderen Gedichten innerhalb des Korpus bittet Martial verschiedene Freunde und Gönner um die Aufnahme seiner Bücher in deren Bibliotheken229. Mit der Erwähnung der non obscuri viri knüpft Martial zudem an seine bereits in 1 praef. und 8 praef. angewandte Strategie an, sich in eine Reihe literarischer Vorgänger einzuordnen. Das Epigramm im Epigramm schließlich beinhaltet neben der Selbstrühmung des Dichters und seiner Popularität230 eine Fortführung der Auseinandersetzung mit großen Gattungen, von denen sich Martial nachdrücklich abgrenzt231. Die Vorrede zu Buch 9 greift in mehreren Punkten auf die dichtungskritischen Aussagen des achten Buches zurück 232, daneben scheint jedoch auch die praefatio zu Buch 2 eine wichtige Rolle zu spielen, wie von Nina Johannsen m.E. plausibel dargelegt wurde. Das zentrale Thema ist dort die Selbständigkeit der Epigramme und das damit verbundene Infragestellen des Gebrauchs von Prosavorreden. Die epistula zu Buch 9 umfasst nun, wie gesehen, einen besonders kurzen und für den allgemeinen Leser wenig informativen Prosateil. Die wichtigen metapoetischen Aussagen begegnen erst im Epigramm. Es scheint daher, als würde Martial die in 2 praef. explizit formulierte Feststellung, dass Epigramme für sich selbst sprechen können (2 praef. 6-8, epigrammata curione non egent et contenta sunt sua, id est mala, lingua: in quacumque pagina visum est, epistolam
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Vgl. Henriksén (1998/99), 1, 51 u. 53. „Wenn du mich den lyrischen Sängern hinzufügst, werde ich mit erhabenem Haupt die Sterne berühren.“ S. S. 50 Anm. 220. Vgl. 5,5; 7,17. Damit erinnert das Gedicht sehr stark an 1,1, das man sich ebenfalls als Bildunterschrift zu einem Autorporträt vorstellen könnte, vgl. Crusius (1889), 455; Citroni (1975), 14f. ad 1,1. Zudem ähnelt Martials Selbstrühmung in 9 praef. ep. 5-8 stark der von Howell (1980), 101f. für 1,1 als Prätext vermuteten Ovid-Elegie Trist. 4,10, 1f.: Ille ego, qui fuerim tenerorum lusor amorum,/ quem legis, ut noris, accipe posteritas; vgl. auch Mart. 9,29,2; 10,53,1. Vgl. Henriksén (1998/99), 1, 55 mit dem Hinweis auf die antithetischen Paare maiores/mihi, maiora/parva, sonent/locuto. Es geht dort wiederholt um die Gegenüberstellung von erhabener Poesie und Epigrammatik, vgl. Lorenz (2002), 190.
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faciunt) nun implizit bestätigen und die Verwendung einer Einleitung in Prosa auf formaler Ebene unterlaufen233. Die praefatio zu Buch 9 ist offensichtlich bewusst so gestaltet, dass der Leser nur schwer einen Bezug zum Inhalt des liber nonus herstellen kann, und daher haben auch mehrere Gelehrte eine Verknüpfung zwischen „Paratext“ und „eigentlichem“ Text bestritten234. Bei genauerem Hinsehen jedoch treten solche Verbindungen durchaus zutage, und insbesondere die in der Vorrede erwähnte imago Martials scheint mir eine das neunte Buch durchziehende Motivreihe einzuleiten. Es fällt zunächst einmal auf, dass Martial im Vergleich zu anderen Büchern den Begriff imago im liber nonus besonders häufig verwendet235. Zudem enthält das Buch zahlreiche Epigramme auf Bildnisse und Statuen, die offenbar eine wichtige Rolle für die thematische Strukturierung des liber spielen236. In seiner Analyse der praefatio hat Julhe237 kürzlich überzeugend dargelegt, dass die Vorrede mit der dort beschriebenen imago Martials bewusst an den Beginn des Buches gesetzt ist und insbesondere der Selbststilisierung des Epigrammatikers zu einem „Klassiker“ dient: Zunächst rufe der Begriff imago die einzigartige Ehrung eines Schriftstellers in Erinnerung, wie sie vor Martial zu Lebzeiten nur Varro widerfahren ist, der laut Plinius dem Älteren durch ein Bildnis im Atrium Libertatis geehrt wurde238; da somit in der Regel nur Bildnisse von verstorbenen und kanonischen Autoren in einer antiken Bibliothek aufgestellt wurden, inszeniere Martial hier sozusagen seine Konsekration als Epigrammatiker. Indem er am Anfang des liber nonus sein eigenes Bildnis thematisiere, spiele er außerdem auf den Brauch an, antiken Werkausgaben ein Autorenporträt mit einer Bildunterschrift voranzustellen 239. Unabhängig davon, ob Avitus seinen Freund tatsächlich durch eine imago in seiner Bibliothek ehrte, sollte deutlich geworden sein, dass die zentrale 233 234 235
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Johannsen (2006), 104ff. Zu 2 praef. s. ausführlicher Kap. 3.3.2. Vgl. White (1974), 58; Johannsen (2006), 99 u. 103. Der Begriff fällt insgesamt sechs Mal: 9 praef. 3; ep. 3; 9,24,1; 47,2; 74,3; 76,10; vgl. dagegen 1,70,6; 2,66,8; 90,6; 4,53,7; 5,20,7; 6,13,3; 27,3; 39,9; 7,84,1; 11,102,8; 13,30,1. Vgl. Fearnley (1998), 213; Lorenz (2002), 208 und insbesondere (2003a); zur Struktur des neunten Buches vgl. auch Garthwaite (1993). Julhe (2010). Plin. Nat. 7,115: M. Varronis in bibliotheca…unius viventis posita imago est. In Nat. 35,911 berichtet Plinius über den in seiner Zeit beliebten Brauch, Bildnisse von Literaten in Bibliotheken aufzustellen mit dem Ziel scire…qualis fuerit aliquis (10). Als weiteren Beweis für die Liebe der Römer zu Porträts berühmter Personen führt Plinius außerdem die Imagines des Varro an: imaginum amorem flagrasse quondam testes sunt…M. Varro benignissimo invento insertis voluminum suorum fecunditati etiam septingentorum inlustrium aliquo modo imaginibus („Dafür, dass die Liebe zu bildlichen Darstellungen einmal besonders stark war, sind Zeugen…M. Varro mit seiner äußerst wohltätigen Erfindung, der Fülle seiner Buchrollen sogar verschiedene Bilder von siebenhundert berühmten Personen hinzugefügt zu haben…“). Julhe (2010), 95ff.
Persönlichkeit in 9 praef. Martial selbst ist, der hier unter Rekurs auf die bildende Kunst über seinen Status als Dichter reflektiert.
2.3
Resümee
Die Analyse der Autorenkataloge dürfte gezeigt haben, dass Martials literaturgeschichtliche Informationen zu einzelnen Autoren mit höchster Vorsicht zu genießen sind. Die Darstellung der verschiedenen Dichter und Prosaiker sowie die Kriterien, nach denen sie von Martial beurteilt werden, unterliegen den Gesetzmäßigkeiten epigrammatischer Poesie und sind eng in die innere Dynamik des Buches eingebunden. Mehrmals spielt Martial auf diverse Aussagen und Positionen, die uns in der antiken Literaturkritik und -theorie begegnen, an und beteiligt sich scherzhaft an den Diskussionen der viri docti. Dies dürfte primär auf die Unterhaltung und Belustigung eines rhetorisch gebildeten Leserkreises abzielen, daneben jedoch auch das Ziel verfolgen, die von Martial betriebene Form der Poesie im Feld der bereits kanonisierten Gattungen zu definieren und zu etablieren. Auch wenn wir Martials Epigrammen natürlich nicht unreflektiert als Zeugnissen für Leben und Werk verschiedener Autoren Glauben schenken werden, so sind doch mehrere Aspekte literaturgeschichtlichen Interesses von Seiten des Dichters erkennbar, wie sich auch im Verlauf der weiteren Arbeit zeigen wird: Wiederholt setzt sich Martial explizit oder implizit zu anderen Literaten in Bezug und stellt darüber hinaus auch Reflexionen über deren Verhältnis zueinander an. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit biographischen Details, Fragen der Werkchronologie (vgl. 1,61; 14,187, 189, 193, 195) und Autorschaft, die Kanonisierung bevorzugter Schriftsteller und Gattungen und in diesem Zusammenhang das Hervorheben von für literarische Aktivitäten besonders günstigen Epochen. Dies alles erfolgt natürlich entsprechend den Gattungsgesetzen der Epigrammatik, und deshalb soll nun im Folgenden besonders Martials Auseinandersetzung mit der epigrammatischen Tradition im Zentrum stehen.
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Die epigrammatische Tradition
3.1
Die Rolle Catulls
Martials Verhältnis zu Catull wurde von der Forschung bislang am meisten Aufmerksamkeit geschenkt, was angesichts der Häufigkeit der Erwähnungen1 und der wichtigen Funktion als Vorbild, die der Epigrammatiker dem älteren Dichter mehrmals zuschreibt, nicht verwundert 2. Die meisten Studien beschränken sich dabei jedoch auf Stellenvergleiche, ohne weiterführende Gedanken über die zahlreichen intertextuellen Bezüge zwischen Martial und seinem Vorgänger sowie deren Implikationen anzustellen3. Erst in jüngerer Zeit haben einige Forscher begonnen, aus dem Umgang des flavischen Epigrammatikers mit seinem Prätext Schlüsse auf das unterschiedliche Gattungsverständnis der beiden Dichter zu ziehen. William Fitzgerald zeigt etwa anhand mehrerer Beispiele, wie Martial verschiedene in Catulls Gedichten beschriebene Szenen, Stimmungen und Handlungen in einen banaleren Kontext verlagert und dabei immer wieder die Divergenzen zwischen seiner Poesie und jener Catulls verdeutlicht 4. Sven Lorenz zeichnet nach, wie Martial die obszöne Sprache des Neoterikers nicht nur imitiert, sondern dieses Element noch verstärkt und als eines der wichtigsten Charakteristika epigrammatischer Dichtung präsentiert5. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es nicht, eine umfassende Analyse des Einflusses, den der Neoteriker auf den kaiserzeitlichen Dichter ausgeübt hat, anhand einer Betrachtung sämtlicher relevanter Passagen zu liefern. Vielmehr soll
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1 praef. 4; 1,7,3f.; 61,1; 109,1; 2,71,3; 4,14,13f.; 5,5,6; 6,34,7; 7,14,3; 99,7; 8,73,8; 10,78,16; 103,5; 11,6,16; 12,44,5; 59,3; 83,4(?); 14,77; 100; 152; 195. Die erste umfassende Studie zu Martial und Catull lieferte Paukstadt (1876); seine Beobachtungen wurden in der Folgezeit von mehreren Forschern ergänzt und erweitert, vgl. Schulze (1887); zur Buchstruktur Barwick (1958) und Beck (1996); zur Metrik vgl. Ferguson (1970); weitere Vergleiche der beiden Dichter und einzelner Passagen finden sich bei Ferguson (1963); Németh (1974); Offermann (1980) und (1986); Sullivan (1991), 93-100; Grewing (1996); Obermayer (1998), 66-69; Fedeli (2004); zur Rezeption Catulls bei Martial und späteren Dichtern vgl. Swann (1994) und (1998); Gaisser (1993) und (2007); Summers (2001); Watson/Watson (2003), 34ff.; Fitzgerald (2007), 167-186; Mattiacci/Perruccio (2007), 162-195; Mindt (im Druck); zu Catulls Einfluss auf Martials Kompositionstechnik vgl. Fain (2008), 139-194; einen Forschungsüberblick bietet Lorenz (2003b), 253-255 und (2007), 435. Watson/Watson (2003), 36 weisen auf das Desiderat einer detaillierten Studie zur Intertextualität zwischen Martial und Catull und zu den subtilen und kreativen Strategien hin, mit denen der jüngere Dichter den Text des älteren in sein Werk einfließen lässt. Fitzgerald (2007), 167-186. Lorenz (2007).
untersucht werden, wie Martial Catull zu einem epigrammatischen Vorgänger macht, welche Aspekte in Catulls Poesie ihn besonders interessieren und wie der Catull, den der flavische Autor uns präsentiert, sich zum literarischen Selbstverständnis, das der Neoteriker selbst in seinen carmina an den Tag legt, verhält. Der Eindruck, den wir von Catull hätten, wenn uns nur die Aussagen Martials über ihn vorlägen, würde wohl beträchtlich von dem Bild abweichen, das uns Catulls Gedicht-Korpus präsentiert6. Unter den antiken Autoren ist Martial vermutlich zusammen mit Quintilian der erste, der Catull explizit als einen Epigrammatiker bezeichnet7. Den Terminus epigramma verwendet Catull selbst nie im Zusammenhang mit seiner Poesie, auch wenn ihn die hellenistische Epigrammatik stark beeinflusst hat8. Anders als bei Martial finden wir in seinem Werk die Gattungsbegriffe iambi und hendecasyllabi9; dass für den Neoteriker Gedichte in diesen Metren offenbar nicht in dieselbe Kategorie gehörten wie elegische Distichen, liegt durch die formale Trennung der Polymetra (c. 1-60) und der im elegischen Versmaß verfassten Texte (c. 69-116) in seiner Sammlung nahe10. Quintilian bezieht sich an jener Stelle, an der er Catull unter den Epigrammatikern nennt (Inst. 1,5,20), auf dessen carmen 84, ein Gedicht im elegischen Distichon. Vor diesem Hintergrund ist es besonders auffällig, dass Martials Eröffnungsgedicht, in dem er sein Opus als epigrammaton libelli (1,1,3) bezeichnet, im Hendekasyllabus steht und dass kurz nach der Charakterisierung Catulls als Epigrammatiker in der Prosavorrede sein Name erneut in einem Epigramm fällt, das in diesem Versmaß komponiert ist (1,7)11. Martial nimmt offenbar eine metrische Erweiterung des Epi6 7
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Zu dieser Schlussfolgerung gelangt Swann (1998), 48f.; vgl. Mindt (im Druck). Zum Katalog epigrammatischer Vorgänger in 1 praef. s. Kap. 2.1; vgl. 2,71; 7,99. Eine Sammlung antiker Testimonien zu Catull liefert Wiseman (1985), 246-262. Quintilian bezieht sich in Inst. 1,5,20 auf Catul. c. 84: Erupit brevi tempore nimius usus, ut ʽchoronaeʼ, ‘chenturiones’, ʽpraechones’ adhuc quibusdam in inscriptionibus maneant, qua de re Catulli nobile epigramma est („Für kurze Zeit artete der übertriebene Sprachgebrauch aus, so dass chorona, chenturio und praecho immer noch in manchen Inschriften erhalten ist; darüber handelt ein berühmtes Epigramm Catulls“). Zur Stelle vgl. Colson (1924), 58 sowie zur Datierung des ersten Buches zwischen 86 und 95 n.Chr. ders., xvi-xvii; vgl. Holzberg (2002a), 44f. Vgl. Fuhrer (1994); Holzberg (2000), 30-32 und (2002a), 45; Hutchinson (2003); Johannsen (2006), 68 mit Anm. 28; Lorenz (2007), 430. Zu iambi vgl. c. 36,5; 40,2; 54,6; Frg. 3,1; zu hendecasyllabi c. 12,10; 42,1. Außerdem finden sich bei Catull allgemeinere Begriffe wie nugae (c. 1,3), ineptiae (c. 14b,1), versiculi (c. 16,3;6), ludere (c. 50,2) und poema (c. 50,16); vgl. Swann (1994), 47-63; Puelma (1996), 135 mit Anm. 44. Zur problematischen Frage der Publikation von Catulls Gedichtkorpus vgl. Reitzenstein (1907), 110f.; Gaisser (1993), 9; Jocelyn (1999); Holzberg (2002a), 39ff.; Fain (2008), 60. Auch in 1,109,1 fällt Catulls Name innerhalb eines Gedichts im Hendekasyllabus, und in 1,61, einem Epigramm im jambischen Metrum (s. Kap. 2.1.2), wird er als doctus vates (1) genannt und es wird auf die von ihm verfassten syllabae hingewiesen – mög-
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gramm-Begriffs vor, wenn er neben den elegischen Gedichten auch auf diejenigen den Terminus epigramma bezieht, die in Catulls Polymetra als iambi oder hendecasyllabi bezeichnet wurden. Soweit wir das heute beurteilen können, handelt es sich hierbei um eine Innovation Martials, doch leider wissen wir nicht, ob in dichtungstheoretischen Aussagen anderer Autoren vor Martial, etwa bei Marsus, Pedo und Gaetulicus, die Polymetra Catulls in ähnlicher Weise zur Kategorie der epigrammata gezählt wurden12; war dies nicht der Fall, dann dürfte Martials Präsentation Catulls im liber I umso mehr darauf abzielen, den Leser zu überraschen und mit etwas Neuem zu konfrontieren. Da uns die weiteren von Martial genannten Referenzautoren gar nicht mehr oder höchstens in Bruchstücken erhalten sind, müssen wir Martials Selbstverortung in der Gattungstradition durch den Vergleich mit Catull rekonstruieren. Es wird daher in weiterer Folge zu klären sein, an welchen Passagen in seinem Werk Martial sich explizit oder implizit mit seinem Vorbild auseinandersetzt und wie er dabei mit den Erwartungshaltungen seiner Leser spielt. Nach der direkten Erwähnung Catulls als Vorbild in der praefatio ist auch das erste „reguläre“ Epigramm der Gedichtsammlung aufschlussreich für Martials Umgang mit seinem Vorgänger (1,1): Hic est quem legis ille, quem requiris, toto notus in orbe Martialis argutis epigrammaton libellis: cui, lector studiose, quod dedisti
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licherweise eine Anspielung auf Catulls Gedichte im Hendekasyllabus: vgl. Howell (1980), 251 ad loc. mit dem Hinweis auf Mart. 10,9,1 undenis pedibusque syllabisque; anders Citroni (1975), 202 ad loc. Von den überlieferten Fragmenten des Domitius Marsus enthält keines einen expliziten Hinweis auf Catull; möglicherweise setzte er sich mit urbanitas in Catulls Poesie im Rahmen seiner Abhandlung De urbanitate auseinander, von der Quintilian (Inst. 6,3,102-12) berichtet; vgl. Ramage (1959); Howell (1980), 99; Fogazza (1981); Courtney (1993), 300-305; Hollis (2007), 300-313. Albinovanus Pedo wird nur von Martial zu den Epigrammatikern gezählt, während die übrigen uns erhaltenen Testimonien von seinen epischen Produkten berichten; so spricht ihn Ovid in Pont. 4,10 als Verfasser einer Theseis an, und von seinem Epos über die Expedition des Germanicus zur Nordsee 16 n.Chr. (vgl. Sen. Suas. 1,15; Tac. Ann. 2,23-24) ist ein 23 Verse umfassendes Fragment erhalten; vgl. Howell (1980), 99; Courtney (1993), 315-319; Hollis (2007), 372-381. Bei dem von Martial in 1 praef. als Vorgänger genannten Gaetulicus dürfte es sich um den von Caligula 39 n.Chr. exekutierten Konsul des Jahres 26 n.Chr. handeln (vgl. D.C. 59,22,5; Suet. Claud. 9); neben Martial berichten auch Plinius (Epist. 5,3,5) und Sidonius Apollinaris (Epist. 2,10,6; Carm. 9,259) von seinen erotischen Gedichten; zudem sind von ihm drei Hexameter de Britannis erhalten; er könnte identisch sein mit dem gleichnamigen Verfasser griechischer Epigramme in der Anthologia Graeca (AP 5,17; 6,154; 190; 331; 7,71; 244; 245[?]; 275; 354; 11,409); Beckby (1957-58) geht von der Existenz zweier Gaetulici aus und schreibt AP 11,409 dem jüngeren der beiden zu (er datiert ihn um 75 n.Chr.); kritisch äußert sich dazu Howell (1980), 99f.; vgl. Page (1981), 49-60; Courtney (1993), 345f.; Nisbet (2003), 197ff.
viventi decus atque sentienti rari post cineres habent poetae. Hier ist er, den du liest, nach dem du fragst: der auf der ganzen Welt bekannte Martial mit seinen witzigen Epigrammbüchlein. Ihm hast du, eifriger Leser, während er noch lebte und es wahrnahm, eine Ehre erwiesen, die wenige Dichter nach ihrem Tod erhalten.
Martial stellt sich einerseits durch die Wahl des Metrums von 1,1 in die Tradition der Polymetra, seine Sprechhaltung erweist sich jedoch andererseits als denkbar verschieden von jener Catulls in dessen Eröffnungsgedicht. Verbale Konnektoren können beim Rezipienten die Aufmerksamkeit auf c. 1 als Prätext lenken – Martials cui…dedisti (4) greift cui dono (c. 1,1) auf13 –, doch während der Neoteriker seinen libellus dem Freund Cornelius Nepos widmet, kehrt Martial die Situation um und ist selbst Empfänger der Gunst eines allgemeinen lector, der den Ruhm des Dichters schon zu Lebzeiten (5) ermöglicht. Am Ende von c. 1 hofft Catull auf das Weiterleben seines an Nepos dedizierten Büchleins: quod…plus uno maneat perenne saeclo (9f.). Dagegen behauptet Martial über den ihm vom Leser gewährten Ruhm: quod dedisti / viventi decus atque sentienti / rari post cineres habent poetae (4-6). Der bei Catull in die Zukunft gerichtete Wunsch erscheint bei Martial als eine bereits in der Gegenwart verwirklichte Tatsache. Damit präsentiert er sich als den rari poetae überlegen, die erst nach ihrem Tod berühmt geworden sind, und zu ihrer Gruppe gehört für ihn vermutlich auch Catull selbst14. Diese von Selbstvertrauen geprägte Pose Martials dürfte den Leser, der in der praefatio gerade noch von der wichtigen Rolle Catulls erfahren hatte, zum Schmunzeln angeregt haben, nicht zuletzt deshalb, weil man von einem Einleitungsgedicht bestimmte proömiale Motive (Nennung des Widmungsträgers, Bescheidenheitstopik usw.) erwartet, die Martial hier aber gerade nicht einbaut. Wenn Martial in diesem Rahmen auch den Prätext Catulls konterkariert, wird der Überraschungs- und Unterhaltungseffekt noch zusätzlich gesteigert. Wie für den modernen Rezipienten, so gestaltete sich die Zuweisung von Catulls Gedichten zu einer bestimmten Gattung offenbar auch in der Antike als schwierig15. Quintilian rechnet ihn neben den Epigrammatikern auch zu den Jambikern16, zuvor wird er von den augusteischen Elegikern dagegen mehrmals als ihr Vorgänger auf dem Gebiet der Liebespoesie
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Gaisser (1993), 201. Neben der Bedeutung „wenig, vereinzelt, dünn gesät“ kann das Adjektiv rarus auch die besondere Qualität einer Person oder Sache im Sinne von „exquisit, erlesen“ bezeichnen und würde somit dem literarischen Selbstverständnis der Kallimacheer und Neoteriker Rechnung tragen; vgl. OLD, 1575 s.v. 6. Vgl. Puelma (1996), 137f. Quint. Inst. 10,1,96; vgl. Plin. Nat. 36,48; Tac. Ann. 4,34,8; Suet. Jul. 73; weitere Stellen bei Wiseman (1985), 252ff.; s. Kap. 6.2.
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erwähnt17, und auch Martial assoziiert Catull sowohl mit der epigrammatischen als auch der weiteren erotischen Tradition18. Plinius der Jüngere wiederum bietet für die Betitelung seiner nach neoterischem Muster verfassten hendecasyllabi eine ganze Reihe von alternativen Möglichkeiten an19. Ohne den Versuch einer bestimmten Zuordnung rechnet Velleius Paterculus Catull zu den großen Dichtern, die in der Epoche Ciceros und Augustusʼ gewirkt haben20. In Anbetracht der diversen literarischen Zeugnisse liegt es daher nahe zu vermuten, dass Martial im Rahmen seiner Bestrebungen, die Epigrammatik als kanonische Gattung zu etablieren, den Neoteriker gezielt als ein Modell konstruiert, dem er in vielerlei Hinsicht folgt21, mit dessen Poesie er jedoch auch auf unterschiedliche Weise spielt, wenn er sie immer wieder als Referenztext in seinen Epigrammen auftauchen lässt; dies dient wohl nicht zuletzt zur Selbstdarstellung des jüngeren Dichters innerhalb einer teilweise existenten, teilweise von ihm rückwirkend erschaffenen Gattungstradition. Bereits vor der ersten expliziten Nennung Catulls finden sich in der Prosaepistel zu Buch 1 mehrere indirekte Anspielungen auf sein Werk. So steht bei Martial der ohnehin schon an neoterischen Sprachgebrauch erinnernde Begriff libellus an fünfter Stelle im ersten Satz, wie es auch in Catulls Widmungsgedicht der Fall ist22. Martials apologia für die obszöne Sprache
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Prop. 2,25,3-4; 34b,87; Ov. Am. 3,9,62; Trist. 2,427; vgl. Plin. Epist. 1,16,5; 4,27,4; Wiseman (1985), 247ff.; zum Einfluss Catulls auf die augusteische Dichtung vgl. Stroh (1983); Gaisser (1993), 6f.; Döpp (2005). Vgl. insbesondere 8,73 (s. Kap. 4.2). Plin. Epist. 4,14,8-9: unum illud praedicendum videtur, cogitare me has meas nugas ita inscribere 'hendecasyllabi', qui titulus sola metri lege constringitur. proinde, sive epigrammata sive idyllia sive eclogas sive, ut multi, poematia seu quod aliud vocare malueris, licebit voces; ego tantum hendecasyllabos praesto. („Diese eine Sache muss ich, wie mir scheint, vorausschicken: Ich gedenke, diese meine Spielereien als ‚Hendekasyllabi‘ zu bezeichnen; dieser Titel wird einzig durch das Versmaß festgelegt. Ebenso darfst du, wenn du sie lieber Epigramme, Idyllia, Eklogen, oder, wie es viele tun, Gedichtlein oder irgendwie anders nennen willst, so nennen. Ich biete nur Hendekasyllabi an.“); zu Plinius und Catull vgl. Hershkowitz (1995); Roller (1998); Auhagen (2003); Mattiacci/Perruccio (2007), 195-218; Marchesi (2008), 53-96. Vell. 2,36: …neque ullo in suscepto carminis sui opere minorem Catullum; bereits Cornelius Nepos erwähnt Catull, ohne ihn einer bestimmten Gattung zuzuordnen, neben Lukrez und Lucius Iulius Calidus (Att. 12,4). Dies v.a. in der Wahl der Metren – nach dem elegischen Distichon ist der Hendekasyllabus und dann der Hinkjambus das häufigste Versmaß – sowie in der Sprechhaltung der Dichter-persona, im Gebrauch obszöner Sprache, möglicherweise auch im Umfang längerer Gedichte, im Vokabular zur Bezeichnung der eigenen Poesie (nugae, lusus, ioci, sal, libelli), im Stil (cumulatio und repetitio) und natürlich in den Inhalten der Gedichte; vgl. Sullivan (1991), 95ff.; Watson/Watson (2003), 35f.; Lorenz (2007), 418f. Lorenz (2007), 421: Spero me secutum in libellis meis (Mart. 1 praef. 1) bzw. Cui dono lepidum novum libellum (Catul. c. 1,1).
lehnt sich ebenfalls stark an Catull an (c. 16)23, wobei der jüngere Dichter seine Rechtfertigungsstrategie um die Assoziation seiner Poesie mit Anlässen aus der Erfahrungswelt der Zeitgenossen – Floralienfest, Mimusspiel und Triumphfeiern – erweitert24. Die Erwähnung des Cato Uticensis in Martials Prosaepistel greift vermutlich nicht nur die von Valerius Maximus erzählte Anekdote von Catos Theaterbesuch (Val. Max. 2,10,8)25 auf, sondern dürfte auch ein Gedicht aus Catulls Polymetra evozieren. In dem obszönen carmen 56 – Catull hat den Liebhaber seiner puella beim Sexualakt ertappt und ihn daraufhin seinerseits penetriert – wendet sich der Sprecher ebenfalls an einen Cato, über dessen Identität viel gerätselt wurde und in dem mehrere Forscher den sittenstrengen Cato Uticensis zu erkennen glauben26. Welcher Cato auch immer bei Catull als Adressat intendiert sein mag, es ist denkbar, dass Martial als späterer Leser hinter dem Angesprochenem den berühmten Stoiker vermutete27. Auf die res ridicula et iocosa (1; 4), von der Catull seinem Gesprächspartner berichtet und die dessen Gelächter (2: dignam…cachinno; 3: ride) erregen soll, spielt Martial vielleicht in dem Hinweis an seinen Cato auf die Feierlichkeiten der Flora iocosa (1 praef. 18) an. Damit würde er lectores severi implizit dazu auffordern, über Inhalte, wie sie Catulls c. 56 liefert, ebenfalls zu lachen28. 23
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Vgl. insbesondere Mart. 1,4,8 lasciva est nobis pagina, vita proba mit Catul. c. 16,5f. nam castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est. Ähnlich argumentieren auch Ovid Trist. 2,353-354; Plin. Epist. 4,14,5.; Hadr. Frg. 2. Triumphe spielen z.B. in 1,4 und 7,8 eine wichtige Rolle im poetologischen Zusammenhang. Für reichen Diskussionsstoff sorgte Wisemans (1985: 184ff.) These, Catull kündige in c. 116 einen Wechsel zur Gattung des Mimus an und sei zudem mit dem in kaiserzeitlichen und späteren Quellen erwähnten Mimographen namens Catullus identisch; seine Theorie wurde von den meisten Rezensenten als allzu spekulativ verworfen, vgl. etwa Fowler (1986), Syndikus (1987), Townend (1987) und Zetzel (1988) sowie Holzberg (2002a), 207ff. Ein derartiger von Catull intendierter Gattungswechsel wäre in der Tat zu schön, um wahr zu sein; hätte Wiseman recht, dann würde Martials Vergleich von Epigrammatik und Mimus am Anfang seines Korpus einen weiteren Anknüpfungspunkt an den Neoteriker bilden in dem Sinne, dass Martial innerhalb seiner Epigrammatik nun das realisiert, was Catull in c. 116 als literarisches Vorhaben in Aussicht stellt. Vgl. Citroni (1975), 11 und Howell (1980), 100 ad loc.; Johannsen (2006), 70 Anm. 35. Buchheit (1961a), 353-356 argumentiert, dass die Pointe in c. 56 stärker wäre, wenn der strenge Cato Uticensis der Angesprochene wäre, und vermutet, dass das Gedicht spätere Verfasser scherzhafter Poesie dazu angeregt habe, sich mit der Figur des sittenstrengen Cato auseinanderszusetzen; vgl. Mart. 9,28,3; 10,20,21; 11,2,1; Plin. Epist. 4,27,4; Petr. 132,15; Phaed. 4,7,21f.; vgl. Scott (1969); Skinner (1982); Lorenz (2007), 423; gegen die Annahme, dass Cato Uticensis angesprochen werde, richten sich Kroll (1968), 100 und Thomson (1997), 339; vgl. Holzberg (2002a), 40; zu Spekulationen über den Gedichtadressaten in der Renaissance vgl. Gaisser (1993), 89. Möglicherweise ist auch lediglich die Namensgleichheit ausschlaggebend, vgl. Lorenz (2007), 423. Catull spielt in c. 56 auf Archilochos, Frg. 168 West an und stellt sich damit in die Tradition des Jambus, vgl. Holzberg (2002a), 46f.; von Cato Uticensis berichtet
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Nach diesen programmatischen Reflexionen zur licentia verborum in der Epigrammatik muss der Leser allerdings einige Zeit darauf warten, bis er tatsächlich mit Obszönitäten konfrontiert wird. Erst in 1,34 ist dies der Fall, denn dort begegnet uns im Schlussvers erstmals das Wort futui (10)29. Nachdem Martial in der Prosaepistel Cato und in 1,4 den Prinzeps in ihrer Eigenschaft als Zensoren angesprochen hatte, präsentiert er sich nun selbst in dieser Rolle, wenn er eine Lesbia wegen ihrer Vorliebe für frivoles Treiben in Anwesenheit von Zuschauern tadelt30. In den abschließenden Versen kommentiert er: numquid dura tibi nimium censura videtur? / deprendi veto te, Lesbia, non futui (9f.)31. Während das strenge Auftreten Martials und seine gespielte moralische Entrüstung in den Versen 1-9 noch einigermaßen glaubwürdig erscheinen, so wird es mit der pointierten Artikulation eines Verbums wie futuere gleich wieder ad absurdum geführt. Schreibt man dem Adjektiv durus (9) zudem eine stilkritische Konnotation zu, in dem Sinne, dass die in den Versen 1-9 vom Dichter verkörperte strengere Moral gleichzeitig die Anwendung eines schwerfälligeren Stils erfordert32, so wird auch dies durch den Gebrauch von futui im nächsten Vers sofort unterminiert. Die Gestalt der freizügigen meretrix Lesbia ist im Zusammenhang mit dem ersten Auftauchen eines obszönen Begriffs sicherlich mit Bedacht als Reminiszenz an Catull gewählt: Ihr offenes unzüchtiges Verhalten (1f.: incustoditis et apertis…liminibus peccas nec tua furta tegis33) spiegelt die poetische Strategie Martials wider, mit der angekündigten lasciva verborum veritas nun nicht mehr zu sparen. Das Gefallen, das Lesbia am spectator ihres frivolen Treibens (3) findet, erinnert an Martials Beschreibung seines idealen Epigrammpublikums, das in der Prosaepistel mit den spectatores der Floralien verglichen wird (1 praef. 14f.). Der Zuschauer in 1,34,3 ist demnach nicht nur eine fiktive Person, die Lesbia beim Geschlechtsverkehr beobachtet, sondern im metapoetischen Sinn auch der Leser, der sozusagen in der Rolle des Voyeurs Martials obszöne Dichtung rezipiert. Während bei Catull Lesbia niemals explizit im Zusammenhang mit Obszönitäten er-
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Martials Zeitgenosse Plutarch, er habe selbst iambi in der Art des Archilochos verfasst (Cat. Mi. 7), vgl. Thomson (1997) ad Catul. c. 56. Dass Martial sich mit Catulls c. 56 kurz nach seinen Reflexionen über das Problem des Personenspotts in 1 praef. 1-5 intertextuell auseinandersetzt, dürfte kein Zufall sein. Vgl. Holzberg (2002b), 109 und (2006c), 52; Lorenz (2002), 24. Das Gedicht ist stark an Ov. Am. 3,14 angelehnt, vgl. Giordano (1996). „Erscheint dir die Zensur etwa allzu hart? Ich verbiete, dass du ertappt, nicht, dass du gefickt wirst.“ Das verbale ἀπροσδόκητον futuere kommt nach Ansicht Bantas (1998), 228 nicht ganz unvermittelt, sondern wird durch die Beschreibung der Situation in den vorausgehenden Versen vorbereitet. Vgl. Banta (1998), 228f.; zu durus als stilkritischer Terminus vgl. OLD, 582 s.v. 7. „Bei unbewachten und offenen…Schwellen treibst du Unzucht und verbirgst deine Liebschaften nicht“.
wähnt wird, „verbessert“ Martial seinen Vorgänger mehr oder weniger und fügt ein gemäß seiner Definition der Epigrammatik wichtiges Element hinzu34, für das er sich im unmittelbar folgenden Gedicht auch gleich wieder rechtfertigt. Durch das Motiv des Voyeurismus berührt sich 1,34 zudem mit Catulls c. 6; dort fordert der Dichter den Adressaten Flavius auf, ihm von seiner Liebsten zu erzählen, behauptet dann aufgrund von Flavius‘ Schweigen, dass dieser irgendeine Prostituierte liebe (4: verum nescio quid febriculosi / scorti diligis35), und führt anschließend das Bett als Zeuge der erotischen Abenteuer des Freundes an (6-11). Die Personenkonstellationen sind bei Martial und Catull jeweils umgekehrt: Während in c. 6 der Dichter seinen Adressaten bittet, von erotischen Dingen zu erzählen, verlangt Martial von seiner Lesbia sittsameres Verhalten. Wie der anonyme spectator in 1,34 ist auch Catull in c. 6 ein Voyeur, und die beiden Gedichte haben außerdem gemeinsam, dass sie jeweils den ersten, noch dazu fast identischen obszönen Begriff innerhalb des Buches enthalten36 – bei Catull sind es die latera ecfututa seines Freundes (13). Die Szenerie und die Haltung des Sprechers in c. 6 bilden einen starken Kontrast zu den beiden an Lesbia gerichteten Kussgedichten c. 5 und 7, und das in c. 6 imaginierte scortum febriculosum des Flavius wirkt auf den Leser zunächst wie das ordinäre Gegenteil von Catulls Geliebter in den rahmenden Gedichten 37. Martials Vergleich seiner Lesbia in 1,34 mit einer meretrix lässt dagegen vermuten, dass er diesen Gegensatz absichtlich wieder aufhebt, ja bei ihm zeigt Lesbia sogar noch weniger pudor als die Damen aus dem Rotlichtmilieu (5-8). Vielleicht deutet der Epigrammatiker damit an, dass seinem poetischen Konzept obszöne Texte wie c. 6 eher entsprechen als Catulls basiaGedichte, die Martial, wie später noch zu zeigen sein wird, ebenfalls auf freche Art und Weise in einen neuen Kontext integriert. Nach Lesbia in 1,34 erinnert auch der in 1,35,3 apostrophierte (fiktive) Kritiker und Leser Cornelius an eine Person aus Catulls Gedichten, natürlich den berühmten Widmungsadressaten in c. 138, und dies umso mehr, als sowohl bei Martial als auch beim Neoteriker der Name im Vokativ an der-
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Die in 1,34 ihr sexuelles Treiben offen zur Schau stellende Lesbia erinnert an jene in Catul. c. 58, die jedoch versteckt agiert: in quadriviis et angiportis glubit magnanimi Remi nepotes (4f.); es ist umstritten, ob das Verbum glubit hier sensu obsceno zu verstehen ist, vgl. Thomson (1997), ad loc.; Holzberg (2002a), 97ff.; vgl. Holzberg (2006b), 151. Unabhängig von der eigentlichen Intention bei Catull ist es denkbar, dass Martial die bei seinem Vorgänger absichtlich zweideutig gehaltene Formulierung vereindeutigt. Eine Lesbia ist auch in mehreren anderen Epigrammen Zielscheibe von Martials Spott, meist in obszönem Kontext: 2,50; 5,68; 6,23; 10,39; 11,62; 99. „Aber du liebst ja irgendeine fieberkranke Hure“. Zur obszönen Sprache und der Rolle Catulls als Voyeur in c. 6 vgl. Holzberg (2002a), 25f. Auf weitere Kontraste weist Holzberg, loc. cit. hin. Vgl. Beck (1996), 268-269; Summers (2001), 148; Lorenz (2007), 427.
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selben Stelle im dritten Vers steht. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass sich gerade eine Figur, bei der wir an Catulls allerersten Rezipienten denken sollen, über Martials Darstellung Lesbias in einem obszönen Kontext beschwert. Das von Martial formulierte Gattungsgesetz – hi libelli…non possunt sine mentula placere (3-5) und lex haec carminibus data est iocosis, / ne possint, nisi pruriant, iuvare (10f.)39 – bildet bekanntermaßen eine Abwandlung der in Catulls c. 16 angekündigten Wirkung, die erotische Poesie auf die Leser ausüben soll40. Der jüngere Dichter geht jedoch in der Rechtfertigung für und Anwendung von obszöner Sprache um einiges weiter als Catull: „Catullusʼ boldness at justifying obscenities in the obscene poem 16 is just the starting point for Martial’s moves – to make the readers wait for obscenities, then give them the verb futuere (ʽfuckʼ), then apologize for that again, but in a poem that contains the obscene word mentula (ʽcockʼ)”.41 Dass Martial gerade diesen Aspekt der Dichtung seines Vorgängers forciert, wird auch dadurch deutlich, wie er mit weiteren Elementen aus Catulls Poesie, insbesondere den passer-Gedichten, umgeht42. Ob der Neoteriker bei seiner Beschreibung von Lesbias Sperling (c. 2 und 3) eine erotische Ambivalenz intendierte, der zufolge man den passer als Phallussymbol zu verstehen hat, ist eine in der Forschung viel diskutierte Frage43. Im Falle Martials lässt sich dies jedenfalls zuversichtlicher behaupten: Als Rezipient Catulls hat er entweder das double entendre als solches erkannt44 oder den passer sogar erst explizit „obszönisiert“. Besonders einschlägig sind in diesem Zusammenhang die Epigramme 7,14 und 11,6. Im ersten der beiden Gedichte erzählt Martial von einem Verlust, den seine puella hinnehmen musste und der schwerer wiege als die Trauer von Catulls Lesbia und Stellas Ianthis45 über das Dahinscheiden eines passer und einer columba: Accidit infandum nostrae scelus, Aule, puellae; amisit lusus deliciasque suas:
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„Diese Büchlein…können ohne Schwanz nicht gefallen…Für scherzhafte Gedichte gilt das Gesetz, dass sie keine Freude machen können, wenn sie nicht geil sind.“ Catul. c. 16,7ff.: qui tum denique habent salem ac leporem, / si sunt molliculi ac parum pudici / et quod pruriat incitare possunt; vgl. Obermayer (1998), 260f.; Lorenz (2007), 427. Holzberg (2006c), 52f. entdeckt in 1,35 zudem Bezüge zu Ovids literaturtheoretischem Exkurs in den Remedia amoris. Lorenz (2007), 427. Geht man davon aus, dass c. 1 als Widmungsgedicht an der Außenseite der Buchrolle gestanden hat, dann wäre passer in 2,1 das erste Wort der Gedichtsammlung und würde somit auch für den Buchtitel stehen, vgl. Holzberg (2002b), 61. Vgl. Giangrande (1976); Gaisser (1993), 236-243; Obermayer (1998), 71-72 mit Anm. 239; Jones (1998); Holzberg (2002b), 61-67; Dyson (2007), 257; Gaisser (2007), 443-445. Vgl. Garthwaite (1978), 72; Hinds (2007), 115; Lorenz (2007), 425. Zu Stella und Ianthis s. Kap. 4.3.1.
non quales teneri ploravit amica Catulli Lesbia, nequitiis passeris orba sui, vel Stellae cantata meo quas flevit Ianthis, cuius in Elysio nigra columba volat: lux mea non capitur nugis neque moribus istis nec dominae pectus talia damna movent: bis senos puerum numerantem perdidit annos, mentula cui nondum sesquipedalis erat. Es widerfuhr ein unsägliches Unglück, Aulus, meinem Mädchen; es verlor sein Spielzeug und Entzücken: Nicht ein solches, wie es die Freundin des zarten Catull beklagte, Lesbia, die der neckischen Streiche ihres Spatzes beraubt worden war, oder wie es die von meinem Stella besungene Ianthis beweinte, deren Taube nun schwarz im Elysium fliegt. Mein Augenstern lässt sich nicht von derartigen Possen oder Liebschaften einnehmen, und nicht bewegt ein solcher Verlust das Herz meiner Herrin. Einen zweimal sechs Jahre46 zählenden Knaben hat sie verloren, dessen Schwanz noch keinen halben Meter lang war.
Der Hinweis darauf, dass es sich im Falle von Martials puella um eine ganz andere Art von deliciae und lusus handle als bei Lesbia und Ianthis (3: non quales; 7: non capitur; 8: nec movent)47, verleitet zunächst eher zu der Annahme, dass wir hinter dem passer und der columba einfache Haustiere vermuten sollen48; die epigrammatische puella würde sich von ihren Vorgängerinnen demnach insofern unterscheiden, als sie sich durch ihre Klage über den Verlust einer überdimensionalen mentula als deutlich lasziver erwiese und so den von Martial immer wieder propagierten Gattungsgesetzen mehr entspräche. Einen unterhaltsamen Effekt bewirkt auch die Art und Weise, wie Martial Lesbias Trauer beschreibt: Im Unterschied zu Catulls flendo turgiduli rubent ocelli (c. 3,18) verwendet er das stärkere und mehr dem umgangssprachlichen Gebrauch entsprechende plorare (3)49. Der jüngere Dichter verlagert Lesbias Reaktion auf den Tod des passer somit in die „niedrige“ Sphäre der Epigrammatik und macht sie zu etwas Banalem. Dagegen ist es bei Martial die Geliebte seines Freundes Stella, deren Trauer über den Verlust der columba mit dem bei Catull verwendeten Begriff flere (5) wiedergegeben wird. Martial bezeichnet seine puella als lux mea (7) und spielt damit möglicherweise auf Catulls Worte für Lesbia in c. 68,132 und 46
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Zu Heinsiusʼ Konjektur senos gegenüber dem von den Handschriften überlieferten denos vgl. Galán Vioque (2002), 127; auch Straton lässt den Katalog begehrenswerter Knaben mit einem Zwölfjährigen beginnen, vgl. AP 12,4; Höschele (2010), 252-254. Damit parodiert Martial die besonders in der hellenistischen Epigrammatik beliebte Klage auf den Tod von Haustieren, vgl. AP 7,202 (Anyte); 203 (Simias); 204 (Agathias); 205 (Agathias); 215 (Anyte); vgl. Ov. Am. 2,6; Galán Vioque (2002), 118 ad loc.; Mattiacci/Perruccio (2007), 165. Ähnlich Gaisser (1993), 240: „The poem itself is obscene, but the references to Lesbia’s sparrow and Ianthis’ dove could be innocent, forming a contrast rather than a parallel with the lost pet of Martial’s girlfriend“. Vgl. Galán Vioque (2002), 122 ad loc.; Mart. 14,77,2.
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160 an50. Da Catull in diesem Gedicht von der Untreue seiner Geliebten berichtet (135f.: quae tamen etsi uno non est contenta Catullo, / rara verecundae furta feremus erae), erscheint es mir denkbar, dass Martial in 7,14 auch in dieser Hinsicht etwas explizit macht, das sein Vorgänger nur andeutet. Die das Epigramm abschließende Hervorhebung der Ausmaße des Phallus und der Gebrauch des auch bei Catull eingesetzten Numeraladjektivs sesquipedalis (10)51 suggerieren rückblickend, dass die wichtigste Pointe des Epigramms in einem Größenvergleich dreier mentulae liegt: Der Verlust, den die epigrammatische puella erleidet, ist gegenüber dem von Lesbia und Ianthis insofern besonders „tragisch“, als die mentula des zwölfjährigen Knaben, wäre er denn am Leben geblieben, noch weiter hätte wachsen können. Somit erscheinen auch die restlichen Stellen, an denen Martial von Catulls passer spricht, doppeldeutig52; so kann der passer auch in 11,6 als Synonym für das membrum virile aufgefasst werden. Das Gedicht spielt in einem symposialen Setting zur Zeit der Saturnalien (1-8) und ist stark an Catull c. 27 angelehnt, besonders im zweiten Teil (9-16): misce dimidios, puer, trientes, quales Pythagoras dabat Neroni, misce, Dindyme, sed frequentiores: possum nil ego sobrius; bibenti succurrent mihi quindecim poetae. da nunc basia, sed Catulliana: quae si tot fuerint quot ille dixit, donabo tibi Passerem Catulli. Mische halb und halb, Knabe, die Becher, wie die, die Pythagoras dem Nero gab, mische sie, Dindymos, doch schneller hintereinander. Nüchtern bin ich zu nichts imstande, doch wenn ich trinke, werden mir fünfzehn Dichter zur Hilfe eilen. Gib mir nun Küsse, doch à la Catull: Wenn es so viele gewesen sind, wie jener gesagt hat, dann werde ich dir Catulls Spatz schenken.
Martials Aufforderung an den Knaben, den Wein zu mischen (9ff.), erinnert an Catulls Minister vetuli puer Falerni, / inger mi calices amariores (c. 27,1f.)53, und der weitere Verlauf des Epigramms zeigt, dass hier auch auf poetischer Ebene einiges zusammengemischt wird. Als Belohnung für basia Catulliana (14) will Martial seinem Knaben Dindymos den Passer Catulli
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Vgl. Galán Vioque (2002), 125 ad loc.; Mattiacci/Perruccio (2007), 166 Anm. 92. Catul. c. 97,5; vgl. Galán Vioque (2002), 128 ad loc.; Fitzgerald (2007), 184: „The extremely rare sesquipedalis occurs in c. 97, a prime example of Catullan Vetulaskoptik…the urbane eroticism of Catullus 2 has been diverted into a branch of Catullus’s poetry that is more to Martial’s taste“; vgl. Lorenz (2007), 425. Vgl. 1,7; 109; 4,14; 11,6; zu 1,7 s. Kap. 4.3.1, S. 162-4; zu 4,14 s. Kap. 7.4, S. 301-4. Vgl. Gaisser (1993), 241.
schenken (16)54 und bringt somit neben c. 27 als Prätext auch c. 2-3, sowie 5 und 7 ins Spiel55. Von Dindymos werden so viele (tot) Küsse gefordert, wie (quot) Catull sie seiner Lesbia abverlangt hat: unzählbar viele (vgl. c. 7,11f.: quae nec pernumerare curiosi / possint)56. Mit der 11,6 eröffnenden Feststellung, zur Zeit der Saturnalien sei versu ludere non laborioso (3) erlaubt, scheint Martial abermals auf c. 1 zu rekurrieren, in dem der Neoteriker seine Poesie mit den cartae laboriosae (6f.) des Cornelius Nepos kontrastiert. Wir dürfen Martials Formulierung daher einerseits als Bekenntnis zu einer Dichtung in der Tradition Catulls verstehen (d.h. versus non laboriosi im Sinne von leichter Poesie)57, andererseits legen die vielen direkten und indirekten Bezüge zum Werk des älteren Dichters und die Transformation einzelner Elemente in neue Zusammenhänge nahe, dass Martial an den Saturnalien auch mit Catulls Versen spielen möchte58. Der Catull, den uns Martial präsentiert, unterscheidet sich, wie bereits gesagt, in mehrfacher Hinsicht von dem poetischen Ich, das uns in der Sammlung des älteren Dichters begegnet. Es scheint, als würde Martial die Poesie seines Vorgängers fehlinterpretieren, doch dieses „misreading“ dürfte als bewusst eingesetzte Strategie zur Unterhaltung der mit dem Werk Catulls vertrauten Rezipienten sowie zur Selbstpositionierung innerhalb einer literarischen Tradition anzusehen sein59. Catulls passer taucht, nachdem er sich in 1,7 Stellas columba geschlagen geben musste60, in 1,109 abermals auf, und beide Gedichte sind offenbar sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihrer Position innerhalb des Buches aufeinander bezogen61. In
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Dass es sich hier nicht nur um einen Sperling im wörtlichen Sinn oder um eine Ausgabe von Catulls Gedichtsammlung mit dem Titel Passer als Geschenk handelt, sondern einen sexuellen Gefallen, liegt vor dem Hintergrund des in diesem Epigramm vorherrschenden Saturnalien-Kontextes nahe, vgl. Kay (1985), 75f. ad loc.; Gaisser (1993), 239; Fitzgerald (2007), 182; Lorenz (2007), 426. Vgl. Fitzgerald (2007), 181f., der zudem auf eine Verbindung zwischen dem Namen des puer delicatus bei Martial und dem in Catulls c. 63 von Attis nach der Selbstentmannung erwähnten heiligen Berg der Kybele verweist (91: dea domina Dindymi): „The passerem Catulli is what anyone called Dindymus might be expected, on the evidence of Catullus 63, to lack (and therefore need?)“. Am Ende des Gedichtes bittet der Sprecher die Göttin, ihren Zorn von ihm fernzuhalten: procul a mea tuos sit furor omnis, era, domo (93), und so scheint es mir denkbar, dass Martials Aufforderung an die pallentes curae, zur Zeit der Saturnalien weit wegzugehen (11,6,6: procul hinc abite), neben c. 27,5 (at vos quo lubet hinc abite, lymphae) auch diese Stelle evozieren soll. Vgl. die von Diadumenos geforderten basia in 6,34,7f.: nolo quot arguto dedit exorata Catullo Lesbia; Grewing (1996); Fitzgerald (2007), 179ff. Vgl. Thomson (2003), 198 ad Catul. c. 1,7: „laboriosis, ‘involving weary work’“. Die Wendung versu non laborioso wäre im ersten Fall als Ablativus modi (wie), im zweiten als reiner instrumentalis (womit) aufzufassen. Vgl. Fitzgerald (2007), 168. Zu 1,7 s. ausführlicher Kap. 4.3.1, S. 162-4. Vgl. Fitzgerald (2007), 185.
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1,109 müssen sich sowohl passer als auch columba dem Vergleich mit einem Schoßhündchen namens Issa stellen: Issa est passere nequior Catulli, Issa est purior osculo columbae, Issa est blandior omnibus puellis, Issa est carior Indicis lapillis, Issa est deliciae catella Publi. hanc tu, si queritur, loqui putabis; sentit tristitiamque gaudiumque. collo nixa cubat capitque somnos, ut suspiria nulla sentiantur; et desiderio coacta ventris gutta pallia non fefellit ulla, sed blando pede suscitat toroque deponi monet et rogat levari. castae tantus inest pudor catellae, ignorat Venerem; nec invenimus dignum tam tenera virum puella. Hanc ne lux rapiat suprema totam, picta Publius exprimit tabella, in qua tam similem videbis Issam, ut sit tam similis sibi nec ipsa. Issam denique pone cum tabella: aut utramque putabis esse veram, aut utramque putabis esse pictam.
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Issa ist neckischer als der Spatz Catulls, Issa ist reiner als der Kuss der Taube, Issa ist sanfter als alle Mädchen, Issa ist kostbarer als indische Edelsteine, Issa ist das entzückende Hündchen des Publius. Wenn sie jault, dann meint man, sie rede; sie fühlt Trauer und Freude. An den Hals gelehnt ruht sie und schläft, ohne dass man ihren Atem spürt. Auch wenn der Drang ihrer Blase sie zwingt, hat sie noch nie mit einem Tropfen die Decke beschmutzt, sondern mit sanfter Pfote weckt sie und mahnt, vom Bett hinab gesetzt zu werden und bittet, wieder aufgehoben zu werden. In dem anständigen Hündchen steckt so viel Schamgefühl, dass es die Liebe nicht kennt. Wir haben auch noch kein Männchen, das eines so zarten Mädchens würdig wäre, gefunden. Damit der letzte Tag sie nicht ganz dahinrafft, hat Publius sie auf einem Gemälde abbilden lassen, auf dem man Issa in solcher Ähnlichkeit sehen kann, dass sie nicht einmal sich selbst so ähnlich ist. Vergleiche nun Issa mit dem Gemälde: Entweder wirst du beide für echt, oder du wirst beide für gemalt halten.
Innerhalb dieses aus drei gedanklichen Abschnitten (1-5; 6-16; 17-23) bestehenden Epigramms auf Issa sind deutliche Anspielungen besonders auf Catull c. 2 und 3 erkennbar, wie es auch in 1,7 der Fall war; Martial übertrifft durch die fünffache Anapher von Issa (1-5) das schon bei seinem Vorgänger eingesetzte Stilmittel der repetitio deutlich (vgl. c. 3,3-4: pas-
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ser…passer)62. Aus dem ambivalenten Spiel Lesbias mit ihrem Sperling in c. 2 und aus den in der epigrammatischen Tradition des Tierepicedions üblicherweise auftretenden Protagonisten ist bei Martial das komisch anmutende, pseudoerotische Verhältnis eines Gönners zu seinem Haustier geworden63. Formal wird der Bezug zu Catull als Modell auch dadurch hergestellt, dass die ersten fünf Verse gerahmt sind von der Assonanz zwischen Catulli (1) und catella (5)64. Das desiderium Catulls – gemeint ist damit Lesbia (c. 2,5) – verwandelt sich in Issas desiderium ventris (10), und die Hoffnung des älteren Dichters, seine Sorgen beim Spiel mit dem passer lindern zu können (c. 2,10: levare curas), finden wir bei Martial als Drängen des Hündchens wieder, vom Bett gehoben und zum Wasserlassen hinaus geführt zu werden (13: rogat levari)65. Lässt Catull zu Beginn von c. 3 Veneres Cupidinesque (1) über den Tod des Sperlings trauern, so ist Issa mit diesen Gottheiten angeblich gar nicht vertraut (15: ignorat Venerem), und diese Behauptung markiert vermutlich zugleich den Übergang von den stärker an Catulls c. 2 orientierten, epideiktischen Teilen des Gedichtes (116) zum letzten Abschnitt, der wie c. 3 die Abwandlung eines Grabepigramms bildet66. Dieser Schlussteil (17-23) thematisiert, anders als bei Catull, nun nicht den mit einer Klage verbundenen Tod des Tieres, sondern dessen Verewigung auf einem Gemälde mit dem Ziel hanc ne lux rapiat suprema totam (17)67. Durch die Reflexionen des Dichters über das Verhältnis zwischen Kunst und Realität wird neben der Tradition des Epitaphs auch diejenige ekphrastischer Epigramme evoziert68. Vor dem Hintergrund der expliziten und impliziten Auseinandersetzung Martials mit Catull in 1,109 verdient diese Gemälde-Ekphrasis eine nähere Betrachtung69: Martial 62
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Repetitio als Stilmittel findet sich auch am Schluss von Martials Epigramm (22f.); vgl. Howell (1980), 333f. ad loc.; Fitzgerald (2007), 184. Vgl. Morelli (2008b), 30 Anm. 24: „Il carattere giocoso del componimento è evidente anche dal fatto che il proprietario della cagnetta è Publius, facοltoso amico dell’ego…non un bimbo o la puella amata, come avviene invece generalmente nell’epicedio ellenistico-romano per graziosi piccoli animali“. Für diesen Hinweis danke ich Regina Höschele. Der Name Catullus klingt außerdem an catulus („Hündchen“) an; zur Etymologie von catulus und catellus vgl. Varro Ling. 9,74: ut est…canis catulus catellus; Maltby (1991), 115 s.v. catulus. Fitzgerald (2007), 185 bringt es auf den Punkt: „The complicated, fluid relations between the desire of Catullus for Lesbia, the desire of Lesbia for Catullus, and the sparrow through which they both play with that desire…have been reduced to the simple urge to pee, managed by good housetraining“. Catulls Gedichte c. 2-5 bilden vermutlich die vier wichtigsten hellenistischen Epigrammtypen, wie sie v.a. den Kranz des Meleager prägten, nach: ἐπιδεικτικά (c. 2), ἐπιτύμβια (c. 3), ἀναθηματικά (c. 4) und ἐρωτικά (c. 5), vgl. Holzberg (2002a), 45 und (2002b), 27. Vielleicht ist auch dies eine Anspielung auf Catul. c. 5,5 cum semel occidit brevis lux. Vgl. Howell (1980), 337f. Schon in dem anfangs gehäuft auftretenden Namen Issa, der umgangssprachlichen Variante des Demonstrativums ipsa, ist ein für ekphrastische Gedichte typischer deik-
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hebt die Ähnlichkeit zwischen Kunstwerk und lebendem Objekt nicht nur inhaltlich, sondern auch auf stilistisch-formaler Ebene hervor, indem er in den Versen 19-20 und v.a. 22-23 beinahe identischen Wortlaut gebraucht. Der Dichter tritt hier in der Rolle des Exegeten auf und integriert auch den Leser in den Betrachtungsprozess (21: pone; vgl. 6: tu…putabis). Vor dem Hintergrund der Reflexionen Martials über den Bezug seiner Poesie zur Realität an mehreren anderen Stellen70 ist es nicht abwegig, dass wir hier nicht nur an die Qualitäten der im Epigramm behandelten bildenden Kunst, sondern auch der Epigrammatik selbst denken sollen71 – immerhin haben wir es bei Issa ja in erster Linie mit einem literarischen Produkt in einem Gedichtbuch zu tun72. Da Martial, wie zuvor angedeutet, innerhalb seines intertextuellen Spiels mit Catull durchaus sein vom Neoteriker verschiedenes Selbstverständnis demonstriert, sollen wir nun möglicherweise auch an dieser Stelle herauslesen, dass seine Epigrammatik – ähnlich wie das Gemälde Issas – sich durch noch stärkere Lebensnähe auszeichnet als die Poesie des Vorgängers. Auf das mit 23 Versen relativ lange Epigramm 73 1,109 folgt eine fingierte Leserreaktion (1,110): Scribere me queris, Velox, epigrammata longa. ipse nil scribis: tu breviora facis. Du beklagst dich, Velox, dass ich lange Epigramme schreibe. Selbst schreibst du nichts: Du machst kürzere.
Das Epigramm 1,109 ist, wie deutlich geworden sein sollte, mit Reminiszenzen an Catull durchdrungen und steht außerdem mit seinem Metrum und einem Umfang von 23 Versen auch formal in der Nachfolge von Catulls Polymetra74; der (fiktive) Kritiker in 1,110 klassifiziert dieses Gedicht
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tischer Gestus enthalten; ipsa/issa bedeutet so viel wie domina und soll vermutlich Catul. c. 3,6-7 suamque norat / ipsam evozieren, vgl. Citroni (1975), 335f. ad loc.; Howell (1980), 335 ad loc. Zum deiktischen Gestus in ekphrastischen Epigrammen vgl. etwa Männlein-Robert (2007a), 253. Vgl. 4,49; 5,53; 8,3,19-20; 9,50; 10,4,8 hoc lege, quod possit dicere vita ‘meum est’; 11,42; 12,61. Der ut pictura poiesis-Diskurs bei Martial wird ausführlicher in Kap. 3.4 und 2.2.3 behandelt. Zu Reflexionen über Kunst und Dichtung in hellenistischen ekphrastischen Epigrammen vgl. Männlein-Robert (2007b), 37-81. Howell (1980), 333 vermutet, dass Martial sich hier auf den Hund eines real existierenden Freundes und Zeitgenossen bezieht, was allerdings wenig wahrscheinlich ist. Zu den verschiedenen antiken epigrammata longa vgl. den Sammelband von Morelli (2008a). Bei Catull ist speziell in den Polymetra eine Gedichtlänge von über 20 Versen keine Seltenheit: c. 4 (27 Verse), c. 10 (34 Verse), c. 11 (24 Verse), c. 14 (23 Verse), c. 17 (26 Verse), c. 22 (21 Verse), c. 23 (27 Verse), c. 29 (24 Verse), c. 34 (24 Verse), c. 36 (20 Verse), c. 37 (20 Verse), c. 39 (21 Verse), c. 42 (24 Verse), c. 44 (21 Verse), c. 45 (26 Verse), c. 50 (21 Verse), c. 55 (22 Verse); vgl. c. 76 (26 Verse); einen statistischen Vergleich der Länge von Epigrammen bei Catull und Martial liefert Morelli (2008b), 22ff.
nun explizit als epigramma, verwendet also einen von Catull nirgendwo gebrauchten Terminus. Mit dem sprechenden Namen Velox75 charakterisiert Martial seinen literarischen Gegner als jemanden, der das Ideal der Kürze in einem derartig übertriebenen Ausmaß befürwortet, dass er dabei selbst überhaupt nichts zu Papier bringt. Die Antwort Martials auf den Vorwurf, die Länge einiger Epigramme sei unangemessen 76, erfolgt nun ebenfalls auf denkbar knappe Art und Weise: Formal erstreckt sich Martials Aussage auf ein einziges Distichon, hinzu kommt noch die stilistische Kürze, mit der der Sprecher die Argumente des Gegners zerschmettert77: Im Hexameter erfährt man vom Vorwurf durch Velox, während in den beiden parallel gebauten Pentameterhälften der Kommentar und die Pointe aus dem Munde des Epigrammatikers verpackt sind. Dadurch entkräftet dieser die vorgebrachte Kritik nicht nur mit einer expliziten Aussage, sondern auch implizit, indem er das von seinem Gegner geforderte Ideal der brevitas im Epigramm 1,110 formal und stilistisch umsetzt. Velox dürfte einen Vertreter jener epigrammtheoretischen Richtung symbolisieren, wie sie etwa in einem Gedicht des Parmenion (vermutlich 1. Jh. v.Chr), eines Autors des Philipp-Kranzes, artikuliert wird (AP 9,342 = 11GP)78. Aus den erhaltenen Texten Parmenions ist ersichtlich, dass seine Epigramme, ganz in Einklang mit der von ihm postulierten ὀλιγοστιχίη, nie einen Umfang von vier Versen übersteigen und sein theoretisch formuliertes Ideal daher mit der praktischen Umsetzung der brevitas in seiner Dichtung einhergeht79. Auffälligerweise folgen bei Martial auf das Rechtfertigungs-Gedicht 1,110 neun weitere Epigramme, die allesamt den Umfang von sieben Versen nicht überschreiten, bevor uns mit dem wie 1,109 in Hendekasyllabi abgefassten Vorschlussgedicht 1,117 wieder ein längeres Epigramm begegnet. Es scheint bei linearer Lektüre fast so, als wollte Martial Leser wie Velox vorübergehend beschwichtigen, indem er eine Sequenz von kürzeren Epigrammen einbaut, nur um dann am Ende des Buches im 75
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Vgl. Lausberg (1982), 44 zur Bedeutung von velox als „kurz“ in der rhetorischen Terminologie; Quint. Inst. 6,3,45 sed acutior est illa atque velocior in urbanitate brevitas. Zu den besonders langen Epigrammen in Buch 1 gehören neben 1,109 etwa 41 (20 Verse), 49 (42 Verse), und 104 (22 Verse). Vgl. Lausberg (1982), 45. Φημὶ πολυστιχίην ἐπιγράμματος οὐ κατὰ Μούσας / εἶναι· μὴ ζητεῖτ‘ ἐν σταδίῳ δόλιχον. / πόλλ‘ ἀνακυκλοῦται δολίχου δρόμος, ἐν σταδίῳ δὲ / ὀξὺς ἐλαυνομένοις πνεύματός ἐστι τόνος („Ich sage, dass die Vielzeiligkeit des Epigramms nicht den Musen entspricht. Sucht nicht im Stadion den Langstreckenlauf; viele Male dreht sich im Kreis die Bahn des Langstreckenlaufs, doch im Stadion haben die Läufer eine schnelle Hebung und Senkung des Atems“). Vgl. Lausberg (1982), 37ff. mit einer umfassenden Interpretation; Howell (1980), 8f. Vgl. Lausberg (1982), 39f.; Grewing (1997), 427. Das im Philipp-Kranz vorherrschende Ideal der Kürze als Charakteristikum für Epigrammatik dürfte von der Gedichtauswahl, die Meleager in seiner Anthologie traf, beeinflusst worden sein, vgl. Sider (2004), 39-40.
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vorletzten, aus 18 Versen bestehenden Gedicht seine potentiellen Kritiker wieder zu provozieren. Dass von den zwischen 1,109 und 1,117 liegenden Epigrammen keines einen Umfang von acht Versen erreicht, geschweige denn überschreitet, ist insofern bemerkenswert, als auch im Philipp-Kranz, der Parmenions programmatisches Gedicht enthält, kein Epigramm bis auf eine Ausnahme länger ist80. Wenn hier auch kein direkter oder offensichtlicher Bezug zu jener griechischen Anthologie hergestellt ist, so scheint es doch naheliegend, dass der im Philipp-Kranz81 geführte 82 epigrammtheoretische Diskurs im Hintergrund von Martials apologetischen Aussagen zu Umfang und Länge seiner poemata steht83. Das Gedichtpaar 1,109-110 impliziert somit, dass Martial sich am Ende seines ersten Buches hinsichtlich der Länge seiner Epigramme von den Forderungen jüngerer griechischer Gattungsvertreter distanziert und deutlich in die von Catull begründete lateinische Tradition stellt 84. An den Erwähnungen des passer wurde bereits Martials Strategie deutlich, den Text seines Vorgängers zu banalisieren bzw. sogar zu parodieren, wenn etwa das Spiel Lesbias mit ihrem Sperling in die lächerlich anmutenden Bemühungen eines Patronus um seinen Schoßhund verwandelt wird. Ähnliches passiert mit Catulls basia-Gedichten, so etwa in 12,59: Tantum dat tibi Roma basiorum post annos modo quindecim reverso, quantum Lesbia non dedit Catullo. te vicinia tota, te pilosus hircoso premit osculo colonus; hinc instat tibi textor, inde fullo, hinc sutor modo pelle basiata, hinc menti dominus periculosi, hinc † dexiocholus †, inde lippus, fellatorque recensque cunnilingus. Iam tanti tibi non fuit redire.
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So viel an Küssen schenkt Rom dir, der du eben nach fünfzehn Jahren zurückgekehrt bist, wie sie Lesbia nicht dem Catull geschenkt hat. Dich bedrängt die ganze Nachbarschaft, dich der haarige Bauer mit nach Bock stinkenden Küssen. Von hier setzt dir ein Weber zu, von dort ein Walker, von hier der Schus-
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Die Ausnahme ist AP 9,26 (Antipater von Thessalonike = 19 GP); Gow/Page (1968), I, XXXVII; Lausberg (1982), 41; Grewing (1997), 427; Morelli (2008b), 20. Zur Annahme einer Publikation des Philippkranzes in der Regierungszeit Caligulas um das Jahr 40 n.Chr. herum vgl. Gow/Page (1968), I, XLV-XLIX; Lausberg (1982), 41; für eine Datierung unter Nero spricht sich Cameron (1993), 56-65 aus. Vgl. Lausberg (1982), 41f. Vgl. Newman (1989), 254f.; Grewing (1997), 428; Obermayer (1998), 12f.; Watson/Watson (2003), 76f. In Bezug auf die Länge der Gedichte wird auf Catull allerdings nur indirekt als Vorbild verwiesen; explizit nennt Martial an anderer Stelle Marsus und Pedo als Modelle, vgl. 2,77. Dazu vgl. ausführlicher Kap. 3.3.1, S. 97-9.
ter, nachdem er eben noch sein Leder geküsst hat, von hier der Herr über ein bedrohliches Kinn, von hier der [am rechten Bein Hinkende?85], von dort der Triefäugige, ein Schwanzlutscher und einer, der gerade Fotzen geleckt hat. Soviel wäre es für dich nicht mehr wert gewesen, zurückzukommen.
Das im Hendekasyllabus abgefasste Epigramm schildert in elf Versen die unangenehmen Begegnungen eines aus der Fremde nach Rom heimgekehrten, namentlich nicht genannten Individuums mit den dortigen basiatores86. Dass sich Martial hier an Catulls basia-Gedichten anlehnt, macht er dem Leser durch den expliziten Vergleich zwischen der Kuss-Manie in Rom und Lesbias Küssen deutlich: Tantum…quantum (1-3) greift dabei die unzähligen basia auf, die Catull in c. 5,7-10 sowie c. 7 (1: quot; 3-9: quam…quam…tam) schildert. Die in der Tradition erotischer Epigramme stehenden Catull-Gedichte87 dienen Martial somit als Prätext für seine Sozialsatire. Dem anonymen Heimkehrer – woher er kommt, bleibt ebenfalls offen – wird am Ende des Gedichts gesagt, er hätte angesichts der basiatores auch darauf verzichten können, nach Rom zurückzukehren. Das Motiv der Heimkehr schafft eine Verbindung zu einem weiteren Gedicht Catulls: Nachdem dieser in c. 8 über die Zurückweisung durch seine puella geklagt und die Geliebte in diesem Zusammenhang gefragt hat, wen sie denn nun küssen werde (18: quem basiabis?), geht aus c. 9 hervor, dass zumindest der Sprecher der Polymetra ein neues Kuss-Objekt gefunden hat: Sein Freund Veranius ist aus Spanien heimgekehrt, und Catull kündigt an, ihm Mund und Augen zu küssen (9: iucundum os oculosque suaviabor)88. Angesichts der inhaltlichen Parallelen, des identischen Metrums und Umfangs von Catulls c. 9 und Martials Epigramm 12,59 sowie der wichtigen Rolle, die Spanien bei beiden Autoren spielt ‒ Martials Buch 12 ist angeblich dort entstanden (vgl. 12 praef.), bei Catull bittet der Sprecher den Heimkehrer, von Hiberum...loca facta nationes (c. 9,6f.) zu berichten ‒, dürften antike Rezipienten dazu animiert worden sein, die beiden Gedichte zusammen zu lesen89. Durch den intertextuellen Bezug suggeriert Martial seinem Leser möglicherweise, sich zum Katalog römischer basiatores, die in 12,59 den Heim85 86
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Zu den textkritischen Problemen in Vers 9 vgl. Bowie (1988), 285-287. Dieses Motiv wird im „Postumus-Zyklus“ in Buch 2 variiert (2,10; 12; 21; 22; 23); vgl. Borgo (2005); außerdem 11,98; 12,29,4; 55,3; vgl. Bowie (1988), 282 und Kay (1985), 265 ad 11,98 zur Praxis der Begrüßung durch Küssen bei patroni und clientes. Zum Motiv der Ansteckung in 12,59 vgl. Obermayer (1998), 222f. Vgl. Holzberg (2002a), 45. Somit stehen die beiden Catull-Gedichte nicht nur in Kontrast zueinander (vgl. Holzberg [2002a], 75), sondern beinhalten auch zwei Stationen in einer Art „KussRoman“. Fitzgerald (2007), 171 weist auf den „anthropologischen“ Perspektivenwechsel hin, den Martial vornimmt: Während bei Catull Veranius aus Spanien zurückkehrt und aufgefordert wird, von Hiberum…loca, facta, nationes zu berichten (6f.), schildert Martial – den man sich in Buch 12 als in Spanien befindlich vorstellen soll, vgl. 12 praef. – dem Heimkehrer die in Rom herrschenden Sitten.
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kehrer empfangen, auch den Veranius küssenden Catull aus c. 9 hinzuzudenken90; wenn dieser sich bei Martial dann auch noch zwischen fellatores und cunnilingi wiederfindet, ist das vielleicht nicht zuletzt auf sein Bekenntnis in c. 28 gegenüber Veranius und Fabullus zurückzuführen, er habe in Bithynien seinen Vorgesetzten Memmius fellieren müssen (9f.)91. Die zuletzt angestellten Überlegungen sind freilich sehr spekulativ. Doch zumindest eines sollte aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein: Martials Epigramme gewinnen ihren besonderen Witz aus der Spannung, die zwischen den expliziten Erwähnungen Catulls als des geradezu kanonischen Vorbildes und dem frechen intertextuellen Spiel des jüngeren Epigrammatikers mit seinem Modell entstehen. Führt Martial Catull zuerst als Gewährsmann für obszöne Sprache an, so ist es umso komischer, wenn der Leser gerade ihn an anderer Stelle indirekt mit den Opfern von Martials Sexualskoptik assoziieren kann. Darauf, dass Martial im Verlauf seiner Epigrammbücher ein gesteigertes Selbstvertrauen gegenüber Catull an den Tag legt, wurde zuvor schon hingewiesen92. Über das Problem der literarischen Nachfolge scheint Martial schließlich in Buch 12 auf ungewöhnliche Weise zu reflektieren (12,73): Heredem tibi me, Catulle, dicis. non credam, nisi legero, Catulle. Dass ich dein Erbe sei, Catull, sagst du. Ich glaube es nicht, bevor ich es nicht gelesen habe, Catull.
Auf den ersten Blick lässt sich dieser Zweizeiler zur Gruppe jener Epigramme zählen, in der Martial diverse Erbschleicher verspottet93, nur dass er hier selbst deren Rolle einnimmt94. Der Sprecher will erst glauben, etwas geerbt zu haben, wenn er nach dem Tod des Catullus dessen Testament gelesen hat95. Der Name des Erblassers suggeriert jedoch, hier eine poetologische Bedeutung mitzulesen96; so passt es gut an das Ende des Epigrammkorpus, wenn Martial sich erst dann als alter Catullus rühmen kann, sobald er es gelesen hat – damit ist wohl sein eigenes, vollendetes Werk gemeint – und der Vorgänger überboten ist. Dass der Topos dichteri-
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Durch das geistige Mitlesen des Prätextes c. 9 kann der Leser sozusagen die Leerstellen bei Martial ‒ den Namen des Heimkehrers und den Ort, von dem er kommt ‒ füllen. Unabhängig davon, ob Catulls Aussage über Memmius in c. 28,9f. ursprünglich wörtlich oder metaphorisch zu verstehen war – zu dieser Debatte vgl. Holzberg (2002a), 105ff. –, kann man wohl davon ausgehen, dass Martial als Leser Catulls die wörtliche Variante vorzog. S. S. 17. Vgl. 1,99; 2,76; 3,10; 4,61,11f.; 66,17; 70; 5,32; 39; 7,66; 9,8; 48; 73; 10,97; 12,70. Vgl. 12,40,5f. Vgl. Bowie (1988), ad loc. Vgl. Fitzgerald (2007), 168f.
scher aemulatio ausgerechnet in einem Erbschleicher-Epigramm variiert wird, fügt sich gut in Martials Poetik der „literary materiality“ ein97.
3.2
Die griechische Epigrammatik
Abgesehen von den wenigen direkten Erwähnungen griechischer Epigrammatiker gibt es eine beträchtliche Anzahl von Gedichten in Martials Korpus, die sich indirekt mit der griechischen Tradition der Gattung auseinandersetzen. Mittlerweile existieren denn auch mehrere Forschungsbeiträge, die Einflüsse der griechischen Epigrammatik auf Martial untersuchen98. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann freilich keine umfassende Analyse der betreffenden Stellen geboten werden. Vielmehr möchte ich anhand ausgewählter Beispiele zeigen, welche Strategien Martial im Rahmen seines intertextuellen Dialoges mit griechischen Vorgängern anwendet und wie sich dabei sein Gattungsverständnis zu dem seiner Modelle verhält. Daher soll im Folgenden zunächst die Anverwandlung eines Antipater-Epigramms am Beginn des Liber Spectaculorum und die damit verbundene Selbstprofilierung Martials im römischen Kontext der Flavier-Zeit betrachtet werden. Anschließend widme ich mich der Auseinandersetzung Martials mit Kallimachos und dessen poetischen Idealen; es wird sich dabei zeigen, dass der römische Epigrammatiker, wenngleich auch er Kleinpoesie betreibt, sich nicht ohne weiteres als Kallimacheer bezeichnen lässt. Ein Blick auf Martials Verhältnis zu seinem wichtigsten Modell auf dem Gebiet des epigrammatischen Spottes, Lukillios, wird zudem die unterschiedlichen Wege der beiden Dichter, Literaturkritik zu betreiben, beleuchten.
3.2.1
Epigrammatische Weltwunder: Mart. Sp. 1 und AP 9,58
Die vielleicht erste indirekte Auseinandersetzung des flavischen Dichters mit einer griechischen Vorlage erfolgt bereits an einer programmatischen Stelle: Im Eröffnungsgedicht des Liber Spectaculorum, den die meisten For-
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Zu diesem Prinzip der Poetik Martials vgl. Roman (2001). Pertsch (1911); Prinz (1911); Autore (1937); Kruuse (1941); Helm (1955), 77-79; Laurens (1965); Ehrhardt (1974); Siedschlag (1977); Burnikel (1980); Lausberg (1982); Cameron (1982); Lausberg (1984); Clua Serena (1987); Holzberg (1988), 42-47; Laurens (1989); Sullivan (1991), 78-93; Laurens (1992); Manzo (1995); Schneider (2000); Holzberg (2002b), 19-23 und 28-32; Nisbet (2003); Fabbrini (2005); Höschele (2006), 5861; Mattiacci (2007); Nisbet (2007), 561-563; Livingstone/Nisbet (2010), 105-108; Mindt, (im Druck); vgl. den Forschungsüberblick bei Lorenz (2003b), 248-253.
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scher für das früheste Epigrammbuch Martials halten99, preist der Sprecher das amphitheatrum Flavium als ein neues Weltwunder: Barbara pyramidum sileat miracula Memphis, Assyrius iactet nec Babylona labor; nec Triviae templo molles laudentur Iones, dissimulet Delon cornibus ara frequens aëre nec vacuo pendentia Mausolea laudibus inmodicis Cares in astra ferant. omnis Caesareo cedit labor Amphitheatro, unum pro cunctis fama loquetur opus. Das barbarische Memphis soll schweigen von den Wundern der Pyramiden, assyrische Arbeit rühme sich nicht mit Babylon; nicht sollen wegen Trivias Tempel die weichlichen Jonier gelobt werden, nichts über Delos sagen soll der Altar mit den zahlreichen Hörnern, und das in der leeren Luft schwebende Mausoleum sollen die Karer nicht mit maßlosem Lob zu den Sternen erheben. Jegliche Arbeit unterliegt Caesars Amphitheater, von einem einzigen Werk statt allen wird der Ruhm künftig sprechen.
Innerhalb einer Priamel, die mit dem Gegensatz von Rühmen und Verschweigen operiert100, kontrastiert Martial Weltwunder aus dem orientalischen (1-2) und griechischen (3-6) Bereich mit dem römischen Amphitheater (7-8). Eine ähnliche Struktur weist Martials Prätext auf, ein Epigramm des griechischen Dichters Antipater, der den Artemistempel zu Ephesos preist (AP 9,58)101: Καὶ κραναᾶς Βαβυλῶνος ἐπίδρομον ἅρμασι τεῖχος καὶ τὸν ἐπ‘ Ἀλφειῷ Ζᾶνα κατηυγασάμην κάπων τ‘ αἰώρημα καὶ Ἠελίοιο κολοσσὸν καὶ μέγαν αἰπεινᾶν πυραμίδων κάματον μνᾶμά τε Μαυσώλοιο πελώριον· ἀλλ‘ ὅτ‘ ἐσεῖδον Ἀρτέμιδος νεφέων ἄχρι θέοντα δόμον κεῖνα μὲν ἠμαύρωτο, καὶ ἦν· „Ἴδε, νόσφιν‘ Ὀλύμπου Ἅλιος οὐδέν πω τοῖον ἐπηυγάσατο.“
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Dazu vgl. Coleman (2006), xlv-lxiv. Ging man lange Zeit davon aus, dass der Liber Spectaculorum unter Titus anlässlich der Einweihung des Kolosseums im Jahre 80 n.Chr. publiziert worden sei, so tendieren jüngere Forschungsbeiträge verstärkt zu der Annahme, das Buch sei erst unter Domitian veröffentlicht worden; vgl. Holzberg (2002b), 40f.; Lorenz (2002), 56-59; Buttrey (2007); Mülke (2010), 499f. Sileat (1) - iactet nec (2) - nec…laudentur (3) - dissimulet (4) - nec…laudibus…ferant (5f.) vs. fama loquetur (8). Es lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob das Epigramm Antipater von Sidon (2. Jh. v.Chr.) oder Antipater von Thessalonike (augusteische Zeit) zuzuschreiben ist; Gow/Page (1968), II, 20f. und 92f. ad Antip. Thess. 91 halten es für ein Produkt des jüngeren Dichters, während Argentieri (2003), 124ff. vorsichtig zum Sidonier tendiert; vom selben Autor wie AP 9,58 dürfte auch AP 9,790 (= GP Antip. Thess. 92) stammen; zu den Weltwundern in der antiken Literatur vgl. Coleman (2006), 3f.
Des hochragenden Babylon mit Wagen befahrbare Mauer und den Zeus am Alpheios habe ich gesehen, und die hängenden Gärten und den Koloss des Helios und das gewaltige Bauwerk der hochragenden Pyramiden und das mächtige Monument des Mausolos. Doch als ich der Artemis zu den Wolken hinauf ragendes Heiligtum erblickte, verblassten jene Dinge, und ich sagte: „Schau, außer dem Olymp hat Helios noch nie etwas Derartiges gesehen.“
Die Ähnlichkeiten zwischen Antipaters und Martials Gedicht betreffen nicht nur den Inhalt, sondern auch die formale Gestaltung 102: Beide Epigramme umfassen acht Verse und reihen innerhalb einer Priamel die verschiedenen Weltwunder polysyndetisch aneinander. Antipaters anaphorisches καὶ...καὶ...τε...καὶ...καὶ...τε (1-5) wird von Martial in nec…nec…nec (25) umgewandelt. Bei dem griechischen Epigrammatiker regiert ein einziges Verbum die ganze Aufzählung (2: κατηυγασάμην), Martial dagegen verbindet jedes Exemplum mit einem eigenen Prädikat, das zugleich eine Abwertung des betreffenden Objekts ausdrückt. Während Antipater sowohl architektonische Monumente als auch Beispiele aus der Plastik auflistet (2; 3), beschränkt sich Martials Aufzählung auf Bauwerke. Der von dem griechischen Epigrammatiker angeführte Koloss des Helios (3) wird von Martial jedoch in Sp. 2 als sidereus colossus (1) evoziert, womit vordergründig die ehemalige Riesenstatue Neros gemeint sein dürfte, die Vespasian zu einer Skulptur des Sol umarbeiten ließ103. Der römische Epigrammatiker integriert seinen griechischen Prätext in eine Gedichtsequenz, die dem Kontext der flavischen Dynastie und ihrer Neuerungen verpflichtet ist und in diesem Zusammenhang implizit auch den literarischen Anspruch des Dichters thematisiert. Die ersten drei Epigramme des Liber Spectaculorum dürften als geschlossene Einheit komponiert sein104 und nicht nur die Vorzüge Roms unter den neuen Herrschern beschreiben, sondern auch eine poetologische Aussage enthalten. Wenn Martial seine Liste in Sp. 1 mit den Pyramiden beginnt, tut er dies vermutlich in Anlehnung an Horazens Ode 3,30105. Die am Ende der ersten
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Zu den Ähnlichkeiten der beiden Gedichte vgl. Weinreich (1928), 1-9; Lorenz (2002), 66; Coleman (2006), 3ff. Carratello (1965b), 306f.; Coleman (2006), 19ff.; Fitzgerald (2007), 39. Coleman (1998a), 16; Holzberg (2002b), 40; Lorenz (2002), 66; Coleman (2006), 37; Fitzgerald (2007), 37-42; Rimell (2008), 116-119; Mülke (2010). Der Liber Spectaculorum ist uns allerdings nur in Florilegienhandschriften überliefert, so dass uns das Epigrammbuch nicht in seiner Vollständigkeit erhalten sein dürfte bzw. vielleicht sogar aus mehreren Büchern kompiliert wurde; zur Überlieferung vgl. Coleman (2006), xxi-xxv. Hor. Carm. 3,30,1f.: Exegi monumentum aere perennius / regalique situ pyramidum altius; vgl. Weinreich (1928), 3; Coleman (2006), 4. In einem Vortrag im Rahmen der „Petronian Society Munich Section“ mit dem Titel „Horaz – der Koloss von Rom. Eine Interpretation zum Schlußgedicht der ersten Odensammlung (carm. 3,30)“ hat Christian Zgoll auf mögliche intertextuelle Bezüge zwischen dem Anfang der
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Odensammlung verwendete Metapher vom monumentum, durch die der Lyriker seiner Hoffnung auf dichterischen Nachruhm Ausdruck verleiht 106, wird von Martial konkretisiert: Sein Epigrammbuch entspricht einem zeitgenössischen monumentum, dem amphitheatrum Flavium. Somit ähnelt die Anfangspassage des Liber Spectaculorum Stellen in Martials Korpus, wo Gedichtbuch und Lektüreprozess mit bestimmten Räumen, wie etwa dem Theater, einem Tempel oder einem Saturnaliengelage, assoziiert werden 107. Die Behauptung des Sprechers am Ende von Sp. 1, jeder andere labor unterliege diesem Werk (7) und fama werde künftig nur mehr von einem einzigen opus sprechen (8), lässt sich demnach auch als selbstbewusste Positionierung des Epigrammatikers in einem literaturgeschichtlichen Kontinuum auffassen108. Die Gedichtserie Sp. 1-3 weist eine bemerkenswerte Kompositionstechnik auf: Im ersten Epigramm verläuft die Bewegung räumlich vom „barbarischen“ Ägypten und Babylon109 über die griechische Welt nach Rom; das zweite Gedicht konzentriert sich ganz auf den urbanen Kontext und hat den zeitlichen und topographischen Gegensatz110 zwischen dem Rom Neros und jenem der Flavier zum Inhalt. In Sp. 3 schließlich ist davon die Rede, dass Menschen aus aller Welt als spectatores in die Hauptstadt eilen und im Amphitheater mit einer Stimme (11: vox…una) dem Kaiser als pater patriae huldigen (12)111. Der Leser soll dabei wohl dessen Leistungen für das Volk mit jenen des Dichters für seine Rezipienten vergleichen: Ziehen die imperialen Schauspiele ein internationales Publikum an, so gilt dies umgekehrt auch für Martials Gedichte, deren Popularität sich angeblich über die Grenzen der Hauptstadt hinaus erstreckt112. Die stilistische Analyse der Sequenz Sp. 1-3 zeigt zudem, dass die diversen architektonischen
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Horazode und dem Antipater-Epigramm hingewiesen, wobei er als Verfasser des griechischen Textes Antipater von Sidon annimmt. Weltwunder werden in diesem Zusammenhang auch bei Prop. 3,2,19-22 aufgelistet. Vgl. 1 praef. 15f. theatrum meum; 8 praef. 15-18; 11,2; 6; 15; 13,1-3; 14,1-2. Vgl. Fearnley (1998), 13-17. Vermutlich bezieht sich Vers 2 sowohl auf die hängenden Gärten als auch die imposanten Stadtmauern Babylons, so dass aus dem barbarischen und griechischen Bereich jeweils drei Beispiele angeführt werden, die das römische Amphitheater als siebtes Weltwunder übertrifft; vgl. Coleman (2006), 4f. Zur urbanen Topographie in Sp. 2 vgl. Roman (2010), 92ff. Die drei Gedichte sind auch verbal eng miteinander verkettet: Barbara…miracula (Sp. 1,1) – gens…barbara (Sp. 3,1); unum…opus (Sp. 1,8) – unaque…domus (Sp. 2,4) – vox…una (Sp. 3,11); Caesareo (Sp. 1,7) – Caesar (Sp. 2,11) – Caesar (Sp. 3,1); in allen drei Epigrammen bestimmen zudem Anaphern, Wiederholungen und Polyptota die Struktur des Textes: nec…nec…nec (Sp. 1,2-5); hic ubi…hic ubi…hic ubi…ubi (Sp. 2,1-9); quae…quae…ex qua (Sp. 3,1-2); venit…venit (Sp. 3,4-5); et qui...et quem (Sp. 3,5-6); festinavit…festinavere (Sp. 3,7); crinibus…torti…tortis crinibus (Sp. 3,9-10). Vgl. 1,1,2 toto notus in orbe; 5,13,3; 6,64,53; 7,88; 8,61,3; 9,84,5; 10,9,3f.; 11,3; vgl. Howell (1980), 103. Die Eröffnungsgedichte des Liber Spectaculorum gleichen der Vorrede zu Buch 1, wo Martial seine Leser mit spectatores im Theater gleichsetzt.
Meisterwerke auf textueller Ebene ihr Gegenstück in Martials sorgfältig durchkomponierten Epigrammen finden. Die Anspielung auf das Antipater-Gedicht dürfte in diesem Rahmen das Selbstverständnis Martials als Epigrammatiker signalisieren. So weist Sp. 1 den Rezipienten zunächst auf die Gattungstradition hin, der Martials Buch angehört113, gibt überdies jedoch durch den impliziten Vergleich mit dem Kolosseum den Anspruch des römischen Dichters zu erkennen, seine griechischen Vorgänger überboten zu haben114. Setzt sich Martial zu Beginn des ersten Buches seiner XII epigrammaton libri explizit und implizit mit seiner Position in der römischen Tradition der Gattung auseinander, so knüpfte er im Liber Spectaculorum deutlich an die griechische Epigrammatik an, vereinnahmt diese jedoch für seine Panegyrik auf die Dynastie der Flavier (und indirekt auch auf sein eigenes poetisches Schaffen).
3.2.2
Kallimachos und die Kallimacheer
Angesichts der wichtigen Funktion, die griechische Epigramme in Martials panegyrischem und poetologischem Diskurs erfüllen, überrascht es, wie gesagt, dass die griechische Tradition im Rahmen der expliziten Auseinandersetzung Martials mit seiner Gattung nahezu vollständig ausgeblendet wird. Von den älteren griechischen Epigrammatikern erwähnt er einzig Kallimachos, der sich jedoch mit einem Zeitgenossen Martials messen und diesem die Vorrangstellung überlassen muss (4,23): Dum tu lenta nimis diuque quaeris quis primus tibi quisve sit secundus, Graium quos epigramma conparavit, palmam Callimachus, Thalia, de se facundo dedit ipse Bruttiano115. qui si Cecropio satur lepore Romanae sale luserit Minervae, illi me facias, precor, secundum. Während du zögernd und allzu lange nachforschtest, wer für dich der erste und wer der zweite ist von denen, die die griechische Epigrammatik zum Wettkampf aufstellte, Thalia, hat Kallimachos selbst die Palme von sich dem wortgewandten Bruttianus übergeben. Sollte dieser, satt von kekropischer Anmut, mit dem Salz der römischen Minerva spielen wollen, dann lass mich, bitte, nach ihm der zweite sein.
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Vgl. Lorenz (2002), 66. Vgl. Rimell (2008), 117: „The grandiosity of the Colosseum is always relative to other monuments, just as…the opus of this book may be said to be, or claims to be, epic visà-vis its epigrammatic predecessors.“ Die Form Bruttiano ist wohl der bei Lindsay abgedruckten Lesart Brutiano (g) vorzuziehen; vgl. Moreno Soldevila (2006), 229f.; zu 4,23 vgl. auch Mindt (im Druck).
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Das Epigramm rühmt weniger Kallimachos als einen herausragenden Vertreter der griechischen Gattungstradition, sondern stellt vielmehr eine Hommage an Bruttianus dar – auf seine Person wird gleich noch genauer einzugehen sein. Neben Martial erwähnt auch Plinius der Jüngere in einem Brief, in dem er das poetische Talent seines Adressaten Arrius Antoninus preist, Kallimachos als Verfasser von Epigrammen 116. Eine unter Kallimachos‘ Namen publizierte Sammlung von Epigrammen, auf die sich Martial und Plinius beziehen, dürfte im ersten Jh. n.Chr. zirkuliert haben117. Abgesehen von Martials und Plinius‘ Aussagen begegnet uns Kallimachos in der lateinischen Literatur vorrangig als Elegiker118, und auch Martial zählt ihn an anderer Stelle im Korpus zu den Vertretern dieser Gattung (10,4); auf die unterschiedliche Bewertung der epigrammatischen und elegischen Poesie des Kallimachos durch Martial soll später noch näher eingegangen werden. Betrachten wir vorerst die Rolle, die Bruttianus in den Epigrammaton libri spielt. Als Leser gewinnt man zunächst den Eindruck, bei dem Gedicht handle es sich lediglich um ein weiteres Beispiel für Martials Enkomiastik auf die literarischen Ambitionen eines Freundes und Gönners. Doch am Schluss erhält das Epigramm dadurch eine Klimax, dass Martial sich selbst mit Kallimachos und Bruttianus vergleicht und so eine programmatische Aussage macht. Kallimachos und Bruttianus erscheinen zunächst als ebenbürtige Rivalen (3: comparavit), bevor der alexandrinische Dichter freiwillig 116
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Plin. Epist. 4,3,3-5: Ita certe sum adfectus ipse, cum Graeca epigrammata tua, cum mimiambos proxime legerem. Quantum ibi humanitatis venustatis, quam dulcia illa quam amantia quam arguta quam recta! Callimachum me vel Heroden, vel si quid his melius, tenere credebam; quorum tamen neuter utrumque aut absolvit aut attigit. Hominemne Romanum tam Graece loqui? Non medius fidius ipsas Athenas tam Atticas dixerim. Quid multa? Invideo Graecis quod illorum lingua scribere maluisti. Neque enim coniectura eget, quid sermone patrio exprimere possis, cum hoc insiticio et inducto tam praeclara opera perfeceris. „Solch einen Eindruck habe ich doch wenigstens selbst gewonnen, als ich kürzlich deine griechischen Epigramme, als ich deine Mimjamben las. Wie viel Feinheit, wie viel Anmut war darin, wie süß sind sie, wie liebreizend, wie scharfsinnig, wie natürlich! Ich glaubte, Kallimachos oder Herodas oder etwas Besseres als diese – sofern es das gibt – in Händen zu halten. Dennoch hat von diesen keiner beides zur Vollendung gebracht oder überhaupt berührt. Kann denn ein Römer ein solches Griechisch sprechen? Bei Gott, ich würde sogar behaupten, dass nicht einmal Athen selbst ein solches Attisch hervorbringt. Kurz und gut, ich beneide die Griechen, weil du lieber in ihrer Sprache schreiben wolltest. Es bedarf nämlich keiner angestrengten Vermutung, was du in deiner Muttersprache hervorbringen könntest, da du in dieser aus dem Ausland zu uns verpflanzten und bei uns eingeführten solch hervorragende Werke zustande gebracht hast.“ Vgl. Gutzwiller (1998), 19 mit Anm. 12; Citroni (2003), 14; Meyer (2005), 128-130. Quint. Inst. 10,1,58: tunc et elegiam vacabit in manus sumere, cuius princeps habetur Callimachus, secundas confessione plurimorum Philetas occupavit („Dann wird man die Muße haben, die Elegie zur Hand zu nehmen, bei der man Kallimachos den ersten Rang einräumt; den zweiten Platz hat nach dem Bekenntnis der meisten Leute Philetas inne“); Stat. Silv. 1,2,253; Ov. Am. 2,4,19; Catul. c. 65,16 u. c. 66; Binder/Hamm (1998).
seinen ersten Platz dem Konkurrenten überlässt (4f.)119. Sollte dieser sich einmal der römischen Epigrammpoesie zuwenden, dann würde Martial mit Freuden wie zuvor Kallimachos im griechischen Bereich den zweiten Rang hinter Bruttianus einnehmen (6-8). Nachdem wir in den bisherigen Büchern mehrmals auf die wichtige Vorbildfunktion Catulls hingewiesen worden waren und Martial sich erst an späterer Stelle im Korpus explizit als diesem ebenbürtig präsentiert (10,103,5)120, verwundert es umso mehr, dass Catull in der programmatischen Gegenüberstellung der römischen und griechischen Gattungstradition in 4,23 gar nicht erwähnt wird. Dass der Rezipient ihn jedoch in diesem Gedicht indirekt mitlesen soll, liegt m.E. nahe, denn er ist erst kurz zuvor in 4,14 aufgetreten, wo mit Silius Italicus ebenfalls ein zeitgenössischer Dichter gewürdigt wurde121 und Martial zudem ähnlich wie in 4,23 zwei Autoren – Catull und Vergil – anachronistisch miteinander in Verbindung brachte. Überdies erinnert 4,23 thematisch an den Vergleich Stellas mit Catull in 1,7122. Da in den Epigrammen des Kallimachos sowie überhaupt der griechischen Gattungstradition das elegische Versmaß bevorzugt wird123, sticht Martials Wahl des Hendekasyllabus in 4,23 besonders ins Auge; dadurch steht der Inhalt des Gedichtes im Widerspruch zur äußeren Form, die der Tradition Catulls verpflichtet ist. Martial vergleicht sich in 4,23 mit Kallimachos, und nimmt, da Bruttianus ja noch auf Griechisch dichtet, den ersten Rang in der römischen Epigrammatik bereits indirekt für sich selbst in Anspruch124. Aus der Kontrastierung der stilkritischen Begriffe Cecropius lepos und sal Romanus125 im vorliegenden Gedicht wurde gefolgert, dass im ersten Jahrhundert n.Chr. zwei Richtungen epigrammatischer Poesie nebeneinander existiert hätten126. Demnach wäre Catull für die römische und Kallimachos für die griechische Tradition, der auch Bruttianus folgt, das exemplarische Modell. Die Identität dieses kaiserzeitlichen Dichters ist allerdings schwer zu bestimmen, nicht zuletzt da Martial seinen Namen nur in 4,23 erwähnt. Dass er uns jedoch noch an anderer Stelle im Korpus begegnet und sich 119
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Das Verb comparare betont hier den Aspekt des Wettkampfes, der auch durch den Namen des Kallimachos („edler Kämpfer“, vgl. LSJ, 868 s.v.) aufgegriffen wird, vgl. Moreno Soldevila (2006), 228 ad loc. Davor in 1 praef.; 1,7; 1,109; 2,71; 4,14; s. Kap. 3.1. Zu Martial und Silius Italicus s. Kap. 7.4. Zu 1,7 s. ausführlicher Kap. 4.3.1, S. 162-4. Von den 63 erhaltenen Epigrammen des Kallimachos (vgl. Asper 2004: 459-495) stehen lediglich die Gedichte AP 7,728 (= 40 Pf. = 48 A.), AP 13,7 (= 37 Pf. = 17 A.), AP 13,24 (= 38 Pf. = 20 A.) und AP 13,25 (= 39 Pf. = 19 A.) in einem anderen Metrum; vgl. Citroni (2003), 8 u. 21. Vgl. Moreno Soldevila (2006), 227. Zu den durch diese Begriffe angedeuteten Charakteristika griechischer und römischer Epigrammatik (Eleganz vs. Witz) vgl. Lausberg (1982), 61ff.; Swann (1994), 61; Moreno Soldevila (2006), 230. Citroni (2003), 11f.; vgl. Canobbio (2008), 182 mit Anm. 33.
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tatsächlich der römischen Epigrammatik zugewandt haben könnte, wurde von Balland vorgeschlagen, der hinter Bruttianus dieselbe Person vermutet wie hinter dem in 8,18 von Martial gepriesenen Cerrinius127. Diese These erscheint der näheren Betrachtung wert. Auch wenn der Leser über die Namen der Dichter alleine zunächst keine Verbindung zwischen 4,23 und 8,18 herstellen mag, sind beide Gedichte doch motivisch eng miteinander verbunden, denn im späteren Epigramm ist es Cerrinius, der Martial den ersten Platz innerhalb der Gattung überlässt: Si tua, Cerrini, promas epigrammata vulgo, vel mecum possis vel prior ipse legi: sed tibi tantus inest veteris respectus amici, carior ut mea sit quam tua fama tibi. sic Maro nec Calabri temptavit carmina Flacci, Pindaricos nosset cum superare modos, et Vario cessit Romani laude cothurni, cum posset tragico fortius ore loqui. aurum et opes et rura frequens donabit amicus: qui velit ingenio cedere rarus erit. Wenn du, Cerrinius, deine Epigramme veröffentlichen würdest, könnte man dich entweder mit mir zusammen oder sogar noch vor mir lesen. Doch dir wohnt eine so große Rücksicht auf den alten Freund inne, dass dir mein Ruhm lieber ist als dein eigener. So hat auch Maro sich nicht an den Liedern des kalabrischen Flaccus versucht, obwohl er Pindars Weisen zu übertreffen verstand, und auch dem Varius wich er im Verdienst um den römischen Kothurn, obwohl er kraftvoller mit tragischem Ton sprechen konnte. Gold, Reichtum und Land wird häufig ein Freund schenken: Einen, der im Hinblick auf sein Talent zurückstehen will, den wird man selten finden.
Würde Cerrinius seine Epigramme veröffentlichen, könnte er als Dichter gleichrangig mit Martial gelesen werden oder sogar noch mehr Popularität genießen als dieser. Die enkomiastischen Züge des Gedichtes lassen vermuten, dass er zu den poetisch aktiven Gönnern Martials gehört, wie sie uns häufiger im Werk begegnen128. Dass es sich bei der von Cerrinius ausgeschlagenen fama um eine besonders herausragende Form der Anerkennung handeln würde, geht bereits aus der ersten Hälfte des programmatischen Gedichtes 8,3 hervor, wo Martial auf seine mittlerweile nicht mehr zu steigernde Beliebtheit beim Publikum hinweist129. Auch dieses Epigramm ist über das Motiv des Verzichtens auf literarischen Ruhm mit 8,18 127
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Balland (1998), 51-53; nach ihm handelt es sich um C. Bruttius Praesens, den er auch hinter dem Lustricius Bruttianus in Plin. Epist. 6,22 vermutet; vgl. Syme (1988), 563578; Pertsch (1911), 7-8 hingegen zieht die reale Existenz des Bruttianus in Zweifel; vgl. Duret (1986), 3230; Moreno Soldevila (2006), 229f. Zur Dichter-Gönner-Thematik in Martials Epigrammen vgl. Puelma (1995); Nauta (2002). Die in 8,18,4 erwähnte fama scheint den in 8,3,4 genannten Begriff aufzugreifen; vgl. auch die fama in 8 praef. 1.
und 4,23 verbunden130: Gibt Martial hier vor, er wolle aufgrund seines pudor (3) der Gattung den Rücken kehren, so ist bei Cerrinius die Rücksicht (8,18,3 respectus) auf die Freundschaft mit Martial ausschlaggebend. Cerrinius‘ poetische Produkte ähneln, so impliziert das Gedicht, der von Martial vertretenen Epigrammatik: Wenn man also die Eigenschaften von Martials Poesie auf Cerrinius übertragen darf, bedeutet das, dass beide Dichter ihre Texte mit sal Romanus würzen, wie es die Muse in 8,3,19 (at tu Romano lepidos sale tinge libellos) gefordert hatte und wie es in 4,23,7 für Bruttianus in Aussicht gestellt wurde. Dem in 4,23 gerühmten Rivalen des Kallimachos entspricht Cerrinius auf römischer Seite als potenzieller neuer Augusteer131: In den Versen 5-8 veranschaulicht Martial die noble Zurückhaltung des Cerrinius mit einer Reihe von Dichter-exempla aus der Zeit des ersten Prinzeps: Cerrinius entspricht dabei Vergil, der trotz seines größeren ingenium davon absieht, sich in den von seinen Freunden Horaz (5f.) und Varius (7f.) betriebenen Gattungsdomänen der Lyrik bzw. Tragödiendichtung zu versuchen. Vergils Überlegenheit gegenüber Horaz auf dem Gebiet der Lyrik besteht in seiner Fähigkeit, sogar Pindars Dichtkunst zu übertreffen (8,18,6). Diese Behauptung ist insofern bemerkenswert, als Horaz selbst in Ode 4,2 sein poetisches Talent klar von jenem Pindars unterscheidet und eine aemulatio als aussichtsloses Unterfangen beschreibt132. Dass es sich hier um eine bewusste Anspielung Martials auf die poetologischen Reflexionen in Ode 4,2 handelt, macht die Stellung dieses Epigramms exakt zwischen den Gedichten 8,15 und 8,21, die beide Domitians Rückkehr aus dem Sarmaten-Feldzug thematisieren und in denen eine enge Berührung zur Augustus-Panegyrik im vierten Odenbuch des Horaz beobachtet worden ist133, wahrscheinlich134. Cerrinius übernimmt dabei eine ähnliche Rolle,
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Vgl. 8,3,1-4. Zu diesem Gedicht ausführlicher Kap. 4.1.3, S. 150-6. Der bereits in 8,3 hergestellte Rückbezug auf die Epoche des Augustus wird in 8,18 aufgegriffen; vgl. die Erwähnung der Grabmäler des M. Valerius Messalla Corvinus und des Licinius, Augustus‘ Freigelassenem in 8,3,5-6. Beide Gedichte scheinen zudem auch durch verbale Bezüge miteinander verbunden zu sein: 8,18,7 Romani...cothurni greift 8,3,13 tragicos...cothurnos bzw. 8,3,19 Romano...sale wieder auf. Vgl. Hor. Carm. 4,2, Pindarum quisquis studet aemulari, / Iulle, ceratis ope Daedalea / nititur pinnis, vitreo daturus / nomina ponto („Wer Pindar nachzueifern trachtet, Iullus, verlässt sich auf Flügel aus Wachs, ein Hilfsmittel des Dädalus, und wird dem kristallklaren Meer seinen Namen geben“); vgl. Stat. Silv. 4,7,5 regnator lyricae cohortis; Schöffel (2002), 213f. ad loc.; Tatum (2007), 187; zu Hor. Carm. 4,2 vgl. Kießling/Heinze (1930), 390ff. ad loc.; Putnam (1986), 48-62; Holzberg (2009a), 173; zu Horaz und Pindar vgl. Waszink (1966). Für 8,21 scheint besonders Hor. Carm. 4,5 das Vorbild zu sein, vgl. L. Watson (1998), 350f.; Lorenz (2002), 170; Schöffel (2002), 222f. zu 8,21; zu 8,15 und 8,21 vgl. Henriksén (2002). Für diese Annahme spricht m.E. auch, dass Pindar nur an dieser Stelle bei Martial erwähnt wird und es gerade hier um das Thema des dichterischen Wettstreites geht; vgl. Henriksén (2002), 337; Schöffel (2002), 214 ad loc.
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wie Horaz sie Iullus Antonius zuschreibt, wenn er seine poetischen Kapazitäten mit jenen des Adressaten der Ode 4,2 vergleicht135. Mit der Formulierung Pindaricos…superare modos (6) korrigiert Martial den Prätext und erhebt seinen Freund Cerrinius sogar noch über Iullus Antonius hinaus, der von Horaz vor den Gefahren einer Nachahmung (1: aemulari) des griechischen Lyrikers gewarnt wird. Cerrinius macht allerdings von seinem Talent keinen Gebrauch. Die Assoziation zu Horazens recusatio-Ode 4,2 legt nahe, dass Cerrinius Martial nicht nur den Ruhm als Epigrammatiker, sondern insbesondere die Rolle als panegyrischer Dichter, die sich Martial in dem Domitian gewidmeten achten Buch aneignet, überlässt136. Bemerkenswert ist zudem, dass – denkt man den Vergleich konsequent weiter – Martial sich hier mit Vertretern nicht etwa von Kleinpoesie in der Art der Epigrammatik gleichsetzt, sondern mit dem Odendichter Horaz137 und mit Varius als Verfasser von Tragödien138 – diese Gattung war von der Muse ja zuvor in 8,3 noch vehement angegriffen worden (8,3,13) – zwei Beispiele für erhabenere Poesie wählt. Horaz wird von Martial innerhalb des Gesamtwerkes sonst explizit entweder als Mitglied des MaecenasKreises erwähnt oder als Dichter der Oden139. An dieser Stelle sind die beiden Eigenschaften miteinander verbunden. Varius dagegen ist nur hier 135
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Vgl. Hor. Carm. 4,2,27-36: …ego apis Matinae / more modoque / grata carpentis thyma per laborem / plurimum circa nemus uvidique / Tiburis ripas operosa parvus / carmina fingo. / Concines maiore poeta plectro / Caesarem, quandoque trahet ferocis / per sacrum clivum merita decorus / fronde Sygambros („Ich ersinne nach Art der matinischen Biene, die lieblichen Thymian am Waldrand und an den Ufern des nassen Tibur sammelt mit größter Anstrengung, bescheiden und mühsam Gedichte. Du wirst als Dichter mit größerem Plektrum Caesar besingen, wenn er über den heiligen Hügel, geschmückt mit dem ihm zustehenden Laub, die wilden Sygambrer zieht“); vgl. 41-60. Neben Horaz hat möglicherweise auch Calpurnius Siculus unser Martial-Gedicht beeinflusst, vorausgesetzt, sein literarisches Schaffen fällt tatsächlich in neronische Zeit, wie es die Mehrheit der Forscher annimmt; vgl. Mayer (1980); Townend (1980); Wiseman (1982); Horsfall (1995); Fey-Wickert (2002), 11-14; Nauta (2007), 10 mit Anm. 47. Calp. 4,64ff.: magna petis, Corydon, si Tityrus esse laboras. / ille fuit vates sacer et qui posset avena / praesonuisse chelyn („Großes erstrebst du, Corydon, wenn du dich bemühst, Tityrus zu sein. Er war ein heiliger Sänger, der mit der Hirtenflöte die Lyra hätte übertönen können“); vgl. Korzeniewski (1971), ad loc. Dies gilt im Falle des Horaz freilich mit Einschränkungen, da dieser seine Oden an mehreren Stellen von Epik und Tragödie abgrenzt, vgl. Carm. 1,6; 2,12; innerhalb des Gesamtwerkes scheinen die Oden jedoch die höchste Form der Poesie darzustellen: Horaz könnte mit der Abfolge Satiren-Epoden-Oden das Vergilische Aufstiegsprinzip Eklogen-Georgica-Aeneis imitiert haben, wie Holzberg (2009a), 20 vorschlägt. Martial selbst stuft die Lyrik im Rahmen der in 12,94 entwickelten Hierarchie als dritte Gattung gleich hinter Epos und Tragödie ein und vor der Satire, der Elegie und der am unteren Ende befindlichen Epigrammatik; dazu s. Kap. 4.3.3. Zu Varius als Dichter der nach dem Sieg von Actium aufgeführten Tragödie Thyestes vgl. Schöffel (2002), 214 ad loc. mit Anm. 6. Zu Horaz im Maecenas-Kreis vgl. 1,107,4; 12,3; als Dichter der Oden vgl. 5,30,2 Calabra…lyra; 12,94,5 fila lyrae…Calabris exculta Camenis.
in erster Linie exemplum für die römische Tragödienpoesie, während ansonsten seine Rolle als einer der von Maecenas protegierten Dichter im Vordergrund steht (8,55,21; 12,3,1). Um seinen Adressaten Cerrinius zu erhöhen, stilisiert Martial – hier scheint er die Sichtweise Horazens nachzuahmen – Varius zu einem „Klassiker“ der römischen Tragödie 140, und erhebt ihn somit in einen Rang, den er im Fall der griechischen Tragödiendichtung nur Sophokles zugesteht141. Auch modifiziert Martial die Aussage eines augusteischen Prätextes, denn Vergil selbst bezeichnet Varius in der neunten Ekloge als unerreichtes Vorbild142. Die positive Darstellung des Varius in diesem Epigramm bildet jedoch eine von wenigen Ausnahmen, und dürfte vor allem durch das Bemühen, die augusteische Epoche in Buch 8 als eine für die Entstehung von Literatur besonders günstige Zeit zu preisen, motiviert sein. An anderen Stellen werden Stücke wie der Thyestes dagegen hauptsächlich in polemischen Kontexten genannt, wenn Martial den Charakter seiner Epigrammatik gegen den Schwulst mythologischer Poesie abgrenzt143. In 8,18 steht insbesondere der Aspekt der Freundschaft zwischen den drei augusteischen Dichtern144 im Vordergrund, und es scheint, als ob Martial sein in der Vorrede zum achten Buch angekündigtes Programm, er wolle nun mit Kaiserpanegyrik einen erhabeneren Stil anschlagen145, aufgreift, indem er sich und seinen Freund mit Vertretern angesehenerer Gattungen gleichsetzt und damit scherzhaft als neue Augusteer auf dem Gebiet der Epigrammatik stilisiert. Der Gattung, wie sie von Martial und, so dürfen wir vermuten, Cerrinius vertreten wird, hält die Muse in 8,3 die epische und tragische Poesie jener severi entgegen, die sich nächtlichen lucubrationes hingeben (18: quos media miseros nocte lucerna videt146). Damit greift Martial das von
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Horaz lobt Varius insbesondere für seine epische Poesie und Augustus-Panegyrik: Carm. 1,6; Sat. 1,10,44; Epist. 2,1,247. Quint. Inst. 10,1,98 lobt Varius als Aushängeschild der römischen Tragödie: Iam Varii Thyestes cuilibet Graecarum comparari potest. Vgl. 5,30,1 Varro, Sophocleo non infitiande cothurno und 3,20,7 cothurnis…Sophocleis. Dies geschieht durch den Mund des Hirten Lycidas (Verg. Ecl. 9,35f.): nam neque adhuc Vario videor nec dicere Cinna / digna, sed argutos inter strepere ansere olores; in Epist. 2,1,245ff. stellt Horaz Varius auf die gleiche Stufe wie Vergil (247: dilecti tibi Vergilius Variusque poetae). 4,49,4; 5,53,1; 10,4,1; 35,6; vgl. noch die Figur des Thyestes in 3,45,1; 10,67,4; 11,31,1f. Horaz, Varius und Vergil werden auch in 12,3(4),1f. als Freunde und Schützlinge des Maecenas präsentiert: Quod Flacco Varioque fuit summoque Maroni / Maecenas, atavis regibus ortus eques. Die betreffenden Dichter erwähnen diese Freundschaft ebenfalls an mehreren Stellen: Hor. Sat. 1,6,55; 1,5,40; 1,10,43f. u. 81; 1,9,23; 2,8,21; Ars. 55; Carm. 1,3; 1,6; 1,24,10; Epist. 2,1,247; Verg. Ecl. 9,35; Catal. 7,1. Auch in der Laus Pisonis 230248 wird dargestellt, wie das Dichtertrio durch die Hilfe des Maecenas Ruhm erlangt; vgl. Nauta (2007), 11. Vgl. 8 praef. 14f.: cum pars libri et maior et melior ad maiestatem sacri nominis tui alligata sit; 8,1; s. Kap. 4.1.2. „Die Bemitleidenswerten sieht mitten in der Nacht die Lampe“.
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Kallimachos propagierte Ideal der ἀγρυπνία auf, überträgt es jedoch auf einen völlig anderen Zusammenhang, nämlich auf das Verfassen von Werken jener literarischen Richtung, gegen die der hellenistische Dichter selbst polemisierte147. Epos und Tragödie stehen in 8,3 außerdem im Widerspruch zur Lebensnähe der römischen Epigrammatik: adgnoscat mores vita legatque suos (20). Dieser Forderung kann laut Martial auch Kallimachos nicht gerecht werden, wie aus 10,4 hervorgeht (7-12): quid te vana iuvant miserae ludibria chartae? hoc lege, quod possit dicere vita 'Meum est.' non hic Centauros, non Gorgonas Harpyiasque invenies: hominem pagina nostra sapit. 10 sed non vis, Mamurra, tuos cognoscere mores nec te scire: legas Aetia Callimachi. Was erfreut dich das nichtige Spiel der elenden Seite? Lies das, wovon das Leben sagen könnte: „Es gehört mir.“ Nicht wirst du hier Kentauren, Gorgonen und Harpyien finden: Nach dem Menschen schmeckt meine Seite. Aber weder willst du, Mamurra, deinen Charakter kennenlernen noch dich selbst erkennen: Du sollst die Aitien des Kallimachos lesen.
Hatte Kallimachos als Verfasser epigrammatischer Poesie durchaus Martials Anerkennung erhalten, so ist nun das Gegenteil der Fall: Seine Aitien bilden in ihrer alexandrinischen Gelehrsamkeit ein Beispiel für vana ludibria mythologischer Dichtung148. Inwieweit wir diesen Seitenhieb als ernst zu nehmende literarkritische Aussage bewerten dürfen149, sei freilich dahingestellt. Ein komischer Effekt wird schon alleine dadurch erzielt, dass Martial innerhalb eines recusatio-Epigramms gerade jenen Text zum Gegenstand seiner Polemik macht, dessen Proömium als wichtigstes Modell für den recusatio-Topos in der lateinischen Literatur zu gelten hat150. Martial 147
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Vgl. Call. Epigr. 27 Pf. = 56 GP = AP 9,507; Cinn. Frg. 11 Bl.; vgl. Hose (1994); Stewart (2008). Bei Statius und Juvenal dagegen findet sich das Motiv auf epische Produktion bezogen: Stat. Theb. 12,811; Juv. 7,27; vgl. Mattiacci/Perruccio (2007), 189f. Martials Epigramme sind also entsprechend der Differenzierung in der rhetorischen Theorie zwischen res verae/historia – res fictae/argumentum – res fabulosae/fabulae dem Bereich der res fictae bzw. des argumentum zuzuordnen, für den Quintilian als Beispiel auch die Komödienpoesie im Unterschied zu Tragödie (fabula) und Historiographie anführt; vgl. Quint. Inst. 2,4,2; Rhet. Her. 1,13; Cic. Inv. 1,27; zur Theorie der Fiktionalität in der griechischen und römischen Literatur vgl. Morgan (1993); Hose (1996); Bretzigheimer (2001), 165-182; die Sprechhaltung des Epigrammatikers in 10,4 erinnert an jene des Xenophanes im Rahmen seiner Kritik an epischer Dichtung, vgl. Frg. 1,21-23 West: οὔ τι μάχας διέπειν Τιτήνων οὐδὲ Γιγάντων / οὐδὲ τι Κενταύρων, πλάσματα τῶν προτέρων, / ἢ στάσιας σφεδανάς· τοῖς οὐδὲν χρηστὸν ἔνεστιν. Martials Polemik berührt sich außerdem mit der des Persius im Prologgedicht zu seinen Satiren, vgl. Mattiacci/Perruccio (2007), 181. So etwa Sullivan (1991), 72f.; Spisak (1994a), 304f. und (1997), 360. Call. Aet. Frg. 1; Nauta (2006c), 40; zum Einfluss des Kallimachos auf die lateinische Literatur vgl. Wimmel (1960); Hunter (2006).
betreibt in mehrfacher Hinsicht eine auf die Erheiterung des Lesers abzielende Poetik des Widerspruchs, die sich u.a. auch darin manifestiert, dass die angefeindete Mythologie in einer Aufzählung von mythologischen Exempla dann doch in das Epigramm integriert ist151. Es dürfte bisher deutlich geworden sein, dass Martial sich kallimacheischer Poetologie zwar bedient, sie aber zu anderen Zwecken einsetzt als der hellenistische Dichter. Dies ist auch der Fall in 2,86, wo der römische Epigrammatiker sich gegen Spielereien in alexandrinischer Manier wendet: Quod nec carmine glorior supino nec retro lego Sotaden cinaedum, nusquam Graecula quod recantat echo nec dictat mihi luculentus Attis mollem debilitate galliambon, non sum, Classice, tam malus poeta. quid si per gracilis vias petauri invitum iubeas subire Ladan? turpe est difficiles habere nugas et stultus labor est ineptiarum. scribat carmina circulis Palaemon, me raris iuvat auribus placere.
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Weil ich weder mit rückwärts laufenden Gedichten meinen Ruhm suche noch die Schwuchtel Sotades rückwärts lese, weil nirgends ein griechisches Echo zurückschallt, noch mir der strahlende Attis den schwachen und verweichlichten Galljambus diktiert, bin ich kein so schlechter Dichter, Classicus. Was wäre, hieße man über den zarten Pfad des Balanciergerätes gegen seinen Willen den Ladas gehen? Hässlich ist es, schwierige Spielchen zu treiben und dumm ist die Mühe bei Albernheiten. Es soll für weite Kreise Palaemon Gedichte schreiben; mir gefällt es, wenigen Ohren zu gefallen.
Martial stellt hier sein poetisches Ideal den verspielten Produkten alexandrinischer und neoterischer Tradition gegenüber, die er als Literatur für die breite Masse charakterisiert; damit verzerrt er den ursprünglichen Anspruch ihrer Verfasser, für ein erlesenes Publikum zu dichten152, ins Komische. Sein abschließendes Bekenntnis, lieber den Beifall weniger Rezipienten zu erhalten (12), steht dabei im Widerspruch zu anderen Aussagen im Werk, wo er auf seine große Beliebtheit hinweist153. Es wurde viel darüber gerätselt, wie man diesen Vers zu verstehen hat, und so vermuteten einige Interpreten, dass Martial bei der Publikation des zweiten Buches noch am 151
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10,4,1-6 (Ödipus, Thyestes, Medea, Scylla, Hylas, Parthenopaeus, Attis, Endymion, Icarus, Hermaphroditus); vgl. Banta (1998), 183f.; Lorenz (2002), 222; zur kunstvollen Anordnung der Exempla und Vermutungen zu Anspielungen auf Statius vgl. Watson/Watson (2003), 96f. Vgl. Hor. Sat. 1,4,22ff.; Carm. 3,1,1 (odi profanum volgus et arceo); Holzberg (2009a), 5661. Vgl. 1,1,2; 5,13,3; 6,64,6; 8,3,4; 9 praef.; 97,1-4; 10,9,3f.; vgl. Williams (2004), 260.
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Beginn seiner Karriere gestanden und dementsprechend bescheidene Ansprüche formuliert habe154. Mehr als durch biographische Gründe erscheint mir dieser Vers jedoch von literarischen Erwägungen motiviert: Wenn Martial hier die breite Masse (11: circulis) mit einem elitären Publikum (12: raris auribus) kontrastiert, greift er damit kallimacheische Programmatik auf, wie wir sie etwa in AP 12,43 (= 28 Pf. = 2 GP) finden: Ἐχθαίρω τὸ ποίημα τὸ κυκλικὸν οὐδε κελεύθῳ χαίρω, τίς πολλοὺς ὧδε καὶ ὧδε φέρει· μισῶ καὶ περίφοιτον ἐρώμενον οὐδ‘ ἀπὸ κρήνης πίνω· σικχαίνω πάντα τὰ δημόσια. Λυσανίη, σὺ δὲ ναίχι καλὸς καλός· ἀλλὰ πρὶν εἰπεῖν τοῦτο σαφῶς, ἠχώ φησί τις· „Ἄλλος ἔχει.” Ich hasse das kyklische Gedicht, und nicht erfreue ich mich am Pfad, der die Menge bald hierhin, bald dorthin führt. Ich verabscheue auch den Geliebten, der sich herumtreibt, und ich trinke nicht aus der Quelle; ich empfinde Ekel vor allem, was öffentlich ist. Lysanias, du aber bist wahrlich schön, ja schön – doch bevor ich das deutlich gesagt habe, sagt ein Echo: „Ein anderer hat ihn.“
Mehrere verbale Bezüge zwischen diesem Epigramm und demjenigen Martials sind erkennbar: Ähnlich wie Kallimachos gibt Martial vor, die große Masse zu meiden (vgl. AP 12,43,2;4 und Mart. 2,86,12); die circuli, für die Palaemon155 dichtet (11), entsprechen dabei dem ποίημα κυκλικόν bei Kallimachos (1), das zarte Balanciergerät des Ladas (7: gracilis vias petauri)156 steht in Kontrast zum viel betretenen Pfad (AP 12,43,1f.). Martial lehnt das griechische Echo ab (3), welches wir bei Kallimachos mit ναίχι καλὸς καλός...ἄλλος ἔχει am Ende von AP 12,43 sprachlich inszeniert finden157. Die Polemik des Römers gegen derartige Spielereien griechischer Epigrammatiker kann jedoch kaum ernst zu nehmen sein, denn schon im übernächsten Gedicht, das das Thema der Literaturkritik fortsetzt, macht Martial selbst von einem „Echo“ Gebrauch (2,88): Nil recitas et vis, Mamerce, poeta videri. / quidquid vis esto, dummodo nil recites. Möglicherweise sollen wir
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So Citroni (1968), 286 und (1975), 22f.; Williams (2004), 260f.; Mattiacci/Perruccio (2007), 175f. Es dürfte sich um den Grammatiker Q. Remmius Palaemon handeln, den Lehrer Quintilians und Persius‘; über seine dichterischen Aktivitäten vgl. Suet. Gram. 23; Williams (2004), 264; mit circuli sind Gruppen von Zuhörern gemeint, vgl. OLD, 318 s.v. 5. Was genau man sich unter einem petaurum vorstellen soll, ist nicht klar; es handelt sich höchstwahrscheinlich um ein Gerät für Akrobaten, dessen Beherrschung ganz andere körperliche Voraussetzungen verlangte als sie ein Läufer wie Ladas mitbrachte; vgl. Williams (2004), 263; zu Ladas vgl. AP 16,53-54. Offensichtlich wurde zu Kallimachos‘ Zeit αι bereits ähnlich ausgesprochen wie ε. Vgl. Wills (1996), 434; Williams (2004), 262; zu AP 12,43 vgl. Gow/Page (1965), 156f.; Gutzwiller (1998), 218f.; Männlein-Robert (2007b), 312-315; Pretagostini (2007).
auch die homoerotische Komponente aus AP 12,43158 bei Martial wiederentdecken: Das Adjektiv supinus (2,86,1) weckt sexuelle Assoziationen159, und auch die Erwähnung des cinaedus und des Attis160 deuten in diese Richtung; Sueton berichtet neben den literarischen Leistungen Palaemons auch von dessen besonderen sexuellen Neigungen, wobei es sich, wie Baldwin vermutet, wahrscheinlich um Liebe zu Knaben und Männern handelte161. Schließlich steht dem schönen puer delicatus Lysanias bei Martial in 2,87 ein Sextus gegenüber, der sich trotz seines hässlichen Gesichts als Objekt der Begierde von bellae puellae rühmt. Kurz und gut: Es bleibt festzuhalten, dass das, was wir in 10,4 beobachtet haben, auch auf 2,86 zutrifft: Strategien kallimacheischer Poetologie werden dazu eingesetzt, bestimmte Aspekte der Dichtung in der Tradition des Alexandriners zu kritisieren oder gar zu parodieren, was einerseits auf die Erheiterung des literarisch gebildeten Lesers abzielen dürfte und andererseits Martials unterschiedliches Selbstverständnis als Verfasser von Kleinpoesie signalisiert162.
3.2.3
Lukillios und das griechische Spottepigramm
Bedeutenden Einfluss hat auf Martial bekanntlich der kaiserzeitliche Epigrammatiker Lukillios ausgeübt. Die Rezeption der skoptischen Gedichte des neronischen163 durch den flavischen Epigrammatiker wurde bereits von Walter Burnikel (1980) systematisch untersucht, dessen Studie nach wie vor als grundlegend gelten darf164. Vergleicht man Martials Gedichte mit denjenigen seines griechischen Vorgängers, so stechen insbesondere 158
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Zur Überlagerung von poetischer und erotischer Ebene in AP 12,43 vgl. Gutzwiller (1998), 218f. Vgl. Catul. c. 28,9f.; 32,10; Juv. 6,126; Adams (1982), 192; Williams (2004), 262; auch retro lego (2) dürfte hier (homo)erotisch konnotiert sein. Dies ist die einzige explizite Erwähnung eines der Carmina maiora Catulls (c. 63); das Metrum des Galliambus galt offenbar als effeminiert, vgl. Diomedes, GLK 1,514,12-22; Petr. Sat. 23,3; Wiliams (2004), 263. Suet. Gram. 23: Sed maxime flagrabat libidinibus in mulieres, usque ad infamiam oris; dicto quoque non infaceto notatum ferunt cuiusdam, qui eum in turba osculum sibi ingerentem quanquam refugiens devitare non posset. ‘Vis tu‘, inquit, ‘magister, quotiens festinantem aliquem vides, abligurire?‘ Baldwin (1995) schlägt vor, dass mulieres eine Verschreibung von molliores oder molles mares ist, da eine unangemessene Begierde des Palaemon nach Frauen im weiteren Kontext der Anekdote wenig Sinn ergebe; vgl. Kaster (1995), 241f. Ein ähnlicher lusus poeticus lässt sich auch beim Fabeldichter Phaedrus beobachten, vgl. Gärtner (2007); zu Martial und Phaedrus s. Kap. 6.4. In AP 9,572, dem Prologgedicht zu Lukilliosʼ zweitem Buch, bedankt sich der epigrammatische Sprecher bei Nero für finanzielle Unterstützung; vgl. Rozema (1971), 1f. u. 124ff; zur Datierung außerdem Burnikel (1980), 1; Holzberg (2002b), 29; vgl. Nisbet (2003), 36-81. Vgl. außerdem Szelest (1986), 2592-95; Holzberg (2002b), 99-109; Nisbet (2003); Fain (2008), 145-48.
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folgende Unterschiede ins Auge: Auf formaler Ebene werden Lukillios‘ Texte vom jüngeren Epigrammatiker stärker rhetorisiert und mit schärferen Pointen versehen; auch die epigrammatische persona ist in den Gedichten Martials zumeist stärker in das Geschehen involviert, als es bei Lukillios der Fall ist. Wie sich im Verlauf der weiteren Analyse noch zeigen wird, greift Martial häufig Aspekte aus der Dichtung des älteren Epigrammatikers auf, die dort nur angedeutet sind, und konkretisiert sie bzw. bevorzugt eine drastischere Darstellungsweise165. Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, Martials intertextuellen Dialog mit Lukillios umfassend zu würdigen; daher sollen in weiterer Folge nur Beispiele herausgegriffen werden, in denen Spott auf Dichter und Dichtung bzw. Literaturkritik das Thema bildet. Ein Epigrammzyklus im dritten Buch Martials präsentiert uns den vom Vorlesen seiner Verse besessenen Dichter Ligurinus166. Die Epigramme 3,44 und 45 schildern, wie Ligurinus seine Zuhörer und überhaupt alle, die ihm begegnen, durch seine Rezitationen in die Flucht schlägt. Während in 3,44 die hartnäckigen Versuche des Dichters, seine literarischen Produkte zum Besten zu geben, im Zentrum stehen, beschreibt 3,45 den Überdruss der Gäste, denen Ligurinus bei der cena vorliest. Das Epigramm 3,50 greift die cena-Thematik auf und bringt zugleich den Spott auf Ligurinus‘ poetische Erzeugnisse zum Abschluss: Haec tibi, non alia, est ad cenam causa vocandi, versiculos recites ut, Ligurine, tuos. deposui soleas, adfertur protinus ingens inter lactucas oxygarumque liber: alter perlegitur, dum fercula prima morantur: tertius est, nec adhuc mensa secunda venit: et quartum recitas et quintum denique librum. putidus est, totiens si mihi ponis aprum. quod si non scombris scelerata poemata donas, cenabis solus iam, Ligurine, domi. Das, und nichts anderes, ist dein Grund, zum Essen einzuladen: Deine Verse willst du vorlesen, Ligurinus. Kaum habe ich die Sandalen abgelegt, da wird sofort zwischen Lattichsalat und würziger Fischsauce ein riesiges Buch herbeigeschafft. Ein zweites wird vollständig gelesen, während der erste Gang sich hinzieht; das dritte ist an der Reihe, und das zweite Gericht kommt noch immer nicht. Das vierte liest du und schließlich das fünfte Buch. Verdorben ist der Eber, wenn du ihn mir so oft vorsetzt. Wenn du nicht den Makrelen deine verfluchten Gedichte überlässt, wirst du bald alleine zuhause speisen, Ligurinus.
Das Epigramm kombiniert skoptische mit sympotischen Elementen und fügt sich durch die cena-Thematik in den weiteren Kontext des dritten Bu165 166
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Vgl. Burnikel (1980) und Holzberg (2002b), 99-109. 3,44; 45; 50; vgl. Scherf (2001), 46.
ches ein, in dem Klientelwesen und amicitia eine wichtige Rolle spielen167. Modell für dieses Gedicht ist Lukillios AP 11,394168: Ποιητὴς πανάριστος ἀληθῶς ἐστιν ἐκεῖνος ὅστις δειπνίζει τοὺς ἀκροασαμένους. ἢν δ’ ἀναγιγνώσκῃ καὶ νήστιας οἴκαδε πέμπῃ, εἰς αὑτὸν τρεπέτω τὴν ἰδίαν μανίην. Der allerbeste Dichter ist wahrhaftig jener, der seine Gäste, nachdem sie ihm zugehört haben, bewirtet. Wenn er aber vorliest und sie dann hungrig nachhause schickt, soll er gegen sich selbst seinen inspirierten Wahnsinn richten.
Die ersten beiden Verse des Lukillios-Epigramms lassen noch nicht eindeutig erkennen, dass hier der Topos vom schlechten Gastgeber bedient wird, da sich das griechische Verb δειπνίζειν neben der konkreten Bedeutung „bewirten“ auch im Sinne von „literarisch unterhalten“ verstehen lässt 169 und somit lediglich die Eigenschaften eines guten Dichters angeführt würden. Erst mit dem Adjektiv νῆστις (3) erhält das Epigramm eine eindeutig skoptische Färbung170. Das Martial-Gedicht hingegen ist von Anfang an um einiges expliziter und verrät eine stärkere Anteilnahme des Sprechers – den wir hier wie an vielen anderen Stellen im Korpus als Teilnehmer am Gastmahl imaginieren sollen171 – als es im griechischen Epigramm der Fall ist172. Zudem weist auch der größere Umfang auf eine andere Haltung des Verfassers zu den Möglichkeiten der Gattung hin, denn die uns bekannten Gedichte des Lukillios überschreiten nie den Umfang von acht Versen, ja
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Vgl. Fusi (2006), 60f. und (2008), 292f. Vgl. Burnikel (1980), 26f. Motivisch eng verwandt ist auch Lukillios AP 11,137; auch Pers. 1,53 (calidum scis ponere sumen) könnte hier eingewirkt haben: Dort bewirtet der Patronus seine Klienten, um ihren Beifall zu gewinnen; vgl. Kißel (1990), ad loc. Vgl. Burnikel (1980), 27; Speisemetaphorik zur Umschreibung literarischer Prozesse findet sich häufig in antiken Texten, vgl. Mart. 13,3,8; Lukillios AP 11,140,6; Quint. Inst. 10,1,58 vergleicht das Lesen von Werken der großen und kleinen Gattungen mit der Abwechslung zwischen üppigen und einfachen Speisen bei einer cena: quod in cenis grandibus saepe facimus, ut, cum optimis satiati sumus, varietas tamen nobis ex vilioribus grata sit. tunc elegiam vacabit in manus sumere („Das tun wir häufig bei großen Gastmählern, dass, wenn wir gesättigt sind von den besten Gerichten, uns dennoch Abwechslung durch billigere Speisen willkommen ist. Dann wird man die Muße haben, die Elegie zur Hand zu nehmen“); zu kulinarischen Metaphern in der antiken Literaturkritik vgl. Breitenstein (2009), 24f.; Gowers (1993). Hier parodiert Lukillios offenbar Homer, vgl. Il. 19,154f., wo Odysseus zu Achilles sagt: μὴ...νήστιας ὄτρυνε προτὶ Ἴλιον υἷας Ἀχαιῶν; vgl. Burnikel (1980), 26 Anm. 43; der Beginn des Lukillios-Epigramms spielt auf Theoc. 16,21 an: οὗτος ἀοιδῶν λῷστος, ὃς ἐξ ἐμεῦ οἴσεται οὐδέν; vgl. Nisbet (2003), 29 Anm. 23. Schlechte Gastgeber werden von Martial häufig verspottet: 1,20; 2,43; 3,60; 4,68; 85; 6,11; 10,49; zur Rezitation bei der cena vgl. 3,45; 5,78,25; 7,52; vgl. Howell (1980), 151 ad 1,20. Im Unterschied zum Lukillios-Epigramm, wo das Ziel des Spottes anonym bleibt, hat der Rezitator bei Martial einen Namen.
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sind meistens sogar noch kürzer173. Während nur das erste und letzte Distichon bei Martial der griechischen Vorlage entspricht, stellt der Hauptteil (3-8) eine katalogartige Aufzählung der Vorgänge beim Gastmahl des Ligurinus dar, die über die vom Prätext vorgegebene Struktur hinausgeht. Man gewinnt den Eindruck als würde das, was bei Lukillios durch das ambivalente Verb δειπνίζειν angedeutet ist, von Martial aufgegriffen und konkretisiert: Literarische und kulinarische Bewirtung gehen bei der cena des Ligurinus zwar miteinander einher, jedoch zu Ungunsten der ursprünglichen Bedeutung des Verbums. Auch die Pointe des LukilliosGedichtes wird von Martial verstärkt: Der Wunsch des Griechen, der Dichter möge seine μανία gegen sich selbst richten, verwandelt sich bei Martial in die Aufforderung, die poetischen Produkte als Papier zum Einwickeln von Makrelen zu verwenden. Dabei greift der römische Epigrammatiker auf die motivische Tradition seit Catulls Verspottung der annales des Volusius in c. 95 (8: et laxas scombris saepe dabunt tunicas)174 zurück und konterkariert außerdem das Genre der Einladungsgedichte175, wobei verbale Parallelen zu Catul. c. 13 (1: cenabis bene…; vgl. Mart. 3,50,10 cenabis solus) auffallen176; daneben soll man vielleicht auch c. 44 mitlesen177 (vgl. 18: nefaria scripta und Mart. 3,50,9 scelerata poemata). Vielleicht erweitert Martial das Gedicht des Lukillios absichtlich um Reminiszenzen an Catull und integriert es dadurch stärker in die römische Gattungstradition. Neben der Vorlese-Wut ihrer Gastgeber verspotten Lukillios und Martial auch mythologische Dichtung von Dilettanten. In 5,53 wendet sich Martial an einen Bassus178: Colchida quid scribis, quid scribis, amice, Thyesten? quo tibi vel Nioben, Basse, vel Andromachen? materia est, mihi crede, tuis aptissima chartis Deucalion vel, si non placet hic, Phaethon. Warum schreibst du von der Kolchierin, warum schreibst du, mein Freund, von Thyestes? Was bringen dir Niobe, Bassus, oder Andromache? Als Stoff für deine Seiten – glaube mir – eignet sich am besten Deucalion oder, wenn dir der nicht gefällt, Phaethon.
Bassus verfasst offenbar Tragödien über Medea, Thyestes, Niobe und Andromache179, und der Sprecher rät ihm, als materia lieber Deucalion oder 173
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Vgl. Lausberg (1982), 454f., die eine statistische Übersicht zur Versanzahl der Lukillios-Epigramme bietet. Vgl. Hor. Epist. 2,1,269f.; Pers. 1,43; Mart. 13,1. Martials Umgang mit der Tradition der Einladungsgedichte untersucht Merli (2008). Vgl. Offermann (1986), 229; Fusi (2006), 357f. Vgl. Rozema (1971), 235; das Ende des Lukillios-Epigramms εἰς αὑτὸν τρεπέτω τὴν ἰδίαν μανίην ähnelt jenem bei Catull: nec deprecor iam, si nefaria scripta / Sesti recepso, quin gravedinem et tussim / non mi, sed ipsi Sestio ferat frigus, / qui tunc vocat me, cum malum librum legi. Ein Bassus taucht auch in 3,47, 58, 76, 5,23, 8,10, 9,100 und 12,97 auf.
Phaethon zu wählen. Was auf den ersten Blick wie ein gutgemeinter Hinweis eines Freundes (1: amice) zum Inhalt von Bassus‘ Tragödien wirkt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Spott auf die literarischen Fähigkeiten des Angesprochenen: Deucalion und Phaethon sind natürlich nichts anderes als Metonymien für Wasser bzw. Feuer; diese Elemente würden nach Ansicht des Epigrammatikers maßgeblich zur „Verbesserung“ der Qualität von Bassus‘ Poesie beitragen, indem sie dessen Tragödien zerstören. Das Epigramm ist offenbar stark von Lukillios AP 11,214 beeinflusst: Γράψας Δευκαλίωνα, Μενέστρατε, καὶ Φαέθοντα ζητεῖς, τίς τούτων ἄξιός ἐστι τίνος. τοῖς ἰδίοις αὐτοὺς τιμήσομεν· ἄξιος ὄντως ἐστὶ πυρὸς Φαέθων, Δευκαλίων δ’ ὕδατος. Während du Deukalion malst, Menestratos, und Phaethon, fragst du, wer von diesen wie viel wert ist. Nach ihren Eigenschaften will ich sie schätzen: Tatsächlich entspricht den Flammen der Wert Phaethons, der des Deukalion aber dem Wasser.
Es geht aus diesem Gedicht nicht eindeutig hervor, ob Lukillios hier einen Maler oder einen Dichter verspottet, denn das Verbum γράφειν kann beide Tätigkeiten bezeichnen180. Da sich das Epigramm in Buch 11 der Anthologia Palatina innerhalb einer Gedichtreihe auf Maler befindet 181, dürfte auch hier in erster Linie an einen ζωγράφος182 gedacht sein. Als Leser des Lukillios hat Martial entweder γράψας im Sinne von „schreiben“ verstanden183 oder, was ebenfalls denkbar ist, die Ambivalenz des griechischen Wortes bewusst auf eine literarische Tätigkeit (1: scribis; 3: tuis…chartis) eingeengt184. Er imitiert nicht nur den Inhalt, sondern auch den Umfang des griechischen Textes und greift darüber hinaus mit dem abschließenden Pentameter (4: Deucalion…Phaethon) den ersten Hexameter des Lukillios (1: Δευκαλίωνα...Φαέθοντα) auf. Während das Lukillios-Gedicht allein um die Figuren Deukalion und Phaethon kreist und in der zweiten Hälfte des
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Die Figuren evozieren die Titel diverser Tragödien wie z.B. des Aischylos (Niobe), Sophokles, (Niobe, Thyestes), Euripides (Medea, Andromache, Thyestes), Ennius (Medea, Andromache, Thyestes), Varius (Thyestes) und Seneca (Medea, Thyestes); vgl. Howell (1995), 138. Vgl. LSJ, 360 s.v. AP 11,212-215, wobei 213 von Leonidas von Tarent stammt, der Rest von Lukillios; vgl. Rozema (1971), 208. Vgl. AP 11,215,1: ὁ ζωγράφος Εὔτυχος. Ähnliches geschieht in Ovid, Met. 10,515-18, wo AP 12,75 (Asklepiades) evoziert wird: pinguntur (516) übersetzt ἐγράφη („in das Geburtenregister eingetragen werden“) falsch in der Bedeutung „malen“; vgl. Gow/Page (1965), 130. Die Doppelbedeutung von „schreiben“ und „malen/zeichnen“ ist auch noch im lateinischen scribere enthalten; vgl. OLD, 1709 s.v. 1.
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Epigramms die Pointe auf Grundlage der Metonymie eingeführt wird 185, erweitert Martial den Inhalt und lässt zusätzliche mythologische Figuren auftreten186. Die Bedeutung des Witzes im Epigramm des Römers entfaltet sich erst dann vollständig, wenn der Rezipient den Text des Lukillios im Geist mitliest ‒ man könnte sogar sagen, dass Martial den Prätext, in dem Deukalion und Phaethon explizit mit Wasser und Feuer assoziiert werden, rückwirkend zum „Kommentar“ für sein eigenes Epigramm macht. Vielleicht steuern auch die Namen der Adressaten zur Komik der beiden Epigramme bei: Der von Lukillios verspottete Menestratos („der zum Heer Haltende“)187 trägt denselben Namen, wie ihn der griechische Mythograph Hellanikos von Lesbos einem der Söhne Niobes zuschreibt188. Es ist denkbar, dass Martial die Reihe seiner mythologischen Exempla bewusst um die Figur der Niobe erweitert, um dadurch einen gelehrten Bezug zu seinem Prätext zu schaffen. Möglicherweise zielt er bei seiner Kritik an Bassus auch allgemein auf die Tradition antiker Mythographie ab: Der Name Bassus bedeutet so viel wie „der Dicke“189, und so passt er gut zu einem Verfasser mythologischen Schwulstes190 und fügt sich außerdem in die Runde der antiken Vielschreiber ein, deren erster Vertreter Hellanikos gewesen sein dürfte191.
3.3
Weitere Epigrammatiker
Die Betrachtung der direkten und indirekten Auseinandersetzung Martials mit der griechischen Gattungstradition sollte verdeutlicht haben, wie der römische Dichter einerseits durch Anspielungen seine Zugehörigkeit zur Gattung signalisiert, andererseits durch formale und inhaltliche Veränderungen seiner Prätexte und Anverwandlung der dort geführten poetologischen Diskurse, die von ihm bisweilen sogar parodiert werden, sein unterschiedliches Selbstverständnis demonstriert. Im Folgenden möchte ich 185
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Menestratos wird unter Heranziehung des mythologischen Beispiels Phaethon auch in AP 11,104 verspottet; in AP 11,131 vergleicht Lukillios die Künste des Dichters Potamon und des Arztes Hermogenes mit jenen katastrophalen Auswirkungen, die mit der Flut des Deukalion und dem Weltenbrand Phaethons verbunden waren; vgl. Rozema (1971), 208. Einen ausführlichen Vergleich beider Gedichte liefert Burnikel (1980), 16-18. Vgl. Pape (1911), 899 s.v. Vgl. Hellanik. FGrH 4 Frg. 21 = Frg. 21 Caerols Pérez (= Schol. in E. Ph. 159). Daneben wäre auch der gleichnamige athenische Bildhauer ein passendes Modell für Lukilliosʼ Menestratos, vgl. Neudecker (1999). Schöffel (2002), 162 ad Mart. 8,10. Dieser wird z.B. in Epigramm 4,49 kritisiert (7: vesica; 8: insano syrmate…tumet). Vgl. Meister (1998), 295; dadurch, dass Martial seine griechische Vorlage um vier mythologische Gestalten erweitert, macht er den Verspotteten zu einem Vielschreiber, vgl. Burnikel (1980), 18.
mich nun weiteren Epigrammatikern zuwenden, die Martial in seinem Gedichtkorpus auftreten lässt. Diese Literaten sind häufig nur schwer oder gar nicht als historische Figuren zu identifizieren und fungieren wohl in erster Linie als Folien, anhand derer Martial seine ars poetica der Epigrammatik entfaltet. Diese zumeist fiktiven Personen sind in erster Linie Zielscheiben für Typenspott und spielen als solche eine Rolle innerhalb der Reflexionen Martials über Sprache und Umfang seiner Epigramme, das Verhältnis von Einzeltext und Buchganzem sowie Autorschaft und Plagiat.
3.3.1
Das Epigramm als Einzeltext: Sprache und Umfang
In Anlehnung an Catull fordert Martial in 1,35 von Epigrammpoesie, sie solle den Rezipienten sexuell stimulieren192; das Gegenteil dieser Reaktion bewirken die poetischen Versuche des Cosconius, wie aus 3,69 hervorgeht. Nachdem Martial in 3,68 scherzhaft die Figur der matrona davor gewarnt hatte, das Buch weiterzulesen und damit symbolisch in die Sphäre der Männer einzudringen, da nun offen von obszöner Sprache Gebrauch gemacht werde193, äußert er sich im nächsten Gedicht über seinen Dichterkollegen (3,69): Omnia quod scribis castis epigrammata verbis inque tuis nulla est mentula carminibus, admiror, laudo; nihil est te sanctius uno: at mea luxuria pagina nulla vacat. haec igitur nequam iuvenes facilesque puellae, haec senior, sed quem torquet amica, legat. at tua, Cosconi, venerandaque sanctaque verba a pueris debent virginibusque legi. Dass du alle Epigramme mit anständigen Worten schreibst und in deinen Gedichten kein Schwanz vorkommt, bewundere, ja lobe ich; nichts ist tugendhafter als du allein. Bei mir dagegen ist keine Seite frei von Zügellosigkeit. Diese Gedichte sollen deshalb neckische junge Männer und leichte Mädchen, diese der Ältere lesen, doch einer, den die Freundin noch quält. Dagegen müssen deine verehrungswürdigen und heiligen Worte, Cosconius, von Knaben und Jungfrauen gelesen werden.
Während in 3,68,7-10 der obszöne Begriff mentula noch bildhaft umschrieben wurde194, drückt Martial sich im darauffolgenden Epigramm konkreter 192 193
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S. Kap. 3.1, S. 61f. 3,68,1-4: Huc est usque tibi scriptus, matrona, libellus. / cui sint scripta rogas interiora? mihi. / gymnasium, thermae, stadium est hac parte: recede. / exuimur: nudos parce videre viros („Bis hierher ist das Büchlein für dich geschrieben, Matrone. Für wen das Weitere geschrieben ist, fragst du? Für mich. Gymnasium, Thermen und Stadion befinden sich in diesem Teil: Geh weg. Wir ziehen uns aus: Unterlasse es, nackte Männer zu sehen“). 3,68,7-10: schemate nec dubio, sed aperte nominat illam / quam recipit sexto mense superba Venus, / custodem medio statuit quam vilicus horto, / opposita spectat quam proba virga ma-
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aus: Mit der Feststellung, dass den braven Gedichten des Cosconius genau diese mentula fehle, setzt Martial das 3,68,7ff. angekündigte aperte nominare obszöner Begriffe im folgenden Text gleich praktisch um 195. Der Gegensatz zwischen Cosconius und Martial liegt somit primär auf der sprachlichen Ebene, wie auch durch den zweifachen Hinweis auf die casta bzw. veneranda et sancta verba (1; 7) des Verspotteten impliziert wird196. Den maßgebenden Prätext zu Martials Gedichtpaar 3,68-69 bildet, wie Stephen Hinds gezeigt hat197, die programmatische Warnung an die matronae zu Beginn von Ovids Ars amatoria (1,31-34): este procul, vittae tenues, insigne pudoris, / quaeque tegis medios instita longa pedes: / nos Venerem tutam concessaque furta canemus / inque meo nullum carmine crimen erit198. Ovids Hinweis auf den unbedenklichen Inhalt seiner erotischen Poesie wird in Martials Version komisch verzerrt199 und letztendlich, wie wenig später aus 3,86 hervorgeht, als ineffizient hingestellt200. Auch Ovids Versicherung an sittenstrenge Rezipienten, dass seine Dichtung ihnen keinen Anlass zur Klage liefere (Ars am. 1,34) bietet Martial die Gelegenheit zu einer Umkehrung des Inhalts und der Verlagerung elegischer Elemente in einen epigrammatischen Kontext, wenn er seinem Gegenspieler Cosconius, den ovidischen Wortlaut imitierend, vorwirft inque tuis nulla est mentula carminibus (3,69,2)201. Die Veränderung des Prätextes vermittels einer „interpolated mentula“ diene laut Hinds „to disrupt the decorum of a key erotic-elegiac source-text“ und führe zu einer „Priapisierung“ des elegischen Vorgängers
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nu („Nicht in verhüllter Form, sondern ganz offen bezeichnet sie jenes Ding, das die prächtige Venus im sechsten Monat empfängt, das der Verwalter als Wächter mitten im Garten aufstellt und das die anständige Jungfrau mit vorgehaltener Hand betrachtet“). Der Begriff schema wurde in der antiken Rhetorik als Synonym für figura verwendet und bezeichnete u.a. die versteckte, uneindeutige Art der Rede; vgl. OLD, 1702 s.v. 4b; Sen. Contr. 2,4,10; Fusi (2006), 440 ad loc. Mentula zählt zu den besonders obszönen Begriffen, vgl. Adams (1982), 9ff.; Banta (1998), 195; Holzberg (2002b), 111f. Banta (1998), 194. Hinds (2007), 124f.; vgl. auch Fusi (2006), 435. „Bleibt fern, feine Kopfbinden, Kennzeichen der Keuschheit, und du, langer Besatz, der die Füße bedeckt! Ich werde von sicherer Liebe und erlaubten Liebesaffären singen, und in meinem Gedicht wird es kein Verbrechen geben.“ Vgl. Fusi (2006), 435: „Diversamente da Ovidio però, il cui appello era volto ad allontanare la possibile accusa di immoralità e di corruzione dei costumi, Marziale, con tono chiaramente giocoso, tenta di dissuadere le matrone soltanto perché il carattere licenzioso della sezione non sarebbe adeguato alla loro (presunta) austerità.“ Mart. 3,86,1f.: Ne legeres partem lascivi, casta, libelli, / praedixi et monui: tu tamen, ecce, legis („Dass du den frechen Teil des Büchleins nicht lesen sollst, habe ich vorher gesagt und dich ermahnt; du jedoch, sieh, liest ihn dennoch“). Cosconius verstößt somit gegen das von Martial in 1,35,3-5 formulierte „Gattungsgesetz“ hi libelli…non possunt sine mentula placere.
(„...that mentula imports specifically Priapic associations“)202. Auch Martials abschließende Behauptung, die anständigen Gedichte des Cosconius seien nur für Knaben und Mädchen geeignet (3,69,8), wandelt vermutlich einen ovidischen Prätext ab: Im zweiten Buch der Tristien erwähnt der Elegiker unter anderem Menander als Beispiel für einen Dichter, der für die erotischen Stoffe seiner Dramen keine Konsequenzen erleiden musste und sogar in der Schule gelesen wird: et solet hic pueris virginibusque legi (Trist. 2,370)203. Die verbalen Bezüge sind deutlich, doch Martial führt den Gedankengang Ovids in eine völlig andere Richtung: Anstatt wie der „Klassiker“ Menander erotische Inhalte mit der Existenz als Schulautor vereinen zu können, kommt für Cosconius nur die zweite Alternative in Frage; somit funktionalisiert Martial ein Exemplum, das in die apologetische Argumentation der Tristien eingefügt ist und mit dem sich der elegische Sprecher dort identifiziert, zum Spott innerhalb epigrammatischer Literaturkritik um, wodurch Cosconius als „Anti-Klassiker“ herausgestellt wird. Wie sehr sich Martials Epigramme von denen seines (fiktiven) Widerparts Cosconius unterscheiden, wird bei der Lektüre der auf 3,69 folgenden Gedichte deutlich, in denen durchgehend von nackten Körpern, Geschlechtsverkehr und Impotenz die Rede ist. Die in 3,68 verwendete Körper-Metaphorik zur Ankündigung der lasziven Inhalte im weiteren Verlauf des Buches (4: exuimur) lässt nicht nur an sich entkleidende Männer denken204, sondern evoziert zugleich die Vorstellung von der Buchrolle, die beim Lektüreprozess immer weiter „ausgezogen“ wird, bis man bei ihrem „Nabel“, dem Rollstab (umbilicus), angekommen ist205. Auch die wiederholte Thematisierung von Impotenz206 im letzten Drittel des Buches – Cosconius ließe sich ebenfalls als impotent beim Verfassen von Epigrammatik zu den Verspotteten rechnen – dürfte als Schlussmotiv fungieren207 und gleichzeitig den Abschied von obszöner Sprache andeuten, deren Ge-
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Hinds (2007), 125. Neben dem Martialgedicht basiert auch die matrona-Apostrophe in Priap. 8 auf der Ovid-Stelle; vgl. Hallett (1996), 326. Vgl. Owen (1967), Luck (1977) und Ingleheart (2010), ad loc. Durch die Verwendung der 1. Pers. Pl. ist angezeigt, dass sich Martial selbst zu den Akteuren der folgenden, für matronae nicht geeigneten Gedichte zählt, vgl. Obermayer (1998), 261 Anm. 37. Vgl. das Schlussepigramm des 4. Buches, 4,89,1f.: Ohe, iam satis est, ohe, libelle, / iam pervenimus usque ad umbilicos („Halt, schon ist es genug, halt, Büchlein, schon sind wir bis zu den Rollstäben gelangt“). Vgl. Moreno Soldevila (2006), ad loc. Vgl. 3,70; 73; 75; 76; 79; 81. Vgl. Holzbergs (2005b) lineare Analyse der Carmina Priapea: Priap wird im Verlauf des Gedichtbuches immer häufiger mit dem Problem der Impotenz konfrontiert, das am Ende der Sammlung auch die persona des Dichters selbst betrifft. Auf einer metapoetischen Ebene bedeute dies, dass sowohl Gottheit als auch Dichter sich am Ende des Buches von der Gattung priapeischer Epigrammatik verabschieden.
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brauch im vierten Buch erkennbar abnimmt208 und im fünften Buch sogar völlig ausbleibt209. Dass Epigramme neben verba mentulata auch eine gute Portion „Würze“, d.h. Witz und Schärfe, benötigen, erfahren wir aus 7,25, wo sich Martial über die dilettantischen Dichtungsversuche eines anonymen Kollegen lustig macht. Kulinarische Metaphern verdeutlichen die Mängel in dessen poetischen Produkten: Die Epigramme des Rivalen enthalten kein bisschen Salz und Galle (3f.: nulla mica salis nec amari fellis…gutta), und die Langeweile, die sie erzeugen, vergleicht Martial mit Speisen ohne Würze (5: cibus…fraudatus aceti; 7: fatuasque mariscas). In Kontrast zu dem in 7,25 problematisierten Zuwenig an Würze begegnet der Leser zunächst mit 7,26 einem facetum carmen (4) Martials, das dieser seinem Freund Apollinaris sendet, bevor in 7,27 beschrieben wird, wie der Epigrammatiker und sein Koch vor einem riesigen Eber kapitulieren müssen, für dessen Zubereitung nicht genug Gewürze vorhanden sind210. In Anbetracht der Juxtaposition mit den gattungstheoretischen Reflexionen in 7,25 bietet sich eine poetologische Lesart auch dieses Epigramms an211. Die Zurückweisung des großen Ebers ließe sich demnach als Ablehnung großer epischer Themen, die mit den Kapazitäten der Epigrammatik nicht vereinbart werden können, im Rahmen einer recusatio deuten. Hatte der poeta demens212 in 7,25 gegen ein Gattungsgesetz verstoßen, so gerät auch Martial in 7,27 an seine Grenzen, nämlich an Stoffe, die sogar ihm selbst ein Zuviel an kulinarisch-poetischen Zutaten abverlangen würden213. Der in 3,69 verspottete Amateur-Epigrammatiker Cosconius taucht auch an anderer Stelle im Zusammenhang mit Martials theoretischen Reflexionen zu den poetischen Lizenzen der Gattung auf. In 2,77 hatte er, so
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Lorenz (2002), 121. Ebd., 143f. 7,27,7-10: sed cocus ingentem piperis consumet acervum, / addet et arcano mixta Falerna garo: / ad dominum redeas, noster te non capit ignis, / conturbator aper: vilius esurio („Aber der Koch wird eine riesige Menge an Pfeffer verbrauchen und wird mit unter Verschluss stehender Fischsoße vermischten Falernerwein hinzufügen. Zu deinem Herrn kehr zurück, mein Herd kann dich nicht fassen, Eber, der du einen bankrott machst; ich bleibe für weniger Geld hungrig“). Eine metapoetische Deutung von 7,27 schlägt erstmals Banta (1998), 2-7 vor; vgl. Galán Vioque (2002), 196. Vor dem Hintergrund der volksetymologischen Ableitung des Begriffes mentula von mens lässt sich hier demens (7,25,4) als Umschreibung von sine mentula auffassen; der Poesie des anonymen Epigrammatikers fehlt somit dieselbe Qualität wie jener des Cosconius in 3,69; zum Wortspiel vgl. insbesondere 7,67,16 an die Tribade Philaenis: di mentem tibi dent tuam, Philaeni; vgl. 3,76,3; 7,18,12. Zum in 7,27,7 erwähnten Pfeffer vgl. 13,5 und bes. verbal mit 7,25 und 27 korrespondierende Distichon 13,13 (Betae): Ut sapiant fatuae, fabrorum prandia, betae, / o quam saepe petet vina piperque cocus! („Damit die faden Bete, das Frühstück der Handwerker, schmecken, o wie oft wird der Koch nach Wein und Pfeffer verlangen!“).
wird uns suggeriert, Kritik an der Länge von Martials Gedichten geübt, woraufhin dieser sich rechtfertigt: Cosconi, qui longa putas epigrammata nostra, utilis unguendis axibus esse potes. hac tu credideris longum ratione colosson et puerum Bruti dixeris esse brevem. disce quod ignoras: Marsi doctique Pedonis saepe duplex unum pagina tractat opus. non sunt longa quibus nihil est quod demere possis, sed tu, Cosconi, disticha longa facis. Cosconius, der du meine Epigramme für zu lang hältst, du bist einzig zum Schmieren von Wagenachsen zu gebrauchen. Nach derselben Logik könntest du den Koloss für zu lang halten und den Knaben des Brutus als zu kurz bezeichnen. Lerne, was du nicht weißt: Bei Marsus und dem gelehrten Pedo umfasst ein einzelnes Gedicht oft zwei Seiten. Es ist nichts zu lang, wo es nichts gibt, was man wegnehmen könnte, doch du Cosconius, machst Distichen zu lang.
Martials Kritiker wird hier als utilis unguendis axibus (2) bezeichnet, und die Bedeutung dieser Wendung hat der Forschung viel Kopfzerbrechen bereitet214. Plausibel erscheinen jene Erklärungsversuche, die hier eine Umschreibung des literarkritischen Begriffs der παχύτης sehen, wodurch Cosconius als Vertreter eines schwülstigen Stils charakterisiert würde 215. Das zweite Distichon vergleicht daraufhin poetische Länge und Kürze mit Beispielen aus der bildenden Kunst: Nach der Logik des Cosconius müsste auch ein Koloss als zu groß und eine kleine Statuette wie der puer Bruti als zu klein gelten216. Anschließend beruft sich Martial im Rahmen seiner Argumentation gegen die ignorante Haltung des Cosconius explizit auf Marsus und Pedo (5f.), deren Epigramme angeblich nicht selten zwei Kolumnen auf dem Papyrus einnahmen217, und bringt sein Konzept der 214
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Zu den verschiedenen Interpretationsversuchen der schwer verständlichen Phrase vgl. Williams (2004), 243f. ad loc. Vgl. Newman (1989), 254; Watson/Watson (2003), 77 ad loc.: „Cosconius could be put to good use as axungia, axle-grease (Plin. Nat. 28.141), a colourful way of saying that Cosconius is pinguis, literally ‘greasy/fatty’, i.e. ‘thick’ or ‘lacking in refined critical intelligence’“; vgl. OLD, 1381 s.v. 7. Bei dem colossus (3) handelt es sich möglicherweise um eine Anspielung auf jene Kolossalstatue Neros, die unter Vespasian zu einem Bildnis des Sonnengottes umgearbeitet wurde; hinter dem puer Bruti ist eine Statuette des Strongylio zu vermuten, die laut Plinius dem Älteren von Brutus bewundert wurde (Nat. 34,82) und die Martial in 9,50 und 14,171 erwähnt; vgl. Williams (2004), 242f. ad loc. und (2008), 218ff. zum Vergleich zwischen Poesie und plastischer Kunst bzw. Dichter und Bildhauer bei Martial und anderen Autoren. Nach Van Sickle (1980), 6 dürfte es sich hier um Gedichte von einer Länge zwischen 50 und 90 Versen handeln, wenn eine Kolumne etwa 25-45 Verse umfasst; vgl. Williams (2008), 219 mit Anm. 6. Lausberg (1982), 47 weist auf die Antithese zwischen dem doctus Pedo und dem ignoranten Kritiker Cosconius hin.
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brevitas auf den Punkt: Wo man nichts wegnehmen kann, dort liegt auch kein übertriebener Umfang vor (7). Martial verleiht seiner Aussage dadurch Nachdruck, dass er die Pose eines Philologen bzw. Literaturkritikers einnimmt: Mit beinahe identischem Wortlaut äußerte sich zuvor Seneca der Ältere über den Stil Sallusts218. Ausschlaggebend ist also die Harmonie der Form und das ausgeglichene Verhältnis von Einzelelementen und Gesamtkunstwerk219. Zum Schluss wirft Martial seinem Kritiker vor: sed tu, Cosconi, disticha longa facis (8). Die meisten Interpreten gehen davon aus, dass er sich hier auf eine dichterische Tätigkeit des Cosconius bezieht und ihn, ähnlich wie in 3,69, als stümperhaften Verfasser von disticha brandmarkt220. Es wäre jedoch m.E. ebenso möglich, bei den disticha nicht nur an Verse, die von Cosconius produziert wurden, zu denken, sondern darüber hinaus auch an Martials eigene: Durch seinen (fiktiven) kritischen Einwand, der Martial Anlass zu einer Rechtfertigung liefert, bewirkt Cosconius, dass der Epigrammatiker seine Argumentation in mehreren Versen vorzubringen gezwungen ist, sein Ideal der brevitas sozusagen durch ein störendes und überflüssiges Element beeinträchtigt wird. Man könnte demzufolge Vers 8 auch mit „aber du, Cosconius, machst die (= meine) Distichen lang“ übersetzen. Diese Interpretation ließe sich dadurch stützen, dass mit 2,76 und 2,78-82 mehrere Einzeldistichen das Epigramm 2,77 umrahmen221. Martial wollte, so ließe sich vermuten, mit 2,76 eine Reihe von Zweizeilern eröffnen, muss dieses Vorhaben aber wegen der Notwendigkeit einer Verteidigung gegen Cosconius unterbrechen, um es dann nach erfolgreicher Widerlegung des Kritikers fortsetzen zu können. Die Abfolge der Epigramme 2,78-82 bildet die längste Sequenz von Einzeldistichen innerhalb der XII epigrammaton libri222, und darüber hinaus stellt die Erwähnung des puer Bruti in 2,77,4 einen Bezug zu den ebenfalls fast zur Gänze aus Einzeldistichen bestehenden Apophoreta her, wo uns unter dem Lemma Βρούτου παιδίον fictile die Statuette eines Knaben beschrieben wird223. Die Epigrammsequenz 2,76-82 liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie eine explizite metapoetische bzw. dichtungstheoretische Aussage, in diesem Fall das in 2,77 diskutierte Problem des Umfangs, in einer impliziten Form umgesetzt bzw. „inszeniert“ wird, indem Martial durch die An-
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Sen. Contr. 9,1,13: at ex Sallusti sententia nihil demi sine detrimento sensus potest; s.o. Kap. 2.2.2, S. 42. Vgl. die Definition von brevitas bei Cic. de Orat. 2,326 si brevitas appellanda est, cum verbum nullum redundat; Morelli (2008b), 41f. Vgl. Adams (1975), 61; Lausberg (1982), 47ff.; Williams (2004) ad loc. Schon Pertsch (1911), 61 beobachtet den Kontrast zwischen der theoretischen Aussage von 2,77 zu Länge und Umfang und den das Gedicht umrahmenden Monodisticha. Williams (2004), 244. Mart. 14,171; vgl. Williams (2004) ad 2,77,4.
ordnung der kurzen Gedichte 2,76 und 2,78-82 um das Epigramm 2,77 den Vorwurf seines Kritikers Cosconius auf subtile Weise Lügen straft 224. Ein Spiel mit Form und Inhalt ist auch in 8,62 zu beobachten, wo Martial seinen Konkurrenten Picens wegen dilettantischer Versuche auf dem Gebiet der Epigrammatik verspottet: Scribit in aversa Picens epigrammata charta, et dolet averso quod facit illa deo. Picens schreibt auf der Rückseite des Blattes Epigramme und bedauert, dass ihm der Gott dabei den Rücken zukehrt.
Das in 2,77 proklamierte Ideal der brevitas ist hier deutlich verfehlt, denn Picens schreibt offensichtlich weitaus mehr, als angemessen wäre, ein Vorwurf, der sich sowohl auf den Umfang der einzelnen Gedichte als auch auf die Zahl der Epigramme innerhalb der Papyrusrolle beziehen lässt. Mit dem Motiv der Vielschreiberei steht dieses Einzeldistichon in deutlichem Bezug zu 8,20, und wie dort konfrontiert uns Martial mit einer paradoxen Situation225: Ein Epigrammdichter produziert so viel Text, dass er sogar die verso-Seite seines Papyrus beschreiben muss226. Die Formulierung averso deo (2) deutet auf die mangelnde Qualität und fehlende Inspiration dieser poetischen Erzeugnisse hin und bildet ein raffiniertes Wortspiel mit der aversa charta im ersten Vers227. Der Name des Verspotteten dürfte nach antiker Etymologie mit picus (Specht) in Zusammenhang gebracht worden sein228, klingt aber auch an die als geschwätzig geltende Elster, pica, an229. Das skoptische Distichon auf Picens steht vermutlich in bewusster Juxtaposition zu einem Epigramm, in dem Martial sich wegen des Erfolges seiner Poesie orbe toto (8,61,3) rühmt. Zudem handelt es sich bei dem Gott, der 224
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Morelli (2008b), 42f. weist auf den Kontext von Buch 2 hin, in dessen Eröffungssequenz das Problem der angemessenen Länge v.a. eines Epigrammbuches reflektiert wird. Newman (1989), 252f. liest die Epigramme 2,77 und 6,65 vor dem Hintergrund der von alexandrinischen Dichtern, v.a. Kallimachos, geführten Debatte über die richtige Definition von Länge und Kürze, und führt als Beispiel Call. Epigr. 6 Pf. sowie das Scholion zu Ap. 106 (Pfeiffer II, p. 53) an. In 8,20 schreibt ein Dichter namens Varus zwar 200 Verse pro Tag, rezitiert aber nichts, was Martial durch die pointierte Formulierung non sapis atque sapis (2) kommentiert. Vgl. Schöffel (2002), 523f. zu 8.62. Vgl. ebd., ad loc. Man beachte auch das Homoioteleuton aversa…charta und averso…deo. Vgl. ebd., 492 zu 8,62. Sollte eine Assoziation mit diesem Vogel beabsichtigt sein, dann könnten hier auch die Choliamben zu Persius‘ Satiren im Hintergrund stehen, in denen sich der Sprecher auf programmatische Weise von unbegabten Dichterlingen distanziert und diese mit corvi und picae vergleicht (Pers. Chol. 9; 13); vgl. Kißel (1990), 89f. ad Pers. Chol. 89; 96f. ad Chol. 13-14; Martials Picens erinnert zudem auch an die picae, in die sich die Pieriden in Buch 5 der Metamorphosen verwandeln, nachdem sie den Musen im poetischen Wettkampf unterlegen sind (Met. 5,298ff. u. 662ff.).
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sich von den literarischen Bemühungen des Picens abwendet, aller Wahrscheinlichkeit nach um Apoll230, womit auch eine Verbindung zum folgenden Gedicht geschaffen wäre. Dort setzt sich Martial mit den Eigenarten seines Rezipienten Aulus auseinander (8,63): Thestylon Aulus amat sed nec minus ardet Alexin, forsitan et nostrum nunc Hyacinthon amat. i nunc et dubita vates an diligat ipsos, delicias vatum cum meus Aulus amet. Den Thestylus liebt Aulus, doch nicht weniger ist er für Alexis entbrannt, und vielleicht liebt er jetzt auch meinen Hyacinthos. Geh jetzt und zweifle noch, ob er die Dichter selbst schätzt, wo mein Aulus doch die Lieblinge der Dichter liebt.
Während Apoll zuvor vom Dichter Picens in die Flucht geschlagen wurde, taucht in 8,63,2 mit Hyacinthus der berühmte Geliebte des Gottes auf231. Die Darstellung des Aulus als eines Liebhabers von Knaben wie Thestylos, Alexis und Hyacinthus greift das zuvor in 8,55 232 entfaltete Motiv der Auswirkungen homoerotischer Liebe auf literarisches Schaffen auf; diesmal steht nicht ein produktionsästhetischer Aspekt (der Dichter, der durch amor zu einem puer inspiriert wird) im Vordergrund, sondern ein rezeptionsästhetischer: Aulus hat die Gedichte des Voconius Victor auf Thestylus233 sowie die zweite Ekloge Vergils234 gelesen und wird nun vielleicht ähnlich begeistert auf die Epigramme Martials reagieren235. Die Figur des Hyacinthus deutet Schöffel als „Chiffre für die homoerotischen Epigramme oder überhaupt das gesamte Korpus“ 236; diese Auslegung passt m.E. gut zur Juxtaposition des Epigramms mit 8,62: Dort wendet sich Apoll von Picens, der als negatives Kontrastbild zu Martial fungiert, ab, während Martials eigene Poesie wie einst der Knabe Hyacinthus vom Dichtergott geliebt wird. Vor kurzem hat Stephen Hinds darauf hingewiesen, dass 14,173, in dem ein Bild des vom Diskus getroffenen Hyacinthus beschrieben wird, intertextuell auf die Erzählung von Apoll und Hyacinthus bei Ovid anspielt und Martial damit auch ein mythologisches Aition für die 230
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Vgl. Schöffel (2002), 525 ad loc., der auf Prop. 4,1,73 hinweist, wo Apollo dem Dichter die Inspiration verweigert. Vgl. Ov. Met. 10,162-219. Zu diesem Gedicht s. ausführlicher Kap. 7.2. Vgl. Mart. 7,29,1: Thestyle, Victoris tormentum dulce Voconi. Dazu s. ausführlicher Kap. 4.3.4. Mit dem Hexameterschluss ardet Alexin (1) ist eine klare Anspielung auf den Beginn der zweiten Ekloge Vergils gegeben (Ecl. 2,1f. Formosum pastor Corydon ardebat Alexin, / delicias domini), vgl. Wagner (1880), 4; Schöffel (2002), 528 ad loc.; vgl. auch delicias vatum (8,63,4) und delicias domini in Ecl. 2,2. Gegen zumeist ältere Interpretationen, die in den drei Knaben reale Personen sehen wollten, richtet sich Schöffel (2002), 526f. zu 8,63. Ebd., 527 zu 8,63.
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Epigrammatik ins Gedächtnis ruft237: Apollo erscheint in den Metamorphosen nach dem Tod seines puer delicatus als Stifter einer Inschrift, indem er die Blätter der Hyazinthe mit den Lettern AI AI beschreibt, um seiner Klage Ausdruck zu verleihen238. Dieses Aition könnte auch in 8,63 mit der Erwähnung des Hyacinthus evoziert werden, zumal sowohl in der Metamorphosen-Geschichte als auch hier Gattungsmerkmale der Epigrammatik und der Elegie miteinander kombiniert sind239. Es ist außerdem denkbar, dass mit Thestylus und Alexis nicht nur Hinweise auf die Werke anderer Dichter gegeben sind, sondern auch auf Martials eigene Epigramme in früheren Büchern, wo diese Knaben verherrlicht wurden240; so wird Aulus als Rezipient imaginiert, der das Korpus linear gelesen hat und bei dem, so dürfen wir wohl vermuten, die an die Epigrammatik gestellte Forderung des prurire Wirkung zeigte. Neben Lesern wie Aulus muss sich Martial auch mit solchen auseinandersetzen, die sich weniger leicht von seinen Epigrammen begeistern lassen. Dies ist etwa in 6,65 der Fall, einem weiteren von mehreren Beispielen, wo auf das unmittelbar vorausgehende Gedicht Bezug genommen wird241. In 6,64 hatte Martial innerhalb von 32 Hexametern eine umfangreiche Invektive an einen anonymen Feind gerichtet, der seine Epigramme nicht nur kritisiert und zu emendieren versucht (6f.), sondern außerdem noch selbst Spottgedichte auf ihn zu verfassen gewagt hatte (22f.)242. Mehr als an ein Epigramm fühlt man sich als Leser hier an eine Satire erinnert 243, und ähnliche Bedenken werden in der folgenden Leserreaktion Tuccas, der an anderer Stelle selbst u.a. als Dichter von Epigrammen auftritt 244, thematisiert 237
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Hinds (2007), 143f.; das Verbum inscribere erscheint bei Ovid dreimal innerhalb dieser Erzählung (Met. 10,198 u. 215f.); zur häufigen Bezugnahme schon bei hellenistischen Dichtern auf den epigraphischen Ursprung der Gattung Epigramm vgl. Fantuzzi/Hunter (2004), 291-338. Ov. Met. 10,214ff. In den Metamorphosen weist die mit der Inschrift verbundene Klage auf den Ursprung der Elegie hin, bei Martial fallen mehrere für die Liebeselegie typische Begriffe auf wie amare (1; 2; 4), ardere (1), diligere (3) und deliciae (4); zu ardere vgl. etwa Ov. Am. 1,9,33; Epist. 5,105; zu diligere Ov. Ars 3,517 (Tecmessam diligat Aiax); zu deliciae Ov. Am. 3,14,18; Prop. 2,15,2. Dem Thestylus ist im 7. Buch ein Epigramm gewidmet (7,29), die Schönheit des Alexis wird abgesehen von einigen kürzeren Erwähnungen besonders in 8,55(56),1316 beschrieben; vgl. auch 5,16,12; 6,68,6; 7,29,7. Vgl. die Gedichtpaare 1,34-35 und 109-110 (s. Kap. 3.1, S. 68-70); 3,82-83 (brevitas); 8,28-29 (brevitas); vgl. 3,44-45; 7,3-4 und 11-12; 10,2-4, 7-9 und 58-59; 11,93-94; Grewing (1997), 388f. ad Mart. 6,61(60). Zu diesem Epigramm, in dem mit den Gattungsgrenzen zu Satire und Iambus gespielt wird, vgl. eingehender Kap. 6.2. Grewing (1997), 405. In 12,94 wird im Rahmen einer scherzhaften recusatio beschrieben, wie Tucca Martial in sämtlichen Gattungen, angefangen beim Epos, Konkurrenz macht, diesen dadurch zum Verfassen von epigrammata zwingt und sich dann sogar auf diesem Gebiet betä-
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(6,65). Abgesehen von der Länge (3) ist Tucca vor allem über das Versmaß von 6,64 empört (6,65,1: ‚Hexametris epigramma facis’), woraufhin Martial ihm erklärt, sowohl lange als auch hexametrische Epigramme tauchen gelegentlich auf und seien auch erlaubt (2-3). Dass für ihn ein solches Gedicht noch zur Kategorie der Epigramme gehört, wird durch das zweifache Hervorheben des Gattungsbegriffes (1; 5) deutlich 245. Dies ist umso bemerkenswerter, als in der epigrammatischen Tradition vor Martial lange Gedichte im Hexameter ausgesprochen selten vorkommen246. Plinius der Jüngere zitiert in Epist. 7,4 ein hexametrisches Epigramm, das er früher einmal in Anlehnung an ein Gedicht Ciceros auf Tiro (7,4,3: epigramma Ciceronis) verfasst haben will und das sonderbarerweise als Aition für seine späteren poetischen Produkte in Hendekasyllabi angeführt wird247. Anders als bei Martial ist der Inhalt kein invektivischer, sondern ein erotischer, und zudem weist die in dem Brief skizzierte Entstehungssituation des Poems – Schlaflosigkeit des Verfassers ist der Grund – Parallelen zu Catull c. 50 auf248. Vermutlich ist es kein Zufall, dass auch Martial unmittelbar nach seinem formalen Experiment in 6,64-65 wieder auf die von Catull vorgegebene Tradition rekurriert, wenn er in 6,66, einem Epigramm in Hendekasyllabi, einmal mehr dessen Kussgedichte parodiert249.
3.3.2
Einzeltext und Epigrammbuch
Über das Verhältnis von Einzeltext und Gedichtbuch wird von Martial in 7,85 programmatisch innerhalb einer Auseinandersetzung mit dem Amateurdichter Sabellus reflektiert, der im Korpus mehrmals als Zielscheibe des Spottes aufgrund seiner sexuellen Vorlieben sowie seiner dilettanti-
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tigt. S. dazu Kap. 4.3.4. Tucca ist auch in anderen Zusammenhängen Zielscheibe von Martials Spott, so etwa in 1,18; 7,77; 9,75; 11,70; 12,41. Grewing (1997) ad 6,65,1 hebt die das gattungsästhetische Empfinden des Tucca abbildende Antithese hexametris epigramma hervor. Grewing (1997), 405ff. mit Beispielen. Unter Catulls kurzen Gedichten findet sich kein einziges rein hexametrisches Gedicht; auch in der griechischen Tradition ist diese Form sehr selten, die meisten Fälle stammen aus dem 2. Jh. n.Chr. oder späterer Zeit; vgl. Citroni (2003), 24-25. Auch bei Martial gibt es mit 1,53 nur ein weiteres mehrere Verse umfassendes Beispiel, während 2,73 und 7,98 nur aus einem einzigen Vers bestehen; in allen vier Fällen haben wir es mit invektivischen bzw. satirischen Inhalten zu tun. Zu diesem Paradox vgl. Marchesi (2008), 82. Vgl. Plin. Epist. 7,4,4 nec obreperet somnus mit Catul. c. 50,10 nec somnus tegeret quiete ocellos; 7,4,5 his versibus exaravi mit c. 50,16 hoc…poema feci; Hershkowitz (1995), 173; Marchesi (2008), 82 Anm. 45. Daneben erinnern die im Epigramm beschriebenen Küsse Tiros natürlich an Catulls basia-Gedichte. Der praeco Gellianus will ein Mädchen zweifelhaften Rufes als Sklavin verkaufen und küsst es mehrmals (7: bis terque quaterque basiavit); daraufhin zieht der potentielle Käufer sein Angebot zurück.
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schen Versuche auf dem Gebiet der Poesie auftaucht 250. Martial gesteht seinem Kollegen zwar mit mäßigem Enthusiasmus zu, dieser verfasse non insulse…tetrasticha quaedam (1)251 und mache disticha…belle pauca (2), konstatiert jedoch abschließend: facile est epigrammata belle / scribere, sed librum scribere difficile est (3f.)252. Die Komposition eines Epigrammbuches ist demzufolge als der Produktion von Einzeltexten überlegen anzusehen. Der Vierzeiler ist inhaltlich und verbal mit zwei weiteren Gedichten am Ende von Buch 7 verbunden, wo ebenfalls theoretische Überlegungen zur gelungenen Zusammensetzung eines Epigrammbuches angestellt werden. In 7,81 beschwert sich jemand namens Lausus darüber, dass das vorliegende Buch dreißig schlechte Gedichte enthalte (1), woraufhin Martial entgegnet, dass, wenn sich ebenso viel gute Gedichte darin befinden, es ein bonus liber sei (2)253. Der Name des ansonsten unbekannten Adressaten254 lässt sich κατ’ ἀντίφρασιν zu seiner Funktion als Kritiker von laus (Lob) ableiten255, wodurch ein Bezug zu Martials Aussage in 7,85 hergestellt ist, er lobe zwar die Verse des Sabellus, bewundere sie aber nicht (3: laudo nec admiror). In 7,90 erfahren wir dann, dass Martial von Matho dafür getadelt wird, er habe einen inaequalis libellus (1) geschaffen. Die Epigramme 7,81 und 90 sind durch das Motiv der aequalitas und des bonus bzw. malus liber256 sowie des Lobes (Lausus in 7,81 und laudat…Matho in 7,90,2) deutlich zueinander in Bezug gesetzt. Matho wiederum war zuvor der Adressat von 6,33, wo Martial berichtet hatte, wie der in 7,85 angesprochene Sabellus sich aufgrund finanzieller Nöte vom pedicator in einen fututor verwandeln musste257, und in 7,10 wird Matho dann seinerseits wegen sexueller Extravaganzen verspottet258. In 10,46 schließlich wirft Martial ihm sein krampfhaftes Bestreben vor, omnia belle dicere (1), anstatt dem schon in 1,16 propagierten Prinzip der variatio entsprechend bona, neutra und mala zu vermischen. Das Adjektiv bellus verstärkt die despektierliche Haltung des Sprechers und charakterisiert, wie es auch bei Sabellus der Fall ist, den Angesprochenen als unmännlich259. Seine Polemik gegen bestimmte literaturtheoretische 250
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Vgl. 3,98; 4,46; 6,33; 9,19; 12,39; 43; 60. Zu 12,43, wo Sabellus als Verfasser pornographischer Dichtung auftaucht, s. ausführlicher Kap. 4.3.4. Dieses geringschätzige Zugeständnis macht Martial selbst innerhalb eines Tetrastichon. „Es ist leicht, Epigramme hübsch zu schreiben, doch ein Buch zu schreiben, ist schwer.“ Vgl. 1,16; Plin. Epist. 3,5,10; Plin. Nat. 27,9; vgl. Galán Vioque (2002), 448 ad loc. Er taucht noch in 7,87 und 88 auf; vgl. Merli (1995), 291; Galán Vioque (2002), 448 ad loc. Vgl. Höschele (2010), 41. 7,81,2 bonus liber est – 7,90,4 liber…qui malus est; vgl. Höschele (2010), 41. Vgl. dazu Grewing (1997), 239f. ad loc. 7,10,3-4. Vgl. 12,39,1 odi te quia bellus es, Sabelle; 3,63 allgemein über den homo bellus; Catul. c. 25 auf den Kinäden Thallus unterstreicht ebenfalls dessen Unmännlichkeit durch Laut-
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Auffassungen lässt Martial demnach mit der Skoptik über sexuelle Verhaltensweisen einhergehen. Aequalitas wird als Qualitätsmerkmal poetischer Produkte nicht nur von Martials fiktiven Gegnern, sondern auch verschiedenen antiken Literaturtheoretikern gefordert260, ist jedoch, wie besonders aus 7,90 hervorgeht, kein vom Epigrammatiker angestrebtes Ideal, ja wird sogar von ihm vermieden, da ihm zufolge nur unfähige Poetaster wie Calvinus und Umber 261 derartige libri produzieren (3f.). Dieser Aussage widerspricht jedoch implizit der formale Charakter der das Gedicht rahmenden Epigramme, ähnlich wie wir es schon im Fall von 2,77 beobachten konnten: Die Sequenz 7,89-91 befolgt mit ihren jeweils aus vier Versen bestehenden Poemen durchaus das Prinzip der Gleichmäßigkeit, zumindest vorübergehend, und erinnert zudem an die vorher erwähnten tetrasticha des Sabellus. Hatte Martial in 2,77 durchaus für eine Ausgewogenheit der Bestandteile von Einzelgedichten plädiert – non sunt longa quibus nihil est quod demere possis (7) – so scheint für ihn bei ganzen Büchern das Streben nach Harmonie der Einzelelemente nicht unbedingt zwingend zu sein, ja offenbar versucht er hier sogar das Ideal der völligen Homogenität zu unterminieren262. Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass Martial in unmittelbarer Nachbarschaft zu jenen Epigrammen, in denen die Überlegenheit des liber gegenüber einzelnen Texten thematisiert wird, seinen Ruhm und seine Beliebtheit als Dichter hervorhebt. In 7,84 prophezeit er seiner Poesie ein längeres Leben als dem Werk des Apelles263, und in 7,88 erfahren wir, dass sich seine Popularität bis nach Vienna in Gallia Narbonensis erstreckt. Das Medium Buch, so dürfen wir schlussfolgern, überwindet sowohl zeitliche als auch räumliche Grenzen. Im Zusammenhang mit den Reflexionen zur Textualität von Gedichtbüchern verdienen auch Martials Praxis, einige seiner libri durch Prosavorreden einzuleiten, sowie seine poetologischen Aussagen dazu eine nähere
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malerei: Cinaede Thalle, mollior cuniculi capillo / vel anseris medullula vel imula oricilla; c. 106,1; vgl. Obermayer (1998), 58ff. zur Figur des homo bellus. Rhet. Her. 4,12,18; Cic. de Orat. 2,64; 3,45; Quint. Inst. 3,8,60; 10,1,54; 10,1,86-87; Tac. Dial. 31; vgl. Sen. Contr. 3, praef. 18; Suas. 6,27; vgl. Galán Vioque (2002), 482. Calvinus wurde von F.G. Schneidewin zu Cluvienus emendiert und mit dem in Juvenals programmatischem Statement in Sat. 1 erwähnten Dichter identifiziert: si natura negat, facit indignatio versum / qualemcumque potest, quales ego vel Cluvienus; Umber taucht bei Martial neben dieser Stelle in 7,53 und 12,81 als Gönner, der dem Dichter unpassende Geschenke macht, auf; vgl. Galán Vioque (2002), 483 ad loc. Zur Durchbrechung der Symmetrie augusteischer Gedichtbücher bei Martial bemerkt Rimell (2008), 50: „He emerges from this collection not just, as critics have recently stressed, as a quasi- or post-Augustan poet, able to craft his books as sophisticated and unified architectural pieces, but also as an aggressive innovator experimenting in a radical way with the chemistry of interconnection, and with the contradiction of jumbled order.“ Zur auffälligen Nachbarschaft der Epigramme 7,84 und 85 vgl. Höschele (2010), 39.
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Betrachtung. In fünf Büchern264 des Korpus der XII Epigrammaton libri tritt Martial sozusagen im paratextuellen Bereich als Verfasser der Gedichte auf, wenn er uns als Sprecher von Prosaepisteln begegnet265. Damit scheint er, soweit wir feststellen können, der Gattung ein völlig neues Element hinzugefügt zu haben, denn neben den Silvae des Statius liefern Martials epigrammata das erste Beispiel in der lateinischen Literatur für die Kombination von Prosa-praefationes und Gedichtbüchern266. Aus der griechischen Dichtung, geschweige denn Epigrammatik, ist nichts Vergleichbares bekannt. Besonders aufschlussreich ist die epistula zu Buch 2, in der die Sinnhaftigkeit der Einleitung von Epigrammbüchern durch eine Prosavorrede in Frage gestellt wird. Formal ist diese praefatio völlig anders gestaltet als jene zum ersten Buch, denn nicht der Dichter selbst tritt als die wichtige poetologische Aussagen artikulierende Instanz auf, sondern der Adressat Decianus: VAL. MARTIALIS DECIANO SUO SAL. 'Quid nobis' inquis 'cum epistola? parum enim tibi praestamus, si legimus epigrammata? quid hic porro dicturus es quod non possis versibus dicere? video quare tragoedia aut comoedia epistolam accipiant, quibus pro se loqui non licet: epigrammata curione non egent et contenta sunt sua, id est mala, lingua: in quacumque pagina visum est, epistolam faciunt. noli ergo, si tibi videtur, rem facere ridiculam et in toga saltantis inducere personam. Denique videris an te delectet contra retiarium ferula. ego inter illos sedeo qui protinus reclamant.' Puto me hercules, Deciane, verum dicis. quid si scias cum qua et quam longa epistola negotium fueris habiturus? itaque quod exigis fiat. debebunt tibi si qui in hunc librum inciderint, quod ad primam paginam non lassi pervenient. Valerius Martialis grüßt seinen Decianus „Was soll ich“, sagst du, „mit einer Epistel? Leiste ich dir denn zu wenig, wenn ich deine Epigramme lese? Was willst du hier denn noch sagen, das du nicht in Versen sagen könntest? Ich sehe ein, warum Tragödie und Komödie eine Epistel bekommen, denen es nicht möglich ist, für sich selbst zu sprechen. Epigramme haben keinen Herold nötig und sind zufrieden mit ihrer, d.h. der boshaften Sprache; auf welcher Seite auch immer es ihnen beliebt, machen sie eine 264 265
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Es handelt sich dabei um die Bücher 1, 2, 8, 9 und 12. Mit Ausnahme der praefatio zu Buch 1 sind alle Prosavorreden bei Martial formal als Brief gestaltet, an einen bestimmten Adressaten gerichtet und werden teilweise explizit als epistolae bezeichnet (vgl. 1 praef. 13.17; 2 praef. 1.4.8.13). Manche Handschriften stellten, wohl um sie an die übrigen Vorreden anzugleichen, der epistola zu Buch 1 die Grußformel Valerius Martialis lectori suo salutem voran, vgl. Howell (1980), 95; Johannsen (2006), 58f. Daneben lässt sich, ebenfalls aus der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. stammend, Columellas zehntes in Hexametern abgefasstes und den Gartenbau behandelndes Buch aus De re rustica anführen, das ebenfalls von einer Prosavorrede eröffnet wird; es ist allerdings, wie Johannsen (2006), 33f. zu bedenken gibt, nicht zur Gänze mit Martials Epigrammen und Statius‘ Silvae vergleichbar, da die übrigen libri des Werkes in Prosa stehen und daher weniger die Prosavorrede von Buch 10 als der anschließende Wechsel zur Versform eine Besonderheit darstellt.
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Epistel. Mach bitte, wenn es dir beliebt, die Sache nicht lächerlich und bringe nicht einen Tänzer in einer Toga auf die Bühne. Schließlich: Sieh selbst, ob du mit einem Stock Freude hast im Kampf gegen einen Netzfechter. Ich sitze unter denen, die sofort laut ihr Missfallen äußern.“ Ich glaube, beim Herkules, du hast recht, Decianus. Was wäre erst, wenn du wüsstest, mit welcher und welch langer Epistel du es zu tun haben solltest? Daher soll geschehen, was du forderst. Dir werden es die Leute zu verdanken haben, sollte irgendjemand an dieses Buch geraten, dass sie nicht erschöpft zur ersten Seite gelangen.
Anders als in der ersten praefatio geht es in Decianus‘ Rede nicht um eine Charakterisierung des vorliegenden liber insgesamt, sondern um die Frage nach dem Sinn einer Kombination von Epigrammbüchern und Prosaepisteln, so dass es sich hier genaugenommen um eine „Meta-praefatio“ handelt267. Die Frage, was man in einer Epistel sagen könne, das sich nicht auch in Versen ausdrücken ließe (3-4), impliziert, dass Decianus als Rezipient zwischen einer “extrafictional” und “fictional voice” des Autors268 nicht differenziert und sowohl hinter dem Prosateil als auch den Gedichten dieselbe Sprecherinstanz vermutet; ein Unterschied besteht für ihn nur zwischen der prosaischen und dichterischen Einkleidung der Äußerung und somit der Textgattung. In Anlehnung an die aristotelische μίμησις-Theorie setzt er die Epigrammatik in Kontrast zum Drama, wo der Dichter innerhalb der Handlung keine direkten poetologischen Aussagen machen kann (3-8)269. Der Vergleich mit Tragödie und Komödie, die daran anschließende, Martials unangemessene Verwendung von Prosa-Episteln illustrierende Metaphorik aus dem Bereich der ludi scaenici (8-9) und ludi circenses (910), sowie Decianus‘ Selbstdarstellung als einer der Zuschauer im Theater (10-11) schafft eine Verbindung zur praefatio von Buch 1270. Durch die Gestaltung der Vorrede als fiktiver Dialog zwischen Decianus als konkretem Adressaten und Martial wird auch der allgemeine Leser in die Rolle eines Zuschauers versetzt, der hier „eine kleine szenische Darbietung“ beobachtet271. Martials Reaktion auf die Protestrede seines Freundes beinhaltet nun keine Verteidigung seiner poetischen Praxis, sondern bedingungslose Zustimmung. Decianus wird als verantwortlich dafür charakterisiert, dass der Epigrammatiker auf eine weitere Ausdehnung der vorliegenden praefatio –
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So Johannsen (2006), 81. Zur Differenzierung mehrerer Fiktionsebenen vgl. Lanser (1981); Wolf (1999); eine Diskussion dieser Ansätze liefert Johannsen (2006), 47ff. Vgl. Arist. Po. 3, 1448a 19-24; Quintilian, Inst. 8,3,31 berichtet von einer Auseinandersetzung der Tragödiendichter Pomponius Secundus und Seneca des Jüngeren über stilistische Fragen in praefationes. Ob dies als Beleg für eine Praxis kaiserzeitlicher Dramendichter gewertet werden kann, ihren Stücken Prosavorreden vorausgehen zu lassen, ist umstritten, vgl. Johannsen (2006), 34 u. 79. Vgl. Johannsen (2006), 80. Ebd., 85.
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und bis zu Buch 8 offenbar auch auf den Gebrauch weiterer Vorreden – verzichtet. Über die Funktion der Prosaepistel zu Buch 2 ist viel gerätselt worden, und mittlerweile geht man davon aus, dass die Decianus in den Mund gelegte Kritik sich weniger auf eine bei den zeitgenössischen Dichtern weit verbreitete, aber uns nicht mehr greifbare Praxis bezieht, als vielmehr auf die unmittelbar vorausgehende Vorrede zum ersten Buch 272. Mit Hilfe des Einsatzes eines fiktiven interlocutor unterminiert Martial sein eigenes literarisches Tun, so dass die beiden praefationes als Paar komponiert zu sein scheinen273, dessen zweiter Teil den ersten in Frage stellt bzw. parodiert. Der Schluss des ersten und der Beginn des zweiten liber sind ebenfalls eng miteinander verkettet: Gehäuft taucht hier der Gattungsbegriff epigrammata auf274, und auch das Motiv der Länge bzw. Kürze eines Buches wird variiert275. Die epistula zu Buch 2 endet zwar nicht mit einem eigenen epigramma extra ordinem paginarum276, doch auch hier steht das erste Gedicht innerhalb des Buches in einem engen Bezug zur Vorrede. Das dort abgehandelte Problem der longa epistula geht über in Martials Reflexionen zur angemessenen Länge seines libellus (2,1)277. Beschwert sich Decianus als Leser von Buch 2 indirekt über den Umfang der Vorrede, so findet dieser Protest sein Gegenstück in 2,5, wo sich nun Martial seinerseits über den langen Weg von zwei mal zwei Meilen, der mit einem erfolglosen Besuch bei Decianus verbunden ist, beklagt278. Vor dem Hintergrund der in antiker Dichtung 272 273
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Vgl. Johannsen (2006), 85ff. mit einer Diskussion der älteren Forschung. Vielleicht bildet die Tatsache, dass in der ersten epistula Martial der Sprecher ist und in der zweiten vorrangig Decianus, die antike Theorie vom Brief als Hälfte eines Dialoges ab; zusammengenommen stellen die beiden epistulae dann einen ganzen Dialog dar; vgl. Ps.-Demetr. Περὶ ἑρμηνείας 223; Cic. Att. 12,53; Phil. 2,7; Thraede (1970), 22; Görgemanns (1997/99a), 1163; Holzberg (2007a), 104. 1,117,3; 118,1; 2 praef. 2 u. 6; 2,1,1. In 1,117,11-12 soll Lupercus schnell die Dichternamen auf den Pfosten vor dem Buchladen lesen; in 1,118 hat, wer mehr als hundert Epigramme lesen will, vom Schlechten (2: mali) nicht genug; in 2 praef. ist Decianus u.a. durch seinen Hinweis auf die mala lingua der Epigramme dafür verantwortlich, dass die Leser sich nicht mit einer langen Epistel quälen müssen; 2,1, schließlich klärt das Buch über die Vorteile von brevitas auf und greift mit der Erwähnung von ter centena…epigrammata (1) auf 1,118 und der Frage quis te…perlegeret (2) auf 1, praef. 12 und 1,117,12 zurück. Vgl. 9 praef. 1f.; 1, praef. 16f. Vgl. die Vorstellung von ermüdeten Lesern in 2 praef. 15 und 2,1,2; vgl. mala lingua (2 praef. 7) und malus (2,1,8), longa epistola (2 praef. 13) und quam multis…longus eris (2,1,12). 2,5: Ne valeam, si non totis, Deciane, diebus / et tecum totis noctibus esse velim. / sed duo sunt quae nos disiungunt milia passum: / quattuor haec fiunt, cum rediturus eam. / saepe domi non es, cum sis quoque, saepe negaris: / vel tantum causis vel tibi saepe vacas. / te tamen ut videam, duo milia non piget ire; / ut te non videam, quattuor ire piget („Ich will nicht gesund sein, Decianus, wenn ich mit dir nicht an sämtlichen Tagen und in sämtlichen Nächten zusammen sein will. Doch es sind zwei Meilen, die uns voneinander tren-
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verbreiteten Reisemetaphorik, durch die häufig der Lektüreprozess verbildlicht wird279, lässt sich dieses Epigramm m.E. als Spiegelung der Mühen, die ein Rezipient eines übermäßig langen Textes auf sich nehmen muss, verstehen280. Denn gleich im anschließenden Gedicht (2,6) wird der faule Leser Severus, der angesichts der Lektüre von nur zwei Seiten bereits ausgiebig gähnt (4: longas trahis oscitationes), mit einem ermüdeten Wanderer (14: lassus…viator)281 verglichen. Martial parallelisiert seine Strapazen als wandernder Klient demnach indirekt mit denjenigen, die Rezipienten langer Texte zu erdulden haben. In der poetologischen Bildersprache der Epigramme erscheint Martials Dasein als Klient somit eng mit dem als Dichter verbunden: Der vielbeschäftigte patronus bzw. amicus erschwert mit seiner Betriebsamkeit zum einen der epigrammatischen persona das Leben und bedingt zum anderen durch seine vermutlich mit den negotia zusammenhängende Ungeduld als Rezipient von Martials Texten deren Kürze.
3.3.3
Autorschaft und Plagiat
Zu den verschiedenen literaturtheoretischen Diskursen, die uns bei Martial begegnen, gehört auch die Frage der Autorschaft. Innerhalb der zwölf Epigrammbücher begegnen wir mehreren Gedichten, die sich mit dem Problem des geistigen Diebstahls auseinandersetzen. Auffällig ist dabei die Verteilung der betreffenden Epigramme im Gesamtkorpus, denn die Hälfte davon findet sich in Form eines eigenen Zyklus, der nach dem darin auftretenden Hauptprotagonisten Fidentinus benannt ist, im ersten Buch, während das Thema danach nur in 2,20 und gehäuft erst wieder am Ende der Sammlung behandelt wird282. Ob dieser Umstand, wie manche Forscher glauben, der historischen Situation des biographischen Dichters geschuldet ist, der sich mit Buch 1 erst in der Öffentlichkeit etablieren oder sich in Buch 10-12 nach dem Regimewechsel seine Stellung als Schriftsteller in der Gesellschaft wieder erarbeiten muss, wird man kaum mehr beurteilen
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nen, und es werden vier daraus, wenn ich mich auf den Rückweg mache. Oft bist du gar nicht daheim, und auch wenn du es bist, lässt du dich oft verleugnen; oft hast du nur für deine Prozesse oder dich selbst Zeit. Dennoch macht es mir nichts aus, zwei Meilen zu gehen, um dich zu sehen. Es macht mit aber etwas aus, vier zu gehen, um dich nicht zu sehen“). Vgl. dazu Höschele (2007). Vgl. die in 2 praef. 15 als ermüdet (lassi) bezeichneten Leser. Verbal korrespondiert der Vers mit 2 praef. 15 (lassi); vgl. Höschele (2010), 126-7. 1,29; 38; 52; 53; 66; 72; zum „Fidentinus-Zyklus“ in Buch 1 vgl. Barwick (1958), 308f.; Fearnley (1998), 62-68; Mindt (im Druck) eine Gesamtanalyse des Zyklus unternimmt Spahlinger (2004); vgl. Seo (2009); andere das Plagiat betreffende Epigramme sind ferner 1,63; 2,20; 10,100; 102; 11,94; 12,63; zur Thematisierung von Plagiat in der antiken Literatur vgl. Dziatzko (1894); Stemplinger (1912); Birt (1917), 315f.; Ziegler (1950). In den Xenia, Apophoreta und im Liber Spectaculorum wird Plagiarismus nicht thematisiert.
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können283. Etwas Ähnliches wie das moderne Copyright gab es in der Antike nicht284, und Gedichte, die man noch nicht in einem Buch herausgegeben hatte und die auf anderen Wegen zirkulierten, waren offenbar noch stärker der Gefahr des literarischen Diebstahls ausgesetzt als solche, die als fixer Bestandteil eines publizierten liber verbreitet wurden; einen Hinweis darauf gibt etwa Plinius der Jüngere (Epist. 2,10,3), wenn er seinen Freund Octavius dazu auffordert, seine Gedichte endlich zu veröffentlichen: Enotuerunt quidam tui versus, et invito te claustra sua refregerunt. Hos nisi retrahis in corpus, quandoque ut errones aliquem cuius dicantur invenient („Einige Verse von dir sind schon bekannt geworden und haben gegen deinen Willen ihren Käfig aufgebrochen. Wenn du sie nicht in das Korpus zurückziehst, werden sie früher oder später wie entlaufene Sklaven irgendwen finden, als dessen Eigentum sie bezeichnet werden können“)285. Manche Gelehrte gingen davon aus, dass der dem Thema Plagiat gewidmete Zyklus im ersten Buch Martials eine ähnliche der Publikation vorausgehende Situation widerspiegle und der Epigrammatiker in späteren libri, nachdem er einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte, auf die Auseinandersetzung mit dem Problem verzichten konnte286. Abgesehen von den biographischen ist jedoch auch nach den poetischen Gründen zu fragen, aus denen Martial diese Gedichte in sein Werk einbaute. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass besonders im ersten Buch wiederholt über das Verhältnis zwischen Dichter, Text und Leser und im Zusammenhang damit über Aspekte der Textproduktion und -komposition, Veröffentlichung und Rezeption reflektiert wird, wobei Martials auktorialer Anspruch auf das von ihm Geschriebene besonders deutlich zutage tritt287. Zu diesem mehr oder weniger proömialen Charakter von Buch 1 passt auch die Serie der Epigramme auf Plagiarismus besonders gut, und Lothar Spahlinger hat innerhalb seiner Analyse der Fidentinus-Epigramme zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass man diese Gedichte zum weiteren Motivkreis von Martials dichterischer Selbstrühmung zählen muss288. So dürfte die wiederholte Behauptung des Epigrammatikers in Buch 1, der Gefahr des Plagiats ausgesetzt zu sein, vor allem als Eigenwerbung zu verstehen sein 289.
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So Spahlinger (2004), 486ff., der historische Erklärungen für die Verteilung der Plagiats-Epigramme sucht, dabei jedoch in keine rein biographistische Ausdeutung verfallen möchte und so in Martials betreffenden Gedichten eine fiktive Situation mit realem Hintergrund sieht. Vgl. Widmann (1967), 629f.; Howell (1980), ad Mart. 1,52; Seo (2009), 574; zur Differenzierung von Plagiat und legitimer imitatio in der Antike vgl. McGill (2010). Vgl. Citroni (1975), 96; Howell (1980), 168; Seo (2009), 569ff.; Höschele (2010), 46f. Vgl. Citroni (1975), 96; Howell (1980), 168. S. Kap. 2.1.1. Besonders zentral im ersten Buch ist in diesem Zusammenhang natürlich 1,1; vgl. Spahlinger (2004), 492f. Ähnliches dürfte für Sen. Contr. 1 zutreffen, wie McGill (2010), 114f. beobachtet.
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Eröffnet wird die Reihe durch ein Epigramm, in dem Martial zunächst durch die fama vom literarischen Diebstahl des Fidentinus gehört haben will – dieser rezitiert Martials Gedichte öffentlich als seine eigenen (1,29,12) – und daraufhin dem Rivalen folgendes Angebot macht (3-4): si mea vis dici, gratis tibi carmina mittam: / si dici tua vis, hoc eme, ne mea sint 290. Sollte Fidentinus sich dazu entscheiden, Martials Autorschaft anzuerkennen, will ihm der Epigrammatiker seine Gedichte umsonst zukommen lassen. Der auf dieses Versprechen folgende Vers hat bei den Forschern allerdings für Verständnisprobleme gesorgt, da nicht klar hervorgeht, was mit hoc gemeint ist. Mehrere Gelehrte vermuten, es handle sich um das vorliegende Buch291, das Fidentinus kaufen soll, um sich als rechtmäßiger Besitzer der Epigramme ausgeben zu können292. Folgt man dieser Auffassung, erinnert Martials Gedicht an einen bei Seneca formulierten Gedanken (De benef. 7,6,1): libros dicimus esse Ciceronis; eosdem Dorus librarius suos vocat, et utrumque verum est. alter illos tamquam auctor sibi, alter tamquam emptor adserit: at recte utriusque dicuntur esse. utriusque enim sunt, sed non eodem modo: sic potest T. Livius a Doro accipere aut emere libros suos. Wir sagen, die Bücher gehören Cicero; dieselben Bücher nennt der Buchhändler Dorus sein Eigentum, und beides trifft zu. Der eine beansprucht sie als Autor für sich, der andere als Käufer. Doch zu Recht können sie als Eigentum beider bezeichnet werden, denn beiden gehören sie, aber nicht auf dieselbe Weise. So kann T. Livius seine eigenen Bücher von Dorus erhalten oder gar kaufen.
Seneca zufolge ist der Besitz einer publizierten Buchrolle als gleichwertig zum Anspruch auf geistiges Eigentum zu erachten. Auf diese Besonderheit im römischen Recht spielt Martial offenbar an, wenn er Fidentinus zum Kauf des liber auffordert293. Für eine weitere Möglichkeit, hoc in Vers 4 zu deuten, hat sich Peter Anderson mit dem Argument ausgesprochen, man müsse 1,29 vor dem 290
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„Wenn du willst, dass sie als meine gelten, werde ich dir die Gedichte gratis schicken; wenn du willst, dass sie als deine gelten, dann kauf das, damit sie nicht mehr meine sind.“ Die chiastische Anordnung der Pronomen - mea…tibi (3) und tua…mea (4) - spiegelt die inhaltliche Antithese zwischen der Autorschaft Martials und der des Fidentinus wider. Dass der Besitz geistigen Eigentums durch Kauf übertragbar ist, wird auch in 2,20 thematisiert: Carmina Paulus emit, recitat sua carmina Paulus. / nam quod emas possis iure vocare tuum („Gedichte kauft Paulus, als seine eigenen rezitiert Paulus die Gedichte; denn was du kaufst, kannst du wohl mit Recht dein Eigentum nennen“). Vgl. Citroni (1975), 97f. ad loc.; Spahlinger (2004), 474; Rimell (2008), 43; anders Howell (1980), 169 ad loc., der hoc als Antizipation zu ne mea sint auffasst; hoc im Sinne von hunc librum findet sich auch in 3,1,1; 5,1,1; 7,26,3; Ov. Am. 2,2,1; vgl. Galán Vioque (2002), 193. Damit würde 1,29 auf 1,2 (besonders v.3 hos eme) zurückverweisen. Vgl. Gaius Inst. 2,77; Dig. 41; Fitzgerald (2007), 97 Anm. 57; Seo (2009), 580.
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Hintergrund der Pointe in dem zum selben Zyklus gehörenden Gedicht 1,66 lesen294. Dort richtet sich Martial gegen einen anonymen Dieb 295 und klärt diesen darüber auf, dass, wer Dichterruhm erkaufen wolle, sich ein unbekanntes und noch nicht verbreitetes Büchlein besorgen müsse (1-12). Das Epigramm schließt mit dem Diktum (13f.) aliena quisquis recitat et petit famam, / non emere librum, sed silentium debet 296. Im Fall von 1,29 würde demzufolge die Aufforderung hoc eme (4) sich auf das vorliegende Epigramm beziehen und zugleich auf silentium emere in 1,66,14 vorausverweisen, d.h. Fidentinus müsste Martials Schweigen kaufen, damit dieser keine weiteren Plagiatsvorwürfe wie in 1,29 verbreitet. Vermutlich beinhaltet hoc in 1,29,4 eine absichtliche Ambivalenz zwischen Buch und einzelnem Gedicht297, wobei die zweite Bedeutung erst im Kontext des Epigrammzyklus ihr Sinnpotenzial entfalten würde und eine zusätzliche Pointe ins Spiel käme: Da Fidentinus offenbar nicht bereit ist, für Martials Schweigen zu zahlen, kann sich die Reihe der Spottgedichte gegen ihn fortsetzen, denn in 1,38 begegnen wir dem Plagiator erneut beim Rezitieren eines fremden libellus. Während Martial in 1,29 seine Anschuldigungen auf die fama stützt, kommt im zweiten Epigramm des Zyklus ein neuer Aspekt ins Spiel: Quem recitas meus est, o Fidentine, libellus: / sed male cum recitas, incipit esse tuus 298. Aus dem Hörensagen ist nun eine Tatsache geworden 299, und der Besitzerwechsel der Epigramme erfolgt hier unter einem anderen Blickwinkel: Nicht das Kaufen von Gedichten, sondern die schlechte Rezitation des libellus wird als ausschlaggebend präsentiert 300. Der Dieb, dessen Name an fides anklingt und dadurch κατ’ ἀντίφρασιν zum Charakter seines Trägers gebraucht ist301, verkörpert das Gegenteil zu Martials Freund Decianus, der unmittelbar danach in 1,39 als raros inter numerandus amicos, / quales prisca fides famaque novit anus (1f.)302 gepriesen wird303.
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Anderson (2006); vgl. Spahlinger (2004), 477. Schon aufgrund der Thematik und der verbalen Bezüge zu den Epigrammen auf Fidentinus ist zu vermuten, dass es sich wieder um letzteren handelt, vgl. Spahlinger (2004), 477f. „Wer fremde Werke rezitiert und Ruhm erstrebt, der soll kein Buch, sondern Stillschweigen kaufen.“ Vgl. Fitzgerald (2007), 94f. „Das Büchlein, aus dem du rezitierst, Fidentinus, ist meines; doch wenn du schlecht rezitierst, wird es nach und nach deines.“ Vgl. Spahlinger (2004), 481. Vgl. Rimell (2008), 44: „The twist now is that when he hears Fidentinus destroying the epigrams in his clumsy recitation, Martial is tempted to deny (rather than claim) ownership“. Zur Bedeutung der Mündlichkeit und Rezitation in Martials Epigrammen vgl. Burnikel (1990); Nauta (2002), 93-105; allgemein Binder (1995). Vgl. Barwick (1958), 308; Citroni (1975), 97. „…zu seltenen Freunden zu zählen, wie sie die althergebrachte Treue und alte Tradition kennt.“
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Hatten die libelli bisher lediglich unter der miserablen Vortragstechnik des Fidentinus zu leiden, so verschlechtert sich ihr Schicksal in 1,52, denn nun beklagen sie sich über grave servitium (4). Daher ruft Martial seinen Freund Quintianus304 zu Hilfe (4-9): si de servitio gravi queruntur, adsertor venias satisque praestes, et, cum se dominum vocabit ille, dicas esse meos manuque missos. hoc si terque quaterque clamitaris, impones plagiario pudorem. Wenn sie über die harte Knechtschaft klagen, dann komm du bitte als Beschützer und leiste hinreichend Bürgschaft, und, sobald jener sich als ihr Herr ausgibt, sag du bitte, dass sie meine sind und freigelassen wurden. Wenn du das drei oder viermal laut gesagt hast, wirst du dem Plagiator Schamgefühl auferlegen.
Bemerkenswert an diesem Epigramm ist nicht nur die Tatsache, dass wir hier den ersten Beleg für den Gebrauch von plagiarius (9) in Bezug auf literarischen Diebstahl vorfinden305, sondern auch die übrige von Martial verwendete Rechtssprache. Quintianus‘ Rolle wird mit juristischen termini technici beschrieben, die ansonsten in der causa liberalis, einem Prozess um den Freiheitsstatus von Sklaven, Anwendung finden306, wobei der Begriff plagiarius ursprünglich jemanden bezeichnet, der widerrechtlich eine freie Person als Sklaven behandelt. Nachdem Martial zu Beginn von Buch 1 in Anlehnung an Horaz (Epist. 1,20) den Publikationsvorgang als manumissio imaginiert hat (1,3), werden die freigelassenen Gedichte in 1,52 vom Plagiator wieder versklavt307. Durch die Übertragung eines Bildes aus dem Rechtswesen auf die Aneignung fremder Gedichte setzt Martial an dieser Stelle den Diebstahl geistigen Eigentums, für dessen Ahndung das antike 303
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Neben fides könnte auch fama eine Verbindung zu Fidentinus herstellen, da von ihr in 1,29,1 die Rede war. Vgl. 5,18; zur These, dass es sich um den von Plin. Epist. 9,9 erwähnten Pompeius Quintianus handeln könnte, vgl. Howell (1980), 229 ad loc.; Seo (2009), 574; vgl. Sherwin-White (1966), 487. Ziegler (1950), 1961f.; Citroni (1975), 176f. ad loc.; Howell (1980), 230 ad loc.; Seo (2009), 567. In der causa liberalis ist der adsertor die Person, die vor Gericht für die libertas eines Sklaven bürgt; satisque praestes spielt auf die Wendung satis dare an, die die Rolle des adsertor als Garant für die Rückkehr des Sklaven zu seinem Besitzer im Falle einer Prozessniederlage bezeichnet, und terque quaterque clamitaris ahmt die vom adsertor ausgesprochene Formel nach; vgl. Citroni (1975), 175f. ad loc.; Howell (1980), 230 ad loc.; Fearnley (1998), 65f.; Spahlinger (2004), 482f.; Seo (2009), 574. Fitzgerald (2007), 96. Neben dem Verhältnis dominus-servus scheint in 1,52 auch das von patronus zu cliens (Quintianus und Martial bzw. der gegnerische poeta) als Folie für die Relation zwischen Martial und seinen libelli zu dienen, vgl. ders. 97; zum hier gebrauchten Bild der manumissio vgl. Fearnley (1998), 64f.
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Rechtssystem keinerlei Maßnahmen vorsah308, mit einem juristischen Problem gleich und lässt somit ein Bewusstsein für das Fehlen einer gesetzlichen Absicherung des Autorrechts erkennen 309. Daneben beinhalten die in 1,52 geschilderten Vorgänge auch eine sexuelle Konnotation: Martial spielt mit dem Beginn des Epigramms – commendo tibi, Quintiane, nostros / …libellos (1f.) – an Catulls c. 15 an, wodurch man wohl seine libelli mit dem von Catull geliebten Knaben Juventius, der dort Aurelius anvertraut wird, assoziieren soll (1f.: commendo tibi me ac meos amores, / Aureli)310. Catull bittet seinen Adressaten darum, den puer unangetastet zu lassen (5: conserves…pudice) und droht ihm bei Missachtung dieses Wunsches die ῥαφανίδωσις als gängige Strafe für Ehebrecher an (18f.) 311. Martials Auseinandersetzung mit dem Eingriff des Plagiators in sein literarisches Schaffen und die Forderung an Quintianus – der in diesem Gedicht freilich eine andere Funktion als Aurelius bei Catull ausübt –, dem gegnerischen Dichter pudor aufzuerlegen (9), wird somit um einiges doppeldeutiger. Das unmittelbar folgende Gedicht 1,53 beinhaltet eine weitere Klimax in der Auseinandersetzung mit dem Plagiator, denn nun wird die Vorgehensweise des feindlichen poeta offen mit dem in der antiken Literaturkritik gängigen Begriff des furtum312 gebrandmarkt: Una est in nostris tua, Fidentine, libellis pagina, sed certa domini signata figura, quae tua traducit manifesto carmina furto. sic interpositus villo contaminat uncto urbica Lingonicus Tyrianthina bardocucullus, sic Arretinae violant crystallina testae, sic niger in ripis errat cum forte Caystri, inter Ledaeos ridetur corvus olores, sic ubi multisona fervet sacer Atthide lucus, inproba Cecropias offendit pica querelas. indice non opus est nostris nec iudice libris, stat contra dicitque tibi tua pagina 'Fur es.'
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Vgl. Dziatzko (1894) und (1896); Stemplinger (1912); Ziegler (1950); Spahlinger (2004), 472. So Spahlinger (2004), 482f.; Ziegler (1950), 1960 u. 1973f. vermutet, dass Martial dieses Bild vom Akademiker Polemon übernommen habe, der in einer ähnlichen Metaphorik den Stoiker Zenon der κλοπή bezichtigte, vgl. D.L. 7,25. Für diese Form des Menschenraubes war ab republikanischer Zeit die lex Fabia de plagiariis zuständig. Vgl. Gaisser (1993), 203. Thomson (1997), 249 ad loc. und 308f. ad c. 40. Zu den Begriffen, mit denen man in der Antike Plagiatoren und literarischen Diebstahl bezeichnete (im Lateinischen v.a. furtum und fur, im Griechischen κλοπή), vgl. Stemplinger (1912), 6-81; Ziegler (1950), 1956-1962.
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Eine einzige Seite in meinen Büchlein ist von dir, Fidentinus, doch sie ist eindeutig geprägt durch den Stil ihres Herren313, der deine Gedichte ganz offenkundig als Diebesgut bloßstellt. So verdirbt, wenn er mit seinen fettigen Zottelhaaren dazwischen gelegt wird, der lingonische Kapuzenmantel die feinen Purpurgewänder, so schändet Tongeschirr aus Arretium Kristallgefäße, so wird ein schwarzer Rabe, wenn er zufällig am Ufer des Kaystros umherirrt, zwischen Ledas Schwänen dem Gelächter preisgegeben, so beleidigt, wenn der heilige Hain erfüllt ist vom lauten Klang der Nachtigall, die schamlose Elster die kekropischen Klagelieder. Meine Bücher brauchen keinen Anzeiger oder Richter: Deine eigene Seite tritt gegen dich auf und sagt „Du bist ein Dieb“.
Die in 1,52 verwendete Gerichtsprache wird hier aufgegriffen (3: manifesto…furto; 11: iudice; 12: fur es), und während zuvor die libelli ihr servitium beklagten, bezeichnet Martial Fidentinus nun als dominus der von ihm verfassten pagina (2). Damit liegt der Schwerpunkt nicht mehr wie bisher auf dem mündlichen Vortrag der Epigramme durch den Plagiator 314, sondern auf dem Medium der Schrift 315. Eine Verschärfung der Sprechhaltung Martials innerhalb des Zyklus resultiert an dieser Stelle v.a. aus dem invektivischen Charakter des Epigramms. Neben 6,64 und den beiden Monosticha 2,73316 und 7,98 liegt hier eines der wenigen im reinen Hexameter gehaltenen Gedichte vor. Auch in 6,64, dem mit 32 Versen längsten hexametrischen Epigramm, setzt sich Martial mit einem literarischen Gegner auseinander, und unmittelbar darauf folgt in 6,65 ein Protest des Lesers Tucca gegen Metrum und Umfang des vorausgehenden Gedichtes 317. Während die Attacke sich in 6,64 an ein anonymes Gegenüber richtet, erfahren wir in 1,53 sogleich im ersten Vers den Namen des Verspotteten, und die unmittelbare Juxtaposition mit 1,52,9 (impones plagiario pudorem) legt nahe, dass auch dort Fidentinus die Zielscheibe ist318. Anders als in 1,52 benötigt Martial nun keinen adsertor mehr, der seine Besitzansprüche gegenüber dem plagiarius verteidigt, denn eine einzige von Fidentinus stammende und in Martials libelli geratene pagina reicht nun aus, den Gegner als fur zu
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Figura kann sowohl den literarischen Stil als auch die Form der Handschrift bezeichnen, vgl. OLD, 700 s.v. figura 9 c-d. Diese Bedeutungen liegen hier m.E. näher als die von Citroni (1975), 178 und Howell (1980), 231 vorgeschlagene Anspielung auf ein Autorporträt. Vgl. 1,29,2 recitare; 38,1 u. 2 recitas; 52,3 recitat; vgl. 1,63,1 recitem u. 2 recitare; 66,13 recitat. Vielleicht stellt sich Martial durch den Gebrauch des Begriffes furtum scherzhaft in die Tradition der antiken κλοπή-Philologie; vgl. dazu Ziegler (1950). Dieses Gedicht ist aber möglicherweise korrupt, vgl. Williams (2004), 231. Citroni (1975), 177f.; Howell (1980), 231; Spahlinger (2004), 476f.; vgl. Grewing (1997), 404-431 zu 6,64-65, der auf die durch Metrum und Gedichtlänge hergestellte Nähe zur Gattung der Satire hinweist. Zu 6,64 und 65 s. Kap. 3.3.1, S. 101f. und Kap. 6.2. So schon Friedlaender (1886), I, 198 ad loc.; Pertsch (1911), 61f.; Barwick (1958), 309; Spahlinger (2004), 475.
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denunzieren319. Dies ergibt sich aus der minderwertigen Qualität von Fidentinus‘ Dichtung, die Martial durch den die Mitte des Epigramms einnehmenden Vergleich illustriert (4-10), wobei die Verben den Eingriff des poeta in Martials Text bildhaft verdeutlichen: contaminare (4), violare (6), offendere (10)320. In diesem Zusammenhang wird der Kontrast zwischen Martials und Fidentinus‘ Dichtung auch durch stilkritische Begriffe hervorgehoben: Mit seinem fettigem Fell (4f.: villo…uncto…bardocucullus) dürfte der Kapuzenmantel als Symbol für die παχύτης321 der Catulls Tradition verpflichteten urbanitas (5: urbica…Tyrianthina) in Martials Poesie322 gegenüberstehen. Der Rabe unter den Schwänen323 und die Elster unter den Nachtigallen fungieren zudem als Metapher für dichterische Rivalität324. In der pagina, die dem Leser den Dilettantismus des Fidentinus vor Augen hält, könnte allerdings auch eine ambivalente Bedeutung stecken, denn neben dem literarischen Produkt des Widersachers ließe sie sich auf einer zweiten Sinnebene auch auf Martials eigene Dichtung, speziell auf das vorliegende Epigramm, beziehen325: Das einzige hexametrische Gedicht (1: una) im ersten Buch gibt mit seinem skoptischen Charakter die Taten des Fidentinus dem Gelächter der Öffentlichkeit preis (3: traducit326; 8: ridetur), d.h. mit tua pagina (1f. u. 12) wäre dann auch Martials Spottgedicht über Fidentinus gemeint327. Somit würden auch die im Vergleich genannten minderwertigen Objekte, der bardocucullus, die Arrentinae testae, der niger corvus und die improba pica, bei einem „second reading“ Martials eigene dichterische Praxis symbolisieren, was sich gut in die immer wieder erfol319
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Seo (2009), 585f. bemerkt, dass der Anfang des Epigramms (2: pagina…certa domini signata figura) auf das Sphragis-Gedicht des Theognis (IEG 19-26) anspielt und den dort ausgedrückten Gedanken in Form einer imitatio in opponendo umkehrt: Während bei Theognis das Siegel die Autorschaft authentifiziert, fungiert die pagina signata bei Martial als Beweis für eine Fälschung. Vgl. Fearnley (1998), 67f.; die Nebeneinanderstellung von Tyrianthina (5), dessen zweiter Teil sich von ἴον ἄνθος, lat. viola, ableiten lässt, und violant (6) bewirkt ein subtiles Wortspiel; vgl. Citroni (1975), 179f. ad loc. Vgl. Call. Aet. Frg. 1,23; Asper (1997), 160ff. Zur literarischen urbanitas vgl. OLD 2105, s.v. urbanus 4b-c. Verbal wird hier offenbar auf Verg. Ecl. 9,36 argutos inter strepere anser olores angespielt, wo der Hirte Lycidas seine Unterlegenheit gegenüber Varius und Cinna eingesteht; daneben dürfte auch Hor. Epist. 1,3,15-20 als Prätext fungieren, wo Horaz in Anlehnung an die Fabel von Krähe und Pfau (vgl. Phaedr. 1,3; Babr. 72) Celsus vor literarischem Diebstahl warnt; vgl. Mayer (1994), 128; Seo (2009), 587f. Citroni (1975), 181; vgl. Fitzgerald (2007), 91: „The offending page interpolated into Martial’s book by the thieving Fidentinus, then, becomes Fidentinus himself, outclassed by the poems among which he raises his voice“. Rimell (2008), 45f. Howell (1980), 231 ad loc. weist darauf hin, dass an dieser Stelle traducere die Bedeutung „hold up to ridicule“ haben muss und führt als Parallelstellen Mart. 3,74,5 und 6,77,5 an. Auch der Leser würde bei lauter Lektüre den Vorwurf fur es (12) artikulieren.
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gende scherzhafte Unterminierung des literarischen Anspruchs innerhalb seines Werks einfügt328. Die explizite Bezeichnung des Fidentinus als fur (12) und seines literarischen Diebstahls als furtum (3) erfolgt wohl nicht zufällig nach der intertextuellen Auseinandersetzung in 1,52 mit Catulls c. 15. Der Begriff furtum lässt sich auch auf eine illegitime Liebschaft, für die Aurelius in c. 15 die entsprechende Strafe angedroht wird, beziehen, und der fur bei Martial erinnert uns an Furius, den besonders aus Catulls c. 16 bekannten Spießgesellen des Aurelius. So rekurriert Martial innerhalb einer Epigrammserie, die sich gegen einen literarischen Feind richtet, auf eine ältere, ebenfalls literarische Gegnerschaft thematisierende Gedichtgruppe329. Die in den bisherigen Plagiats-Epigrammen variierten Motive laufen in 1,66, dem vorletzten Gedicht des Zyklus, zusammen: Erras, meorum fur avare librorum, fieri poetam posse qui putas tanti, scriptura quanti constet et tomus vilis: non sex paratur aut decem sophos nummis. secreta quaere carmina et rudes curas quas novit unus scrinioque signatas custodit ipse virginis pater chartae, quae trita duro non inhorruit mento. mutare dominum non potest liber notus. sed pumicata fronte si quis est nondum nec umbilicis cultus atque membrana, mercare: tales habeo; nec sciet quisquam. aliena quisquis recitat et petit famam, non emere librum, sed silentium debet.
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Du irrst dich, gieriger Dieb meiner Bücher, der du glaubst, für so viel Geld ein Dichter werden zu können, wie eine Abschrift oder ein billiger Band kostet. Nicht für sechs oder zehn Sesterze erwirbt man sich ein „Bravo“. Entlegene Gedichte suche und noch kunstlose Entwürfe, die nur einer kennt, die im Schrein versiegelt sind und die der Vater des jungfräulichen Papiers, das vom harten Kinn noch nicht abgerieben und starr ist, selbst bewacht. Ein bekanntes Buch kann seinen Herrn nicht wechseln. Doch wenn eines noch nicht am Rand vom Bimsstein geglättet und auch nicht mit Rollenstäbchen und Pergamenthülle ver328
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Dazu Banta (1998), 87-102; Lorenz (2002), 88f. Die Juxtaposition von wertvollen und minderwertigen Objekten erinnert zudem an die Anordnung der Einzeldistichen in den Apophoreta: divitis alternas et pauperis accipe sortes (14,1,5); vgl. die Paare 14,75 (luscinia) und 76 (pica), 97 (lances chrysendetae) und 98 (vasa Arretina), 111 (crystallina) und 112 (nimbus vitreus), 127 (canusinae fuscae) und 128 (bardocucullus) mit Leary (1996); in diesem libellus wird oft das vorgebliche pauper-Geschenk von Martial aufgewertet bzw. stellt es in seiner epigrammatischen „Weltordnung“ das eigentlich wertvolle Element dar, vgl. Lorenz (2002), 100ff. mit dem Beispiel der „Buchepigramme“ 14,183-196; s. dazu ausführlich Kap. 2.2.2. Neben dem programmatischen Rechtfertigungsgedicht c. 16 sind Furius und Aurelius auch Adressaten bzw. Zielscheiben in c. 11, 15, 21, 23, 24 und 26.
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ziert ist, dann kauf es dir. Solche habe ich, und keiner wird etwas erfahren. Wer fremde Werke rezitiert und Ruhm erstrebt, der soll kein Buch, sondern Stillschweigen kaufen.
Bei dem anonymen fur avarus des Epigramms handelt es sich wohl abermals um Fidentinus, der zuletzt in 1,53 als Dieb (12) bezeichnet wurde und dem Martial schon in 1,29 seine Gedichte zum Kauf angeboten hatte 330. Der Plagiator, so erfahren wir hier, unterliege einem Irrtum, wenn er glaubt, durch eine Abschrift oder durch den Kauf einer Ausgabe ein poeta werden zu können (1-4). In den ersten vier Versen weckt Martial die Erwartung beim Leser, dass nun eine Darstellung jener Qualitäten folgen würde, die ein richtiger Dichter haben muss, wie z.B. natürliches Talent (ingenium) oder stilistische Kunstfertigkeit (ars)331. Der weitere Verlauf des Epigramms enthält jedoch in Form eines ἀπροσδόκητον eine pseudodidaktische332 Abhandlung über ganz andere Möglichkeiten des Erwerbs literarischer fama. Nicht ein bekanntes, d.h. schon publiziertes und dementsprechend viel gelesenes Buch wie Martials Epigrammaton liber I333 soll sich der Plagiator anschaffen, sondern unbekannte und noch nicht ausgefeilte Gedichte (5), die von ihrem Verfasser wie eine jungfräuliche Tochter von ihrem Vater zu Hause behütet werden (6f.). Mit anderen Worten, Fidentinus ist angehalten, nicht wie ein normaler Leser eine günstige Ausgabe in einer Buchhandlung zu erwerben334, sondern das teurere Originalmanuskript des Autors: „In lines 2-3 Martial does not say that the status as a poet cannot be bought…but rather that it cannot be bought for what the fur offers (tanti…quanti). Furthermore, Martial does not say that a sophos cannot be bought, but only that the purchase price is higher than sex…aut decem…nummis“335. Ein vom Autor selbst beschriebenes Manuskript hat, wie aus anderen Stellen hervorgeht, einen besonders hohen Wert 336, und Martials Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten zum Dichterruhm 330
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Barwick (1958), 308f. zählt dieses Gedicht zum Fidentinus-Zyklus; vgl. Spahlinger (2004), 477f.; Banta (1998), 107ff. mit Anm. 12 dagegen sieht hier keine Notwendigkeit, den fur mit Fidentinus zu identifizieren. M.E. übersieht er aber dabei, dass der Leser durch die verbalen Bezüge zwischen 1,66 und anderen Gedichten, in denen explizit von Fidentinus die Rede ist, geradezu animiert wird, den Namen hier zu ergänzen: vgl. fur (1) und fur es (1,53,12); meorum librorum (1) und meus libellus (1,38,1); dominum (9) und domini (1,53,2); mercare (12) bzw. emere (14) und eme (1,29,4); aliena recitat (13) und recitare (1,29,2) bzw. recitas (1,38,1); famam (14) und fama (1,29,1). Vgl. Banta (1998), 108. Vgl. Rimell (2008), 41. Das Epigramm weist mehrere verbale Bezüge zum Beginn von Buch 1 auf: scrinio (6) – scrinia (1,2,4; 1,3,2); sophos (4) – sophos (1,3,7); dominum (9) – domini (1,3,9); emere (14) – eme (1,2,3); erras (v1) – erres (1,2,5). Vgl. 1,2; 117. Banta (1998), 108f. Vgl. 7,17,5-8 und 7,11 mit Galán Vioque (2002), ad loc.; 9,99,7-10 mit Henriksén (1998/99); Ov. Epist. 1,62.
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wird auf eine scherzhafte Geld-Forderung reduziert, die sich in die Reihe anderer Epigramme ähnlichen Inhalts einfügt337. Das in der Art eines Epilogs an das Ende des Zyklus gesetzte Gedicht 1,72 erweckt schließlich den Eindruck, als habe Fidentinus der Empfehlung Martials Folge geleistet und für dessen Verse bezahlt, allerdings mit einem anderen Ergebnis als erwartet: Nostris versibus esse te poetam, Fidentine, putas cupisque credi? sic dentata sibi videtur Aegle emptis ossibus Indicoque cornu; sic quae nigrior est cadente moro, cerussata sibi placet Lycoris. hac et tu ratione qua poeta es, calvus cum fueris, eris comatus. Dass du mit meinen Versen ein Dichter sein kannst, Fidentinus, glaubst du und wünschst, dass man es dir glaube? So meint Aegle, sie habe noch Zähne, nachdem sie Knochen und indisches Horn gekauft hat. So gefällt sich Lycoris, die schwärzer ist als eine abfallende Maulbeere, nachdem sie sich mit Bleiweiß geschminkt hat. Nach derselben Logik, nach der du ein Dichter bist, wirst du behaart sein, obwohl du zuvor kahl warst.
Die Gleichsetzung des Fidentinus mit verschiedenen Personen, die mit falschen Zähnen, Schminke oder einer Perücke über Schönheitsmängel hinwegtäuschen wollen, suggeriert dem Leser, dass der Plagiator nun tatsächlich für Geld Martials Gedichte zur Kompensation eines Makels, nämlich fehlender poetischer Begabung, erworben hat338. Damit konnte er sich allerdings Martials Schweigen doch nicht erkaufen, sondern ist stattdessen vollends zu einem von jenen Typen geworden, deren vitia dem Epigrammatiker immer wieder als Zielscheibe seines Spottes dienen339. Das Epi337
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Zur Selbststilisierung des Epigrammatikers als finanziell minderbemittelt und zur pauper poeta-Topik vgl. Sullivan (1991), 26ff.; Holzberg (2002b), 13ff.; Lorenz (2002), 814. Das im Hendekasyllabus abgefasste Epigramm lässt sich strukturell in vier Verspaare unterteilen: Bloßstellung des Fidentinus als Plagiator (1-2), gefolgt von zwei Exempla aus dem Bereich der vetula-Skoptik (3-4 u. 5-6) und schließlich der Einreihung des Fidentinus als calvus in die Beispielreihe, vgl. Fain (2008), 170f. Martial spielt hier u.a. auf AP 11,68 (Lukillios) an: Τὰς τρίχας, ὦ Νίκυλλα, τινὲς βάπτειν σε λέγουσιν, / ἃς σὺ μελαινοτάτας ἐξ ἀγορᾶς ἐπρίω („Dass du dir die Haare färbst, Nikulla, behaupten manche, wo du sie doch ganz schwarz auf dem Markt gekauft hast“); wenn Martial gerade in einem Epigramm gegen einen Plagiator auf Lukillios rekurriert, dürfte er damit sowohl den Unterschied zwischen erlaubter literarischer Anleihe und Diebstahl implizit problematisieren als auch einen komischen Effekt erzielen wollen; vgl. Livingstone/Nisbet (2010), 106. Das Lukillios-Epigramm wird von Martial zudem in 12,23 imitiert. Zu Aegle vgl. 1,94; 11,81; 12,55; Zahnlosigkeit und falsche Zähne waren ein beliebter Gegenstand der Satire, vgl. Hor. Sat. 1,8,48f.; Mart. 1,19; 2,41,5-7; 3,93; 5,43; 8,57; 9,37,3; 12,23; Priap. 12,8-9; AP 11,310 (Lukillios); zu Lycoris 1,102; 3,39; 4,24; 62; 6,40; 7,13; zu Schminke vgl. AP 11,408
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gramm liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie poetologische Motive mit Hilfe von Bildern aus dem sozialen Bereich – in diesem Fall dem Abweichen von einer ästhetischen Norm – entfaltet werden340. Die verschiedenen, innerhalb des Fidentinus-Zyklus variierten Motive zum Problem des Plagiats werden in den restlichen Epigrammen zu diesem Thema aufgegriffen. In 2,20 geht es um Paulus, der gekaufte Gedichte als die seinen rezitiert341 und damit ähnlich wie Fidentinus in 1,72 an Gestalten erinnert, die sich etwa mit falschen Haaren schmücken 342. Nach einer längeren Pause taucht danach erstmals wieder in Buch 10 ein Plagiator auf, der, so lässt uns der Sprecher wissen, wenig erfolgreich versucht, seine eigenen Verse unter jene Martials zu mischen (10,100): Quid, stulte, nostris versibus tuos misces? cum litigante quid tibi, miser, libro? quid congregare cum leonibus volpes aquilisque similes facere noctuas quaeris? habeas licebit alterum pedem Ladae, inepte, frustra crure ligneo curres. Wieso, Dummkopf, vermischst du deine Verse mit meinen? Was willst du Elender mit einem widerstreitenden Buch? Was suchst du mit Löwen Füchse zusammenzuscharen und den Adlern Eulen ähnlich zu machen? Magst du auch den einen Fuß von Ladas haben, Taugenichts, vergeblich wirst du mit einem Holzbein laufen.
Inhaltlich erinnert dieses Epigramm an 1,53. Auch dieser literarische Konkurrent wird dadurch sofort enttarnt, dass seine minderwertigen Produkte, sobald sie mit den Gedichten Martials kombiniert sind, zu einem starken Ungleichgewicht im Niveau des Epigrammbuchs führen, was zunächst durch die Vergleiche aus der Tierwelt illustriert wird (3-4)343. Zudem erinnert die Vorstellung von einem liber litigans (2), den man zunächst als ein „in sich widersprüchliches Buch“ auffassen mag 344, auch an die besonders
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(Lukillios); zu Glatzen als Schönheitsfehler und Perücken vgl. 3,74; 5,49; 6,12; 57; 74; 9,37; 10,83; 12,7; 23; 45; 82,9; 89 und AP 5,76; 11,68; 310; vgl. Citroni (1975), 234f. und Howell (1980), 273ff. ad loc. Auch Spahlinger (2004), 482 weist auf den Wechsel von gezielter Invektive zur epigrammatischen Typensatire am Ende des Zyklus hin. Vgl. auch Spahlinger (2004), 478f. S. S. 110 Anm. 290; vgl. dazu Joepgen (1967), 85; Kuppe (1972), 121; Holzberg (2002b), 87f. Vgl. Watson/Watson (2003), 75f. mit dem Hinweis auf 6,12: Iurat capillos esse, quos emit, suos / Fabulla: †numquid, Paule, peierat†? Auch Grewing (1997), 133ff. ad loc. betont die Ähnlichkeit von 6,12 und 2,20 sowie 1,29,3-4; da der zweite Vers korrupt ist, lässt sich nicht mehr sagen, ob tatsächlich auch hier Paulus als Adressat gewählt ist und dadurch ein Bezug zu 2,20 intendiert ist; zu Paulus als Adressat und Opfer von Martials Spott vgl. 4,17; 5,4; 22; 8,33,1.26; 9,85; 10,10; 12,69. Vgl. 1,53,7-10. In diesem Sinn übersetzen Barié/Schindler (1999).
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in 1,52 und 1,53 verwendete Rechtssprache 345: Das personifizierte Buch wird hier sozusagen als gegen das Vorgehen des Plagiators prozessierend imaginiert346. Den missglückten Versuch des Dilettanten verdeutlicht Martial abschließend mit einem Bild aus dem sportlichen Agon. Ladas war ein offenbar für seine Schnelligkeit sprichwörtlich gewordener Läufer des fünften Jahrhunderts, den der Bildhauer Myron mit einer Statue darstellte347. Er dient hier einerseits als Symbol für epigrammatische brevitas348 und andererseits vielleicht auch für die Lebensnähe von Martials Poesie349, denn Myrons Bildnis scheint besonders für seine Lebensechtheit berühmt gewesen zu sein, wie aus dem anonymen Gedicht AP 16,54 hervorgeht (7f.): πηδήσει τάχα χαλκὸς ἐπὶ στέφος, οὐδὲ καθέξει ἁ βάσις. ὢ τέχνη πνεύματος ὠκυτέρα350.
Somit dürfte auch die Gleichsetzung des Plagiators mit jemandem, der ein Holzbein hat, sowohl eine Abwertung von dessen Fähigkeiten im Bereich der brevitas als auch hinsichtlich der Lebensnähe seiner Gedichte enthalten, da das Adjektiv ligneus u.a. unbewegte und harte Gegenstände bezeichnet351. Mit 10,102 kommt innerhalb der Plagiatsthematik ein neuer Aspekt ins Spiel: Sind sexuelle Handlungen mit literarischem Diebstahl bisher lediglich implizit assoziiert worden352, so stellt Martial nun ganz explizit eine Parallele zwischen futuere und scribere her353: Qua factus ratione sit requiris, qui numquam futuit, pater Philinus? Gaditanus, Avite, dicat istud, qui scribit nihil et tamen poeta est.
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Zu litigo vgl. ThLL VII,2,1508-1510. Vgl. Izaac (1930-33) „un livre qui t’accuse“; damit wäre der Rückbezug zu 1,53,12 dicitque tibi tua pagina ‚Fur es‘ hergestellt. Vgl. 2,86,8 mit Williams (2004), 263 ad loc.; Rhet. Her. 4,3; Catul. c. 58b,2; Sen. Epist. 85,4; Iuv. 13,94; AP 16,53-54. Zur Schnelligkeit als Metapher für Kürze vgl. Arist. Rh. III 16 p. 1416b30; Plin. Epist. 1,20,18; Lausberg (1982), 38 mit Anm. 7; s. auch Kap. 3.1, S. 68-70. Vgl. 4,49; 5,53; 8,3; 9,50; 10,4. „Schnell wird das Erz zum Siegeskranz hinweg springen, und der Sockel wird es nicht festhalten. Oh Kunst, flinker als der Wind!“ Vgl. AP 16,53 und außerdem die Serie griechischer Epigramme auf Myrons Kuh, AP 9,713-742, in denen durchgehend die lebensechte Darstellung und die Täuschung des Betrachters durch den Künstler thematisiert wird; dazu Männlein-Robert (2007), 83-103. Vgl. ThLL VII,2,1384. Etwa durch den Vergleich des Fidentinus in 1,72,3 mit Aegle, die an anderer Stelle als fellatrix charakterisiert wird, vgl. 1,94. Zur Beschreibung literarischer Prozesse mit Bildern aus dem sexuellen Bereich vgl. Williams (2002b).
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Auf welche Weise Philinus Vater wurde, der doch niemals gefickt hat, fragst du? Gaditanus soll das sagen, Avitus, der nichts schreibt und dennoch ein Dichter ist.
Obwohl Philinus niemals Geschlechtsverkehr mit einer Frau hatte, ist er Vater geworden (1f.). Wie ihm das gelungen ist, wird dem Leser absichtlich nicht verraten – man soll sich vielleicht vorstellen, dass Philinus‘ Frau mit einem Nebenbuhler, möglicherweise sogar einem Sklaven, die Kinder gezeugt und sie ihrem Mann untergeschoben hat354. Naheliegend ist jedenfalls, dass die liberi auf nicht legitime Art und Weise zustande gekommene Nachkommen des Philinus sind, genauso wie man die Gedichte bzw. libri des Gaditanus ebenfalls als illegitimen Besitz des Pseudo-Dichters anzusehen hat355. Wenngleich der Begriff niemals direkt genannt wird, soll der Rezipient hier vermutlich jenen terminus technicus, der sowohl Ehebruch als auch literarischen Diebstahl bezeichnet, ergänzen: furtum356. Dies wäre dann gleichzeitig die Antwort auf die im Epigramm zugrundegelegte Frage, wie Philinus zum Vater und Gaditanus zum poeta geworden sei. Trifft meine Interpretation zu und stellt Martial in 10,102 eine Analogie zwischen Plagiat und rechtlich ungültiger Vaterschaft her, dann hätten wir hier ein weiteres Beispiel dafür vorliegen, dass der Epigrammatiker Plagiarismus als ein juristisches Problem betrachtet. Die Anordnung der Epigramme 10,100 und 102 innerhalb des Buches nahm Martial offenbar mit Bedacht vor, denn die beiden Gedichte – es handelt sich um das fünft- und drittletzte – korrespondieren mit 10,3 und 10,5, wo es um einen dem literarischen Diebstahl entgegengesetzten Fall geht, nämlich die Unterschiebung von Epigrammen maliziösen Inhalts357: Anstelle des geistigen Eigentums eines Autors wird dort sozusagen der 354 355
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Vgl. ebd., 168. Die Parallelisierung von Philinus und Gaditanus stellt ein Spiel bzw. eine Variation der poetologischen Metapher vom Dichter als Vater seiner Werke dar, vgl. Ov. Trist. 1,1,116; 7,35; 3,1,57; 4,14,14; Pont. 4,5,29; Williams (2002b), 168 Anm. 74 weist auf eine mögliche Verbindung zu 10,104, dem letzen Gedicht des Buches hin, wo sich Martial selbst als parens seines liber bezeichnet (15); zum semantischen Spiel mit liberi und libri vgl. Hinds (2007), 134ff. Vgl. Mart. 6,39,1-5: Pater ex Marulla, Cinna, factus es septem / non liberorum: namque nec tuus quisquam / nec est amici filius vicini, / sed in grabatis tegetibusque concepti / materna produnt capitibus suis furta („Vater durch Marulla bist du geworden, Cinna, von sieben Nicht-Kindern; denn weder ist irgendein Sohn von dir noch von einem benachbarten Freund. Nein, auf ärmlichen Betten und Decken empfangen, verraten sie durch ihre Köpfe die Seitensprünge der Mutter“) mit Grewing (1997), 274ff. ad loc.; ThLL VI,1,1649f. Auch der griechische Epigrammatiker Rufinus bezeichnet in AP 5,18,1f. ein ehebrecherisches Verhältnis mit dem Wort κλέμμα und erinnert damit an den griechischen Fachterminus für Plagiarismus, κλοπή; vgl. AP 5,219,1; 221,1 (Paulos Silentiarios). Diese Parallelität dürfte absichtlich hergestellt sein, wie Lorenz (2002), 224 Anm. 59 zu Recht bemerkt; literarische Fälschung und Plagiat sind somit Themen, die Buch 10 rahmen.
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Autorenname gestohlen. Auf diese Gedichte soll später in einem eigenen Abschnitt noch näher eingegangen werden358. Die in 1,102 vorliegende Kombination von sexueller Thematik und Dichterspott greift Martial in Buch 11 wieder auf, wenn er sich in 11,94 gegen einen jüdischen Konkurrenten richtet und diesen als poeta verpus bezeichnet359. Besagter Dichter ist paradoxerweise zugleich Kritiker bzw. Neider (1f.: Quod nimium lives nostris et ubique libellis / detrahis, ignosco: verpe poeta, sapis) und Plagiator (3f.: hoc quoque non curo, quod cum mea carmina carpas, / conpilas: et sic, verpe poeta, sapis)360 von Martials Epigrammen, und dieser lobt ihn auch noch wegen seines guten Verstandes (sapis). Die eigentliche Gefahr für Martial geht nicht von den literarischen Aktivitäten des poeta verpus aus. Neben der ethnischen Kennzeichnung als Jude 361 lässt sich das Adjektiv verpus möglicherweise auch auf den Charakter der Poesie des Widersachers beziehen: Ähnlich wie der crure ligneo laufende Plagiator aus 10,100 nicht an die Qualität von Martials Epigrammatik herankommt, so trifft dies auch in 11,94 für jenen Dichter zu, dessen beschnittene mentula als körperlicher Defekt aufzufassen ist und damit als Symbol für die nicht voll ausgebildeten epigrammatischen Fähigkeiten des poeta dient362. Viel bedrohlicher als dessen dichterisches Talent ist seine Rolle als pedico von Martials geliebtem Knaben363 und sein Versuch, das erotische Verhältnis mit einem falschen Schwur bei Jupiter bestreiten zu wollen364.
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S. Kap. 6.2. Die Anrede verpe poeta bzw. verpe (8) wiederholt sich gebetsmühlenartig in jedem Pentameter. „Dass du allzu neidisch bist und meine Büchlein überall schlecht machst, verzeihe ich: Beschnittener Dichter, du zeigst Verstand. Auch das macht mir nichts aus, dass du, obwohl du meine Gedichte kritisierst, sie plünderst; auch da, beschnittener Dichter, zeigst du Verstand“. Zur Auseinandersetzung mit der Beschneidung der Juden in antiken Quellen vgl. Kay (1985), 258 ad loc.; Ego (1997). Programmatisch für Martials Gleichsetzung seiner Dichtung mit einer funktionierenden mentula sind v.a. 1,35 und 3,68-69; s. Kap. 3.1, S. 61f. und Kap. 3.3.2, S. 93-6. Verpus kann auch den erigierten Phallus und damit verbunden exzessive sexuelle Begierde bezeichnen, vgl. Catul. c. 28,12; 47,4; Adams (1982), 13f.; Kay (1985), 258 ad loc. Auffällig ist zudem die Juxtaposition des Epigramms, in dem pedicatio das zentrale Thema ist, mit 11,95, wo fellatores verspottet werden und der Adressat Flaccus („Schlappschwanz“) heißt, vgl. OLD, 708 s.v. flaccus. Nachdem Martial in 1,52 auf Catul. c. 15 angespielt hat, wo sich der Sprecher ebenfalls mit der Verführung seines puer delicatus durch einen Rivalen auseinandersetzen muss, erscheint es denkbar, dass hier eine Brücke zurück zu Buch 1 geschlagen wird. 11,94,5-8: Illud me cruciat, Solymis quod natus in ipsis / pedicas puerum, verpe poeta, meum. / ecce negas iurasque mihi per templa Tonantis. / non credo: iura, verpe, per Anchialum („Das quält mich, dass du, in Jerusalem selbst geboren, meinen Knaben in den Arsch fickst, beschnittener Dichter. Schau, du leugnest es und schwörst mir beim Tempel des Donnerers. Ich glaub dir nicht: Schwör, Beschnittener, beim Anchialus“). Zur Schwierigkeit der Interpretation von Anchialum vgl. Kay (1985), 259f. ad loc.; gemeint
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Die Reihe der Epigramme auf Plagiatoren endet mit einem Gedicht in Buch 12, in dem Martial vorgibt, er sei aus Rom in seine Heimat Spanien zurückgekehrt und habe dort den vorliegenden liber komponiert (12 praef.). So ist es nur folgerichtig, dass er sich nun gegen einen spanischen Konkurrenten richtet (12,63): Uncto Corduba laetior Venafro, Histra nec minus absoluta testa, albi quae superas oves Galaesi nullo murice nec cruore mendax, sed tinctis gregibus colore vivo: dic vestro, rogo, sit pudor poetae, nec gratis recitet meos libellos. ferrem, si faceret bonus poeta, cui possem dare mutuos dolores. corrumpit sine talione caelebs, caecus perdere non potest quod aufert: nil est deterius latrone nudo: nil securius est malo poeta.
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Corduba, herrlicher als das ölreiche Venafrum, und nicht weniger vollkommen als ein Krug aus Istrien, du übertriffst die Schafe des weißen Galaesus, nicht weil du mit dem Blut der Purpurschnecke etwas vortäuschst, sondern weil deine Herden mit lebensechter Farbe gefärbt sind. Sag bitte deinem Dichter, er soll sich schämen und meine Büchlein nicht umsonst rezitieren. Ich würde es ertragen, wenn es ein guter Dichter machen würde, dem ich meinerseits Schmerz zufügen könnte. Es verführt ohne entsprechende Vergeltung der Junggeselle, ein Blinder kann nicht verlieren, was er wegnimmt. Nichts ist schlimmer als ein nackter Räuber: Nichts ist sicherer als ein schlechter Dichter.
Auffällig an diesem Gedicht ist zunächst der stilistische und inhaltliche Bruch zwischen den ersten fünf Versen und dem Rest. Eine panegyrische Aufzählung der Vorzüge Cordubas eröffnet das Epigramm: Die Stadt zeichnet sich durch die Qualität ihres Olivenöls (1f.) und die Wolle der Schafe aus (3-5), die mit ihrer natürlichen rötlichen Färbung (4f.) ihre am Galaesus weidenden Artgenossen übertreffen (3)365. Mit dieser Beschreibung spielt Martial offenbar auf Vergils vierte Ekloge an und preist Corduba damit als eine Stätte, wo noch die vom Augusteer gepriesenen Bedingungen eines Goldenen Zeitalters herrschen (Ecl. 4,42ff.)366:
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ist vermutlich eine den Juden heilige Instanz, vgl. Obermayer (1998), 86f. mit Anm. 301. Vgl. 8,28,5f.; 14,133; Plin. Nat. 8,191. Seo (2009), 584 weist darauf hin, dass die in 1-5 aufgezählten Produkte v.a. Handelsgüter sind und Martial dadurch seine Poesie implizit in die Sphäre des Kommerzes rückt. Vgl. Bowie (1988), 310 ad loc.; daneben spielt Martial hier auch auf seine eigene Beschreibung der lacernae Baeticae in den Apophoreta an (14,133): Non est lana mihi mendax nec mutor aheno. / sic placeant Tyriae: me mea tinxit ovis; auch diesem Distichon diente die 4. Ekloge als Prätext, vgl. Leary (1996), 197 ad 14,133.
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Nec varios discet mentiri lana colores, ipse sed in pratis aries iam suave rubenti murice, iam croceo mutabit vellera luto. Nicht wird die Wolle lernen, verschiedene Farben vorzutäuschen, sondern der Widder wird auf der Wiese von selbst sein Fell bald in lieblich rotes Purpur, bald in safranfarbenes Gelb wechseln.
Die Erwähnung des Galaesus beinhaltet zudem noch weitere intertextuelle Reminiszenzen an die augusteische Dichtung: Der Sprecher der Georgica erinnert sich an Tarent, wo der dunkle Galaesus fließt (Verg. G. 4,125ff.: namque sub Oebaliae memini me turribus arcis, / qua niger umectat flaventia culta Galaesus / Corycium vidisse senem…)367, und Horaz wünscht sich in Ode 2,6 als Alterssitz entweder Tibur (5-8) oder Tarent, das sich an Olivenreichtum mit Venafrum messen könne (9-24, insb. 10f.: dulce pellitis ovibus Galaesi flumen und 13ff. ubi…viridique certat baca Venafro). Während Tarent und Venafrum bei Horaz einander ebenbürtig sind, ist Corduba bei Martial eindeutig überlegen (3: superas) und übertrifft somit das vom Oden-Dichter gezeichnete Idealbild einer sedes senectae. La Penna hat zudem gezeigt, dass der Name des Flusses an das griechischen Wort γάλα („Milch“) anklingt und die Wendung niger…Galaesus bei Vergil (G. 4,126) als gelehrtes Spiel mit dieser Etymologie nach alexandrinischer Manier aufzufassen ist. Diesen Kontrast zwischen schwarz und weiß hebt Martial nun mit seiner Bezeichnung des Galaesus als albus (3) wieder auf und korrigiert damit abermals einen augusteischen Vorgänger368. Die gelehrte Auseinandersetzung mit der augusteischen Literatur im ersten Teil des Epigramms dient Martial wohl nicht zuletzt dazu, sich vom malus poeta, den er im zweiten Abschnitt verspottet, abzugrenzen. Als schlechter Plagiator gleicht dieser einem ehebrecherischen Junggesellen (10), einem Blinden (11) und einem nackten Räuber (12), d.h. Figuren, denen man Gleiches nicht mit Gleichem vergelten kann und die sich deshalb in Sicherheit wiegen dürfen (13). Während der Gegner hier also eines furtum ohne jeglichen literarischen Anspruch bezichtigt wird, treibt Martial ein subtiles Spiel mit augusteischen Prätexten, das der Leser als solches erkennen soll; vielleicht lässt sich das Epigramm insgesamt sogar als Exemplifikation jenes vom älteren Seneca überlieferten Ausspruchs des Junius Gallio über Ovid verstehen, in dem über den Unterschied zwischen kunstvollen dichterischen Anleihen und Plagiarismus reflektiert wird: itaque fecisse illum quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subripiendi
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„Denn ich erinnere mich, unter den Türmen der öbalischen Festung, wo der schwarze Galaesus das goldgelbe Ackerland befeuchtet, den korykischen Greis gesehen zu haben…“. La Penna (1983); vgl. Citroni (1987), 399; Muñoz Jiménez (1994), 130f.; Mindt (im Druck).
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causa, sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci (Suas. 3,7)369. Das Epigramm korrespondiert zudem metrisch und inhaltlich mit 12,61, wo ein gewisser Ligurra deshalb lächerlich gemacht wird, weil er mit seinem Namen gerne in Martials skoptischer Poesie verewigt werden möchte 370. In der gleichen Weise, wie der Plagiator in 12,63 zu schlecht dafür ist, dass man ihm seinerseits Verse stehlen könnte, ist Ligurra ein zu unbedeutender Gegner, als dass Martial Spottgedichte auf ihn verfassen würde (1-6). Freilich bewirkt der Widerspruch zwischen Martials Weigerung, ein skoptisches Epigramm auf Ligurra zu verfassen und der Tatsache, dass es sich bei 12,61 um nichts anderes als ein solches Spottepigramm handelt, einen komischen Effekt. Mehrere verbale Bezüge machen überdies wahrscheinlich, dass die Epigramme 12,61 und 12,63 als Paar zu lesen sind371. Wie in 12,63 ist auch in 12,61 von einem anonymen schlechten Dichter die Rede, der an Martials Stelle den Namen Ligurras mit Kohle und Kreide auf den Wänden irgendeiner Latrine verewigen soll (7-11) und den Martial als nigri fornicis ebrium poeta (8) schmäht. Möglicherweise bildet dieser niger fornix einen absichtlich hergestellten Kontrast zum albus Galaesus in 12,63,3, der ja, wie oben dargelegt, bei Vergil noch als niger bezeichnet worden war372. Die Nähe der beiden Epigramme zueinander könnte den zeitgenössischen, an Vergil geschulten Leser dazu animiert haben, Martials Veränderung des vergilischen Prätextes aufzudecken. Wenngleich Probleme wie Plagiarismus und literarische Fälschung eine reale Gefahr für einen antiken Autor dargestellt haben dürften, so sollte die Analyse dieses Themenkomplexes bei Martial dennoch gezeigt haben, dass seine Auseinandersetzung mit Plagiatoren vor allem literarisch motiviert ist. Dafür spricht etwa die Frequenz der betreffenden Gedichte insbesondere am Anfang und Ende des Korpus sowie ihre intratextuelle Vernetzung. Wenn Martial überdies gerade in den Epigrammen auf Plagiatoren gelehrte Anspielungen auf ältere Texte macht, scheint er damit implizit über den Unterschied zwischen literarischem Diebstahl und erlaubter Anleihe zu reflektieren. Zugleich demonstriert er dadurch seine Überlegenheit gegenüber Figuren wie Fidentinus, die als Folien zur Selbstdarstellung des Epigrammatikers dienen und damit eine ähnliche Funktion erfüllen wie die zuvor in Zusammenhang mit Einzeltext und Buchkomposition betrachteten Typen. Auch die an einigen Stellen zu beobachtende Analogie, die 369
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„Deshalb habe er getan, was er bei vielen anderen Vergilversen getan hatte, nicht um literarischen Diebstahl zu begehen, sondern um offenkundig etwas auszuleihen in der Absicht, dass man es erkennen sollte.“ Zum Thema Personenspott vgl. Kap. 6.2. Eine verbale Verbindung zwischen 12,61 und 63 liegt vor in vividum (61,1) und vivo (63,5), faciam (61,2) und faceret (63,8), poetam (61,8) und poetae (63,6) bzw. poeta (8; 13). Die betonte Stellung von nigri (12,61,8) und albi (12,63,3) jeweils am Versanfang mag dazu beitragen, dass der Leser eine Verbindung zwischen den beiden Versen herstellen kann.
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Martial zwischen literarischem Diebstahl und Vergehen mit juristischen Konsequenzen herstellt, weist auf das ausgeprägte Selbstverständnis des Dichters als rechtmäßiger „Besitzer“ der von ihm verfassten Texte hin. Wie aus dem bisher Gesagten deutlich geworden sein sollte, spielen unterschiedliche historische und fiktive Literaten eine wichtige Rolle für Martials Definition seiner Gattung und Rechtfertigung seines poetischen Programms. Bevor ich mich der Frage zuwende, inwieweit auch andere Gattungen und deren Vertreter in diesen Diskurs integriert werden, möchte ich innerhalb eines kurzen Exkurses noch einen Blick auf Martials Reflexionen über das Verhältnis der Epigrammatik zur bildenden Kunst werfen.
3.4
Exkurs: Die Epigrammatik im Verhältnis zu den bildenden Künsten
Martial demonstriert sein Selbstverständnis als Epigrammdichter nicht nur in seiner literaturkritischen Auseinandersetzung mit anderen Autoren und Gattungen, sondern ‒ dies freilich weitaus indirekter ‒ auch an den Stellen, wo er Werke der bildenden Kunst thematisiert. Der flavische Dichter partizipiert somit an dem spätestens seit dem Hellenismus etablierten und besonders in der Epigrammatik oft geführten Paragone-Diskurs373. Ein Beispiel dafür ist die bereits in anderem Zusammenhang besprochene praefatio zu Buch 9, in der Martial sein eigenes Dichterbildnis imaginiert 374. Epigramme auf Kunstwerke und damit verbundene implizite Reflexionen über das Verhältnis von Dichtung und bildender Kunst prägen auch den weiteren Verlauf von Buch 9, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen sollen.
3.4.1
Kleine Form und großer Anspruch: der Hercules Epitrapezios
Nachdem in 9,23/24 der Dichter Carus bei den Albanischen Spielen von der Schutzherrin Minerva nicht nur den Siegeskranz, sondern auch eine der Kunst des Pheidias würdige Büste Domitians erhalten hat 375 und wir in 9,28 einem sprechenden Bildnis des Mimus-Darstellers Latinus, mit dessen Schauspielerei Martial seine Poesie immer wieder gleichsetzt376, begegnet sind, lesen wir in 9,43-44 vom Hercules Epitrapezios, den Martials Freund Novius Vindex erworben hat. Das erste der beiden Gedichte beschreibt die von Lysipp geschaffene Statuette (9,43,1-6) und berichtet von ihren Besitzern – zunächst gehörte sie Alexander dem Großen, danach war sie Eigen373
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Zur Auseinandersetzung hellenistischer Epigrammatiker mit ihrer Schwesterdisziplin, der bildenden Kunst, vgl. die Studie von Männlein-Robert (2007b). S. Kap. 2.2.3. Zu diesem Epigrammpaar s. ausführlicher Kap. 7.5, S. 320-1. Zu Latinus und der Auseinandersetzung Martials mit dem Mimus s. Kap. 5.
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tum Hannibals und Sullas, bevor sie sich im friedlichen Haus des Privatmannes und Dichters Novius Vindex niederlassen konnte (7-14)377. Die von Martial gegebenen Informationen berühren sich dabei eng mit jenen, die uns Statius in Silv. 4,6, einem Gedicht auf dieselbe Statue, liefert378. Im Unterschied zu 9,43 zeichnet sich das folgende im Hendekasyllabus abgefasste Epigramm durch einen ausgesprochen scherzhaften Ton aus (9,44): Alciden modo Vindicis379 rogabam esset cuius opus laborque felix. Risit, nam solet hoc, levique nutu 'Graece numquid' ait 'poeta nescis? inscripta est basis indicatque nomen.' Λυσίππου lego, Phidiae putavi. Den Alkiden des Vindex fragte ich eben, wessen Werk und gelungene Arbeit er sei. Er lachte – denn das pflegt er zu tun – und mit leichtem Kopfnicken sagte er: „Kannst du, Dichter, etwa kein Griechisch? Die Basis ist beschriftet und gibt den Namen an“. „Von Lysippos“ lese ich, an Pheidias dachte ich.
Martial präsentiert sich hier selbst als Betrachter eines Kunstwerks, der sich wenig bewandert darin zeigt, von der Machart des Bildwerks auf den Künstler zu schließen. Stattdessen muss er die griechische Inschrift380 lesen, um den Bildhauer zu identifizieren. Doch auch mit den Griechischkenntnissen des Dichters hapert es offenbar, wie die Frage des Alkiden impliziert (4). Dass sich Martial hier scherzhaft als rusticus, d.h. des Griechischen unkundig381, stilisiert, ist umso komischer, als er im vorigen Epigramm seine Vertrautheit mit der griechischen Literatur demonstriert hatte: Dort wurde Novius Vindex, der Besitzer der Statue, mit der mythologischen Figur des Molorchos verglichen (9,43,13f.: utque fuit quondam placidi conviva Molorchi, / sic voluit docti Vindicis esse deus), von dem die Aitien des Kallimachos erzählen, wie er Herkules gastlich bei sich auf-
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Zu Novius Vindex als Dichter vgl. Silv. 4,6,30-31;98-99; Henriksén (1998/99), I, 205ff.; Coleman (1988), 173ff. Dazu vgl. Henriksén (1998/99), I, 206f.; Coleman (1988), 176; Bonadeo (2010), 43-56. In der Forschung geht man davon aus, dass Mart. 9,43-44 und Stat. Silv. 4,6 etwa zeitgleich um 94/95 n.Chr. publiziert wurden, vgl. Nauta (2002), 441-444. Zur der in der Habdschgriftengruppe β überlieferten, hier vorzuziehenden Lesart Alciden…Vindicis vgl. Henriksèn (1998/99), I, 212 ad loc. Dafür, dass die bei Lindsay abgedruckte Lesart Λυσίππου der von Shackleton Bailey und Henriksén bevorzugten lateinischen Variante Lysippum vorzuziehen ist, argumentiert überzeugend Canobbio (2011c), 76-85, der neben archäologischen Belegen ‒ etwa die Inschrift des Hercules Farnese im Palazzo Pitti, vgl. Moreno (1974), Nr. 21 ‒ auch literarische Gründe anführt: So werde etwa durch die parallele Satzstruktur zwischen dem unterschieden, was der epigrammatische Sprecher auf Griechisch liest (Λυσίππου) und auf Lateinisch denkt (Phidiae), und außerdem suggeriere bereits die Frage der Statue 'Graece numquid…poeta nescis?‘, dass eine griechische Inschrift folgt. Vgl. Henriksèn (1998/99), I, 213 mit Verweis auf Mart. 14,58,1.
127
nahm382. Präsentierte sich Martial in 9,43 als poeta doctus, steht seine Rolle in 9,44 in starkem Kontrast dazu. Es wurde bereits beobachtet, dass es sich bei der vorgeblichen Ignoranz des Epigrammatikers in 9,44 um eine Anspielung auf Statius‘ Charakterisierung des Novius Vindex als eines herausragenden Kunstkenners handeln dürfte383. In Silv. 4,6,20-24 lesen wir nämlich Folgendes über den Besuch des Silven-Dichters bei einer von Vindex veranstalteten cena: mille ibi tunc species aerisque eborisque vetusti atque locuturas mentito corpore ceras edidici. quis namque oculis certaverit usquam Vindicis, artificum veteres agnoscere ductus et non inscriptis auctorem reddere signis? Dort habe ich damals von tausend Arten von Bronze und antikem Elfenbein sowie von Wachs, das mit falschem Körper zu sprechen in Begriff war, Kenntnis erlangt. Denn wer würde je mit den Augen des Vindex darin wetteifern, die Züge der alten Künstler zu erkennen und den Bildnissen ohne Inschriften ihren Schöpfer zuzuordnen?
Während Novius Vindex bei Statius also Statuen ohne Künstlersignatur ihren Bildhauern zuordnen kann, stellt sich der Martial der Epigramme in dieser Hinsicht denkbar ungeschickt an und muss sich vom Objekt selbst auf die Inschrift hinweisen lassen. Damit ist zugleich ein Rückbezug zur praefatio hergestellt, in der ebenfalls der virtuelle Betrachter auf die Bildunterschrift hingewiesen wird. Der Name des Pheidias, den Martial am Ende von 9,44 mit dem wahren Künstler Lysipp verwechselt, dürfte noch eine weitere Pointe enthalten: Er lässt sich von dem griechischen Verb φείδομαι („sparen“) ableiten384, wodurch der ansonsten für seine Kolossalplastiken gerühmte Bildhauer hier implizit zu einem Schöpfer kleiner Kunstwerke gemacht wird385. Seine Erwähnung in diesem Epigramm dürfte darüber hinaus mit Martials eigenem poetischen Ideal in Verbindung stehen 386. Das ausgeglichene Verhältnis zwischen der Größe von Pheidias‘ Kunstwerken und ihren kleinen Einzelteilen wurde bereits in der Antike bewundert387; so dürfte das mit ihm assoziierte Kunstideal eine geeignete Parallele zu Martials literarischem Projekt bilden, das ebenfalls die Spannung zwischen Einzeltexten und monumentalem Gesamtwerk zu harmonisieren versucht. Bezogen auf den Hercules Epitrapezios des Lysipp wird eine solche Harmonie auch bei Statius hervorgehoben (Silv. 4,6,43-46): 382
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384 385 386 387
Call. Aet. Frg. 54ff. Pf.; Apollod. 2,5,1; Serv. Georg. 3,19; Prob. Georg. 3,19; Mart. 4,64,30; Stat. Silv. 3,1,29; 4,6,51; vgl. Fabbrini (2005). Kershaw (1997); Henriksén (1998/99), I, 206f.; McNelis (2008), 268; Bonadeo (2010), 47ff. Schneider (2001), 709; vgl. Lorenz (2003a), 567; McNelis (2008), 268-269. Zu Pheidias vgl. Neudecker (2000). Vgl. McNelis (2008), 270. Plin. Nat. 36,18; Paus. 5,11,1-11.
128
dant spatium tam magna brevi mendacia formae! quis modus in dextra, quanta experientia docti artificis curis pariter gestamina mensae fingere et ingentes animo versare colossos! Solch mächtige Täuschung verleiht der kleinen Figur Größe! Welche Präzision in der Handführung, welcher Erfolg in den Bemühungen des gewitzten Künstlers, zugleich einen Schmuck für den Tisch zu bilden und sich im Geiste dabei riesige Kolosse vorzustellen!
Die Dimensionen der Statuette, die eine kleine Form mit großen Ansprüchen kombiniert, passen auch zu Martials literarischen Zielen, und daher lässt sich m.E. der in den Epigrammen beschrieben Hercules Epitrapezios als Äquivalent zu Martials poetischem Ideal lesen. Dies erscheint mir umso wahrscheinlicher, als kurz darauf in 9,50 die Rechtfertigung der Gattungswahl ganz explizit mit einem Vergleich aus der bildenden Kunst untermauert wird388.
3.4.2
Pictura und poiesis: Die Epigramme auf Camonius Rufus
Besonders aufschlussreich für das in den zuvor betrachteten Textstellen eher implizit thematisierte Verhältnis von Schrift und Bild, von epigramma und imago, ist das Gedichtpaar 9,74 und 76. Das erste der beiden Epigramme beschreibt in vier Versen ein Gemälde, das den im Alter von etwa 25 Jahren verstorbenen Camonius Rufus389 als kleinen Knaben darstellt390. Von seinem Tod selbst ist in 9,74 allerdings noch keine Rede, und der Leser muss sich zunächst fragen, warum der Vater – das Gemälde des Sohnes befindet sich vermutlich bei diesem zuhause – eine Darstellung des erwachsenen Camonius ablehnt und fürchtet, dessen Antlitz stumm zu sehen
388
389
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Martial bekennt sich hier zu den Idealen der brevitas und Lebensnähe (9,50,5f.): nos facimus Bruti puerum, nos Langona vivum: / tu magnus luteum, Gaure, Giganta facis („Ich mache den Knaben des Brutus, ich mache den Langon lebendig. Du, Gaurus, machst als großer Mensch einen Giganten aus Schlamm“). Mehrere Forscher haben dieses Epigramm als einen Seitenhieb auf Martials Zeitgenossen Statius betrachtet; vgl. Friedlaender (1886), II, 77; Henriksén (1998/99), II, 18f.; gegen diese These richten sich Kontogianni (1996), 151; Garthwaite (1998a), 168; Lorenz (2003a), 582. Es dürfte sich ihnen zufolge eher um ein Spiel mit der Bedeutung des griechischen Adjektives γαῦρος („hochmütig“) handeln, was besser in den Kontext der Gegenüberstellung von Groß- und Kleinpoesie passe. Zu seiner Person vgl. Henriksén (1998/99), II, 91; sein Tod wurde von Martial schon in 6,85 betrauert, vgl. dazu Grewing (1997), 543ff. 9,74: Effigiem tantum pueri pictura Camoni / servat, et infantis parva figura manet. / florentes nulla signavit imagine voltus, / dum timet ora pius muta videre pater („Nur das Abbild des Knaben Camonius bewahrt das Gemälde, und von dem Kind bleibt die kleine Gestalt erhalten. Durch kein Bildnis hat der liebevolle Vater das in Blüte stehende Gesicht gezeigt, während er fürchtete, das Antlitz stumm zu sehen“).
129
(4: timet ora…muta videre)391. Farouk Grewing sieht hier ein für die Bedeutung des Gedichtes wichtiges Wortspiel mit mutus („stumm“) und der Bezeichnung des Knaben als infans (2: „des Sprechens nicht fähig“): „Offenbar hält er [= der Vater] es nur für angemessen, ein des Sprechens noch nicht fähiges Kind abbilden zu lassen, da ja das ‚stumme‘ Bild der Realität des infans entspricht. Einen puer oder adulescens zu malen hätte den Vater bekümmert, weil dann Bild und Realität einander nicht entsprächen.“392 Die Leerstellen, denen der Leser in 9,74 begegnet, werden durch die Lektüre des komplementären Gedichts 9,76 aufgefüllt. Mit der Beschreibung des Camonius zunächst als Knabe, wie er auf dem Bild des Vaters zu sehen ist (1-2: Haec sunt illa mei quae cernitis ora Camoni, / haec pueri facies primaque forma fuit393), und anschließend als Erwachsener (3-6a)394 knüpft Martial an den Inhalt von 9,74 an bzw. erweitert diesen um Elemente, die das Porträt nicht zeigt. In der zweiten Hälfte erfährt man vom Tod des jungen Mannes in der Fremde (6b-8). Das Epigramm endet dann mit den Worten (9-10): sed ne sola tamen puerum pictura loquatur, / haec erit in chartis maior imago meis395. Nicht nur das Gemälde, auch Martials Poesie soll dem Rezipienten ein Bild von Camonius vermitteln 396. Das Adjektiv maior dürfte dabei auf mehreren Ebenen zu verstehen sein: Martial stellt im vorliegenden Epigramm Camonius nicht, wie das Porträt, nur als Knaben, sondern auch als Erwachsenen dar397; abgesehen davon ist das Gedicht auch in formaler Hinsicht mit einem Umfang von 10 Versen „größer“ als sein aus nur zwei Distichen bestehendes companion piece398. Der Kern der Aussage liegt in der Kontrastierung der Medien bildende Kunst und Poesie: Letztere ist in der Lage, ein umfassenderes Bild von einem Menschen zu zeichnen und dessen Ruhm somit zuverlässiger der Nachwelt zu tradieren399. Das entscheidende Differenzkriterium ist dabei die Sprache: War die parva figura des Knaben auf dem Bild in 9,74 als stumm (muta bzw. infans) bezeichnet worden, so zeigt sich in 9,76 die pictura plötzlich als gesprächig. Die Junktur pictura loquatur (9) ist dabei insofern besonders auffällig, als die Werke der bildenden Kunst in der antiken Theorie als schweigende Dichtung und 391
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Der genaue Sinn dieses Verses ist umstritten; Henriksén (1998/99), II, 92 schlägt vor, ihn mit „while his father yet only feared to see his lips silent“ zu übersetzen. Grewing (1998c), 347; zur antiken Etymologie von infans vgl. Var. L. 6,52. „Das, was ihr hier erblickt, ist jenes Antlitz meines Camonius, das war das Gesicht des Knaben und seine erste Gestalt.“ Zu Diskussionen über das genaue Alter, welches Camonius erreichte, vgl. Grewing (1997), 548f. ad 6,85,8; Henriksén (1998/99), II, 97. „Doch damit nicht einzig das Gemälde vom Knaben rede, soll dies das größere Bild in meinen Gedichten sein.“ Das Demonstrativum haec (1) lässt sich dabei nicht nur auf ein Bild in der Vorstellung des Rezipienten, sondern auch auf das vorliegende Epigramm selbst beziehen. Vgl. Henriksén (1998/99), II, 97. Zu companion pieces in der Epigrammatik vgl Kirstein (2002). Vgl. Johannsen (2006), 339 Anm. 263; Julhe (2010), 94.
130
umgekehrt die Dichtung als sprechendes Gemälde bezeichnet wurden, so etwa beim Auctor ad Herennium (4,28,39): poema loquens pictura est, pictura tacitum poema debet esse400; offenbar will Martial die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diesen medientheoretischen Diskurs lenken bzw. daran partizipieren. Derartige Reflexionen zum Verhältnis von Epigrammatik und bildender Kunst sind möglicherweise für das gesamte Buch programmatisch, denn sowohl 9,74 als auch 76 verweisen verbal auf die praefatio zurück, wo das Dichter-Bildnis vermittels eines epigramma, auf dessen Schriftlichkeit explizit verwiesen wird (scripsimus), die Worte maiores maiora sonent: mihi parva locuto / sufficit in vestras saepe redire manus (9 praef. ep. 7f.) artikuliert. Anders als in der recusatio der Vorrede angekündigt, haben in Martials Poesie dann aber doch auch größere Dinge wie die maior imago des Camonius Platz401. Neben diesen verbalen Bezügen dürfte auch auf einer zweiten Ebene eine Verbindung zwischen der praefatio und 9,76 bestehen: Am Ende von 9,76 spielt Martial offenbar auf Ovid, Trist. 1,7 an. Dort erfahren wir von einem anonymen Freund des Elegikers, der zur Bekundung seiner Loyalität eine imago Ovids besitzt und einen Ring mit dem Porträt des verbannten Dichters trägt (1-10). Dazu bemerkt Ovid: grata tua est pietas, sed carmina maior imago / sunt mea, quae mando qualiacumque legas (11f.)402. Das literarische Werk liefert also ein aussagekräftigeres Abbild des Autors als sein Porträt (7). Während es bei Ovid um ein Bild seiner selbst geht, beschreibt Martial in 9,74 und 76 eine andere Person. Einem antiken Leser dürfte der intertextuelle Bezug zur Ovid-Elegie in 9,76 jedoch aufgefallen sein, so dass er – vorausgesetzt er hat Buch 9 bisher linear gelesen – eine Brücke zum Epigramm der praefatio schlagen kann, wo ebenfalls ein Autorporträt im Zentrum steht. Vor dem Hintergrund der Ovid-Elegie lässt eine Zweitlektüre der praefatio deren Funktion nochmals überdenken: Anstelle des dort beschriebenen Bildnisses Martials sind es in Wirklichkeit die Epigramme selbst, die einer breiten Leserschaft eine Vorstellung vom Dichter liefern. Das Publizieren eines literarischen Werkes ist ebenfalls zentrales Thema in Trist. 1,7 (vgl. 25-26 über die Metamorphosen: nunc precor ut vivant et non ignava legentum / otia delectent admoneantque mei). Hatte Novius Vindex bei Statius 400
401
402
„Ein Gedicht ist ein sprechendes Bild, ein Bild muss ein schweigendes Gedicht sein.“ Dieses Diktum wird in mehreren antiken Quellen Simonides von Keos zugeschrieben, so insbesondere bei Plutarch, De gloria Atheniensium 346 F-347 C; De audiendis poetis 17 E-18 A; vgl. Rhet. Her. 4,28,39. Dazu ausführlich Männlein-Robert (2007b), 20ff. Derselbe Widerspruch zwischen der Ankündigung in der recusatio und Martials dichterischer Praxis begegnet bereits in 9,1 und 9,3, vgl. Lorenz (2003a), 571. „Lieb ist deine treue Gesinnung, doch ein umfassenderes Bild sind meine Gedichte, die du lesen mögest, wie auch immer sie sind…“ Vgl. Luck (1977), 62ff. ad loc.; Henriksén (1998/99), II, 97.
131
Künstler anhand der Beschaffenheit ihrer Kunstwerke identifiziert und Martial diese Fähigkeit in 9,44 parodiert, so wird uns zugleich suggeriert, dass auch der gebildete Leser vom Text auf dessen Verfasser schließen kann. Auch in Bezug auf die Adressaten der Vorrede ist ein Vergleich mit Ovids Tristia möglicherweise aufschlussreich. Die Sammlung des Elegikers zeichnet sich vorrangig dadurch aus, dass er die Identität der Angesprochenen verheimlicht, wie auch im Falle von Trist. 1,7. Der Rezipient wird mehr oder weniger dazu animiert, sich eine konkrete Person vorzustellen403. Martial dagegen beglückt in 9 praef. den allgemeinen Leser mit mehr Information zur Identität des Avitus, als für das Verständnis der Vorrede oder des Buches nötig wäre (s. Kap. 2.2.3). Es könnte sich daher um eine bewusste spielerische Umkehr jener poetischen Strategien handeln, die Ovid in seinen Tristien anwendet.
3.5
Resümee
Martial verortet seine Epigrammpoesie in einer römischen Gattungstradition, die er selbst unter Berufung auf Catull konstruiert, während dieser sich an keiner Stelle in seinem Werk explizit der Epigrammatik zuordnet (Kap. 3.1). Sein sich vom erklärten Vorbild unterscheidendes Selbstverständnis signalisiert Martial auch im Umgang mit den Texten Catulls: So fällt etwa auf, dass obszöne Elemente aus dessen Poesie von Martial nicht nur verstärkt, sondern gleichsam zur Quintessenz epigrammatischen Dichtens erklärt werden. Daneben greift Martial auch andere Aspekte aus Catulls Gedichten auf und verlagert sie in einen banaleren, häufig skoptischen Kontext; dies dürfte etwa das Beispiel 12,59 gezeigt haben, wo aus den basia, die der Sprecher der Polymetra von Lesbia fordert, lästige basiatores im Rom der Kaiserzeit werden; Martial dekontextualisiert die Küsse somit vom erotischen in den sozialsatirischen Rahmen. Parallel zur Stilisierung Catulls als inventor römischer Epigrammatik – wir können leider nicht mehr beurteilen, ob Martial in dieser Hinsicht von anderen Gattungsvertretern wie etwa Domitius Marsus beeinflusst wurde – lässt sich in Martials Poesie auch eine Demonstration literarischen Selbstbewußtseins innerhalb der eigenwilligen Anverwandlung der Texte des Vorgängers beobachten. Von den poetologischen Idealen der griechischen Epigrammatik insbesondere der Kaiserzeit distanziert sich Martial schon auf formaler Ebene durch Länge und Metrum seiner Gedichte. In dieser Hinsicht der Tradition Catulls verpflichtet, grenzt er sich von den Forderungen nach ὀλιγοστιχίη 403
Vgl. Ov. Trist. 1,7,1ff.; 4,4,1-8; mit Luck (1977) ad loc.; Pont. 1,1,17f. mit Helzle (2003) und Gaertner (2005) ad loc. Das Verheimlichen von Identitäten wird besonders anhand der elegischen Geliebten Corinna thematisiert, vgl. Ars 3,538 und Trist. 4,10,59f.
132
ab, wie sie etwa im Kranz des Philipp artikuliert werden (vgl. AP 9,342; Kap. 3.1, S. 69). Trotz der Weiterführung formaler und inhaltlicher Aspekte aus Catulls Poesie unterscheidet sich Martials Selbstverständnis von dem der Neoteriker und Anhänger des Kallimachos: Der Alexandriner wird zwar als Mustervertreter griechischer Epigrammatik angeführt (4,23; vgl. Kap. 3.2.2, S. 77-81), die in dessen Werken formulierten poetologischen Ideale befolgt Martial jedoch keineswegs konsequent, obwohl auch er zu den Vertretern der Kleinpoesie zu rechnen ist. Ausgerechnet Kallimachos‘ Aitien, deren Prolog römischen Dichtern das wichtigste Modell für ihre recusationes liefert, lehnt Martial als ein zu weit vom Leben entferntes Werk ab (10,4) und parodiert sogar kallimacheische Motive wie das der ἀγρυπνία und der ausgewählten Leserschaft (vgl. 2,86). Abgesehen von Kallimachos und Bruttianus (und eventuell Gaetulicus) finden wir in Martials Gedichtkorpus keinen griechischen Gattungsvertreter namentlich erwähnt; als Prätexte, deren Verfasser nicht näher identifiziert werden, begegnen uns griechische Epigramme jedoch häufig404. Der Rezipient soll diese, wie ich am Beispiel des Antipater (Kap. 3.2.1) und Lukillios (Kap. 3.2.3) zu zeigen versucht habe, im Geiste mitlesen, um das volle Sinnpotential eines panegyrischen Gedichtes wie etwa Sp. 1 oder eines skoptischen Epigramms wie 5,53 erfassen zu können. Einerseits signalisieren Anspielungen auf diese Autoren Martials Zugehörigkeit zur Tradition der Gattung, andererseits deuten formale und inhaltliche Veränderungen sowie die Translation in einen dezidiert römischen Kontext (vgl. Sp. 1) auf Martials Selbständigkeit hin. Über die Möglichkeiten und Grenzen seiner Gattung reflektiert Martial direkt und indirekt im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit anderen zumeist fiktiven Dichtergestalten. Sie dienen als Folien, die meist das Gegenteil von Martials poetischen Idealen verkörpern und ihm den Anlass liefern, Sprache, Umfang und Metrum einzelner Gedichte zu rechtfertigen (Kap. 3.3.1), die mit der Buchkomposition und -publikation verbundenen Probleme zu thematisieren (Kap. 3.3.2) und über seine Rolle als Autor zu reflektieren (Kap. 3.3.3). Auch über den in der Epigrammpoesie beliebten Vergleich mit der bildenden Kunst wird das Verhältnis des Autors zu seinem Text und zum Rezipienten illustriert (Kap. 3.4). Insbesondere am Beispiel Catulls und der griechischen Epigrammatik sollten Martials Strategien, sich andere Texte anzuverwandeln und in das eigene poetische Konzept zu integrieren, deutlich geworden sein. In weiterer Folge gilt es nun, zu untersuchen, inwieweit die direkte und indirekte Auseinandersetzung mit anderen Gattungen dem Epigrammatiker zur Profilierung seines poetischen Projekts dient. 404
Eine umfassende und moderne literaturwissenschaftliche Ansätze berücksichtigende Studie über Martials Verhältnis zur griechischen Gattungstradition stellt nach wie vor ein Desiderat in der Forschung dar.
133
4
Die weitere Tradition erotischer Dichtung
4.1
Ovid und die Apologie erotischer Poesie
Dass Martials Epigramme neben der Poesie Catulls auch derjenigen Ovids wichtige Einflüsse zu verdanken haben, wurde schon früh erkannt, und so hat man denn auch seit dem Erscheinen der ersten systematischen Untersuchung durch Anton Zingerle (1877) die zahlreichen verbalen und inhaltlichen Anleihen, die Martial bei dem augusteischen Dichter macht, eifrig gesammelt. Die Analysen beschränkten sich dabei jedoch lange Zeit auf bloße Stellenvergleiche, bei denen zumeist der jüngere Dichter als bloßer Nachahmer des älteren angesehen wurde 1. Erst in einigen neueren Forschungsbeiträgen hat man damit begonnen, dem kreativen Umgang Martials mit seinem Vorgänger gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken und sich zu fragen, welche Implikationen die intertextuellen Anspielungen des Epigrammatikers für seine Selbstdarstellung und sein Gattungsverständnis haben und welche Teile des ovidischen Werkes für den flavischen Dichter eine besonders wichtige Rolle spielen 2. Die bislang ergiebigste Studie dazu wurde von Stephen Hinds (2007) publiziert, der in separaten Abschnitten Martials Rezeption der Ars amatoria, der Tristia und der Metamorphosen behandelt. Doch anstelle einer umfassenden Schlussfolgerung, die allgemeine Tendenzen im Umgang Martials mit seinem Vorgänger zu verdeutlichen versucht, ergeben sich für Hinds am Ende seiner Untersuchung neue Fragen: „Do Martial’s epigrams in the end mobilize different Ovids for different purposes, so that any attempt to find a unified Martial via Ovid, or a unified Ovid via Martial, comes up short? More fundamentally, is it inevitable that an inherently fragmentated work like an epigram collection will in turn ‘fragment’ any literary model, and indeed ‘fragment’ any reading practice?“3 Auch im Rahmen des vorliegenden Kapitels kann im Hinblick auf das komplexe Verhältnis beider Dichter kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Vielmehr soll die Untersuchung einzelner Beispiele zeigen, welche Aspekte aus Ovids Poesie Martial insbesondere in poetologischen Zusammenhängen aufgreift, wie er Ovids dichtungstheoretische Überlegungen rezipiert und sich als Epigrammatiker zur Selbstdarstellung des augusteischen Dichters in Bezug setzt. 1
2
3
Siedschlag (1972); Fletcher (1983), 404-406; Sullivan (1991); 105-107; Pitcher (1998); Szelest (1999). Roman (2001); Lorenz (2002), 18f., 47f., 227; Holzberg (2004/05) und (2007b); Janka (2006); Williams (2006); Fitzgerald (2007), 186-190; Hinds (2007); Mindt (im Druck); einen Forschungsüberblick zu Martial und Ovid liefert Lorenz (2003b), 111 und (2006c), 119f. Hinds (2007), 154.
135
4.1.1
Paelignus, puto, dixerat poeta: Martial als Schüler des praeceptor amoris
Während sich Martial innerhalb seines Korpus wiederholt auf impliziter Ebene mit Ovid auseinandersetzt, indem er intertextuelle Bezüge zur Poesie des Augusteers herstellt, identifiziert er in einem Epigramm sein Modell sogar explizit und gibt vor, direkt aus dessen Werk zu zitieren (2,41): 'Ride si sapis, o puella, ride' Paelignus, puto, dixerat poeta: sed non dixerat omnibus puellis. verum ut dixerit omnibus puellis, non dixit tibi: tu puella non es, et tres sunt tibi, Maximina, dentes, sed plane piceique buxeique. quare si speculo mihique credis, debes non aliter timere risum, quam ventum Spanius manumque Priscus, quam cretata timet Fabulla nimbum, cerussata timet Sabella solem. voltus indue tu magis severos, quam coniunx Priami nurusque maior; mimos ridiculi Philistionis et convivia nequiora vita et quidquid lepida procacitate laxat perspicuo labella risu. te maestae decet adsidere matri lugentique virum piumve fratrem, et tantum tragicis vacare Musis. at tu iudicium secuta nostrum plora, si sapis, o puella, plora.
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„Lache, wenn du klug bist, Mädchen, lache“, hatte, glaube ich, der pälignische Dichter gesagt. Doch er hatte es nicht allen Mädchen gesagt. Und auch wenn er es allen Mädchen gesagt haben sollte, hat er es nicht dir gesagt: Du bist kein Mädchen, und du hast, Maximina, nur drei Zähne, die aber ganz die Farbe von Pech und Buchsbaumholz haben. Daher, wenn du dem Spiegel und mir glaubst, darfst du das Lachen nicht anders fürchten, als den Wind Spanius und eine Hand Priscus, als die mit Kreide geschminkte Fabulla den Regen fürchtet und die mit Bleiweiß geschminkte Sabella die Sonne. Setze du eine strengere Miene auf als die Gattin und die ältere Schwiegertochter des Priamos. Die Mimen des Spaßmachers Philistion und allzu ausgelassene Tischgesellschaften meide, und was immer durch witzige Frechheit die Lippen öffnet zu deutlichem Lachen. Für dich gehört es sich, neben der trauernden Mutter zu sitzen oder einer, die den Mann oder den lieben Bruder beweint, und dich nur den tragischen Musen zu widmen. Du aber befolge meine Anweisung und weine, wenn du klug bist, Mädchen, weine.
Dass Martial sein Epigramm mit einem direkten Zitat eröffnet und noch dazu dessen Quelle angibt, ist schon insofern bemerkenswert und unge-
136
wöhnlich, als ähnliche Fälle in der lateinischen Literatur sehr selten sind. Unter den erhaltenen Zeugnissen ist es zudem Martial selbst, der am häufigsten so verfährt, und dies meist im Kontext poetologischer Reflexionen4. Das vom Epigrammatiker angeführte Zitat ist zudem nirgends im erhaltenen Korpus des Elegikers in diesem oder ähnlichem Wortlaut zu finden, was mehrere Gelehrte dazu veranlasst hat, den Vers des flavischen Dichters als einen Hinweis auf ein verlorenes Ovid-Gedicht in Hendekasyllabi zu werten und in die diversen Fragment-Ausgaben aufzunehmen5. Wenngleich eine solche Vermutung nicht völlig auszuschließen ist, dürfte doch eher die These jüngerer Forscher zutreffen, der zufolge Martial seinen Vorgänger hier absichtlich falsch zitiert – schon mit dem eingeschobenen puto (2) setzt er ein erstes Signal in diese Richtung – und damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen intertextuellen Dialog richtet, innerhalb dessen das Verhältnis der Gattung Epigrammatik zur Elegie und Erotodidaxe reflektiert wird6. Martial rekurriert in seinem Gedicht offenbar auf mehrere Passagen aus Ovids Ars amatoria und Remedia amoris, die er aus ihrem elegischen Kontext herauslöst und in einen epigrammatischen überträgt, indem er Ovids erotisches Lehrgedicht in Skoptik verwandelt und aus der elegischen puella eine epigrammatische vetula macht. Der erste Teil von 2,41, in dem Maximina gegenüber begründet wird, warum das (angeblich) ovidische Diktum auf sie nicht zutreffe, greift v.a. Ars 3,279-92 auf; dort warnt der praeceptor amoris Damen mit schlechten Zähnen davor, zu lachen (279f.), und die von Ovid in Aussicht gestellten maxima damna ereilen im Text Martials eine Maximina – in ihrem Namen dürfte zugleich der Hinweis verborgen sein, dass es sich bei 2,41 um das längste Epigramm in Buch 2 handelt – dann auch tatsächlich (2,41,6ff.)7. Ovid gibt daraufhin Anweisungen zum anmutigen ridere (281-286) und schildert schließlich abschreckende Formen übertriebenen Lachens (287-290), bevor er zum lacrimare decenter übergeht (291f.); der letztgenannte Punkt wird von Martial im zweiten Abschnitt 4
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So in 8,55 (Vergil), 9,70 (Cicero); 10,64 (Lucan), 11,20 (Augustus) und 11,90 (Lucilius); zu Dichter-Zitaten bei Martial vgl. Lorenz (2010a), 410-13. Vgl. ansonsten Pers. 6,9 (Ennius); Auson. Epigr. 77,8 Peiper (Lucilius); AP 9,572 Lukillios (Homer und Hesiod); AP 10,51 Palladas (Pindar); AP 11,370 Makedonios (Pindar); AP 12,1 Straton (Arat). Vgl. Williams (2004), 150 ad Mart. 2,41 und (2006), 335f. So Owen (1915) als Frg. 13; Lenz (1932) als Frg. 11; Morel/Büchner/Blänsdorf (1995), 287 Frg. 6; Courtney (1993), 310 dagegen identifiziert den Vers als falsum; vgl. Williams (2006), 337. So v.a. Janka (2006) und Williams (2006); vgl. Hinds (2007), 116-18; Lorenz (2010a), 411f. Schon Zingerle (1877), 5f. vermutet, dass es sich bei Martials Ovid-Zitat um eine freie Reminiszenz bzw. gar um ein scherzhaftes Rätsel handelt. Der nur hier gebrauchte Name Maximina dürfte, so vermutet Williams (2006), 339f., absichtlich als Anklang an die maxima damna bei Ovid gewählt sein. Könnte auch der Hinweis auf ihre tres dentes (6) als Anspielung darauf zu verstehen sein, dass Martials sich des 3. Buches der Ars amatoria als Prätext bedient?
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seines Epigramms (13-23) aufgegriffen und abgewandelt8. Die Aufforderung, Maximina solle dem Spiegel und ihrem „Lehrer“ glauben, das Lachen vermeiden und stattdessen ein ernstes Gesicht aufsetzen (2,41,8-23), ist zudem stark an Ars 3,507-522 angelehnt, führt jedoch den dort entfalteten Gedankengang des elegischen Liebeslehrers in eine völlig andere Richtung. Warnt Ovid seine Schülerinnen davor, ein zorniges oder hochmütiges Antlitz zu zeigen – ein Blick in den Spiegel würde ihnen zur Abschreckung dienen (507f.) –, und führt er als Negativ-Exempla für puellae maestae Tecmessa und Andromache an (517-522), so ermuntert Martial seine „Schülerin“ geradezu, eine möglichst traurige Miene aufzusetzen (2,41,13), Frauen wie Hecuba und Andromache an severitas zu überbieten (14) und sämtliche Anlässe, die Erheiterung verursachen könnten, zu vermeiden (15-18)9. Der Epigrammatiker entwickelt sich im Laufe des Gedichtes zu einem praeceptor maeroris10 und schließt folglich seine AntiErotodidaxe mit der Anweisung plora, si sapis, o puella, plora (23) ab. Maximina verkörpert, so ergibt sich aus der Lektüre vor dem Hintergrund des ovidischen Prätextes, das Gegenteil einer elegischen puella – die Feststellung tu puella non es (5) macht dies explizit –, und sie wird ausgeschlossen aus jener Welt, mit der sich die Elegie und auch die Epigrammatik immer wieder gerne assoziiert (Mimus, convivia, Ausgelassenheit), sowie generell aus dem Kreis von Martials idealen Rezipienten 11. Dass Maximina nicht in die Sphäre der Erotik gehört, wird auch insofern deutlich, als sie zu jenen puellae male dentatae gehört, deren Lachen Ovid in Rem. 339 als Heilmittel gegen die Liebe empfiehlt12. Die Verbindung zu Ovids Remedia amoris scheint mir in diesem Epigramm überdies noch enger zu sein, als es bisher gesehen wurde. Die das Gedicht eröffnende und abschließende Wendung si sapis dürfte zwar, wie Craig Williams überzeugend darlegt, primär als Umkehrung von Ovids Anweisungen an den gestrengen Ehemann in Am. 3,4 zu verstehen sein (43f.: si sapis, indulge dominae vultusque severos / exue nec rigidi iura tuere viri; vgl. Mart. 2,41,1; 23; 13: voltus indue tu magis severos)13, sie findet sich aber auch in den Remedia innerhalb einer Auseinandersetzung des Elegikers mit einem Kritiker und Neider (Rem. 361-372)14: 8
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Zu den verbalen und motivischen Bezügen s. ausführlich Janka (2006), 287 und Williams (2006), 338f. Zu dem von Martial in Vers 15 erwähnten Mimographen Philistion, der in die augusteische Zeit zu datieren sein dürfte, vgl. Williams (2004), 154 ad loc. und die bei Panayotakis (2010), 30 Anm. 58 angeführten Testimonien. So Williams (2006), 340. Vgl. Mart. 1 praef. 14ff.; 3,68; 7,8; 11,2; 6; 15; 16; Janka (2006), 292. Zur Parallele s. Williams (2006), 342. Wiliams (2006), 345f. Daneben noch in Am. 2,2,9, wo der poeta/amator den die Tür der Geliebten bewachenden Eunuchen zur Nachsicht überreden will.
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Nuper enim nostros quidam carpsere libellos, quorum censura Musa proterva mea est. dummodo sic placeam, dum toto canter in orbe, quamlibet impugnent unus et alter opus. ingenium magni livor detractat Homeri: quisquis es, ex illo, Zoile, nomen habes. et tua sacrilegae laniarunt carmina linguae, pertulit huc victos quo duce Troia deos. summa petit livor; perflant altissima venti: summa petunt dextra fulmina missa Iovis. at tu, quicumque es, quem nostra licentia laedit, si sapis, ad numeros exige quidque suos. Jüngst haben nämlich gewisse Leute meine Büchlein zerpflückt, für deren Zensur meine Muse zu schamlos ist. Solange ich so gefalle, solange ich auf der ganzen Welt gesungen werde, soll der eine oder andere mein Werk nach Belieben angreifen. Das Talent des großen Homer setzt der Neid herab; wer du auch bist, von ihm, Zoilos, hast du deinen Namen. Auch deine Gedichte haben gottlose Zungen zerrissen, unter dessen Führung Troja die besiegten Götter hierher gebracht hat. Auf das Höchste zielt der Neid; um Gipfel wehen die Winde, auf das Höchste zielen die von Jupiters Hand geschickten Blitze. Du aber, wer immer du bist, den meine Freizügigkeit beleidigt, wenn du klug bist, beurteile jedes Werk nach seinem Versmaß.
Ein Bezug zwischen dieser Stelle und dem Epigramm Martials scheint mir in mehrfacher Hinsicht zu bestehen: Zunächst muss sich Ovid mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass seine Poesie zu schamlos sei (362: Musa proterva), woraufhin er ausführt, dass der livor stets die größten ingenia angreife (365-370), bevor er dem Gegner rät, den Inhalt eines jeden poetischen Produkts nach seinem Metrum bzw. nach seiner Gattung zu bewerten (372). Dieser Gedanke wird dann im Folgenden durch eine Auflistung der für jedes Genre typischen Konventionen untermauert (373-388)15. Ich halte es nun für denkbar, dass Martial besonders am Ende des MaximinaEpigramms diese literaturtheoretischen Reflexionen aufgreift und im Text inszeniert: Die abschließenden Verse stellen einen verbalen Bezug zu Ovids Apostrophe seines Gegners her (vgl. Mart. 2,41,22f.: at tu…nostrum…si sapis und Ov. Rem. 371f.: at tu…nostra…si sapis): Fordert Ovid seinen Kritiker dazu auf, einer jeden Gattung ihre typischen Eigenschaften zuzugestehen und demnach der Elegie gewisse Freizügigkeiten zu erlauben, so erwartet der epigrammatische Sprecher von Maximina, dass diese sich ihrem hässlichen Aussehen entsprechend ernst verhält und so den Konventionen erhabener Gattungen anpasst 16. Als praeceptor maeroris weist Martial Maximina 15
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Vgl. Holzberg (2006c) zur inszenierten Leserreaktion in den Remedia amoris, die Ovid Anlass gibt, über die von ihm betriebene Gattung zu reflektieren. 2,41,13-23; vgl. Ov. Rem. 373-376 u. 383f.: quis ferat Andromaches peragentem Thaïda partes? / peccet, in Andromache Thaïda quisquis agat („Wer würde es ertragen, wenn Thaïs die Rolle der Andromache spielte? Einen Fehler würde wohl machen, wer bei
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somit an, sich wie das genaue Gegenteil einer elegischen puella zu verhalten17; nachdem Ovid sich in den Remedia gegen die Zensur seiner freizügigen Poesie durch Zeitgenossen wehren musste (Rem. 361f.), liest sich Martials Epigramm und die Stilisierung Maximinas zur Anti-puella vor diesem Hintergrund wie ein scherzhafter Versuch des Dichters, einem ähnlichen Vorwurf durch seine Leser zu entgehen. Der von Ovid aufgestellten Regel, man solle den Inhalt eines jeden poetischen Produktes nach seinem Metrum bewerten, entspricht bei Martial der Gedanke, jede Frau müsse sich ihrem Aussehen entsprechend verhalten; auch auf poetischer Ebene befolgt Martial das Diktum des Augusteers und bietet im Versmaß des Hendekasyllabus keine Erotodidaxe à la Ovid, sondern vetula-Skoptik à la Martial18. Wendet sich der Augusteer im Rahmen seiner Argumentation gegen Zoilus (Rem. 366), den berühmten Ὁμηρομάστιξ19, so begegnen wir auch bei Martial, unmittelbar nach 2,41 einem Zoilus, der hier allerdings zur Zielscheibe einer viel schärferen Attacke wird (2,42): Zoile, quid solium subluto podice perdis? spurcius ut fiat, Zoile, merge caput. Zoilus, warum verunreinigst du das Badewasser, indem du deinen Hintern wäschst? Damit es noch ekliger wird, Zoilus, tauche deinen Kopf hinein.
Wenn der Epigrammatiker seinem Zoilus vorwirft, er habe ein os impurum20, verwandelt er die sacrilegae linguae der von Ovid erwähnten obtrectatores Homeri et Vergili21 (Rem. 367f.) in einen derb-obszönen Scherz. Die Abfolge der Epigramme 2,41-42 scheint überdies en miniature die Abfolge Ars amatoria-Remedia amoris zu imitieren: Während es sich bei 2,41 um eine Ars ploratoria handelt, spielt Martial in 2,42 auf den poetologischen Exkurs der Remedia an. Es ist zudem besonders komisch, wenn er nach einem langen und vorgeblich „ernsten“ Gedicht wie 2,41 einen Zoilus auftreten lässt; auf ein Epigramm von „epischem“ Ausmaß, in dem überdies homerische Figuren auftauchen (2,41,14), folgt eines, dessen Protagonist an den griechischen Homerkritiker erinnert. Stellt man aufgrund der Na-
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Andromache als Thaïs auftritt“); vgl. Mart. 2,41,13f. voltus indue tu magis severos / quam coniunx Priami nurusque maior. Auch durch ihren Namen verkörpert Maximina das Gegenteil von Kleindichtung. Vgl. Williams (2006), 340; Lorenz (2010a), 412. Der kynische Philosoph Zoilos von Amphipolis (4. Jh. v.Chr.) erwarb sich diesen Namen aufgrund seiner gegen Homer gerichteten Schriften Καθ’ Ὁμήρου oder Κατὰ τῆς Ὁμήρου ποιήσεως und Ψόγος Ὁμήρου; vgl. Henderson (1979), 88f. ad loc. Zur Sexualskoptik in diesem Gedicht vgl. ausführlicher Obermayer (1998), 220; Zoilus begegnet bei Martial darüber hinaus in 2,16; 19; 58; 81; 3,29; 82; 4,77; 5,79; 6,91; 11,12; 30; 37; 54; 85; 92 und 12,54; zum Zoilus-Zyklus vgl. Barwick (1958), 302f. Möglicherweise ist im Falle Vergils an den Aeneidomastix Carvilius Pictor gedacht, vgl. Henderson (1979), 89 ad loc.
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mensgleichheit eine Verbindung zwischen den beiden Gestalten her 22, so passt das Gedichtpaar 2,41-42 zu jenen Stellen im Korpus, wo Martial unmittelbar auf ein langes Epigramm einen Kritiker zu Wort kommen lässt, der den großen Umfang oder andere Elemente für unvereinbar mit den Konventionen der Gattung hält23. Dies ist etwa in 3,82-83 der Fall, wo Zoilus selbst zuerst als Zielscheibe des Spottes in einem 33 Verse umfassenden Epigramm fungiert und Martial sich anschließend in einem Einzeldistichon für die Länge des vorhergehenden Gedichtes rechtfertigen muss.
4.1.2
Martial in der Rolle des verbannten Ovid
Neben der Rolle des praeceptor amoris schlüpft Martial auch in die des poeta exsul. Bereits zu Beginn des ersten Buches nimmt der Epigrammatiker eine Sprechhaltung ein, die stark an die des verbannten Ovid erinnert. In den Gedichten 1,1-1,4 spielt er immer wieder auf die Selbstdarstellung Ovids in seiner Exilpoesie an, was angesichts der Tatsache, dass Martials Werk erst am Anfang steht und der Autor sich außerdem in Rom befindet, für eine gewisse Spannung sorgt, ja vielleicht sogar komisch wirken soll24. Darüber hinaus suggeriert der implizite Vergleich des Dichters mit Ovidius exsul in der Eröffnungspassage des ersten Buches dem Leser, dass auch Domitian mit Augustus gleichgesetzt werden soll25. Nachdem Martial am Ende des Korpus in seine spanische Heimat zurückgekehrt ist, lässt er in der praefatio zu Buch 12 abermals mehrere Motive anklingen, wie sie uns aus der Exilliteratur bekannt sind26. Der Epigrammatiker beschreibt seine Situation in der Heimat als diejenige eines Verbannten 27, und kontrastiert seine Lebensumstände mit jenen in Rom28: Die Umgebung bewirke geistige Verödung und eine Qualitätseinbuße der Poesie, die wiederum dem Exilierten als Trost diene29. Mit der Fiktion eines räumlichen, zeitlichen und qualitati22 23 24
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Vgl. Kay (1985), 93. Vgl. 1,109-10; 3,82-83; 6,64-65. 1,1 spielt auf Ov. Trist. 4,10 an, 1,2-3 auf Trist. 1,1 sowie Trist. 3,7 und Pont. 4,5,7; 1,4,8 ist eine Abwandlung von Trist. 2,353f. und Catul. c. 16; vgl. Citroni (1975), 23; Howell (1980), 101ff.; Lorenz (2002), 18f. und 112f.; zu weiteren Parallelstellen vgl. Holzberg (2002b), 98f. u. 130ff. und (2007b). Vgl. Lorenz (2002), 113 zu Mart. 1,4. Vgl. Dams (1970), 209; Sullivan (1991), 75; Borgo (2003), 32f.; Johannsen (2006), 117ff.; zu Martials Rückkehr nach Spanien vgl. Howell (1998). 12 praef. 4f.: in hac provinciali solitudine. 12 praef. 7-18. 12 praef. 4-6 nedum in hac provinciali solitudine, ubi nisi intemperanter studemus, et sine solacio et sine excusatione secessimus („Geschweige denn in dieser provinziellen Einöde, wo ich, wenn ich mich nicht gerade hemmungslos meinen Studien widme, sowohl ohne Trost als auch ohne Entschuldigung abgeschieden lebe“). Zur Trostfunktion vgl. Ov. Trist. 4,10,111-120. Der Gedanke der Qualitätseinbuße wird von Martial durch die abschließende Antithese non Hispaniensem librum…sed Hispanum ausgedrückt: Mit der Hilfe des Priscus will Martial vermeiden, einen liber Hispanus, d.h. ein echt spani-
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ven Abstandes des zwölften Buches zur Entstehung der früheren libri des Korpus setzt Martial ein deutliches Schluss-Signal30. Ein intertextuelles Spiel mit dem relegierten Ovid ist auch in der an Domitian gerichteten Vorrede zu Buch 8 enthalten: IMPERATORI DOMITIANO CAESARI AVGVSTO GERMANICO DACICO VALERIVS MARTIALIS S. Omnes quidem libelli mei, domine, quibus tu famam, id est vitam, dedisti, tibi supplicant; et, puto, propter hoc legentur. hic tamen, qui operis nostri octavus inscribitur, occasione pietatis frequentius fruitur. minus itaque ingenio laborandum fuit, in cuius locum materia successerat: quam quidem subinde aliqua iocorum mixtura variare temptavimus, ne caelesti verecundiae tuae laudes suas, quae facilius te fatigare possint quam nos satiare, omnis versus ingereret. quamvis autem epigrammata a severissimis quoque et summae fortunae viris ita scripta sint ut mimicam verborum licentiam adfectasse videantur, ego tamen illis non permisi tam lascive loqui quam solent. cum pars libri et maior et melior ad maiestatem sacri nominis tui alligata sit, meminerit non nisi religiosa purificatione lustratos accedere ad templa debere. quod ut custoditurum me lecturi sciant, in ipso libelli huius limine profiteri brevissimo placuit epigrammate. Valerius Martialis grüßt den Kaiser Domitianus Caesar Augustus Germanicus Dacicus. Zwar huldigen dir alle meine Büchlein, Herr, denen du Ruhm, d.h. Leben verliehen hast, und ich glaube, deshalb wird man sie lesen. Dennoch macht dieses Buch hier, das als das achte meines Werkes betitelt ist, häufiger von der Gelegenheit zur frommen Verehrung freudigen Gebrauch. Daher musste ich weniger mein Talent bemühen, an dessen Stelle der Stoff getreten war. Diesen versuchte ich freilich immer wieder durch eine Beimischung von Scherzen zu variieren, damit nicht jeder Vers deiner göttlichen Zurückhaltung seine Lobsprüche, die wohl eher dich ermüden können als mich zufriedenstellen, aufdrängt. Obwohl aber Epigramme auch von den strengsten und die höchsten Stellungen einnehmenden Männern so verfasst worden sind, dass sie die für den Mimus typische Freizügigkeit der Worte angestrebt zu haben scheinen, habe ich ihnen dennoch nicht erlaubt, so frech zu reden wie sie es gewohnt sind. Da der größere und bessere Teil des Buches an die Erhabenheit deines heiligen Namens gebunden ist, soll er sich erinnern, dass nur durch gewissenhafte Reinigung Geläuterte die Tempel betreten dürfen. Damit meine künftigen Leser wissen, dass ich dieses Gebot bewahren werde, habe ich beschlossen, mich gerade an der Schwelle dieses Büchleins in einem ganz kurzen Epigramm dazu zu bekennen.
Domitian liefert, so erfahren wir, den Grund dafür, dass der liber VIII sich weitaus züchtiger präsentiert als die übrigen Bücher31 und außerdem mehr
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sches (= schlechtes), anstelle eines liber Hispaniensis, d.h. eines von einem Römer in Spanien verfassten Buches, zu produzieren; vgl. Johannsen (2006), 115ff. mit weiteren Parallelstellen. Vgl. Fowler (1989), 78-82; Lorenz (2002), 232f.; Johannsen (2006), 120f. 8, praef. 11-18. Tatsächlich fehlen in diesem Buch obszöne Ausdrücke und die Schilderung von Sexualpraktiken, vgl. Schöffel (2002), 19f.
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Kaiserpanegyrik enthält (5f.)32. Strukturell ähnelt die Vorrede jener zu Buch 1, da sie ebenfalls aus zwei Hauptteilen besteht33. Zunächst geht es um das Thema der Kaiserpanegyrik und damit zusammenhängend um die richtige variatio der betreffenden Epigramme mit den gewohnt scherzhaften Gedichten. War Martial in der praefatio zu Buch 1 als Verfasser seiner libelli noch durchgehend als Subjekt präsent34, so gibt er sich nun zurückhaltender35 und stellt seine Bücher36 bzw. Domitians Bedeutung für diese ins Zentrum37. Anstelle eines Dichter-ingenium ist die materia, d.h. der Kaiser, Garant für das erfolgreiche Entstehen des Buches38. Eine untergeordnete Rolle hatte Martial dem ingenium auch in der ersten Vorrede zugeschrieben, vorausgesetzt man fasst die Wendung probetur in me novissimum ingenium (6) im Sinne von „man soll an mir zuletzt das Talent loben“ auf39. Die Bezeichnung Domitians als materia erinnert an diverse recusatio-Szenen bei augusteischen Elegikern, die ihre puellae als Inspirationsinstanz für ihre Poesie preisen40, und der Prinzeps übernimmt demnach eine ähnliche Rolle für den Epigrammatiker. In diesem Zusammenhang erscheint auch Ovids Brief an Augustus als ein besonders wichtiger Prätext, denn dort wird der Kaiser, wie schon mehrfach beobachtet worden ist, ebenfalls wie eine elegische puella angesprochen41. In Trist. 2,61-76 lesen wir Folgendes: quid referam libros, illos quoque, crimina nostra, mille locis plenos nominis esse tui?
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Die Anzahl der panegyrischen Epigramme und jener Gedichte, die sich auf den Kaiser beziehen, ist im achten liber etwas höher als in den anderen Büchern, vgl. Coleman (1998b), 345; allerdings dürfte Martials Behauptung hyperbolisch sein, vgl. Nauta (2002), 114 Anm. 82; Johannsen (2006), 89. Vgl. Johannsen (2006), 91ff. mit einer Analyse weiterer Ähnlichkeiten. Dies wird besonders durch die Verbalendungen und den Gebrach der Personal- und Possessivpronomen deutlich: spero me secutum in libellis meis (1); mihi…constet (5); probetur in me (6); iocorum nostrorum (6f.); epigrammata mea (7f.); excussarem, si meum esset exemplum (10); theatrum meum (15f.); videor mihi meo iure facturus si…clusero (16f.). Vgl. libelli mei (3); puto (4); operis nostri (5); variare temptavimus (8); nos satiare (10). Libelli...supplicant (1f.); legentur (3); hic…qui…inscribitur…fruitur (5f.); omnis versus ingereret (10). Die Anrede an Domitian erfolgt im hymnischen Du-Stil: tu…dedisti (1f.); tibi supplicant (2); verecundiae tuae (9); te fatigare (9f.). Vgl. Schöffel (2002), 62: „Nicht der Autor verleiht seinem Sujet Leben, sondern vielmehr dieses dem Dichter. Das Sujet wird emanzipiert, avanciert zur Inspirationsinstanz und scheint einer eigenständigen (literarischen) Leistung fähig, während die Präsenz des Dichters…selbst stark zurückgenommen wird.“ S.o. Kap. 2.1.1, S. 10-3; vgl. Johannsen (2006), 61f. Wie es an mehreren anderen Stellen der Fall ist, so wäre auch hier denkbar, dass Martial durch die ambivalente Formulierung Selbstabwertung und Selbstrühmung miteinander oszillieren lässt. Vgl. etwa Prop. 2,1,3f.; 30,40; Ov. Am. 1,1,19f.; 3,19f.; 2,17,34; 3,12,15f.; Trist. 4,10,59f.; Lorenz (2002), 171f. Schöffel (2002), 66 ad loc. Zur Konstruktion des Augustus im Stile einer elegischen puella in der Exilpoesie Ovids vgl. Stroh (1971), 250-255; Holzberg (1997), 181f. u. (2007b).
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inspice maius opus, quod adhuc sine fine tenetur, in non credendos corpora versa modos: invenies vestri praeconia nominis illic, invenies animi pignora multa mei. non tua carminibus maior fit gloria, nec quo, ut maior fiat, crescere possit, habet. fama Iovi superest: tamen hunc sua facta referri et se materiam carminis esse iuvat, cumque Gigantei memorantur proelia belli, credibile est laetum laudibus esse suis. te celebrant alii, quanto decet ore, tuasque ingenio laudes uberiore canunt: sed tamen, ut fuso taurorum sanguine centum, sic capitur minimo turis honore deus. Wozu soll ich anführen, dass die Bücher – auch jene, meine Verbrechen – an tausend Stellen von deinem Namen erfüllt sind? Schau in das größere Werk, das noch immer kein Ende hat: die Körper, die sich zu unglaublichen Gestalten verwandeln. Dort wirst du die Verherrlichung deines Namens finden, und du wirst viele Beweise meiner Gesinnung finden. Nicht wird dein Ruhm größer durch Gedichte und nichts hat er, wodurch er wachsen könnte, um größer zu werden. Nur der Ruhm Jupiters ist überlegen; dennoch erfreut es diesen, wenn seine Taten berichtet werden und er den Stoff für ein Gedicht liefert; wenn die Kämpfe des Krieges gegen die Giganten erzählt werden, dann kann man glauben, dass er sich über sein Lob freut. Dich feiern andere mit gebührend erhabenem Mund, und dein Lob singen sie mit reichhaltigerem Talent. Aber dennoch, wie durch das vergossene Blut von hundert Stieren, so wird der Gott auch von der sehr bescheidenen Ehrung durch Weihrauch eingenommen.
Innerhalb der nach rhetorischen Gesichtspunkten strukturierten Elegie42 ist der vorliegende Abschnitt Teil der probatio, die dem Dichter Anlass liefert, seine Loyalität gegenüber Augustus zu bekunden. Ähnlich wie Martial weist Ovid darauf hin, welch großen Anteil an Kaiserpanegyrik seine Bücher, darunter sogar die Ars Amatoria und die Metamorphosen, enthalten (6166)43. Auf die Aussage, dass der Ruhm des Augustus durch Dichtung nicht weiter vermehrt werden könne (67f.), folgt ein Vergleich des Prinzeps mit Jupiter, der ihm als Einziger überlegen sei und sich dennoch darüber freue, als Stoff (70: materia) für Gedichte zu dienen. Neben dem Herrscherlob und der Erwähnung der materia liegt auch mit der Thematisierung des ingenium eine Parallele zu Martials praefatio vor. Doch während bei Ovid innerhalb einer typischen recusatio andere (73: alii) mit reichhaltigerem Talent (74: ingenio…uberiore) die Taten des Augustus (episch) verherrlichen und dadurch die angeblich geringere Begabung des Elegikers ersetzen werden, ist
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Exordium (1-26), propositio (27-28), probatio (29-154) mit epilogus (155-206), refutatio (207-572) und schließlich peroratio (573-78), vgl. Owen (1967), 48-54; Holzberg (1997), 184ff.; Ingleheart (2010), 12ff. Vgl. Owen (1967), 133f., Luck (1977), 102 und Ingleheart (2010), 96ff. ad loc.
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es bei Martial die materia selbst, die dies leisten kann. Ließ sich für Ovid die gloria des Prinzeps durch carmina nicht mehr vergrößern, so trägt beim Epigrammatiker umgekehrt der Kaiser zur Vermehrung des Ruhmes der Dichtung bei (8 praef. 3f.: libelli…quibus tu famam, id est vitam, dedisti). Der intertextuelle Bezug zu Ovids Versepistel an Augustus erscheint mir für die Vorrede zu Martials achtem Buch auch insofern von Bedeutung, als Ovid im zweiten Teil seiner Elegie, der refutatio (207-572), seine Ars Amatoria gegen den Vorwurf verteidigt, sie habe die Sitten der Römer gefährdet. Analog dazu geht es im zweiten Abschnitt von Martials epistula ebenfalls um die Rechtfertigung lasziver Poesie (11-13), wenngleich der Dichter hier ankündigt, er werde dieses für die Gattung konstitutive Element nun unterdrücken (13f.). Der Einschub, in dem Epigrammatik und Mimus verglichen werden, greift offenbar die Auseinandersetzung Ovids mit dieser Form des Schauspiels in Trist. 2,497ff. auf und weist zudem auf die Rechtfertigung für obszöne Sprache in der ersten Vorrede zurück. In beiden praefationes führt Martial in diesem Zusammenhang konkrete (1 praef. 10f.) bzw. pauschale (8 praef. 11f.) Vorgänger für diese dichterische Praxis an44 – eine Strategie, die uns ebenfalls aus Ovids zweitem TristienBuch bekannt ist45. Die in den ersten beiden praefationes dominierende Theatermetaphorik wandelt sich in der Prosavorrede des achten Buches zu einer religiösen Bildersprache, wenn Martial den Beginn der Lektüre mit dem Eintritt in einen Tempel vergleicht46. Damit ist eine enge Verflechtung des Endes der praefatio mit dem ersten Epigramm des Buches geschaffen47: Der Übergang vom Prosa- zum Epigrammteil (8 praef. 17f.: in ipso libelli huius limine) wird selbstreferentiell als Betreten eines Heiligtums – in diesem Fall Domitians Palast (8,1) – imaginiert48. Daneben dürfte Martial aber auch noch eine andere „Schwelle“ evozieren: Trifft meine Annahme zu, dass für die vorliegende praefatio Ovids Buch 2 der Tristia als wichtigster Prätext fungiert, so würde Martial mit dem Wechsel von 8 praef. zu 8,1 auch den Übergang 44
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Die Epigrammatiker Catull, Marsus, Pedo und Gaetulicus aus 1 praef. werden in 8 praef. durch severissimi et summae fortunae viri ersetzt; somit zählt Martial nun auch jene Leute zu seinen Vorbildern, die in 1 praef. noch als Gegner seiner Poesie bezeichnet wurden (1 praef. 20: Cato severe), vgl. Johannsen (2006), 94. Dies knüpft an den schon in 1,4,8 ausgedrückten Gedanken von der Trennung zwischen ars und vita an und passt gut in einen an den Kaiser gerichteten Widmungsbrief. Ähnlich wie Martial nennt auch Plinius, Epist. 5,3,5-6 solche Präzedenzfälle; vgl. Schöffel (2002), 71 mit Anm. 8 ad loc. Vgl. den umfangreichen Katalog von Dichtern und Gattungen in Trist. 2,361-470 mit Owen (1967), 359ff., Luck (1977), 133ff. und Ingleheart (2010), 293ff. ad loc. 8 praef. 14-18. Vgl. Johannsen (2006), 90f. Den Lektüreprozess von Buch 8 und das Eintreten in ein Heiligtum parallelisiert Martial sprachlich durch die zweimalige Verwendung des Partizip Futur lecturi (8 praef. 17) und intrature (8,1).
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von einem liber zum nächsten bei seinem Vorgänger mitvollziehen, denn 8,1 ist als Buchapostrophe eng an die erste Elegie des dritten TristienBuches angelehnt, wo der nach Rom entsandte liber den Eingang zum Palast des Augustus bestaunt49. Die apologetischen Strategien des Ovidius exsul greift Martial nicht nur im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Domitian auf. Auch andernorts löst der Epigrammatiker die Aussagen des Elegikers aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus, verlagert sie in einen neuen oder isoliert sie zu völlig eigenständigen poetischen Kreationen, so dass wir mit Hinds von einer Art Fragmentierung des literarischen Modells sprechen können50. Dies ist etwa der Fall in den Xenia, deren Beginn51 stark an die von Ovid zur Verteidigung seiner Ars amatoria vorgebrachten Argumente erinnert (13,1): Ne toga cordylis et paenula desit olivis aut inopem metuat sordida blatta famem, perdite Niliacas, Musae, mea damna, papyros: postulat ecce novos ebria bruma sales. non mea magnanimo depugnat tessera talo senio nec nostrum cum cane quassat ebur: haec mihi charta nuces, haec est mihi charta fritillus: alea nec damnum nec facit ista lucrum. Damit nicht die Toga dem Thunfisch und der Mantel den Oliven fehle oder die schmutzige Büchermotte kläglichen Hunger fürchten muss, vergeudet, Musen vom Nil, mein Verderben, den Papyrus: Sieh, es fordert der trunkene Winter neue Späße. Weder kämpft mein Würfel gegen den hochherzigen Spielstein, noch erschüttert die Sechs mit dem Hund mein Elfenbein. Diese Blätter hier sind Nüsse für mich, diese Blätter der Würfelbecher. Dieses Würfelspiel bringt weder Verlust noch Gewinn.
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8,1: Laurigeros domini, liber, intrature penates / disce verecundo sanctius ore loqui. / nuda recede Venus; non est tuus iste libellus: / tu mihi, tu Pallas Caesariana, veni („Buch, das du in das von Lorbeer bekränzte Heim des Herrn eintreten wirst, lerne, mit sittsamem Mund züchtiger zu sprechen. Nackte Venus, weiche zurück; dies ist nicht dein Büchlein. Du, kaiserliche Pallas, du komm zu mir“); vgl. Ov. Trist. 3,1,32ff. Auch das erste Gedicht des Corpus Priapeorum evoziert das Bild eines Tempels; anders als bei Martial (8,1,3: nuda recede Venus) wird dieses sacellum jedoch nicht von „ernsten“ Gottheiten bewohnt, sondern von dem sich als membrosior aequo rühmenden Priap (CP 1,5); zur Tempelmetaphorik in den Priapeen vgl. Höschele (2010), 276-79. S. oben S. 135. Die Einheit der Epigramme 13,1-3 wurde von Ker (1950), 23f. bezweifelt, der 13,3 als das eigentliche Eröffnungsgedicht ansah mit dem Argument, dass erst dort explizit von Xenia gesprochen werde; 13,1-2 hielt er dagegen für spätere Zutaten, die ursprünglich an eine andere Stelle in Martials Korpus gehört haben; seiner These folgten Leary (1998), 38f. und (2001), 37; Shackleton Bailey (1993), III, 172. Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass zwischen den drei Gedichten mehrere verbale und inhaltliche Bezüge bestehen sowie ein sich entwickelnder Gedankengang zu beobachten ist und sie daher als thematisch geschlossene Gruppe anzusehen sind; vgl. Fearnley (1998), 17-23; Lorenz (2002), 87ff.
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In der Form eines invertierten Musenanrufs bittet Martial darum, die Dichtergottheiten mögen ihm beim Verschwenden seines Papyrus behilflich sein, damit dieser als Einwickelpapier für Thunfische und Oliven bzw. als Nahrung für Büchermotten seine Verwendung finde (1-4)52. Die scherzhafte Abwertung der eigenen literarischen Produktion setzt sich fort in einem Vergleich des Charakters der Poesie mit dem zur Zeit der Saturnalien beliebten Würfelspiel (5-8)53. Es entsteht somit der Eindruck, als hätten wir es hier mit einer Form der Dichtung in jener Tradition zu tun, die Ovid in Trist. 2 erwähnt und von der er sich abgrenzt (471-476): sunt aliis scriptae, quibus alea luditur, artes (hoc est ad nostros non leve crimen avos) quid valeant tali, quo possis plurima iactu figere, damnosos effugiasve canes, tessera quos habeat numeros, distante vocato mittere quo deceat, quo dare missa modo; Von anderen wurde die Kunst beschrieben, mit dem Würfel zu spielen – das ist nach unseren Vorfahren kein leichtes Vergehen –, welchen Wert die Spielsteine haben, durch welchen Wurf man die meisten Treffer erzielen kann und dem schädlichen Hund entkommt, welchen Zahlenwert der Würfel hat, wohin man, wenn der ‚abseits Stehende‘ gerufen wird, werfen und wohin man nach dem Wurf weiterreichen soll.
Neben dem Würfelspiel sind, so berichtet Ovid, auch andere Spiele Gegenstand scherzhafter Lehrdichtung (477-490), deren Entstehung eng mit der Zeit der Saturnalien verbunden sei (491f.): talia luduntur fumoso mense Decembri, / quae damno nulli composuisse fuit54. Aus den Aussagen des Elegikers wurde geschlossen, dass auch Martials Xenia und Apophoreta in jene uns ansonsten kaum mehr greifbare poetische Tradition zu stellen seien 55; diese Vermutung lässt sich natürlich nicht widerlegen, doch machen es mehrere verbale Bezüge zwischen den Tristia und Martials Gedichten wahrscheinlich, dass der Epigrammatiker in der Entfaltung seines poetischen Programms bewusst auf den Text Ovids rekurriert. So dürfte schon 13,3 (perdite Niliacas, Musae, mea damna, papyros) eine Abwandlung der das zweite Tristien-Buch eröffnenden Worte Ovids cur modo damnatas repeto, mea crimi52
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Hierin verbirgt sich auch eine ganz konkrete Beschreibung des vorliegenden libellus: Die als Toga imaginierte Buchrolle umhüllt Epigramme auf Speisen, unter denen sich u.a. Oliven (13,36) und Meeresfrüchte (13,79-91) befinden. Toga und paenula kann auch das Etui bzw. den Schutzumschlag einer Buchrolle bezeichnen, vgl. Ishǿy (2006), 80. Zum Topos von schlechter Literatur als Einwickelpapier für Speisen bzw. als Futter für Büchermotten vgl. Catul. c. 95,8; Hor. Epist. 1,20,12; 2,1,269f.; Ov. Pont. 1,1,72; Mart. 6,61,7; 14,37; Stat. Silv. 4,9,10ff. mit Coleman (1988), 227f. Vgl. Leary (2001), 40 ad loc.; Kay (1985), 72 ad Mart. 11,6,2. „Derartiges wird gespielt im rauchenden Monat Dezember; dies zu komponieren hat keinem geschadet.“ Citroni (1989), 201-210.
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na, Musas (3) darstellen, wobei der Imperativ perdite Ovids Bewertung der dichterischen Aktivität seiner Zeitgenossen aufzugreifen scheint: quique alii lusus…perdere, rem caram, tempora nostra solent (483f.). Anders als es bei dem Augusteer der Fall war, soll Martials scherzhafte Poesie ihrem Verfasser keinen Schaden zufügen, wird aber ebenso wenig gewinnbringend sein (13,1,8: alea nec damnum nec facit ista lucrum). Möglicherweise ist auch der zweite Gedanke von Ovids Apologie beeinflusst, denn kurz nach seinem Exkurs zur Saturnaliendichtung kommt der Elegiker auf den Mimus zu sprechen, von dem er sich ebenfalls distanziert (497-518); über die Autoren solcher Stücke sagt er: quoque minus prodest, scaena est lucrosa poetae / tantaque non parvo crimina praetor emit (507f.)56. Dass bei Martial das Verfassen der Xenia höchstens für den Buchhändler, nicht aber den Dichter selbst eine lukrative Angelegenheit sein wird, geht aus 13,3 hervor: quattuor est nimium? poterit constare duobus, / et faciat lucrum bybliopola Tryphon (3-4). In der Halbierung des Preises für die vorliegende Ausgabe dürfte auch ein Hinweis auf die formale Beschaffenheit des libellus verborgen sein: Vier (Verse) sind dem Leser zu viel, und so werden daraus zwei57. Angesichts der zahlreichen Bezüge zu Ovids Tristien und der epigrammatischen Anverwandlung der Apologie des Elegikers mag es dahingestellt bleiben, ob wir bei dem kritischen nasutus bzw. nasus, gegen den sich Martial in 13,2,1 wendet, an einen Naso denken sollen58. Die von Ovid in Trist. 2 aufgezählten Spiele, die angeblich der Saturnalienpoesie seiner Zeitgenossen den Stoff lieferten, löst Martial aus ihrem argumentativen Kontext und macht sie zu Teilen seines eigenen poetischen lusus, wie etwa im Fall von 14,17: Tabula lusoria Hac mihi bis seno numeratur tessera puncto; calculus hac gemino discolor hoste perit. Eine Spieltafel Auf dieser Seite wird von mir mit zweimal sechs Punkten der Würfel gezählt;
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„Wie wenig es auch nützt, für den Dichter ist das Bühnenspiel gewinnbringend. Solche Laster kauft der Prätor zu keinem geringen Preis.“ Das Substantiv nummus wurde auch umgangssprachlich zur Bezeichnung von Münzen von geringem Wert und damit auch von unbedeutenden Kleinigkeiten gebraucht, was gut zum poetischen Programm der Xenia passt; vgl. OLD, 1204 s.v. nummus 3c. Besonders in der Exildichtung spricht Ovid häufig von sich mit seinem Cognomen, was freilich u.a. damit zusammenhängt, dass der Name Ovidius sich mit den vielen Kürzen nicht ins daktylische Metrum einfügen lässt; vgl. Trist. 1,7,10; 2,1,119: 3,3,74.76; 3,4,45; 10,1; 12,51; 4,4,86; 5,1,35; 3,49.52; 4,1; 13,1; Pont. 1,3,1; 5,1; 7,4.69; 8,1.30; 10,1; 2,2,2; 4,1; 5,1; 6,2; 10,2.15; 11,2; 3,1,3; 4,2; 5,4.44; 6,1; 7,13; 4,3,10; 6,2; 8,34; 9,2; 14,14; 15,2; 16,1; Ib. 4; vgl. Am. 1,ep. 1; 2,1,2; 13,25; Ars 2,744; 812; Rem. 71; 72; 558; Fast. 5,377.
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auf der anderen geht der bunte Spielstein durch den doppelten Feind zugrunde.
Man beachte die engen verbalen Bezüge zu Ov. Trist. 2,475f.: tessera quos habeat numeros, distante vocato / mittere quo deceat, quo dare missa modo; / discolor ut recto grassetur limite miles, / cum medius gemino calculus hoste perit59. Das von Ovid im Rahmen seiner Argumentationsreihe gebrachte Beispiel einer Abhandlung über das Würfel- und Brettspiel verselbständigt sich bei Martial zu einem eigenen Epigramm. Unter der von Martial hier beschriebenen tabula lusoria könnte man sich neben einem konkreten Objekt auf einer zweiten Ebene auch das poetische Spielfeld der Apophoreta vorstellen, auf dem der Epigrammatiker einen lusus poeticus mit seinen Vorgängern betreibt.
4.1.3
Martial und Ovids Amores
In den Passagen von Martials Werk, wo Ovid namentlich erwähnt wird, begegnet dieser uns vor allem als Liebhaber der Corinna und somit als Verfasser der Amores (5,10,10; 8,73,10; 12,44,6). Der Epigrammatiker präsentiert dieses Liebesverhältnis mehr oder weniger wie eine biographische Tatsache. So heißt es etwa in 5,10, wo das Problem der fehlenden Anerkennung für Autoren zu ihren Lebzeiten thematisiert wird: norat Nasonem sola Corinna suum (10). Hierbei handelt es sich offensichtlich um eine Abwandlung bzw. Umkehrung jener Aussagen Ovids, in denen er die wahre Identität seiner puella nicht preisgeben möchte60. Daneben dürfte das Verbum norat jedoch auch eine obszöne Bedeutung enthalten, die besonders auf die sexuellen Aktivitäten der beiden Liebenden verweist 61. Rechnet Martial die Metamorphosen aufgrund ihres Umfanges in den Apophoreta noch scherzhaft zu den aus der Sicht eines Epigrammatikers weniger wertvollen Werken62, so scheint er Ovids Liebesdichtung als seiner eigenen Gattung deutlich näherstehend zu bewerten. Dies legen zumindest die drei angeführten Stellen nahe, in denen der Elegiker jeweils als herausragendes Exemplum und Vorbild für Martial angeführt wird.
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„Welche Zahlen der Würfel hat, wohin man, nachdem der ‚abseits Stehende‘ zurückgerufen worden ist, werfen und wohin man nach dem Wurf weiterreichen soll. Wie der bunte Soldat auf gerader Bahn schreitet, wenn ein dazwischen liegender Stein durch den doppelten Feind zugrunde geht“; zur schwierigen Formulierung distante vocato (475) vgl. Owen (1967), Luck (1977), und Ingleheart (2010), ad loc. Vgl. Ov. Ars. 3,357ff.; 2,207f. Schon Zingerle (1877), 20f. weist darauf hin, dass Martial hier primär „die Stelle der späteren Dichtung im Auge hatte.“ Vgl. Ov. Am. 2,17,29; Ars 3,538; Trist. 4,10,60; vgl. Howell (1995), 87 und Canobbio (2011a), 168f. ad loc. Zu dieser Bedeutung von noscere s. OLD, 1190 s.v. nosco (4); Adams (1982), 190. 14,192; s. Kap. 2.2.2, S. 43. Als Prätext sind die Metamorphosen jedoch an zahlreichen Stellen in Martials Werk präsent; vgl. dazu Hinds (2007), 136-154.
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Die Amores sind darüber hinaus auch implizit in Martials Text präsent, und wie im Folgenden gezeigt werden soll, bestätigt sich die von Hinds angestellte Vermutung, dass der Epigrammatiker für verschiedene Zwecke unterschiedliche Werke Ovids und damit auch unterschiedliche Rollen der ovidischen persona abruft63. Ist für die Vorrede zu Buch 8 die defensive Sprechhaltung des relegatus aus dem zweiten Tristien-Buch ein wichtiges Modell, so ruft Martial in 8,3 den Dichter der Amores in Erinnerung. Das programmatische Epigramm 8,3 ist als Redeagon zwischen dem Dichter und seiner Muse64 gestaltet und enthält zahlreiche Anspielungen auf die Epoche des Augustus65 sowie auf diverse recusationes augusteischer Dichter66: "Quinque satis fuerant: nam sex septemve libelli est nimium: quid adhuc ludere, Musa, iuvat? sit pudor et finis: iam plus nihil addere nobis fama potest: teritur noster ubique liber; et cum rupta situ Messalae saxa iacebunt altaque cum Licini marmora pulvis erunt, me tamen ora legent et secum plurimus hospes ad patrias sedes carmina nostra feret." finieram, cum sic respondit nona sororum, cui coma et unguento sordida vestis erat: "Tune potes dulcis, ingrate, relinquere nugas? dic mihi, quid melius desidiosus ages? an iuvat ad tragicos soccum transferre cothurnos aspera vel paribus bella tonare modis, praelegat ut tumidus rauca te voce magister, oderit et grandis virgo bonusque puer? scribant ista graves nimium nimiumque severi, quos media miseros nocte lucerna videt; at tu Romano lepidos sale tingue libellos: adgnoscat mores vita legatque suos. angusta cantare licet videaris avena, dum tua multorum vincat avena tubas."
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„Fünf wären genug gewesen, denn sechs oder sieben Büchlein sind zu viel. Was nützt es, noch weiter zu spielen, Muse? Schamgefühl soll es geben und ein Ende. Schon jetzt kann mir der Ruhm nicht mehr gewähren; überall wird mein Buch abgegriffen. Und wenn zerbrochen von Moder die Steine des Messalla daliegen werden und wenn der hohe Marmor des Licinius Staub sein wird, werden mich dennoch die Münder lesen, und mit sich werden zahlreiche Fremde meine Gedichte in ihre Heimat tragen.“ Ich hatte geendet, als folgen63 64
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S. oben S. 135. Es handelt sich wohl um die für Komödie und leichte Dichtung zuständige Thalia, vgl. Schöffel (2002), 106 ad 8,3,9. Vgl. Canobbio (2005), 138-145. Vgl. Vergil, Ecl. 6; Prop. 3,3; Ov. Am. 1,1; 3.1; Hor. Carm. 4,15; cf. Wimmel (1960), 135ff.; Puelma (1995), 450ff.; Nauta (2006c), 38-40.
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dermaßen die neunte der Schwestern antwortete, deren Haar und Gewand verschmiert von Salböl war: „Kannst du denn, Undankbarer, die süßen Spielereien aufgeben? Sag mir, was wirst du dann als Müßiger Besseres tun? Macht es dir etwa Freude, den Komödienschuh mit dem tragischen Kothurn zu vertauschen oder von wilden Kriegen zu donnern in gleichförmigem Versmaß, damit dich ein aufgeblasener Schulmeister mit heiserer Stimme vorliest und dich das große Mädchen und der brave Junge hassen? Solches Zeug sollen die Wichtigen und allzu Ernsten schreiben, denen, bejammernswert, mitten in der Nacht die Lampe zusieht. Doch du beträufle mit römischem Salz die witzigen Büchlein. Das Leben soll darin seine Sitten erkennen und lesen. Auf dünnem Halm magst du ruhig zu spielen scheinen, solange nur dein Halm die Trompeten vieler übertrifft.“
Martial kündigt an, mit der Epigrammatik aufhören zu wollen (1-4) und rühmt sich in diesem Zusammenhang, dass seine Dichtung noch in ferner Zukunft gelesen werde (7f.), während monumenta67 wie das Grab des Messalla und das Denkmal des Licinius, beides Vertreter der augusteischen Zeit68, dann schon längst zu Staub zerfallen sein würden (5f.)69. Der anschließende Auftritt der Muse, die Martial in ihrer Gegenrede davon abbringen will, der Epigrammpoesie den Rücken zu kehren und sich dem Epos oder der Tragödiendichtung zuzuwenden70, erinnert an die Personifikation der Elegie in Ovids Amores 3,1, und ihre Sprache weist zudem Ähnlichkeiten zu jener von diversen verlassenen elegischen Geliebten auf71. Die Antwortrede Thalias auf die Worte des Dichters wurde von einigen Forschern dahingehend interpretiert, dass die Muse ihren Gesprächspartner missverstanden und seine Absicht, mit der Dichtkunst völlig aufzuhören, fälschlich als Vorhaben eines Gattungswechsels aufgefasst habe72. In Wirklichkeit lässt die Rede des Dichters für sich genommen keine expliziten Hinweise auf den bevorstehenden Wechsel in eine erhabenere Gattung erkennen, sondern liest sich eher wie eine generelle Absage an die Poesie 67
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Den monumentum-Topos prägte in der lateinischen Literatur v.a. Horaz, Carm. 3,30; vgl. auch B. 10,11; Isoc. 15,7; Pi. N. 4,81; 8,46f.; P. 6,7-14; Ov. Met. 15,871f.; Prop. 3,2,17f. und Schöffel (2002), 103 ad loc. Anm. 1 mit weiterer Literatur. Vgl. Schöffel (2002), 102f. ad loc.; Canobbio (2005), 138. Mit pulvis erunt (8,3,6) scheint Martial zugleich auf die Darstellung der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens bei Horaz, Carm. 4,7,14-16, anzuspielen, wo es heißt nos ubi decidimus, / quo pius Aeneas, quo Tullus dives et Ancus, / pulvis et umbra sumus; vgl. Canobbio (2005), 138. Eher als eine prinzipielle Abkehr von der Dichtkunst dürfte man die Worte des Dichters als eine geplante Abkehr von der Epigrammpoesie interpretieren und somit als das Vorhaben eines Gattungswechsels. Ansonsten müsste man die Antwortrede der Muse dahingehend auffassen, dass sie die Aussagen Martials missversteht. Vgl. zu diesem Problem Lorenz (2002), 173f. Vgl. Canobbio (2005), 139; auch die Elegie in Am. 3,1 ähnelt in ihrem Auftreten sehr stark der puella des Dichters, Corinna, vgl. Holzberg (1997), 68. Vgl. Schöffel (2002), 97f. ad 8,3; Mattiacci/Perruccio (2007), 189; anders Lorenz (2002), 173f.
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und eine Ankündigung des „Ruhestandes“73. Doch m.E. handelt es sich bei Thalias Reaktion nicht um ein Missverstehen ihres Schützlings, sondern um eine Form der literarischen Erinnerung an einen älteren poetologischen Text, in dem ein ähnlicher Redeagon geführt wird. In Ovids Amores 3,1 treten die personifizierten Gattungen der Elegie und der Tragödie gegeneinander an, um den Dichter jeweils für sich zu gewinnen74. Martials Rede in 8,3,1-8 ähnelt in mancherlei Hinsicht jener der Tragoedia, die in Amores 3,1 den Elegiker dazu bewegen will, sich ihrer Gattung zuzuwenden (Am. 3,1,15-30): Et prior 'ecquis erit,' dixit, 'tibi finis amandi, o argumenti lente poeta tui? nequitiam vinosa tuam convivia narrant, narrant in multas conpita secta vias. saepe aliquis digito vatem designat euntem, atque ait "hic, hic est, quem ferus urit Amor!" fabula, nec sentis, tota iactaris in urbe, dum tua praeterito facta pudore refers. tempus erat, thyrso pulsum graviore moveri; cessatum satis est — incipe maius opus! materia premis ingenium. cane facta virorum. "haec animo," dices, "area facta meo est!" quod tenerae cantent, lusit tua Musa, puellae, primaque per numeros acta iuventa suos. nunc habeam per te Romana Tragoedia nomen! inplebit leges spiritus iste meas.'
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Und sie sprach als Erste: „Wird es für dich denn endlich einmal ein Ende des Liebens geben, oh träger, an deinem Stoff festhaltender Dichter? Von deiner Nichtsnutzigkeit erzählen die weinseligen Gastmähler, es erzählen davon die in viele Wege aufgeteilten Kreuzungen. Oft zeigt jemand mit dem Finger auf den vorbeigehenden Sänger und sagt ‘Der, der ist es, den der wilde Amor verbrennt.’ Als Gesprächsthema zirkulierst du in der ganzen Stadt und merkst es nicht, während du ohne Scham von deinen Taten berichtest. Zeit wäre es, getroffen vom ernsthafteren Thyrsus erregt zu werden. Es ist genug Müßiggang betrieben worden: Beginne ein größeres Werk! Mit dem Stoff unterdrückst du dein Talent; sing von den Taten der Männer: ‘Dieses Gebiet’, wirst du sagen, ‘ist meines Geistes würdig’. Was zarte Mädchen singen sollen, hat deine Muse gespielt, und die erste Zeit der Jugend ist mit den ihr zustehenden Metren verbracht worden. Nun möchte ich, die römische Tragödie, durch dich einen Namen haben: Dieser Atem wird meinen Gattungsgesetzen Genüge tun.“
Die Tragödie gemahnt Ovid daran, dass das Verfassen von Elegien nur in der Jugendzeit angemessen sei und spricht in diesem Zusammenhang von den Liedern für zarte Mädchen, die ihm seine Muse als poetische Spielerei eingegeben habe: lusit tua Musa (Am. 3,1,27). Ganz ähnlich klingt Martials 73 74
Vgl. Höschele (2010), 57 und (im Druck). Dazu vgl. Holzberg (1997), 68; Bretzigheimer (2001), 61-76.
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Frage an seine Muse quid adhuc ludere, Musa, iuvat? (8,3,2). Bei Ovid leitet die Tragödie ihre Rede mit den Worten ecquis erit…tibi finis amandi (Am. 3,1,15) ein und wirft dem Dichter vor, dass er aufgrund seiner nequitia bereits für Gerede in Rom sorge (Am. 3,1,17-22) und selbst unterdessen ohne Scham von seinen (Liebes-)Taten erzähle: dum tua praeterito facta pudore refers (Am. 3,1,22). Auf beide Verse scheint Martial mit seiner Feststellung sit pudor et finis (8,3,3) anzuspielen. Während die Tragoedia in den Amores Ovids Bekanntheitsgrad auf die moralische Fragwürdigkeit seiner Verse und das daraus resultierende Gerede der Römer, die den Text offenbar biographisch lesen, zurückführt, stellt Martial seine Popularität in weitaus selbstbewussterer Form dar. Die fabula (Am. 3,1,21) wird bei ihm zur fama (8,3,4), das Gerede der Amores-Leser bei vinosa convivia und an Straßenkreuzungen (Am. 3,1,17f.) fasst Martial auf seine Epigramme bezogen mit dem Satz teritur noster ubique liber (8,3,4) zusammen. Auch die das Epigramm eröffnende Formulierung quinque satis fuerant: nam sex septemve libelli / est nimium (8,3,1f.) lässt an den Vorwurf der Tragödie denken, der Elegiker halte allzu hartnäckig an seinem Stoff fest: o argumenti lente poeta tui (Am. 3,1,16)75. Es scheint mir daher denkbar, dass Martials Thalia in der Rede ihres Schützlings schon die intertextuellen Bezüge zu den Worten der Tragoedia bei Ovid erkannt hat – dort geht es ja eindeutig um die Abkehr von der Kleinpoesie – und dann entsprechend darauf antwortet; die epigrammatische Muse erweist sich somit als gewissenhafte Leserin der elegischen Tradition. Sie eröffnet zudem die Reihe der alternativen Gattungen, denen sich Martial möglicherweise zuwenden könnte, mit der tragischen Dichtung: an iuvat ad tragicos soccum transferre cothurnos (8,3,13). Die Erwähnung des cothurnus in diesem Vers soll vielleicht abermals auf die Ovidstelle rekurrieren, da dort die Rede der Tragödie von der Beschreibung des für sie typischen Kothurns umrahmt wird (Am. 3,1,14: Lydia alta pedum vincla cothurnus erat; 31f.: hactenus, et movit pictis innixa cothurnis /
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Mit der das Epigramm einleitenden Wendung quinque satis fuerant (8,3,1) dürfte überdies auf das Eröffnungsepigramm der Amores angespielt sein, wo es über den Umfang des Werks heißt: qui modo Nasonis fueramus quinque libelli, / tres sumus (1f.: „Die wir eben noch fünf Büchlein des Naso waren, sind jetzt drei“). Der Tragödie in Am. 3,1 sind offenbar schon die verbliebenen drei Bücher Elegien zu viel, wenn sie den Dichter bezichtigt, an seinem Stoff zu sehr festzuhalten. Während der Elegiker sein ursprünglich konzipiertes Gedichtkorpus um zwei Bücher reduziert und damit ein μέγα βιβλίον vermeidet, verfährt Martial genau umgekehrt, indem er nicht nur fünf Bücher, sondern auch noch einen sechsten und siebten liber komponiert hat und dann erst zu Beginn des achten Buches vorgibt, sich Mäßigung auferlegen zu müssen. Anders als Ovid, der sich in den Amores kallimacheischen Idealen verpflichtet (wenngleich „wittily oversimplifying Callimachean poetic principles“, wie McKeown 1989: 2 feststellt), befolgt Martial die Prinzipien des Alexandriners keineswegs konsequent, vgl. Kap. 3.2.2.
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densum caesarie terque quaterque caput)76. Vielleicht evoziert Martial in seiner Rede nicht nur den Anfang des dritten Amores-Buches, sondern zugleich auch dessen Ende: Das Bild vom Ruhm in der Zukunft und vom hospes, der die Epigramme mit in seine Heimat nehmen wird (8,3,7f.), erinnert an die Hoffnung auf Nachruhm und die Darstellung des Fremden in diesem Kontext in Am. 3,15; dieser bewundert Ovids Heimatstadt Sulmo: atque aliquis spectans hospes Sulmonis aquosi / moenia, quae campi iugera pauca tenent, / 'quae tantum' dicat 'potuistis ferre poetam, / quantulacumque estis, vos ego magna voco.' (Am. 3,15,11-14: „Und wenn jemand die Mauern des wasserreichen Sulmo erblickt, die wenige Morgen Landes umfassen, soll er sagen: ‘Ihr, die ihr einen so großen Dichter hervorbringen konntet, wie klein ihr auch seid, ich nenne euch groß.’“). Neben Verbindungen zu Ovids Liebeselegien finden sich, besonders in der zweiten Hälfte des Epigramms, auch mehrere Bezüge zu anderen Dichtern insbesondere der augusteischen Zeit77. So bildet die Forderung Thalias an den Dichter, anstelle von tragischen und epischen Stoffen lieber „auf einem dünnen Rohr zu spielen“ (8,3,21: angusta cantare…avena), eine eindeutige Reminiszenz an die programmatische tenuis avena des Tityrus in Vergils erster Ekloge (Ecl. 1,2)78 und an Properzens Schilderung des Kallimachos, der angusto pectore dichte (Prop. 2,1,39-42)79. Ruurd Nauta weist zudem auf die Ähnlichkeit zwischen Thalias Sprechhaltung und jener des Apollo bzw. der Muse in Prop. 3,3 hin80, und Sven Lorenz beobachtet in diesem Epigramm sowie in der gesamten Gruppe von panegyrischen Gedichten, die Buch 8 eröffnen, Verbindungen zu Horazens carmen 4,1581. Neben der Elegie, der Bukolik, der Lyrik und der Komödiendichtung (8,3,13: soccum) dient auch die Satire als ein Modell für Martials Kleinpoesie (8,3,19-20: at tu Romano lepidos sale tinge libellos / adgnoscat mores vita legatque suos)82. Das poetische Programm, welches Thalia in diesem 76
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Vgl. auch die erneute Nennung des Kothurns in der Antwort der Elegie, Am. 3,1,45: quam tu non poteris duro reserare cothurno / haec est blanditiis ianua laxa meis und schließlich in den abschließenden Worten des Dichters altera me sceptro decoras altoque cothurno, Am. 3,1,63. Vgl. Canobbio (2005), 138-145. Vgl. Schöffel (2002), 118 ad loc., der auch auf tenuis harundo in Ecl. 6,8 hinweist. Vgl. Canobbio (2005), 141, der die Ähnlichkeit dieses Epigramms mit augusteischen recusationes betont; vgl. auch Lorenz (2002), 174f.; Nauta (2006c), 38ff. Nauta (2006c), 39. Lorenz (2002), 174; zum Einfluss des 4. Odenbuches des Horaz auf Martials Epigramme in Buch 7-9 über Domitians Krieg in Pannonien vgl. Henriksén (2002). Vgl. Nauta (2006c), 39, der auf Persius als Begründer einer spezifischen recusatioForm innerhalb der Satire verweist, in der eine lebensnahe Darstellung mit dem aufgeblasenen Stil der mythologischen Poesie kontrastiert wird; vgl. Pers. prol.; 1; 5,1-29. Mit ihrer Aufforderung an Martial hat Thalia offensichtlich Erfolg, denn auf den Dialog des Dichters mit seiner Inspirationsgöttin folgt nach einem panegyrischen Gedicht (8,4) sogleich eine Reihe satirischer Epigramme (8,5-10), bevor sich der Epi-
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Gedicht entwickelt und der Tragödien- und Ependichtung gegenüberstellt, ist somit, wie Alberto Canobbio bemerkt, sehr breit und besteht aus einem Konglomerat an Formen der Kleinpoesie, die besonders in augusteischer Zeit etabliert waren83. Das von der Muse Thalia artikulierte poetische Ideal dürfte jedoch, abgesehen von Reminiszenzen an die augusteische Literatur, auch auf ein griechisches Dichter-Epigramm rekurrieren: Die Worte angusta cantare licet videaris avena, / dum tua multorum vincat avena tubas spielen offenbar auf eine literarkritische Aussage des Antipater über Pindar an und verkehren deren Inhalt ins Gegenteil (APl 305,1f.): Νεβρείων ὁπόσον σάλπιγξ ὑπερίαχεν αὐλῶν, / τόσσον ὑπὲρ πάσας ἔκραγε σεῖο χέλυς („Wie die Kriegstrompete die Flöten aus dem Bein des Hirschkalbs übertönt, so übertönt deine Lyra alle anderen“)84. Während beim griechischen Epigrammatiker also Pindar der Trompete entspricht, die die Flöten übertönt, soll Martial umgekehrt mit seiner angusta avena die multorum tubae übertreffen. Der flavische Dichter wird somit indirekt zum Pindar auf dem Gebiet der Epigrammatik kanonisiert und sein achtes Epigrammbuch, das Kaiser Domitian gewidmet ist und daher vermehrt panegyrische Züge trägt, tritt in Wetteifer mit Epinikiendichtung, ohne dabei den Status der Kleinpoesie aufgeben zu müssen. Dass der Leser am Ende von 8,3 an die Auseinandersetzung mit Pindar in der epigrammatischen Tradition denken und Martials Buch als eine Art Konkurrenzunternehmen zur Odendichtung sehen soll, wird möglicherweise noch dadurch untermauert, dass sich in Buch 8 die einzige namentliche Nennung des griechischen Lyrikers innerhalb von Martials Gedichtkorpus findet (8,18,6), wobei auch an dieser Stel-
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grammatiker mit 8,11 wieder an den Kaiser wendet; zu Martials Auseinandersetzung mit der Satire s. Kap. 6. Zudem ist darauf hingewiesen worden, dass Thalia in 8,3,20 (adgnoscat mores vita legatque suos) das berühmte Diktum des Aristophanes von Byzanz über die Komödiendichtung Menanders aufgreifen dürfte: ὦ Μένανδρε καὶ βίε, πότερος ἄρ‘ ὑμῶν πότερον ἀπεμιμήσατο; s. oben Kap. 2.2.2, S. 34 Anm. 131; vgl. Holzberg (2002b), 126-128; Lorenz (2002), 175; Nauta (2006c), 39 mit Anm. 51. In diesem Zusammenhang scheint mir auch die Beschreibung der Muse in 8,3,10 (cui coma et unguento sordida vestis erat) interessant, denn ganz ähnlich schildert Phaedrus in einer Fabel das Auftreten Menanders, als dieser Demetrios von Phaleron begegnet (Phaed. 5,1,12f.): unguento delibutus, vestitu fluens, / veniebat gressu delicato et languido; zu Martial und Phaedrus s. Kap. 6.4. Vgl. Canobbio (2005), 143. Als Verfassername ist nur Antipater überliefert; Gow/Page (1968), 21 und 78-9 schreiben das Gedicht dem Antipater von Thessalonike zu, während Argentieri (2003), 166f. hier ein Produkt des Antipater von Sidon erkennen will. Sprachlich ähnelt APl 305,1f. mit der korrelativen Verbindung ὁπόσον...τόσσον dem Vergleich Stellas mit Catull in Mart. 1,7,4f. (tanto…quanto) und Catulls mit Vergil in Mart. 14,195 (tantum…quantum).
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le das Motiv des literarischen Übertreffens dominiert und Pindar als der Unterlegene imaginiert wird85. Das Beispiel 8,3 zeigt eindrücklich, wie Martial in einem Epigramm mehrere Prätexte anzitiert und sie in sein eigenes poetisches Programm integriert. Besonders häufig – so sollte aus dem zuvor Gesagten deutlich geworden sein – dienen Ovids Werke und die in ihnen geführten poetologischen Diskurse als literarische Folien, durch deren Anverwandlung Martial sein Gattungsverständnis signalisiert: Auf den magister amoris der Ars amatoria und Remedia amoris rekurriert Martial etwa, um dessen Anweisungen zu parodieren bzw. zu „epigrammatisieren“, wenn sich Erotodidaxe in 2,41 in vetula-Skoptik verwandelt. Das in diesem Zusammenhang gebrachte Ovid-Zitat dürfte so nirgendwo in den Werken des Elegikers gestanden haben, sondern wird von Martial dazu funktionalisiert, die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Spiel mit der elegischen Gattung zu lenken (Kap. 4.1.1). Ovids argumentative Strategien in der Verbannungsliteratur adaptiert Martial zur Rechtfertigung seines eigenen poetischen Programms; die in den Tristien und Epistulae ex Ponto vorliegende Kommunikationssituation zwischen exsul und Prinzeps bzw. anderen Adressaten in Rom wird dabei imitiert, jedoch in andere Kontexte verlagert, wodurch die Sprechhaltung des Epigrammatikers bisweilen komisch wirkt. Zu einer gewissen Komik trägt auch bei, dass Martial eine Analogie zwischen den Charakteristika seiner Poesie ausgerechnet mit solchen Beispielen herstellt, die Ovid in Buch 2 der Tristien anführt, um sein poetisches Schaffen davon abzugrenzen (Kap. 4.1.2). Martial zählt Ovid zu den kanonischen Elegikern und greift auch den in den Amores geführten poetologischen Diskurs auf, passt ihn jedoch den Anforderungen seines literarischen Vorhabens an: So erweist sich die epigrammatische Muse in 8,3 einerseits als Kennerin der Elegien, fordert ihren Dichter jedoch ganz unkallimacheisch dazu auf, das Korpus der Epigrammbücher weiter anwachsen zu lassen (Kap. 4.3.1). Im Folgenden soll nun der Blick auf einen epigrammatischen Kanon elegischer Dichter weitere Verfahrensweisen beleuchten, mit denen Martial sich elegische Motive anverwandelt.
4.2
Da quod amem: Auf der Suche nach einer materia
Elegische Reminiszenzen finden sich bei Martial nicht selten innerhalb von Epigrammen, die Freundschaft und Patronat thematisieren. Das in Form einer Buchapostrophe gestaltete Geleitgedicht 8,72 beginnt mit dem Auftrag an das noch nicht mit Purpur versehene und mit Bimsstein bearbeitete
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S. dazu ausführlicher Kap. 3.2.2, S. 80-83.
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Buch86, dem Arcanus nach Gallia Narbonensis zu folgen (1-6)87. Dort wird der libellus, nachdem er beides gleichermaßen erhofft hat (7: votis quod paribus tibi petendum est)88, sowohl den fernen Ort als auch Martials Freund antreffen (7f.). Zum Abschluss wünscht sich der Dichter, selbst dort sein zu können: quam vellem fieri meus libellus! (9)89. Dieser Ausruf erinnert an Ovids Wunsch in Amores 2,15, sich in jenen Ring verwandeln zu können, den er zuvor seiner puella geschenkt hatte (Am. 2,15,9: o utinam fieri subito mea munera possem), und vielleicht spielt auch der Name des Arcanus im Martial-Gedicht auf die geheimen Stellen an, die der Ring in der OvidElegie berühren darf (Am. 2,15,11-26; bes. 15: ut arcanas possim signare tabellas). Auch das Verlangen, dort sein zu können, wo das Buch hin darf, findet sich als Motiv in den Amores (3,8,5f.: cum pulchrae dominae nostri placuere libelli, / quo licuit libris, non licet ire mihi)90. Das Spiel mit einem elegischen Prätext in 8,72 erfolgt wohl nicht zufällig unmittelbar vor einem Gedicht, in dem sich Martial explizit mit den klassischen Vertretern der augusteischen Liebeselegie innerhalb eines Dichterkatalogs auseinandersetzt (8,73)91: Instanti, quo nec sincerior alter habetur pectore nec nivea simplicitate prior, si dare vis nostrae vires animosque Thaliae et victura petis carmina, da quod amem. Cynthia te vatem fecit, lascive Properti; ingenium Galli pulchra Lycoris erat; fama est arguti Nemesis formosa Tibulli; Lesbia dictavit, docte Catulle, tibi:
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8,72,1f.: Nondum murice cultus asperoque / morsu pumicis aridi politus; die Anklänge an Catull sind hier unübersehbar, vgl. Catul. c. 1,1f. …libellum / arida modo pumice expolitum. 8,72,3-6: Arcanum properas sequi, libelle, / quem pulcherrima iam redire Narbo, / docti Narbo Paterna Votieni, / ad leges iubet annuosque fasces („Dem Arcanus zu folgen, beeilst du dich, Büchlein, den das wunderschöne Narbo, des gelehrten Votienus‘ Narbo Paterna, zu den Gesetzen und Rutenbündeln zurückzukehren heißt“). Um welches Amt es sich handelt, das Arcanus in Narbo versehen soll, ist umstritten; vermutet werden besonders das Duumvirat oder das Prokonsulat, vgl. Schöffel (2002), 607f. ad 8,72,6, der sich selbst für das Prokonsulat ausspricht. Mit votis paribus wird möglicherweise auch auf das gleichbleibende Versmaß des Hendekasyllabus in diesem Epigramm angespielt. Vgl. dieselbe Formulierung in 8,54(53),3f.: o quam te fieri, Catulla, vellem / formosam minus aut magis pudicam! Zuerst begegnet dieses Motiv in der hellenistischen erotischen Dichtung, vgl. AP 5,83f. (anon.); 171 (Meleager); 12,83f. (anon.); 190; 208 (Straton); Theoc. 3,13ff.; in der lateinischen Literatur vgl. Manil. 5,573; Ov. Met. 8,36f.; Epist. 18,15f.; vom Kontext der Liebeselegie in den der Exilsituation übertragen erscheint dieses Motiv bei Ovid in Trist. 1,1,1f. u. 58; vgl. Schöffel (2002), 608f. ad 8,72,9; zu Ov. Am. 2,15 vgl. Semmlinger (1981). Zu diesem Epigramm vgl. Canobbio (2011b), 440ff.; Mindt (im Druck).
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non me Paeligni nec spernet Mantua vatem, si qua Corinna mihi, si quis Alexis erit. Instantius, der du ein aufrichtiges Herz hast wie kein anderer und einen Sinn so rein wie Schnee, wenn du meiner Thalia Kraft und Energie verleihen willst und Gedichte forderst, die weiterleben werden, dann gib mir etwas zum Lieben. Cynthia machte dich zum Sänger, frecher Properz; das Talent des Gallus war die herrliche Lycoris; der Ruhm des geistreichen Tibull ist die schöne Nemesis; Lesbia hat dir, gelehrter Catull, diktiert. Nicht werden mich die Paeligner oder Mantua als Sänger verachten, wenn ich eine Corinna, wenn ich einen Alexis habe.
Bereits in 8,55 hatte Martial am Beispiel Vergils die Theorie entwickelt, dass die Entstehung erhabener Literatur92 von erotischen Erfolgen abhängig sei93, und diese Idee wird in 8,73 anhand eines Katalogs von Exempla aus der erotischen Dichtung aufgegriffen. Ähnlich wie in 8,55 setzt auch der Beginn dieses Gedichtes eine (fiktive) vorangegangene Aussage des Adressaten voraus, auf die Martial nun reagiert – Instantius hat demnach das Fehlen von vires und animi in Martials Poesie beklagt. Dieser bittet seinen Freund und Kritiker daraufhin, ihm (wie einst Maecenas dem Vergil) ein Objekt zum Lieben zu geben94. Anhand der Exempla der klassischen Dichter von Liebespoesie wird die These belegt, dass die jeweiligen Geliebten ihren poetae Ruhm und Inspiration verschafft haben – eine deutliche Reminiszenz an eine ähnliche Aussage in Ovids Ars amatoria (3,535538: Nos facimus placitae late praeconia formae / nomen habet Nemesis, Cynthia nomen habet: / Vesper et Eoae novere Lycorida terrae: / et multi, quae sit nostra Corinna, rogant), wo allerdings umgekehrt die Dichter für die Bekanntheit ihrer puellae verantwortlich sind95. Das kanonische Quartett der Elegiker Gallus, Tibull, Properz und Ovid96 erweitert Martial um Catull und Vergil. Catulls Lesbia-Gedichte und die Eklogen Vergils wurden schon von Properz in die Nähe der Liebeselegie gerückt, so etwa im Dichterkatalog
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Die Junktur vires animosque (8,73,3) steht für epische Dichtung, vgl. Schöffel (2002), 613f. ad 8,73,3; Canobbio (2005), 146. Zu 8,55 vgl. ausführlich Kap. 7.2. Obermayer (1998), 42 Anm. 102 weist auf eine mögliche Anspielung von Martials Forderung da quod amem (v.4) auf die Anweisung des praeceptor amoris in Ovids Ars amatoria hin: quod amare velis, reperire labora (Ars 1,35). Vgl. Williams (2002a), 428f. Vgl. Quintilians Analyse der römischen Elegie in Inst. 10,1,93 Elegia quoque Graecos provocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. Ovid selbst reiht sich mehrmals als vierter in den Kanon römischer Elegiker ein, vgl. Trist. 4,10,51ff.: …nec avara Tibullo / tempus amicitiae fata dedere meae. / successor fuit hic tibi, Galle, Propertius illi; / quartus ab his serie temporis ipse fui; vgl. Trist. 2,445ff.
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der Elegie 2,34b. Dort beschreibt Properz in einem längeren Abschnitt besonders die erotischen Aspekte in der Eklogenpoesie Vergils (2,34b,67-76)97: tu canis umbrosi subter pineta Galaesi Thyrsin et attritis Daphnin harundinibus, utque decem possint corrumpere mala puellas missus et impressis haedus ab uberibus. felix, qui vilis pomis mercaris amores! huic licet ingratae Tityrus ipse canat. felix intactum Corydon qui temptat Alexin agricolae domini carpere delicias! quamvis ille sua lassus requiescat avena, laudatur facilis inter Hamadryadas. Du singst unter den Fichtenwäldern des schattenspendenden Galaesus von Thyrsis und Daphnis auf abgenutztem Rohr, und wie zehn Äpfel die Mädchen zu verführen vermögen und der Ziegenbock, der vom Euter, an dem er sog, weggeholt wurde. Glücklicher, der du mit Früchten billige Liebe erkaufst! Dieser Undankbaren mag Tityrus selbst singen. Glücklicher Corydon, der versucht, den unberührten Alexis, das Entzücken seines ländlichen Herren, zu pflücken! Mag jener auch ermüdet von seiner Hirtenflöte ruhen, wird er doch gerühmt unter den zugänglichen Hamadryaden.
Wenig später stellt Properz dann auch Catull in die Reihe derer, die über erotische Themen gedichtet haben (2,34,87f.: haec quoque lascivi cantarunt scripta Catulli, / Lesbia quis ipsa notior est Helena), bevor er nach der Erwähnung von Calvus und Gallus (89-92) sich selbst als den letzten in der Liste der Verfasser erotischer Poesie nennt (93f.): Cynthia quin etiam versu laudata Properti, / hos inter si me ponere Fama volet. Das Ende dieses Katalogs scheint Martial nun aufzugreifen, wenn er seine Aufzählung mit Properz beginnen lässt und mit der Wortstellung Cynthia…Properti (8,73,5) sogar den entsprechenden Vers des Elegikers imitiert98. Auch die Erwähnung des Gallus und des Catull (6 u. 8) erfolgt bei Martial in umgekehrter Reihenfolge zu jener bei Properz. Hatte dieser seinerseits Catull als lascivus bezeichnet (2,34,87), so ordnet Martial dieses Attribut nun dem Elegiker zu (5)99. Mit der Formulierung Cynthia te vatem fecit, lascive Properti (5) bezieht sich Martial auf Properzens Erklärung für die Entstehung seiner Liebeselegien in 2,1,3f.: non haec Calliope, non haec mihi cantat Apollo; / ingenium nobis ipsa puella facit100. Während der Elegiker die Hingabe an seine puella in einer anschließenden recusatio als den Grund nennt, der ihn von einer epischen Schilde-
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Zur Stelle vgl. ausführlich Fedeli (2005), 994-999; vgl. Canobbio (2005), 147. Den Einfluss von Prop. 2,34b behandelt auch Mindt (im Druck). Dieselbe Wortstellung findet sich in Mart. 14,189,1; vgl. Kap. 2.2.2, S. 40f. Zu lascivus als terminus technicus für die Gattung der Elegie – im Kontrast zu severus als Adjektiv für den Epiker – vgl. Schöffel (2002), 614f. ad loc. „Das singt mir nicht Kalliope, das singt mir nicht Apollo vor; die Begabung bewirkt bei mir das Mädchen selbst.“ Vgl. Obermayer (1998), 42 Anm. 105.
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rung der Heldentaten des Augustus und der Panegyrik auf Maecenas abhält (2,1,17-46), macht Martial gerade das Fehlen eines solchen Liebesobjekts dafür verantwortlich, dass er zu erhabenerer Dichtung nicht fähig sei. Abgesehen von Properz rückt auch Ovid die bukolische Poesie in die Nähe der Liebeselegie, wenn er im zweiten Buch der Tristien eine Reihe von Dichtern aufzählt, aus deren Werken man auch Erotisches herauslesen könne101. In seiner Liste findet sich neben den kanonischen Elegikern Gallus, Tibull und Properz, als deren Nachfolger Ovid sich sieht (Trist. 2,445-468), auch Vergil: Phyllidis hic idem teneraeque Amaryllidis ignes / bucolicis iuvenis luserat ante modis (Trist. 2,537f.)102. Für Ovid enthält neben der Eklogendichtung sogar die Aeneis erotische Elemente, was die Leser angeblich besonders schätzen: et tamen ille tuae felix Aeneidos auctor / contulit in Tyrios arma virumque toros, / nec legitur pars ulla magis de corpore toto, / quam non legitimo foedere iunctus amor (Trist. 2,533-536)103. Auch Catull wird – weniger überraschend – von Ovid als Beispiel für Liebesdichter genannt: sic sua lascivo cantata est saepe Catullo / femina, cui falsum Lesbia nomen erat; / nec contentus ea, multos vulgavit amores, / in quibus ipse suum fassus adulterium est (Trist. 2,427-430)104. Hatte Martial ähnlich wie Ovid und Catull in einem früheren Epigramm vehement den Inhalt seiner Poesie von seiner vita geschieden (1,4,8: lasciva est nobis pagina, vita proba)105, so scheint dies nicht zwingend für seine Lektüre anderer Autoren zu gelten: Der Einfluss, den die jeweilige Geliebte106 auf den Ruhm ihres Dichters ausübte, wird hier mehr oder weniger als biographisches Faktum präsentiert. Eine ähnliche Überlagerung von Dichter-persona und historischem Autor ist auch bei Ovids Darstellung seiner Vorgänger beobachtet worden107, und bei Properz begegnet uns Vergil in der oben zitierten Stelle weniger in seiner Funktion
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Vgl. Canobbio (2005), 147. „Er hatte auch der Phyllis und der zarten Amaryllis Liebesglut als junger Mann zuvor in bukolischen Weisen besungen.“ „Und dennoch hat der begnadete Autor deiner Aeneis Waffen und Mann in das Lager der Tyrierin geführt, und aus dem ganzen Werk wird kein Teil eifriger gelesen als die Liebesvereinigung, die ohne ein gesetzliches Band erfolgte.“ Vergil als Verfasser der Aeneis findet sich unter den Autoren erotischer Poesie auch in Ovids Ars amatoria (3,329-348). „So wurde von ihrem frechen Catull häufig die Frau besungen, die das Pseudonym Lesbia trägt. Und mit ihr sich nicht begnügend machte er viele Liebschaften bekannt, in denen er selbst seinen Ehebruch eingestand.“ Vgl. Catul. c. 16,5-6; Ov. Trist. 2,353-356. Die puellae und Alexis sind in vv.5-10 durchgehend grammatikalisches Subjekt. So B. Gibson (2006), 351-374: Auch in den Tristien weist Ovid eindringlich auf den Unterschied zwischen ars und vita hin (Trist. 2,353-356), doch diese Unterscheidung gilt dann offenbar nicht mehr für seine Rolle als Rezipient von anderen Verfassern erotischer Werke, die er zur Verteidigung seiner Ars amatoria anführt.
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als Verfasser der Eklogen als in der Rolle einer der dort auftretenden bukolischen Figuren108. Mit seinem das Epigramm abschließenden Versprechen, dass weder die Päligner noch Mantua ihn als Dichter verachten werden, wenn ihm eine Corinna oder ein Alexis zuteil geworden ist (9-10), rekurriert Martial auf das letzte Gedicht in Ovids Amores, wo der Elegiker seinen Nachruhm mit jenem Vergils und Catulls vergleicht (Am. 3,15,7f.: Mantua Vergilio, gaudet Verona Catullo; / Paelignae dicar gloria gentis ego). Anders als bei Ovid steht für den Epigrammatiker jedoch weniger das Motiv der literarischen Unsterblichkeit im Zentrum seiner Darstellung als vielmehr das Verlangen nach einem geeigneten Sexualpartner für die Gegenwart109. Ovid verabschiedet sich in Am. 3,15 von der Gattung der Elegie und wendet sich der Tragödie zu110. Der gebildete Leser könnte nun erwarten, dass Martial, nachdem er in 8,3 auf das Eröffnungs- und in 8,73 auf das Schlussgedicht des dritten Amores-Buches angespielt hat111, sein Epigrammbuch hier ebenfalls enden lässt. Doch offensichtlich war Martials Bitte um eine materia amoris vergeblich, denn beim folgenden Gedicht handelt es sich keineswegs um eine Form erhabenerer Poesie, sondern um ein Einzeldistichon, in dem nach bewährter epigrammatischer Manier ein Gladiator und ehemaliger Augenarzt verspottet wird112. Besonders in Anbetracht der kurz zuvor erfolgten Selbstbeschreibung Martials als vates113 zwischen Dichtern wie Ovid und Vergil (8,73,9) sowie Catull und den restlichen Elegikern wirkt die Lektüre dieses Spottepigramms umso komischer, wenn der Epigrammatiker anstelle einer ihn inspirierenden puella bzw. eines puer nur Figuren wie den zwielichtigen oplomachus als materia für seine Poesie vorfindet.
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Vgl. Fedeli (2005), 994. Vgl. C. Williams (2002a), 429. Am. 3,15,17-20: Corniger increpuit thyrso graviore Lyaeus: / pulsanda est magnis area maior equis. / inbelles elegi, genialis Musa, valete, / post mea mansurum fata superstes opus! („Der gehörnte Lyaeus hat mich mit dem wuchtigeren Thyrsos angefahren; ein größeres Gebiet muss ich mit großen Pferden durchstampfen. Unkriegerische Elegien, fröhliche Muse, lebt wohl, als Werk, das nach meinem Tod fortdauern und weiterleben wird!“). Damit ist der Rückbezug zum ersten Gedicht des dritten Amores-Buches gegeben, vgl. Holzberg (1997), 73; Bretzigheimer (2001), 38. Zu 8,3 und Ov. Am. 3,1 s. oben Kap. 4.1.3. 8,74: Oplomachus nunc es, fueras opthalmicus ante. / fecisti medicus quod facis oplomachus („Jetzt bist du Gladiator, davor warst du Augenarzt; du hast als Arzt gemacht, was du als Gladiator machst“); vgl. die hinsichtlich ihrer Struktur und ihres Witzes ähnlichen Epigramme 1,30; 47; 8,16; Schöffel (2002), 620. Zu vates als besonders von den augusteischen Dichtern etablierter Begriff für den göttlich inspirierten Dichter vgl. Schöffel (2002), 478 ad 8,55(56),11 mit Anm. 7.
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4.3
Martials Zeitgenossen
Wie ich am Beispiel Ovids und der anderen kanonischen Vertreter elegischer Poesie zu zeigen versucht habe, rekurriert Martial wiederholt auf die in der augusteischen Liebesdichtung geführten Diskurse und passt sie den Konventionen epigrammatischer Dichtung an. Neben der terminologischen Unterscheidung zwischen Elegie und Epigrammatik114 trägt auch der intertextuelle Dialog Martials mit elegischen Prätexten dazu bei, die Konturen der epigrammatischen Gattung gegenüber der weiteren Tradition erotischer Dichtung zu schärfen115. Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwieweit sich ein ähnliches Verfahren auch bei Martials Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Verfassern erotischer Poesie erkennen lässt. In diesem Zusammenhang spielt die Frage nach der Historizität der einzelnen von Martial erwähnten Dichtergestalten eine eher untergeordnete Rolle. Dass sich hinter der einen oder anderen Figur eine historische Persönlichkeit verbirgt und dies die Komposition der Gedichte beeinflusst haben mag, möchte ich dabei natürlich nicht bestreiten. Da diese Figuren jedoch Teil eines literarischen, insbesondere auf die Unterhaltung des Lesers abzielenden Werkes sind, geht es mir insbesondere darum zu klären, welche Funktion sie in der Poetik der Epigrammbücher erfüllen.
4.3.1
Stars, Sternchen und tote Tauben: Der Elegiker L. Arruntius Stella
Was für eine wichtige Rolle L. Arruntius Stella in Martials Epigrammkorpus spielt, lässt sich bereits an seinem Auftauchen innerhalb der „Paradeepigramme“ in Buch 1116 (1,7) erkennen: Stellae delicium mei columba, Verona licet audiente dicam, vicit, Maxime, passerem Catulli. tanto Stella meus tuo Catullo quanto passere maior est Columba. Das Vergnügen meines Stella, die Taube – mag Verona auch zuhören, ich will es sagen – hat, Maximus, Catulls Spatz übertroffen. Um so viel ist mein Stella größer als dein Catull wie eine Taube größer ist als ein Spatz.
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Der Terminus elegia bzw. elegi taucht auf in 3,20,6; 5,30,4; 7,46,5; 12,94,8; zum von Martial verwendeten Gattungsbegriff epigramma s. die Einleitung und Kap. 2.1.1. Zum Verhältnis der Gedichte Catulls und Martials zur Elegie vgl. den instruktiven Beitrag Morellis (2008c); zum Einfluss der griechischen Elegie auf die hellenistische Epigrammatik vgl. Bowie (2007); zum Verhältnis der Elegie zum Epigramm vgl. Keith (2011); Bettenworth (im Druck). Diesen Begriff prägte Holzberg (1988), 36 und (2002b), 37 in Anlehnung an Horazens „Paradeoden“ Carm. 1,1-9 für die Epigrammsequenz 1,1-9.
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Nach den programmatischen Aussagen über seine literarischen Vorgänger in der praefatio zu Buch 1 inszeniert Martial hier das Thema dichterischer aemulatio im Rahmen einer literarkritischen Auseinandersetzung mit einem gewissen Maximus117. Das Epigramm korrespondiert metrisch mit 1,1 und beinhaltet ebenfalls verschiedene verbale und inhaltliche Reminiszenzen an Catull118: So entspricht etwa Martials Stellae delicium mei columba (1) Catulls Passer deliciae meae puellae (c. 2,1; 3,4). Martial erzeugt damit einerseits eine Nähe zwischen seinem literarischen Unterfangen und demjenigen Stellas und lässt andererseits seinen Freund zumindest implizit als einen Widmungsadressaten des Buches erscheinen; Stellas Rolle entspräche daher jener des Cornelius Nepos bei Catull119. Seine columba übertrifft Catulls passer angeblich an Größe (4f.), und es handelt sich hier wohl nicht nur um einen Vergleich poetischer Produkte, da der passer an anderer Stelle bei Martial eindeutig obszön konnotiert ist120. Außerdem berichtet Plinius der Ältere, dass Tauben sich eines längeren Lebens erfreuen als Sperlinge121, was man auch auf die Lebenszeit des von Martial genannten Passer Catulls und der Columba Stellas übertragen könnte ‒ sowohl in Bezug auf die Dichtungen als auch im doppeldeutigen Sinn122. Auf den modernen Leser mag es zunächst befremdlich wirken, dass Martial einen Freund und Gönner wie L. Arruntius Stella das erste Mal im Zusammenhang mit einem double entendre erwähnt; doch wie Martial dürfte auch Stella Verfasser erotischer Verse gewesen sein123, und deshalb liegt es nahe, im Gedicht 1,7 ein literarisches Spiel zu sehen, das der Epigrammatiker mit seinem Patron und Dichterkollegen treibt. Neben Catulls passer-Gedichten wird auch c. 49 evoziert, wo der Sprecher sich in ironischer Weise als pessimus poeta mit Cicero als optimus patronus kontrastiert (6f.: tanto pessimus omnium poeta, / quanto tu optimus omnium’s patronus)124. Eine besondere Pointe könnte die Anspielung auf c. 49 zudem enthalten, wenn es zutrifft, dass Catull sich 117
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Dass Martial für sein imaginiertes Gegenüber diesen Namen wählt in einem Gedicht, das von einem Größenvergleich handelt (vgl. 1,7,5 maior), sollte Verdacht wecken; vgl. Holzberg (1988), 31; Lorenz (2007), 425. Zu 1,1 s. Kap. 3.1, S. 56f. Als Widmungsadressat fungiert Stella auch im ersten Silven-Buch des Statius, vgl. Silv. 1 praef.; Duret (1986), 3237ff. S. dazu Kap. 3.1; vgl. 7,14; 11,6; zum passer in 1,7 vgl. Gaisser (1993), 240; Holzberg (2002b), 75; Lorenz (2007), 424f. Plin. Nat. 10,107: columbae et turtures octonis annis vivunt. contra passeri minimum vitae, cui salacitas par. mares negantur anno diutius durare…(„Feld- und Turteltauben leben acht Jahre lang; der Sperling dagegen hat ein sehr kurzes Leben, ist aber an Geilheit ebenbürtig. Die Männchen sollen nicht länger als ein Jahr leben…“) Vgl. Lorenz (2010b), 49: „Vielleicht impliziert Martial hier – sicher scherzhaft –, dass einem Werk namens Columba eine längere Lebenszeit in Aussicht stehe als einer Sammlung namens Passer.“ Vgl. Stat. Silv. 1 praef. und 1,2; zu Stella als Dichter siehe die weiteren Ausführungen. Buchheit (1977), 85 Anm. 15; Mattiacci/Perruccio (2007), 165; vgl. Mart. 11,51,1f.
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dort für ein Gedicht Ciceros bedankt (4f.: gratias tibi maximas Catullus agit) und sich von dessen literarischem Produkt ähnlich „begeistert“ zeigt wie er es etwa in c. 14 tut125. Martials Lob auf Stella würde somit, abgesehen von der Doppeldeutigkeit des passer, auch einen frechen Seitenhieb auf die literarischen Fähigkeiten seines Freundes enthalten. Der historische Stella war vermutlich mit dem Prätext gut genug vertraut, um sich über Martials lusus poeticus zu amüsieren; durch die Anspielungen auf Catull präsentiert ihn Martial jedenfalls gleich zu Beginn des Korpus als eine zu den Konventionen der Epigrammatik passende Figur. Stella begegnet uns im Epigrammaton liber I nicht nur als Dichter (vgl. 1,61,4 und 1,109,2), sondern auch als einer von Martials Rezipienten, der auf bestimmte Charakteristika der Gedichtsammlung reagiert und den wir vielleicht als eine Art Modell-Leser126 bezeichnen können (1,44)127: Lascivos leporum cursus lususque leonum quod maior nobis charta minorque gerit et bis idem facimus, nimium si, Stella, videtur hoc tibi, bis leporem tu quoque pone mihi. Dass das übermütige Rennen der Hasen und das Spiel der Löwen bei mir das größere und kleinere Papier präsentiert und ich zweimal dasselbe mache – wenn dir das, Stella, als zu viel erscheint, dann setze auch du mir zweimal Hasen vor.
Stella wird hier in der Doppelrolle als Rezipient bzw. Kritiker und potenzieller Gastgeber charakterisiert (4), der sich über repetitio in Martials Poesie beschwert hat (1-3). Was genau mit der Wendung maior…charta minorque (2) gemeint ist, konnte bislang noch nicht eindeutig geklärt werden: Während ein Teil der Forscher davon ausgeht, es handle sich hier um einen Hinweis auf Martials Publikationspraxis, vor der eigentlichen Veröffentlichung des ersten Buches einen privaten libellus mit dem Löwe-Hase-Zyklus unter Freunden und Gönnern zirkulieren zu lassen128, beziehen andere den Vers auf die Anordnung jenes Epigrammzyklus im publizierten Buch129. Für die zweite These spricht, dass 1,44 diesen Zyklus in zwei Hälften teilt (6, 14, 22 und 48, 51, 60, 104) und unmittelbar darauf ein Distichon folgt, in dem das Problem der Selbstwiederholung und der Länge eines 125 126 127
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Vgl. Thomson (1967) und (1997), 323; Laughton (1970); Stroup (2010), 226f. Zu Modell-Autor und Modell-Leser vgl. Eco (1987), 74ff. Damit erinnert das Epigramm an die Leserreaktion des Kaisers in 1,5, vgl. Fitzgerald (2007), 89 Anm. 41. Friedlaender (1886), I, 192; Weinreich (1928), 105f.; Prinz (1929), 113; White (1974), 46; Citroni (1975), 145f.; Howell (1980), 206f.; Shackleton Bailey (1993), I, 7; Nauta (2002), 369 sieht dieses Epigramm als Beleg dafür, dass solche libelli gewöhnlich nur für den Kaiser, nicht aber für „non-imperial patrons“ komponiert wurden und dann in Umlauf kamen, was Stellas Überraschung über die erneute Publikation erklären würde. Vgl. Immisch (1911), 482 Anm. 1; Barwick (1932), 78 und (1958), 291f.; Scherf (2001), 18f.; Lorenz (2002), 132 mit Anm. 85.
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Epigrammbuches anhand des homerischen Formelverses τὸν δ’ ἀπαμειβόμενος erneut thematisiert wird (1,45)130. Nachdem Stella zuvor lediglich durch Juxtaposition von Gedichten mit dem Löwe-Hase-Zyklus in Verbindung gebracht worden war (1,6-7)131, sind diese beiden Motivstränge in 1,44 überlagert. Darüber hinaus ist 1,44 auch durch das Thema der cena in den Kontext des Buches integriert, denn in 1,43 beschwert sich der epigrammatische Sprecher bei einem Gastgeber, dass dieser seinen 60 Gästen (1: bis…triceni) nichts außer einem Eber serviert habe (2: positum est nobis nil here praeter aprum), der überdies nicht verspeist, sondern nur betrachtet werden durfte (11f.: et nihil inde datum est; tantum spectavimus omnes: / ponere aprum nobis sic et harena solet)132. Damit spielt Stella nicht nur in Martials poetologischem Diskurs sondern auch in jenem des patronuscliens-Verhältnisses eine wichtige Rolle. Nachdem Martial seinen Freund und Gönner 133 im ersten Buch mit der Tradition Catulls in Verbindung gebracht hat134, zieht er in Buch 4 einen Vergleich zwischen Stella und Tibull (4,6): Ein nicht weiter identifizierbarer Malisianus will besonders sittsam erscheinen (1-2), ist aber laut Sprecher inprobior (3) als jemand, der in Stellas Haus nach Tibulls Vorbild 135 komponierte Gedichte rezitiert (4-5). Worin genau die Verfehlung des Malisianus besteht, erfahren wir nicht; man gewinnt den Eindruck, als sei seine Person ohnehin von sekundärer Bedeutung136 und der Hinweis auf seine improbitas dem anschließenden Lob Stellas untergeordnet. Dass es sich bei der Untat des Malisianus um sexuelle Ausschweifungen handelt, liegt zunächst durch den recitatio-Vergleich nahe, durch den Martial impliziert, sowohl Malisianus als auch der anonyme Elegien-Dichter habe ein os impurum137; damit fügt sich das Epigramm in die Reihe jener Gedichte ein, in denen Literaturkritik und Spott auf sexuelle Ausschweifungen miteinander einhergehen138. Auch die Thematik des folgenden Epigramms, das mit 4,6 eng 130 131
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Vgl. die Interpretation bei Lorenz (2002), 132; zu 1,45 s. Kap. 7.1, S. 277-9. Das in 1,7 behandelte Thema der Größe schlägt m.E. eine Brücke zu 1,6, wo es um den Vergleich zweier miracula geht (1,6,5: quae maiora putas miracula?). Zirkusspiele und cena werden auch im Gedichtpaar 1,20-21 miteinander in Verbindung gebracht, vgl. Fitzgerald (2007), 88f. Zu Stellas Funktion als Patron von Martial und Statius vgl. Nauta (2002), 78-80, 87-90, 211f., 236f. und passim. Innerhalb des patronus-cliens-Diskurses taucht Stella insbesondere in folgenden Epigrammen auf: 1,44; 5,59; 7,36; 9,55; 10,48; 11,52; 12,2[3]. Auch Plinius Epist. 9,25,3 (tu passerculis et columbulis nostris inter aquilas vestras dabis pennas) stellt seine eigene und Stellas poetische Produktion in die Tradition Catulls; vgl. dazu insbesondere Buchheit (1977); zu Plinius und Catull vgl. Roller (1998); Marchesi (2008), 53ff. Quint. Inst. 10,1,93 beurteilt Tibull als besonders herausragend unter den Elegikern. Er taucht nur in diesem Epigramm auf. Zum Motiv des os impurum bei Martial vgl. Obermayer (1998), 214ff. Vgl. 10,102, wo eine Analogie zwischen futuere und scribere erzeugt wird; zu diesem Epigramm s. Kap. 3.3.3, S. 120-2.
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verbunden zu sein scheint, deutet darauf hin, dass Malisianus Opfer von Sexualskoptik ist. In 4,7 präsentiert sich Martial als amator, der von seinem puer delicatus plötzlich zurückgewiesen wird. Dabei imitiert er die Sprache der römischen Liebeselegie, indem er beispielsweise den spröden Knaben als durus (2) bezeichnet139. Hatte Martial in 4,6 einen anonymen Elegiker und Konkurrenten Stellas in einem in Hendekasyllabi abgefassten Gedicht angegriffen, so führt er diese Kritik nun ad absurdum, indem er selbst in einem Epigramm, das im elegischen Versmaß steht, ein elegisches Thema variiert140. Erst im vierten Buch wird Stella als Elegiker gekennzeichnet, denn bisher war ja explizit nur von der Nähe seiner Poesie zu derjenigen Catulls die Rede141. Dass wir von Stellas Betätigung auf dem Gebiet der Elegie wissen, verdanken wir neben Martials Aussagen insbesondere dem umfangreichen Epithalamium des Statius anlässlich der Hochzeit Stellas mit Violentilla (Silv. 1,2)142, die auch Martial in einem später noch eingehender zu besprechenden Epigramm behandelt (6,21). Zunächst aber sei ein kurzer Blick auf die Auseinandersetzung des Silven-Dichters mit Stellas Poesie geworfen. Formal ist dieses 277 Verse umfassende Gedicht insofern bemerkenswert, als es seinem Gegenstand nach zwar als Epithalamium betitelt wird 143, daneben jedoch sehr stark mit epischen, aitiologischen und elegischen Elementen spielt144. Silv. 1,2 beginnt mit einer Aufzählung der Dichtergottheiten, die zum Hochzeitsfest erscheinen (1-6). Unter die neun Musen hat sich auch die Elegie gemischt (7-10): quas inter vultu petulans Elegea propinquat celsior assueto divasque hortatur et ambit
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Vgl. Obermayer (1998), 78f.; Lorenz (2004b), 262. Vgl. Lorenz (2004b), 262: „We may even suspect that he is an improbus of the sort surpassed by the addressee in 4.6.“ Ein Bezug zu Tibull mag insofern bestehen, als dieser sich in seinem ersten Buch ebenfalls als Liebhaber eines Knaben charakterisiert, vgl. Tib. 1,4; 8; 9; das Epigramm 4,7 berührt sich motivisch eng mit AP 12,191 (Straton), ja spielt möglicherweise sogar intertextuell darauf an, wenn Stratons Text vor Martial zu datieren ist. Vgl. dazu Floridi (2007); Höschele (2010), 315f. mit weiteren Literaturangaben. Nauta (2002), 156f. vermutet, dass die columba-Gedichte ähnlich wie Ov. Am. 2,6 im elegischen Metrum abgefasst waren, nicht wie Catul. c. 2-3 im Hendekasyllabus. Die Hochzeit dürfte um 90 n.Chr. stattgefunden haben, vgl. Henriksén (1998), 91; Nauta (2002), 298. Statius gibt in der praefatio zum ersten Stella gewidmeten Silven-Buch vor, das Gedicht 1,2 sei innerhalb von zwei Tagen verfasste Auftragsdichtung: Stella carissime, qui epithalamium tuum, quod mihi iniunxeras, scis biduo scriptum (21f.); vgl. Johannsen (2006), 241ff. zum celeritas-Motiv in dieser Vorrede. Die an Stella gerichtete praefatio behandelt v.a. gattungstechnische und stilistische Probleme, vgl. Rühl (2006), 272. Zur formalen Struktur vgl. insbesondere Hardie (1983), 111ff.; vgl. auch Vessey (1972), 177; Newlands (2002), 90 u. 93; Rühl (2006), 274. Aus dem Bereich der lateinischen Epithalamia hat man neben Catul. c. 61-62 auch c. 64 als Modell identifiziert.
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alternum furata pedem, decimamque videri se cupit et mediis fallit permixta sorores. Unter ihnen naht mit frechem Gesichtsausdruck die Elegie, erhabener als gewohnt, treibt die Göttinnen an und geht herum, wobei sie den kürzeren Fuß verbirgt. Sie will als die zehnte erscheinen und täuscht die Musen, unter die sie sich gemischt hat.
Mit der Personifikation der Elegie145, die sich hier zu den neun „regulären“ Musen gesellt hat, dürfte auf poetologischer Ebene die Kreuzung zwischen dem vorliegenden Silven-Gedicht und der Gattung der Liebeselegie symbolisiert sein: Die Elegie ist hier celsior assueto (8), ihr Stil nimmt also, dem Thema angemessen, eine höhere Ebene ein. Sie verbirgt ihren kürzeren Fuß (9: alternum…pedem)146 und täuscht (10: fallit) die anderen Musen, was darauf hindeuten mag, dass Silv. 1,2 zwar im Hexameter abgefasst, jedoch von elegischen Elementen durchdrungen ist. Die Hochzeit mit Violentilla147 wird von Statius als Endpunkt der elegischen Klagen Stellas beschrieben (33-37): …pone o dulcis suspiria vates, pone: tua est. licet expositum per limen aperto ire redire gradu: iam nusquam ianitor aut lex aut pudor. amplexu tandem satiare petito (contigit) et duras pariter reminiscere noctes. …Gib das Seufzen auf, o lieblicher Sänger, gib es auf: Sie ist dein! Du darfst über die zugängliche Schwelle unverhohlen ein und aus gehen. Nirgends mehr gibt es einen Türwächter, ein Gesetz oder Scham. Endlich ist es dir gelungen, dich an der begehrten Liebesvereinigung zu befriedigen – erinnere dich dabei an die harten Nächte!
Der poeta/amator könne nun mit seinem Paraklausithyron aufhören, da die Schwelle zur Geliebten offenstehe. Die für die Elegie konstitutive Trennung zwischen amator und puella ist somit im Epithalamium aufgehoben. Im zentralen Teil des Gedichts setzt sich das Spiel mit den elegischen Elementen fort, wenn das Aition für die Hochzeit dargelegt wird 148. Innerhalb einer längeren Rede (65-102) bittet Amor seine Mutter Venus darum, das Liebesleid Stellas zu beenden und ihm die Ehe mit Violentilla zu ermögli145
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Man fühlt sich hier stark an Ov. Am. 3,1 erinnert: vgl. vultu petulans Elegea (7) mit Am. 3,1,9 vultus amantis; 33 limis subrisit ocellis; vgl. alternum…pedem (9) mit Am. 3,1,10 pedibus vitium. Furata (9) ist eine Konjektur von Sandstroem, während die Handschrift M futura überliefert; vgl. Liberman (2010), ad loc. Zu der den Anlass der Hochzeitsfeierlichkeiten thematisierenden Einleitungspassage (16ff.) des Gedichtes bemerkt Hardie (1983), 112: „The chief humour of the introduction lies in the address of a kateunastikon, an exhortation to love-making, to a former elegiac lover“. Silv. 1,2,46-49: Sed quae causa toros inopinaque gaudia vati / attulit?...hic, Erato iucunda, doce.
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chen. Amor beschreibt in diesem Zusammenhang die Erfahrungen der elegischen persona Stellas und somit das für die Gattung typische System 149: Den Beginn des servitium amoris (74f.: hunc egomet…cuspide fixi) und die lange Jahre währende militia amoris (78: ferre iugum et longos iussi sperare per annos), wobei Stella sich als besonders leidensfähig erwiesen (81ff.) und dadurch seine literarischen Vorgänger übertroffen habe (90: veteres…transgressus amores). Sogar Apollo habe sich bei Amor über Stellas Klagen beschwert (93f.: quotiens mihi questus Apollo / sic vatem maerere suum!), was sich m.E. wie ein frecher Seitenhieb des Silven-Dichters auf den Charakter der von seinem Freund betriebenen Poesie liest. Die obligatorische recusatio, die höchstwahrscheinlich auch in irgendeiner Form bei Stella zu finden war, lässt Statius dann den Liebesgott für seinen Schützling formulieren (95ff.)150. Mit Amors Hinweis auf Stellas columba-Gedicht (102: hic nostrae deflevit fata columbae) endet die Rede schließlich. Nach der Gegenrede der Venus (106-139) folgt eine Ekphrasis von Violentillas Haus (145-157)151, zu dem sich Venus und Amor inzwischen begeben haben, sowie eine weitere Rede der Göttin an Violentilla, in der sie ihrer Ziehtochter die Vorzüge des zukünftigen Gemahls anpreist (162193)152. Literarische Fiktion und zeitgenössische Realität oszillieren hier insofern, als Venus zwar ebenfalls über Stella als Dichter spricht (172f.: nam docta per urbem / carmina qui iuvenes, quae non didicere puellae?), jedoch auch auf seine mit den Idealen eines elegischen poeta/amator wohl schlecht zu vereinbarenden politischen Funktionen hinweist153. Die Göttin hat Erfolg, denn die dura puella wird weich (194: his mulcet dictis; 199f.: coepit…sibi dura videri) und erinnert sich an Stellas Werben: Asteris et vatis totam cantata per urbem, / Asteris ante dapes, nocte Asteris, Asteris ortu / quantum non cantatus Hylas (197ff.). Es handelt sich hier wohl zunächst um eine Anspielung auf die Rufe der Argonauten nach Hylas in Verg. Ecl. 6,44 (ut litus ‚Hyla Hylaʼ omne sonaret)154, daneben dürfte aber auch der um Eurydice klagende Or149 150 151
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Dazu vgl. Stroh (1983); Holzberg (2009b), 15ff. Zur recusatio in der römischen Liebeselegie vgl. Wimmel (1960), passim. Eine sowohl die literarischen als auch sozialen Implikationen berücksichtigende Interpretation dieser Passage liefert Newlands (2002), 94ff. Die Rede der Venus erinnert an die der Anna an Dido in Verg. Aen. 4,31-38; vgl. Nauta (2002), 295; Newlands (2002), 102f. Silv. 1,2,174-181 über Konsulat, Mitgliedschaft bei den Quindecimviri sowie Organisation von Domitians Triumphfeierlichkeiten nach den Dakerkriegen 89 n.Chr.; vgl. PIR2 A 1151. Martial erwähnt Stellas politische Funktionen erst ab Buch 8: So dürfte er als Prätor 93 n.Chr. die Spiele anlässlich der Rückkehr Domitians aus Pannonien ausgerichtet haben, vgl. Mart. 8,78 mit Schöffel (2002), 649ff. und Leberl (2004), 268ff.; sein Konsulat wird in 9,42 als unter Domitian noch angestrebt und schließlich in 12,2[3] als unter Trajan verwirklicht erwähnt; vgl. Nauta (2002), 156. Zur Ablehnung von politischer Macht und Reichtum bei den römischen Elegikern vgl. Tib. 1,1 mit Maltby (2002), 115ff. Vgl. Verg. G. 3,6 cui non dictus Hylas puer; Liberman (2010), 96f.
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pheus aus Verg. G. 4,465f. (te, dulcis coniunx, te solo in litore secum, / te veniente die, te decedente canebat) und 525ff. den Hintergrund bilden155, wodurch Stella bei Statius indirekt zum Nachfolger des mythischen Sängers stilisiert wird. Abermals verkündet der Sprecher der Silven seinem Dichter-Kollegen, dass dessen elegisches Dasein nun ein Ende habe (201f.). Dieser Gedanke wird auch durch die Umkehrung eines Motives aus der Liebespoesie untermalt: Statius lässt den Bräutigam sehnsüchtig auf den Tag der Hochzeit warten (217f.: quam longa morantur / sidera! quam segnis votis Aurora mariti!)156 und verwandelt dabei das traditionelle Schema des elegischen Tageliedes, wo der Morgen nach der Liebesnacht für den amator zu schnell herbeikommt, ins Gegenteil157. Der Hochzeitstag ist dann endlich da (229ff.), und Hymen schickt sich an, sein Lied zu singen (238f.); daraufhin konstatiert der Sprecher der Silven: hic fuit ille dies: noctem canat ipse maritus, / quantum nosse licet (241f.). Der Rezipient wird hier auf den Unterschied des Epithalamium und der Elegie hinsichtlich des zu besingenden Gegenstandes hingewiesen, erfährt zudem aber auch von den der Elegie auferlegten Gattungsgrenzen: Als ihr Vertreter darf Stella von der Liebesnacht berichten, jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt (quantum nosse licet), d.h. ohne, wie z.B. das Epigramm, Obszönes zu thematisieren158. Gegen Ende des Gedichtes bietet Statius einen Katalog griechischer und römischer Elegiker (250ff.), die aufgefordert werden, carmina festis digna toris (251f.) zu singen, und reiht somit Stella in den Kanon der Gattung ein159. Es dürfte deutlich geworden sein, dass in diesem Epithalamium v.a. Stellas elegische persona eine zentrale Rolle spielt und offenbar auf Form und Inhalt seiner Dichtung Bezug genommen wird 160. Mehrere Forscher haben das Gedicht dahingehend interpretiert, dass Statius seinen Kollegen implizit dazu auffordere, anstelle der elegischen Liebesaffäre von nun an seine Ehe mit Violentilla zu besingen161 – vielleicht in ähnlicher Weise, wie es bei der Dichterin Sulpicia und ihrem Calenus der Fall gewesen sein 155
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Auf diese Stellen spielt auch Ovid an (Met. 11,52f.): flebile nescio quid queritur lyra, flebile lingua / murmurat exanimis, respondent flebile ripae. Sidera (218) dürfte hier, wie auch an mehreren anderen Stellen zu beobachten ist, als Spiel mit dem Namen Stellas und seiner Asteris zu verstehen sein; vgl. Newlands (2002), 98. Vgl. Ov. Am. 1,13; Eine Umkehrung des Tagelieds findet sich auch bei Mart. 8,21; vgl. dazu L. Watson (1998), 360-65; Lorenz (2002), 170. Vgl. Ov. Ars 2,703ff,: 3,769ff. Am. 1,5,25 Cetera quis nescit? lassi requievimus ambo; vgl. Vessey (1972), 182: „Statius…deliberately refrains from telling the story of their love in factual terms“; zum Verzicht auf Obszönes in der Elegie vgl. Hinds (1998), 129-135; Holzberg (2002b), 115-119. Vgl. Vessey (1972), 180. Vgl. Newlands (2002), 90; Rühl (2006), 273. Hardie (1983), 114; Nauta (2002), 298f. denkt an einen aktuellen Zusammenhang mit den von Domitian wieder eingeführten Sittengesetzen; vgl. Rühl (2006), 276.
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dürfte162. Leider wissen wir zu wenig über Stellas poetisches Schaffen, um beurteilen zu können, ob dieser tatsächlich auch sein eheliches Verhältnis thematisierte oder nur sein Werben um Violentilla/Asteris vor der Hochzeit. Es könnte sich daher genauso gut um eine scherzhafte Auseinandersetzung des Silven-Dichters mit den Konventionen der Elegie handeln, vielleicht auch um ein durch einen aktuellen Anlass motiviertes literarisches Experiment mit der Frage, was passiert, wenn das in der Elegie für die Protagonisten stets unerreichbar bleibende Ideal des foedus aeternum163 tatsächlich einmal in die Realität umgesetzt wird. Betrachten wir nun das von Martial zum selben Anlass komponierte Epigramm, das vermutlich auf Statius‘ Epithalamium reagiert (6,21)164: Perpetuam Stellae dum iungit Ianthida vati laeta Venus, dixit ‘Plus dare non potui.’ haec coram domina; sed nequius illud in aurem165: ‘Tu ne quid pecces, exitiose, vide. saepe ego lascivom Martem furibunda cecidi, legitimos esset cum vagus ante toros; sed postquam meus est, nulla me paelice laesit: tam frugi Iuno vellet habere virum.ʼ Dixit et arcano percussit pectora loro. plaga iuvat: sed tu iam, dea, caede duos. Als für immer mit dem Dichter Stella die heitere Venus Ianthis vermählte, sagte sie zu ihm: „Mehr konnte ich dir nicht geben.“ Dies vor der Frau, doch jenes noch schelmischer in sein Ohr: „Du schau, dass du nicht fremdgehst, du Schlimmer. Oft habe ich den zügellosen Mars wuterfüllt geschlagen, da er vor der rechtmäßigen Ehe untreu war. Doch seitdem er der Meine ist, hat er mich mit keiner Geliebten mehr gekränkt. Einen so braven Mann hätte Iuno gerne.“ Sie sagte es und schlug seine Brust mit dem magischen Riemen. Der Schlag hilft, aber du, Göttin, schlag endlich beide.
Hatte bei Statius die Rede der Venus an die Braut eine bedeutende Rolle gespielt, so richtet sie nun ihre Mahnworte an den Bräutigam, wobei dies den Konventionen der epigrammatischen Gattung entsprechend in weitaus scherzhafterem Ton erfolgt166. Anders als in den Silven steht hier nämlich das Thema der Untreue im Zentrum. Die Tatsache, dass nicht nur Stella,
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Dazu s. Kap. 4.3.2. Zum Motiv des foedus aeternum in der römischen Liebeselegie vgl. Schniebs de Rossi (1998); Laigneau (1999), 277-82; Holzberg (2009b), 15f. Grewing (1997), 176f.; Henriksén (1998), 91-94; P. Watson (1999); Nauta (2002), 297; Watson/Watson (2003), 118f. Die Lesart in aurem ist gegenüber der von Lindsay (1929) gebotenen in aure vorzuziehen, vgl. Grewing (1997) ad loc. Vermutlich in Anlehnung an das mit der Hochzeit verbundene Ritual der Fescennina iocatio, vgl. Nauta (2002), 156.
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sondern im letzten Vers auch Violentilla/Ianthis167 als mögliche Ehebrecherin dargestellt wird, hat diverse Forscher zu Emendationsversuchen der Junktur caede duos (10) veranlasst168, da man es für unwahrscheinlich hielt, dass Martial die Frau seines Freundes und Gönners derartig beleidigt hätte. Nun konnte jedoch Patricia Watson in ihrer Analyse dieses Epigramms plausibel darlegen, dass Martial wohl weniger auf das reale Paar, sondern vielmehr auf die fiktive Personenkonstellation in Stellas Elegien anspielt169. In dieser Gattung gehört das Motiv der Untreue zwischen amator und puella ja sozusagen zum Standard-Repertoire170 und bietet sich demnach als attraktiver Anknüpfungspunkt für die freche Abwandlung durch einen Epigrammdichter an171. In diesem Zusammenhang erscheint es auch besonders kühn, wenn Martial das bekannteste mythologische Exemplum für eine außereheliche Affäre, Mars und Venus172, plötzlich als rechtschaffenes Ehepaar auftreten lässt. Dass dieser massive Eingriff in die mythologische Tradition173 aber vom Kontext des Buches motiviert sein dürfte, hat Sven Lorenz gezeigt: Entsprechend der das sechste Buch dominierenden Panegyrik Martials auf die von Domitian wieder eingeführte Lex Iulia de adulteriis coercendis174 müssen sogar Mars und Venus zu einem rechtschaffenen Ehepaar werden175. Dies ist natürlich höchst übertrieben und dürfte auch bei antiken Lesern für Schmunzeln gesorgt haben – vermutlich genauso wie die Vorstellung, dass ein elegisches Liebespaar jemals den Bund der Ehe eingeht. Hinzu kommt, dass sowohl der Gedichtadressat Stella sowie der weitere Leserkreis mit der in Ovids Ars amatoria erzählten Version der Mars-Venus-Geschichte (Ars. 2,561ff.) vertraut gewesen sein 167
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Anders als Statius nennt Martial Stellas Gattin Ianthis, wobei er den Namen Violentillas etymologisiert und von viola bzw. griech. ἴανθος oder ἴον ableitet (abweichend von der richtigen Ableitung von violare); vgl. Grewing (1997), 178 und (1998c), 344; Watson/Watson (2003), 119. Dazu Grewing (1997), 184f.; Watson (1999), 348f.; Watson/Watson (2003), 121. Watson (1999). Zu Eifersucht und Untreue in der Elegie vgl. etwa Fasciano (1982); Fedeli (1990); Rothaus Caston (2000); James (2003), 41-52 u. 98-104. Weitaus biographistischer deutet Henriksén (1998), 93 den scherzhaften Ton des Epigramms: „Er [sc. Stella] war vermutlich ein Schürzenjäger sondergleichen, dessen Eskapaden als Junggeselle derart bekannt waren, dass sich sogar ein guter Freund wie Martial erlauben konnte, auf der Hochzeit darüber zu scherzen“. Vgl. Hom. Od. 8,266-366; Ov. Met. 4,167-189; Trist. 2,377f.; Am. 1,9,40; Ars 2,561ff.; Prop. 2,32,33; Mart. 5,7,5-8; vgl. Stat. Silv. 1,2,52f.; 59f. Bei Hes. Th. 933-7 tauchen Mars und Venus als legitimes Paar auf; vgl. Lucr. 1,31-40; auch die augusteische Propaganda blendet im Rahmen der Stilisierung beider zu den „Eltern“ der Römer den illegitimen Aspekt des Verhältnisses aus, vgl. Watson/Watson (2003), 120. Dennoch scheint Martial m.E. weniger an diese Traditionen als an die homerisch-ovidische Version anzuknüpfen und mit dem Gegensatz zu spielen. Dazu Grewing (1997), 31ff. Lorenz (2002), 160f.
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dürfte176. Die Episode wird dort ausgerechnet im Zusammenhang mit den Anweisungen des praeceptor amoris geschildert, der Mann solle nicht versuchen, die heimlichen Liebschaften seiner Frau aufzudecken177. Um ein bisher wenig beachtetes companion piece178 zu 6,21 handelt es sich bei 6,47: Nympha, mei Stellae quae fonte domestica puro laberis et domini gemmea tecta subis, sive Numae coniunx Triviae te misit ab antris sive Camenarum de grege nona venis: exolvit votis hac se tibi virgine porca Marcus, furtivam quod bibit, aeger, aquam. tu contenta meo iam crimine gaudia fontis da secura tui: sit mihi sana sitis. Nymphe, die du in meines Stellas Haus aus reiner Quelle gleitest und unter dem schimmernden Dach deines Herren fließt, mag nun die Gattin des Numa dich gesandt haben aus den Grotten der Trivia oder magst du aus der Camenen Schar als neunte kommen: Es löst dir sein Gelübde ein mit diesem jungfräulichen Schweine Marcus, weil er geschwächt dein Wasser heimlich getrunken hat. Du begnüg dich nun mit meinem Sühneopfer und gewähre mir die sicheren Freuden deiner Quelle; der Durst möge gesund für mich sein.
Der Sprecher wendet sich hier an die als Nymphe personifizierte Quelle in Stellas Haus und bringt ihr ein Opfer dar, weil er angeblich heimlich von ihrem Wasser getrunken hat. Abgesehen von der Person Stellas ergibt sich ein Bezug zum Hochzeits-Epigramm 6,21 auch durch das erste Wort nympha, welches im Griechischen u.a. „Braut“ bedeutet179. Die Quelle und die elegische Ianthis verschwimmen demnach miteinander, und die Stilisierung des fons zu einer Inspirationsquelle (3-4) verstärkt diesen Eindruck180. Zudem fällt auf, dass auch die im Epigramm verwendeten Begriffe an die Sprache der Elegie erinnern: dominus (2; vgl. 6,21,3 domina), furtivus (6), crimen (7), gaudia (7)181. Es liegt daher nahe, nicht in erster Linie 176 177 178
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Watson (1999), 356. Vgl. Janka (1997), ad loc. Den Begriff companion-pieces definiert Kirstein (2002), 114 folgendermaßen: „…epigrams, which are not only linked by mood, theme, genre and verbal expression but also require each other in order to be fully appreciated and understood…”. Vgl. LSJ, 1184, s.v. Auf die stilkritischen Konnotationen in diesem Gedicht weist bereits Quadlbauer (1970), 187f. hin; vgl. 12,2(3), 12-14; an eine Inspirationsquelle wendet sich Martial in ähnlicher Weise auch in 9,58; zur Symbolik des Wassers im poetologischen Diskurs bei Kallimachos und den römischen Dichtern vgl. Wimmel (1960), 222ff.; Kambylis (1965), 23ff. Zu Begriffen wie furtum/furtivus/furtim vgl. etwa Tib. 1,2,10.19.36; 5,7.65.75; 6,5; 8,35; 9,55; zu domina Tib. 1,1,46; 5,26 u. 40; 2,3,5; 4,1; Ov. Am. 1,4,47 u. 60; 6,20 u. 69; 7,3; Prop. 1,1,21; 3,17; 4,2; 7,6; zu gaudia Tib. 1,5,39; 2,1,12; 3,72; Prop. 1,4,14; 2,14,19; Ov. Am. 2,3,2; 5,29; 3,7,63; zu crimen Ov. Am. 2,18,37; 3,4,39; Ars 1,34.
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an die Beschreibung einer real existierenden Quelle in Stellas Haus zu denken182, sondern an eine Fortsetzung des in 6,21 begonnenen Spiels mit seiner Poesie. Mehrfach wurde bereits auf Ähnlichkeiten zwischen diesem Epigramm und der Bandusia-Ode des Horaz (Carm. 3,13) hingewiesen, wobei der fons bei Martial anders als in den Oden in einer urbanen Szenerie angesiedelt ist und somit die „Dichterlandschaft“ des Epigrammatikers repräsentiert183. Während Horaz seine Quelle in den Rang der berühmten Musenquellen erhebt (Carm. 3,13,13) und sich damit zugleich selbst kanonisiert184, bringt Martial die nympha Stellas mit italischen Inspirationsquellen in Verbindung185. Der Bezug zu Horaz ist umso wahrscheinlicher, als im betreffenden Oden-Buch Carm. 3,13 metrisch mit Carm. 3,7 korrespondiert186, einem Gedicht, das an eine Asterie gerichtet ist und das Problem der Untreue thematisiert187. Es wurde sogar schon vorgeschlagen, dass diese Ode Stella zur Kreation seiner Asteris in den Elegien animiert habe 188. Vielleicht hat Martial also das Gedichtpaar Carm. 3,7 und 3,13 mit seinen beiden StellaEpigrammen in Buch 6 evoziert, und es stellt sich nun die Frage, welche Implikationen damit verbunden sind. Horazens Ode 3,7 ist von elegischen Elementen geprägt189, was sie für Stella und in der Folge auch für Martial zu einem attraktiven Prätext gemacht haben könnte: Der lyrische Sprecher versucht, Asterie über die Trennung von ihrem Gyges190 zu trösten und sie von der Treue des abwesenden und von seiner Gastgeberin (bzw. deren nuntius) heftig umworbenen Geliebten zu überzeugen (1-22a). Das Gedicht mündet dann in die Ermahnung des Lyrikers, Asterie solle aufpassen, dass sie in der Zwischenzeit nicht an ihrem Nachbarn Enipeus allzu großen Gefallen findet (22b-31). Dieser wiederum ist, wie aus der letzten Strophe hervorgeht, eine Art elegischer poeta/amator, der vor dem Haus der Angebeteten sein Paraklausithyron191 singt (3,7,29-32): 182
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Zur Tradition der „villa-poems“ in der Kaiserzeit vgl. Newlands (2002), 119-121.125127. Vgl. Grewing (1997), 323f. mit Hinweisen auf ältere Literatur; eine neue, poetologische Interpretation der Bandusia-Ode bietet Hafner (2010). Vgl. Oliensis (1998), 99; Hafner (2010). Die Quellgottheit Egeria wurde im Hain der Diana Nemorensis von Aricia verehrt und als Geliebte bzw. Gattin des Numa betrachtet, wobei man sie dann meist in der Nähe der Porta Capena ansiedelte; man brachte Egeria auch mit den Camenen in Verbindung, vgl. D.H. 2,60; vgl. Grewing (1997), 326f. mit Belegstellen. Es handelt sich um die einzigen Oden in Buch 3 im Asclepiadeum tertium. Dazu vgl. Holzberg (2009a), 154f. Duret (1986), 3240; vgl. Nisbet/Rudd (2004), 115. Vgl. Lowrie (1997), 266ff.; Nisbet/Rudd (2004), 113ff.; Holzberg (2009a), 154f. Ob es sich dabei um Asteries Ehemann handelt, geht aus dem Gedicht nicht hervor, vgl. Nisbet/Rudd (2004), 113. Zum Paraklausithyron bei Horaz vgl. Nisbet/Rudd (2004), 121f. und 141ff. zur Ode 3,10.
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Prima nocte domum claude neque in vias sub cantu querulae despice tibiae et te saepe vocanti duram difficilis mane. Bei Anbruch der Nacht verschließe das Haus und schau nicht auf die Straße hinunter beim Gesang der klagenden Flöte. Und wenn er dich auch oft als hartherzig bezeichnet, bleibe ihm gegenüber unzugänglich.
Die Rolle der Asterie in diesem Gedicht gleicht der einer elegischen puella: Der vir ist aus ökonomischen Gründen abwesend (3: Thyna merce beatum)192, während die junge Frau von einem potenziellen Liebhaber, der vor ihrer Tür das Paraklausithyron singt, umworben wird. Der lyrische Sprecher scheint auf den ersten Blick nicht aktiv in die Handlung involviert zu sein, sondern sie aus distanzierter Haltung heraus zu kommentieren. Da er jedoch auf narrativer Ebene dem anonymen nuntius, welcher auf Geheiß der hospita den Gyges zur Untreue bewegen will, entspricht, ist seine Ermahnung an Asterie zur Treue vielleicht doch nicht ganz so aufrichtig, ja er will das Mädchen vielleicht sogar auf die Vorzüge des Enipeus aufmerksam machen193. Sollte die Asterie-Ode den historischen Dichter L. Arruntius Stella tatsächlich dazu angeregt haben, in seinen Elegien eine ähnliche Personenkonstellation zu kreieren wie Horaz, dann ist Martials Aufforderung caede duos an Venus in 6,21,10 möglicherweise als Anspielung auf die von einem Nebenbuhler umworbene Vorläuferin der Violentilla/Asteris/Ianthis in Ode 3,7 zu verstehen. Nimmt man die Epigramme 6,21 und 47 zusammen, so erinnert Martials Sprechhaltung an die ambivalente Pose des Lyrikers: Zunächst begegnet er uns als Befürworter ehelicher Treue (6,21), ähnelt dann aber wenig später selbst einem Verführer (6,47), wie die Begriffe furtivus (6), crimen (7) und gaudia (7) implizieren. Liest man zudem das Epigramm 6,47 poetologisch und setzt die Quelle mit der den Dichter Stella inspirierenden puella/domina194 gleich, dann stellt sich die Frage, was man unter dem furtum des wassertrinkenden Marcus zu verstehen hat. Der Terminus furtivus bzw. furtum evoziert nicht nur erotische Vergehen, sondern auch literarischen Diebstahl195, und so könnte sich Martial als jemand charakterisieren, der aus Stellas Poesie Anleihen gemacht hat196. 192
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Zur Abwesenheit des vir in der Elegie vgl. etwa Tib. 1,2 und 1,5 mit Maltby (2002), ad loc. Vgl. Lowrie (1997), 271ff; Holzberg (2009a), 155. Vgl. Mart. 8,73,5-10; Prop. 2,1,3f. ; 2,30,40; Ov. Am. 1,3,19f. mit McKeown (1989), 71. Vgl. Sen. Contr. 10,4,21; OLD, 750 s.v. furtum; zu Martials Auseinandersetzung mit Plagiarismus s. Kap. 3.3.3. Mit einem ähnlichen Bild beschreibt Statius sein literarisches Verhältnis zu Rutilius Gallicus in Silv. 1,4,25-30: licet enthea vatis / excludat Piplea sitim nec conscia detur / Pirene, largos potior mihi gurges in haustus / qui rapitur de fonte tuo, seu plana solutis / cum struis orsa modis seu cum tibi dulcis in artem / frangitur et nostras curat facundia leges
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Die gemmea tecta in Stellas Haus (6,47,2) verweisen zurück auf zwei Epigramme in Buch 5, wo Martial die gemmae auf Stellas Ring und in seinen Gedichten preist (5,11-12). Stellas tatsächlicher Reichtum wird angeblich von den Juwelen in seiner Poesie übertroffen: multas in digitis, plures in carmine gemmas / invenies: inde est haec, puto, culta manus (5,11,3-4)197. Die Glanzstücke seiner Dichtung, so geht aus diesen Versen hervor, haben sich in den Schmuck auf seiner Hand verwandelt198, wobei culta manus auch stilkritisch die Qualität seiner literarischen Produktion bezeichnen kann 199. Auf einem einzigen Fingerring trage Stella zudem zehn Mädchen: uno cum digito vel hoc vel illo / portet Stella meus decem puellas (5,12,6f.)200. Bei den puellae handelt es sich vermutlich um die neun Musen, doch wer die zehnte unter ihnen ist, bleibt offen. Es könnte Minerva oder Violentilla201 sein, oder aber, wie bei Statius Silv. 1,2,9f., die personifizierte Elegie. Der Leser soll sich hier wohl kunstvoll und präzise ausgearbeitete Gemmen-Bilder vorstellen, und der explizit formulierte Vergleich zwischen dem Schmuck auf Stellas Hand und dem Schmuck in seiner Dichtung suggeriert, dass die künstlerischen Fähigkeiten des anonymen Ring-Graveurs und des Dichters Stella einander entsprechen, da jeder auf seinem Gebiet die kleinen Formen beherrscht202. Martials Assoziation der gemmae auf Stellas Ring bzw. in seinem Haus mit der Qualität seiner Poesie ähnelt einem Vergleich, den Aper in Tacitus‘ Dialogus de oratoribus zur Charakterisierung des idealen Redners heranzieht (22,4): Ego autem oratorem, sicut locupletem ac lautum patrem familiae, non eo tantum volo tecto tegi quod imbrem ac ventum arceat, sed etiam quod visum et oculos delectet; non ea solum instrui supellectile quae necessariis usibus sufficiat, sed sit in apparatu eius et aurum et gemmae, ut sumere in manus et aspicere saepius libeat.
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(„Mag auch die inspirierende Pimplea den Durst des Dichters abweisen und Pirene als Vertraute sich verweigern, besser ist für meine tiefen Züge die Wasserflut, die von deiner Quelle geraubt wird, sei es dass du im prosaischen Maß Reden komponierst oder dass dein lieblicher Redefluss in Regeln gebrochen wird und sich nach unseren Gesetzen richtet“) . „Viele Juwelen wirst du auf den Fingern, mehr noch in seinen Gedichten finden: Davon, glaube ich, wurde seine Hand geschmückt.“ Rosati (2006), 57 weist darauf hin, dass hier der talis oratio qualis vita-Gedanke evoziert wird (vgl. Sen. Epist. 114,1), bei Martial jedoch die damit verbundenen moralistischen Implikationen fehlen. Vgl. Ker (1950), 18; Howell (1995), 89; Canobbio (2011a), 176; zu cultus in stilkritischer Bedeutung OLD, 467 s.v. 7. „Da an einem einzigen Finger, an diesem oder jenem, mein Stella zehn Mädchen trägt.“ Die Junktur vel hoc vel illo (6) dürfte auf modo huc modo illuc in Catulls passerGedicht c. 3,9 anspielen. Vgl. Howell (1995), 89; Garthwaite (1998b), 164; Petrain (2005), 352-3; Canobbio (2011a), 180. Zur Assoziation von Gemmen-Kunst und Epigrammatik in Poseidipps λιθικάSektion (P.Mil. Vogl. VIII 309, 1-20 A-B) vgl. Schur (2004); Bing (2005); Petrain (2005); Höschele (2010), 163-170, bes. 166.
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Ich will aber, dass der Redner, wie ein wohlhabender und vornehmer Hausherr, nicht nur von einem solchen Dach bedeckt wird, das Wind und Regen fernhält, sondern von einem, das auch den Blick und die Augen erfreut; dass er sich nicht nur mit solchem Hausrat ausstattet, der den notwendigen Bedürfnissen genügt, sondern es soll in seiner Einrichtung auch Gold und Juwelen geben, damit man sie gerne öfters in die Hand nimmt und betrachtet.
Apers hier entwickelte Metaphorik steht im Zeichen seiner Verteidigung der zeitgenössischen Beredsamkeit203. Martial wiederum lässt den Epigrammen 5,11-12 ein Gedicht vorausgehen, in dem er darüber klagt, dass Dichtern zu ihren Lebzeiten nicht die gebührende Anerkennung zuteil werde (5,10)204. Ohne hier von einem direkten Bezug sprechen zu wollen, halte ich die Ähnlichkeit zwischen der Haltung Apers im Dialogus des Tacitus und des Sprechers der Epigramme für bemerkenswert205. Zudem dürfte die Anordnung der Epigramme 5,10-13 wohl kaum willkürlich erfolgt sein206: Nachdem mit 5,10 die querelle des anciens et des modernes aufgeworfen worden ist, folgt ein Gedichtpaar, in dem Martial – als wolle er die gegnerischen Traditionalisten widerlegen – einen zeitgenössischen Literaten preist, bevor er in 5,13 sich selbst als populär und v.a. noch lebendig rühmt207. Die in 6,47 eingeführte Quellen-Thematik setzt sich in Buch 7 fort und wird dort in zwei miteinander korrespondierenden Epigrammen variiert (7,15 und 50): Quis puer hic nitidis assistit208 Ianthidos undis? effugit dominam Naida numquid Hylas? o bene quod silva colitur Tirynthius ista et quod amatrices tam prope servat aquas! securus licet hos fontes, Argynne, ministres: nil facient Nymphae; ne velit ipse cave. 203 204
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Vgl. Mayer (2001), 138ff.; Canobbio (2011a), 176f. 5,10,1-4: ‘Esse quid hoc dicam vivis quod fama negatur / et sua quod rarus tempora lector amat?’ / Hi sunt invidiae nimirum, Regule, mores, / praeferat antiquos semper ut illa novis („‘Was soll ich dazu sagen, dass den Lebenden der Ruhm verweigert wird und selten ein Leser seine eigene Zeit schätzt?‘ Das ist ohne Zweifel das Wesen des Neides, Regulus, dass er die Alten stets den Neuen vorzieht“). Vgl. Tac. Dial. 18,3: vitio autem malignitatis humanae vetera semper in laude, praesentia in fastidio esse („…dass aber aufgrund des Fehlers der menschlichen Missgunst das Alte stets Anerkennung, das Gegenwärtige aber Verachtung findet“); vgl. Mart. 8,69; Hor. Epist. 2,1,18ff. Vgl. auch Garthwaite (1998b), 162-165. Dies geschieht mit deutlichem Rückbezug auf 1,1: Vgl. 5,13,3-4 sed toto legor orbe frequens et dicitur ‚Hic est,ʼ / quodque cinis paucis hoc mihi vita dedit, wobei man bei hic est (3) wohl nicht nur an die Bekanntheit der Person des Autors beim Volk (vgl. Howell 1995: 90) sondern auch an das Incipit seiner Epigrammsammlung, die überall eifrig gelesen wird, denken soll. Die von BA (β) überlieferte Lesart assistit ist gegenüber absistit (CA= γ) vorzuziehen, vgl. Shackleton Bailey (1989), 139 und Galán Vioque (2002), 131.
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Wer ist der Knabe, der hier an den glitzernden Wogen der Ianthis steht? Ist etwa Hylas seiner Herrin, der Najade, entflohen? Oh wie gut, dass in diesem Wald der Tirynthier verehrt wird und dass er das liebende Wasser so nahe bewacht! Unbesorgt kannst du wohl, Argynnus, aus dieser Quelle einschenken; nichts werden dir die Nymphen tun – doch pass auf, dass er dich nicht selber will. Fons dominae, regina loci quo gaudet Ianthis, gloria conspicuae deliciumque domus, cum tua tot niveis ornetur ripa ministris et Ganymedeo luceat unda choro, quid facit Alcides silva sacratus in ista? tam vicina tibi cur tenet antra deus? numquid Nympharum notos observat amores, tam multi pariter ne rapiantur Hylae? Quelle der Herrin, an der sich die Königin des Ortes, Ianthis, erfreut, Zierde und Freude des hervorragenden Hauses, da doch dein Ufer von so vielen schneeweißen Dienern geschmückt wird und die Wellen im Reigen der Ganymeden erstrahlen – was macht der Alkide hier, der in diesem Wald verehrt wird? Warum hat so nahe bei dir der Gott seine Grotte? Beobachtet er etwa die bekannten Liebesaffären der Nymphen, damit nicht so viele Hylas-Gestalten auf einmal geraubt werden?
Nachdem in 7,14 der Tod eines Knaben mit überdimensionaler mentula (9f.) mit dem von Ianthis betrauerten Verlust der columba (5f.) verglichen worden war209, steht in 7,15 erneut ein puer im Zentrum, und so wird der Leser dazu animiert, die beiden Gedichte miteinander in Verbindung zu bringen210. Die Forscher sind sich uneinig, ob es sich bei dem puer in 7,15 um einen Sklaven oder eine Statue handelt211; fasst man das Epigramm als companion piece zu 7,50 auf, wo es um eine Statuen-Gruppe geht, welche die Quelle im Hause der Ianthis ziert212, so dürfte auch in 7,15 von einer Skulptur die Rede sein213; dies wird dem Rezipienten, der das Buch und damit auch die Epigramme 7,14-15 linear gelesen hat, jedoch erst nach der Lektüre von 7,50 richtig klar. Der Sprecher präsentiert sich in 7,15 als Betrachter des Knabens bzw. Kunstwerks und rätselt über dessen Identität214, wobei
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Dazu s. Kap. 3.1, S. 62-4. Dies wird auch bewirkt durch verbale concatenatio: vgl. puerum (7,14,9) – puer (7,15,1), Ianthis (7,14,5) – Ianthidos (7,15,1), dominae (7,14,8) – dominam (7,15,2). Eine Zusammenfassung der Diskussion bietet Galán Vioque (2002), 129f. Vgl. Galán Vioque (2002), 307; auf verbale und motivische Bezüge zwischen den beiden Epigrammen weist Ruiz Sánchez (1998), 98ff. hin. Vgl. Weber (1995), 116f. Ähnlich werden auch andere Epigramme auf Kunstwerke mit einer Frage eingeleitet, wobei der Sprecher meist über die Identität des Künstlers rätselt: 6,13,1; 8,50,1; 9,24,1; vgl. 9,44; s. Kap. 3.4.1.
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ihm zunächst zwei mythologische pueri delicati, Hylas und Argynnus215, einfallen und er später an einen ganzen Ganymedes-Reigen denkt (7,50,4). In 7,15 richtet sich der Blick auf eine einzelne Statue, während er sich in 7,50 auf die ganze Gruppe ausweitet. Beide Epigramme sind von erotischen Tönen geprägt, da Herkules einerseits als Beschützer der Knaben vor den lüsternen Nymphen charakterisiert wird (7,15,4; 7,50,7f.), andererseits jedoch selbst als deren Rivale in seiner Rolle als ἐραστής erscheint (7,15,6). Auch in diesen beiden Gedichten sind Ianthis und die Quelle eng verbunden; die amatrices aquae (7,15,4) erinnern an ihre persona in Stellas Liebespoesie, das Substantiv amatrix impliziert dabei allerdings eine aktive Haltung ihrerseits216 – ist sie etwa selbst an den schönen Knaben interessiert? 217 Die Tatsache, dass sowohl Martial als auch Statius (Silv. 1,2,199) in ihre Gedichte über Stella und Violentilla das Hylas-Exemplum einbauen, lässt vermuten, dass diese Gestalt in den Elegien Stellas auftrat 218 – vielleicht sogar im Zusammenhang mit der Klage des poeta/amator über die Untreue seiner Geliebten. Es wäre auch denkbar, dass Stella, ähnlich wie Tibull, in manchen Gedichten die Rolle eines Knabenliebhabers einnahm219. Ähnliches wie für Hylas könnte auch für den Argynnus-Mythos zutreffen, der u.a. vom hellenistischen Elegiker Phanokles und später von Properz 220 erzählt wurde; dass Stella die beiden Versionen kannte und in seinen Gedichten variierte, ist zumindest denkbar221. Vor dem Hintergrund der ambivalenten Feststellung des epigrammatischen Sprechers in 7,15, Argynnus könne dank der Gegenwart des Herkules unbesorgt und vor den Nymphen sicher (5: securus) aus der Quelle schöpfen, drängt sich die Frage auf, wie in 6,47 Martials Bitte an die nympha um gaudia secura (7f.) zu verstehen ist und wie er sich zu den in 7,15 und 50 beschriebenen pueri verhält – hat er, wie die Knaben, sich mehr vor den Wassernymphen oder vor Herkules zu fürchten? Oder hat er sich gar der pueri wegen selbst als amator der Quelle genähert?222 Nach der Lektüre von 7,15 und 50 wird der Rezipient zu einem 215
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Zu Hylas als durch Ertrinken zu Tode gekommener puer delicatus des Herkules vgl. Mart. 5,48; 6,68; 9,25; 9,65,14; 10,4; 11,43; Argynnus taucht nur in 7,15 auf; vgl. Galán Vioque (2002), 131-3. Vgl. Mart. 10,4,6: odit amatrices Hermaphroditus aquas; 7,69,9 Sappho…amatrix. Galán Vioque (2002), 130 weist auf einen möglichen Bezug zwischen 7,15,1 und Horazens Pyrrha-Ode 1,5 (1: Quis…puer) hin. Weber (1995), 117 schlägt vor, die Figur des Herkules als Anspielung auf den Hausherrn Stella zu lesen, der an den Knaben interessiert ist. Vgl. Prop. 1,20; Theoc. 13. Vgl. Tib. 1,4; 8; 9. Argynnus war Agamemnons puer delicatus in Aulis und ertrank im böotischen Fluss Kephisos; Phanocl. Frg. 5 Powell; Prop. 3,7,21f.: sunt Agamemnonias testantia litora curas, / quae notat Argynni poena minantis aquae; vgl. dazu Fedeli (1985), 253ff. Vgl. La Penna (1994), 17f. Zur Charakterisierung der persona Martialis als Liebhaber von Knaben vgl. Obermayer (1998), 17-93.
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second reading des thematisch verwandten Gedichts 6,47 animiert, wobei er erst jetzt die Quelle mit dem in Buch 7 erotisierten Herkules in Verbindung bringt. Die Bitte des Sprechers um gaudia secura in 6,47 könnte im Nachhinein so aufgefasst werden, dass dieser eine Sexualstrafe durch Herkules mit seinem Gebet von sich abwenden und damit einem Schicksal entgehen will, wie es in der griechischen und römischen Epigrammatik diverse Quellen bewachende Götterstatuen dem imaginierten Wanderer immer wieder androhen223. Es dürfte aus den bisher betrachteten Gedichten deutlich geworden sein, dass Martials Panegyrik auf seinen Freund und Gönner, der bisher v.a. in seiner Rolle als Dichter auftrat, von sexuellen Anspielungen durchzogen ist. Dies ist möglicherweise sogar in einem weiteren Epigramm der Fall, wo sich Martial erstmals konkreter über die politischen Ambitionen Stellas äußert. Nachdem in 8,78 schon davon die Rede war, dass Stella – vermutlich in seiner Funktion als Prätor – die Spiele anlässlich der siegreichen Rückkehr Domitians vom Sarmatenfeldzug ausrichtete224, gibt der epigrammatische Sprecher in 9,42 seiner Hoffnung auf die Ernennung Stellas zum Konsul Ausdruck225. Wichtiger als das politische Amt scheint für Martial jedoch Stellas Eigenschaft als Dichter zu sein: Das in elf Hendekasyllabi abgefasste Epigramm inszeniert ein Gebet des Sprechers an den Musenführer Apollo und ist von literarischen Bezügen geprägt. Zunächst erfolgt eine längere Anrufung des Gottes (1-5: sic…sic…sic…sic)226, dann die eigentliche Bitte, Domitian möge Stella das Konsulat gewähren (6-7), und schließlich das Versprechen eines Opfers, sollte Apollo das Gebet erhören. Der erste Teil beginnt mit dem Wunsch, Apollo möge sich stets an den campi Myrini erfreuen (1f.: Campis dives Apollo sic Myrinis…fruare), womit in gelehrter Weise auf den Kult des Gottes in Gryneion227 angespielt wird. Eine Bezugnahme auf diese Kultstätte innerhalb der lateinischen Literatur findet sich, abgesehen von dieser Stelle, ansonsten nur in Vergils sechster Ekloge: His tibi Grynei nemoris dicatur origo, / ne quis sit lucus, quo se plus iactet Apollo (72f.)228. In seinem Kommentar zu 9,42 weist Christer Henriksén zwar auf die Abhängigkeit Martials 223
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Vgl. Pan in AP 9,330 (Nikarchos I); Priap in Priap. 30; zur Drohgebärde Priaps vgl. AP 16,236-43; Richlin (1992a), 116-127. Für eine solche Interpretation von Mart. 6,47 könnte auch sprechen, dass bereits im übernächsten Gedicht (6,49) Priap dem fur seiner Trauben pedicatio androht; vgl. Grewing (1997), 334ff. Vgl. dazu Schöffel (2002), 649ff. 9,42,6f.: bis senos cito te rogante fasces / det Stellae bonus adnuatque Caesar („Auf deine [= Apolls] Bitte hin möge schnell die zweimal sechs Rutenbündel der wohlwollende Caesar dem Stella gewähren“). Zur „sic-Formel“ vgl. Siedschlag (1977), 36. Die Stadt lag nahe bei Myrina in der Aeolis, vgl. Henriksén (1998/99), I, 202. „Darauf sollst du den Ursprung des gryneischen Waldes besingen, damit es keinen Hain gibt, dessen sich Apollon mehr rühmt.“
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von Vergil hin, bemerkt aber dazu, es sei „impossible to decide whether it is of any particular significance in this context“229. Anders als Henriksén gehe ich davon aus, dass der Bezug zu Vergil von Martial sehr wohl mit Absicht hergestellt worden ist und beim Leser verschiedene Assoziationen wecken soll; dies liegt m.E. dadurch nahe, dass es sich bei dem Kontext, in den die beiden Verse der betreffenden Ekloge gehören, um die Dichterweihe des Elegikers Cornelius Gallus handelt230. Es dürfte daher kein Zufall sein, dass diese Szene im Rahmen der Bitte Martials um die „Konsulweihe“ eines weiteren Schützlings des Apollon abgerufen wird. Der dritte Teil des Epigramms (8-11) behandelt, wie gesagt, Martials Gelöbnis der Opferung eines Jungstieres. Im letzten Vers fordert der Sprecher den Gott auf, mit der Erfüllung des Wunsches nicht zu zögern (11): Nata es hostia, Phoebe; quid moraris? Das Opfertier ist bereits geboren und soll als iuvencus (10) geschlachtet werden. Martial dürfte mit diesem Hinweis auf die Horaz-Ode 4,2 anspielen und deren Aussage zu übertreffen suchen231: Der Sprecher gelobt in Ode 4,2 für die Rückkehr des Augustus aus Germanien232 ebenfalls einen iuvencus, der zur Zeit des Gelübdes noch ein vitulus ist (54) und für die Opferung heranwächst (55f.: iuvenescit…in mea vota). Mit seinem Inhalt, Metrum und Umfang (11 Verse) korrespondiert das Epigramm 9,42 mit 9,40, wo ebenfalls das Thema des votum im Zentrum steht (3: vovit; 8: ad votum; 10: votum), dort allerdings in einem frivolen Zusammenhang: Philaenis verspricht für die sichere Rückkehr ihres Diodorus vom Kapitolinischen Agon 233 in Rom nach Ägypten etwas Ungewöhnliches (4f.): illam lingeret ut puella simplex / quam castae quoque diligunt Sabinae234. Mag 9,42 keine erkennbaren erotischen Anspielungen enthalten, so wird das Epigramm durch die Juxtaposition mit dem formal identischen Gedicht 9,40, zu dem überdies ein inhaltlicher Bezug besteht, mit sexueller Thematik indirekt in Verbindung gebracht. Innerhalb von Buch 9 taucht Stella erneut in 9,55 neben Flaccus in der Rolle des amicus bzw. patronus auf, bevor wir ihn uns in 9,89 als Veranstalter einer cena vorstellen sollen, der seine Gäste zur Stegreifdichtung auffordert: Lege nimis dura convivam scribere versus cogis, Stella. ʽLicet scribere nempe malosʼ.
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Henriksén (1998/99), I, 202. Verg. Ecl. 6,64-73. Zu Gallus in der 6. Ekloge vgl. Ross (1975), 18-38; Stroh (1983). Zur Anspielung auf Horaz vgl. Henriksén (1999). Zur Ode 4,2 vgl. Kießling/Heinze (1930) ad loc.; Harrison (1995b); Holzberg (2009a), 173. Vgl. dazu Henriksén (1998/99), I, 193ff. „Dass sie, ein einfaches Mädchen, an jenem Teil lecken werde, den auch die keuschen Sabinerinnen lieben“. Zur Charakterisierung der Philaenis als matrona mit den Zügen einer meretrix vgl. Watson (2005), 73f.
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Unter allzu harten Bedingungen zwingst du deinen Gast, Verse zu schreiben, Stella. „Es ist ja auch möglich, schlechte zu schreiben.“
Der Sprecher beklagt sich darüber, die Bedingungen, unter denen er beim Symposion ein Gedicht verfassen soll, seien zu schwierig235 und erfährt daraufhin vom Interlokutor, dass man ja auch schlechte Verse produzieren könne236. Es geht aus dem Zweizeiler selbst nun nicht eindeutig hervor, wie man sich diese versus mali vorzustellen hat, doch m.E. bietet es sich an, hier das unmittelbar folgende Epigramm näher in den Blick zu nehmen: 9,90 ist an Flaccus gerichtet, der innerhalb des Korpus mehrmals als gemeinsamer Freund Martials und Stellas auftritt237. Das Gedicht beinhaltet zunächst den Wunsch, Flaccus möge auf Zypern238 der Hitze trotzen und an einem locus amoenus Kühle, Wein und Liebe genießen, bevor sich der Sprecher an Venus mit der Bitte wendet, für eine sichere Rückkehr des Freundes zu sorgen. Durch Gebet und Wunsch sowie die Anapher von sic (1; 7; 15) berührt sich das Epigramm mit 9,42, und nachdem Stella und Flaccus in 9,55 zusammen aufgetreten und als amici Martials charakterisiert worden sind, dürfte der Leser auch bei der Lektüre von 9,89-90 eine Verbindung zwischen den beiden Personen herstellen. Stilistisch bemerkenswert ist in 9,90 eine außergewöhnliche Häufung von Homoioteleuta239. Nun bezeichnen römische Rhetoriker wie etwa Quintilian eine übertriebene Aneinanderreihung von gleich endenden Wörtern als vitium in der Zusammenfügung der Rede (iunctura): Illa quoque vitia sunt eiusdem loci, si cadentia similiter et desinentia et eodem modo declinata multa iunguntur 240. Es wäre also denkbar, dass Martial sich mit den in 9,89 angekündigten versus mali auf das unmittelbar folgende Epigramm bezieht und wir uns den dort angesprochenen
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Ein ähnliches Problem wird auch in 11,42 thematisiert. Die Sprecherverteilung in diesem Zweizeiler ist problematisch: Während der im Pentameter ausgedrückte Gedanke von den meisten Herausgebern bisher als Antwort Stellas auf die vorhergehende Beschwerde Martials aufgefasst wurde, liest Henriksén (1998/99), II, 126 den Satz dagegen als Bemerkung Martials. 1,61,4; 9,55; 10,48,5. Flaccus verwaltete dort womöglich das Amt des Prokonsulats, wie auch in 8,45 angedeutet wird; vgl. White (1972), 113f.; Henriksén (1998/99), II, 128 u. 130; Nauta (2002), 69 hält es dagegen für wahrscheinlicher, dass Flaccus auf Zypern Handel betrieb. Reclinis…rivis (1f.); curva…unda (3); exclusis…molestis (4); uni tibi (7); castissima…puella (8); observes…messes (10f.); precorque Flacce (10); teret crepantis…saeviet leonis (11f.); remitte nostris…remitte votis (13f.); ture meroque victimaque (16); candidas…aras (17); secta plurima quadra de placenta (18). Quint. Inst. 9,4,42: „An eben diese Stelle gehören auch die Fehler, wenn man viele ähnlich endende, auslautende und auf dieselbe Weise flektierende Wörter aneinander reiht“; vgl. Rhet. Her. 4,22f.; HWRh 3, 1533 s.v. „Homoioteleuton“; Lausberg (1990), 474f. zum Silbengleichklang (§ 965).
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Flaccus als Teilnehmer am selben convivium vorzustellen haben, das in 9,89 imaginiert wird und dem auch Stella und Martial beiwohnen241. Angesichts der prominenten Rolle, die Stella in Martials Epigrammkorpus als Freund und Dichterkollege spielt, überrascht es nicht, dass er auch noch in Buch 12 auftaucht und dort den liber, den Martial aus dem „Exil“ in Spanien nach Rom sendet, in Empfang nimmt (12,2[3]) 242: Ad populos mitti qui nuper ab urbe solebas, ibis, io, Romam nunc peregrine liber auriferi de gente Tagi tetricique Salonis, dat patrios manes quae mihi terra potens. non tamen hospes eris nec iam potes advena dici, cuius habet fratres tot domus alta Remi. iure tuo veneranda novi pete limina templi, reddita Pierio sunt ubi tecta243 choro. vel si malueris, prima gradiere Subura; atria sunt illic consulis alta mei: laurigeros habitat facundus Stella penatis, clarus Hyanteae Stella sititor aquae; fons ibi Castalius vitreo torrente superbit, unde novem dominas saepe bibisse ferunt: ille dabit populo patribusque equitique legendum, nec nimium siccis perleget ipse genis. quid titulum poscis? versus duo tresve legantur, clamabunt omnes te, liber, esse meum.
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Vor kurzem warst du es noch gewohnt, aus der Hauptstadt zu den Völkern geschickt zu werden; jetzt wirst du, ach, als Buch aus der Fremde nach Rom gehen, weg von der Völkerschaft des Gold führenden Tagus und des düsteren Salo, wo das glückliche Land für mich das heimatliche Grab bestimmt. Dennoch wirst du kein Fremder sein und man wird dich nicht als Ausländer bezeichnen können, wo doch so viele Brüder von dir das erhabene Haus des Remus beherbergt. Nach deinem Recht suche die ehrwürdige Schwelle des neuen Tempels auf, wo der Pierischen Schar ihr Dach zurückgegeben worden ist. Oder, wenn Du es lieber willst, schreite an ihrem Anfang die Subura entlang: Dort befinden sich die erhabenen Hallen meines Konsuls. Ein mit Lorbeer bekränztes Heim bewohnt der redegewandte Stella, der glänzende Stella, der aus 241
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Mehrere Motive evozieren in 9,90 eine sympotische Atmosphäre: der Genuss von Wein (5: pertundas glaciem triente nigro), das Tragen von Kränzen (6: frontem sutilibus ruber coronis) und (Homo-)Erotik (7: sic uni tibi sit puer cinaedus); all dies spielt auch in 9,93, wo auf den Namen des Kaisers getrunken wird, eine wichtige Rolle (1: addere quid cessas, puer, inmortale Falernum; 5: sutilis aptetur deciens rosa crinibus; 7: nunc bis quina mihi da basia). Henriksén (1998/99), II, 128 zu 9,90 weist auf Anklänge an Horaz Carm. 2,3 hin. Somit fungiert neben dem in der praefatio adressierten Priscus auch Stella als Widmungsträger, vgl. Bowie (1988), 35. Ich folge hier der von Heinsius vorgeschlagenen Konjektur tecta für templa, das sich vermutlich als Verschreibung unter dem Einfluss von templi in V. 7 erklären lässt; vgl. Bowie (1988), 40.
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dem hyantischen Wasser trinkt. Dort fließt stolz im kristallklaren Strom die kastalische Quelle, woraus die neun Musen häufig getrunken haben sollen. Er wird dich dem Volk, den Senatoren und Rittern zum Lesen geben und dich selbst mit nicht ganz trockenen Wangen durchlesen. Wozu forderst du einen Titel? Zwei oder drei Verse soll man lesen, und alle werden rufen, dass du, Buch, mein bist.
Die Pose des verbannten Ovid (und auch des Horaz in Epist. 1,20) imitierend, sendet Martial sein Buch von Spanien nach Rom 244. Während der erste Teil des Epigramms vor allem die Antithese zwischen Rom und der Fremde beinhaltet (1-6), fungieren die Verse 7-8 als eine Art Überleitung zum Hauptteil des Gedichtes, wo Stella im Zentrum steht (9-16); das letzte Distichon (17-18) über den Bekanntheitsgrad Martials bildet dann den Schluss. Auch auf stilkritischer Ebene spielt Martial mit dem Kontrast zwischen Spanien und Rom: Das dem Salo beigestellte Adjektiv tetricus (3) lässt an eine strenge, der Epigrammdichtung ungünstige Atmosphäre denken245 und greift dadurch Gedanken aus der Vorrede zu Buch 12 auf246. Dem gegenüber stehen das kristallklare Wasser in Stellas Haus (13: vitreo torrente) und die Bezeichnung des Dichter-Konsuls als clarus, was auf die Bedeutung seines Namens anspielt247. Es wurde bereits beobachtet, dass hier motivisch und verbal insbesondere auf Ovids erstes Tristien-Gedicht rekurriert wird248: Der liber peregrinus (2) besitzt Brüder in Rom (6) und soll dort „nach seinem Recht“ (7: iure tuo) das templum novum (7), den unter Tiberius begonnenen und unter Caligula fertiggestellten Tempel des Augustus aufsuchen, wo sich auch die Bibliotheca Templi D. Augusti befunden haben soll249. Im Gegensatz zu Ovids Werk250 wird Martials Gedichtkorpus, wie aus diesen Versen hervorgeht, in eine öffentliche Bibliothek aufgenommen. Dass Martials liber mit einem freundlicheren Empfang in Rom rechnen kann als Ovids Buch, deutet wo-
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Damit scheint insbesondere der Inhalt von 10,104 aufgegriffen und ins Gegenteil verkehrt zu werden; ähnlich auch 7,88; vgl. Bowie (1988), 34f. Vgl. 11,2,7f.: lectores tetrici salebrosum ediscite Santram: / nil mihi vobiscum est; vgl. Dams (1970), 209; Quadlbauer (1970), 188f. Vgl. 12 praef. 7-17. Vgl. Bowie (1988), 44. Bowie (1988), 35; Wissig-Baving (1991), 200ff.; Pitcher (1998), 62-64; vgl. außerdem AP 12,208 (Straton); Ov. Trist. 2,1f.; 3,7,1ff.; Pont. 4,5,1; Stat. Silv. 4,4,1ff. Vgl. Suet. Tib. 74; Cal. 21; Tac. Ann. 6,45; Dio 57,10,2; 56,46,3; Mart. 4,53,2; Tempel und Bibliothek wurden vor 79 n.Chr. bei einem Brand zerstört und danach vermutlich unter Domitian wieder aufgebaut; vgl. Suet. Dom. 20; Platner/Ashby (1929), 62-65; Coleman (1986), 3096; Bowie (1988), 39f.; Pitcher (1998), 62 Anm. 17. Vgl. Trist. 1,1,105-108: cum tamen in nostrum fueris penetrale receptus, / contigerisque tuam, scrinia curva, domum, / aspicies illic positos ex ordine fratres, / quos stadium cunctos evigilavit idem. Die Buchrollen befinden sich hier anders als in Martials Fall in Ovids Heim; in Trist. 3,1,59ff. wird die erfolglose Bitte des personifizierten Buches um Aufnahme in Roms Bibliotheken ausführlicher geschildert; vgl. Pitcher (1998), 62f.
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möglich auch der Ausruf io (2) an, der dem ei mihi bei Ovid (Trist. 1,1,2) entspricht. Anders als ei mihi, das Klage und Schmerz ausdrückt251, kann der Ausruf io auch Freude bekunden und das Bild von der Heimkehr eines Triumphators evozieren252. Während Ovid zudem in den Tristien bis auf eine Ausnahme niemals die Namen seiner Adressaten verrät253, spielt bei Martial die Identität Stellas eine wichtige Rolle254. Wenn der Epigrammatiker dem Buch vorschlägt, statt der öffentlichen Bibliothek das Heim Stellas aufzusuchen, so ist damit ein deutliches Kompliment an den Freund und Gönner und insbesondere dessen Bedeutung für Martial auf literarischem Gebiet verbunden255. Die Vorstellung, dass dieser bei der Lektüre des Buches so manche Träne vergießen wird (14), ist deutlich an Trist. 1,1,27-28 angelehnt256: invenies aliquem, qui me suspiret ademptum, / carmina nec siccis perlegat ista genis. Das ovidische aliquis verändert Martial in eine konkrete Person257. Auch die abschließende Bemerkung des Epigrammatikers, dass zur Feststellung seiner Autorschaft nur wenige Verse gelesen werden müssen, rekurriert auf eine ähnliche Aussage des Elegikers (Trist. 1,1,61f.): ut titulo careas, ipso noscere colore; / dissimulare velis, te liquet esse meum 258. Neben seiner Eigenschaft als Konsul ist Stella in diesem Epigramm insbesondere als Dichter und Literatur-Förderer für Martial wichtig. In Anschluss an 6,47, 7,15 und 50 wird sein poetisches Wirken erneut durch die Metapher von der Inspirationsquelle umschrieben 259. Um welchen fons es sich hier nun handelt, ist aufgrund der Überlieferung des Textes nicht eindeutig zu klären: Neben der Lesart Hyanteae (12) existiert auch Iantheae, wodurch ein Rückbezug zu den Epigrammen auf die Quelle der Ianthis bzw. auf deren Rolle als Muse für Stellas Poesie vorhanden wäre. Die Lesart Hyanteae wäre dagegen weniger spezifisch und würde nicht als Anspie251 252
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Vgl. McKeown (1989), 149 ad Ov. Am. 1,6,51f. Vgl. 7,6,7; 8,4,1; 11,2,5; 11,36,2; Catul. c. 61,117ff.; Bowie (1988), 35: „…the witty point would seem most likely to lie in the suggestion that the book will be received at Rome as a triumphant redux from the provinces, this being made possible by the reversal of its usual journey“. Die Ausnahme ist die Dichterin Perilla in Trist. 3,7; zu den Versuchen ihrer historischen Identifikation vgl. Luck (1977), 199. Zu Stellas Amt als consul suffectus 101 n.Chr. vgl. Bowie (1988), 42. Vgl. Bowie (1988), 41. Vgl. Pitcher (1998), 63. Besslich (1974), 12 sieht in dem nimium, das Martial hinzufügt, einen „ironischen Dämpfer“ des bei Ovid vorherrschenden Pathos; vgl. Wissig-Baving (1991), 201. „Auch wenn du keinen Titel trägst, wird man dich am Kolorit erkennen. Magst du dich auch verstellen wollen, bist du doch eindeutig mein Werk.“ Vgl. Pitcher (1998), 63f. Daneben wird Stella auch durch den Lorbeer an seiner Tür als Dichter charakterisiert (11); zum Lorbeer als dichterisches Symbol vgl. Kambylis (1965), 18ff.; zur Wasserund Quellenmetaphorik ders. 23ff.; auch an Stellas politischen Status ist zu denken, da der Lorbeer an seiner Tür die Stelle in Ovids Metamorphosen evoziert, wo das Aition für den Lorbeer am Haus des Augustus erzählt wird (Met. 1,562f.).
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lung auf den Inhalt von Stellas Dichtung, sondern allgemeiner auf sein poetisches Talent verweisen260. Stellt man sich vor, dass das Epigramm laut gelesen wurde, dann dürfte dem Zuhörer ohnehin der ähnliche Klang der beiden Wörter aufgefallen sein, sodass er das eine leicht mit dem anderen assoziieren konnte – unabhängig davon, welche Lesart hier nun tatsächlich zutrifft; überdies fiel es dem Rezipienten vermutlich auch nicht schwer, eine inhaltliche Verbindung zwischen dem hier genannten fons und den vorhergehenden Epigrammen auf Ianthis herzustellen 261. In diesem Gedicht, das den Abschluss des sich über das gesamte Korpus erstreckenden Stella-Zyklus bildet, ist die Quelle der Ianthis sozusagen zum Musenquell vom Format eines fons Castalius (13) aufgestiegen – man fühlt sich abermals an Horazens Bandusia-Ode erinnert (Carm. 3,13,13: fies nobilium tu quoque fontium). Die Klimax der Huldigung an Stellas literarische Fähigkeiten besteht dann in Martials Behauptung, die neun Musen hätten bereits häufig aus dem Wasser getrunken (14); hier bezieht also nicht der Dichter nach dem traditionellen Schema seine Inspiration aus einem Musenquell, sondern die Göttinnen lassen sich vom Dichter inspirieren. Betrachten wir nun zusammenfassend, welche Rolle der Dichter L. Arruntius Stella in Martials Epigrammkorpus spielt. Abgesehen von einem möglichen patronus-cliens-Verhältnis zwischen den beiden realen Autoren262 scheint der Elegiker auf literarischer Ebene vor allem als Folie für Martials eigene Profilierung zu dienen. So wird Stellas Poesie besonders in Buch 1, wo Martial sein Verhältnis zu Catull ausführlich thematisiert, als ebenfalls in dessen Tradition stehend charakterisiert (1,7; 1,109,1f.; vgl. 1,61). Da Stella ein das gesamte Korpus umfassender Epigrammzyklus gewidmet ist, erscheint er auch als besonders geeignet, in 1,44 das mit der Komposition solcher Zyklen verbundene Problem der repetitio bzw. Selbstwiederholung zu thematisieren. Dabei sind die auf ihn gedichteten Epigramme fest in den jeweiligen Buchkontext integriert, darüber hinaus jedoch auch über die Buchgrenzen hinweg miteinander verbunden. Die Analyse der betreffenden Gedichte legt nahe, dass Martial, ähnlich wie Statius in Silv. 1,2, vor allem die literarische persona Stellas in seine Epigramme integriert. Da uns von Stellas Werk nichts überliefert ist, lassen sich direkte Anspielungen nicht mehr aufdecken. Innerhalb der Auseinandersetzung Martials mit seinem Dichterkollegen kommt es, wie gesehen, wiederholt zu sexuellen Andeutungen, so dass man vielleicht darüber spekulieren kann, inwiefern Martial erotische Themen, die in Stellas Poesie behandelt wurden, aufgreift bzw. möglicherweise sogar der licentia der 260
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Das Adjektiv Hyanteus bezieht sich auf den Musenquell in Böotien, vgl. OLD, 810 s.v. Zu den textkritischen Problemen vgl. die Zusammenfassung bei Bowie (1988), 44ff. Dies ergibt sich auch aus verbalen Parallelen: vgl. sititor (12) - sitis (6,47,8); bibisse (14) – bibit (6,47,6); novem dominas (14) – Camenarum de grege nona (6,47,4). Dazu vgl. insbesondere Nauta (2002), 155ff.
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Epigrammatik entsprechend übersteigert, sollte sich der Elegiker selbst noch innerhalb der ihm erlaubten Gattungsgrenzen bewegt haben. Dass Martial neben der Huldigung eines zeitgenössischen Dichters vor allem Werbung für sich selbst macht, dürfte am Beispiel von 12,2 deutlich geworden sein, wo Stellas Funktion insbesondere darin besteht, die Verbreitung von Martials Gedichten zu gewährleisten. Wenn Martial überdies seinen politisch einflussreichen Zeitgenossen für dessen erotische Poesie preist, dient dies wohl nicht zuletzt der Vereinnahmung Stellas zur Legitimation erotischer und freizügiger Elemente in den eigenen Epigrammen.
4.3.2
„Nur die Lampe sah es…“: Bettgeflüster mit Sulpicia
Dass Martial andere Vertreter erotischer Poesie dazu funktionalisiert, Werbung für sein eigenes poetisches Unterfangen zu betreiben, lässt sich auch an weiteren Beispielen zeigen. In Buch 10 begegnen wir zwei Gedichten, die in der Forschung als wichtige Testimonien zu einer der wenigen uns bekannten römischen Dichterinnen gelten: Die Epigramme 10,35 und 38 handeln von Leben und Werk Sulpicias, einer Namensvetterin der aus dem dritten Buch des Corpus Tibullianum bekannten Elegikerin263; für die Zeitgenossin Martials prägten angloamerikanische Gelehrte daher auch die Bezeichnung „the ‚other‘ Sulpicia“264: Omnes Sulpiciam legant puellae, uni quae cupiunt viro placere; omnes Sulpiciam legant mariti, uni qui cupiunt placere nuptae. non haec Colchidos adserit furorem, diri prandia nec refert Thyestae; Scyllam, Byblida nec fuisse credit: sed castos docet et probos amores, lusus, delicias facetiasque. cuius carmina qui bene aestimarit, nullam dixerit esse nequiorem, nullam dixerit esse sanctiorem. tales Egeriae iocos fuisse udo crediderim Numae sub antro. hac condiscipula vel hac magistra esses doctior et pudica, Sappho: sed tecum pariter simulque visam durus Sulpiciam Phaon amaret. frustra: namque ea nec Tonantis uxor nec Bacchi nec Apollinis puella erepto sibi viveret Caleno. 263
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Es sind die Elegien [Tib.] 3,9 und 11 sowie 13-18; vgl. dazu Holzberg (1998/99); Maltby (2010). Merriam (1991); Hallett (1992); Parker (1992b); Richlin (1992b); vgl. Mattiacci (1999); Stevenson (2005), 44-48; vgl. Mindt (im Druck).
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Alle Mädchen sollen Sulpicia lesen, die nur einem Mann gefallen möchten. Alle Ehemänner sollen Sulpicia lesen, die nur einer Ehefrau gefallen möchten. Die macht sich nicht den Wahnsinn der Kolchierin zu Eigen, und von des grausamen Thyestes Mahl berichtet sie auch nicht. Dass es Scylla und Byblis gegeben hat, glaubt sie nicht, sondern lehrt reine und rechtschaffene Liebe, Spiele, Vergnügen, Witze. Wer ihre Gedichte angemessen beurteilt, dürfte wohl sagen, dass keine schelmischer ist, dürfte wohl sagen, dass keine tugendhafter ist. Von solcher Art waren die Scherze Egerias, glaube ich, in der feuchten Höhle Numas. Mit dieser als Mitschülerin oder mit dieser als Lehrerin wärest du gelehrter und sittsam, Sappho. Doch nachdem er sie mit dir zugleich erblickt hat, würde der hartherzige Phaon Sulpicia lieben. Vergeblich: Denn sie würde weder als des Donnerers Gattin noch als des Bacchus oder Apollos Mädchen leben, hätte man ihr Calenus entrissen. O molles tibi quindecim, Calene, quos cum Sulpicia tua iugales indulsit deus et peregit annos! o nox omnis et hora, quae notata est caris litoris Indici lapillis! o quae proelia, quas utrimque pugnas felix lectulus et lucerna vidit nimbis ebria Nicerotianis! vixisti tribus, o Calene, lustris: aetas haec tibi tota conputatur et solos numeras dies mariti. ex illis tibi si diu rogatam lucem redderet Atropos vel unam, malles quam Pyliam quater senectam.
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O die zärtlichen fünfzehn Jahre, die dir, Calenus, mit deiner Sulpicia als Ehejahre ein Gott schenkte und euch verbringen ließ! O jede Nacht und jede Stunde, die markiert ist mit teuren Steinen von Indiens Küste! O welche Kämpfe, welche Gefechte auf beiden Seiten sah das glückliche Bett und die Lampe, trunken von Duftwolken des Niceros! Gelebt hast du, o Calenus, dreimal fünf Jahre. Diese Zeitspanne wird von dir als gesamte Lebenszeit gerechnet, und du zählst nur die Tage als Ehemann. Wenn von diesen dir Atropos auch nur einen einzigen, lange erbetenen Tag zurückgäbe, wäre er dir lieber als viermal ein pylisches Alter.
Während Martial im ersten Epigramm von Sulpicias Poesie und ihrer Liebe zu ihrem Ehegatten Calenus berichtet und sich dabei wohl an eine allgemeine Leserschaft wendet (1-4), wird im zweiten Gedicht Calenus apostrophiert265 und das 10,35 rahmende Thema ehelicher Liebe und Treue (1-4; 19-21) wieder aufgenommen. Hat man sich in 10,35 die Dichterin offensichtlich als lebendig vorzustellen, so geht aus 10,38 nicht eindeutig hervor, ob sie von Calenus getrennt266 bzw. vielleicht sogar schon tot ist. Aufgrund 265 266
Sullivan (1991), 49 zählt Calenus und Sulpicia zu Martials patroni. Richlin (1992), 128 spekuliert über eine mögliche Scheidung, was aber wenig plausibel scheint.
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des Tempusgebrauchs in 10,38267 sowie des dort stattfindenden Rückblicks auf die fünfzehn Ehejahre, die Calenus und Sulpicia glücklich miteinander verbracht haben, gelangten einige Forscher zu dem Schluss, es handle sich hier um eine consolatio für Calenus anlässlich des Todes seiner Frau268. Da in diesem Epigramm jedoch die typischen Elemente einer consolatio fehlen269 und Martial beim Tod Sulpicias in Anlehnung an die Tradition von Gedichten auf verstorbene Schriftsteller wohl direkter darauf hingewiesen hätte270, erscheint die These von der consolatio zweifelhaft, und es bietet sich wohl eher an, den fünfzehnten Jahrestag der Hochzeit als Anlass für die Komposition des Epigramms anzusehen. Überhaupt wird noch zu klären sein, inwieweit hier auf reale Ereignisse eingegangen wird271, und ob wir es nicht eher mit Anspielungen auf literarische Fiktionen zu tun haben, wie es auch die im Epigramm thematisierten, zu einem Trostgedicht nicht so recht passenden erotischen Details nahelegen. Doch kehren wir zunächst zum ersten der beiden Gedichte auf Sulpicia zurück. Martial preist die Dichterin als eine Art Lehrerin einer ars amandi für monogame Frauen272 und Männer (10,35,1-4); sie verfasse Poesie ohne mythologischem Schwulst (5-7) und thematisiere stattdessen sowohl legitime Liebschaften (8) als auch freche Scherze und (erotische) Spielereien (9).273 Ihr poetisches Ideal berührt sich demnach eng mit dem Martials274. Es folgt eine paradox anmutende literarkritische Bewertung (10: qui bene 267
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Vgl. die Vergangenheitstempora indulsit (3), peregit (3), notata est (4), vidit (7), vixisti (9). Thiele (1916), 240 Anm. 2; Kroll (1931); Parker (1992b), 94f.; Hallett (1992), 103f.; Richlin (1992b), 128; Hemelrijk (1999), 161; Lorenz (2002), 30 mit Anm. 105; Fröhlich (2004), 148; Watson (2005), 76; Jenkins (1981), 1f. zu 10,35 schlägt vor, dass 10,35 und 38 ursprünglich für eine postume Publikation von Sulpicias Werk durch Calenus komponiert wurden. Vgl. Courtney (1993), 361; Mattiacci (1999), 223; Heil (2004), 158. Vgl. Ov. Am. 3,9 über den Tod Tibulls (5f.: vates…Tibullus ardet in exstructo, corpus inane, rogo); Domitius Marsus Frg. 7 Courtney = 5 Fogazza über Vergil und Tibull; vgl. die Grabepigramme auf Dichter in Buch 7 der Anthologia Graeca: auf Homer z.B. AP 7,1-7; auf Erinna AP 7,11-13; auf Sappho AP 7,14-17; auf Alkman AP 7,18-19; auf Sophokles AP 7,20-22 und 36-37; auf Anakreon AP 7,23-33; auf Pindar AP 7,34-35; auf Aristophanes AP 7,38; auf Aischylos AP 7,39-40; auf Kallimachos AP 41-42; auf Euripides AP 7,43-51; auf Hesiod AP 7,52-55; auf Archilochos AP 7,69-71; auf Stesichoros AP 7,75; zu den hellenistischen Dichter-Epigrammen vgl. Gabathuler (1937). Duret (1986), 3219 hält eine reale Existenz des Calenus für unwahrscheinlich. Puellae bezieht sich hier wie auch in 7,88,3f. und 9,66,1 auf verheiratete Frauen, vgl. Jenkins (1981), ad loc. Vgl. Jenkins (1981), 8 ad loc.: „…the three terms of the tricolon are words that can be applied equally to sexual practice or erotic description”; vgl. ThLL 6,1,40,74ff.; 7,2,1889,33f.; 1890,64ff.; OLD, 509 s.v. deliciae 1b, 2b; 1053 s.v. lusus 1d. Zu Martials Polemik gegen mythologische Themen s. auch Kap. 3.2.2 u. 3.2.3. Vgl. 4,49; 5,53; 8,3; 9,50; 10,4; vgl. Citroni (1968), 278ff.; Jenkins (1981), 6 bemerkt zu 10,35,5ff.: „The Martialian flavour of this passage strongly suggests that it is his own contribution to the polemical defence of Sulpicia’s poetry“.
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aestimarit) Sulpicias als zugleich besonders verspielte (11: nequiorem) und sittsame (12: sanctiorem) Literatin275. Hier fühlt man sich wiederum an frühere Beteuerungen des Epigrammatikers erinnert, die ars unterscheide sich von der vita eines Dichters276. Sulpicias Scherze vergleicht Martial mit jenen Egerias gegenüber Numa (13), wodurch das paradoxe Nebeneinander von Sittenstrenge und Laszivität durch ein mythologisches Paar exemplifiziert wird277. In literarischer278, moralischer (16: esses doctior et pudica) und auch erotischer (17f.) Hinsicht übertreffe sie sogar die berühmte Sappho. Das zu Beginn des Epigramms entwickelte Motiv der univiritas wird dann am Ende durch Martials Beteuerung, Sulpicia würde ihrem Calenus sogar einem Gott gegenüber die Treue halten (19-21), aufgegriffen. Ein Charakteristikum ihrer Poesie, so darf man aus Martials Darstellung wohl schließen, bestand in den Reflexionen einer weiblichen Ich-Sprecherin über das Liebesverhältnis zum Ehemann, wobei diese probi amores von einer gewissen Offenheit bzw. Freizügigkeit in Sprache und Inhalt geprägt gewesen sein dürften (vgl. 9; 11). Joseph Farrell bemerkte zu diesem Epigramm, dass Martial weniger Sulpicia als Dichterin, sondern vielmehr ihre soziale Eigenschaft als univira hervorhebe, wodurch der Text sich von anderen Dichtergedichten unterscheide279. Geht man jedoch davon aus, dass das univiraIdeal in Sulpicias Poesie eine wichtige Rolle bei der Selbstcharakterisierung der Sprecherin spielte bzw. von der Dichterin möglicherweise in Zyklen variiert wurde, so mag es sich bei 10,35 durchaus um eine subtile Auseinandersetzung Martials mit dem literarischen Œuvre einer Zeitgenossin handeln. Dass dies über verschiedene Anspielungen auf ältere Texte, die Sulpicias Poesie beeinflusst haben dürften, geschieht, wurde bereits mehrfach beobachtet. So hat man etwa Catull als einen der Prätexte identifiziert: Der Anfang von (10,35,1-4) erinnert stark an Catull c. 45,21-24: Unam Septimius misellus Acmen / mavolt quam Syrias Britanniasque: / uno in Septimio fidelis Acme / facit delicias libidinesque280; das Ende (19-21) spielt offenbar auf c. 70 an: Nulli se dicit mulier mea nubere malle / quam mihi, non si se Iuppiter ipse petat. / dicit: sed mulier cupido quod dicit amanti, / in vento et rapida scribere oportet aqua281. Beide Gedichte thematisieren ewige Treue zwischen Lieben275 276
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Vgl. die Beschreibung Issas in 1,109,1f. (nequior…purior). Vgl. 1,4,8; 9,28,5f.; Catul. c. 16; Ov. Trist. 2,353f. Vgl. Richlin (1992b), 127 u. 134f.; Mattiacci (1999), 218f. Numa dient bei Martial sowohl als Beispiel für Sittenstrenge (9,27; 11,104) als auch dafür, die Dinge beim Namen zu nennen (11,15,10: quam sanctus Numa mentulam vocabat), vgl. Lorenz (2002), 31 mit Anm. 115. Vgl. 7,69,9f; Catul. c. 35,16f. Sapphica puella / Musa doctior; zu den Parallelen vgl. Hallett (1992), 107ff.; Mattiacci (1999), 220f. Farrell (2001), 71f. Vgl. Richlin (1992b), 129; Mattiacci (1999), 220. Vgl. Jenkins (1981), 15 ad loc.; Merriam (1991), 304; Hallett (1992), 105ff.; Catull c. 70 ist eine Abwandlung des Kallimachos-Gedichts AP 5,6 (= 25 Pf.), vgl. Kroll (1968), 242; Holzberg (2002a), 54f.
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den, wobei sich in c. 70 der Sprecher zu den Schwüren Lesbias, auf die Martial sich mit dem Jupiter-Exemplum bezieht, pessimistisch äußert. Während bei Catull durch die Stellung des zweiten dicit (3) die Unaufrichtigkeit der zuvor referierten Liebesbekundungen Lesbias suggeriert wird282, kehrt Martial, der mit dem exponierten frustra (10,35,19) diese Wortstellung nachzuahmen scheint, den Gedankengang bei Catull ins Gegenteil um: Anders als Lesbia ist Sulpicia ihrem Geliebten treu, und vielleicht dürfen wir die zuvor an Sappho gerichteten Worte hac magistra esses…pudica (10,35,15f.) auch als an Lesbia adressiert verstehen283. Neben Catull und Lesbia dient zudem das Paar Sappho und Phaon, wie wir es z.B. aus Ovids Heroides kennen (Epist. 15)284, als Kontrastfolie zu Sulpicia und Calenus: Die elegisch klagende Sappho vergleicht dort Phaons Schönheit mit derjenigen der auch von Martial angeführten Götter Apoll und Bacchus (Ov. Epist. 15,13f.). Wenig später behauptet sie, das ihr von der Natur verwehrte gute Aussehen könne durch ihr ingenium ausgeglichen werden: si mihi difficilis formam natura negavit, / ingenio formae damna repende meo (31f.: „Hat mir die launische Natur Schönheit verwehrt, dann wiege den Mangel an Schönheit durch meine Begabung auf“). Diese Aussage scheint Martial in 10,35,16 (esses doctior) auf freche Weise zu relativieren. Ovids Sappho befürchtet ferner, eine Göttin könne ihr Phaon rauben wie einst Aurora den Cephalus oder Phoebe den Endymion (Epist. 15,87-92), worauf das MartialEpigramm möglicherweise mit dem Schlussvers (21: erepto…Caleno) anspielt. Schließlich wirkt Martials Aufforderung an Sulpicias potenzielle Leserschaft (1; 3: omnes…legant) wie eine Umkehrung jenes Ratschlages, den der verbannte Ovid an die Dichterin Perilla richtet: pone, Perilla, metum; tantummodo femina nulla / neve vir a scriptis discat amare tuis (Trist. 3,7,29f.: „Lege die Furcht ab, Perilla: es soll nur ja weder Frau noch Mann von deinen Schriften lernen zu lieben“)285. Das companion piece zu 10,35 führt den intertextuellen Dialog mit elegischen Modellen fort und beginnt mit einem Verweis auf Properzens Elegie 2,15286; man vergleiche etwa die o-Anapher in 1,38,1-6 mit Prop. 2,15,1f.: O me felicem! O nox mihi candida! et o tu / lectule deliciis facte beate meis!287 In der glücklichen Liebesnacht, die Properz mit Cynthia verbringt, spielt auch die 282
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Dieselbe Anapher findet sich im Kallimachos-Epigramm AP 5,6,1-3: Ὤμοσε Καλλίγνωτος...ὤμοσεν. Zur Verbindung Lesbias mit Sappho und zu Sapphos wichtiger Rolle für Catulls Poesie vgl. Hallett (1992), 107; Holzberg (2000) und (2002a), 33ff. Die Echtheit des Briefes wurde von manchen Forschern angezweifelt; vgl. Dörrie (1975); Holzberg (1997), 79f. u. 93. Zu Sappho und Phaon vgl. die Testimoniensammlung bei Edmonds (1922), 140-181, insb. 145 u. 151ff. Vgl. Luck (1977), ad loc.; zur Dichterin Perilla vgl. Hemelrijk (1999), 143ff. Dazu ausführlicher Hallett (1992), 110ff.; vgl. Jenkins (1981), 4f. zu 10,38; Watson (2005), 76. Vgl. Hallett (1992), 110.
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Lampe eine wichtige Rolle: quam multa apposita narramus verba lucerna, / quantaque sublato lumine rixa fuit! (3f.: „Wie viele Liebesworte haben wir uns im Licht der Lampe gesagt, und wie heftig war der Liebeskampf, als das Licht erloschen war!“). Doch während hier die sexuellen Handlungen erst sublato lumine beginnen, ist die Lampe in Martials Epigramm auch Zeugin des „eigentlichen“ Geschehens (10,38,6f.: proelia…lucerna vidit). Der Elegiker wünscht sich, im Leben wie im Tod nur Cynthia zu gehören (2,15,36; vgl. Mart. 10,35,21) und versichert daraufhin quod mihi si secum talis concedere noctes / illa velit, vitae longus et annus erit; diesen Gedanken wandelt Martial offenbar in 10,38,9-11 ab288. Die hier angeführten Prätexte, auf die Martial in seinen beiden SulpiciaEpigrammen rekurriert, haben mehrere Forscher zu der Vermutung bewogen, dass Autoren wie Catull und die römischen Elegiker auch einen wichtigen Einfluss auf das Werk der Zeitgenossin Martials ausübten bzw. in ihren Texten evoziert wurden289. Unter Sulpicias Namen sind uns, abgesehen von einer höchstwahrscheinlich erst aus der Spätantike stammenden Satire mit dem Titel Sulpiciae conquestio290, durch ein Juvenal-Scholion, das der Humanist Giorgio Valla dem Probus zuschreibt 291, zwei Verse überliefert: Membrum mulieris (inquit Probus) intellegitur, cum sit membri mulieris velamen. Vel, ut alii, est instita, qua lectus intenditur, unde ait Sulpicia: si me cadurci restitutis fasciis nudam Caleno concubantem proferat292. Man versteht darunter [unter dem Begriff cadurcum] die Genitalien der Frau (sagt Probus), da es sich um die Hülle der weiblichen Genitalien handelt. Oder, wie andere meinen, es ist der Gurt, mit dem das Bett bespannt wird; daher sagt Sulpicia: „wenn [jemand/etwas] mich, nachdem die Bettgurte wieder repariert worden sind, nackt und mit Calenus schlafend zeigt.“
Der Scholiast bezieht sich auf den in Juvenals sechster Satire gebrauchten Begriff cadurcum (537), der offenbar ein double entendre enthält, da er sowohl das weibliche Geschlechtsteil als auch das Bettgestell bzw. die Gurte, auf denen die Matratze lag, bezeichnen kann293. Die Mehrheit der Forscher geht heute davon aus, dass die zitierten Verse tatsächlich von Sulpicia 288 289 290
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Vgl. Jenkins (1981), 7 ad loc. Hallett (1992), 114; Mattiacci (1999), 222ff.; Lorenz (2002), 32; Watson (2005), 77. Epigr. Bob. 37; der vollständige Titel lautet Sulpiciae conquestio de statu rei p. et temporibus Domitiani; vgl. Fuchs (1968); Duret (1986), 3220ff.; Merriam (1991), 303; Parker (1992b), 91f.; Courtney (1993), 361; Mattiacci (1999), 228ff. Die Zuschreibung der beiden Trimeter an Sulpicia erfolgte erst nach Valla durch Pithoeus, vgl. Parker (1992b), 89ff.; Mattiacci (1999), 233; Jędrzejczak (2004). Dies ist der Text nach Wessner (1931), 108; ihm folgen Morel/Büchner/Blänsdorf (1995), 334 und Courtney (1993), 361; vgl. Mattiacci (1999), 232. Vgl. Juv. 7,221.
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stammen, wobei man unter anderem das von Martial nicht erwähnte Metrum des Trimeters als Argument für die Authentizität heranzieht294. Aus dem Fragment geht jedenfalls deutlich hervor, dass eine sexuelle Handlung beschrieben wird295, und der Inhalt berührt sich eng mit dem, was Martial in 10,38,6-7 über den felix lectulus der Eheleute sagt. Auf der Basis des Fragments, der beiden Epigramme Martials sowie der spätantiken Zeugnisse, zu denen neben der pseudepigraphischen Sulpiciae conquestio auch Bemerkungen bei Ausonius296, Sidonius Apollinaris297 und Fulgentius298 gehören, hat man den Charakter von Sulpicias Poesie etwa folgendermaßen zu rekonstruieren versucht: Neben Gedichten im jambischen Trimeter verfasste sie möglicherweise auch solche in Hendekasyllabi und Choliamben299, wodurch sie in formaler Hinsicht in der Tradition von Catulls Dichtung stehen dürfte. Auch durch die Sprache und erotische Thematik berührte sich ihre Poesie mit Catull und Martial, wobei ihre Gedichte möglicherweise ebenfalls von einem satirischen Ton geprägt waren und sich vor allem durch Lebensnähe auszeichneten300. Anders als bei Catull und den römischen Elegikern stand offenbar das legitime Liebesverhältnis zu Calenus im Zentrum301, so dass die persona Sulpicias zwischen ehrbarer matrona und elegischer puella oszillierte302, was den besonderen Reiz ihres Werkes ausgemacht haben mag. Sie reflektierte somit als weibliches Subjekt über ein Liebesverhältnis zu einem männlichen Objekt und usurpierte damit eine bislang männliche Domäne der Literatur303 – vielleicht kann man auch sagen, dass die von den römischen Elegikern betriebene „womanufacture“304 bei ihr zur „manufacture“ umgekehrt wurde. Martials 294
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Vgl. Parker (1992b), 91; Mattiacci (1999), 233; skeptisch gegenüber der Authentizität äußert sich dagegen Lorenz (2002), 28f. Anm. 104. Vgl. Parker (1992b): „The text itself…gives a remarkably vivid picture of the bed and its underpinnings rucked up by the intensity of her and her husband’s lovemaking“; Jędrzejczak (2004), 92 spekuliert, dass bereits Sulpicia selbst mit der vom Scholiasten erklärten Doppeldeutigkeit des Begriffs cadurcum gespielt haben könnte. Cento nuptialis p. 139 Green. Carm. 9,261f. Myth. 1,4 (p. 4,1 Helm) und 1,23 (p. 13,3 Helm). Dies erschließt man aus den Metren, die die Sprecherin in der hexametrischen Sulpiciae conquestio aufzählt (4-6); vielleicht ist Martials Gebrauch des Hendekasyllabus als Anspielung auf die Rolle dieses Versmaßes in Sulpicias Dichtung zu verstehen; vgl. Parker (1992b), 91f.; Richlin (1992b), 134; Mattiacci (1999), 230. Zu spekulativ erscheint Richlins (1992b) These, das Fragment sei Teil einer Satire und der spätantike Verfasser der Sulpiciae conquestio (bei der es sich gar nicht um eine Satire handelt) wollte „recognizable details“ integrieren „to strengthen the impersonation“ (133); vgl. Jędrzejczak (2004), 95f.; gegen solche Spekulationen vgl. Mattiacci (1999), 229f. u. 237ff.; Lorenz (2002), 28f. Anm. 104. Ihn erwähnt auch die Sulpiciae conquestio (62). Vgl. Hemelrijk (1999), 162. Vgl. Parker (1992b), 93f. Den Begriff prägte Sharrock (1991); vgl. Holzberg (2009b), 19.
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Erwähnung der lucerna (10,38,7) sowie eine entsprechende Bemerkung bei Fulgentius305 deuten womöglich darauf hin, dass das aus Epigrammatik und Elegie bekannte Lampen-Motiv bei Sulpicia eine prominente Rolle spielte306. Ähnliches könnte auch für das von Martial und in der Sulpiciae conquestio erwähnte Paar Numa und Egeria zutreffen307. Aus dem kurzen Überblick zur Forschungslage dürfte deutlich geworden sein, dass die Rekonstruktionen zur Historizität der Sulpicia und des Calenus vornehmlich auf Spekulationen gründen. Auch die Tatsache, dass das Fragment in einem Metrum verfasst ist, welches von Martial nicht erwähnt wird, muss kein zwingender Beweis für die Authentizität sein 308. Bereits in den beiden Epigrammen scheint ein bewusstes Spiel mit der Grenze zwischen Realität und literarischer Fiktion enthalten zu sein309: Handelt es sich bei Sulpicia und Calenus um erfundene Figuren, dann soll der Leser glauben, es habe sie wirklich gegeben; waren es dagegen historische Zeitgenossen, dann wurden sie von Martial literarisch zu Protagonisten in einer elegisch-epigrammatischen Welt stilisiert, ähnlich wie es bei L. Arruntius Stella und seiner Violentilla oder bei Canius Rufus und Theophila zu beobachten ist310. Thematisch sind 10,35 und 38 eng in den Kontext des Buches311 eingebettet. Es wurde schon angedeutet, dass Martials Aussagen über die Realitätsnähe von Sulpicias Poesie sich mit dem programmatischen Gedicht 10,4 berühren. Bezüglich des Metrums und seines Umfangs korrespondiert 10,35 außerdem mit 10,21 auf Plinius den Jüngeren; ähnlich wie Sulpicia entspricht dieser einerseits den Erwartungen an einen ehrbaren Römer (14-18), ist andererseits aber seras ad lucernas (18)312 durchaus bereit, sich mit epigrammatischer Poesie zu befassen bzw. sogar selbst welche zu produzieren 313. Tatsächlich beschreibt
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Myth. 1,4 (p. 4,1 Helm). Watson (2005), 77 vermutet, dass Sulpicia Prop. 2,15,5-6 adaptierte und sich im Gegensatz zu Cynthia gerne nackt vor Calenus zeigte; vgl. Hallett (1992), 114; Richlin (1992b), 136 schlägt vor, lucerna als Subjekt zu proferat im Fragment zu ergänzen; vgl. Mattiacci (1999), 237; zum lucerna-Motiv in der erotischen Dichtung vgl. AP 5,4-5; 128; 180; 6,162; Catul. c. 61,111ff.; Ov. Ars. 2,703; AL 711; Mart. 11,104,5; 14,39,1; Ar. Ec. 118. Sulpiciae conquestio (67f.); vgl. Mattiacci (1999), 230f. Lorenz (2002), 29 Anm. 104 weist auf die Ähnlichkeit der Motive im Fragment und in Martials Epigrammen hin. Ähnlich Richlin (1992b), 129. Vgl. Mart. 6,21; Stat. Silv. 1 praef.; 1,2; Mart. 7,69. Vgl. dazu ausführlicher Kap. 4.3.1 und 4.3.3. Ob es sich dabei nun um die 2. Auflage von Buch 10 handelt, ist m.E. sekundär; vgl. zum Problem Holzberg (2002b), 140-152; Lorenz (2002), 219ff. Vgl. 10,38,7. Zur Dichtung des Plinius vgl. Prete (1948), 14-31; Gamberini (1983), 82-121; Hershkowitz (1995); Roller (1998); Auhagen (2003); Citroni (2003); Marchesi (2008), 53-96.
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Plinius den Charakter seiner Hendekasyllabi mit ähnlichen Termini wie sie Martial für Sulpicias Dichtung verwendet: at ego quasi ex aliqua peregrina delicataque merce lusus meos tibi prodo. Accipies cum hac epistula hendecasyllabos nostros, quibus nos in vehiculo in balineo inter cenam oblectamus otium temporis. His iocamur ludimus amamus dolemus querimur irascimur…temptamus efficere, ut alia aliis quaedam fortasse omnibus placeant (Epist. 4,14,1-3)314. Dazu bemerkt Jenkins: „The similarity of vocabulary suggests that Sulpicia’s verse was of a similar nature to that described by Pliny – light and epigrammatic“315. Auch das in 10,38 behandelte Motiv des glücklichen bzw. richtigen Lebens findet sich mehrmals in Buch 10316, genauso wie verschiedene Epigramme auf Ehepaare317. Als eine ehrbare univira, die in ihrer Dichtung dennoch von lasziver Sprache Gebrauch macht, ähnelt Sulpicia der Sprecherin des Grabepigramms 10,63 (8: una pudicitiae mentula nota meae)318 bzw. der Witwe Lucans, der laut 10,64 angeblich ebenfalls obszöne Verse verfasst haben soll319. Schließlich fällt es nach den für 10,35 und 38 konstatierten Anspielungen auf Catull auf, dass in 10,39 eine vetula namens Lesbia verspottet wird und der Sprecher sie fragt, ob sie denn unter Numa geboren sei (2)320. Dass die Dichterin Sulpicia – ungeachtet ihrer Historizität – in den Kontext der Epigramme Martials integriert ist, wird auch durch den Vergleich mit anderen Stellen, an denen ehrbare Matronen auftauchen, deutlich. Wie Patricia Watson in einer Untersuchung der betreffenden Gedichte gezeigt hat, wird das traditionelle Ideal der matrona bei Martial folgendermaßen modifiziert: „He does this by breaking down the boundaries between the meretrix and the matrona in the area of sexuality, making his ideal matrona familiar with artes meretriciae. When these are used in an adulterous relationship, the matrona is condemned, but within marriage, they are viewed in a more positive light.“321 Ob dies, wie Watson 314
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„Doch ich übergebe dir – gleichsam aus einer exotischen und feinen Warensammlung – meine Spielereien. Du wirst zusammen mit diesem Brief meine Hendekasyllabi erhalten, mit denen ich mir im Wagen, im Bad oder beim Gastmahl die freie Zeit angenehm vertreibe. In ihnen scherze ich, spiele ich, liebe ich, leide ich, klage ich, zürne ich…und versuche zu erreichen, dass manches manchen, einiges vielleicht sogar allen gefällt.“ Jenkins (1981), 8 zu Mart. 10,35; im selben Brief verteidigt Plinius die lascivia seiner Poesie mit Verweis auf gravissimi viri und die in c. 16 formulierte lex Catulli. Vgl. 10,23; 24; 44; 47; dazu gehören in weiterem Sinne auch die Epigramme, in denen Martial das hektische Leben in Rom mit dem Leben auf dem Land kontrastiert; vgl. dazu Merli (2006). 10,16; 41; 43; 63; 69; 71; 95. Zu 10,63 als Parodie auf ein Grabepigramm vgl. Weinreich (1928), 13 Anm. 22; Lorenz (2009), 360ff. Zu Lucan vgl. Kap. 7.3. Vgl. 10,35,14. Watson (2005), 86; zu Matronen als imaginierte Leserinnen vgl. 1,35; 3,68; 86; 11,16; allzu ehrbare oder prüde matronae werden dagegen aus der Welt der frivolen Epigramme verbannt, vgl. 5,2; 11,104; vgl. auch Lorenz (2002), 32ff.
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weiter vermutet, mit den Anschauungen der Zeitgenossen, die das traditionelle Ideal als obsolet empfanden, zusammenhängt, bleibt freilich eine offene Frage – Martials „Epigrammatisierung“ des matrona-Bildes könnte ebenso mit den von der Gattung geforderten Konventionen zu erklären sein. Wenn Martial betont, Sulpicia dichte von erlaubten Liebschaften, ist dies zugleich ein Hinweis darauf, dass sie sich anders als etwa Ovid nicht dem Vorwurf aussetzen muss, die Moral ihrer Leserinnen und Leser zu gefährden322. Mit ihren freizügigen Themen innerhalb dieses legitimen Rahmens323 lässt sie sich jedoch trotz ihres sozialen Status gut in den poetischen Diskurs der Epigramme integrieren. Ihre dichterischen Ideale entsprechen zudem denjenigen Martials, und so kann man das Gedichtpaar 10,35 und 38 nicht nur als eine Hommage Martials an eine Dichterkollegin auffassen, sondern – und dabei dürfte es sich um das eigentliche Ziel handeln – als Verteidigung bestimmter Charakteristika seiner eigenen Poesie und zugleich als Werbung für diese.
4.3.3
Elegie, Epigramm und Pornographie: Canius Rufus und Philaenis
Unter den von Martial in 1,61 aufgelisteten spanischen Literaten324 befindet sich auch Canius Rufus325, dessen Herkunftsort Gades mit folgenden Worten beschrieben wird: gaudent iocosae Canio suo Gades (9). Das Verbum gaudere sowie das Adjektiv iocosus implizieren bereits hier, dass es sich bei Gades um eine besonders ausgelassene Stadt handelt 326, die später von Martial insbesondere mit den dorther stammenden erotischen Tänzerinnen, den puellae Gaditanae, in Verbindung gebracht wird327. Es liegt nahe, zu vermuten, dass Martial dem Leser durch die Wortwahl in 1,61 suggeriert, den Charakter von Canius‘ literarischen Produkten mit dem seiner Hei-
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Vgl. Ov. Ars 1,31-34 mit Hollis (1977), 37f.; Trist. 2,212; 247-50; 303f.; Pont. 3,3,51f.; vgl. auch die oben bereits zitierte Elegie an Perilla Trist. 3,7. Durch ihre Kenntnis der artes meretriciae passt sie zu den in 1,34-35 erwähnten meretrices. S. dazu Kap. 2.1.2. Martial ist die einzige Quelle für die Existenz dieses Literaten; zu den einem Gannius zugeschriebenen Fragmenten (FPL³, 142-3) sowie der frühestens im 12. Jh. verfassten Epistula Valerii ad Rufum, die einen Autor namens Canius erwähnt, vgl. Lorenz (2006a), 317 Anm. 6; vgl. Elter (1908), 474; Mindt (im Druck). Zu gaudium als Umschreibung für den Koitus vgl. Tib. 1,5,39 und 2,1,12 mit Maltby (2002), 251 und 363 ad loc.; Belegstellen für iocari und iocus zur Bezeichnung erotischer Aktivitäten liefert Adams (1982), 161f. 14,203: Puella Gaditana: Tam tremulum crisat, tam blandum prurit, ut ipsum / masturbatorem fecerit Hippolytum („Ein Mädchen aus Gades: So reizend wackelt sie mit den Hüften, so verführerisch erregt sie einen, dass sie sogar den Hippolytus zum Onanisten gemacht hätte“); vgl. 6,71,2 Gaditanis ludere…modis; 3,63,5 cantica…Gaditana.
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matstadt zu assoziieren328. Wenig später taucht Canius erneut auf und wird mit einer Pan-Statue in Tarent329 verglichen (1,69): Coepit, Maxime, Pana quae solebat, / nunc ostendere Canium Tarentos 330. Die Frage, welche Gemeinsamkeiten zwischen Canius Rufus und dem tarentinischen Pan bestanden haben könnten, wurde von den meisten Forschern damit beantwortet, dass das von Martial in 3,20,21 als für Canius typisch erwähnte Lachen den Vergleich motiviert haben dürfte331. Viel näherliegender ist es jedoch anzunehmen, dass in 1,69 die in 1,61 begonnene Charakterisierung einer Stadt und ihres berühmten „Sohnes“ fortgeführt und variiert wird: Hielt man Gades in der Antike für besonders freizügig, so galt dies in nicht geringerem Maße für Tarent332; wenn diese Stadt einen Gott verehrte, der nicht zuletzt für seine Lüsternheit bekannt war333, dann dürfte sein von Martial imaginierter Ersatz durch Canius Rufus vor allem als freche Anspielung auf die literarischen Interessen des Zeitgenossen zu verstehen sein334. Ausführlicher als in Buch 1 befasst sich Martial mit Canius Rufus in Buch 3, das zwei Epigramme auf ihn enthält. Zuerst wendet sich der Sprecher an die Muse und fragt sie nach den Tätigkeiten des Freundes (3,20): Dic, Musa, quid agat Canius meus Rufus: utrumque chartis tradit ille victuris legenda temporum acta Claudianorum, an quae Neroni falsus adstruit scriptor? an aemulatur inprobi iocos Phaedri? lascivus elegis an severus herois? an in cothurnis horridus Sophocleis? an otiosus in schola poetarum lepore tinctos Attico sales narrat? hinc si recessit, porticum terit templi an spatia carpit lentus Argonautarum? an delicatae sole rursus Europae inter tepentes post meridiem buxos sedet ambulatve liber acribus curis? Titine thermis an lavatur Agrippae 328 329
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Vgl. Kappelmacher (1922/23), 216; Citroni (1975), 204; Lorenz (2006a), 318f. Carratello (1964), 126 vermutet, dass Martial die Pan-Statue mit der bei Cic. Ver. 2,4,135 erwähnten Satyr-Statue im Vestatempel in Tarent verwechselt. „Tarent, das den Pan zu präsentieren pflegte, zeigt seit neuestem, Maximus, den Canius.“ Groag (1899), Citroni (1975), 223f.; Howell (1980), 265. Vgl. Hor. Sat. 2,4,34 mit Muecke (1993) ad loc.; Juv. 6,297; Serv. ad Verg. Aen. 3,552; D.C. 39,5-10; Lorenz (2006a), 320. Brommer (1956); Ov. Met. 1,689-712. Vgl. Lorenz (2006a), 319: „…the epigram is a joke at Canius’ expense, who is presented as equally lecherous as Pan“. Duret (1986), 3231f. folgert aus der griechischen Form Tarentos, dass damit das Idiom des Canius symbolisiert sei und dieser als eine Art neuer Leonidas von Tarent gepriesen werde. Zu Bildnissen von Dichtern und Dichter-Kulten in antiken Städten vgl. Zanker (1995), 154ff. und passim.
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an inpudici balneo Tigillini? an rure Tulli fruitur atque Lucani? an Pollionis dulce currit ad quartum? an aestuantis iam profectus ad Baias piger Lucrino nauculatur in stagno? "Vis scire quid agat Canius tuus? ridet."
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Sag, Muse, was mein Canius Rufus treibt: Überliefert er auf Blättern, die überleben sollen, die Ereignisse aus der Zeit des Claudius, auf dass man sie lese, oder die, die ein trügerischer Schriftsteller dem Nero zuschreibt, oder wetteifert er mit den Scherzen des frechen Phaedrus? Oder ist er übermütig mit Elegien oder ernst mit Epen? Oder ist er schauderhaft im Tragödienschuh des Sophokles? Oder ist er müßig in der Dichterschule und erzählt Witze, die mit attischem Humor getränkt sind? Wenn er von da fortgegangen ist, betritt er dann die Säulenhalle des Tempels oder schlendert er lässig herum bei den Argonauten? Oder sitzt er nach Mittag wieder zwischen den von der Sonne erwärmten Buchsbäumen der reizenden Europa oder spaziert er frei von stechenden Sorgen herum? Badet er in den Thermen des Titus oder des Agrippa oder im Bad des schamlosen Tigellinus? Oder erfreut er sich am Landgut des Tullius und des Lucan, oder eilt er zum angenehmen Sitz des Pollio beim vierten Meilenstein? Oder ist er bereits ins glühende Baiae aufgebrochen und fährt langsam auf einem kleinen Boot im Lucrinersee? „Willst du wissen, was dein Canius treibt? Er lacht.“
Das Epigramm ist gerahmt von der Anrede des Sprechers an die Muse (1) und deren Antwort, die verbal auf den ersten Vers rekurriert (21). Der Rest des Gedichtes besteht aus einem Fragenkatalog, der zunächst verschiedene literarische Aktivitäten auflistet (2-9) und dann in eine topographische Aufzählung mündet (10-20). Der erste Abschnitt zerfällt wiederum in zwei gleich lange Teile, von denen der erste die Historiographie (2-4)335 und der zweite die Dichtung abdeckt (5-7), wobei die poetischen Gattungen in aufsteigender Hierarchie von den Fabeln des Phaedrus336 zur Tragödie führen337; die Verse 8-9 fungieren als eine Art Übergang zum zweiten Abschnitt des Epigramms. Die Liste der Gattungen dürfte, wie bereits beobachtet wurde, Horazens Epistel an Julius Florus (Epist. 1,3) zum Prätext haben338. Dort erkundigt sich der Sprecher nach dem literarischen
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Martial erwähnt hier die Regierungszeit des Claudius und Nero als Stoff; die Wendung falsus scriptor (4) bezeichnet wohl einen Autor, der verschiedene Taten dem Kaiser Nero fälschlicherweise zuschrieb, und nicht jemanden, der sein Werk unter Neros Namen zirkulieren ließ, vgl. Fusi (2006), 210ff. Es handelt sich hier um das einzige antike Testimonium zu Phaedrus; vgl. ausführlicher dazu Kap. 6.4. Der spezifische Charakter jeder Gattung wird durch die Adjektive improbus, lascivus, severus, horridus angegeben; vgl. Mattiacci (2008), 193. Vgl. Lorenz (2006a), 322.
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Treiben der studiosa cohors um Tiberius Claudius Nero339. Ähnlich wie Martial erwähnt auch Horaz eine Reihe von Gattungen: Ein Epos über die res gestae Augusti (7-8), Lyrik in der Tradition Pindars (9-13) und tragische Poesie (14)340. Gehen die Begleiter des Tiberius ihren poetischen Ambitionen im Rahmen ihrer politischen Pflichten nach341, so spielen sich die Aktivitäten des Canius gänzlich in der Sphäre des otium ab (3,20,8: otiosus; 11: lentus; 14: liber…curis; 20: piger)342. Dies wird noch deutlicher hervorgehoben im zweiten Teil des Fragenkatalogs, der sich stark an Catulls carmen 55 anlehnt. Der Sprecher der Polymetra ist dort auf der Suche nach Camerius und erkundigt sich nach dessen Liebschaften343; auch auf das unmittelbar folgende, von sexueller Thematik dominierte Gedicht c. 56 scheint Martial mit dem letzten Wort ridet (3,20,21) anzuspielen, denn Catull berichtet dort von einer res ridicula et iocosa344. Martials Canius wird hier, wie schon in Buch 1, implizit mit amourösen Aktivitäten in Verbindung gebracht, und dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man auch Ovids Ars amatoria als Referenztext in Betracht zieht. Die Orte, die Canius nach seinem Besuch in der schola poetarum aufsucht (11ff.), erinnern an jene Lokalitäten, die der magister amoris seinen Schülern für die Suche nach geeigneten puellae empfiehlt (Ars 1,67ff.)345. So evoziert z.B. Martials Frage an spatia carpit lentus Argonautarum (11) Ovids Anweisung tu modo Pompeia lentus spatiare sub umbra (Ars 1,67)346. Auch die Erwähnung der Bäder (15f.) und insbesondere 339
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Epist. 1,3,6: quid studiosa cohors operum struit? Tiberius Claudius Nero war 21 v.Chr. auf einer Mission nach Armenien unterwegs, um dort den ermordeten König Artaxias durch Tigranes zu ersetzen, vgl. Mayer (1994), 125. Neben Horaz dürfte auch Senecas Consolatio ad Polybium (Dial. 11,8,3) das Epigramm beeinflusst haben; Seneca ermuntert Polybius zur Beschäftigung mit Literatur und zählt dabei die Gattungen Epos, Geschichtsschreibung und Fabel auf; vgl. Thiele (1911), 546ff.; der intertextuelle Bezug zu Seneca würde 3,20 durch den Kontrast zwischen dem heiteren Canius und dem trauernden Polybius einen zusätzlichen Witz verleihen; vgl. Lorenz (2006a), 322; Mattiacci (2008), 195ff. Vgl. Mayer (1994), 132: „…H. was concerned with the poet’s function in society; he interests himself in these young men not simply because they are poets but because they are active in public life as well.“ Vgl. Lorenz (2006a), 322: „It is obvious that Martial’s Canius is a completely different sort of poet who can hardly stand the comparison to that studiosa cohors…“ Zu den intertextuellen Bezügen vgl. Lorenz (2006a), 323. Vgl. ebd. Abgesehen von Ovid besteht über die topographischen Angaben auch ein Bezug zu Mart. 2,14, wo Selius auf der Suche nach einer Einladung zur cena dieselben Orte frequentiert wie Canius, allerdings mit deutlich weniger otium: vgl. Europae inter tepentes…buxos (3,20,12f.) – Europes tepidae buxeta (2,14,15), spatia…Argonautarum (3,20,11) – Aesonides (2,14,6), thermis (3,20,15) – thermis (2,14,13), balneo (3,20,16) – balnea (2,14,11); die meisten der in 2,14 und 3,20 aufgezählten Orte befanden sich auf dem Campus Martius; Williams (2004) ad 2,14; vgl. Pailler (1981), 84f.; Neumeister (1991), 142-145; zu Anspielungen auf Ovids Ars amatoria in 2,14 vgl. Roman (2010), 99ff. Vgl. Prop. 4,8,75; Fusi (2006), 219.
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Baiaes (19f.) lassen an Orte für amouröse Begegnungen denken, wie sie Ovid in der Ars erwähnt347. Zudem enthält Martials Hinweis auf die porticus der Argonauten (11)348 sowie die Vorstellung von Canius, wie er langsam in einem Boot auf dem Lucrinersee dahintreibt, eine zusätzliche Pointe: Offensichtlich bringt Martial den Namen der Argonauten hier mit dem griechischen Adjektiv ἀργός („faul, träge“) in Verbindung und spielt darauf mit dem lateinischen Äquivalent lentus (11) bzw. piger…nauculatur (20) an349. Wie Sven Lorenz beobachtet hat, imaginiert Martial seinen Freund Canius in 3,20,2-7 zwar zunächst als Verfasser ambitiöser literarischer Werke, enttarnt ihn jedoch am Ende als jemanden, der statt Literatur nur humorvolle sales zu bieten hat, die er in der Dichterschule erzählt (9-10)350. Zumindest das kann er offenbar besonders gut, denn in 3,64 heißt es über ihn: Sirenas hilarem navigantium poenam blandasque mortes gaudiumque crudele, quas nemo quondam deserebat auditas, fallax Ulixes dicitur reliquisse.
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Ars 1,255-58: quid referam Baias, praetextaque litora Bais, / et quae de calido sulphure fumat aqua? / hinc aliquis vulnus referens in pectore dixit / “non haec, ut fama est, unda salubris erat” („Was soll ich Baiae anführen und den Baiae umsäumenden Strand und das Wasser, das vom heißen Schwefel dampft? Jemand, der von hier eine Wunde im Herzen nach Hause trug, sagte: ‚Nicht war das Wasser hier, wie man behauptet, gesund‘“). Zum zweifelhaften Ruf Baiaes in der Antike als unmoralischer Ort vgl. Cic. Cael. 27; Prop. 1,11; Mart. 1,62; vgl. Hollis (1977), 87f.; zu Bädern als Treffpunkte vgl. Ov. Ars 3,639f.: cum custode foris tunicas servante puellae / celent furtivos balnea multa iocos („Wo doch, während der Wächter draußen das Gewand des Mädchens bewacht, sich in vielen Bädern heimliche Späße treiben lassen“) mit Gibson (2003), ad loc. Sie wurde 25 v.Chr. von Agrippa errichtet, vgl. Fusi (2006), 219. Einen ähnlichen etymologischen Scherz treibt Martial auch in Epigramm 3,67, und da nur in diesen beiden Gedichten innerhalb des Korpus das Wort Argonautae vorkommt, soll der Leser möglicherweise einen Bezug zwischen den beiden Epigrammen herstellen. Fusi (2006), 432 weist zwar auf das etymologische Spiel in 3,67 hin, jedoch nicht auf das in 3,20; Martial verkehrt damit die konventionellere Ableitung des Wortes von griech. ἀργός („schnell“) ins Gegenteil und parodiert so die Pose eines Philologen: vgl. Serv. ad Verg. Ecl. 4,34: sane quidam Argo a celeritate dictam volunt, unde verso in Latinum verbo argutos celeres dici („Es wollen allerdings manche das Wort ‚Argo‘ von ‚celeritas‘ ableiten, weshalb nach der Übertragung des Wortes ins Lateinische die ‚arguti‘ als ‚celeres‘ bezeichnet werden“); Schol. in Stat. Theb. 5,475: ex navis nomine Argonautae sunt dicti, quae a velocitate Argo nominata est („Die Argonauten sind nach dem Namen des Schiffes bezeichnet, das nach der Geschwindigkeit ‚Argo‘ benannt ist“); vgl. Maltby (1991), 50f.; Grewing (1998c), 341. Mit der Etymologie von Argo spielt auch Catull zu Beginn von c. 64, vgl. Thomas (1982), 148; Gaisser (1995), 583-4. Lorenz (2006a), 321: „He is thus presented as show-off.“ Von den meisten Forschern wurde die Aufzählung der Gattungen in 3,20 für bare Münze genommen, vgl. Duret (1986), 3229 mit Anm. 444.
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non miror: illud, Cassiane, mirarer, si fabulantem Canium reliquisset. Die Sirenen, die heitere Plage der Seefahrer, den verführerischen Tod und grausamen Genuss, die niemand je verließ, nachdem er sie gehört hatte, soll der listenreiche Odysseus hinter sich gelassen haben. Das wundert mich nicht: Darüber, Cassianus, würde ich mich wundern, wenn er den fabulierenden Canius hinter sich gelassen hätte.
Das Epigramm ruft zunächst eine Szene aus dem Mythos in Erinnerung (14), die jedoch von der zeitgenössischen Realität, welche Martial in einem ἀπροσδόκητον schildert, überboten wird (5-6). Im Gegensatz zu den Sirenen wäre Canius mit seinen fabulae in der Lage, sogar einen schlauen Seefahrer wie Odysseus aufzuhalten351, und ihm zuzuhören ist laut Martial mit einer hilaris poena und einem gaudium crudele vergleichbar352. Dies ist in Anbetracht der tödlichen Wirkung des Sirenengesangs auf die Zuhörer353 freilich in erster Linie als Scherz über Canius zu verstehen; da den Sirenen in der antiken Literatur nicht selten eine ähnliche Rolle wie den Musen zugeschrieben wird354, dürfte implizit jedoch auch Canius‘ literarisches Talent gelobt werden. In Einklang mit sonstigen Aussagen Martials, denen zufolge die Realität mehr zu bieten habe als der Mythos 355, sind auch die fabulae des Canius aus epigrammatischer Perspektive höher einzuschätzen als der Gesang der Sirenen. Wenig später tadelt der epigrammatische Sprecher eine Gruppe träger Seeleute mit den Worten non nautas puto vos sed Argonautas (3,67,10) und treibt dabei dasselbe etymologische Spiel wie in 3,20. Das Epigramm 3,67 schließt die Reihe der „anständigen“ Gedichte in Buch 3 ab, denn mit 3,68 beginnt ein Abschnitt, der von Obszönitäten geprägt ist 356. Zu Recht weist daher Alessandro Fusi auf eine metapoetische Bedeutungsebene in 3,67 hin, auf der das träge Verhalten der Seefahrer der Langeweile bei Martials Rezipienten entspräche, die durch den „braven“ Charakter der ersten bei351
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Zu Odysseus und den Sirenen vgl. Od. 12,39-54 und 158-200. Cristóbal (1994), 68 vergleicht die Rolle des Canius in diesem Gedicht mit jener des Schwätzers in Horazens Satire 1,9. Das lateinische hilaris leitet sich von griech. ἱλαρος ab, was Martial auch durch gaudium (2) etymologisch aufgreift, vgl. Grewing (1998c), 344. Vgl. Hom. Od. 12,44-46: ἀλλά τε Σειρῆνες λιγυρῇ θέλγουσιν ἀοιδῇ, / ἥμεναι ἐν λειμῶνι· πολὺς δ‘ ἀμφ‘ ὀστεόφιν θὶς / ἀνδρῶν πυθομένων, περὶ δὲ ῥινοὶ μινύθουσιν („Die Sirenen / Sitzen auf grasigen Auen und wollen mit tönenden Liedern / Zauber verbreiten; doch liegen daneben in Menge an Haufen / Faulende Menschen, Knochen und schrumpfende Häute an ihnen“; metrische Übersetzung von Weiher [2003]). Vgl. die Stellen bei Zwicker (1927), 297ff.; vgl. Furius Bibaculus über Valerius Cato (Frg. 6 Courtney = 17 M; Suet. Gram. 11): Cato grammaticus, Latina Siren / qui solus legit ac facit poetas; Stat. Silv. 2,2,112ff. über Pollius Felix; vgl. Fusi (2006), 413f. Vgl. 4,49; 8,3; 10,4; vgl. Sp. 5; 6b; 7; 12; 15; 16b; 21; 26; 27; vgl. Cristóbal (1994), 68. S. Kap. 3.3.2, S. 93-6.
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den Buchdrittel entstanden ist357. Martial funktionalisiert somit die Metapher von der Seefahrt zunächst in 3,20 unter einem produktionsästhetischen Aspekt, indem er damit Canius‘ Trägheit beim Verfassen anspruchsvoller Literatur umschreibt, und bezieht das Bild dann auf rezeptionsästhetischer Ebene auf die Wirkung der fabulae des Canius auf den Zuhörer (3,64) sowie schließlich auf den Lektüreprozess in seinem eigenen Epigrammbuch (3,67). Somit ist die Gestalt des Canius Rufus eng in die Poetik des dritten Buches integriert. Hatten die bisher besprochenen Gedichte auf Canius Rufus den Forschern schon einiges an Rätseln aufgegeben, so gilt das erst recht für ein Epigramm in Buch 7 (7,69): Haec est illa tibi promissa Theophila, Cani, cuius Cecropia pectora dote madent. hanc sibi iure petat magni senis Atticus hortus, nec minus esse suam Stoica turba velit. vivet opus quodcumque per has emiseris aures; tam non femineum nec populare sapit. non tua Pantaenis nimium se praeferat illi, quamvis Pierio sit bene nota choro. carmina fingentem Sappho laudabat amatrix: castior haec et non doctior illa fuit. Das ist die von dir versprochene Theophila, Canius, deren Herz voll von der kekropischen Gabe ist. Die könnte mit Recht für sich der attische Garten des großen Greises beanspruchen, und nicht weniger würde die stoische Schar sie als eine der ihren haben wollen. Es wird leben jegliches Werk, das du ihr vorgelesen und dann veröffentlicht hast: So wenig weibisch und so exklusiv ist ihr Verstand. Nicht soll deine Pantaenis sich ihr allzu sehr voranstellen, mag sie auch dem pierischen Reigen wohlbekannt sein. Als Dichterin hätte sie Sappho, die Liebende, gelobt: Sittsamer ist sie und nicht gelehrter war jene.
Die hier erwähnte Theophila wurde von den meisten Interpreten bisher als Verlobte des Canius Rufus identifiziert, da man tibi promissa (1) im Sinne von „dir versprochen“ las358. Die biographistische Deutung dieses Gedichtes ging sogar so weit, dass Theophila als historische Figur in die Literaturgeschichte von Schanz und Hosius aufgenommen wurde359. Dass hier ein aktueller Anlass die Komposition des Epigramms motiviert haben mag, lässt sich heute natürlich ebenso wenig abstreiten wie beweisen. Daher erscheint es zweckmäßiger, nach der literarischen Funktion des Gedichtes zu fragen. Schon auf verbaler Ebene zeigt sich ein enger Bezug zwischen diesem Epigramm und seinen Kotexten in Buch 7, insbesondere 7,67-68 357
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Vgl. Fusi (2006), 428f.; verbal entsprechen sich etwa lassos (3,67,6) und lassa (3,68,11). Zur Metapher von der Schiffahrt im Zusammenhang mit dem Abfassen literarischer Werke vgl. Curtius (1967), 138-141. Vgl. Galán Vioque (2002), 396. Schanz/Hosius (1935), 545 und 851 Anm. 7.
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und 70360. Innerhalb dieser Sequenz dürfte es sich bei 7,69 um eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen literarischer Gattungen handeln, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Zunächst lässt sich tibi in Vers 1 auch als ein Dativ der handelnden Person auffassen und würde demnach „von dir“ bedeuten. Theophila wäre dann nicht die Verlobte des Canius, sondern eine fiktive Gestalt in der Art einer elegischen puella, die in einem von Canius angekündigten Gedichtbuch auftritt. Es wäre daher, wie Niklas Holzberg vorgeschlagen hat, denkbar, dass dieses Buch auf ein bereits publiziertes folgte, wo Pantaenis als Hauptprotagonistin agierte (8: Pierio…bene nota choro)361. Trifft diese Interpretation zu, dann wäre über das Motiv des Versprechens eines literarischen Werkes eine Brücke zurück zu 3,20 geschlagen, wo Martial seinen Freund als jemanden charakterisiert hat, der ambitionierte Projekte ankündigt. Eine Ambivalenz im ersten Vers zwischen der literarischen Figur Theophilas und ihrem (imaginären) biographischen Verhältnis zum Dichter ist von Martial mit dem doppeldeutigen tibi möglicherweise sogar absichtlich geschaffen. Dass Theophila mit attischer Begabung (2: Cecropia…dote) versehen ist362, erinnert an die in 3,20,9 erwähnten sales Attico lepore – offenbar bewunderte Martial am Werk des Canius besonders dessen attische Eleganz363. Als puella docta fungiert Theophila demnach als Inspirationsinstanz in ähnlicher Weise wie andere elegische Geliebte vor ihr364. Das Epigramm ist verbal und inhaltlich mit den Gedichten 7,67 und 7,70 auf die Tribade Philaenis365 verbunden, insbesondere durch die Wahl der Namen Theophila und Pantaenis366. Martial verspottet Philaenis in 7,67 unter Verwendung obszöner Begriffe 367 wegen ihres unweiblichen Verhaltens: Ihre sexuelle Begierde übertrifft die eines Mannes (1-3; 13-17), sie übt die Männern vorbehaltenen Sportarten aus (4-8) und kennt kein Maß bei Essen und Trinken (9-12). Unmittelbar darauf rechtfertigt sich Martial in 360 361
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Dazu ausführlich Holzberg (2006b). Holzberg (2006b), 153f. mit dem Hinweis auf die Abfolge Delia – Nemesis bei Tibull. Bereits Munro schlug vor, dass Canius über eine Pantaenis dichtete; vgl. Friedlaender (1886), I, 509 ad loc.; Hanslik (1949); Carratello (1964), 129; Galán Vioque (2002), 399 hält sie dagegen für eine real existierende Zeitgenossin des Canius. Auch hier spielt Martial mit der Ambivalenz von literarischer Fiktion und Hochzeit, da dos auch die Mitgift bezeichnet; vgl. Galán Vioque (2002), 396. Zum Attizismus als stilistische Tendenz vgl. Dihle (1992); Calboli (1997/99); Hose (1999). Vgl. andere mit attischer Eleganz assoziierte Literaten in Mart. 1,39,3 (Decianus); 4,23,6 (Bruttianus); 4,86,1 (Apollinaris). Vgl. Mart. 8,73; Holzberg (2006b), 154 sieht in 7,69,5-6 eine Anspielung auf Prop. 2,13,11-12. Frauen dieses Namens werden bei Martial auch in 2,33, 4,65, 7,70, 9,29, 9,40, 9,62, 10,22 und 12,22 verspottet; vgl. Burzacchini (1977). Zu den Bezügen vgl. Holzberg (2006b). 7,67,1: pedicat; 2: tentigine; 3: dolat; 14: fellat; 17: cunnum lingere.
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7,68 für seine lascivi libelli368, bevor er mit 7,70 ein weiteres obszönes Skoptikon folgen lässt. Es stellt sich nun die Frage, welche Funktion das Gedicht 7,69 innerhalb dieser Gruppe hat: Die gelehrte Theophila unterscheidet sich zwar von der Protagonistin in 7,67 und 70, sie wird hinsichtlich ihres Urteilsvermögens jedoch ebenfalls als untypische Frau (6: non femineum) bezeichnet, und der Vergleich mit Sappho (9-10), die in der antiken Biographie vor allem für ihre Liebe zu Frauen bekannt war, rückt Theophila indirekt in die Nähe der zuvor kritisierten Tribade 369. Da der Name Philaenis bei antiken Lesern Assoziationen zu jenem der Verfasserin eines erotischen Handbuches περὶ ἀφροδισίων370, geweckt haben dürfte, sahen sie möglicherweise eine Verbindung zwischen der Tradition der Gattung der sex-manuals und Martials obszöner Poesie. Die weitaus dezenter auftretende puella docta in 7,69 verkörpert dagegen die Konventionen der Liebeselegie, wo Obszönes niemals direkt ausgesprochen wird371; Martial stellt hier also zur Charakterisierung literarischer Gattungen zwei weibliche Personifikationen einander gegenüber372. Es lässt sich allerdings eine gewisse Abwehrhaltung Martials beobachten, was den Vergleich seiner Poesie mit reiner Pornographie betrifft. Immerhin wird Philaenis von ihm ja scharf als jemand kritisiert, der sexuelle Normen überschreitet. Eine ähnlich ablehnende Pose gegenüber pornographischen Texten nimmt der Sprecher auch in 12,43 ein, bevor er anschließend abermals einen Zeitgenossen für sein elegisches Werk lobt (12,44)373. In anderen Epigrammen, in denen Martial eine Philaenis auftreten lässt, ist diese ebenfalls Zielscheibe derber Skoptik. Wie Gabriele Burzacchini beobachtet hat, sind die Motive, derer sich Martial dabei bedient, auch im 368
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Damit ist eine ähnliche Abfolge gegeben wie im Gedichtpaar 1,34-35, vgl. Holzberg (2006b), 150. Holzberg (2006b), 155f.; zu Sappho in der antiken Biographie vgl. Dörrie (1975); Lefkowitz (1981), 36f.; MacLachlan (1997), 156ff. Athen. 8,335b; 5,220f; 10,457d; Polyb. 12,13,1; Herod. 1,5; Suda s.v. Ἀστυάνασσα, Δημοχάρης; Lucian. Am. 28; Pseudol. 24; Clem. Al. Protr. 4,61,2; Priap. 63,17ff.; vermutlich verbarg sich hinter dem Namen ein männlicher Verfasser, AP 7,345 (Aischrion) nennt Polykrates von Athen, bei dem es sich möglicherweise um den gleichnamigen Sophisten aus dem 5./4. Jh. v.Chr. handelt; vgl. Maas (1938); Gow/Page (1965), 3-5; Cautadella (1973) und (1974); Tsantsanoglou (1973); Degani (1976); Thomson Vessey (1976); Burzacchini (1977); Baldwin (1990); Parker (1992a); Galán Vioque (2001), 299ff. und (2002), 382f.; Holzberg (2006b), 152. Ein Papyrusfragment aus dem frühen 2. Jh. n.Chr. (P. Oxy. 2891) enthält den Beginn eines Werkes, das von einer Philaenis aus Samos, Tochter des Okymenes, stammen soll, vgl. Lobel (1972), 51-54. Zur Herkunft der Philaenis aus Samos vgl. AP 7,450 (Dioskorides) mit Galán Vioque (2001), 299ff. Dazu vgl. Holzberg (2009c). Obszöne Sprache war in der Alten Komödie, im Satyrspiel, Mimus, Jambus, Epigramm, Hendekasyllabus und in der Satire erlaubt, vgl. Ov. Trist. 2,353ff.; Quint. Inst. 10,1,9; Parker (1992a), 91; Henderson (1975); Richlin (1992a). Vgl. Holzberg (2006b), 156. Dazu vgl. Kap. 4.3.4.
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Philaenis-Fragment bzw. in den Testimonien über sie vorhanden374. So weigert sich der Sprecher mehrmals, Philaenis zu küssen (2,33 und 10,22), brandmarkt sie als vetula und lena (9,29), als lusca (4,65; 12,22) und fellatrix (9,40) und betont in 7,67 und 70 ihre aktive Rolle beim Geschlechtsverkehr. Das erotische Handbuch der Philaenis enthielt offenbar Abhandlungen περὶ πειρασμῶν („über Verführung“), über Schmeicheleien, περὶ φιλημάτων („über Küsse“) und περὶ σχημάτων συνουσίας („über Stellungen“)375 und ähnelte so in vielerlei Hinsicht der Ars amatoria Ovids, die vermutlich von dieser Art Literatur beeinflusst wurde 376. Setzte Martial bei seinen Rezipienten voraus, dass sie die Philaenis in seinen Epigrammen mit der berüchtigten Verfasserin des Handbuches assoziierten, dann charakterisierte er sie wohl bewusst als abstoßende Figur, bei der die Anweisungen aus dem erotischen „Ratgeber“ keinen Erfolg hatten, und parodiert damit den Inhalt dieser Lehren. Zudem fügt sich Martial mit seiner Darstellung der Philaenis als Tribade in den antiken Geschlechter-Diskurs ein; zur in der Antike herrschenden Einstellung gegenüber Verfasserinnen von pornographischer Literatur bemerkt Holt N. Parker: „No proper woman writes about sex; therefore, the writing is not by a woman. And if she does write, she’s not a proper woman. If there were any women in antiquity who wrote on sexual subjects, their identities have been taken away from them, their names made into pseudonyms, their gender made generic.”377 Was antike Kritiker an den sex-manuals störte, war wohl weniger der obszöne Inhalt an sich als die Tatsache, dass dieser aus einem weiteren Kontext, wie er etwa in Satire, Komödie, Jambus und Epigramm gegeben war, isoliert und zum Selbstzweck wurde; demnach betrachtete man diese Gattung insgesamt als zügellos378. Vor dem Hintergrund der epigrammatischen Tradition ist Martials Darstellung insofern bemerkenswert, als die hellenistischen Dichter Aischrion und Dioskorides die Autorschaft der Philaenis explizit in Frage stellen und versuchen, die Frau vom Vorwurf der Sittenlosigkeit zu befreien379. Während die griechischen Epigrammatiker bemüht sind, eine in der Antike verbreitete Ansicht richtig zu stellen, „korrigiert“ Martial mit seiner Skoptik auf Philaenis implizit die Meinung seiner Vorgänger innerhalb der Gattung. Handelte es sich bei Canius Rufus tatsächlich um einen Verfasser erotischer Poesie, dann dürfte er mit der Philaenis zugeschriebenen Abhandlung περὶ ἀφροδισίων sowie der antiken Diskussion um dieses Werk vertraut und wohl auch Martials Spiel mit diesem Diskurs zu goutieren in der 374 375 376
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Burzacchini (1977). Vgl. Lobel (1972), 51. Vgl. Cautadella (1974); Thomson Vessey (1976), 82; Parker (1992a), 94ff.; Holzberg (1997), 101. Parker (1992a), 93. Parker (1992a), 98. AP 7,345 (Aeschrion); 7,450 (Dioskorides).
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Lage gewesen sein. Immerhin haben Canius und Philaenis miteinander gemeinsam, dass ihre jeweilige Heimat – Gades bzw. Samos – mit Freizügigkeit und Laszivität assoziiert wurde380. Vielleicht stellt auch Martials Behauptung, Caniusʼ Theophila werde aufgrund ihrer Gelehrsamkeit sogar von Philosophenschulen begehrt (7,69,3-4), eine weitere Verbindung zu Philaenis her: Einige der antiken Aussagen über Philaenis werden von Athenaios den Philosophen Chrysippos (8,335), Klearchos von Soloi (10,457d-e) und Antisthenes (5,220f.) zugeschrieben; ihr Name fungierte in der philosophischen Diskussion offenbar mehrmals als negatives Exemplum im Zusammenhang mit Moralkritik381. Wenn Martial nun Philosophen erwähnt, die Canius‘ Theophila für sich begehren, enthält dies möglicherweise auch sexuelle Konnotationen 382, wodurch der Epigrammatiker jene strengen Gelehrten, die erotische Lehrbücher ablehnen, ins Lächerliche zieht.
4.3.4
Gute, schlechte und zurückhaltende Dichter: Sabellus, Unicus, Tucca und Mussetius
Wie bereits dargelegt wurde, distanziert sich Martial innerhalb seiner Spottepigramme auf Philaenis implizit von der Gattung erotischer Handbücher. In Buch 12 äußert er sich zu diesem Problem noch direkter, wenn er die literarischen Versuche des im Korpus mehrmals als Zielscheibe von Skoptik fungierenden Sabellus383 kritisiert (12,43): Facundos mihi de libidinosis legisti nimium, Sabelle, versus, quales nec Didymi sciunt puellae nec molles Elephantidos libelli. sunt illic Veneris novae figurae, quales perditus audeat fututor, praestent et taceant quid exoleti, quo symplegmate quinque copulentur, 380
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Zu Gades vgl. das auf S. 195f. Gesagte; zu Samos als Heimat der Philaenis vgl. AP 7,450 (Dioskorides); P. Oxy. 2891; Frauen aus Samos hatten den Ruf, sexuell besonders unersättlich zu sein, vgl. Plut. Mor. 303c; AP 5,207 (Asclepiades); Thomson Vessey (1976), 81; Baldwin (1990), 2f. Im philosophischen Diskurs wird ihr Werk mit der Gastronomia des Archestratus verglichen (Athen. 8,335b-336a; 10,457d) und der Inhalt dadurch auf die Ebene kulinarischer Dekadenz gestellt; vgl. Thomson Vessey (1976), 79; Parker (1992a), 93. Dies implizieren Wörter wie petere (7,69,3) und magnus (3); vgl. Holzberg (2006b), 154. Der Name der legendären Erfinderin antiker sex manuals, Astyanassa (vgl. Suda A 4261), dürfte sich auf eine Volksetymologie zurückführen lassen; vgl. Baldwin (1990), 2: „…her name looks too good to be true, the popular etymology being a-stuein, ‚she who cannot inspire erections‘“; vgl. Eustath. 849,53; AP 12,5 (Straton); möglicherweise soll man auch die in 7,69,4 erwähnte Stoica turba mit griech. stu/ein in Verbindung bringen, was dem Epigramm einen zusätzlichen Witz verliehe. Vgl. 3,98; 4,46; 6,33; 7,85; 9,19; 12,39; 43; 60.
205
qua plures teneantur a catena, exstinctam liceat quid ad lucernam. tanti non erat esse te disertum.
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Wortgewandte Verse über lüsterne Handlungen hast du mir, Sabellus, nun hinreichend vorgelesen. Derartiges kennen weder die Mädchen des Didymos noch die weichlichen Bücher der Elephantis. Dort finden sich neue Liebesstellungen, wie sie ein verworfener Lüstling wagt, was männliche Huren gewähren und verschweigen, in welcher Verschlingung fünf es miteinander treiben, wie noch mehrere von einer Kette zusammengehalten werden, was bei erloschener Lampe erlaubt ist. Das war es nicht wert, dich als beredt zu zeigen.
Passend zu seiner vom Sprecher der Epigramme wiederholt gebrandmarkten Eigenschaft als pathicus verfasst Sabellus auch versus libidinosi384 und geht bei der Beschreibung sexueller Handlungen sogar über das hinaus, was die Bücher einer Elephantis385 zu lehren wagen (4) und worauf sich berüchtigte Freudenmädchen verstehen (3) 386. Innerhalb der Epigramme im Korpus, die Sabellus als Literaten präsentieren, ist hier eine Art Höhepunkt erreicht: Hatte Martial den Dichterkollegen in 7,85 über den Unterschied zwischen den Anforderungen bei der Komposition eines Einzelgedichts und eines ganzen Buches belehrt und ihm in 9,19 die übertriebene Länge seiner Gedichte vorgeworfen, so muss er an ihm nun das fehlende Maßhalten bei der Behandlung erotischer Themen kritisieren387. Syntaktisch ist das Epigramm durch die Wortfolge quales…quales…quid…quo…qua...quid strukturiert, was vermutlich die formale Gestaltung einer derartigen Ars amatoria, die ihre Lehren in mehreren Abschnitten präsentiert, nachahmen soll388. Die Entrüstung des Sprechers über den Inhalt von Sabellus‘ Werk steht allerdings im Widerspruch zum Gebrauch der obszönen Sprache, die er zur Charakterisierung der erotischen Abhandlung verwendet389 ̶ man fühlt sich an andere Stellen erinnert, wo Martial sich für frivole Gedichte 384
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Zu Sabellus als pathicus vgl. 3,98; 6,33; 12,39. Als literarischer Stümper wird Sabellus auch in 7,85 und 9,19 verspottet. Dort ging es wohl u.a. um Gruppensex; die libelli der Elephantis sollen auch illustriert gewesen sein, vgl. Suet. Tib. 43; Priap. 4; Crusius (1905); Goldberg (1992), 73 ad Priap. 4; Plin. Nat. 28,81 erwähnt Elephantis neben Lais als Verfasserin einer Abhandlung über Abtreibung; vgl. Ov. Trist. 2,415. Möglicherweise handelt es sich bei Didymus um einen bekannten Zuhälter in Rom, vgl. Friedlaender (1886), II, 241 ad loc.; Janka (2002), 188 denkt dagegen aufgrund der engen syntaktischen Verschlingung von V. 3-4 an einen weiteren, ansonsten unbekannten Pornographen; griech. δίδυμοι (lat. gemini) umschreibt auch die testiculi eines Mannes, vgl. Adams (1982), 68; Bowie (1988), 209; Baldwin (1990), 3 schlägt den bei Sen. Epist. 88,37 erwähnten grammaticus Didymus vor, dessen 4000 Bücher auch erotische Themen abgehandelt haben sollen. Janka (2002), 187 Anm. 2 sieht in dem Motiv der Maßlosigkeit ein Verbindungsglied innerhalb dieses Mini-Zyklus. Zu den einzelnen Lektionen in Ars amatoria und Remedia amoris vgl. Holzberg (1997), 101-121; Volk (2002), 157-195. Fututor (6); exoleti (7); symplegmate…copulentur (8); vgl. Bowie (1988), 212.
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mit Epigrammen rechtfertigt, die ebenfalls obszöne Begriffe enthalten 390. Geht man davon aus, dass Martial seine poetischen Produkte von Pornographie mit reinem Gebrauchscharakter unterscheiden und eine bestimmte ästhetische Grenze wahren will391, so stellt sich doch die Frage, wie ernst man diesen Versuch zu nehmen hat und ob es sich vielleicht trotz des literarischen Anspruchs vor allem um ein Spiel mit der Tradition apologetischer Liebespoesie handelt. So verkörpert Sabellus in 12,43 und anderen Epigrammen in übertriebener Weise genau das, was Catull in c. 16 von seinen Kritikern vorgeworfen wird, denn seine Verse sind ebenfalls molliculi (Catul. c. 16,4; 8; vgl. Mart. 12,43,4); hatte Martial in deutlicher Anlehnung an Catull in 1,4 von seinen Lesern gefordert, ars und mores eines Dichters zu unterscheiden, so wird er selbst nun dieser Forderung als Rezipient der Verse des Sabellus in 12,43 nicht gerecht392. Sabellus‘ dilettantische Versuche als Erotodidakt stehen in Kontrast zu dem unmittelbar folgenden Lobgedicht auf Unicus (12,44), dem Martial sowohl verwandtschaftlich (1: sanguine) als auch literarisch (2: studio) nahezustehen vorgibt. Während sich Sabellus durch Maßlosigkeit auszeichnet, glänzt Unicus durch Zurückhaltung: Aus Liebe zu Martial verzichtet er darauf, sein volles poetisches Talent zu entfalten (3-4; 7-8), obwohl er es mit einem Catull oder Ovid aufnehmen könnte (5-6)393. In seinem unveröffentlichten Kommentar zu Buch 12 schlägt Bowie vor, dass in diesem Epigramm drei Gattungen in einer aufsteigenden Hierarchie aufgezählt werden394: Unicus wäre sowohl als Epigrammatiker (3-4)395, Elegiker (5-6) und sogar Epiker (7-8) begabt, hält sich aber aus pietas (2) gegenüber Martial zurück. Damit verkörpert Unicus das Gegenteil von Tucca, den Martial im selben Buch (12,94) als jemanden charakterisiert, der ihm in jeder Gattung, angefangen beim Epos, Konkurrenz macht und ihn so dazu zwingt, sich mit der am wenigsten angesehenen literarischen Form, der Epigrammatik, abzugeben: Scribebamus epos; coepisti scribere: cessi, aemula ne starent carmina nostra tuis. transtulit ad tragicos se nostra Thalia cothurnos: aptasti longum tu quoque syrma tibi.
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Vgl. 1,34-35; 3,68-69; 11,15; 16. Vgl. Spisak (1994b), 85f.; Obermayer (1998), 263f.; Janka (2002), 189; anders Lorenz (2002), 28 Anm. 103, dem zufolge in 12,43 das Missverhältnis von Form und Inhalt im Zentrum steht. Vgl. O’Connor (1998), 192f. Vgl. 8,18; 11,10. Bowie (1988), 216f. Martial bezeichnet sich als Unicus‘ frater (3), was neben ‚Bruder‘ auch so viel wie ‚Cousin‘ bedeuten kann; vgl. Cic. Att. 12,7,1; Ov. Epist. 8,28; 14,130; Met. 13,31; Curt. 6,10,24; Suet. Cal. 15,2; abgesehen davon dürfte v.a. die geistige Verwandtschaft eine Rolle spielen; Bowie (1988), 214f.
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fila lyrae movi Calabris exculta Camenis: 5 plectra rapis nobis, ambitiose, nova. audemus saturas: Lucilius esse laboras. ludo levis elegos: tu quoque ludis idem. quid minus esse potest? epigrammata fingere coepi: hinc etiam petitur iam mea palma tibi. 10 elige, quid nolis — quis enim pudor, omnia velle? — et si quid non vis, Tucca, relinque mihi. Ich war gerade dabei, ein Epos zu schreiben. Du fingst an, eines zu schreiben. Ich verzichtete darauf, damit nicht meine Gedichte mit deinen in Wettstreit treten. Es wandte sich meine Thalia zum tragischen Kothurn; ein langes Tragödien-Gewand hast auch du dir angelegt. Ich schlug die Saiten der Lyra, die Kalabriens Camenen pflegen; das nagelneue Plektrum entreißt du mir, du Ehrgeizling. Ich wage mich an Satirendichtung; du bemühst dich, ein Lucilius zu sein. Ich verfasse spielerische Elegien; du verfasst sie ebenfalls. Was kann noch geringer sein? Epigramme zu dichten fing ich an; ja sogar da begehrst du meinen Ruhm schon für dich. Suche aus, was du nicht willst – denn was für ein Anstandsgefühl ist es, alles zu wollen? – und wenn du irgendetwas nicht willst, Tucca, lass es mir übrig.
Im Rahmen dieser Martials Gattungswahl begründenden recusatio, die den literarischen Anspruch des Œuvres scherzhaft unterminiert396 und damit gut ans Ende der XII Epigrammaton libri passt, übernimmt Tucca die Rolle des den Dichter zurechtweisenden „Gottes“397. Der Katalog erfolglos begonnener Gattungen verläuft in einer Antiklimax vom Epos (1f.) über die Tragödie (2f.), die Lyrik (5f.), Satire (7) und Elegie (8) zu den epigrammata (9f.)398, und mit der Frage quid minus esse potest? (9) wird das Epigramm explizit als besonders minderwertige literarische Form innerhalb dieser Aufzählung gekennzeichnet399. Doch neben diesem qualitativen Aspekt kann minus auch quantitativ auf den Textumfang bezogen werden, den die verschiedenen Gattungen einnehmen, wodurch Martial die Epigrammatik als „Kleinstpoesie“ charakterisiert 400. Darin sieht David Banta wiederum den Stolz des Dichters auf die Qualität der Epigrammatik als Gattung verborgen, die „the greatest degree of parvitas possible“ zu erreichen imstande 396 397
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Dazu Banta (1998), 99-102. Zur Berufung des Dichters durch eine Gottheit vgl. Kallimachos‘ Aitienprolog und Apollohymnus; Verg. Ecl. 6; Prop. 3,3; Hor. Carm. 4,15; Ov. Am. 1,1; Ars 2,493ff.; Wimmel (1960), 135-148; vgl. Kap. 2.2.1, S. 23-6 zu Mart. 14,1. Indem Martial als Ursache für seine Gattungswahl hier nicht, wie in den meisten antiken recusationes üblich, den Auftrag durch eine Dichtergottheit anführt, sondern die lästige aemulatio mit einem (fiktiven) Zeitgenossen, wird er seinem Prinzip der lebensnahen Darstellung gerecht (vgl. 10,4). Zur Priamel-Struktur vgl. Banta (1998), 100. Das abnehmende Ansehen der einzelnen Gattungen in dieser Hierarchie spiegelt sich auch auf formaler Ebene wider: Epos, Tragödie und Lyrik (1-6) nehmen jeweils zwei Verse ein, Satire und Elegie dagegen nur je einen Vers (7-8). Vgl. Coffey (1976), 5.
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ist401. Seiner Ansicht nach fügt sich dieses Gedicht in die Reihe jener poetologischen Aussagen, in denen die vilitas der Epigramme als deren eigentliche Stärke gepriesen wird. Auf 12,94 folgt eine weitere Auseinandersetzung Martials mit pornographischer Literatur (12,95), und es hat den Anschein, dass die poetologischen Gedichte 12,43-44 (Pornographie – Gattungskatalog) und 94-95 (Gattungskatalog – Pornographie) als Paare chiastisch aufeinander bezogen sind402. Wurden sex-manuals in 12,43 noch entschieden zurückgewiesen, so vernehmen wir nun plötzlich Folgendes (12,95): Musseti pathicissimos libellos, qui certant Sybariticis libellis, et tinctas sale pruriente chartas Instanti lege Rufe; sed puella sit tecum tua, ne thalassionem indicas manibus libidinosis et fias sine femina maritus. Die äußerst unzüchtigen Büchlein des Mussetius, die sich mit den sybaritischen Büchlein messen können und die mit aufgeilenden Scherzen getränkten Seiten – lies sie, Instantius Rufus. Doch dein Mädchen soll bei dir sein, damit du nicht das Hochzeitsritual deinen lüsternen Händen auferlegst und ohne Frau zum Ehemann wirst.
Die Epigramme 12,94 und 95 sind über das Motiv der aemulatio verknüpft (12,94,2: aemula; 12,95,2: certant). Instantius Rufus soll die Büchlein des uns ansonsten unbekannten Mussetius403 nur im Beisein einer puella lesen, denn sonst würde ihn die Lektüre zur Masturbation anregen. Unter Martials Adressaten gehört er offenbar zu jenen, die sich für erotische Literatur – allem voran Martials eigene Poesie404 – besonders interessieren405. Es wirkt nach der strengen Haltung des Sprechers in 12,43 gegenüber Sabellus umso komischer, wenn nun die zuvor abgelehnte Pornographie einem Freund und Gönner als lesenswert empfohlen wird406 – damit ähnelt Martials persona jenen matronae, die an anderer Stelle zunächst vom Zielpublikum der 401 402
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Banta (1998), 100f. Allerdings ist die Überlieferung von Buch 12 nicht unproblematisch; inwieweit die Anordnung der Gedichte auf den historischen Dichter zurückgehen könnte, diskutiert Lorenz (2002), 234-238; Holzberg (2002b), 145f. Die Lesart Musseti ist von den Handschriften einhellig überliefert (einzig L liest Musetis); Lindsay druckt dagegen Musaei (Ital.); vgl. Bowie (1988), 401. 7,68; 8,73 (s. Kap. 4.2, S. 157-61); vgl. 8,50; 12,98. Zu Instantius Rufus als Patron Martials vgl. Nauta (2002), 64, 74, 80 u. 165f. In 12,98 feiert Martial ihn als Prokonsul der Provinz Baetica. Der Name Instantius dürfte zum Witz des Epigramms 12,95 insofern beitragen, als er sich von instare („drängen, zudringlich sein“) ableiten lässt und dieses Verbum bei Martial auch im sexuellen Kontext verwendet wird, vgl. 6,23,3; Bowie (1988), 404. Auf verbaler Ebene besteht ein Bezug zwischen de libidinosis in 12,43,1 und manibus libidinosis in 12,95,6.
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Epigramme ausgeschlossen, dann jedoch als begeisterte Rezipientinnen dieser Art von Poesie charakterisiert werden 407. Die moralisierende Haltung des Sprechers in 12,43 wird somit im companion piece 12,95 unterminiert, was in erster Linie auf das Amüsement des Lesers abzielen dürfte. Zu dem zweiten der beiden Gedichte bemerkt Obermayer: „Interessanterweise fehlt bei Martials Aufzählung der pathicissimi libelli die eigene Dichtung. Es hat den Anschein, als wolle er sein Werk nicht als ‚Vorlage‘ zu sexuellen Handlungen, sei es zu Masturbatio oder zu Geschlechtsverkehr, mißbraucht wissen“408. Diese Ansicht bedarf m.E. der Modifikation, denn dass die in 12,95 erwähnten Werke nicht mehr negativ konnotiert sind, ergibt sich auch aus den verbalen Verbindungen zwischen diesem Epigramm und dem programmatischen Gedicht 1,35, in dem Martial die Grundsätze seiner Gattung formuliert: lex haec carminibus data est iocosis / ne possint, nisi pruriant, iuvare (10f.)409. Auf die Ähnlichkeit zwischen der Instantius Rufus empfohlenen Lektüre und Martials eigenen Produkten wird nicht zuletzt durch die Anpreisung der „mit aufgeilenden Scherzen getränkten Seiten“ (3: tinctas sale pruriente chartas) verwiesen; ähnliche Worte gebraucht die Muse der Epigrammatik in 8,3 zur Beschreibung von Martials Poesie: at tu Romano lepidos sale tinge libellos (19)410. Es dürfte auch den mit Martials restlichen Büchern vertrauten antiken Rezipienten schwer gefallen sein, bei den in 12,95 gepriesenen Vorzügen des Mussetius nicht an jene von Martials Epigrammen zu denken. Wie in 12,43 sind auch in 12,95 Anspielungen auf ältere Texte, in denen erotische Dichtung gerechtfertigt wird, erkennbar: Einzig an dieser Stelle innerhalb des Korpus verwendet Martial das Wort pathicus (1) und ruft damit Catull c. 16 in Erinnerung, wo der Sprecher den Vorwürfen seiner Kritiker damit begegnet, dass er sie als pathici bezeichnet (2)411. Hatte Martial zuvor die pornographischen Verse des Sabellus mit den Büchlein der Elephantis verglichen, so stellt er nun das Werk des Mussetius, bei dem es sich möglicherweise abermals um einen (fiktiven) Zeitgenossen handelt, neben die sybaritischen libelli (2). Auch Ovid nennt innerhalb seiner Verteidigung der Ars amatoria unter diversen über sexuelle Themen schreibenden Autoren jemanden, der eine Schrift mit dem Titel Sybaritica verfasste 407 408 409
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Vgl. 3,68 und 86; 11,16. Obermayer (1998), 263. Auch die Erwähnung des Hochzeitsrituals (thalassio) und der damit verbundenen sexuellen Aktivitäten schlägt eine Brücke zurück zu 1,35,6-7. Sexuelle Stimulation durch die Lektüre erotischer Dichtung scheint auch das Ziel von Stratons Knabenmuse zu sein, wie etwa das Epigramm AP 12,208 demonstriert; Höschele (2010), 265 spricht von einer diesem Gedicht inhärenten „Masturbationsästhetik“. Sal hat sexuelle Konnotationen auch in 5,2,4 (salesque nudi); zu Martials literarkritischer Verwendung des Begriffs sal vgl. Spisak (1992), 100-108. Vgl. Catull. c. 57,2; 112,2. Auch sale pruriente (Mart. 12,95,3) rekurriert auf c. 16,9 (pruriat); vgl. Bowie (1988), 403.
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(Trist. 2,417)412. Wenn sich Martial bei seiner Empfehlung von Mussetius‘ Büchlein an Instantius ausgerechnet auf ein Werk beruft, das von Ovid im Kontext seiner Verteidigung gegenüber Augustus erwähnt und durch die Position innerhalb dieser Epistel – die Sybaritica schließen zusammen mit den Milesiaka des Aristides und Eubius‘ Werk über Abtreibung als Klimax die Liste griechischer Gattungen ab (Trist. 2,413-418)413 – als besonders brisant markiert ist, verleiht dies dem Epigramm einen zusätzlichen Witz.
4.3.5
Ein unverbesserlicher Päderast: Voconius Victor und Thestylus
Unter den Epigrammen, in denen Martial sich an einen Freund oder Gönner wendet und diesen um die Lektüre seiner nugae bittet, weist 7,29 eine bemerkenswerte Kompositionstechnik auf. Der Sprecher adressiert hier nicht direkt seinen Dichterkollegen Voconius Victor, sondern dessen puer delicatus Thestylus414, bei dem es sich offenbar um den Protagonisten im literarischen Werk des Victor handelt: Thestyle, Victoris tormentum dulce Voconi, quo nemo est toto notior orbe puer, sic etiam positis formonsus amere capillis et placeat vati nulla puella tuo: paulisper domini doctos sepone libellos, carmina Victori dum lego parva tuo. et Maecenati, Maro cum cantaret Alexin, nota tamen Marsi fusca Melaenis erat. Thestylus, süße Qual des Voconius Victor, bekanntester Knabe auf der ganzen Welt, so wahr du auch nach dem Ablegen deiner Locken begehrenswert bleiben und geliebt werden sollst und deinem Dichter kein Mädchen gefallen möge: Lege für eine Weile die gelehrten Büchlein deines Herrn zur Seite, während ich deinem Victor meine kleinen Gedichte vorlese. Auch dem Maecenas war, als Maro den Alexis besang, dennoch die dunkle Melaenis des Marsus bekannt.
Die Struktur dieses Epigramms ist auffallend symmetrisch: Die Anrede des Thestylus (1-2), der Wunsch für das Fortdauern seiner Attraktivität (3-4), die Bitte um Gehör für die Epigramme (5-6) sowie das literarhistorische Exemplum (7-8) nehmen jeweils ein Distichon ein. Martial stilisiert das poetische Verhältnis zwischen dem Dichter Voconius Victor und seinem puer delicatus zu einer realen Liebschaft, wie er es auch in Buch 8 am Bei412
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Sie stammte vermutlich von einem Hemitheon von Sybaris; Juv. 6,296; Lucianus Ind. 23; Pseudol. 3; vgl. Owen (1967), 227f., Luck (1977), 140 und Ingleheart (2010), 327 ad Ov. Trist. 2,417. Zu diesem Abschnitt vgl. Owen (1967), 226-8; Luck (1977), 140; Ingleheart (2010), 325ff. Vgl. 8,63,1; zu diesem Epigramm s. Kap. 3.3.1, S. 100f.
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spiel des hier genannten Vergil und seines Alexis praktiziert (8,55)415. Das Epigramm weist über die direkte Erwähnung dieser bukolischen Figur hinaus deutliche Anspielungen auf die zweite Ekloge auf, in der Corydon seine Liebe zu Alexis besingt: Martials Wunsch, Thestylus möge auch nach der depositio crinium416 als formonsus begehrt werden (3), evoziert den ersten Vers dieses Gedichts (Formosum pastor Corydon ardebat Alexin; vgl. 17: o formose puer), und der Name von Victors Knaben erinnert wohl nicht zufällig an denjenigen der ebenfalls in Vergils Gedicht auftretenden Magd Thestylis417. Auf den literarischen Charakter des Thestylus weist bereits implizit der Eingangsvers des Epigramms hin mit der Bezeichnung des puer als tormentum dulce; dieses Oxymoron variiert das aus der erotischen Poesie bekannte Motiv des γλυκύπικρος ἔρως418, welches möglicherweise auch in der Dichtung des Voconius Victor auftauchte. Darüber hinaus dürfte die Wendung auf eine Sentenz des Mimographen Publilius Syrus anspielen: O dulce tormentum, ubi reprimitur gaudium!419 Leider lässt sich der ursprüngliche Zusammenhang dieses Verses nicht mehr rekonstruieren, doch man liegt vielleicht nicht allzu falsch mit der Annahme, dass es sich bei gaudium um sexuelle Freuden handelte420. Der hier formulierte Gedanke erinnert an Stellen in Ovids Ars amatoria, wo es um Verzögerungstaktik beim Liebesspiel geht – von Heyworth (1992) auch treffend als Ars moratoria bezeichnet421; derartige Lehren wurden von Martial schon in Buch 1 auf ein homoerotisches Verhältnis angewendet: expectare iube: velocius ibo retentus. / Hedyle, si properas, dic mihi, ne properem (1,46,3f.)422. Trifft dies zu und war der Spruch des Publilius Syrus dem antiken Rezipienten aus ei415 416
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Vgl. 5,16; 8,73; zu 8,55 s. Kap. 7.2, S. 282-9. Zu diesem Übergangsritual vom puer zum vir und dem damit einhergehenden Ende der passiven Rolle des Knaben in homoerotischen Beziehungen vgl. Obermayer (1998), 94ff. Verg. Ecl. 2,10; 43; vgl. Theoc. 2,35; Galán Vioque (2002), 208. Vgl. Galán Vioque (2002), 209 mit Belegstellen. „Oh süße Qual, wenn die Freude zurückgehalten wird!“ Pub. Sent. O 5; vgl. Friedrich (1964), 206; Galán Vioque (2002), 209. S. Kap. 4.3.1, S. 172 mit Anm. 181. Der magister amoris empfiehlt seinen Schülern, beim Koitus dasselbe Tempo einzuhalten wie die Partnerin: Ars 2,717f.: Crede mihi, non est Veneris properanda voluptas / sed sensim tarda prolicienda mora („Glaub mir, beim Liebesgenuss darf man nichts übereilen, sondern muss ihn langsam und allmählich hervorlocken“); vgl. Ars 1,701: Saepe 'mane!' dixit, cum iam properaret Achilles („Oft sagte sie ‘warte!’, als ihr Achill schon enteilte“); 2,727f.: Ad metam properate simul: tum plena voluptas, / cum pariter victi femina virque iacent („Zum Höhepunkt eilt gemeinsam; dann erst ist das Vergnügen vollständig, wenn Mann und Frau zugleich überwältigt daliegen“). Dazu vgl. Heyworth (1992); Holzberg (1997), 18f. „Zu warten befiehl; schneller werde ich kommen, wenn man mich zurückhält. Hedylus, wenn du es eilig hast, sag mir, dass ich mich nicht beeilen soll.“ Auch bei Hedylus scheint es sich um ein dulce tormentum des Sexualpartners zu handeln, leitet sich sein Name doch von griech. ἡδύς („süß“) ab; vgl. Obermayer (1998), 74.
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nem ähnlichen Kontext bekannt, dann wurde er im ersten Vers des Epigramms indirekt auf die Vorzüge des Thestylus als Bettgefährte seines dominus aufmerksam gemacht. Auf literarischer Ebene fungiert der Knabe sowohl als materia für die Poesie des Voconius Victor als auch als dessen Inspirationsinstanz423. Wenn der Sprecher Thestylus bittet, er möge die Bücher des Herrn kurz zur Seite legen, so setzt dies voraus, dass der puer gerade dabei ist, daraus zu lesen bzw. seinem vates die Verse zu diktieren. Voconius Victor wird hier als Dichter vom Format eines Vergil gerühmt, doch noch wichtiger für Martial ist offenbar die Tatsache, dass er auch die Kapazitäten eines Maecenas besitzt, wie der abschließende Vergleich suggeriert (7f.). Martial selbst sieht sich in dieser idealisierten Konstellation augusteischer Zeit als Domitius Marsus und identifiziert seine Epigrammatik mit einer fusca Melaenis (8), von der dieser gedichtet haben soll. Darüber, ob es sich dabei um den Titel einer Gedichtsammlung oder um ein bestimmtes Epigramm gehandelt hat, lässt sich nur spekulieren, da unter den erhaltenen Testimonien zu Domitius Marsus einzig an dieser Stelle von Melaenis die Rede ist 424. Die Parallelisierung mit Vergils Alexis legt zumindest nahe, dass sie ebenfalls die Heldin eines Gedichtes oder einer Gedichtreihe war425. Ähnlich wie Alexis und Thestylus spielte sie womöglich die Rolle einer Inspirationsinstanz und animierte die Leserschaft dazu, ein biographisches Verhältnis zwischen ihr und Marsus zu konstruieren. Über den Charakter dieser Gedichte können wir, wie gesagt, leider nur Mutmaßungen anstellen, doch dass Martial in seinen Epigrammen ein Gegenstück zu jenen auf Melaenis sah, wird abgesehen von der expliziten Aussage in 7,29,8 auch auf formaler Ebene deutlich. In dem 7,29 vorausgehenden Gedicht 7,28 spricht Martial einen Freund namens Fuscus426 an, den er bittet, an den Saturnalien ein wenig Zeit für die Lektüre seiner Epigramme zu erübrigen. Die beiden Gedichte ähneln sich abgesehen von verbaler concatenatio in Struktur und Gedankengang, da Martial auch in 7,28 mehrere mit sic eingeleitete, gute Wünsche an Fuscus richtet (1-6; vgl. 7,29,3f.), bevor er ihn um die kritische Rezeption seiner ioci bittet (7f.). Der Erfolg dieses Ansuchens bleibt allerdings mäßig, denn Fuscus antwortet: Scire libet verum? res est haec ardua 423 424
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Vgl. Obermayer (1998), 47. Vgl. Fogazza (1981), 17 zu test. 8; Courtney (1993), 300; Schmidt (1997/99); Galán Vioque (2002), 213; Hollis (2007), 300f. Vgl. Fogazza (1981), 17; der Vergleich der fusca Melaenis mit Vergils Alexis erinnert an die 2. Ekloge, wo dem candidus Alexis ein niger Menalcas gegenübergestellt wird (15f.). Es handelt sich möglicherweise um Cornelius Fuscus, den Präfekten der Prätorianergarde unter Domitian, oder den bei Plin. Epist. 6,26 erwähnten Cn. Pedanius Fuscus Salinator; zu den verschiedenen Versuchen, diese Gestalt historisch zu identifizieren, vgl. zusammenfassend Galán Vioque (2002), 202. Martial spricht einen Fuscus auch in 1,54 an und widmet ihm in 6,76 ein Grabgedicht; vgl. Nauta (2005), 216f.
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(9)427; dies mag den Sprecher der Epigramme dazu motiviert haben, sich in seiner Anfrage beim nächsten Gönner stärkerer rhetorischer Mittel zu bedienen und ein literarhistorisches Exemplum zu bemühen. So verwandelt sich in der Poetik der Epigramme Martials die fusca Melaenis eines Marsus, die man vielleicht mit anderen elegischen und epigrammatischen puellae vergleichen kann428, in einen patronus namens Fuscus, dessen primäre Funktion darin besteht, die literarischen Versuche des Epigrammatikers zu fördern. Dies wäre ein weiteres Beispiel für Martials poetische Strategie, seine Prätexte zu banalisieren bzw. Elemente aus dem erotischen Diskurs seiner Vorgänger in den patronus-cliens-Diskurs zu verlagern429. Ähnliches lässt sich auch in Buch 11 beobachten: Eignen sich Konventionen der in 7,28 erwähnten und vielleicht auch noch in 7,29 als Rezeptionsrahmen vorauszusetzenden Saturnalien zum Vergleich mit Martials scherzhafter Poesie, so gilt dies auch für das Hochzeitsritual und den damit verbundenen Brauch der Fescennina iocatio430. In deutlichem Rückbezug auf 7,29 schildert Martial die bevorstehende Heirat des überzeugten Knabenliebhabers Voconius Victor (11,78): Utere femineis complexibus, utere, Victor, ignotumque sibi mentula discat opus. flammea texuntur sponsae, iam virgo paratur, tondebit pueros iam nova nupta tuos. pedicare semel cupido dabit illa marito, dum metuit teli vulnera prima novi: saepius hoc fieri nutrix materque vetabunt et dicent: "uxor, non puer, ista tibi est." heu quantos aestus, quantos patiere labores, si fuerit cunnus res peregrina tibi! ergo Suburanae tironem trade magistrae. illa virum faciet; non bene virgo docet.
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Übe dich in der Vereinigung mit Frauen, übe dich darin, Victor, und dein Schwanz soll eine ihm unbekannte Arbeit lernen. Der Brautschleier wird für die Braut gewoben, schon wird die Jungfrau bereit gemacht, schon wird die Jungvermählte deinen Knaben die Haare scheren. Analsex wird sie ein einziges Mal dem begierigen Ehemann gewähren, solange sie noch die erste Verwundung durch eine neuartige Waffe fürchtet. Dass dies häufiger geschieht, werden Amme und Mutter verbieten und sagen: „Die da ist deine Frau, nicht dein Lustknabe.“ Ach, welche Wallungen, welche Mühen wirst du erleiden, wenn eine Fotze etwas Fremdartiges für dich ist! Also überlasse den Anfänger
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„Willst du die Wahrheit wissen? Das ist eine schwierige Sache.“ Vgl. etwa Meleagers Heliodora in AP 5,24; 5,136; 137; 141; 143; 147; 148; 155; 157; 163; 165; 166; 214; 215; 12,147; 7,476 (= 41-56 GP); dazu Höschele (2010), 194-229. S. Kap. 3.1 zu Catull. Vgl. Catull c. 61,120; zu den bei einer Hochzeit gesungenen versus Fescennini vgl. Wissowa (1909).
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einer Lehrerin aus der Subura. Die wird dich zum Mann machen; nicht gut lehrt dich eine Jungfrau.
Die motivischen Ähnlichkeiten zwischen 11,78 und 7,29 lassen vermuten, dass der in 11,78,1 genannte Victor identisch ist mit dem (indirekten) Adressaten des früheren Gedichtes. Nachdem in 7,29 die Hoffnung formuliert wurde, Voconius Victor möge niemals eine puella seinem Thestylus vorziehen (4), kommt die nun stattfindende Eheschließung des Dichterkollegen mit einer virgo umso überraschender. Vielleicht soll der Leser nun denken, dass Thestylus die Gegenleistung für den vom Sprecher in 7,29 geäußerten Wunsch, der Knabe möge auch nach der depositio crinium der Favorit seines Herrn bleiben, nicht erbrachte und Voconius Victor Martials Epigramme nicht gelesen hat. Martial setzt hier den Charakter der sich als Knabenliebhaber präsentierenden persona in den Gedichten des Voconius Victor mit jenem des Autors gleich, wenn er diesem dazu rät, sich endlich an Sex mit Frauen zu gewöhnen431. Da Martial ars und vita miteinander überblendet, liegt es nahe zu vermuten, dass er seinem Freund indirekt auch zu einer neuen poetischen materia rät. Der epigrammatische Sprecher geriert sich hier einerseits als Lehrer einer heterosexuellen ars amatoria, andererseits usurpiert er die Rolle des Zeremonienmeisters eines Hochzeitsrituals und lehnt sich damit deutlich an Catulls Epithalamium c. 61 an432. Martials Epigramm enthält mehrere verbale Reminiszenzen an dieses Gedicht 433 und variiert einige der bei Catull entwickelten Motive: Innerhalb der Fescennina iocatio fordert der Sprecher von c. 61 den Bräutigam Manlius Torquatus auf, sich als verheirateter Mann künftig von Knaben fernzuhalten (134-136; 139-141)434: diceris male te a tuis unguentate glabris marite abstinere, sed abstine. … scimus haec tibi quae licent sola cognita, sed marito 431
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Seinen Rat an den Freund untermalt Martial mit epischem Pathos, wenn er in Vers 9 die Worte des Latinus an Turnus in Verg. Aen. 12,33 parodiert: …vides, quantos primus patiare labores („du siehst, welch große Mühsal du zuerst ertragen musst“); auch der Vers bei Vergil stammt aus einem Kontext, in dem Hochzeit thematisiert wird, nämlich diejenige Lavinias mit Turnus bzw. Aeneas; zur Anspielung auf Vergil an dieser Stelle vgl. Kay (1985), 235 ad loc.; Mindt (im Druck). Zu den Anspielungen auf Catul. c. 61 vgl. Kay (1985), 233f.; Obermayer (1998), 132 Anm. 170; zur Charakterisierung der persona in Catulls Epithalamium vgl. Holzberg (2002a), 116ff. Complexibus (1; vgl. c. 61,105: complexum), flammea (3; vgl. c. 61,8; 115), virgo paratur (3; vgl. c. 61,20: nubet…virgo; 77: virgo adest), tondebit pueros (4; vgl. c. 61,132: tondet os), nova nupta (4; vgl. c. 61,91; 92; 96; 106; 113), cupido (vgl. c. 61,55: cupido…aure; 197 cupis), materque (7; vgl. c. 61,58f.: a gremio…matris). Vgl. Thomson (1997), 358 ad loc.
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ista non eadem licent. Man sagt, du könntest dich nur schlecht von deinen unbehaarten Knaben fernhalten, salbenduftender Ehemann, doch halte dich fern! […] Wir wissen, dass du nur das kennst, was erlaubt ist, doch einem Ehemann ist ebendies nicht mehr erlaubt.
Insbesondere diesen Abschnitt scheint Martial mit seinem Gedicht zu evozieren, wobei er dem Ehemann wie Catull von Knabenliebe abrät, dabei jedoch vor allem die für Victor mühsame Metamorphose vom pedico zum fututor435 ins Zentrum stellt. Auch die an die nova nupta gerichtete Mahnung Catulls, dem Bräutigam seine sexuellen Wünsche nicht zu verweigern, da er seine Befriedigung sonst anderswo suche (c. 61, 144ff.), greift Martial mit viel expliziteren Worten auf: pedicare semel cupido dabit illa marito (5). An diesem Epigramm wird deutlich, wie Martial sein wichtigstes literarisches Vorbild in Hinblick auf Obszönität und Direktheit zu übertreffen versucht. Der Dichter Voconius Victor bleibt für uns eine schwer zu fassende Figur und es lässt sich nach wie vor nicht eindeutig festlegen, ob es sich bei ihm um eine real existierende Person oder eine erfundene Gestalt handelt. Die Analyse der beiden Epigramme hat zumindest ergeben, dass Martial darin insbesondere auf seine wichtigsten Gattungsvorbilder, Domitius Marsus und Catull, rekurriert. Handelte es sich bei Victor um einen historischen Zeitgenossen Martials, dann dürften diese beiden älteren Autoren auch auf sein literarisches Werk Einfluss ausgeübt und er sich in einer ähnlichen Gattungstradition bewegt haben wie Martial. Leider können wir das poetische Spiel, das dieser mit den Texten seines Kollegen treibt, nur mehr bruchstückhaft nachvollziehen. In jedem Fall handelt es sich bei 11,78 um eine freche epigrammatische Abwandlung eines Epithalamiums.
4.3.6
Nerva, der neue Tibull
Innerhalb des an Domitian gewidmeten achten Buches versucht Martial wiederholt, einen Bezug zwischen seiner Epoche und jener des Augustus herzustellen436. Hatte sich der Epigrammatiker in 8,55 mit dem Problem auseinandergesetzt, dass zur Zeit der Flavier ein Dichter vom Format eines Vergil nicht vorhanden sei437, so erfahren wir wiederum aus 8,70, dass mit dem späteren Kaiser Nerva438 zumindest ein neuer Tibull existiert:
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Vgl. Obermayer (1998), 132 u. 27. Zur Wandlung vom pedico zum fututor vgl. 6,33; 11,87; AP 5,19 (Rufin); 208 (Meleager); 12,41 (Meleager); vgl. Grewing (1997), 239f. Vgl. Henriksén (2002); Canobbio (2005); Nauta (2007); s. Kap. 4.1. und 7.2. Dazu ausführlicher Kap. 7.2. Abgesehen von 8,70 und 9,26, wo seine literarischen Ambitionen thematisiert werden, taucht Nerva mehrmals in seiner Rolle als Kaiser auf: 11,2; 4; 7; 12,6.
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Quanta quies placidi tanta est facundia Nervae, sed cohibet vires ingeniumque pudor. cum siccare sacram largo Permessida posset ore, verecundam maluit esse sitim, Pieriam tenui frontem redimire corona contentus famae nec dare vela suae. sed tamen hunc nostri scit temporis esse Tibullum, carmina qui docti nota Neronis habet. So groß wie seine Gelassenheit ist auch die Redegewandtheit des sanften Nerva, doch es hält sein Talent und seine Kräfte das Anstandsgefühl in Schranken. Obwohl er die heilige Permessis austrinken könnte mit einem tiefen Zug, wollte er doch lieber, dass der Durst bescheiden sei, und war zufrieden, die pierische Stirn mit einem schmalen Kranz zu umwinden und seinem Ruhm nicht die Segel zu spannen. Dass er dennoch der Tibull unserer Zeit ist, weiß, wer die Gedichte des gelehrten Nero kennt.
Martial preist Nerva als einen Dichter, der trotz seines herausragenden Talents darauf verzichtet, große Werke zu verfassen439, und stattdessen Kleinpoesie schreibt440. Die Wahl dieser Form durch Nerva wird mit einem Akt der Askese verglichen: Sein Anstandsgefühl441 muss seine Kräfte und sein ingenium zügeln (2), und er gibt sich damit zufrieden, aus dem Musenquell nur einen kleinen Schluck zu nehmen (4). Durch das Motiv des Verzichtens auf literarischen Ruhm korrespondiert dieses Epigramm mit 8,18, wo Cerrinius davon Abstand nimmt, ein Vergil auf dem Gebiet der Epigrammatik zu sein 442. Anders als Cerrinius scheint Nerva jedoch tatsächlich mit einem Augusteer zu wetteifern, wie Martial unter Hinweis auf ein Diktum Neros443 betont: dem Elegiker Tibull. Die Formulierung
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V.3f. siccare sacram largo Permessida…ore; das Enjambement, durch das sich die Metapher vom Austrinken der Quelle über zwei Verse erstreckt, unterstreicht die Vorstellung von einem großen Schluck. V.4 verecundam…sitim; 5 tenui...corona. Auf formaler Ebene wird durch die Wortstellung von tenui frontem redimire corona das Bild vom Kranz, der sich um das Haupt legt, nachgezeichnet. M.E. steht hier nicht, wie Schubert (1998), 299f. und Schöffel (2002), 584f. vermuten, die Vorstellung von einem Nerva im Zentrum, der gänzlich auf die Publikation dichterischer Werke verzichtet und nur mehr Literaturkritik betreibt. Vielmehr lese ich das Epigramm als eine Art recusatio, in der Nervas Wahl der kleinen Gattung gerechtfertigt wird. So weist Schöffel (2002), 587ff. ad 8,70,3-5 auch auf die Assoziation von os largum mit dem Epos und verecunda sitis und tenuis corona mit Kleinpoesie hin; zu Nerva als Verfasser erotischer Poesie vgl. Plin. Epist. 5,3,5; zu seinem rhetorischen Talent vgl. ders. Epist. 10,8,1. Schöffel (2002), 585 zu 8,70 weist auf die Nennung dreier „römischer Kardinaltugenden“ hin, die Nerva zueigen sind: pudor (2), verecundia (4) und modestia (6); Pitcher (1990), 87 macht auf Parallelen zwischen der Darstellung Nervas und Domitians aufmerksam. Dazu ausführlicher Kap. 3.2.2, S. 80-3. Nero hat Martial zufolge Nervas Talent in einem seiner Gedichte gelobt; auch in 9,26,9f. wird Nero als ein Bewunderer des literarischen Urteils des Nerva dargestellt;
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nostri…temporis (7) verweist auf die Feststellung des Flaccus in 8,55 zurück, dass es in der Gegenwart (1: temporibus nostris) an einem ingenium Maronis fehle (3f.); man gewinnt somit den Eindruck, als wolle Martial seinem Adressaten aus dem früheren Epigramm mitteilen, zur Zeit sei zwar noch kein neuer Vergil vorhanden, dafür aber ein neuer Tibull. Unter Domitian gibt es also offenbar doch talentierte Verfasser von Kleinpoesie, zu denen laut Martial neben ihm selbst auch Cerrinius und Nerva gehören. Dass letzterer für die von Martial thematisierte querelle des anciens et des modernes444 funktionalisiert wird, liegt auch in Anbetracht der Juxtaposition von 8,70 mit 8,69 nahe: Miraris veteres, Vacerra, solos nec laudas nisi mortuos poetas. ignoscas petimus, Vacerra: tanti non est, ut placeam tibi, perire. Du bewunderst nur die alten, Vacerra, und lobst ausschließlich die toten Dichter. Du magst verzeihen, bitte, Vacerra: So viel ist es mir nicht wert, zu sterben, nur um dir zu gefallen.
Mit Umfang und Inhalt entspricht dieses Epigramm dem Gedicht 8,63, wo es ebenfalls um das Verhalten eines Rezipienten geht445. Während es sich in 8,63 jedoch um einen Liebhaber von Dichtern wie Martial handelt, muss sich der Epigrammatiker in 8,69 mit einem Gegner auseinandersetzen. Die unterschiedlichen Versmaße dürften dabei die Haltung des Sprechers zum jeweiligen Leser formal unterstreichen: Das elegische Distichon von 8,63 passt zur als positiv bewerteten Liebe des Rezipienten Aulus zu den deliciae vatum, während der Hendekasyllabus in 8,69 den Spott auf einen Gegner unterstreicht446. Das Thema von 8,69 knüpft eng an die Reflexionen des Horaz in Epistel 2,1 an, wo ebenfalls die Ablehnung moderner Dichter durch das römische Publikum problematisiert wird 447. Martial scheint mit dem ersten Vers sogar bewusst auf den Brief an Augustus anzuspielen, denn dort heißt es im Zusammenhang mit der Kritik des Dichters am fehl-
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vgl. Schubert (1998), 300f.; Henriksén (1998/99), I, 140 zu 9,26; Schöffel (2002), 591 ad 8,70,8. Die Verteidigung der literarischen Produktion der eigenen Zeit gegenüber Bewunderern allein der Werke aus der Vergangenheit findet sich auch bei Horaz, Ovid, Plinius d. J. und Tacitus, vgl. Hor. Epist. 2,1,34ff.; Ov. Ars 3,121-7; Plin. Epist. 5,17,6; 6,21,1; Tac. Ann. 3,55; vgl. Schöffel (2002), 580f. zu 8,69; zu der Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Modernisten in der frühen Prinzipatszeit vgl. ausführlich Döpp (1989); Sullivan (1991), 108f. Zu 8,63 s. Kap. 3.3.1, S. 100f. Der Name des Gegners dürfte zudem sprechend sein, da er so viel wie „Holzklotz“ bzw. „Tölpel“ bedeutet, vgl. Schöffel (2002), 581 zu 8,69. Zu Hor. Epist. 2,1 vgl. Rudd (1989), 1-12; 75-122; Holzberg (2009a), 205-210, der auf die enge Verbindung zwischen Epist. 2,1 und 1,20 und somit auch zwischen der Person der Kaisers und der des Dichters hinweist (206).
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geleiteten Geschmacksurteil des Volkes (Epist. 2,1,64f.): Si veteres ita miratur laudatque poetas / ut nihil anteferat, nihil illis comparet, errat448. Die in 8,69 anzitierte querelle des anciens et des modernes erinnert zudem an Epigramm 5,10, in dem Martial ebenfalls die Vernachlässigung zeitgenössischer Autoren durch ihr Publikum beklagt. Nach der Konstatierung dieses Zustandes folgt sowohl nach 5,10 (5,11-12 über Stella) als auch nach 8,69 jeweils ein Epigramm, das geradezu als Widerlegung der Ansicht verbohrter Traditionalisten einen besonders talentierten zeitgenössischen Verfasser von Kleinpoesie lobt449. Das zweite Epigramm, in dem wir von Nervas poetischen Ambitionen erfahren, rückt stärker seine Rolle als Literaturkritiker in den Vordergrund (9,26): Audet facundo qui carmina mittere Nervae, pallida donabit glaucina, Cosme, tibi, Paestano violas et cana ligustra colono, Hyblaeis apibus Corsica mella dabit: sed tamen et parvae nonnulla est gratia Musae; appetitur posito vilis oliva lupo. nec tibi sit mirum modici quod conscia vatis iudicium metuit nostra Thalia tuum: ipse tuas etiam veritus Nero dicitur aures, lascivum iuvenis cum tibi lusit opus.
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Wer dem redegewandten Nerva Gedichte zu schicken wagt, der wird dir bleiche Glauzionsalbe schenken, Cosmus, dem Einwohner von Paestum wird er Veilchen und weißen Liguster, den Bienen von Hybla korsischen Honig geben. Dennoch besitzt auch die kleine Muse so manchen Reiz; man greift zur einfachen Olive, auch wenn der Seebarsch aufgetischt ist. Es soll dich nicht verwundern, dass meine Thalia, wissend um ihren mittelmäßigen Sänger, dein Urteil fürchtet. Selbst Nero, so sagt man, hatte sogar Ehrfurcht vor deinem Ohr, als er dir als junger Mann sein frivoles Werk vorstellte.
Einem Dichter wie Nerva poetische Produkte zu schenken, wäre ähnlich einfallsreich, wie Eulen nach Athen zu tragen, was Martial durch eine Reihe von Exempla illustriert (2-4)450. In Anbetracht der Tatsache, dass Nerva 448
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„Wenn sie [sc. die Menge] die alten Dichter so sehr bewundert und lobt, dass sie nichts über diese stellt, nichts mit ihnen vergleicht, dann macht sie einen Fehler.“ Zu 5,10-12 s. Kap. 4.3.1, S. 175f. Zu den kosmetischen Produkten des Cosmus, die bei Martial häufiger erwähnt werden, vgl. Henriksén (1998/99), I, 141; der Name könnte als eine Art Markenname (griech. κόσμος „Schmuck, Zierde“) gebraucht worden sein, vgl. Kay (1985) ad Mart. 11,8,9; Martials zahlreiche Hinweise auf Cosmus wurden sogar dahingehend gedeutet, dass es sich um eine Art Werbekampagne handelte und Cosmus als „Sponsor“ Martials fungierte, vgl. Ball (1906/07), 168f.; die Blütenpracht von Paestum war sprichwörtlich, und der Honig vom Berg Hybla auf Sizilien wurde, im Gegensatz zu jenem aus Korsika, als besonders wertvoll angesehen, vgl. Henriksén (1998/99), I, 141f.
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in 8,70 mit Tibull verglichen worden war und sich der Rezipient bei der Lektüre von 9,26 noch gut daran erinnern dürfte, sticht die Erwähnung der hellen Farbe der Salbe (2: pallida…glaucina) sowie des Ligusters (3: cana ligustra) ins Auge: Damit evoziert Martial vermutlich Tibulls Vornamen Albius, dessen Ableitung von albus („weiß“) dem Elegiker selbst wiederholt Anlass zum literarischen Spiel geliefert hat451. Mit der Feststellung, einem Dichter Gedichte zu senden sei unsinnig 452, rekurriert der Epigrammatiker offenbar auf Ovids an Severus453 gerichtete Briefelegie Pont. 4,2, wo wir einen ähnlichen Gedanken vernehmen: quid enim, quae facis ipse, darem?...mittere ad hunc carmen, frondes erat addere silvis (8-13)454. Abgesehen von dieser Parallele nimmt Martial ähnlich wie Ovid seinem Adressaten gegenüber die Pose des untalentierten Poeten ein (9,26,7: modici…vatis; vgl. Pont. 4,2,15ff.). Während Ovid jedoch die Exilsituation für mangelndes ingenium verantwortlich macht (Pont. 4,2,15: nec tamen ingenium nobis respondet, ut ante), imitiert Martial die Pose des Verbannten, um seinem Bescheidenheitsgestus im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer bedeutenden Persönlichkeit stärkeren Ausdruck zu verleihen455. Den zentralen Abschnitt des Epigramms bildet eine Gegenüberstellung von großer und kleiner Poesie unter Heranziehung einer Speise-Metapher (5-6)456: Die einfache Olive wird auch dann noch geschätzt, wenn man dem conviva einen Barsch vorgesetzt hat. Damit dürfte auf Horazens Satire 2,2 angespielt sein, wo der Bauer Ofellus seine Lebensphilosophie im Rahmen einer Abhandlung über die richtige Ernährung darlegt: necdum omnis abacta / pauperies epulis regnum: nam vilibus ovis / nigrisque est oleis hodie locus (44ff.)457. Martial verlagert die in der Satire verhandelten epikureischen Gedanken in einen poetologischen Diskurs458, und in diesem Zusammenhang lässt sich auch seine Selbstcharakterisierung als modicus vates (7) nicht nur als scherzhafte Untertreibung des literarischen Könnens, sondern auch 451
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Dazu vgl. insbesondere Maltby/Booth (2005); vgl. Mayer (1994), 133 ad Hor. Epist. 1,4,1. Vgl. ähnliche Gedanken in Catul. c. 14; Mart. 6,46; 7,3; 14,10. Es dürfte sich bei dem Adressaten um den Epiker Cornelius Severus handeln, der auch in Quintilians Autorenliste in Inst. 10,1,89 vorkommt, vgl. Helzle (1989), 59ff. Auf diese Parallele verweist Henriksén (1998/99), I, 141; in dichtungskritischem Zusammenhang verwendet auch Horaz das Bild vom Wald, dem man noch Bäume hinzufügt: in silvam non ligna feras insanius ac si / magnas Graecorum malis implere catervas, Sat. 1,10,34f. Zu Martials Rekurs auf den exilierten Ovid s. Kap. 4.1.2. Vgl. Gowers (1993), 248. „Und noch nicht hat man alle Schlichtheit von den Festmählern der Vornehmen verbannt: Denn auch heute ist Platz für einfach zubereitete Eier und schwarze Oliven“. Zu Sat. 2,2 vgl. Muecke (1993), 114ff.; Holzberg (2009a), 83f. Sowohl im epikureischen als auch poetologischen Sinn dürfte Horanzens Aussage me pascunt olivae in Carm. 1,31,15 zu verstehen sein, vgl. Nisbet/Hubbard (1970), 355f. ad loc.; Holzberg (2009a), 130.
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als Anspielung auf das von Horaz mehrmals propagierte Lebensideal 459 verstehen. In beiden Epigrammen auf Nervas Leistungen als Dichter beruft sich Martial auf Nero; angesichts der ansonsten – im Einklang mit der flavischen Ideologie – eher negativen Darstellung des früheren Kaisers460 mag es verwundern, dass Martial dessen Einschätzung Nervas in Erinnerung ruft und ihn in 8,70,8 sogar als doctus bezeichnet461. Dagegen sollen wir in 9,26 wohl eher an den Schreckensherrscher denken, wodurch Martials Lob auf Nervas literarisches Urteilsvermögen besonders stark zum Ausdruck kommt462. Aus den Gedichten Martials hat man geschlossen, dass Nerva dem berühmten literarischen Zirkel, den Nero um sich geschart haben soll, angehörte, bevor die Flavier an die Macht kamen 463. Wie die carmina bzw. das lascivum opus des Nero beschaffen waren, lässt sich freilich nicht mehr restlos klären464, möglicherweise handelte es sich um Epigramme ähnlich wie jene Martials und Catulls, zumal Plinius der Jüngere im Rahmen der Rechtfertigung seiner versiculi parum severi auf Vorgänger wie Nerva und Nero verweist (Epist. 5,3,5-6)465. Ähnlich könnten auch Martials Gedichte auf Nerva nicht nur als Huldigung eines zeitgenössischen Literaten, sondern zugleich als indirekte Rechtfertigung der eigenen Gattungswahl aufzufassen sein 466. Ziehen wir nun ein kurzes Resümee aus den bisherigen Beobachtungen zu Martials Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Vertretern erotischer Poesie und fassen wir die wichtigsten Funktionen dieser Dichtergestalten innerhalb der Poetik der Epigramme zusammen: Politisch aktive und sozial hochstehende Figuren wie Stella und Nerva werden für ihre Poesie gerühmt, die in vielerlei Hinsicht der Epigrammdichtung Martials ähnelt. Dies dürfte, abgesehen von einer Hommage an diese Personen, auf indirektem Weg vor allem der Werbung für und Rechtfertigung von Martials eigenem literarischem Programm dienen – dies sollte auch am Beispiel der „zweiten Sulpicia“ deutlich geworden sein. Während Martial einerseits besonders den sozialen Status eines zeitgenössischen Verfassers erotischer Verse hervorhebt, um damit implizit die eigene Dichtung zu legitimieren, scheint er andererseits auch auf die literarischen personae seiner Dichterkollegen anzuspielen, wenn er deren poetische Produkte preist; dies legt etwa der Vergleich der Epigramme auf Stella mit dessen Darstellung bei Statius 459 460 461 462 463 464
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Vgl. Hor. Carm. 1,20,1: Vile potabis modicis Sabinum cantharis; Epist. 1,5,2; 2,2,190. Eine Analyse des Nero-Bildes bei Martial liefert Schubert (1998), 290-304. Dasselbe Epitheton wird kurz darauf in 8,73,8 für Catull gebraucht; vgl. 8,72,5. Vgl. Schubert (1998), 300. Sullivan (1985), 32; Henriksén (1998/99), I, 140. Für Nero sind erotische, satirische, hymnische, historische und dramatische Dichtungen bezeugt, vgl. Schubert (1998), 96ff.; Schöffel (2002), 591 mit Anm. 6. Vgl. Sherwin-White (1966), 317f. ad loc.; Auhagen (2003), 8f. Vgl. Martials Berufung auf severissimi viri in 8 praef. 11-13.
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(Silv. 1,2) nahe. Dafür, dass wir als Zeitgenossen gekennzeichnete Personen in Martials Werk in erster Linie als literarische Figuren ansehen sollten, sprechen auch die vielen Anspielungen auf ältere Texte, die in den betreffenden Epigrammen zu beobachten waren. So rekurriert Martial bei der Charakterisierung einer Dichtergestalt wie etwa Canius Rufus auf Ovid und Horaz oder, wie im Falle des Voconius Victor, auf Catull; wenn Martial dann seine Prätexte auch noch an Komik und Obszönität zu übertreffen sucht und die Diskurse der Modelle in den Kontext seiner Gedichte verlagert, passt er zugleich die Darstellung seiner Dichterkollegen den Konventionen der Epigrammatik an. Leider ist uns die Historizität und die literarische Produktion der von Martial erwähnten Autoren (soweit es sich nicht um fiktive Typen handelt) gar nicht mehr oder höchstens noch in Bruchstücken greifbar; wäre dies anders, dann hätten wir freilich einen besseren Eindruck vom poetischen lusus, den der Epigrammatiker mit den Texten seiner zeitgenössischen Kollegen treibt. Nach den hier angestellten Überlegungen zum Verhältnis der Epigrammatik, wie sie von Martial definiert wird, zur weiteren Tradition erotischer Dichtung möchte ich nun im Folgenden der Frage nachgehen, inwieweit theatrale Formen und hier insbesondere der Mimus vom Epigrammatiker dazu funktionalisiert werden, die von ihm gewählte Gattung zu konturieren.
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Mimus und Theater
Bereits in der praefatio zum ersten Buch stellt Martial ganz explizit einen Zusammenhang zwischen seiner Epigrammatik, einer genuin schriftlich verbreiteten Textsorte, und dem Bereich des Theaters her (1 praef. 14-21)1. Der Beginn des Lektüreprozesses entspricht, so suggeriert uns Martial, dem Eintritt in einen theatralen Raum, in dem bestimmte Konventionen herrschen (1 praef. 15: non intret Cato theatrum meum). Hauptanliegen der praefatio ist es somit, eine ideale Leserschaft am Modell des zeitgenössischen Mimus-Publikums zu konstruieren, und daher stellt sich die Frage, welchen Einfluss diese Art des Schauspiels auf die Poetik der dann folgenden Epigramme und Epigrammbücher ausübt. Wenngleich sich bereits Epigrammdichter vor Martial mit unterschiedlichen Aspekten des Theaters sowie verschiedenen Dramendichtern befassten2, dürfte es sich bei Martial um den ersten Gattungsvertreter handeln, der dieses Medium so konsequent in seinen poetologischen Diskurs integriert. Mehrfach konnten klassische Philologen das Einwirken theatraler Formen auf die Komposition literarischer Werke bereits nachweisen, insbesondere auf narrative Texte wie die Romane des Petron und Apuleius oder die Epik3. Doch auch in anderen Gattungen, in denen keine durchgehende Erzählung im Vordergrund steht, lässt sich das bewusste Spiel mit Elementen aus dem theatralen Mediendispositiv 4 erkennen, so etwa in der Elegie5 und Epigrammatik. Die wichtige Funktion, die der in der römischen Kaiserzeit besonders populäre Mimus für die poetische Gestaltung der Gedichte und Gedichtbücher sowie für die Rechtfertigung literarischer Charakteristika in Martials Epigrammen spielt, wurde insbesondere von George Edward Gaffney (1976) herausgearbeitet6. Aufbauend auf den be1 2 3
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S. Kap. 2.1.1. Dazu vgl. Fantuzzi (2007). Zu Petron Panayotakis (1995); Ragno (2009); zu Apuleius Harrison (2006); Keulen (2006); May (2006); Kirichenko (2010); zu Lucans Bellum civile Leigh (1997); Wiener (2006), 270-284. Zur Definition des Theater-Begriffs aus medienwissenschaftlicher Perspektive vgl. Dünne/Friedrich/Kramer (2009); Fischer-Lichte (2001), (2004) und (2005). Vgl. McKeown (1979); Fantham (1989b); vgl. Panayotakis (2010), 31 Anm. 59 mit weiteren Literaturangaben. Da uns leider kein römisches Beispiel vollständig erhalten ist, sind wir auf die zahlreichen und verstreuten Bemerkungen verschiedener antiker Autoren über diese Form des Schauspiels angewiesen; nach wie vor grundlegend ist die Untersuchung von Reich (1903); vgl. Reynolds (1946); Gaffney (1976), 6f.; Panayotakis (1995), xiii; Boyle (2003), 49 u. 59; eine nützliche Zusammenstellung der antiken Zeugnisse, die uns über Charakter und Entwicklung des Mimus Aufschluss geben, sowie eine Diskussion der älteren Forschung liefert nun Panayotakis (2010), 1-32.
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reits gewonnenen Erkenntnissen möchte ich nun die Interaktion von Textualität und Theatralität in Martials Gedichtbüchern näher in den Blick nehmen. Die Vorrede zu Buch 1 wurde in anderem Zusammenhang schon genauer betrachtet; es sei daher nur mehr darauf hingewiesen, dass auf die Theatermetaphorik in der praefatio eine Sequenz von Epigrammen folgt, die wieder die Schriftlichkeit der vorliegenden Gedichtsammlung ins Zentrum stellen, indem sie den Rezipienten als Leser (1,1,4: lector studiose) und das Medium Buch in seiner Materialität als Kodex (1,2,3: hos eme, quos artat brevibus membrana tabellis) bzw. als Papyrusrolle (1,3,2: cum tibi, parve liber, scrinia nostra vacent) apostrophieren, bevor in 1,4 abermals der lector mit dem Mimus-spectator verglichen wird (5-8): qua Thymelen spectas derisoremque Latinum, illa fronte precor carmina nostra legas. innocuos censura potest permittere lusus: lasciva est nobis pagina, vita proba. Mit dem Gesichtsausdruck, mit welchem du Thymele zusiehst und dem Witzbold Latinus, mit diesem, bitte, lies auch meine Gedichte. Harmlose Spielereien kann die Zensur erlauben. Zügellos ist bei mir das Geschriebene, mein Leben anständig.
Mit Latinus und Thymele erwähnt Martial zwei zeitgenössische MimusDarsteller, wobei Latinus sogar in enger Beziehung zu Domitian, dem Adressaten dieses Gedichtes, gestanden haben dürfte7. Das dem Schauspieler hinzugefügte Attribut des derisor ist vermutlich als Anspielung auf seine Rolle in den Aufführungen zu verstehen: Einer der beliebtesten Stoffe dieser Possen war das Thema des Ehebruchs, zu dessen Inszenierung v.a. drei Charaktere gehörten: die callida nupta, der vir stultus und der cultus adulter8; erstere wurde wohl von Thymele9, letzterer von Latinus verkörpert. Der Vergleich mit dem Mimus dient bei Martial vorrangig zur Rechtfertigung obszöner Sprache und frivoler Inhalte. Auch das Epigramm in Buch 1, in dem der erste obszöne Ausdruck auftaucht (1,34,10: futui)10, erinnert hinsichtlich der dort geschilderten Szene an die im Mimus häufig insze-
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Vgl. Citroni (1975) ad loc.; Howell (1980) ad loc; Mart. 9,28; Suet. Dom. 15,3. Zur Inszenierung von Ehebruch im Mimus vgl. Val. Max. 2,6,7 Eadem civitas severitatis custos acerrima est, nullum aditum in scaenam mimis dando, quorum argumenta maiore ex parte stuprorum continent actus, ne talia spectandi consuetudo etiam imitandi licentiam sumat; vgl. Themann-Steinke (2008), 311f. ad loc.; zu den agierenden Typen vgl. Ov. Trist. 2,497ff., wo Kaiser Augustus als Zuschauer von Mimus-Aufführungen imaginiert wird; Martial greift offenbar auf Ovids Rechtfertigungsstrategie zurück, vgl. Lorenz (2002), 115. Griech. θυμέλη bedeutet u.a. „Bühne“, vgl. LSJ, 809 s.v. Ausführlicher zu 1,34 s. Kap. 3.1, S. 60-2.
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nierte Thematik des Ehebruchs (vgl. 2: furta; 3: adulter)11. Im folgenden Rechtfertigungsgedicht 1,35 weist Martial sogar direkt auf derartige Aufführungen hin, wenn er sagt, seine Büchlein können nicht ohne mentula gefallen (3-5), und in diesem Zusammenhang auf die Konventionen im Theater aufmerksam macht (8f.): quis Floralia vestit et stolatum / permittit meretricibus pudorem? Die mentula als Symbol für ein Charakteristikum der Epigramme soll möglicherweise auch an das Kostüm der männlichen Mimus-Darsteller erinnern, die verschiedenen Quellen zufolge einen künstlichen Phallus getragen haben12. Mit dem Hinweis auf die beim Florafest übliche nudatio mimarum13 ist überdies ein deutlicher Bezug zu den poetologischen Reflexionen der Vorrede hergestellt. Dass das Bekleiden eines Schauspielers mit einer stola oder einer toga, den Insignien ehrbarer römischer Bürger14, als unpassend empfunden wurde, geht auch aus der praefatio zu Buch 2 hervor15. Dort greift der Interlokutor Decianus innerhalb seiner Kritik an Martials Prosa-Vorreden auf Metaphern aus der Theaterwelt zurück: Eine epistula zu einem Epigrammbuch sei so unpassend wie ein Tänzer in einer Toga 16 oder jemand, der im Amphitheater mit einem Rohrstock gegen einen mit Netz und Dreizack ausgestatteten retiarius kämpft (8-10), und dementsprechend will sich Decianus als Leser von Martials Gedichten wie ein Zuschauer bei theatralen Darbietungen verhalten (10-11). Seine Feststellung, Epigramme bedürften keines Herolds (6: curione non egent), könnte auch auf den Pantomimus anspielen, da die Gebärden des stummen Schauspielers manchmal durch einen Ansager (praeco oder cantor) erläutert werden mussten17. Der in 2 praef. und 1,35 imaginierten Bekleidung von Schauspielern entspricht die Apostrophe an die lesende matrona im dritten Buch, wo diese vor einer Fortsetzung ihrer Lektüre gewarnt wird mit dem Hinweis exuimur: nudos parce videre viros (3,68,4)18. Obszöne Sprache und freizügige Inhalte der weiteren Epigramme verbildlicht der Sprecher durch die Vorstellung der nudi viri. Eines der betreffenden Gedichte beschreibt folgende Szene (3,85):
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Vgl. Gaffney (1976), 40f.; zu dem im Mimus beliebten Thema des Ehebruchs vgl. Reynolds (1946); Panayotakis (2010), 10 mit Anm. 19. Wüst (1932), 1747 mit Belegstellen. Vgl. zu diesem Brauch Val. Max. 2,10,8. Vgl. Williams (2004), 20. Dazu s. ausführlicher Kap. 3.3.2, S. 105-8. Plinius der Ältere berichtet von dem zur Zeit des Augustus lebenden Tänzer Stephanio: primus togatus saltare instituit (Nat. 7,159); vgl. Wüst (1949), 860. Vgl. X. Symp. 9,2; Aug. doctr. christ. 2,25,38; Wüst (1949), 857f.; Benz (2000), 276; Panayotakis (2010), 7 mit Anm. 8. Zu dem poetologischen Gedichtpaar 3,68-69 s. Kap. 3.3.1, S. 93-6.
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Quis tibi persuasit naris abscindere moecho? non hac peccatum est parte, marite, tibi. stulte, quid egisti? nihil hic tibi perdidit uxor, cum sit salva tui mentula Deiphobi. Wer hat dich dazu veranlasst, dem Ehebrecher die Nase abzuschneiden? Nicht mit diesem Körperteil hat man sträflich gegen dich, Ehemann, gehandelt. Du Idiot, was hast du getan? An der Stelle hat dir die Ehefrau nichts eingebüßt, da ja der Schwanz deines Deiphobus noch heil ist.
Der epigrammatische Sprecher verspottet hier einen stultus maritus (2f.), weil er seinem in flagranti ertappten Nebenbuhler das falsche Körperteil abgeschnitten habe19. Die Situation und besonders die Wahl des Namens für den Ehebrecher, Deiphobus, lässt sich als Mythentravestie auffassen: Bei Vergil begegnet Aeneas in der Unterwelt dem Trojaner Deiphobus, der bei der Einnahme Trojas von Menelaos im Schlafgemach der Helena überrascht und grausam im Gesicht verstümmelt worden ist (Verg. Aen. 6,494497). Der epische Menelaos wird bei Martial zum gehörnten Ehemann, wie wir ihn uns auch als Protagonisten einer Mimus-Aufführung vorstellen können20. Diese Vermutung dürfte durch den Inhalt des unmittelbar folgenden Gedichtes unterstützt werden: Dort wendet sich der Sprecher wieder an die in 3,68 angesprochene casta matrona, die, wie im früheren Epigramm angekündigt wurde21, von der Lektüre anzüglicher Verse erst recht nicht ablässt, und stellt ganz explizit eine Analogie zwischen dem Inhalt seiner libelli und dem von Mimus-Spielen her (3,86): Ne legeres partem lascivi, casta, libelli, praedixi et monui: tu tamen, ecce, legis. sed si Panniculum spectas, et, casta, Latinum, non sunt haec mimis inprobiora, - lege. Dass du nicht den zügellosen Teil des Büchleins, Anständige, lesen sollst, habe ich vorher gesagt und dich ermahnt; du jedoch, siehe da, liest. Aber wenn du dem Panniculus zusiehst und, Anständige, dem Latinus – dies ist nicht unverschämter als Mimen – dann lies nur.
Die matrona ist hier sowohl Leserin von Martials Epigrammen als auch Besucherin von Mimus-Aufführungen22, die das szenische Treiben eines Latinus und Panniculus kennt. Mit der Erwähnung dieser beiden Figuren wird die in 3,85 geschilderte Personenkonstellation aufgegriffen: Latinus ist der archimimus, der Hauptdarsteller und häufig der cultus adulter in 19 20
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Vgl. ähnlich 2,83. Zur Verstümmelung ertappter Ehebrecher vgl. Fusi (2006), 502. Mythologische Szenen dürften in Mimen gerne parodiert worden sein, darunter auch Passagen aus Vergils Aeneis; vgl. Panayotakis (2008) und (2010), 10f. Vgl. die Abwandlung des Pasiphae-Mythos in Mart. Spect. 5 mit Coleman (2006), ad loc.; Kirichenko (2010), 48-50. Vgl. 3,68,11f.: si bene te novi, longum iam lassa libellum / ponebas, totum nunc studiosa legis. Vgl. Ov. Trist. 2,501: nubilis hos virgo matronaque virque puerque / spectat.
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diversen Ehebruchsgeschichten23. Panniculus übernimmt die Rolle des actor secundarum partium, des von Latinus immer wieder übertölpelten stupidus24. Die casta matrona in 3,86 dürfte demnach ihr Pendant in der uxor aus 3,85 haben, wie auch durch den verbalen Bezug von ne legeres partem lascivi…libelli (3,86,1) auf non hac peccatum est parte (3,85,2) suggeriert wird25. Dass Martial nicht nur das Rezipieren seiner Poesie mit dem Zuschauen bei einer Theateraufführung gleichsetzt, sondern auf produktionsästhetischer Ebene auch seine Rolle als Dichter mit jener des Schauspielers assoziiert, wird durch die engen verbalen und motivischen Verbindungen von verschiedenen über das Korpus verstreuten poetologischen Aussagen zu einem Gedicht auf den Schauspieler Latinus in Buch 9 deutlich (9,28): Dulce decus scaenae, ludorum fama, Latinus ille ego sum, plausus deliciaeque tuae, qui spectatorem potui fecisse Catonem, solvere qui Curios Fabriciosque graves. sed nihil a nostro sumpsit mea vita theatro et sola tantum scaenicus arte feror: nec poteram gratus domino sine moribus esse: interius mentes inspicit ille deus. vos me laurigeri parasitum dicite Phoebi, Roma sui famulum dum sciat esse Iovis. Die süße Zierde der Bühne, der Ruhm der Spiele, der berühmte Latinus bin ich, dein Beifall und Vergnügen, der Cato zum Zuschauer machen, der den Ernst der Curier und Fabrizier lösen konnte. Doch nichts hat von unserem Theaterspiel mein Leben angenommen, und einzig und allein aufgrund der Kunst rühmt man mich als Schauspieler. Nicht hätte ich dem Herren ohne Sitten gefallen können: Tiefer blickt jener Gott in die Herzen hinein. Nennt ihr mich den Parasiten des lorbeertragenden Phoebus, solange Rom nur weiß, dass ich der Diener seines Jupiters bin.
Latinus tritt hier als Sprecher auf, vermutlich sollen wir uns dieses Gedicht als sein Grabepigramm vorstellen26. Der Schauspieler charakterisiert sein Leben und szenisches Wirken hier mit ähnlichen Begriffen wie sie Martial mehrmals für sein eigenes poetisches Schaffen gebraucht 27. Sowohl der auctor in 1,4 als auch der sprechende actor in 9,28 betonen den Unterschied 23 24
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Vgl. seine Bezeichnung als derisor in 1,4,4; 13,2,3. Sein Name ist nach der Kleidung des Mimus-Darstellers, dem centunculus, gebildet, vgl. Helm (1949), 626; Gaffney (1976), 71. Daneben bildet auch die Wortstellung Panniculum…casta…Latinum in 3,86,3 ein amouröses Dreiecksverhältnis ab. Friedländer (1886), II, ad loc. denkt hier an eine Bildunterschrift zu einem Porträt des Latinus, nachdem dieser den Schauspielerberuf aufgegeben hat; Henriksén (1998), I, 150 sieht in 9,28 dagegen ein Grabepigramm. Ille ego sum (2) korrespondiert mit 9 praef. 5; zur Erwähnung sittenstrenger Rezipienten vgl. 1 praef. 15-21; 1,4,5-8; 11,2; 14,183.
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zwischen literarischer bzw. theatraler Fiktion und den mores des historischen Dichters bzw. Schauspielers28, d.h. sie weisen explizit auf ihr Rollenspiel hin29. In der zweiten Gedichthälfte (7-10) wird das enge Verhältnis zwischen Latinus und dem Kaiser thematisiert 30. Sueton berichtet in seiner Domitian-Vita, Latinus habe den Prinzeps bei der cena mit Tagesklatsch versorgt, so auch beim Tod des Askletarion (Dom. 15,3): Nulla tamen re perinde commotus est, quam responso casuque Ascletarionis mathematici. hunc delatum nec infitiantem iactasse se quae providisset ex arte, sciscitatus est, quis ipsum maneret exitus; et affirmantem fore ut brevi laceraretur a canibus, interfici quidem sine mora, sed ad coarguendam temeritatem artis sepeliri quoque accuratissime imperavit. Quod cum fieret, evenit ut repentina tempestate deiecto funere semiustum cadaver discerperent canes, idque ei cenanti a mimo Latino, qui praeteriens forte animadverterat, inter ceteras diei fabulas referretur. Von keiner Sache wurde Domitian jedoch so bewegt wie von der Antwort und vom Tod des Astrologen Askletarion. Als dieser denunziert worden war und nicht abstritt, dass er das, was er aufgrund seiner Kunstfertigkeit vorhergesehen hatte, verbreitet hatte, wollte Domitian von ihm erfahren, welches Ende ihn selbst erwarte. Als er versicherte, er werde bald von Hunden zerfleischt, befahl Domitian, man solle ihn zwar unverzüglich töten, doch auch besonders sorgfältig begraben, um den Schwindel seiner Kunst bloßzustellen. Als dies geschah, ereignete es sich, dass durch ein plötzliches Unwetter der Scheiterhaufen umfiel und die Hunde den halbverbrannten Leichnam zerrissen. Dies wurde Domitian bei Tisch von dem Mimus-Darsteller Latinus, der es zufällig beim Vorbeigehen gesehen hatte, zusammen mit den übrigen Geschichten des Tages berichtet.
Askletarion wird dieser Anekdote zufolge trotz aller Gegenmaßnahmen von Seiten Domitians am Scheiterhaufen doch noch von Hunden zerrissen, und Latinus erzählt dem Kaiser von dieser Begebenheit. Ich frage mich, ob es reiner Zufall sein kann, dass Martial unmittelbar auf Latinus’ Auftritt im 28
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Vgl. 1,4,8. Damit rekurriert Martial auf ähnliche Aussagen bei Catull und Ovid, wo es ebenfalls um die Abgrenzung von ars und vita im Kontext erotischer Poesie geht, vgl. Catul. c. 16; Ov. Trist. 2,353-356. Anders tritt der Tragödiendichter Agathon bei Aristophanes in den Thesmophoriazusen auf (Th. 146ff.), wenn er seinen Habitus an die von ihm geschaffenen Figuren angleicht; vgl. Möller (2004), 108ff.; Quintilian zieht aus dem Inhalt der fabulae togatae des Afranius Rückschlüsse auf den Charakter des Verfassers: togatis excellit Afranius: utinam non inquinasset argumenta puerorum foedis amoribus mores suos fassus (Inst. 10,1,100). In diesem Zusammenhang ist auch die von Macrobius überlieferte Anekdote über den Mimographen Laberius aufschlussreich: Für einen römischen Ritter wie Decimus Laberius war es offenbar mit seinem sozialen Status vereinbar, Mimen zu komponieren, nicht aber in die Rolle des Schauspielers zu schlüpfen und die eigenen Stücke selbst zu spielen, wozu er von Caesar gezwungen wurde (Macr. Sat. 2,7,1-5); vgl. Panayotakis (2010), 13. Die Scholien zu Juvenal 1,36 bezeichnen Latinus als nequissimus delator, doch dürfte diese Information wenig zuverlässig sein, wie Henriksén (1998/99), I, 151 vermutet; vgl. Jones (1996), 127.
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Epigrammbuch ein Gedicht folgen lässt, in dem er eine vetula verspottet und mit dem abschließenden Wunsch den Typus des Grabepigramms parodiert (9,29,11-12): sit tibi terra levis mollique tegaris harena, / ne tua non possint eruere ossa canes („Möge die Erde leicht für dich sein und mögest du von lockerem Sand bedeckt werden, damit die Hunde deine Gebeine leichter ausgraben können“). War die Anekdote über Askletarions Tod und Latinus’ Bericht darüber bereits zur Zeit der Abfassung von Buch 9 bekannt genug, dass Martial durch die Juxtaposition der Epigramme 9,28-29 darauf indirekt anspielen konnte? Anders als das Gedicht auf Latinus ist das Grabepigramm auf den Pantomimen Paris gestaltet, der den Konventionen seiner szenischen Kunst entsprechend stumm bleibt31 und so bei Martial nicht selbst als Sprecher auftritt (11,13): Quisquis Flaminiam teris, viator, noli nobile praeterire marmor. Urbis deliciae salesque Nili, ars et gratia, lusus et voluptas, Romani decus et dolor theatri atque omnes Veneres Cupidinesque hoc sunt condita, quo Paris, sepulchro. Wer du auch immer bist, der du als Wanderer die Via Flaminia beschreitest, geh nicht vorbei am edlen Marmor. Das Vergnügen der Stadt, der Witz vom Nil, die Kunst und Anmut, das Spiel und der Genuss, Zierde und Schmerz des römischen Theaters, alle Liebesgöttinnen und Liebesgötter, sind in diesem Grab, wo auch Paris liegt, bestattet.
Paris wurde um 82/83 n.Chr. auf Domitians Geheiß ermordet, da man ihn des Ehebruchs mit Domitia, der Gemahlin des Princeps, beschuldigte32. Martials Epigramm hingegen erscheint erst viele Jahre später unter Nervas Regierung, und so vermuten mehrere Forscher, dass neben politischen Ursachen ein aktueller Anlass, die Errichtung des Grabmals an der Via Flaminia, den Anstoß zur Komposition dieses Gedichtes gegeben habe33. Darüber hinaus dürften jedoch insbesondere literarische Aspekte für die Integration dieses Epigramms in das elfte Buch ausschlaggebend gewesen sein34. Zunächst einmal fällt das Versmaß des Hendekasyllabus auf, wel-
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Vgl. Weinreich (1940/41), 19. Vgl. D.C. 67,3,1; Suet. Dom. 3,1; 10,1. Weinreich (1940/41), 6: „…nur ein aktueller Anlass kann jetzt, über ein Dutzend Jahre nach Paris‘ Tod, zu Martials Gedicht geführt haben“; eine Publikation des Epitaphs zu Domitians Lebzeiten wäre vermutlich gefährlich für den Verfasser gewesen, vgl. Kay (1985), 94f. mit weiterer Literatur. Henriksén (2006), 365 hält es für möglich, dass es sich bei dem Epigramm um „a purely literary piece“ handelt.
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ches dem Epitaph einen spielerischen Charakter verleiht35. Metrisch korrespondiert das Gedicht mit den poetologischen Epigrammen 11,1 und 11,6, und die nahezu symmetrische Anordnung dieser drei Gedichte am Beginn des Buches legt ebenfalls nahe, dass man sie miteinander in Verbindung bringen soll. In 11,13,6 heißt es, mit Paris zusammen seien omnes Veneres Cupidinesque begraben, womit deutlich auf Catull c. 3 Lugete, o Veneres Cupidinesque angespielt wird36. Der Tod des Pantomimen entspricht also jenem von Lesbias Sperling, der bereits in 11,6 evoziert wurde: donabo tibi passerem Catulli (16) dürfte dort den noch lebenden passer im zweiten Catull-Gedicht evozieren37. Vermutlich soll uns auch das an Parthenius gerichtete Epigramm 11,1 an Catull erinnern: Formal ähnelt es mit einer einleitenden Frage, der Erwähnung des Widmungsträgers im dritten Vers sowie der Angabe von buchtechnischen Details stark an c. 1, das Eröffnungsgedicht an Cornelius Nepos38. Wir hätten somit ein Buch vorliegen, das mit seinen ersten drei Epigrammen im Hendekasyllabus die Abfolge der ersten drei Gedichte in Catulls Polymetra nachahmt. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Epitaph auf Paris einiges an Komik und es dürfte deutlich geworden sein, dass es fest in den Buchkontext integriert ist39. Otto Weinreich hat in seiner Analyse des Gedichtes darauf hingewiesen, dass weniger die Person des Toten – sie wird nahezu beiläufig im Relativsatz des letzten Verses genannt und in abbildender Wortstellung vom Hyperbaton hoc…sepulchro gerahmt –, als vielmehr die von ihm verkörperte Kunst im Zentrum steht. Die in den Versen 3-5 aufgelisteten Begriffspaare heben dabei die verschiedenen Aspekte dieser Kunst hervor: urbis deliciae (3), ars et gratia bzw. lusus et voluptas (4) betonen das durch die Performanz des Schauspielers hervorgerufene Vergnügen beim römischen Publikum, sales Nili (3) bezieht sich vermutlich auf Paris‘ ägyptische Heimat – Alexandria war zudem ein wichtiges Zentrum des Pantomimus – sowie den (obszönen) Witz seiner Inszenierungen 40, und decus et dolor dürfte auf das tragische Moment seiner Darstellung verweisen41. Diese letzte 35
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Abgesehen von 11,13 wird dieses Metrum nur in 6,28 für ein Epitaph verwendet, vgl. Henriksén (2006), 358. Vgl. Kay (1985), 97 ad loc. Zur obszönen Deutung der passer-Gedichte durch Martial vgl. Kap. 3.1. Mart. 11,1,1-3: Quo tu, quo, liber otiose, tendis / cultus Sidone non cotidiana? / numquid Parthenium videre? Catul. c. 1,1-3: Cui dono lepidum novum libellum / arida modo pumice expolitum? / Corneli, tibi. Verbale Bezüge zu den das Paris-Gedicht umgebenden Epigrammen bestärken dies: vgl. teris (1) mit trita (11,11,3); noli…praeterire (2) mit nolite…sepelire (11,14,1); salesque Nili (3) mit toreumata Nili (11,11,1); lusus (4) mit ludat (11,15,7); Romani…theatri (5) mit Romani…cothurni (11,9,1). Zur mit Ägypten verbundenen Laszivität vgl. Stat Silv. 5,5,66f.; Ov. Trist. 1,2,80; Mart. 4,42,3f.; vgl. Weinreich (1940/41), 14; Kay (1985), 96 ad loc. Paris beherrschte demnach sowohl die komische als auch die tragische Spielart des Pantomimus, wie sie laut Seneca d. Ä. von Pylades und Bathyllus verkörpert wur-
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Junktur bezieht sich jedoch nicht nur auf den Bereich des Theatralen, greift sie doch einen literarischen Prätext auf, nämlich die Totenklage auf Pallas in Vergils Aeneis (10,507f.): o dolor atque decus magnum rediture parenti, / haec te prima dies bello dedit, haec eadem aufert42. Berücksichtigt man bei 11,13 neben dem möglichen aktuellen Anlass der Entstehung auch die literarische Funktion, die dieses Gedicht im Buchkontext erfüllt, dann liegt es nahe, das metaliterarische Potenzial dieses Epigramms zu betrachten. Der viator (1) entspräche demnach dem Leser von Martials Gedichten, der, wie es im Korpus häufiger passiert, dazu aufgefordert wird, das vorliegende Epigramm nicht zu übergehen (2: praeterire)43. Dieses fungiert zugleich als sepulchrum für Paris und seine Kunstfertigkeit, die zudem vieles mit jener des Epigrammatikers gemeinsam hat, charakterisiert Martial doch an vielen Stellen seine eigene Poesie mit denselben Termini wie das Pantomimus-Spiel des Paris44. Dass Martial ebenfalls Scherz und Ernst miteinander zu verbinden vermag, wird aus der Juxtaposition von 11,13 mit 11,14 ersichtlich, einem Epigramm, das die Tradition des Epitaphs ins Komische zieht: Heredes, nolite brevem sepelire colonum: / nam terra est illi quantulacumque gravis45. Neben Schauspielern erwähnt Martial auch Verfasser von Mimen. So ist an zwei Stellen von einem Dichter namens Catullus die Rede (5,30,3: facundi scaena Catulli; 12,83), dessen Leben und Wirken man heute in die Zeit des Gaius Caligula datiert46. Verschiedene Quellen überliefern, dass Catullus einen Mimus über Laureolus, einen Räuberhauptmann, komponiert habe, der erstmals vermutlich am 24. Januar 41 n.Chr. an den Palatinischen Spielen kurz vor der Ermordung des Gaius Caligula aufgeführt worden sein soll47. Der Inhalt dieses Stücks, das von den Abenteuern des
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den: Pylades in comoedia, Bathyllus in tragoedia (Contr. 3 praef. 10); vgl. Weinreich (1940/41), 16; zu der Anordnung der Begriffspaare im Epigramm vgl. auch Lorenz (2010b), 39. Vgl. Weinreich (1940/41), 14; Kay (1985), 97 ad loc. Zum wandernden Leser in Martials Epigrammen vgl. Höschele (2010), 123ff. Zu deliciae vgl. 8,82,6; zu sales vgl. 3,99,3; 4,23,7; 5,2,4; 7,25,3; 8,3,19; 10,9,2; 13,1,4; zu lusus vgl. 1 praef. 20; 1,3,10; 1,4,7; 4,49,2; 6,85,9; 7,8,10; 11,16,7; zu voluptas vgl. 12 praef. 12; zu theatrum vgl. 1 praef. 15. Hier finden wir ein ähnliches Spiel vor wie in 9,28-29; vgl. Kay (1985), 97f.; zur Juxtaposition von 11,13-14 vgl. auch Lorenz (2010b), 40. Vgl. Schanz/Hosius (1935), 564-5; Bardon (1956), 128f.; Duret (1986), 3222; Coleman (2006), 83. Wiseman (1985), 184-9 schlug einen Identifikation mit C. Valerius Catullus, dem Neoteriker vor, was jedoch als unwahrscheinlich gilt. Suet. Calig. 57,3-4; Tert. Adv. Val. 14,4 Catulli Laureolum; vgl. Juv. 8,186 und 13,111; Duret (1986), 3223. Von Catull ist auch der Titel eines weiteren Mimus Phasma („Das Gespenst“) überliefert, vgl. Juv. 8,186 clamosum…Phasma.
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Protagonisten und seiner Kreuzigung erzählte48, dient Martial offensichtlich als Vorlage für die Schilderung einer Szene in Sp. 7 (= 9 Coleman): Qualiter in Scythica religatus rupe Prometheus adsiduam nimio pectore pavit avem, nuda Caledonio sic viscera praebuit urso non falsa pendens in cruce Laureolus. vivebant laceri membris stillantibus artus 5 inque omni nusquam corpore corpus erat. denique supplicium